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Die Netzwerk-Orange
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Die Netzwerk-Orange

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Wir befinden uns in der Hauptstadt eines Unionsstaats im Jahr 2025. Die Gesellschaft funktioniert, der Einzelne fühlt sich einzeln. Doch kleine Verbesserungen tun immer Not. Der ehemalige Psychologieprofessor Franzer, nun mehr Ministeriumsbeamter, versucht seine Lieblingsstudentin zu überzeugen, an seinem Projekt eines automatischen Netzwerk-Therapeuten, dem Cyberpeuten, der Hilfesuchende mit Lehrfabeln versorgt, mitzuarbeiten. Dazu durchwandern sie wie in einem Tableau vivant eine in soziale Segmente gesplittete Welt - die Netzwerk-Orange. Doch eine Gruppe Studierender ist unzufrieden. Jack, Caren und Cathy ahnen, dass hinter der perfekten Fassade der Union geheime Mächte Angebot und Nachfrage steuern.

Utopie oder Dystopie? Oder schon Realität? Die Netzwerk-Orange stellt die Frage, was in der "Verhaltensbox" Welt vom Einzelnen bleibt, wenn man die stabilisierenden Einflüsse des Netzes abzieht. In nüchtern-bürokratischem Stil und mit viel Ironie schreibt sich Thomas Raab auf die literarische Bühne zurück und versucht, die Aufgabe der Gesellschaftsbeschreibung von Soziologie und Ökonomie für die Literatur zurückzuerobern.
LanguageDeutsch
Release dateAug 4, 2015
ISBN9783903081017
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    Die Netzwerk-Orange - Thomas Raab

    C.

    1

    Mittwoch

    Der Brandungsbrecher

    Scleractinia spp.

    Schräg ins Schelfmeer einfallend durchfluten diffuse Sonnenstrahlen das blaugrüne Wasser. Korallenpolypen wiegen langsam hin und her. Sie leuchten violett, grün, rot, blau, orange. Zwischen ihnen schwänzeln bunt gemusterte Fischchen und Fische. Gleichsam liebevoll streichen sie über die geschwungene Silhouette des Riffs, das in der Ferne in erhabenem Graugrün versinkt.

    Die Brandung wogt sanft über das Riff. Natürlich kann sie bisweilen mächtig werden, je nach Wetterlage. Augenblicklich aber greifen die Wellen in die Tiefe aus und streicheln über den Saum der stummen Landschaft. Ein Rotfeuerfisch mit seinen langen Flossenstrahlen schwebt über einem gelblich schimmernden Ensemble aus Feuerkorallen. Da – ein kecker Zackenbarsch richtet seine stierenden Augen auf den Staunenden. Seine weißen Pünktchen schimmern, als wären sie kleine Brillanten.

    Majestätisch gleitet im Hintergrund ein Requiemhai durch eine riesige Schule von Großaugenschnappern, die ihm, einem einzelnen Organismus gleich, ruhig und scheinbar koordiniert den Weg freigeben. Scheinbar ziellos, einzig getrieben von Milieugradienten schlängelt der Hai den Riffabhang hinab und verschwindet langsam in Richtung der Lagune, die eine ausgedehnte Unterwasserwüste ist. Schräg unter ihm zeichnet sich, etwas trübe, aber dennoch rot leuchtend, ein fünfzackiger Seestern ab.

    Zwei Süßlippen schwänzeln hinter einem kleinen Wäldchen Geweihkorallen hervor. Lustig schieben sie sich an einem Schwarm von Fledermausfischen vorbei. Ein archaisch wirkender Angler verzieht sich zügig zwischen zwei fein verästelten Tischkorallen, unter denen – ist’s wahr? – der Kopf der scheuen Muräne hervorlugt.

    Am Rand des Riffs leuchten vereinzelt ein paar grellweiße Gehirnkorallen, deren Fissuren und Sulci geometrisch markant ins Auge fallen. Die Muräne schnellt erst zurück, als die Schaumkrone eines größeren Brechers sanft über die zum Ozean hin offene Riffseite Richtung Lagune ausfährt.

    Darwin stellte sich die Frage, warum im nährstoffarmen Milieu der Lagune so viele Arten in ihrer Pracht gedeihen können. Die Frage ist als ökologisches Riffparadox bekannt. Niemand hat sie bis heute gelöst. Wie eine Oase erhebt sich das Riff in der Nährstoffwüste. Das fragile Gleichgewicht von Nährstoffkonsum und Nährstoffproduktion darf nicht durch äußere Einflüsse gestört werden.

    Über das Äon hin wird auch dieses Riff fossiler Riffkalkstein werden.

    Franzer legte das Blatt bedächtig auf den Schreibtisch und blickte Buresch sanft an. Sie befanden sich in Franzers Büro.

    „Jede Überzeugung, die über die unmittelbarsten Lebensbelange eines Menschen wie Essen, Schlafen und Sexualität hinausgeht, gibt diesem zwar innerlich Orientierung, kann ihm aber äußerlich große Schwierigkeiten bereiten", sagte Franzer.

    Skrupulös streifte er die Asche, die sich am Ende seines Zigarillos Marke El Credito gebildet hatte, zu einem rot und gelb glühenden Kegel ab. Der silberne Ministeriumsascher stand auf einem Beistelltischchen etwa zwei Meter rechts neben der Büroeingangstür.

    Buresch und Franzer hatten Hände geschüttelt und befanden sich noch in Türnähe. Zigarillos von El Credito waren nicht teuer, gaben aber wohl Mut und rundeten die Persönlichkeit ab. Man schrieb das Jahr 2025. Man ist offenbar leicht zu überzeugen, wenn man nicht zu sehr damit beschäftigt wird nachzudenken, wovon man überzeugt wird.

    „Ja, aber, antwortete Buresch. „Ja, aber es sind doch alle zu Recht überzeugt, wenigstens echte Menschen zu sein!

    „Natürlich", fuhr Franzer fort, „deswegen gibt es doch letztlich keine wirklichen Ausreißer mehr. Endlich haben sich alle auf die Utopie Mensch geeinigt!"

    Er zog an seinem El Credito und wirkte sichtlich befriedigt. Schon als Student war er nicht nur auffallend begabt, sondern auch bereits Raucher gewesen.

    „Seit der Erklärung der Neuen Menschenrechtskonvention der Union, sinnierte er, „gibt es …

    Er stockte, es wollte nicht.

    „Buresch, fuhr er fort, „ich werde alt und habe die Jahreszahl der Neuen Menschenrechtskonvention vergessen!

    Ach ja. Buresch musste lächeln.

    „2016, eine runde Zahl", gab sie zurück. Sie war einst Franzers Lieblingsstudentin gewesen.

    „Mit Utopie Mensch meinen Sie jedenfalls das, was Sozialpsychologen den Minimalkonsens nennen", sagte Buresch beinahe ehrgeizig.

    Franzer drehte sich derweil um und marschierte langsamen Schrittes auf das nach Süden hin geöffnete Fenster zu, durch das eine wunderbar gelbgrauorange Sonne schräg ins Büro schien.

    „Der Minimalkonsens ist der Kern der Sache, der Kern der Berechnung. Natürlich ist er in der Konvention implizit festgeschrieben, aber dennoch hat er sich von selbst entwickelt. Kurz, niemand hat ihn erfunden. Er ist eine anthropologische Tatsache. Der Minimalkonsens liegt in der Natur des Menschen selber. Deshalb akzeptieren ihn fast alle, ohne dass sie groß über ihn nachdenken müssten."

    Er blickte durchs offene Fenster, starr, wie es Buresch wohl schien.

    „Abgesehen von ein paar Studenten …" murmelte sie fast verheißungsvoll.

    Franzer fuhr fort: „Was aber ist mit den vielen für uns Forscher unwichtigen Überzeugungen, die den Einwohnern doch oft viel wichtiger sind als der Minimalkonsens? Kleine Dinge. Aber auch so genannte Sinnfragen. Ich denke an Worte wie Gleichheit, Gerechtigkeit oder Freiheit. Solche Worte können immer noch zum Zerfall der Gesellschaft führen …"

    Und also hatte Franzers und Bureschs neuerlicher Kontakt mit einer Diskussion begonnen, wie er Jahre zuvor mit einer Diskussion geendet hatte.

    „Alle brauchen jedenfalls gewisse Ziele", äußerte Buresch gerade, immer noch vor Franzers Schreibtisch stehend.

    „Soviel steht fest, gab Franzer zurück, „genau das heißt eben Menschsein – hoffen.

    Buresch schien noch nicht ganz zufrieden, ihr beider Bonding noch nicht hergestellt.

    „Und gemeinsame Hoffnungen sind der Kitt der Gesellschaftsgruppen, sagte sie, „jener Segmente, auf denen unser Staat beruht.

    Sie blickte Franzer von hinten sichtlich erwartungsvoll an, doch er gab keine richtige Antwort, sondern murmelte bloß „Staat?".

    Buresch starrte jedenfalls in Franzers Rücken. Anzugsrücken, Farbe unwichtig. Er blickte aus dem Fenster. Die Autos, die Büros, Menschen, der Sauerstoff. Ihr wurde anscheinend unbehaglich, weil sie Franzer auf den Rücken starrte und ihren Blick aus Diskretion oder Angst oder Langeweile nicht durchs Büro wandern lassen konnte. Aschenbecher, Schreibtisch, Fenster, Rollläden, Beistelltischchen. Also setzte sie sich in den vor Franzers Schreibtisch einladend aufgestellten Korbsessel. Hatte er diese Situation im Voraus geplant?

    Die etablierten Glieder der Gesellschaft sind gebildet, erfolgreich und selbstbewusst. Sie leben, arbeiten und konsumieren auf hohem Niveau und haben ihr Leben unter Kontrolle. Ihre Fixanstellungen ermöglichen es ihnen, so gut sie nur können, Werbung, Fernsehen und Stellenangebote zu ignorieren.

    Lola Buresch war damals, bevor Franzer von der lokalen Universität ins Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung gewechselt war, dessen Studentin gewesen. Gerade hatte sie sich mitten in der Anfertigung ihrer Dissertation in Ökopsychologie befunden, als Franzer den Ruf ans Ministerium nicht hatte ablehnen können oder müssen. Jetzt stand sie kurz vor dem Abschluss der Arbeit, Franzer immer noch Zweitgutachter, extern. Mit 42 Jahren war für sie naturgemäß noch nichts zu spät. Ein Ausdruck ihres Manuskripts stapelte sich ungebunden auf Franzers Büroschreibtisch. Da ist es.

    „Setzen Sie sich doch", sagte Franzer, der weiterhin aus dem Fenster starrte. Autos, Menschen. Er nagte am Stumpf seiner El Credito.

    „Ich sitze bereits", antwortete Buresch.

    Hatte er nicht gehört, dass sie sich bereits gesetzt hatte – oder war dies Teil seiner Inszenierung? Sie hatten sich mehr als zwei Jahre lang nicht gesehen; Franzers ehemaliger Assistent, nunmehr selbst mit Lehrbefugnis, hatte die Erstbetreuung ihrer Dissertation übernommen. So konnte es sein, dass Buresch Franzer mittlerweile nicht mehr gewohnt war. Dennoch war er bei der Fertigstellung der Abschlussarbeit immer, ohne dass sie es gewahr geworden wäre, verstärkend anwesend gewesen.

    „Man darf Menschen niemals bestrafen, sondern muss sie, wenn ihre Überzeugungen schädlich werden, sachte und didaktisch auf den Boden des Minimalkonsenses zurückholen, setzte Franzer, der Sonne zugeneigt, fort. „Wir haben hier im Ministerium mithilfe von Computertechniken eine Prozedur entwickelt, die genau das ermöglicht.

    Er gönnte sich eine Pause. „Diese Prozedur packt die Leute bei ihrer Intelligenz!"

    Buresch schlug das linke über das rechte Bein – gutes Aussehen ist nicht so wichtig – und räusperte sich.

    „Ich würde gerne über meine Dissertation sprechen", versuchte sie das Thema zu wechseln.

    Franzer drehte sich zu ihr um. Er legte den kurzen Weg zu seinem Schreibtischsessel zurück und setzte sich, den Blick neutral verloren auf Bureschs typisches Gesicht gerichtet.

    „Ihre Dissertation ist, nicht anders als ich erwartet habe, natürlich sehr gut", sagte er und langte, gerade noch bevor die Asche seines El-Credito-Zigarillos auf die sauber schwarze Schreibtischoberfläche fallen konnte, zu dem ihm rechter Hand stehenden zweiten Büroascher aus dunkelgrauem Blei und schnippte die Asche ab.

    „Sie sind die beste Psychologin, die ich kenne – außer mir vielleicht, sagte er verschmitzt. „Ich würde Sie gerne ins Ministerium holen.

    Franzer lächelte beinahe gewinnend, als würde er die überraschende Wirkung seines unvermittelten Vorstoßes vorhersehen.

    Buresch wurde in der Tat sichtlich unwohl zumute. Ihr Plan war doch offenbar gewesen, Franzer nicht nur von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen, sondern auch seine Unterstützung für weitere akademische Arbeiten, die auf dieser These aufbauen sollten, zu gewinnen! Artikel, Vorträge, Gastprofessuren mussten geradezu auf ihrer Agenda stehen.

    „Ihr Plan war bestimmt, mich von ihrer ökopsychologischen These zu überzeugen und meine Unterstützung für weitere Forschungen zu gewinnen", sagte Franzer.

    Da fing Buresch ihn gewiss zu lieben an. Er war auch ganz offensichtlich der intelligenteste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, sie war ihn nur nicht mehr gewohnt.

    Die Etablierten sind jenes gesellschaftliche Leitsegment, das seinen persönlichen Status nicht zur Schau stellen muss. Understatement ist die Devise. Dennoch sind sie Themen wie Karriereplanung, Altersvorsorge und Vermögensaufbau gegenüber aufgeschlossen. Letzteres gilt für alle Geldanlagen von Gold über Immobilien bis zu Aktienfonds, Optionsscheinen und Staatsanleihen.

    „Ihre These über den Zusammenhang von Wohlstand in der Union und der psychischen Ökonomie des Einzelnen ist schlicht und einfach sehr gut", äußerte Franzer jetzt, und Buresch schien erleichtert.

    „Ja, es ist wohl erwiesen, sagte sie, wohl um der Peinlichkeit des offensiven Lobs etwas entgegenzusetzen, „je wohlhabender die Leute, desto weniger streben sie nach anwendbarem Wissen und kümmern sich stattdessen, den Lebensstil in ihrem Referenzsegment zu kopieren. Reüssieren sie im Stil, fühlen sie sich als freie Individuen und damit glücklich.

    Franzer nickte.

    „Meine Datenlage ist aber noch schwach", fügte Buresch wie bescheiden hinzu.

    „Wir haben hier im Ministerium jede Menge an unausgewerteten Daten, die sie verwenden könnten", antwortete Franzer prompt.

    „Anonyme Daten, versteht sich", prustete er heraus.

    „Wir sammeln Informationen über Konsumverhalten, allgemeine Einstellungsänderungen, Freizeitverhalten, politische Neigung, alles Mögliche, gab Franzer scheinbar unumwunden zu, nachdem er sich wieder gefasst hatte, und als Buresch ihre Augenbrauen kaum merklich zusammenzog, fügte er hinzu: „Alles legal natürlich. Das Lokalparlament ist zu mehr als 90 Prozent auf unserer Seite.

    Der El Credito geht zu Ende!

    Das massige Gebäude des Ministeriums für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung hatte zehn Stockwerke und befand sich inmitten der lokalen Hauptstadt neben einem kleinen Park. Das Ministerium für Inneres stand südlich vis-a-vis, gleich über der Avenue. Es war nur zwei Stockwerke hoch, sodass an sonnigen Tagen beinahe die ganzen Amtsstunden hindurch die straßenseitigen Büros des Ministeriums für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung hell erleuchtet waren. Hinter dem Innenministerium konnte Franzer das fünfstöckige Kulturministerium erblicken, rund 1.000 Meter östlich befand sich das prächtige Lokalparlament aus der so genannten Gründerzeit. Das Finanzministerium lag 2000 Kilometer entfernt am Rande der Unionshauptstadt.

    „Sie sind meine beste Schülerin, wiederholte sich Franzer, seinen Zigarillo im bleiernen Aschenbecher abtötend. „Wir sollten definitiv zusammenarbeiten. Seit wir uns nicht mehr gesehen haben, haben sich interessante Perspektiven eröffnet …

    „Ich interessiere mich für Forschung, meinte Buresch zögerlich, „nicht so sehr für Sozialmanagement.

    Eine kurze, aber bedeutsame Gesprächslücke tat sich auf. Alles im Büro, einschließlich Buresch und Franzer, stand still. Die Ruhe, Konzentration, die Sicherheit. Vielleicht dachten sie nicht, sondern fühlten. Da erschien der Ansatz eines Lächelns auf Franzers Gesicht, und Buresch schien umgehend erleichtert.

    „Aber meine liebe Frau Buresch, rief er aus, „Sie haben wohl vergessen, wer ich bin!

    Buresch errötete. Sie erinnerte Franzer – wie übrigens in mehreren E-Mails an Freunde dokumentiert – als den sanftesten, intelligentesten, harmlosesten, ja interesselosesten Wissenschaftler, den sie je kennengelernt hatte.

    „Verzeihen Sie das Wort Sozialmanagement, sagte sie, den Blick auf den Zigarillo-Stummel im bleiernen Ministeriumsascher gesenkt, „sie wissen, wie ich es meine … Sozialmanagement ist Politik, Ablenkung des Bürgers von seinen eigenen Interessen. Das war immer so. Wir schreiben 2025.

    Kurze Pause.

    „Frau Diplompsychologin, hob Franzer beinahe hintergründig an, „Sie haben sich in den letzten Jahren ausschließlich mit Psychologie beschäftigt, nicht wahr?

    „Na ja", gab Buresch zurück.

    „Ihnen scheint entgangen zu sein, dass sich auch die Staatswissenschaft in den vergangenen Jahren stark gewandelt hat, meinte er milde. „Seit 2019 kontrollieren wir überhaupt nicht mehr. Wir versuchen nur noch, die Verhaltensdaten der einzelnen Sozialsegmente möglichst präzise nachzuzeichnen und deren Varianz dann unmerklich zu verringern. Das Freiheitsgefühl der Einwohner verringert sich dabei nicht, im Gegenteil: Es verstärkt sich sogar!

    Buresch begann, ihr Gesäß unruhig auf dem Sessel hin und her zu bewegen. Gutes Aussehen ist nicht so wichtig. Wir?

    „Freiheitsgefühl?" fragte sie sichtlich unsicher. Franzer kniff kurz die Augenbrauen zusammen, bis sich seine Miene aufhellte.

    „Aber Frau Buresch", stieß er hervor, „was denn sonst?"

    Die Doktorandin starrte den Professor mit scheinbar leerem Blick an. Die Liebe, Widerspruch, Affekt. Franzer hatte vielleicht eine Grundeinstellung von Buresch erschüttert, die sie seit Jahren nicht mehr bemerkt hatte.

    „Sie steuern das Verhalten der Menschen, murmelte sie, „aber das Ministerium … Ich meine, die haben Sie doch engagiert, um, wie soll ich sagen ...

    Franzer blieb gelassen. „Die haben mich nur wegen meiner strengen Methodik engagiert, meine Liebe, gab er sanft und mäßig zurück, „was haben Sie denn gedacht? Halten Sie mich für einen Unmenschen?

    Die Etablierten stehen natürlich zur Modernisierung der Gesellschaft. Sie nutzen auch privat neue Kommunikations- und Computertechniken. Ihr Exklusivitätsanspruch gebietet, auch in diesem Sektor ausschließlich Produkte gehobener Qualität, Markenware zu konsumieren.

    „Wir nehmen bloß anonyme, aber dem Milieu zuordenbare Daten aus dem Netz, führte Franzer aus. „Deren Analyse erlaubt uns, spezifische Bedürfnisumwelten zu definieren.

    Buresch nickte stumm, was Franzer zu einer weiteren Erläuterung zu motivieren schien.

    „Diese Definitionen nutzen wir dann, um Bedürfnisse besser erfüllen zu können. Niemand merkt etwas, alle werden einfach langsam, aber stetig, glücklicher."

    „Und wie erfüllt ein Ministerium Bedürfnisse?" fragte Buresch schüchtern.

    Franzer schüttelte den Kopf, als meinte er, Buresch könnte Schlimmes ahnen.

    „Mit Umwelten meine ich bloß: besondere Reizmilieus für statistisch signifikant unterscheidbare Sozialsegmente. Jeder kann im Übrigen unsere Daten nutzen, sie stehen im Netz zur freien Verfügung."

    Buresch runzelte die Stirn.

    „Und wer nutzt die Daten wirklich?" fragte sie bohrend.

    „Natürlich fast nur Firmen, hie und da ein Soziologe, antwortete Franzer. „Wichtig ist: Die Menschen merken das Design nicht und müssen es auch nicht merken! Dennoch ist alles öffentlich; man kann sich informieren, wenn man will.

    Er lachte jäh aus vollem Halse los.

    Buresch rückte auf ihrem Stuhl hin und her.

    „Die Umweltengestaltung läuft über Förderungen aus der Union. Die Firmen machen mit oder nicht. Wir selbst stellen nur Grundlagenüberlegungen an, fuhr Franzer fort, als er sich wieder beruhigt hatte. „Wie können wir die Freiheit der Bevölkerung durch unser Wissen weiter vermehren? Durch das Konstruieren von idealen Umwelten, den Rest machen Wirtschaft und Menschen von selbst.

    Die segmentspezifischen Fernsehprogramme, Werbungen und Seiten im Netz waren auf alle Medienkonzerne etwa gleich verteilt. Das Unsichtbare, das Geld, die Hand. Kein Grund zu misstrauen. Das Ministerium lieferte die Daten, der Markt regelte das Angebot, die Nachfrage zog nach.

    „Ja, aber", Buresch zögerte, „das ist doch Kontrolle, auch wenn sie kaum jemand bemerkt. Und was ist mit den Schlauen, die dieses Sozialstatistikfeedback durchschauen?"

    Affektivität, Suggestibilität, Paranoia. Franzer winkte ab.

    „Jeder kann das durchschauen, wenn er will. Das Ministerium für Allgemeines Lernen und Lehrentwicklung veröffentlicht ja alle Memoranden im Netz!"

    Memoranden, Protokolle, Statistiken: Alles lagerte im Netz.

    „Und die Schlauen, die Sie meinen, Buresch, fuhr er fort, „sind doch auch Teil eines Segments.

    Die Sonne schien nun schräger durch die Fenster und Buresch musste blinzeln.

    „Ja, aber die psychischen Probleme?"

    Die Argumente schienen ihr auszugehen.

    „Buresch! rief Franzer, „haben Sie denn noch nicht bemerkt, dass wir praktisch keine mehr haben?

    Buresch musste sich im Nacken kratzen.

    „Nur noch 5% der Bevölkerung, und zwar ziemlich gleich verteilt in allen Segmenten, äußert psychische Probleme; die Psychosen sind medikamentös ausgemerzt, und die verbleibenden Seelenwehwehchen wird unser CP minimieren!" Franzer lächelte über das ganze Gesicht.

    „CP?" fragte Buresch offenbar verblüfft und runzelte die Stirn.

    ***

    „Ich will eine neue Unternehmenskultur!" rief Tertschik kurz vor dem Abschlag oder Aufschlag.

    Der Wind fuhr ihr durchs Haar, Gegenwind, und sie war sich merkbar unsicher, ob Mayer sie überhaupt gehört hatte.

    „Was? Was?" rief Mayer, etwa zwanzig Meter entfernt, die Augen zusammenkneifend.

    Mayer lag ein paar Punkte voran, denn Tertschik, die gewöhnlich besser spielte, war nicht nur offenbar in Gedanken versunken, sondern musste zwischenzeitlich durch ihre Ray-Ban-Gucci-Sonnenbrille zu ihrem schwarzweißen Hündchen hinüberblicken, das an den Zaun gebunden war. Vor kurzem hatte sie ein neues Unternehmensberatungsbuch herausgebracht.

    „Sind die konstruktivistischen Modelle, die ich in meinem Buch verwendet habe, wirklich so eindringlich, dass sie die Leserschaft erreichen?" fragte sie sich eventuell.

    „Du musst mit deinem Buch doch keine große Leserschaft erreichen, brüllte da Mayer in den Wind. „Wichtig ist, dass die Kollegen und Klienten dich bewundern!

    Tertschik schlug just in dem Augenblick ab oder auf als sie Mayers Hinweis augenscheinlich aufnahm. Der Schlag war wieder schlecht und Mayer somit einen weiteren Punkt voran. Der Zielkonflikt, die Dissonanz, Winde.

    „Du glaubst wohl, ich denke dauernd nur an mein Buch, bloß weil es gerade herausgekommen ist", schrie Tertschik zurück.

    Ob Mayer sie hören konnte? Das schwarzweiße Hündchen am Zaun kläffte kurz. Draußen vor der Sportanlage schimmerte Tertschiks Auto, das zur Hälfte Geländewagen, zur anderen Hälfte Sportwagen war. Es hieß Audi-Suzuki.

    „Na, immerhin ist es dein erstes Buch", krächzte Mayer.

    Sie war Gattin eines erfolgreichen Anwalts und diente Teilzeit in einer Partnerfirma von Tertschiks Partnerfirma, die Unternehmen beriet.

    „Machen wir eine Pause, vielleicht spielst du danach besser", schlug Mayer, deren Stimme zu brechen begonnen hatte, vor.

    „Ich brauche aber keine Pause, brüllte Tertschik sichtlich wütend, „da könnte ich ja gleich fernsehen!

    Das Fernsehverhalten der Etablierten ist distinguiert. Am liebsten sehen sie Themensendungen der öffentlich-rechtlichen Programme. Besonders Grundsatzdiskussionen, Hintergrundinformationen, qualifizierte Reise- und Essensberichte, Nachrichtensendungen und exklusive Sportarten haben es ihnen angetan. Diese konsumieren sie indes nicht gerne allein. Abschottung war gestern.

    „Pausen sind nicht nötig – das habe ich in meinem Buch geschrieben", meinte Tertschik, nachdem sich beide schnaufend neben dem Spielfeld in die Gorgona-Plüschsessel vor das Gusseisentischchen gesetzt hatten.

    „Hättest du das Manuskript gelesen, wüsstest du das jetzt."

    Mayer schwieg. Beide hatten sich ihre Energiegetränke in unbedeutende Gläser geschenkt und tranken nun. Neben Tertschiks linkem Sportschuh hatte sich das kleine schwarzweiße Hündchen in der Wiese eingerollt und schnurrte. Mitte fünfzig entscheidet sich, ob man als Rentner glücklich oder sehr glücklich sein wird.

    Der betagte Platzwart trollte sich vorbei. Er war, wie immer, in eine feine weiße Uniform gehüllt und grüßte die beiden Damen mit einem freundlichen „Kontakt!"

    „Kontakt, gaben Mayer und Tertschik im Chor zurück, während das Hündchen weiterschnurrte. Im Vorübergehen murmelte der Platzwart noch etwas von „die Roten und „Klassenkampf". Hatten sie sich verhört?

    Beim nächsten Abschlag oder Aufschlag stellte sich dann Tertschik wesentlich besser an. Ihre beiden Kinder (m/w) waren über zwanzig und lebten in gut gemeinten Kleinappartements. Wie einst sie und ihre Freundin Mayer studierten auch die Kinder an der Universität. Tertschik hatte ihnen im Vorwort zu ihrem neuen Buch Dank ausgesprochen, denn schließlich war es ihr Sohn gewesen, der sie in den kybernetischen Konstruktivismus eingeführt hatte, der nun unter dem guten alten Namen „segmentspezifisches Zielgruppenmarketing" in ihrem Buch Anwendung fand. Ihrer Tochter Cathy hatte sie im Vorwort danken müssen, weil sie ihrem Sohn für seinen Hinweis gedankt hatte.

    „Übrigens will ich keine große, sondern eine qualitativ gute Leserschaft erreichen", schrie Tertschik Mayer zwischen zwei Schlägen zu.

    Der Wind blies weiter und weiter. Das Spiel ging weiter. Tertschik hatte inzwischen aufgeholt; es stand unentschieden. Das schwarzweiße Hündchen, das wieder am Zaun befestigt worden war, hatte zu kläffen aufgehört, nachdem es eine Minute zuvor ohne sichtlichen Grund zu kläffen begonnen hatte. Auch Mayers Auto schimmerte auf dem nah gelegenen Parkplatz. Es war eine Mischung aus Sport-und Geländewagen und hieß BMW-Hyundai.

    „Was möchtest du denn noch

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