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hizmet: Fragen und Antworten zur Gülen-Bewegung
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hizmet: Fragen und Antworten zur Gülen-Bewegung

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About this ebook

Muhammed Çetin greift zentrale Themen der öffentlichen Diskussion über das Selbstverständnis von Religionen auf und gibt erhellende Antworten auf Fragen nach kultureller Identität. Im Fokus seiner fundierten Studie stehen der aus der Türkei stammende Prediger Fethullah Güllen und insbesondere all jene, die sich auf ihn berufen und die Bildungslandschaft nicht nur in Deutschland bereichern: die Hizmet-Bewegung. Er schildert ihre verschiedenen interkulturellen und interreligiösen Aktivitäten und es gelingt ihm, Vorbehalte gegen dieses von außen nur schwer überschaubare Netzwerk zu zerstreuen. Im Mittelpunkt dieses Buches stehen die Ethik der Selbstverantwortung, das Prinzip der gemeinsamen Entscheidungsfindung, die Frage nach der kulturellen Identität, die permanente Suche nach dem Verbindenden zwischen Menschen und Kulturen und nicht zuletzt die Perspektive eines friedfertigen Islams. So darf das Buch als ein wichtiger Beitrag für die Fortschreibung einer demokratischen und offenen Gesellschaft verstanden werden. Jürgen Nielsen-Sikora
LanguageDeutsch
PublisherMain-Donau
Release dateDec 30, 2013
ISBN9783944206196
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    Book preview

    hizmet - Wilhelm Willeke

    HİZMET

    Fragen und Antworten

    zur Gülen-Bewegung

    Muhammed Çetin

    Copyright © Main-Donau Verlag GmbH, Frankfurt am Main, 2013

    1. Auflage

    Es ist nicht gestattet, Teile dieses Buches zu scannen, in PCs oder auf CDs zu speichern oder in PCs/Computern zu verändern oder einzeln oder zusammen mit anderen Vorlagen zu manipulieren, es sei denn mit schriftlicher Genehmigung des Verlags.

    Erschienen im Main-Donau Verlag

    Übersetzung: Wilhelm Willeke

    Lektorat: Abdullah Kulaç

    Korrespondenz:

    Gerbermühlstr. 32 60594 Frankfurt am Main

    Tel: +49 69 95932138

    Fax: +49 6995932139

    DIJITAL ISBN: 978-3-944206-19-6

    www.main-donau-verlag.de

    Druck: Caglayan A.S.

    Izmir - Türkei

    Ein Lächeln schenken

    Bildung ist eng verbunden mit dem Willen zu verstehen. Nur wer versteht, ist fähig zum Verständnis. Verständnis setzt Dialog voraus: Ohne das Gespräch mit dem Anderen kommen wir nicht zur Einsicht.

    Muhammed Çetin leistet mit dem vorliegenden Buch einen ganz besonders wichtigen Dialogbeitrag. Er greift zentrale Themen der öffentlichen Diskussion über das Selbstverständnis von Religionen auf und gibt erhellende Antworten auf Fragen nach kultureller Identität. Im Fokus seiner fundierten und gut verständlichen Studie steht der aus der Türkei stammende Prediger Fethullah Gülen. In Deutschland ist er längst kein Unbekannter mehr. Doch die Debatte über ihn nimmt mitunter recht groteske Züge an: Wissenslücken in Bezug auf seine Philosophie werden nicht selten mit Verschwörungstheorien unterfüttert. Muhammed Çetin zeichnet in seinem Frage-Antwort-Buch ein anderes, differenzierteres Bild. Er befasst sich insbesondere mit all jenen, die sich auf Gülen berufen und die Bildungslandschaft nicht nur in Deutschland bereichern: der Hizmet-Bewegung. Zu ihren Leitmotiven gehören der Dienst an der Gemeinschaft, die Verantwortung des Menschen für Andere und die Sorge um eine fortschrittliche und friedvolle Gesellschaft. Basis einer solchen Gesellschaft sind leistungsfähige Institutionen: Schulen und Hochschulen, Verlage und Unternehmensverbände, Kulturzentren und Vereine, aber auch Krankenhäuser werden mittlerweile von Menschen geführt, die sich auf Gülens Lehren berufen. Sie betonen die Ablehnung jeglicher Gewalt und unterstreichen die Bedeutung eines sozialen Gleichgewichts der Gesellschaft, was insbesondere in der Pflicht zur Sorge um sozial Schwache und Bedürftige zum Ausdruck kommt.

    Muhammed Çetin stellt diese Bewegung in seinem Buch ausführlich vor, bettet sie in den politischen Kontext der Türkei ein, beschreibt die Merkmale der Bewegung und diskutiert die gängigen Vorurteile. Für Westeuropäer nur schwer nachzuvollziehen ist, dass Hizmet keine Dachorganisation hat. Es handelt sich vielmehr um eine langfristig geplante Projektarbeit in zahlreichen Netzwerken. Gewiss rühren aus diesem von außen nur schwer überschaubaren Netzwerk der Beziehungen die meisten Vorbehalte. Doch Muhammed Çetin versteht es eindrucksvoll, diese zu zerstreuen, indem er die verschiedenen interkulturellen und interreligiösen Aktivitäten von Hizmet schildert. Toleranz und Dialog bilden hierbei die Grundfeste.

    Hizmet betont den Rechtsstaat, ist aber weder politisch noch parteilich. Die Bewegung beruft sich auf Nachbarschaft und gemeinsame Interessen sowie auf Freundschaft als einem der wichtigsten Werte im Zeitalter von Diffusion und Zerstreuung. Es geht ihr darum, sich für Andere zu engagieren und Brücken zu bauen. Deshalb steht die Zusammenarbeit mit kollektiven Akteuren der Zivilgesellschaft im Vordergrund der Bildungsarbeit.

    Muhammed Çetin präsentiert Hizmet als eine philanthropische, altruistische und anthropozentrische Bewegung, die mit Hilfe spiritueller Praxis zum Gemeinwohl beitragen und das Wohlgefallen Gottes finden möchte. Die Vorbilder stammen jedoch aus verschiedenen Kulturen. Gülen beruft sich unter anderem auf Kant und Gandhi, um seine Ideen zu veranschaulichen. Im Kern sind das seine Ethik der Selbstverantwortung, das Prinzip der Deliberation und die permanente Suche nach dem Verbindenden zwischen Menschen und Kulturen. Es ist die Perspektive eines friedfertigen Islams, bei dem Gülen der Bewegung eine Art Inspirationsquelle ist – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

    Hizmet kennt keine Feindbilder. Die Bewegung möchte den Menschen ein Lächeln schenken und setzt sich nicht zuletzt in Deutschland für die Stärkung der demokratischen Institutionen ein. Diese sind stets in Gefahr und bedürfen derer, denen Bildung und Menschenwürde nicht gleichgültig sind. Muhammed Çetins Buch ist insofern ein wichtiger Beitrag für die Fortschreibung einer demokratischen und offenen Gesellschaft.

    Jürgen Nielsen-Sikora

    Vorwort

    Im Mittelpunkt dieses Buches steht ein zeitgenössisches soziales Phänomen, das zuweilen mit den Begriffen ‚Hizmet‘ oder ‚Bewegung der Freiwilligen‘ umschrieben wird. In akademischen Kreisen spricht man häufig auch von der ‚Gülen-Bewegung‘, abgeleitet von der Person, die diese Bewegung inspiriert hat: Fethullah Gülen.

    Gülen ist weltweit einer der einflussreichsten islamischen Gelehrten seiner Generation. Als Autor von über 50 Büchern hat Gülen sein Leben der Förderung friedvoller Beziehungen innerhalb und zwischen unterschiedlichen Gemeinschaften, Gesellschaften, Kulturen und religiösen Traditionen gewidmet.

    Seit den 70-er Jahren ist die von ihm inspirierte soziale Bewegung zu einer transnationalen im Bildungsbereich aktiven, interkulturellen und interreligiösen Bewegung herangewachsen, in der Millionen von Menschen mitwirken. Diese Mitwirkenden haben Hunderte von modernen Bildungseinrichtungen auf allen Kontinenten gegründet, sie betreiben Verlage und Funk- und Fernsehstationen und engagieren sich in Vereinen und Verbänden für einen Dialog in der Gesellschaft. Aus diesem Grunde hat die Bewegung in den letzten Jahren das Interesse der Wissenschaft auf sich gezogen.

    2009 habe ich mit dem Buch The Gülen Movement: Civic Service without Borders (Die Gülen-Bewegung: Gemeinnützige Dienste ohne Grenzen) eine eigene soziologische Forschung und Analyse der Bewegung veröffentlicht. Daraufhin baten mich viele Leserinnen und Leser, die Informationen aus dem Buch doch auch einem breiteren Publikum verfügbar zu machen. Deshalb habe ich meine Forschungsergebnisse hier in einem Frage-und-Antwort-Schema aufbereitet und mich darum bemüht, so weit wie möglich ohne soziologischen Fachjargon auszukommen. Ich hoffe sehr, dass diese Arbeit vor allem denjenigen, die sich in der Hizmet und anderen friedfertigen zivilgesellschaftlichen Bewegungen rund um den Erdball für ihre Mitmenschen einsetzen, einige interessante neue Erkenntnisse über die Bewegung liefern und die Bewegung noch zugänglicher machen wird. Dieses Buch wendet sich also, mit anderen Worten, an alle Menschen, die Anteil nehmen, die sich sozial engagieren und denen am Frieden liegt, unabhängig davon, welcher Nation sie angehören mögen.

    Einführung

    1. Worum geht es in diesem Buch?

    In diesem Buch geht es um ein zeitgenössisches soziales Phänomen, dem unterschiedliche Namen angeheftet werden: Bewegung der Freiwilligen, Dienst-Bewegung oder einfach Hizmet. Wissenschaftler und Journalisten benutzen auch oft den Begriff Gülen-Bewegung, abgeleitet vom Namen des islamischen Gelehrten, der die Bewegung inspiriert hat: Fethullah Gülen.

    In meinem Buch werden diese Bezeichnungen synonym verwendet. Immer wenn von der Bewegung die Rede ist, ist eben diese soziale Bewegung (d.h.: Hizmet) gemeint, und immer wenn das Wort Bewegung unbestimmt gebraucht wird, bezieht es sich auf soziale Bewegungen allgemein.

    2. Was bedeutet eigentlich Hizmet?

    Hizmet ist das türkische Wort für Dienst. Wenn Mitwirkende in der Bewegung von ihrer Bewegung sprechen, verwenden sie meistens diesen Begriff.

    3. Welchem Zweck dient das Buch, das Sie in Händen halten?

    Hizmet hat in den letzten Jahren das Interesse der Wissenschaft auf sich gezogen. Aber nach wie vor gibt es zu wenig Studien, um diesem Phänomen gerecht zu werden und all seine vielfältigen Facetten zu beleuchten. Mein Buch soll die Ergebnisse der bislang veröffentlichten akademischen Arbeiten so zusammenfassen und darstellen, dass auch Laien oder Nicht-Spezialisten sie verstehen können.

    4. Wo liegen die Anfänge von Hizmet als Bewegung?

    Die Bewegung entstand in der Türkei der 70-er Jahre als eine vom Glauben getragene Initiative zur Verbesserung der Bildungs- und Ausbildungssituation einer lokalen Gemeinschaft. Seit jener Zeit jedoch ist sie zu einer transnationalen im Bildungsbereich aktiven, interkulturellen und interreligiösen Bewegung herangewachsen. In dieser Bewegung wirken, so schätzt man, mittlerweile mehrere Millionen Menschen mit. Längst hat Hizmet auf allen Kontinenten Einrichtungen (unterschiedlichster Art, meistens aber Schulen) gegründet und etabliert, die allseits Respekt genießen.

    5. Warum lohnt es sich, Hizmet zu studieren?

    Hizmet beweist, dass eine vom Islam inspirierte Bewegung das Potenzial besitzt, eine große Zahl von religiös orientierten, praktizierenden Menschen zu mobilisieren, die eine säkulare, pluralistische, demokratische soziale und politische Ordnung nicht nur akzeptieren, sondern auch zu schätzen wissen.

    6. Welche Erkenntnisse liefert das Studium dieser Bewegung Außenstehenden, die nichts mit ihr zu tun haben?

    Ein klares Bild von dieser Bewegung kann anderen kulturellen Akteuren und anderen Bewegungen, die ebenfalls dem Frieden verpflichtet sind, dabei helfen, ihr Repertoire an Aktivitäten zum Wohle des gesellschaftlichen Friedens und einer Kulturen übergreifenden Kooperation zu erweitern. Insofern kann eine bessere Kenntnis der Bewegung die Zivilgesellschaft lebendiger machen und Polarisation und Fragmentierung, wie es sie in Gesellschaften wie der Türkei gibt, entgegenwirken.

    7. Wurde in der Vergangenheit bereits zu ähnlichen Bewegungen geforscht?

    Es existieren nur wenige Forschungen zu friedfertigen, vom Glauben inspirierten sozialen Bewegungen, die aus einem islamischen Kontext hervorgegangen sind. Die meisten Studien übersehen die Existenz nicht-politischer Elemente in aufstrebenden Bewegungen. Sie ignorieren Themen wie Menschenliebe, Selbstlosigkeit und freiwilliges Engagement, mit denen sich jedoch zumindest teilweise erklären lässt, warum die Mitwirkung an Aktivitäten, von denen man selbst nicht unmittelbar profitiert, auf so große Begeisterung stößt. Folglich gelingt es diesen Studien auch nicht, plausibel darzulegen, warum (und wie) der Glaube - in diesem Fall der Islam - das Bedürfnis nach kulturellen oder politischen Mitwirkungsmöglichkeiten stillt.

    8. Spielt der Glaube für die Entstehung sozialer Bewegungen wirklich eine Rolle?

    Ja, der Glaube und die Mitwirkungsmöglichkeiten, die er eröffnet, besitzen in der Zivilgesellschaft und für die Demokratie einen sehr hohen Stellenwert. Der Glaube und die Mitwirkungsmöglichkeiten, die er eröffnet, tragen stark dazu bei, die ehrenamtliche Arbeit und den Dialog zu stärken. Sie fördern den Aufbau von Beziehungen zum Erreichen gemeinsamer Ziele. Sie ermutigen die Menschen, Gutes zu tun und ihre Erfahrungen und ihr Know-how zur Verfügung zu stellen. Religiöse Erfahrungen vermitteln andere Bedeutungen, Werte und Erfahrungen als die Erfahrungen, mit denen Protesttheorien oder konfliktorientierte politische Aktivitäten aufwarten können. Diese Faktoren spielen in der Gesellschaft eine ungemein wichtige Rolle. Sie regen die Ansichten, Entscheidungen und Aktivitäten der Menschen in hohem Maße an, was Anerkennung verdient.

    Religiöse Erfahrungen bzw. deren Einflüsse besitzen in allen Gesellschaften erhebliches Gewicht. Der Glaube ist eine motivierende Kraft. Er hilft dabei, Vertrauen aufzubauen, er stellt das ‚Sozialkapital‘ für friedfertige zivilgesellschaftliche Bewegungen zur Verfügung. Er bringt auch nicht nur konfliktorientierte Beziehungen hervor. Glaube lässt sich nicht immer aufrechnen oder in anderen Begriffen analysieren als durch sich selbst. Der Glaube und die Mitwirkungsmöglichkeiten, die er eröffnet, sind keine abhängige Variable, die durch die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen vorgegeben und strukturiert wird. Daher können religiöse Erfahrungen auch nicht abqualifiziert werden als Ersatz oder Ausgleich für andere Dinge, zum Beispiel für direktes oder umstrittenes politisches Handeln. Sie lassen sich nicht einfach dadurch ‚wegerklären‘, dass man ihnen soziale, psychologische oder materielle Motive unterstellt wie beispielsweise Konflikt vermeidenden Pazifismus oder ähnliches.

    9. Welche Rolle spielen die moralischen und spirituellen Werte für Hizmet?

    Da Hizmet eine vom Glauben inspirierte zivilgesellschaftliche Bewegung ist, werden die Mitwirkenden in dieser Bewegung nicht zuletzt durch spirituelle Ressourcen und moralische Werte motiviert, die aus der islamischen Tradition abgeleitet sind, zum Beispiel durch Uneigennützigkeit und andere nicht-materielle Anreize.

    10. Warum ist es nützlich zu erfahren, wie die Mitwirkenden in der Bewegung denken?

    Ihr Handeln und ihre eigene Interpretation ihres Dienstes könnten viele in gesellschaftlichen und religiösen Kreisen geführte Diskussionen über den Islam und friedfertige muslimische soziale oder kulturelle Bewegungen bereichern. Entsprechende Erkenntnisse dürften auch manche Ereignisse und Entwicklungen in der jüngeren Geschichte der Türkei verständlicher machen.

    11. Was unterscheidet Hizmet von europäischen Bewegungen in Vergangenheit und Gegenwart?

    Hizmet ist zwar eine zeitgenössische Bewegung, aber sie befasst sich mit Formen des Handelns, Inhalten und Bedeutungen, die sich in qualitativer Hinsicht von der Tradition jener Auseinandersetzungen unterscheiden, welche in europäischen Gesellschaften häufig zu beobachten waren. Sie passt nicht in die herkömmlichen Schemata der Arbeiterbewegungen im industriellen Kapitalismus und moderner linksorientierter Bewegungen.

    Neben Ungleichheiten oder Wandlungsprozessen in der Gesellschaft, die ökonomisch und politisch bedingt sind, werden andere Veränderungen und Bedeutungen von Spannungen unterschiedlicher Art in Bereichen hervorgebracht, in denen kulturelle und moralische Werte zum Ausdruck gebracht werden. Bedeutungen und Werte wie Glaube, Familie, Moral und auch bestimmte Episoden aus der Geschichte wurden und werden auch heute noch ignoriert oder schlichtweg vergessen. Viele Mechanismen der Selbstkontrolle und Eigenverantwortung, besonders solche, die ihren Ursprung im kulturellen Erbe und in der Religion der Völker haben, sind durch die Moderne verdrängt worden. Sie haben ihre schöpferische Kraft eingebüßt und sind schließlich zu bloßen Ausdrucksformen von Individualismus oder Eskapismus verkommen.

    Hizmet akzeptiert das Bedürfnis nach einer neuen integrierenden Synthese, die sich aus der Vergangenheit speisen, aber auf universellen Werten und modernen Realitäten basieren soll. Aufgrund dessen betont die Bewegung Werte wie Gleichheit, Freiheit, Würde, Altruismus, Lebensqualität, Ökologie und Moral besonders stark. All dies sind Anliegen und Themen, denen die gegenwärtig vorherrschende sozio-politische Struktur nur selten gerecht wird.

    12. Warum ist Hizmet für Wissenschaftler von Bedeutung, die sich mit sozialen Bewegungen beschäftigen und es gewohnt sind, über Bewegungen aus Europa und Nordamerika zu forschen?

    Vom Glauben und insbesondere vom Islam inspirierte Bewegungen unterscheiden sich in vielen Punkten von den sozialen Bewegungen, die die oben angesprochenen Soziologen und Politikwissenschaftler sonst analysieren. Wenn sie sich also nicht dem Vorwurf des Reduktionismus aussetzen möchten, müssen diese Wissenschaftler, die es gewohnt sind, über Protestbewegungen und das politische Verständnis in Europa und Nordamerika zu forschen, ihren Forschungsfokus verschieben.

    13. Was versteht man unter Reduktionismus, und welche Gefahren birgt er im Bezug auf die Diskussion über soziale Bewegungen?

    Sozialer, politischer, ökonomischer oder methodologischer Reduktionismus liegt dann vor, wenn Wissenschaftler bestenfalls Teilerklärungen für gemeinschaftliches Handeln anzubieten haben. In diesem Fall bleiben wesentliche Aspekte der Bewegung und ihrer Geschichte unberücksichtigt oder werden verzerrt, und das ist unbefriedigend. Dann kann es zum Beispiel passieren, dass ihre uneigennützigen Dienste und ihr innovatives kulturelles Potenzial als politisch subversiv einstuft werden, was den Tatsachen widerspricht.

    14. Welchen Beitrag kann das Studium von Hizmet zum akademischen Wissensschatz und zum Allgemeinwissen leisten?

    Dieses Studium kann uns dabei helfen, zukünftige Entwicklungen besser zu prognostizieren und unzutreffende sozio-politische Analysen über die Türkei und die Region zu entlarven. Außerdem vermittelt es uns ein klareres Bild über die Potenziale zeitgenössischer sozialer Bewegungen.

    Die Geschichte von Hizmet

    15. Welche Rolle spielen die Geschichte und der sozio-politische Kontext für den Aufstieg unterschiedlicher Bewegungen in der Türkei?

    Wer die aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in der Türkei nachvollziehen möchte, muss sich mit den wechselhaften Rahmenbedingungen vertraut machen, unter denen versucht wurde, nach Ende des Osmanischen Reichs eine nationalistische, laizistische und westlich orientierte Republik zu gründen und fest zu etablieren.

    Für die Entstehung, die Dynamik und die Wirkung sozialer Bewegungen allgemein (und insbesondere im Falle der vielschichtigen zivilen Aktivitäten von Hizmet) sind das politische System, dessen Institutionen und Entwicklungen sowie der übergeordnete soziale und kulturelle Ethos die entscheidende äußere Faktoren.

    16. Lässt sich der Aufstieg von Hizmet in der Türkei auf die Politik der ökonomischen und politischen Liberalisierung von Ministerpräsident Turgut Özal (1983-93) zurückführen?

    Nein, sicherlich nicht. Für die Entstehung und den Aufstieg von Bewegungen ist stets eine Vielzahl von Faktoren verantwortlich, nicht nur ein einziger Faktor. Der Existenz jeder Bewegung liegt eine einzigartige Kombination aus verschiedenen Faktoren zugrunde, die ein unterschiedlich starkes Gewicht besitzen: historischer Kontext, Missstände, Wirtschaft, Normen, Schichtzugehörigkeiten, Glaubensvorstellungen, Ressourcen, Netzwerke, Strategien, Ideologie, Organisationen, Herrschaft, Opposition etc.

    Deutungsansätze, die sich auf ein einziges Ereignis oder auf einige wenige Ereignisse fokussieren, können durchaus das ein oder andere Körnchen Wahrheit enthalten; der Realität und Bedeutung von Hizmet werden sie aber nicht gerecht. Zum Beispiel ist es bestenfalls ein winziger Teil der Wahrheit, wenn behauptet wird, dass die Bewegung ihren Aufstieg der Landflucht in die Städte, der Industrialisierung und der Modernisierung in der Türkei während der Özal-Dekade verdankt. Diese Erklärung ist unzureichend, weil sie wichtige Aspekte der Bewegung und ihrer Geschichte unberücksichtigt lässt.

    Tatsächlich entstammte Özal selbst einer Glaubensgemeinschaft. Er war gebildet und qualifiziert und besaß in der türkischen Gesellschaft und im Staatssystem Rang und Namen. Aber schon damals gab es staatliche Organe, die keiner Kontrolle unterlagen und ein Eigenleben führten. Mit seinen Äußerungen, Plänen und Maßnahmen stieß Özal seinerzeit auf großen protektionistischen Widerstand. Eine einzelne Person wie er hätte durch ihren Aufstieg niemals in so kurzer Zeit eine so große Zahl von gebildeten und qualifizierten Menschen, geschweige denn eine Bewegung wie Hizmet hervorbringen können. Die Wahrheit ist, dass die vom Glauben inspirierten Gemeinschaften bereits damit begonnen hatten, Kommunikationsnetze und Medien aller Art für sich zu nutzen. Als Unternehmer, die nicht auf staatliche Subventionen angewiesen waren, hatten sie außerdem schon bewiesen, dass sie in Exportindustrien erfolgreich waren und Deviseneinnahmen erzielen konnten.

    Soziale Bewegungen brauchen Zeit, um sich zu entwickeln; sie entstehen nicht als fertige Gebilde. Die Existenz politischer Spielräume führt nicht automatisch und aus dem Stehgreif zu verstärkten gesellschaftlichen Aktivitäten; sie allein liefert keine hinreichende Erklärung dafür, dass sich das kollektive Handeln als neuer Akteur etablieren konnte.

    Ein so breit angelegtes, durchorganisiertes kollektives Handeln wie im Falle von Hizmet kann sich nur dann entfalten, wenn bereits eine Basis von Menschen vorhanden ist, die die erforderlichen intellektuellen und beruflichen Fähigkeiten sowie die nötige Bereitschaft und Entschlossenheit mitbringen; nur dann kann sich ein Chancen-Fenster in der Geschichte öffnen.

    Es ist keineswegs die Regel, dass politische oder soziale Spannungen oder Bedingungen kollektive Akteure oder kollektives Handeln (soziale Bewegungen oder politische Parteien) hervorbringen. Ob dies geschieht oder nicht, ist von einer ganzen Reihe von Faktoren abhängig, zum Beispiel von der Verfügbarkeit adäquater organisatorischer Ressourcen, vom Talent der Wortführer solcher Bewegungen, ihr Weltbild der Öffentlichkeit und den Menschen ansprechend zu präsentieren, und von einem politischen Kontext, der Handlungsspielräume eröffnet.

    Wer also behauptet, Hizmet sei ein Produkt der Politik von Turgut Özal oder irgendeines anderen Ereignisses, der ignoriert die Tatsache, dass informelle Netzwerke und Solidaritätskreise im Alltagsleben zu jener Zeit bereits existierten. Schon damals gab es einflussreiche Netzwerke mit großer Reichweite und vielen Mitgliedern, und schon damals hatten Individuen und Gruppen viele Erfahrungen im gemeinsamen Leben und Arbeiten gesammelt. Die Bewegung verfügte also bereits über Ressourcen, die sie mobilisieren konnte. Und diese Ressourcen warteten nur darauf, auf neue Ziele ausgerichtet zu werden. Hätten sie nicht bereits existiert, so hätte die allgemeine Lage sie nicht hervorbringen können; die Bewegung wiederum hätte nicht davon profitieren können, dass die allgemeine Lage ihr eine neue Richtung vorgab.

    17. Existierten die kulturellen Netzwerke der

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