Fremde Heimat Ostpreußen: Spurensuche und Begegnungen Erzählung
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Book preview
Fremde Heimat Ostpreußen - Rosemarie Keil
Rosemarie Keil
Fremde Heimat Ostpreußen
Spurensuche und Begegnungen
Erzählung
Laumann-Verlag
Foto Telegrafenamt: Jurij Bardun;
alle anderen Fotos: Falk-Uwe Keil und privat
Kartenskizzen Seite 126: Falk-Uwe Keil
Umschlaggestaltung und Foto: Falk-Uwe Keil
© 2016 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,
48249 Dülmen
Gesamtherstellung:
Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG,
Postfach 1461, 48235 Dülmen
ISBN 978-3-89960-431-3
info@laumann-verlag.de
www.laumann-verlag.de
Heimat sind Wurzeln und Flügel.
Goethe
Zur Erinnerung an meine Großeltern
Friedrich Schiborn und Emma geb. Bergau sowie ihre vier Kinder, von denen Eva meine Mutter war.
1
Worauf hatte Anne sich da eingelassen? Aber nun war sie im Zug und es gab kein Zurück mehr. Ihre Gedanken wanderten zu jenem nasskalten Februartag, an dem alles begann. Sie saß damals in ihrer kleinen Wohnung, hoch über den Dächern der Stadt, vor einem grauen Pappköfferchen mit abgestoßenen Ecken und sortierte Fotos, Briefe und Dokumente ihrer Mutter Eva. Nach deren Tod im Oktober hatte sich Anne endlich dazu aufraffen können. In der letzten gemeinsamen Zeit gab es noch viele gute Stunden für sie beide, und manchmal hatte Eva sogar von Ostpreußen erzählt, was vorher nur selten vorgekommen war.
Beim Kramen fiel Anne ein dicker, brauner Umschlag in die Hände, auf dem ihr Name stand: »Annemarie«. Das war höchst ungewöhnlich, denn so wurde sie in der Familie von jeher nur zu offiziellen Anlässen, oder wenn sie als Kind etwas angestellt hatte, genannt. Erstaunt fand sie darin tausend Euro, zwei alte Fotos und den Ausschnitt einer Landkarte. Die beiden Fotos kannte sie aus ihrer Kindheit. Das eine, zerschnittene Bild, das ihren Großvater und die Hälfte eines Arms zeigte, stand immer auf Omas Kredenz auf einem sorgfältig gestärkten Hohlsaumdeckchen aus Leinen. Oma hatte es damals in Ostpreußen noch selbst auf dem großen Webstuhl in der Stube hergestellt. Dieses einzige Andenken aus ihrer Heimat bekam sie nach dem Krieg von ihrem Bruder Fritz aus Berlin zurück, dem sie es einst zu Weihnachten geschickt hatte. Das andere Foto war eins von Evas Lieblingsbildern gewesen und hatte, zusammen mit einigen anderen, in einer bunt bemalten Holzschachtel in Omas Schrank gelegen. Darauf war Eva als junges Mädchen zu sehen, wie sie sich lächelnd an eine der schlanken Birken in einem
Eva in Schloßberg
Wäldchen ihrer Heimat lehnt. Anne freute sich, diese beiden auch von ihr geliebten Fotos wiedergefunden zu haben.
Aber der Kartenausschnitt bereitete ihr Kopfzerbrechen, denn er war in russischer Sprache beschriftet, doch Eva beherrschte kein Russisch. Der nördliche Teil Ostpreußens gehörte seit dem Kriegsende zu Russland. Auf der Karte war das jetzige Kaliningrader Gebiet abgebildet, also die Gegend um das frühere Königsberg bis hin zur litauischen Grenze, in deren Nähe Eva mit ihren Eltern und Geschwistern einst lebte. Drei Orte waren mit einem Farbstift markiert, darunter das heutige Dobrovolsk, Mutters damalige Kreisstadt Schloßberg. Wie sie das bloß herausgefunden hatte? Und noch einen vierten Farbpunkt entdeckte Anne: genau zwischen Schloßberg und der litauischen Grenze. Da hatte sie sicher ihr kleines Dorf Moosheim eingezeichnet. Doch wie war sie nur zu dieser russischen Karte gekommen? Und vor allem: Was bedeutete der ganze Inhalt des braunen Umschlags? War es vielleicht eine Botschaft für Anne, die ihr Eva nicht mehr erklären konnte oder es gar nicht gewollt hatte? Das sähe Mutter ähnlich, denn oft genug hatte die Tochter erraten müssen, was sie fühlte und dachte. Gespräche darüber waren meist schwierig gewesen. Nach Tagen des Nachdenkens gelangte Anne zu der Vermutung, dass ihre Mutter sich wünschte, sie – Anne – solle an ihrer Stelle in das ehemalige Ostpreußen fahren und dort vielleicht auch nach Spuren ihres Großvaters suchen, die sich damals mit dem Einmarsch der Roten Armee in Königsberg verloren hatten. So ließe sich das Geld erklären. Doch die Karte?
Anne grübelte wochenlang, was sie tun sollte. Schon seit Jahren ließen ihr diese blinden Flecken in der Familiengeschichte keine Ruhe. Nach der Wende hatte sie sich Bücher über Ostpreußen besorgt und die hier im Osten so lange unzugänglichen Informationen wie ein trockener Schwamm aufgesaugt. Filmaufnahmen im Fernsehen über dieses versunkene Land verfolgte sie
Großvater auf seinem Hof in Moosheim
wie gebannt und war fasziniert von der weiten, melancholisch wirkenden Landschaft mit dem hohen Himmel. Doch sollte sie es wirklich wagen, in Mutters nun fremde Heimat zu fahren? Wäre sie als Deutsche nach all den Ereignissen der Geschichte überhaupt willkommen bei den russischen Bewohnern, die jetzt dort lebten? Auch hatte sie noch die Bemerkung ihres Onkels im Ohr, dass »die Russen« dort alles »verkommen« ließen. Und dass von Mutters Dorf nach dem Krieg nichts mehr übrig geblieben war, hatte Anne ja schon erfahren. Was sollte sie da also noch finden?
Schließlich siegten Wissensdrang und Neugierde. Sie entschloss sich, Mutters Auftrag anzunehmen und in ihren eigenen zu verwandeln. Ja, Anne wollte sich selbst ein Bild von diesem früheren Land machen, das es so nicht mehr gab. Sie wollte nach Spuren ihres Großvaters forschen und, soweit möglich, all die Orte aufsuchen, an denen ihre Familie einmal war. Und sie wollte sehen, wie die Menschen heute dort leben. Ob ihr dies alles gelingen würde?
Nun war sie also unterwegs nach Russland. Doch zunächst brachte sie der Zug bis nach Bremen, wo sie von ihrem Freund Arno, einem »alten Ostpreußen«, und seiner russischen Frau Tatjana erwartet wurde. Anne war froh und dankbar, dass die beiden sie in ihrem Auto mitnahmen und sie auf diesem Weg sogar eine sachkundige Reisebegleitung bekam. Arno, der aus Evas Nachbardorf stammte und schon mehrmals im Kaliningrader Gebiet gewesen war, kannte sich mittlerweile dort recht gut aus.
Tatjana war unerbittlich und übte unterwegs mit Anne russische Konversation, und ganz langsam kamen einige Brocken vom verschütteten Schulrussisch wieder zum Vorschein.
»Du musst sprechen einfach, Grammatik nicht wichtig!«, meinte sie und nickte Anne aufmunternd zu.
Arno trug manchen Scherz zur Unterhaltung bei, und so verging die Zeit wie im Flug. Im polnischen Elblag, dem früheren Elbing, übernachteten sie. Anne konnte nicht einschlafen und versuchte sich vorzustellen, was sie in den folgenden Tagen erwarten würde. Hätte sie es gewusst, wäre sie wohl gleich mit dem nächsten Zug zurückgefahren. Oder vielleicht auch nicht?
2
Das russische Grenzregime mit all seiner langwierigen, umständlichen Bürokratie und Unfreundlichkeit war für Anne neu und recht gewöhnungsbedürftig. Obwohl so früh am Morgen nur wenige Autos vor ihnen standen, dauerte die Abfertigung über zwei Stunden. Doch dann, jenseits der Grenze, fühlte sie sich wie in einer anderen Welt. Fassungslos starrte sie auf traurige Dörfer mit oftmals verfallenen, grauen Häusern, auf riesige, versteppte Felder. Nur ab und zu waren Spuren landwirtschaftlicher Bearbeitung oder Nutztiere zu erkennen. Weit und breit nur einsame, wilde Landschaft. Worauf hatte sie sich nur eingelassen? Doch die üppig blühenden Wiesen, wenn es auch nur »Unkraut« wie Goldrute oder von Mohn gesäumte blaue Kornrade war, und dieser unglaublich hohe Himmel mit den gewaltigen, schnell dahinziehenden Wolkengebirgen entschädigten sie.
»Ja, das ist Russland …«, seufzte Tatjana, und Anne konnte im Rückspiegel ihr trauriges Gesicht sehen.
Aber dann gab es auch Erfreulicheres zu entdecken: Eine Backsteinkirche aus deutscher Zeit war sorgfältig restauriert worden und diente offensichtlich wieder Gottesdiensten. In einem anderen Ort strahlte eine neu erbaute russisch-orthodoxe Kirche mit weiß-goldenen Kuppeln in den Tag.
Gegen Abend kamen sie in dem unscheinbaren Gebietsstädtchen Krasnosnamensk an, dem früheren Haselberg, wo sie am Marktplatz von einem mächtigen, mit hellgrauer Ölfarbe gestrichenen Lenin-Denkmal empfangen wurden. Anne riss die Augen auf. Den gab es also noch, trotz Perestroika und Glasnost! Na gut, sollte Wladimir Iljitsch sie eben hier bewachen, dachte sie amüsiert. In der kleinen Pension neben der Schule begrüßte sie Swetlana, die Inhaberin, in beinahe perfektem Deutsch und umarmte sie herzlich. Anne war die Jüngste von ihnen und wurde für die nächsten Tage im gemütlichen Dachstübchen einquartiert. Auch Mareike und Manfred aus Kiel lernte sie kennen, die hier ebenfalls auf Spurensuche waren. Manfred hatte die ersten Jahre seiner Kindheit in einem Nachbardorf von Haselberg verbracht und das Haus vor zwei Jahren sogar in gutem Zustand wiedergefunden. Dann gab es auch schon ein Abendessen »wie bei Muttern«: mit kräftiger Gemüsesuppe, Fleisch, Kartoffeln und allerhand Köstlichkeiten aus dem eigenen Garten, nicht zu vergessen die gute, dicke Sahne, die sich noch als obligatorisch herausstellen sollte. Also wieder keine Chance zum Abnehmen, seufzte Anne. Und als sie den selbstgekochten dicken Obstsaft zum Nachtisch probierte, musste sie an ihre geliebte Oma denken, bei der er ganz genauso geschmeckt hatte.
»Ja, die russische Küche hier hat viel mit der ostpreußischen gemeinsam«, bestätigte Swetlana vergnügt.
Beim üppigen Frühstück am nächsten Morgen fasste Anne sich ein Herz und fragte die quirlige, aufgeschlossene Wirtin, woher all die Leute stammen, die hier nach dem Krieg angesiedelt wurden. Schlagartig wich das Lächeln aus ihrem Gesicht, und auch die anderen waren sehr ernst geworden. Anne erschrak: Hatte sie etwa ein Tabu-Thema berührt? Schnell wollte sie um Verzeihung bitten, doch Swetlana legte ihr, während sie Tee nachgoss, die freie Hand auf die Schulter.
»Nein, nein, es ist schon alles in Ordnung«, meinte sie beruhigend. Sie setzte die Kanne bedächtig ab, stützte sich mit beiden Händen auf einen freien Stuhl und berichtete.
»In diese Gegend hier kamen hauptsächlich Menschen aus dem Kursker und Brjansker Gebiet, aber auch aus anderen Orten westlich von Moskau, die im Krieg völlig zerstört worden sind. Man versprach den Leuten damals – wie sagt man? – Blaues vom Himmel, aber längst nicht alles wurde gehalten. Einige überlebten die manchmal wochenlange Fahrt im Eisenbahnwaggon mit wenig Nahrung nicht, und manche auch nicht den ersten harten Winter. Aber die Jungen heute wissen davon meist nichts mehr«, schloss sie mit einem Schulterzucken, das wohl locker wirken sollte.
Dann holte sie tief Luft und erzählte weiter: »Hier, im früheren Haselberg, war