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Das Lübecker Komplott: Fritz Reuters zweiter Fall
Das Lübecker Komplott: Fritz Reuters zweiter Fall
Das Lübecker Komplott: Fritz Reuters zweiter Fall
Ebook378 pages5 hours

Das Lübecker Komplott: Fritz Reuters zweiter Fall

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August 1859: Fritz Reuter und seine Frau Louise besuchen Louises Vater in Dassow bei Travemünde. Auch der Verleger Dethloff Carl Hinstorff ist von Wismar herübergekommen, um mit seinem Autor über dessen Roman "Ut de Franzosentid" zu verhandeln. Bei einem Spaziergang entdecken sie am Ufer des Dassower Sees den Leichnam eines vornehmen Mannes – mit einer Wunde am Kopf. Seine Taschen sind leer. Als er endlich identifiziert werden kann, führt die Spur nach Lübeck. Dort begegnen Reuter und Louise nicht nur dem russischen Schriftsteller Iwan Turgenjew, es wird auch eine weitere Leiche gefunden: Ein Russe, der sich als Engländer ausgegeben hatte, treibt mit durchschnittener Kehle in der Trave. Allem Anschein nach ist Lübeck das Zentrum eines internationalen Komplotts. Und dann kommt auch noch ein altes Verbrechen aus der Zeit der napoleonischen Besatzung ans Licht ...
LanguageDeutsch
Release dateJun 1, 2017
ISBN9783356021646
Das Lübecker Komplott: Fritz Reuters zweiter Fall

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    Das Lübecker Komplott - Frank Goyke

    Glossar

    1

    Donnerstag, 11. August 1859

    Die Natur erschien wie tot. Kein Luftzug strich über die Wiesen oder durch das Schilf am Ufer des Dassower Sees, Staub bedeckte Weg und Steg. Vier Menschen hatten soeben das Siechenhaus von Schwanbeck verlassen, das sich zwischen dem See und der Chaussee von Lübeck nach Dassow befand. Voran ging ein gebeugter alter Herr, der sich mit der rechten Hand auf einen Stock stützte, während ihm links eine weitaus jüngere Frau beistand. Im Abstand von einigen Schritten folgten zwei Männer in den besten Jahren, der eine beleibt und untersetzt und von dem anderen, schlankeren um eine knappe Haupteslänge überragt. Auf der gegenüberliegenden Seite der Chaussee erhob sich die kleine, dem Heiligen Georg geweihte Siechenhauskapelle.

    »Wenn man sich so umschaut«, sagte der Wohlbeleibte getrieben von dem Wunsch, ein wenig Bildung auszustellen, »bekommt man ein Verständnis dafür, warum die Franzosen ein Stillleben als Nature morte bezeichnen.«

    »Nun, mein lieber Reuter«, erwiderte der Hagere, »dies ist doch eher eine Landschaft? Un paysage? Wenn auch nicht der Garten Eden!« Der Mann, seines Zeichens Verleger, fuhr sich mit dem Zeigefinger zwischen Hemdkragen und Hals, um den Schweiß fortzuwischen, der sich dort angesammelt hatte. »Sie haben doch soeben auf das Thermometer geschaut? Wie viel …?«

    »24° Reaumur.«

    »Um Gotteswillen!« Dethloff Carl Hinstorff zückte seine Taschenuhr, ein Erbstück wie so viele Chronometer, kostbar mehr im persönlichen Sinne und in der Fantasie des Erblassers. »Und es ist gerade elf!«

    »Gestern kletterte die Säule auf 25 und ein halbes«, sagte Fritz Reuter. Seit ein paar Tagen weilte er mit seiner Frau Louise am Dassower See, um sich ein wenig um ihren Vater zu kümmern: Der emeritierte Roggenstorfer Pastor Wilhelm Kuntze und seine Frau hatten sich vor geraumer Zeit als Hauseltern im Schwanbecker Siechenhaus niedergelassen, weil sie einfach nicht davon lassen konnten, anderen Gutes zu tun – so jedenfalls sagte Louise Reuter, und eine solche Meinung durfte man von einer guten Tochter wohl erwarten. Nun war aber die Mutter im Februar entschlafen, und da Vater Kuntze sich im einundachtzigsten Lebensjahr befand, wünschten Tochter und Schwiegersohn – die Tochter mehr als dieser – ihn so häufig wie möglich zu besuchen.

    Louise und ihr Vater, der das Tempo bestimmte, schritten so wacker die befestigte Straße entlang, wie der alte Mann bei dieser Hitze nur konnte. Die Chaussee war im Jahr zuvor eröffnet worden, an der Stelle der uralten Handelsstraße von Lübeck nach Wismar, und sie bewies, dass der moderne Straßenbau nun auch in Mecklenburg angekommen war. Eine Einladung zum Mittagessen beim Dassower Pastor Carl Griewank war der Grund dafür, dass man sich auf Schusters Rappen begeben hatte. Reuter sah deutlich, wie schwer es seinem Schwiegervater fiel, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auch ihm selber war der Weg jetzt schon sauer. Trotzdem blieb er bei seinem Vorsatz, Hinstorff auf die Probe zu stellen, obgleich dieser nicht aus Wismar herübergekommen war, um über Auflagen und Prozente zu sprechen, sondern über den Titel eines Buches. Auch hatte er eine Federzeichnung des Schweriner Hofmalers Theodor Schloepke vorbeigebracht, die als Umschlagbild für die bereits vierte Auflage der »Läuschen un Riemels« gedacht war, des ersten Buches von Reuter, das in der Hinstorffschen Hofbuchhandlung demnächst erscheinen sollte. Da Reuter mit einigen Buchhändlern und Verlegern schlechte Erfahrungen gemacht hatte, hielt er eine gewisse Vorsicht für angebracht.

    »Es wird auch Ihnen eine frohe Nachricht sein, dass sich zwei wichtige Notabilitäten in der literarischen Welt für mich lebhaft interessieren«, begann er mittels eines Umweges. »Ernst Moritz Arndt hat an mich sehr anerkennend geschrieben und Jakob Grimm hat mich grüßen und mir sagen lassen, mein Plattdeutsch sei ein sehr tüchtiges und gewandtes; von allen plattdeutschen Schriftstellern gefiele ihm meine Sprache am besten.«

    »Ah ja?«, erwiderte Hinstorff bloß. Ob er schon ahnte, worauf das hinauslief?

    »Auch gehe ich damit um, über kurz oder lang meine sämtlichen Werke in einer Auflage zu verkaufen, und dann natürlich sollte dieselbe für immer in dem Verlage einer und derselben Buchhandlung bleiben; ich betrachte diese Operation als eine kleine Vorsorge für meine Frau, wenn ich einmal sterben sollte. Sie, mein lieber Hinstorff, wären der rechte Mann dazu … Aber es gibt noch andere Angebote, von anderen Interessenten!«

    »So, so!?«

    Reuter war enttäuscht. »Wollen Sie denn gar nicht wissen, von wem?«

    »Doch, schon …«

    »Angefragt haben August Hildebrand in Schwerin sowie Isaac Salomon Meyer in Hamburg.«

    »Oh«, machte Hinstorff nur. Das war ja ein harter Brocken, und dennoch war Reuter sehr froh, dass seine Werke bei diesem und keinem anderen erscheinen konnten. Denn Hinstorff war ein rühriger und sehr ehrgeiziger Mensch, der aus kleinen Verhältnissen kam und sich zu einem bedeutenden Verlagsmann emporgearbeitet hatte.

    Fritz Reuter lockerte die Krawatte. Wäre es nicht zu Griewank gegangen, hätte er wohl sein Räuberzivil getragen und nicht den Sonntagsstaat, der der Witterung keineswegs angemessen war. Die Tête ihres kleinen Kommandos, das zum Sturm auf den Flecken Dassow geblasen hatte, hatte die Stepenitz erreicht, die hier in den See mündete. Das war weiß Gott kein rauschender Strom, aber eine Staatsgrenze: Der Fluss teilte die beiden Bruderstaaten Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz in Gestalt des Fürstentums Ratzeburg. Es gab keinen Grenzposten auf der Brücke, keine Zöllner oder dergleichen, aber eine Grenze war es doch, eine der vielen lächerlichen Grenzen einer zersplitterten Nation. Damit nicht genug, hatte der arme, nur sieben Mecklenburgische Meilen lange Fluss auch noch die Last zu tragen, eine Wasserscheide zwischen Ost- und Nordsee zu sein.

    Louise und Vater Kuntze betraten just die Brücke, die man Dreiherrenbrücke nannte, weil einst neben den Schwerinern und den Ratzeburgern auch die Lübecker hier Ansprüche gehabt hatten – und der Streit dauerte fort, auch wenn Lübeck den See schon seit Langem als sein Eigentum behandelte, sehr zum Leidwesen der Dassower Fischer und Schiffer.

    Am gegenüberliegenden Ufer erhob sich der Speicher des Handelsunternehmens Callies, ein hölzerner Kran überragte den kleinen Hafen des Marktortes, in dem neben Fischerbooten auch Frachtkähne festmachten, die mit mecklenburgischem Getreide beladen wurden und Kohlen löschten, aber auch Holz aus Schweden, Finnland und Russland. Die Ware kam und ging über den Dassower See, und sollte das umstrittene Hoheitsrecht tatsächlich bei der Freien Reichsstadt Lübeck liegen, so bedeutete dies, dass die Schiffer und die Fischer an der Mündung der Stepenitz ebenfalls eine Staatsgrenze passierten. ›Dreiherrenbrücke‹, dachte Reuter, ›nichts ist treffender als dieser Name!‹

    »Da ich Ihnen mein Ehrenwort geben kann, dass mir für 1300 Exemplare 250 Taler geboten sind, so werden Sie es nicht für zu hoch gefordert halten, wenn ich für 1500 Exemplare 300 Taler fordere«, setzte er das Gespräch monologisierend fort. »Durch meinen Selbstverlag bin ich imstande, Ihnen ziemlich genau Ihren Gewinn nachzurechnen …«

    Reuter kam nicht weiter, weil ein Schrei ihn unterbrach. Da er sich so tief in seine finanziellen Forderungen verstrickt hatte, brauchte er ein paar Sekunden, um zu begreifen, wer geschrien hatte: Louise. Sie und ihr Vater waren stehen geblieben, beide starrten nach links in Richtung des Seeufers. Der alte Kuntze schwankte, dennoch sah es nicht so aus, als würde Louise ihn stützen, sondern eher so, als hielte sie sich an ihm fest. Reuter und Hinstorff beschleunigten ihre Schritte.

    »Dort!« Louise wies zu dem Schilfgürtel, der den See umfing. »Seht ihr nicht? Dort!«

    Zwischen dem Speicher und dem Schilf erstreckte sich eine umzäunte Weidefläche, auf welcher sich der Gemeindebulle für seine nützliche Aufgabe mästete. Das riesige weiß-braun gefleckte Tier lag friedlich und mit Wiederkäuen beschäftigt im Schatten einer großen Weide – es konnte Louise nicht in eine solche Aufregung versetzt haben.

    »Am Ufer! Dort!«, wiederholte sie. »Im Schilf!«

    Und tatsächlich, jetzt sah Reuter es auch. Ein paar Ruten jenseits der Weide lag, halb im Wasser und halb im Röhricht, ein Etwas, das man zunächst für ein Kleiderbündel halten konnte, aber bei genauerem Hinsehen wurde klar, dass es sich um einen Menschen handeln musste; soweit nach der Kleidung zu urteilen war, um einen Mann. Um einen Ertrunkenen, so stand zu vermuten.

    Für einen Moment herrschte Schweigen. Hinstorff nahm unsinnigerweise den Hut ab, Reuter fragte sich, ob wohl alle dachten wie er: Was nun zu tun sei?

    Der Schwiegervater wusste es. Im Hafen, der in Rufweite lag, waren zwei Arbeitsmänner damit beschäftigt, das Deck eines Kahns zu scheuern, und zu diesen beorderte er Reuter mit dem Auftrag, er solle sie zu Pastor Griewank schicken, damit dieser das Nötige veranlasse.

    Reuter tat wie ihm geheißen, Hinstorff begleitete ihn. Sie stiegen eine Böschung hinunter und näherten sich dem Kahn, auf dem die Arbeitsmänner nicht gerade schufteten, aber wer wollte es ihnen bei dieser Hitze verdenken. Reuter rief sie an, und langsam kam einer von ihnen über die Planke. Währenddessen quälten sich auch Louise und ihr Vater die Böschung hinab. Der alte Mann musste sitzen, und dafür boten sich die Poller an, an denen die Boote und Kähne festgemacht wurden.

    Reuter sprach Plattdeutsch mit dem Arbeitsmann, der unablässig nickte, sich aber keineswegs in Richtung des Ortes in Bewegung setzte. Nein, zuerst kehrte er auf den Kahn zurück und setzte seinen Kompagnon in Kenntnis. Die beiden gingen zum Bug und beugten sich weit über die Reling, um des mutmaßlichen Leichnams ansichtig zu werden. Aber ebenso wenig, wie er vom Kai aus zu sehen war, gelang dies von Bord. Die Männer beratschlagten. Reuter sah sich schon gezwungen, selbst zu Griewank zu eilen, aber schließlich kamen beide Männer über die Planke und machten sich auf den Weg, allerdings in mecklenburgischem Tempo.

    Reuter schaute zu Frau und Schwiegervater; Kuntze hatte seinen Hut abgenommen und Louise übergeben, die ihn mit einem karierten Taschentuch auswischte. Erschöpft sah der alte Mann aus, so erschöpft, dass der Anblick Reuter einen Stich ins Herz gab. Louise fächelte ihm mit dem Hut Luft zu, Kuntze bemerkte Reuters Blick und erwiderte ihn mit einem gequälten Lächeln. Reuter wusste, dass sich sein Schwiegervater seit dem Tod seiner Frau ebenfalls nach dem ewigen Schlaf sehnte.

    Er war unruhig: Die Neugier trieb ihn zu der Person, die ans Ufer des Sees gespült worden war, eine gewisse Furcht vor der Begegnung mit dem Unabänderlichen hielt ihn zurück. Der See, über den er seinen Blick schweifen ließ, wirkte keineswegs wie tot. Niemals sah man seine Oberfläche spiegelglatt wie bei manchen kleinen mecklenburgischen Seen, aber der hier war ja auch kein Binnensee, sondern eine Seitenbucht der Travemündung. Kleine Wellen verbreiteten sich über das gesamte Wasser, obwohl die Luft stand und es immer schwüler wurde. Über dem jenseitigen Ufer jedoch, dem westlichen, türmten sich dunkle Wolken.

    Die Zeit verstrich, niemand kam. Der Gemeindebulle hatte sich erhoben und den Schatten verlassen, er war näher gekommen, stand am Zaun und bedachte Reuter mit einem herausfordernden Blick – jedenfalls erschien es diesem so. Des Wartens überdrüssig fragte Reuter seinen Verleger, ob er ihn begleiten würde zu dem »seltsamen Kleiderbündel«, wie er sich ausdrückte.

    Hinstorff verzog das Gesicht und wies auf den Bullen; das bedeutete wohl, dass er die bis ans Wasser reichende Weide nicht überqueren würde.

    »Wir gehen drum herum«, schlug Reuter vor. Auch er wusste natürlich, wie gefährlich ein Bulle werden konnte.

    Hinstorff zuckte unschlüssig mit den Schultern. Er blickte zu Louise und zu Kuntze, die sich nun beide auf den Poller drängten. Schließlich sagte er: »Wenn sie uns den Abschied geben …«

    Reuter nickte und begab sich zu seiner Frau und dem Schwiegervater. Louise war nicht erfreut, allein im Hafen zurückzubleiben, aber sie sah ein, dass jemand auf Griewank warten musste. Reuter und Hinstorff gingen immer am Zaun entlang, zuerst etwa vier Ruten in Richtung des Ortes, dann bogen sie nach links.

    Anfangs folgte ihnen der Bulle, nach dem Knick ging er voraus, bis er an dem Gattertor stehen blieb und ihnen entgegenblickte.

    Reuter lachte. »Hei wull na sienen Harem«, meinte er.

    »Hm«, machte Hinstorff bloß; ihm war anscheinend mulmig zumute.

    Nach weiteren vier Ruten bogen sie abermals nach links und erreichten das Schilf. Es war nur ein schmaler Streifen Röhricht, durch den hindurch man das »seltsame Kleiderbündel« sehen konnte. Reuter, der vorausgegangen war, drehte sich um.

    Hinstorff sah ziemlich blass aus und Schweiß rann ihm über das Gesicht. »Nun denn!«, ermunterte er sich.

    Reuter nickte. Er wandte sich von seinem Verleger ab, machte einen Schritt und bog das Rohr zur Seite, dann setzte er behutsam einen Fuß vor den anderen. Der Boden war feucht, die Schuhe versanken ein, zwei Fingerbreit, aber das störte ihn nicht.

    Die Person, deren Körper sich im Schilf verfangen hatte, lag teilweise noch im flachen Wasser, mit Kopf, Schultern und Brust jedoch bereits an Land, und zwar bäuchlings. Frisur und Kleidung bestätigten, dass es sich um einen Mann handelte, der Körperbau tat ein Übriges. Das an der Kopfhaut klebende dunkelbraune Haar war relativ kurz geschnitten, und das sichtbare Ohr war frei. Soweit erkennbar, schien der Mann glatt rasiert zu sein, und er trug auch keine der modischen langen Koteletten. Seine Kleidung, natürlich ebenfalls durchnässt, deutete auf einen gut betuchten Bürger hin: Er trug einen Cutaway von einer schlammbraunen Farbe und Hosen, die heller waren, vielleicht beige. An der Außennaht waren sie nach englischer Mode mit einem Rautenmuster verziert. Zumindest der Cut bestand anscheinend aus einem guten englischen Wollstoff, vermutlich aus Tweed. Von den spitzen schwarzen Lederschuhen mit dem mindestens daumenbreiten Absatz fehlte der linke.

    Bisher war Reuter recht forsch vorgegangen, unter anderem auch, um seinem Verleger zu imponieren. Inzwischen wünschte er sich, er wäre bei Louise und dem Schwiegervater geblieben. Die Nähe eines Toten verursachte ihm ein Brennen im Magen, seine Hände begannen zu zittern, und er verspürte ein starkes Bedürfnis nach Hochprozentigem. Erst einmal wagte er nicht, sich Hinstorff zuzuwenden, doch vernahm er dessen gewaltige Atemstöße. Schließlich erwischte er sich dabei, dass auch er heftig ein- und ausatmete. Er bemühte sich, seinen Atem zu beruhigen, und als ihm das einigermaßen gelungen war, sagte er: »Wir sollten ihn umdrehen.«

    »Ich weiß nicht«, die Worte des Verlegers klangen ziemlich gequält, »meinen Sie wirklich?«

    Reuter entgegnete nichts, sondern stapfte entschlossen ins Wasser; sich seiner Schuhe und Strümpfe zu entledigen und die Hosenbeine aufzukrempeln, wäre ihm vor seinem Verleger peinlich gewesen, und so holte er sich lieber nasse Schuhe und Hosen. Als er die Beine des Toten ergriff, blieb Hinstorff gar nichts anderes übrig, als mit anzupacken. Mit Schwung drehten sie den Mann um. Da sein Oberkörper am schlammigen Ufer gelegen hatte, waren die beige Weste und das weiße Hemd mit Schmutz bedeckt und so auch sein Gesicht. Er mochte um die 50 sein, hatte sich aber nicht, wie die meisten Bürger in seinem Alter, einen ansehnlichen Bauch zugelegt, sondern war schlank. Ebenso auffallend wie erschreckend war die Wunde an seinem Kopf. Sie zog sich von der Nasenwurzel nach links in Richtung Schläfe, war mindestens eine Handspanne lang und wirkte frisch, aber das war wohl dem Umstand geschuldet, dass die Leiche im Wasser gelegen hatte, andernfalls wäre die Blessur sicherlich blutverkrustet gewesen.

    Reuter und Hinstorff richteten sich fast gleichzeitig auf und schauten einander an. Keiner musste etwas sagen, aber ihnen war beiden klar geworden, dass sie womöglich das Opfer eines Verbrechens entdeckt hatten.

    Inzwischen waren vier Männer am Rande des Schilfgürtels erschienen, die sich anschickten, ans Ufer vorzustoßen. Zwei von ihnen kannte Reuter. An der Spitze befand sich der Pastor Carl Griewank, ein Mann jenseits der 60, der auch als Naturforscher hervorgetreten war. Ihm folgte der Apotheker Carl Fischer, der vor nunmehr 30 Jahren in der Lübecker Straße die erste Apotheke Dassows eröffnet hatte. Griewank hatte ihn wohl als medizinischen Sachverständigen mitgebracht, obwohl es auch einen Wundarzt gab, einen Mann namens Schröder oder Schröter – Reuter wusste es nicht genau. Die beiden Männer in bäuerlicher Arbeitskleidung, so um die 40 Jahre alt, waren Reuter nicht bekannt, jedenfalls nicht vom Namen, denn wenigstens einen von ihnen glaubte er schon einmal im Ort gesehen zu haben.

    Nach einer knappen und wenig förmlichen Begrüßung stellte Griewank sie vor: Es handelte sich um die Schulzen Reincke und Wiggers.

    Die Abwesenheit des Wundarztes war schnell geklärt. Johann Carl Daniel Schröder war gemeinsam mit dem Ortsdirigenten, der in Dassow und Umgebung die ritterschaftliche Polizeigewalt vertrat, ins Großherzoglich Mecklenburg-Schwerinsche Justizministerium gerufen worden. In Rostock hatte es am 6. Juli erste Fälle der Cholera gegeben, und die Krankheit schickte sich an, nun auch im Lande umzugehen.

    Die Männer starrten allesamt den am Boden liegenden Mann in seiner englisch anmutenden Kleidung an. Nicht, dass nicht schon öfter Menschen im Dassower See ertrunken wären; dieses Gewässer vermochte recht tückisch zu sein, und so manche Fischer- oder Schifferfamilie beklagte den Verlust eines Mitglieds. Es war die Wunde am Kopf, die so verstörend wirkte.

    Mittlerweile war das Wetter in rasender Geschwindigkeit umgeschlagen. Es hatte sich ein Wind erhoben, der aus westlicher Richtung wehte und mehr und mehr auffrischte. Er schob die Wolkenungetüme vor sich her, die bereits die Mitte des Sees erreicht hatten, während über den Männern noch die Sonne vom blauen Himmel schien. In nicht allzu großer Ferne grummelte es, Blitze sprangen von Wolke zu Wolke, und dem beständigen Gekräusel auf der Wasseroberfläche des Sees waren beachtliche Wellen entwachsen, die ans Ufer rollten und die Beine des immer noch zur Hälfte im Wasser liegenden Toten hoben und senkten.

    »Kennt ihn jemand?«, wandte sich der Pastor an die Runde.

    »Nein«, sagte Apotheker Fischer.

    »Nö«, sagte Reincke.

    Reuter, Hinstorff und der Schulze Wiggers schüttelten den Kopf.

    »Wegen des drohenden Unwetters«, meinte Griewank, »sollten wir ihn lieber in die Kirche schaffen und die medizinische Examination dort durchführen. Was denkst du?«, wandte er sich an den Apotheker.

    »Naja, eine richtige medizinische Examination, die müssen wir dem Amtsarzt aus Grevesmühlen überlassen«, entgegnete Fischer.

    »Un mine Herren Gerichtsschulzen, wat meent ji?«

    »Wer soll ihn denn …«, fragte Schulze Wiggers mit einem Vibrato in der Stimme, »in die Kirche …?«

    »Er hat zwei Arme und zwei Beine, und wir sind zu sechst«, sagte Griewank. »Das heißt, vier von uns nehmen ihn an den vier Ecken und tragen ihn hinauf. D’accord, monsieurs? Sünd ji inverstahn?«

    Was blieb den Männern angesichts ihres resoluten Pastors übrig, als einverstanden zu sein? Reincke und Wiggers packten die sterblichen Überreste des Unbekannten unter den Armen und zogen sie aus dem Wasser. Da man weder Griewank noch dem Apotheker wegen ihres fortgeschrittenen Alters zumuten konnte, eine solche Last zu tragen, schickten sich Reuter und Hinstorff in die Not und beugten sich zu den Beinen hinab, doch Griewank bremste sie. Er hatte bemerkt, dass weitere Dassower zum See gekommen waren; natürlich hatte längst die Runde gemacht, dass man etwas gar Grauenhaftes gefunden hatte, und ebenso natürlich trieb die Sensationslust und bei manchem vielleicht auch die Hilfsbereitschaft die Leute zum Ort des Geschehens; auch Frauen und Kinder.

    Pastor Griewank beorderte zwei kräftige junge Männer zum Trägerdienst, was Reuter nicht unlieb war, und auch Hinstorff war froh darüber.

    Der Gang zur Kirche gestaltete sich fast zu einer Prozession: Die Schulzen und die jungen Männer trugen den Leichnam durch die Straßen, die Schaulustigen folgten. Währenddessen zog sich der Himmel immer mehr zu. Dann war das Gotteshaus erreicht. Reuter kannte den großen Feldsteinbau mit dem Turm aus Backstein und dem offenen Laternentürmchen bereits von früheren Besuchen bei den Schwiegereltern. Sie hatten sich bereits früh mit Griewank angefreundet und mit ihm auch privat verkehrt, und der Schwiegervater hielt das bis heute so.

    Die Umsicht des Pastors trat immer deutlicher hervor. Sowohl die Träger als auch alle neugierigen Begleiter hatte er bereits gefragt, ob jemand von ihnen den Toten kenne; dies war nicht der Fall. In der Kirche wurde der Mann erst einmal auf den kalten Steinboden gelegt, aber Griewank erteilte sofort den Befehl, jemand möge ein Gestell zimmern, auf dem man ihn provisorisch aufbahren könne. Er wandte sich an niemanden direkt, aber es war klar, irgendjemand würde diesen Befehl schon ausführen.

    Da lag nun also der Unbekannte in seiner eleganten Kleidung auf dem Boden, und obwohl ihn doch so viele Menschen umstanden, wirkte er schrecklich einsam und verlassen im Tod.

    Griewank schickte bis auf die Schulzen und den Apotheker alle nach Hause. Man leistete ihm nur zögerlich Folge, bis ein lauter Donnerschlag die Aufforderung des Pastors zu unterstreichen schien. Als göttlicher Fingerzeig kam er wohl bei den Leuten an.

    Auch Reuter wollte sich schnell verabschieden, da er Vater Kuntze und Louise noch am Hafen vermutete, erfuhr nun aber, dass diese sich ins Pfarrhaus begeben hätten.

    »Was wäre in diesem Fall zu tun?«, wandte sich Griewank an die beiden Schulzen, während Apotheker Fischer die Kopfwunde in näheren Augenschein nahm. »Man müsste doch wohl die Behörde in Kenntnis setzen …«

    »Ein unbekannter Toter …«, sagte Reincke gedehnt.

    »Und dazu ertrunken …«, fügte Wiggers hinzu.

    »Wenn auch im Dassower See …«

    »Also nach Meinung Lübecks auf Lübecker Territorium …«

    »Aber wir haben ihn jetzt bei uns in der Kirche!«, bemerkte Griewank in strengem Ton.

    »Ob er ertrunken ist oder schon tot ins Wasser fiel, kann ich nicht beurteilen«, sagte Fischer und begann, die Taschen in der Kleidung des Toten zu durchsuchen. »Auf jeden Fall müssen wir den Amtsarzt holen.« Nach den Außentaschen des Rockes, in denen er nichts gefunden hatte, nahm er sich die Innentaschen vor. Mit dem gleichen Ergebnis.

    »Aber Dassow ist ritterschaftlich«, wandte Reincke ein. »Wir sollten auf jeden Fall nach Gut Lütgenhof schicken. Da ja der Ortsdirigent abwesend ist …«

    »Nicht auch zum Amtsgericht in Grevesmühlen?«, fragte Wiggers.

    Reuter warf einen Blick auf den Toten mit seinem juristisch unklaren Status und wurde gewahr, dass sich um dessen Leib allmählich eine Pfütze bildete. Die Kleinstaaterei und die Zersplitterung des Landes feierten fröhliche Urständ. Dass alle Tasche leer waren, hielt Reuter für verdächtig; ein solcher Mensch hatte doch wenigstens eine Taschenuhr und wohl auch eine Geldbörse bei sich.

    Schließlich wurde beschlossen, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen: Reincke würde es übernehmen, den Herrn von Paepke auf dessen Rittergut südlich von Dassow aufzusuchen, während Wiggers nach Grevesmühlen reiten würde.

    Das Wetter machte allen erst einmal einen Strich durch die Rechnung, denn als man die Kirche durch die Seitenpforte verließ, war der Himmel dunkel. Es regnete noch nicht, aber dafür hatte sich ein Wind erhoben, der die Pappeln auf dem Kirchhof schüttelte und sie bog wie ein wilder Knabe seinen Stecken. Tiefschwarz war es wie am Abend, es blitzte, und nachdem Reuter bis drei gezählt hatte, donnerte es laut wie ein Kanonenschlag. Dann setzte auch ein heftiger Regen ein. Die beiden Schulzen und der Apotheker machten, dass sie nach Hause kamen, während Reuter, Hinstorff und der Pastor über den im Handumdrehen aufgeweichten Boden des Kirchhofes zum Pfarrhaus liefen; das war kein weiter Weg und doch waren sie durchnässt, als sie in dessen Flur eintraten. Dort legten sie ihre Gehröcke oder Jacketts ab und betraten dann des Pastors gute Stube.

    Der Raum war nicht sehr üppig, aber zumindest für Reuters Geschmack gemütlich ausgestattet. Zwei Fenster gingen zum Kirchhof, auf dem seit Jahren nicht mehr bestattet wurde. Die Hausfrau hatte diese Fenster mit geblümten Stores versehen: Es waren Kornblumen, die den weißen Stoff verzierten. Auf den Dielen lagen große türkische Teppiche, die vor allem den Eindruck von Behaglichkeit erzeugten, auf dem Teppich beim Fenster stand ein runder Tisch, umgeben von Korbstühlen. Der Tisch war gedeckt, in den Korbstühlen saßen die Gastgeberin und ihre Gäste: Louise und deren Vater.

    Frau Pastor Griewank erhob sich und begrüßte die neu Eingetretenen mit einer zierlichen Handbewegung.

    Reuter stellte ihr Carl Hinstorff vor, Gott bestätigte die Introduktion mit Blitz und Donner.

    Von einem Nähtisch aus poliertem Nussbaumholz trug die Pastorin einen Stuhl zum Tisch, dann bat sie ihren Mann, aus dem Arbeitszimmer zwei weitere Stühle zu beschaffen. Sie begab sich zur Tür, rief nach dem Mädchen, bestellte frischen Kaffee und auch noch etwas von dem Streuselkuchen – zum Mittagessen war es zu spät. Inzwischen goss es nicht nur entsetzlich, es hagelte auch, und Hagelkörner von der Größe eines Kirschkerns schlugen gegen die Fenster. Da es in der guten Stube nicht nur schummrig, sondern dunkel war, brannten überall Kerzen und an den Wänden vier grünbeschirmte Öllampen. Es war auch dieses Licht, das für Gemütlichkeit sorgte.

    Pastor Griewank brachte die Stühle, Reuter setzte sich mit einem vernehmlichen Seufzer. Mochte es draußen stürmen und hageln, mochte sich auch der Himmel auftun, hier war man sicher. Jedenfalls scheinbar, waren Blitze doch gefährlich und konnten ganze Städte in Brand setzen.

    Von den Anwesenden schien niemand Angst vor dem Gewitter zu haben. Mehr Anteil als an den Unbilden des Wetters nahm man am Schicksal des Toten, der selbstredend längere Zeit den Gegenstand des Gespräches bildete. Die Wunde am Kopf sorgte dafür, dass auch das Wort Mord im Raum stand, und obwohl natürlich jeder die Mörder verabscheute, war ein Mord doch etwas, das die Nerven kitzelte, vermutlich überall auf der Welt und namentlich auch in kleinen Orten. Hier kannte jeder jeden, und die Frage bewegte noch stärker als anderswo: Ist der Mörder mein Nachbar?

    »Ob es ein Mord ist, steht doch noch gar nicht fest«, versuchte Griewank die Gemüter zu beruhigen. »Wer weiß, woher die Wunde stammt? Ich nehme an, dass er nicht aus unserer Gegend kommt.«

    Da man über den Toten so gar nichts wusste, kam die Runde von ihm schließlich ab. Es war vor allem die Anwesenheit des »Büchermenschen« Hinstorff, wie ihn die Frau Pastorin nannte, die das Gespräch auf das weite Feld des Buchhandels, der Buchdruckerei und des Buchverlages führte. Reuter konnte nicht hinterm Berg halten und bat seinen Verleger, doch einmal zu berichten, wie er dem Großherzog eine Sondergenehmigung für seinen Geschäftsbetrieb abgerungen habe.

    Hinstorffs Teint rötete sich wie der eines beschämten Mädchens, aber er erzählte doch, zumal ihn auch die Griewanks darum baten. »Ich war noch nicht fünfundzwanzig, als ich in Parchim eine Buchhandlung eröffnen wollte«, sagte er, und aus seiner Stimme klang Stolz. »Weil ich noch nicht volljährig war, verweigerte mir der Magistrat die Zustimmung. Ich suchte also um eine Audienz bei Königlicher Hoheit nach …«

    »Wann?«, wollte Griewank wissen.

    »1831. Friedrich Franz I. war Großherzog. Kaum zu glauben, er empfing mich. Ich muss mit recht jugendlicher Forschheit vor ihn getreten sein, und das hat ihm wohl gefallen. Königliche Hoheit fragten nach den Gründen, weshalb mein Niederlassungsgesuch von dem Magistrat abschlägig beschieden worden sei. Ich sagte – heute finde ich meine Antwort ziemlich keck: ›Wohl nicht deshalb, weil ich zu dumm, sondern weil ich zu jung bin.‹ Unser Landesfürst, damals ja bereits um die fünfundsiebzig, lächelte und meinte: ›Nun, mit der Dummheit hab ich’s, weiß Gott, oft genug versucht, so will ich es denn einmal mit der Klugheit versuchen!‹ So bekam ich eine Volljährigkeitserklärung von Allerhöchster Stelle.«

    »Eine sehr erfreuliche Geschichte«, sagte die Frau Pastorin und erhob sich. In dem Zimmer war es mittlerweile nicht mehr so

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