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Und wieder mal Krimis: Anthologie
Und wieder mal Krimis: Anthologie
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Ebook382 pages4 hours

Und wieder mal Krimis: Anthologie

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About this ebook

29 spannende Krimis, breit gefächert, bieten Ihnen, liebe Leser, 29 meist schon erfahrene Autoren.
Spannende Kriminalfälle, die ermittlungstechnisch dargestellt werden, oder welche, die gar keine sind, bis hin zu tierischen Krimis verwandeln einen trostlosen Regenabend in ein fesselndes Lesevergnügen.
LanguageDeutsch
Publishernet-Verlag
Release dateJun 12, 2017
ISBN9783957202109
Und wieder mal Krimis: Anthologie

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    Book preview

    Und wieder mal Krimis - Michael Johannes B. Lange

    Und wieder mal Krimis

    Anthologie

    Alle Rechte, insbesondere auf digitale Vervielfältigung, vorbehalten.

    Keine Übernahme des Buchblocks in digitale Verzeichnisse, keine analoge Kopie ohne Zustimmung des Verlages.

    Das Buchcover darf zur Darstellung des Buches unter Hinweis auf den Verlag jederzeit frei verwendet werden.

    Eine anderweitige Vervielfältigung des Coverbildes ist nur mit Zustimmung der Grafikers möglich.

    Die Illustrationen sind urheberrechtlich geschützt und dürfen nur mit Zustimmung der Künstler verwendet werden.

    Die Namen sind frei erfunden.

    Evtl. Namensgleichheiten sind zufällig.

    www.net-verlag.de

    Erste Auflage 2017

    © Coverbild: Detlef Klewer

    Covergestaltung, Korrektorat und Layout: net-Verlag

    Auswahl der Geschichten: Lysann Rößler & Leserteam

    © Illustrationen:

    Michael Mauch (S. 9)

    Iris Wassill (S. 96)

    Maria-Carolin Gebert (S. 130)

    P.S. Dufour (S. 144)

    Detlef Klewer (S. 158)

    Ferdinand Küster (S. 168)

    Andre Scherzer (S. 197)

    © net-Verlag, Tangerhütte

    E-Book-Herstellung:

    Zeilenwert GmbH 2017

    ISBN 978-3-95720-208-6

    Und wieder mal Krimis

    29 spannende Krimis, breit gefächert, bieten Ihnen, liebe Leser, 29 meist schon erfahrene Autoren. Spannende Kriminalfälle, die ermittlungstechnisch dargestellt werden, oder welche, die gar keine sind, bis hin zu tierischen Krimis verwandeln einen trostlosen Regenabend in ein fesselndes Lesevergnügen.

    Wir wünschen allen Lesern einige unterhaltsame Stunden!

    Ihr net-Verlag-Team

    Inhaltsverzeichnis

    Cover

    Titel

    Impressum

    Zum Buch

    Autorenbiografien

    Illustratorenbiografien

    Buchempfehlungen

    Michael Mauch

    Die vier Birken

    Hinter dem Haus, unweit des Waldrandes, stehen vier Birken. In Reihe angeordnet, markieren sie die Grundstücksgrenze nach Osten. Vor über zwanzig Jahren habe ich die Baumgruppe eigenhändig angepflanzt – damals befand sich das Haus noch im Rohbau. Zu jener Zeit erschien mir dies wichtig, in der Tat wichtiger als die Fertigstellung des Hauses selbst. Grotesk, ich weiß. Mein Mann schüttelte ebenso darüber den Kopf, allerdings konnte er mir selten einen Wunsch abschlagen. Wie auch immer, Tom lebte noch, und unser Leben schien von Freude und Glück durchflutet. Aber dies liegt in der Vergangenheit, bevor die dunklen Wolken heraufzogen. Als ich noch nicht …

    Inzwischen haben die Birken längst eine stattliche Größe erreicht, die sie äußeren Einflüssen trotzen lässt. Ich kann sie von meinem Bett aus sehen. Wache mit ihnen auf. Lege mich mit ihnen schlafen. In ihnen lese ich die Jahreszeiten. Ich liebe Birken, schon als kleines Mädchen habe ich sie geliebt – die Dalmatiner der Holzgewächse. Sie bedeuten mir Kraft, Trost und Beharrlichkeit. Ihr Anblick erfüllt mich mit einer Mischung aus Wohlbehagen und seltsamer Erregung. Bei geöffnetem Fenster, wenn der Wind sanft über die herzförmigen Blätter streicht, höre ich ihr Flüstern. Und sie haben so manches zu erzählen. Mitunter geben Birken dunkle Geheimnisse preis – mein Geheimnis, besser gesagt, unseres. Denn obendrein sind sie Zeuge, Mitwisser und Anstifter.

    Alles begann mit dem Tod meines Mannes. Nach langer Leidenszeit gaben ihn zuerst die Mediziner auf, im Anschluss er sich selbst. Nur ich habe bis zuletzt auf das Wunder gehofft, gebetet und mit jeder Faser meines Köpers dafür gekämpft. Ungeachtet dessen traf das wohl Unvermeidliche ein. Bei Toms Beerdigung stand ich komplett neben mir. Vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln ließ ich jenen Tag über mich ergehen, ertrug Zeremonie, Beileidsbezeugungen und mitleidige Blicke. Anschließend brach ich zusammen. Meine Erinnerung an diese Zeit ist heute noch lückenhaft. Woran ich mich erinnere, ist die aufopferungsvolle Pflege von Carla, meiner Nichte. Rund um die Uhr war sie für mich da, hat die Belange der eigenen Familie hintangestellt und mich zurück ins Leben geführt, wofür ich ihr in höchstem Maße dankbar bin.

    Eines Tages – ich befand mich auf dem Weg der Besserung – offenbarte mir meine Nichte, in finanziellen Schwierigkeiten zu stecken, nachdem ihr Mann Robert den Job verloren hatte. Ich ergriff die Gelegenheit beim Schopf und bot Carla an, zusammen mit ihrer Familie bei mir einziehen und mietfrei wohnen zu können. Nicht ganz uneigennützig von mir. Ich fürchtete mich nämlich vor dem Gedanken, in dem großen Haus allein leben zu müssen.

    »Oh, Tante Vivian, du weißt gar nicht, wie glücklich du uns machst«, sagte sie.

    Ich legte meine Hand auf die ihre. »Kindchen, das ist das Mindeste, was ich für euch tun kann.«

    Zwei Wochen vergingen, da fuhren die ersten Lastwagen vor. Es wurde gehämmert, gebohrt, geschliffen und geschraubt. Wände wurden tapeziert oder frisch gestrichen, Teppichböden verlegt und Mobiliar angeschafft. Das Inventar meines verstorbenen Mannes und der größte Teil meines eigenen lagerte man auf dem Dachboden ein. Vage Zweifel beschlichen mich. Nicht wegen der Kosten, auf Geld kam es mir nicht an. Die grundlegenden Fragen lauteten: Hatte ich die richtige Entscheidung getroffen? Und würde ich dieser Herausforderung zu solch frühem Zeitpunkt gewachsen sein?

    Meine Sorgen verflüchtigten sich, als ich das Ergebnis der Umbaumaßnahmen und die entzückten Gesichter meiner Großnichte und meines Großneffen sah. Aus dem Domizil zweier Individualisten älteren Semesters mit eingestaubten Erinnerungsstücken war das behagliche Zuhause einer jungen Familie mit Zukunft entstanden. Im Garten hatten Schaukel, Rutsche und Sandkasten ihren Platz gefunden, und mir kam zu Bewusstsein, dass von nun an ein scharlachrotes Gatter das Anwesen einzäunen würde. Unweigerlich ging mein Blick zu den vier Birken. Sie machten einen freudlosen Eindruck auf mich, als habe man sie ihres Amtes enthoben.

    Ich spürte eine zarte Berührung und sah an mir hinab. Meine Großnichte Louise hatte meine Hand ergriffen.

    »Du–uh, Tante, gefällt dir dein Haus jetzt nicht mehr?«, fragte sie und blickte mich mit ihren großen, klaren Augen an.

    Ich ging in die Knie. »Doch, Mäuschen«, antwortete ich und drückte sie an mich. »Vermutlich brauche ich nur etwas Zeit, mich daran zu gewöhnen. Aber ich bin überaus froh, dass ihr da seid.«

    Das Haus hatte also Zuwachs bekommen. Carla, die quirlige und fleißige Hausfrau und Mutter. Ihr Mann Robert, der Arbeit ebenso wenig scheute und mit Geschick und Einfallsreichtum gesegnet worden zu sein schien – mich begeistern Männer, die anpacken können. Darüber hinaus gab es die achtjährige Tochter Louise, ein bildhübsches Mädchen, höchst neugierig und blitzgescheit. Sie besaß einen gelben Vogel, der Bruce Lee hieß – was für ein irrwitziger Name für einen Kanarienvogel. Tagsüber trillerte er in den obersten Tonlagen und gab erst Ruhe, wenn man ein Tuch über seinen Käfig legte. Zu guter Letzt war da noch das Nesthäkchen Tobey, zwei Jahre alt. Ein Wonneproppen, wie er im Buche stand. Bisweilen etwas anstrengend, aber ich vermutete, dass es sich hierbei nur um eine Phase handelte.

    Die darauffolgenden Wochen und Monate verliefen harmonisch; schließlich profitierten beide Seiten von diesem Arrangement. Ich schätzte die Anbindung zur Familie sehr. Es stand mir jederzeit frei, mit ihnen zu essen. Ich wurde in Entscheidungen mit einbezogen und um Rat gefragt. Im Gegenzug passte ich auf die Kinder auf, wenn Carla und Robert außer Haus gingen oder Zeit für sich benötigten. Falls der Trubel meine Nerven doch einmal zu arg strapazierte, verfügte das Haus über ausreichend Platz, sodass ich mich zurückziehen konnte.

    Besonders gut verstand ich mich jedoch mit Louise. Die Kleine erinnerte mich zuweilen an mich, als ich im gleichen Alter war. Offensichtlich hatte auch ich ihr Herz erobert. Den überwiegenden Teil der Nachmittage verbrachten wir zusammen. Louise liebte es, wenn ich ihr aus meinen Büchern vorlas – wohlgemerkt Erwachsenenliteratur. Die zuvor von ihr geschätzten Kinderbücher rührte sie dagegen nicht mehr an. Unablässig hing sie an meinen Lippen, sog alles wie ein Schwamm in sich auf.

    An sonnigen Tagen saßen wir im Schatten unter den Birken, sprachen über das Tagesgeschehen aus der Zeitung oder spielten Schach. Wir hatten viel Spaß, kicherten miteinander. Oft tat uns vor lauter Lachen der Bauch weh.

    Einmal sagte Louise: »Tante Vivian, ich bin gerne bei dir. Du weißt so viel, mehr als alle meine Lehrer.«

    Ich strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesichtchen. »Ach, Mäuschen, ich kann mir auch nichts Schöneres vorstellen, als den Tag mit dir zu verbringen.«

    Wir genossen jede Minute, die wir beisammen sein konnten. In ihr sah ich nicht bloß die Großnichte, sondern meine Seelenverwandte. Sie redete und verhielt sich fortan nicht mehr wie eine Achtjährige. In der Schule ließ man sie aufgrund von Unterforderung eine Klasse überspringen.

    Mein Stolz und meine Zuneigung zu ihr wuchsen stetig. Ich kann es kaum anders formulieren: Sie reifte zur Tochter, die mir das Leben verwehrt hatte. Ich war glücklich.

    Bedauerlicherweise hielt mein Glück nicht lange an. Das Leben versteht es, durchaus zu überraschen. Eines späten Abends klopfte es in Gestalt meiner Nichte an die Zimmertür. Ich saß mit einem Buch und einem Glas Wein vor dem Kamin.

    »Tante Vivian, bist du noch auf?«, vernahm ich Carlas Stimme von draußen.

    »Ja, komm rein.«

    Im Türspalt erschien meine Nichte. »Hast du eine Minute?«

    »Natürlich. Ich entdecke gerade wieder Jane Austen neu. Meinst du, ihre Romane könnten Louise gefallen?«

    »Tante, genau deshalb wollte ich mit dir reden«, sagte sie und betrat den Raum.

    Ich registrierte die Sorgenfalten auf ihrer Stirn und die schmalen Lippen. »Setz dich doch! Möchtest du ein Glas?«

    »Danke, nein.«

    »Kindchen, was bedrückt dich?«

    Sie nahm Platz. Vermied den Blickkontakt zu mir. »Wie soll ich anfangen?«

    Ich spürte, dass sie unter großer Anspannung stand. Obwohl das Kaminfeuer loderte, begann ich zu frösteln.

    »Es geht um Louise«, erklärte sie und rang sichtlich um Fassung. »Ich finde keinen Zugang mehr zu ihr.«

    »Wie meinst du das?«

    »In letzter Zeit hat sie sich sehr verändert. Sie …«

    »Ich denke doch zum Positiven«, fiel ich ihr ins Wort. »Sie hat immerhin eine Klasse übersprungen, und ihre Zensuren sind ausgezeichnet, oder nicht?«

    »Vivian, das meinte ich nicht. Ich … wir bekommen sie kaum noch zu Gesicht. Sie verbringt mehr Zeit mit dir hier oben als mit uns. Sie redet ununterbrochen nur von dir. Tante Vivian sagt dies, Tante Vivian sagt das. Sie sieht zu dir auf, himmelt dich an.«

    Versteinert saß ich da.

    Hörte weiter zu.

    »Sie spielt nicht mehr mit ihren Puppen, möchte sich mit keiner Freundin treffen. Weißt du, was sie sagt?«

    Ich zuckte mit den Schultern.

    »Die Kinder in der Schule seien ihr zu infantil. Zu in-fan-til, das muss man sich mal geben.« Carlas Stimme schwoll an. »Mein Baby wirft mit Fremdwörtern um sich. Manchmal kommt sie mir vor wie eine Erwachsene im Körper eines Kindes. Sie belehrt Robert und mich in unserer Lebensweise. Was wir tun, wäre nicht gut für den

    CO2-Haushalt

    . Sie schlägt sich mit globalen Problemen herum, will Hungersnöte und die Abholzung der Regenwälder bekämpfen, befasst sich mit sozialen Ungerechtigkeiten und schimpft auf Politiker.«

    Mein Mund fühlte sich trocken an. Ich wagte nicht, Carla erneut zu unterbrechen.

    »Ihre Klassenlehrerin hat mich heute in die Schule bestellt. Louise bombardiere ihre Lehrer unermüdlich mit Fragen und verstricke sie in langanhaltende Debatten. Sie störe den Unterricht, beschäftige sich stattdessen mit anderen Dingen. Und auf die Frage, warum sie sich nicht beteilige, sage sie, dass sie in der Aufgabenstellung wenig Sinn sehe. Ich habe Louise darauf angesprochen. Sie meinte: ›Mama, man muss im Leben Prioritäten setzen.‹ Vivian, das ist doch nicht normal!«

    »Ich … ich hatte ja … keine Ahnung«, stammelte ich.

    »Louise ist acht Jahre alt. Acht Jahre!«

    Ich fühlte einen Kloß in meinem Hals. »Carla, was kann ich tun?«

    »Was du tun kannst?«

    Ich nickte.

    »Nichts.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du hast schon genug angerichtet. Neulich meinte Louise, sie wolle einmal so werden wie du. Aber wir wollen nicht, dass sie wie du wird. Sie ist unser Kind. Vivian, du nimmst Louise ihre unbeschwerte Kindheit. Sie ist nicht mehr das kleine Mädchen, das wir kannten.«

    »Es tut mir leid, Carla. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

    »Du brauchst nichts zu sagen. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass Louise künftig nicht mehr zu dir nach oben kommen wird.« Ohne ein weiteres Wort stand sie auf und ging.

    Ich starrte zur Tür, deren Konturen allmählich vor meinen Augen verschwammen. Meine Brust schmerzte, und der Kloß im Hals nahm mir die Luft zum Atmen.

    In dieser Nacht zog ein Sturm über das Haus hinweg – sinnbildlich für meine Situation. Ich wälzte mich im Bett hin und her und fand keinen Schlaf. In meinem Kopf spulten sich Carlas Worte in einer Endlosschleife ab: »… um dir zu sagen, dass Louise künftig nicht mehr zu dir nach oben kommen wird.«

    Am Tag darauf bekam ich mein Mittagessen ins Arbeitszimmer gestellt. Ich war bloß noch ein Schatten meiner selbst. Eine einzige Nacht hatte ausgereicht, mich schlechter fühlen zu lassen als jemals zuvor. Louise traf es nicht minder. Während ich lustlos auf meinem Teller herumstocherte, kam sie von der Schule. Ihre lautstarken Proteste und ihr Weinen fuhren mir durch Mark und Bein. Am liebsten wäre ich hinuntergeeilt, um sie zu trösten – um mich selbst zu trösten. Aber verdiente ich Trost?

    Wenn auch unbeabsichtigt, hatte ich das Kind beeinflusst. Ihr meine Ideen und Vorstellungen eingetrichtert und damit letzten Endes geschadet. Der Keim allen Übels war also ich – ich allein.

    Von Selbstvorwürfen und Kummer geplagt, verbrachte ich den Nachmittag im Lesesessel und starrte stundenlang zu den Birken. Irgendwann versiegten die Tränen und die finsteren Gedanken. Ich verlor mich in einem Zustand des Nichtseins. Weder fühlte ich meinen Körper noch das Sitzmöbel unter mir. Dies war der Moment, als ich das erste Mal das Flüstern hörte.

    »Viviaaan.«

    Ich fuhr zusammen. Sah mich um. Niemand war hier. Das Radio aus. Zunächst glaubte ich an eine Sinnestäuschung. Gepolter vom Erdgeschoss drang herauf. Entweder baute Robert wieder mal an einem Regal, oder Tobey warf mit Bauklötzen um sich. Lautes Gezwitscher von Bruce Lee. Außerdem ein entferntes Wimmern. Louise?

    »Viviaaan«, wisperte es wieder.

    Aufs Neue erschrocken, lenkte ich den Blick zum Fenster. Es stand in Kippstellung. Diesmal war ich mir sicher: Die Worte hatten mehrere Personen gleichzeitig ausgesprochen. Möglicherweise befanden sich Leute im Garten. Ich trat an die Fensterscheibe, doch sah niemanden. Mit dem Fernglas suchte ich den Waldrand ab. Mein Herz pochte. Keine Menschenseele zu erkennen. Ich drehte am Fokussier-Rad, durchkämmte systematisch das Gelände und blieb an einem Punkt haften: die Birken im Garten. Ihre Zweige wiegten im Wind.

    »Viviaaan.«

    Ich stieß einen Schrei aus. Das Fernglas fiel zu Boden. Das konnte unmöglich sein. Wie sollten Bäume sprechen können? Hatte ich den Verstand verloren?

    »Wiiir sind es.«

    Die Birken sprachen zu mir. Ihre Trauer über den errichteten Zaun war demnach keine Einbildung gewesen. Ich hatte ihre Stimmung wahrhaft gefühlt. Erstaunlicherweise brachte mich diese Erkenntnis nicht aus der Fassung. Im Gegenteil, sie hatte eine beruhigende Wirkung auf mich.

    »Was wollt ihr von mir?«, fragte ich.

    »Viviaan, wir leeeiden.«

    »Warum?«

    »Wir füüühlen mit dir.«

    Bei genauerer Betrachtung wirkten die Birken angeschlagen und kraftlos. Ihre feingliedrigen Äste hingen herab. Die Baumrinde hatte eine gräuliche Färbung angenommen.

    »Ich bin eben traurig«, sagte ich. »Sie verbieten mir den Umgang mit Louise.«

    »Sie sind nicht gut für diiich. Schick sie weg!«

    »Wenn die Familie geht, geht Louise mit ihnen. Aber ich will das Kind nicht verlieren.«

    Einige Sekunden blieb es still.

    »Was soll ich tun?«

    Ein Knacken hinter mir. Ich wandte den Kopf.

    Carla stand in der Tür. »Mit wem redest du?«

    »Mit mir selbst«, sagte ich und blickte zum Fenster hinaus.

    »Vivian, du wirst immer wunderlicher, weißt du das?«

    Ich schwieg.

    »Na ja, hier ist jedenfalls dein Abendbrot«, sagte meine Nichte und stellte eine Platte mit belegten Broten auf den Tisch.

    »Ich habe keinen Hunger.«

    »Du musst etwas essen.«

    »Muss ich?«

    »Vivian, stell es bitte nicht so hin, als wären wir die Bösen.«

    »Nein, die böse alte Frau bin wohl ich.«

    »Tante, du willst doch auch, dass es Louise gutgeht, oder etwa nicht?«

    »Was ist denn das für eine Frage

    »Dann halt dich von ihr fern und lass sie Kind sein!«

    »Ich …« Weiter kam ich nicht. Die Tür fiel ins Schloss.

    An diesem Abend sprachen die Birken nicht zu mir, und auch die Nacht über sollte ich mit meinen Gedanken alleine bleiben.

    Ungestümes Kinderlachen entriss mich einem traumlosen Halbschlaf. Dennoch war ich erleichtert, überhaupt etwas Ruhe gefunden zu haben. Ich fühlte mich klarer. Wie herrlich das Lachen doch klang. Offenbar alberten Louise und Tobey am Frühstückstisch herum. Süßlicher Duft zog in meine Nase. War heute Samstag? Samstags backte Robert immer Pancakes. Dazu gab es wahlweise Himbeeren, Schokocreme oder Ahornsirup. Ich rieb mir die Augen. In dieser Sekunde hätte ich alles dafür gegeben, bei ihnen am Tisch zu sitzen.

    »Das Mädchen scheint dich lääängst vergessen zu haben«, flüsterte es.

    Ich blickte aus dem Fenster. Die Morgensonne brach durch das Blattwerk der Birken und zeichnete lang gezogene Formen auf den Rasen.

    »Nein, Louise ist nur abgelenkt«, erwiderte ich.

    »Iiihr bist du egal. Der Familie bist du egal.«

    Empörung stieg in mir auf. »Das stimmt nicht!«

    »Hööör doch hin. Sie haben Spaß, während du hier oben schmachtest.«

    »Sie haben mich aus einem schweren Tief geholt.«

    »Und wo bist du nuuun?«

    »Bestimmt wird es wieder besser«, hörte ich mich antworten. Indessen geriet mein Inneres weiter in Aufruhr. Ich ballte die Hände zu Fäusten.

    »Sie nutzen diiich aus. Lachen über deine Gutmütigkeit.«

    »Aber Carla … sie hat mir geholfen.«

    »Aus puuurer Berechnung.«

    »Nein, nein!«

    »Sie müssen geeehen.«

    »Sie sind die einzigen Verwandten, die ich noch habe.«

    »Aus diiiesem Grund erben sie alles. Je früher duuu stirbst, desto besser für sie!«

    Ich schmiss mich aufs Bett und presste das Kopfkissen gegen die Ohren. »Ich will das nicht hören. Ihr lügt!«

    Die Stimmen verstummten und mit ihnen die Geräusche aus dem Erdgeschoss.

    Wie lange ich so dalag, vermag ich nicht zu sagen. In meinem Kopf herrschte eine friedvolle Leere, in der ich mich verlor.

    Poch.

    Ich schlug die Augenlider auf. Blickte zur Zimmerdecke. Hellwach.

    Poch.

    Ein stechender Schmerz in meinem Kopf.

    Poch.

    Abermals meinte ich, mir müsse der Schädel zerspringen. Ich hastete aus dem Bett und blickte aus dem Fenster. »Was um Himmels willen …?«

    Robert stand bei den Birken und zog gerade einen Pfeil aus einem der Baumstämme. Er hatte eine Zielscheibe angebracht und vertrieb sich die Zeit, indem er mittels Langbogen Pfeile auf sie abfeuerte.

    Ich riss das Fenster auf. »Hör sofort damit auf!«, schrie ich.

    Mit erstaunter Miene sah Robert zu mir herauf. Durch Handzeichen gab er mir zu verstehen, er wolle das Schießen einstellen.

    Erleichtert beobachtete ich ihn, wie er die restlichen Pfeile herauszog und im Köcher verstaute. Erst jetzt entdeckte ich den Rest der Familie. Carla rührte in einer Salatschüssel, Louise saß auf der Schaukel, und Tobey spielte im Sandkasten mit bunten Plastikförmchen. Auf dem Grillrost brutzelten Fleisch und Würste vor sich hin und verströmten ein würziges Aroma.

    »Ich bringe dir nachher einen Teller nach oben, Vivian«, rief meine Nichte und winkte mir zu.

    Louise sah vergnügt aus. Bewusst oder unbewusst nahm sie keine Notiz von mir. Dieser Umstand versetzte mir einen tiefen Stich ins Herz.

    »Viviaaan.«

    Ich schloss die Augen. Fühlte Tränen meine Wangen hinuntergleiten.

    »Es wiiird Zeit«, flüsterten die Birken mir zu.

    »Ich weiß«, antwortete ich. »Aber allein komme ich nicht gegen sie an.«

    »Wiiir helfen dir.«

    »Was soll ich tun?«

    »Du weißt, was zu tuuun ist.«

    Ich nickte und verließ das Zimmer. Vorbereitungen mussten getroffen werden.

    Dem Messerblock in der Küche entnahm ich das große Kochmesser und wog es in den Händen. Anschließend griff ich zum Tranchiermesser. Es schien mir besser geeignet. Lichtreflexe brachen sich in der Klinge. Mein Puls beschleunigte.

    »Ich glaube, ich kann das nicht«, sagte ich.

    »Du muuusst!«, flüsterte es. »Sie haben dein Leben auf den Dachboden verbannt. Sie nutzen dich aus. Sie verbreiten Lärm und Hektik. Sie haben dir Louise genommen. Sie müssen weg. Töte sie!«

    Mit jedem Argument spannten sich meine Muskeln weiter an. Die Bäume hatten recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Ich musste die Familie töten.

    »Was machst du hier?«, grollte es hinter mir.

    Jemand packte meine Schulter. Ich drehte mich um.

    Wenige Zentimeter vor mir stand Carla. Ihre Gesichtszüge wechselten von Zorn zu Verwunderung. Die Augen weit. Der Mund leicht geöffnet. Sie sah nach unten. Ich folgte ihrem Blick. Zeitgleich spürte ich die Kraft, die gegen meine Hand drückte. Da sah ich das Blut. Rasch breitete es sich auf Carlas weißem Sommerkleid aus. Dort, wo die Klinge im Stoff eingedrungen war. Ich zog das Messer heraus. Ließ es fallen.

    Carlas Augen fixierten mich. Ihre Lider zuckten. Sie bewegte die Lippen, ohne dass ich eine Silbe verstand. Dann sackte sie zu Boden und regte sich nicht mehr.

    »Was habe ich getan?« Ich war wie versteinert. So entsetzlich der Anblick auch war, ich konnte nicht wegsehen.

    »Du hast das Richtige getaaan«, flüsterten die Stimmen.

    »Ich … ich … habe sie umgebracht.«

    »Das wolltest du doch.«

    »Es war … ich mein …« In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander.

    »Nun räum sie weeeg«, flüsterte es. »Wir sind noch nicht fertig.«

    Im Hintergrund hörte ich Bruce Lee pfeifen. Nicht sein übliches Gezwitscher. Dieses Pfeifen klang anders; aufgeregter, lauter – es klang … anklagend.

    Ohne nachzudenken, schritt ich ins Esszimmer, öffnete den Käfig, packte das Federvieh und brach ihm das Genick. Anschließend spülte ich ihn die Toilette hinunter. Ich fühlte mich gut, verdammt gut sogar. Das hätte ich schon viel früher tun sollen.

    Als Nächstes musste ich Carla verstecken. Ich zog ihren Körper über den Steinfußboden in die Speisekammer. Die Türe ließ ich angelehnt. Mit Gummihandschuhen, Wassereimer, Putzmittel und Schwamm machte ich mich an die Beseitigung der Spuren.

    Ich wrang gerade den Schwamm in der Spüle aus, da erschien Robert in der Küche.

    »Wo ist Carla?«, fragte er.

    »Woher soll ich das wissen?«

    »Sie wollte nur Kräuterbutter holen.« Er sah auf die Uhr. »Das ist jetzt bestimmt schon zehn Minuten her.«

    »Vielleicht war keine mehr im Kühlschrank, und sie ist einkaufen gefahren.«

    »Nein, ich hätte das Auto doch gehört.«

    »Tja, such sie doch«, schlug ich vor.

    Entgeistert blickte er mich an und näherte sich der Speisekammertür. »Liebling?«

    Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel. Bewegte vorsichtig meine Hand Richtung Gasherd. Ich fühlte den Griff der schweren Eisenpfanne und schloss die Finger darum.

    Er öffnete die Türe. »Carla! Was …?«

    In diesem Augenblick krachte die Pfanne mit voller Wucht gegen seine Schläfe. Ein dumpfes Geräusch. Rückstände von Bratkartoffeln und Fett spritzten umher, und einhundertundachtzig Pfund Körpergewicht schmetterten zu Boden.

    »Das hättest du mir wohl nicht zugetraut. Keiner von euch!« Ich triumphierte, und das freigesetzte Adrenalin fühlte sich fantastisch an.

    Um mir Gewissheit zu verschaffen, dass Robert wirklich tot war, legte ich zwei Finger an seine Halsschlagader. Kein Puls.

    Fast mühelos glitt Roberts Leiche über den öligen Fußboden hinweg. Auch er fand seinen vorläufigen Platz in der Speisekammer.

    Ich atmete tief durch. Der grässlichste Teil des Vorhabens stand mir noch bevor. Doch ein Zurück würde es nicht mehr geben, so gern ich es auch gewollt hätte. Nein, dafür war es zu spät …

    Louise schob ihrem kleinen Bruder eine Gabel mit Fleisch in den Mund, als ich um die Ecke in den Garten kam.

    »Nein«, sagte sie. »Erst runterschlucken, dann kommt Nachschub.«

    Tobey verzog die Miene. Wirkte unschlüssig, ob er brüllen oder klein beigeben sollte. Er entschied sich für Letzteres.

    »Das machst du prima«, sagte ich.

    Louise nickte. »Na ja, man muss schon resolut sein, sonst tanzen Kinder einem auf der Nase herum.«

    »Du scheinst alles im Griff zu haben.«

    »Trotzdem möchte ich später mal keine.«

    »Wieso?«

    »Weil sie nur Probleme machen. Du wolltest doch auch keine Kinder, Tante.«

    »Mäuschen, das hatte bei mir andere Gründe.«

    »Welche denn?«

    Ich winkte ab. »Ein andermal. Na, wer von euch will ein Eis?«

    »Ich«, rief Tobey und spie halbzerkaute Fleischbrocken aus.

    Beide saßen auf der Kücheneckbank, während ich Erdbeersorbet in zwei Eishörnchen füllte. Um die Waffeln wickelte ich Servietten, die ich unauffällig mit Chloroform tränkte, und reichte ihnen das Eis.

    »Tante, möchtest du keins?«, fragte Louise.

    »Nein, esst ihr nur.«

    Kaum hatte ich den Satz beendet, kippte Tobeys Kopf auf die Tischplatte. Louise sank nur wenige Atemzüge später in sich zusammen. Ich holte die Spritze aus der Seitentasche meiner Strickjacke hervor. Mit zitterigen Fingern knotete ich den Gummischlauch um den Oberarm des Jungen und drückte die Überdosis Propofolmischung in seine Vene. Daraufhin nahm ich das braune Injektionsfläschchen und zog die Spritze erneut auf. Ich setzte mich zu Louise, hielt sie fest im Arm – ein allerletztes Mal. Während der Kolben niederging, fühlte ich, wie das Leben aus ihrem zarten Körper wich. Meine Finger strichen ihr durchs Haar. Etwas in mir zerriss und starb mit ihr.

    »Guuut gemacht«, flüsterten die Birken. »Spute dich. Noch ist unser Plan unvollendet.«

    »Ich weiß«, sprach ich und wusch mir das Gesicht an der Spüle.

    Bis Sonnenuntergang blieb wenig Zeit. Den Restbestand an Medikamenten und Utensilien aus Toms Tierarztpraxis stopfte ich in schwarze Müllsäcke. Ich putzte die Küche,

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