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Warten auf den Vater: Erinnerungen an Ibrahim Böhme
Warten auf den Vater: Erinnerungen an Ibrahim Böhme
Warten auf den Vater: Erinnerungen an Ibrahim Böhme
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Warten auf den Vater: Erinnerungen an Ibrahim Böhme

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22. November 1999: Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens klingelte das Telefon. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel – ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und ich frage mich, wer dieser Mensch war. Manfred oder Ibrahim? Dissident oder gemeiner Stasi-Spitzel? Weltflüchter oder Realist? Arbeiter oder Intellektueller? Tragischer Held oder Clown? Ich bin mir nicht sicher.

Tatjana Böhme-Mehner schildert in Warten auf den Vater die außergewöhnliche Beziehung zu ihrem Vater Ibrahim (Manfred) Böhme, der 1978 aus der SED ausgeschlossen und mehrere Monate inhaftiert und 1990 zum Vorsitzenden der neu formierten Ost-SPD gewählt wurde. Er galt als aussichtsreicher Bewerber um den Posten des DDR-Ministerpräsidenten. Nach seiner Enttarnung als inoffizieller Mitarbeiter der Stasi zog sich Böhme aus der Öffentlichkeit zurück. Die Autorin entwickelt anhand realer Erinnerungen das schwierige Verhältnis zu einem irrealen Vater, der immer unterwegs und selten für die Tochter greifbar war; sie entwirft exemplarisch ein faszinierendes Bild vom Alltag in der ostdeutschen Provinz vor und nach der Wende und zeigt, welche tiefen Wunden der radikale Umbruch und die Überwachung durch die Staatssicherheit hinterlassen haben.
LanguageDeutsch
Release dateMar 15, 2019
ISBN9783958902756
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    Warten auf den Vater - Tatjana Böhme-Mehner

    ANSTELLE EINES VORWORTS:

    Todesnachrichten kommen nie zur rechten Zeit

    22. November 1999

    Mein Vater ist tot. Gegen sieben Uhr morgens hat das Telefon geklingelt. Es war die Todesnachricht. Ich wusste schon vorher, dass sie es ist. Nicht, dass ich sie erwartet hätte. Nicht mehr jedenfalls als an irgendeinem anderen Morgen in den letzten – wie vielen eigentlich? – Jahren. Obwohl die Nachricht an sich zu erwarten war: Schlecht ging es ihm, seit er sich endgültig aus der Öffentlichkeit verabschiedet hatte. Seit einigen Jahren wunderte ich mich, wie schlecht es einem Menschen gehen konnte, ohne dass er daran tatsächlich starb; wie schlecht es einem gehen musste, bis man daran sterben konnte. Denn eigentlich war es wohl das, was er erreichen wollte, mit dem, was er tat – oder ebenso nicht tat: sterben. Ich fragte mich, wie viel man trinken, rauchen, leiden konnte, ohne dass es das endgültige Ende bedeutet hätte. Ein kleines Ende war seither jede unserer Begegnungen gewesen. Im freien Fall von der Lichtgestalt zum enttarnten Spitzel – ich war beiden gegenüber skeptisch. Doch nun ist er tot; und er ist mein Vater.

    Er war mein Vater. Bis ich mich dieser Tatsache ohne Skrupel und mit der nötigen Selbstsicherheit immer und überall stellen kann, dauert es noch mehr als ein Jahrzehnt – zu emotional ist meine Umwelt noch, bezogen auf das Reizwort »Stasi«, bezogen auf die ganze, nie wirklich aufgearbeitete Wendegeschichte, letztlich bezogen auch auf ihn. So viel Verachtung für den Verräter – durchaus nachvollziehbar. Und andererseits ist immer noch eine seltsame Faszination zu spüren, der manch einer seiner alten Freunde nach wie vor anzuhängen scheint. Mit mir hat beides eigentlich nicht viel zu tun, und doch prägt es das, was ich hier erlebe. Angst haben mir beide Seiten gemacht, seit sie in mein Bewusstsein gedrungen sind.

    Wirklich greifbar ist mein Vater nie gewesen, auch in den Momenten nicht, in denen ich ihn tatsächlich anfassen konnte. Da vielleicht überhaupt am wenigsten. Zu unsicher bin ich in dieser Zeit – bezogen darauf, was passieren würde, wenn ich die Flucht nach vorn ergriffe, wenn es um den Spitzel Böhme geht, der mein Vater war. Auf Nachfrage verschweige ich ihn nicht; das habe ich nie getan. Doch noch bin ich nicht mutig genug, per se zu sagen, wie das mit meiner Familie ist. Kein Wunder: Ich bin in der DDR groß geworden.

    Vielleicht hätte ich viel früher auf mein Gegenüber zumarschieren sollen, offensiv, handschüttelnd: »Guten Tag, ich bin Tatjana Böhme(-Mehner), seit x Jahren schreibe ich vor allem über Musik. Nichtsdestotrotz bin ich die Tochter des berühmt-berüchtigten Stasi-Spitzels Ibrahim Böhme, der beinahe die letzte DDR-Regierung angeführt hätte. Mit mir hat das zwar nichts zu tun, wenn Sie aber dennoch ein Problem damit haben, ist das Ihre Gelegenheit, es kundzutun.«

    Im Osten hätte das einige Jahre lang für mehr als nur Verblüffung gesorgt. Aber es ist nicht mein Wesen. Den großen Preis für Diplomatie mag ich nicht verdient haben, aber die Portion des ostdeutschen Konfliktvermeidertums, die ich mitbekommen habe, reicht immer noch aus, um dezent um den heißen Brei herumzureden. In meinem Studium der Journalistik schließlich nimmt das Wissen der anderen, vor allem der Dozenten, gepaart mit meinem Ausweichen manchmal absurde Formen an – vor allem, weil jeder irgendwann einmal das Wort »Informantenschutz« gehört hat. Das kann man übrigens leicht mit »Herrschaftswissen« verwechseln – das wird irgendwann meine Erkenntnis daraus sein.

    Väter und Töchter – das ist angeblich etwas ganz Besonderes. Bei den meisten Menschen ist es ziemlich einfach: Entweder haben sie einen Vater oder nicht. So einfach war das bei mir nie. Das sage ich und weiß, dass es völliger Quatsch ist. Weil natürlich jeder Mensch einen Vater hat, genau wie ich auch. Und eigentlich weiß ich das durchaus. Habe es nie geleugnet. Warum auch?

    Die Sache ist lediglich die, dass die anderen diesen Vater entweder kennen oder nicht. Und genau das kann ich von mir nicht behaupten. Zwar hatte ich in meinem ganzen Leben noch nie irgendeinen Zweifel ob der Person meines Vaters. Doch wer genau dieser Mensch war? Manfred oder Ibrahim? Dissident oder gemeiner Stasi-Spitzel? Weltflüchter oder Realist? Arbeiter oder Intellektueller? Tragischer Held oder Clown? Ich bin mir nie so sicher. Auf jeden Fall kein Vater, wie andere ihn hatten oder sich gewünscht hätten. Jetzt jedenfalls ist er tot.

    Zwei Phasen gab es in meinem Leben, in denen es nicht unbedingt ratsam erschien, diesen Vater zu haben und beim Namen zu nennen: vor der Wende und dann wieder unmittelbar nach der Wende. Kryptische Antworten täuschen über manches hinweg und sichern Normalität, die für ein Kind so wichtig ist. Man muss nur lernen, diese Antworten früh genug zu geben … Lügen musste ich dafür nie – vielleicht hat mein Vater mich auch deshalb gern ein wenig im Dunkeln tappen lassen, wenn es darum ging, wer er wirklich war. Und nicht nur mich …

    Und dann gab es jene Phasen, in denen andere dem Kind die Existenz des Vaters ausreden wollten. Einen Vater, der nie da ist, gibt es wahrscheinlich überhaupt nicht. Gut möglich, dass er meiner blühenden Fantasie entsprungen ist. Kinder können grausam sein. Gerade in der Kleinstadt, wo jeder um die kleinen und großen Fehler aller Übrigen weiß. Das sind Momente, in denen der Vater riesig und konkret wird, während man auf seiner Existenz beharrt – und damit auf der eigenen Normalität. Und es gab die sehr lange Phase, in der er selbst die Familie verleugnete – im Glauben, sie zu schützen. Möglicherweise. Diese Momente waren wohl die schmerzhaftesten. Gewiss nicht für mich allein. Und schließlich gab es jene Phase, in der ich selbst nicht noch mehr auf seine Existenz aufmerksam machen wollte, in der ich ein normaler Teenager sein, er aber Ministerpräsident werden wollte. Schon merkwürdig, wie Realitäten und Illusionen ineinandergreifen …

    Als Ministerpräsidentschaftskandidat ist er genauso real wie als der Lokführer oder Cowboy, der er nie war, doch für das Kind vorgab zu sein, oder der Übersetzer und Theatermann, der er wohl irgendwann einmal auch gewesen sein muss und den ich ins Feld führe, wenn es an offizieller Stelle gilt, einen Vater zu haben: im Sprachunterricht, bei Behörden …

    Jetzt im Tod jedenfalls ist er verdammt real, schon weil sein Sterben mich unter einen bemerkenswert realen Zugzwang setzt, der vorläufig gar keinen Platz für emotionale Regungen lässt. So irreal seine Existenz gewesen sein mag, ihr Ende holt sie in erstaunlicher Konkretheit ein und bringt sie wieder hinein in mein Leben. Ich bin schwanger zu jener Zeit. Erklärungen, Notare … Das ist lebensweltlicher als das meiste, was mir dieser Vater bisher präsentiert hat. Dennoch hatten unsere Begegnungen durchaus Eindrucksvolleres zu bieten: Schöneres, Dramatischeres, ja, vor allem Witzigeres … Auch wenn viele es nicht glauben: Die Eigenschaft meines Vaters, die ich am meisten geschätzt habe, war sein Witz. Ob ich davon ein wenig geerbt habe? Das hoffe ich, ehrlich gesagt.

    Und zu guter Letzt war da noch das entscheidende Problem, dass er selbst niemals der sein wollte, der er war. Warum? Das habe ich mich oft gefragt; und eigentlich weiß ich, dass ich diese Frage wohl nie beantworten werde. Niemand kann das. Ich hätte sie deutlich früher stellen sollen. Und trotzdem sitze ich hier und schreibe. Gerade deshalb. Wahrscheinlich. Ich habe die Frage schlicht nie gestellt. Ob ich andernfalls eine Antwort bekommen hätte? Wer weiß …

    Die Situation ist absurd. Doch genau das ist gut so für den Moment. Denn das, was kommt, betäubt jede emotionale Regung. Nicht im pathetischen Sinne. Noch posthum führt er die Hinterbliebenen an der Nase herum: zahllose Testamente von einem, der nichts besaß, nichts besitzen wollte. Im Sinne des Erbschaftsgesetzes. Und wer da was erbte … Dutzende von Seiten quellen aus dem Faxgerät. Die Absurdität ist offensichtlich und wird noch gesteigert durch die Tatsache, dass wir ein Rollenfax besitzen. Zahllose verschiedene Fassungen eines fiktiven Testaments ziehen sich als riesige Papierschlange über den Boden in der gemütlichen kleinen Dachgeschosswohnung, die ich damals in Leipzig bewohne. Das Märchen vom süßen Brei habe ich mir als Kind besonders gern von meiner Omi erzählen lassen. Irgendwie ruft mir der Testamenten-Fax-Bandwurm gerade diese Geschichte in Erinnerung. Die dort verschiedentlich erwähnten Ländereien meiner Ahnen habe ich bis heute nicht gefunden … Die Ahnen auch nicht. Allerdings habe ich sie auch nicht wirklich gesucht. Hätte ich es gern? Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Eine Idee, um sich wegzuträumen, wären sie allemal. Aber das habe ich nie wirklich gebraucht. Träume hatte ich mit Sicherheit immer – jenseits dessen.

    Doch die Absurdität macht es mit ebensolcher Sicherheit leichter – für den Moment. Ob er sich dessen bewusst war? Vielleicht. Ob er es bewusst eingesetzt hat, um es mir leichter zu machen? Schwer zu sagen … Das würde unterstellen, dass er mich wahrgenommen, dass er an mich gedacht hätte. An mich und mein Gefühl. Eigentlich ist das eine wunderschöne Vorstellung. Doch vor allem ist da gerade die absurde juristische Situation, dass ich jetzt für ihn verantwortlich bin, dem die Verantwortung für mich immer Angst gemacht hat, der sie immer auf andere abgewälzt hat.

    Das Erbe habe ich zur Sicherheit ausgeschlagen. Im Sinne des Erbschaftsgesetzes. Ich bin nicht haftbar für seine Fehler – nicht im juristischen Sinne. Wie das moralisch ist? Das wird die Zeit zeigen …

    Fürs Erste jedenfalls steht eines fest: Er ist tot – Manfred, alias Ibrahim, Böhme, vermutlich Jahrgang 1944; Mitbegründer der sozialdemokratischen Partei der DDR; Spitzenkandidat der OST-SPD bei den letzten Volkskammerwahlen – also bei der einzigen in unserem demokratischen Sinne freien Parlamentswahl in der DDR – und kurz darauf als einer der perfidesten Stasi-Spitzel enttarnt. Mehr als das ist zu dieser Zeit kaum im allgemeinen Bewusstsein. Wenn überhaupt. Eine Meldung zur Hauptnachrichtenzeit ist sein Tod schließlich trotzdem wert.

    Ich habe diese Meldung geschrieben. Ich habe gelernt, solche Meldungen zu schreiben. Als ich gefragt werde, ob ich ein ganzes Journalistikstudium genau für diese Situation absolviert habe, lache ich freundlich. Die Entscheidung, als Ergänzung zur Musikwissenschaft Journalistik zu studieren, war eine Vernunftentscheidung, ein Kompromiss, wie man ihn in meiner Generation eingegangen ist, weil der Markt für Akademiker gerade in den Geisteswissenschaften nach der Wende eigentlich nicht mehr existiert, aber die Medienlandschaft noch ganz in Ordnung ist. Insofern ist mein Lachen ein wenig gezwungen – auch weil ich weiß, dass unter meinen Journalistik-Kommilitonen und -Dozenten hinter vorgehaltener Hand immer mal wieder weitergesagt wird, wessen Tochter ich bin. Ein einziger Dozent hat das Rückgrat, mich darauf anzusprechen … Es war das Musikwissenschaftsstudium, das ich immer gewollt hatte.

    Sein Tod verlief seinem Wunsch gemäß mit Tschaikowsky, sagt die Frau, die bei ihm war. Sie hat alles in die Wege geleitet für die stille Bestattung, die er wollte. Bleibt die Öffentlichkeit. Meine Aufgabe …

    Die Pressemitteilung besagt: Er ist tot! Nicht viel mehr, aber definitiv auch nicht weniger. Ich verlasse die Wohnung und entgehe dem pausenlosen Klingeln des Telefons, den Fragen, die Journalisten stellen wollen – zu seinem Alkoholkonsum, zu seinem ungewöhnlichen Sterbeort Neustrelitz und dem irgendwie auch verblüffenden Sterbedatum, zu seinen letzten Jahren, von denen ich so viel bzw. so wenig weiß wie von seinem ganzen Leben – zu viele Details und keinen Zusammenhang … Ich bewundere meinen späteren Mann, der jenen erstaunlich hartnäckigen Journalisten, die – auf der Suche nach dem geringsten Vorteil – fragen, vor allem aber in der Hoffnung auf Bestätigung nachhaken, Rede und Antwort steht, und zwar die ganze Zeit, ohne etwas zu sagen. Die Information passt zum Zeitgeist – in Deutschland, ja in ganz Europa hat man gerade zehn Jahre Mauerfall gefeiert, sich erinnert und auch ein wenig aufgearbeitet, was geschah, ein bisschen heroisiert, doch auch ein bisschen ernüchtert am Lack gekratzt. Gerade hier in Leipzig. Mein Vater war da schon nicht mehr dabei. Ob das eigentlich jemandem aufgefallen ist? Doch, doch – in einigen Bildern, auf denen er neben Willy Brandt oder Oskar Lafontaine steht und Wahlkampf betreibt, oder als Mitglied jenes runden Tisches, an dem die politischen Kräfte der Wende zusammenkamen, habe ich ihn in letzter Zeit wieder öfter gesehen. Die Bilder decken sich kaum mit jenen, die ich im Kopf habe, von unseren letzten Begegnungen – mit den Eindrücken des permanent Sterbenden. Von ihm gesprochen hat in dem Zusammenhang kaum einer – bestenfalls erwähnt man die Enttarnung des Spitzels, wenn andere Enttarnte sich über Interviews und Entschuldigungen gerade rehabilitieren. Er hat sich dazu nie geäußert. Und das verzeiht man gemeinhin nicht …

    Ich bin 1976 geboren worden. In einem Land, das es 13 Jahre später nicht mehr geben sollte. Das korrekt in einem Personalbogen außerhalb Deutschlands anzugeben ist nach der Wende über einige Jahre ein Problem.

    Dieser merkwürdige Verlust zu Beginn der Pubertät, der im Prinzip eine Bereicherung ist, prägt meine Generation – eine Erfahrung, die ich 100-fach mit Freunden und Kollegen in der ganzen Welt diskutiert habe und die mich doch selbst immer wieder erstaunt. Wir haben auf eine sonderbare Weise gelernt, mit Unsicherheit umzugehen.

    Als ich geboren werde, glauben in jenem Land weit mehr Menschen daran, den Sozialismus aufbauen zu können, als man heute annimmt, weit mehr zumindest als die wenigen, die das heute noch zugeben würden. Dennoch: Es ist das Jahr der Biermann-Ausbürgerung. Reiner Kunze hat seinen faszinierenden Prosa-Band Die wunderbaren Jahre veröffentlicht, in dem ich später mehr über jene Zeit erfahren werde, in der meine Eltern zusammenkamen, als von diesen selbst. Es rumort im Staate, und das bekomme ich gleich in einem Maße zu spüren, wie das wohl bei Weitem nicht für jedes Kind im Osten der Fall ist. Der Grund: mein Vater.

    Als man dem politisch unliebsamen und nicht zuletzt deshalb wahrhaft populären Liedermacher Wolf Biermann nach einer genehmigten Tournee in die BRD die Wiedereinreise in die DDR verweigert und ihm die Staatsbürgerschaft entzieht, bricht ein Sturm los. Nicht nur Künstler und Intellektuelle protestieren in offenen Briefen. Einer der wortmächtigsten kommt von Reiner Kunze. Mein Vater protestiert auch, obwohl er, wie wir heute wissen, einer der eifrigsten Spitzel ist, die den DDR-Geheimdienst über Kunzes Tun und vor allem Denken informieren – in Greiz, dem Ort, in dem meine Eltern einander begegnen, halten junge Intellektuelle diesen ominösen Böhme dennoch für einen der Ihren, machen den eloquenten Redner mit der mystischen Ausstrahlung und geheimnisvollen Vergangenheit zu einer Art Idol. Er war immer ein fantastischer Erzähler.

    Reiner Kunze verlässt 1977 freiwillig die DDR. Es ist eine Zeit, in der man glaubt, durch Vertreibung der Kritiker etwas zu erreichen. Das System wird daraus lernen und später nicht mehr so vordergründig Verbote aussprechen. Die Folgen der Biermann-Ausbürgerung und Kunze-Auswanderung werden meine Kindheit dennoch prägen. Irgendwann lese ich, dass es mein Vater war, der Kunze verriet.

    Warten

    »Warte mal!« – ein merkwürdiges Phänomen, dieser Satz. Würde man ihn wörtlich ins Französische oder Englische übersetzen, käme ein völlig anderer Imperativ heraus. »Kurz mal warten« … Offenbar ein typisch deutsches Paradoxon. Nicht selten, einfach dahingesagt – bestenfalls in der Funktion von »Einen Moment bitte!«, manchmal auch, um eine kommunikative Lücke zu schließen. Mit Warten an sich hat das wenig zu tun. Vielleicht ist Warten auch eigentlich gar keine Tätigkeit, sondern ein Zustand – amorph in seiner zeitlichen Ausdehnung und vor allem schwankend in seiner Intensität. Mir ist Warten unangenehm. Deshalb habe ich in Wartezimmern oder Wartebereichen auch immer etwas zu tun. Laptop auf dem Schoß, Buch in der Tasche. Mich faszinieren Menschen, die richtig warten können – also tatsächlich die Zeit auf den ersehnten oder erfürchteten Moment hin durchleben. Die Zeit an sich. Ich frage mich, ob für sie die Zeit dann irgendwann eine andere Form gewinnt, gegenständlich wird, etwas, das es tatsächlich zu überwinden gilt. Ich kenne Theorien, in denen von der Verräumlichung

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