Das Lied der Liebe: Der kleine Fürst 230 – Adelsroman
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"Der kleine Fürst" ist vom heutigen Romanmarkt nicht mehr wegzudenken.
»Nein, nein, nein, nicht so, Julia«, sagte Marion Varnthal. »Das klingt angestrengt und gepresst. Atme zuerst noch einmal tief durch, ganz ruhig. Nicht singen, nur atmen.« Gehorsam tat Julia von Camphausen, was ihr gesagt worden war. Sie weitete ihren Brustkorb und konzentrierte sich in Gedanken auf die Stelle in dem Lied von Schubert, an der sie gerade feilten. Marion Varnthal, ihre Lehrerin, beobachtete sie wohlwollend. Julia war das größte Talent, das sie jemals unterrichtet hatte. Gerade deshalb war sie mit ihr besonders streng und ließ ihr auch nicht die kleinste Ungenauigkeit durchgehen. Unermüdlich kritisierte und korrigierte sie, vergaß aber auch nie, ihre begabte Schülerin zu loben, wenn ihr etwas gut gelungen war. Julia war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte bereits erste kleine Engagements gehabt, war aber noch nicht ›entdeckt‹ worden. Marion Varnthal war jedoch sicher, dass der Tag, an dem das geschehen würde, nicht mehr fern war. Schon jetzt dachte sie mit Wehmut daran, denn wenn es soweit war, würden sich ihre und Julias Wege trennen. Sie unterrichtete die junge Frau seit zwei Jahren, seit Julias vorheriger Lehrer zu dem Ergebnis gekommen war, er könne ihr nichts mehr beibringen. Marion Varnthal dagegen fand, dass Julia noch immer viel zu lernen hatte, bis sie eines Tages, hoffentlich, ihre Stimme zu voller Blüte entwickelt haben würde. Aber das musste behutsam geschehen. Sie hatte schon einige Talent erlebt, die sich vorzeitig verbraucht hatten, weil sie zu früh Partien gesungen hatten, auf die ihre Stimmen noch nicht genügend vorbereitet gewesen waren. Julia wiederholte die für sie so schwierige Stelle, und dieses Mal klang ihre Stimme nicht gepresst, sondern schwang sich frei und jubelnd in die Höhe.
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Das Lied der Liebe - Viola Maybach
Der kleine Fürst
– 230 –
Das Lied der Liebe
Als Ulrich es hört, ist es um ihn geschehen
Viola Maybach
»Nein, nein, nein, nicht so, Julia«, sagte Marion Varnthal. »Das klingt angestrengt und gepresst. Atme zuerst noch einmal tief durch, ganz ruhig. Nicht singen, nur atmen.«
Gehorsam tat Julia von Camphausen, was ihr gesagt worden war. Sie weitete ihren Brustkorb und konzentrierte sich in Gedanken auf die Stelle in dem Lied von Schubert, an der sie gerade feilten.
Marion Varnthal, ihre Lehrerin, beobachtete sie wohlwollend. Julia war das größte Talent, das sie jemals unterrichtet hatte. Gerade deshalb war sie mit ihr besonders streng und ließ ihr auch nicht die kleinste Ungenauigkeit durchgehen. Unermüdlich kritisierte und korrigierte sie, vergaß aber auch nie, ihre begabte Schülerin zu loben, wenn ihr etwas gut gelungen war.
Julia war zweiundzwanzig Jahre alt. Sie hatte bereits erste kleine Engagements gehabt, war aber noch nicht ›entdeckt‹ worden. Marion Varnthal war jedoch sicher, dass der Tag, an dem das geschehen würde, nicht mehr fern war. Schon jetzt dachte sie mit Wehmut daran, denn wenn es soweit war, würden sich ihre und Julias Wege trennen.
Sie unterrichtete die junge Frau seit zwei Jahren, seit Julias vorheriger Lehrer zu dem Ergebnis gekommen war, er könne ihr nichts mehr beibringen. Marion Varnthal dagegen fand, dass Julia noch immer viel zu lernen hatte, bis sie eines Tages, hoffentlich, ihre Stimme zu voller Blüte entwickelt haben würde. Aber das musste behutsam geschehen. Sie hatte schon einige Talent erlebt, die sich vorzeitig verbraucht hatten, weil sie zu früh Partien gesungen hatten, auf die ihre Stimmen noch nicht genügend vorbereitet gewesen waren.
Julia wiederholte die für sie so schwierige Stelle, und dieses Mal klang ihre Stimme nicht gepresst, sondern schwang sich frei und jubelnd in die Höhe. Sie merkte wohl selbst, was ihr gelungen war, denn als sie zum Ende gekommen war, lächelte sie selig und wartete nicht, wie sonst häufig, beinahe ängstlich auf die Reaktion ihrer strengen Lehrerin.
Marion Varnthal musste sich zwingen, nicht allzu begeistert zu klingen, denn damit tat man seinen Schülern, wie sie aus langjähriger Erfahrung wusste, meistens keinen Gefallen. Deshalb sagte sie nur ganz ruhig: »Das war sehr gut, Julia, du hast es selbst gehört, oder?«
»Ja«, antwortete die junge Frau mit leuchtenden Augen. »Es ging auf einmal ganz leicht, Frau Varnthal. Es war so, als hätte sich meine Stimme aus einem Käfig befreit. Ich weiß gar nicht, wie das passiert ist.«
»Du hast richtig geatmet, das ist passiert. Du verkrampfst immer noch, wenn du dich einer Stelle näherst, von der du weißt, dass sie dir schwer fällt, und dann klingt deine Stimme sofort gepresst. Laien würden das vermutlich gar nicht hören, aber jeder, der etwas von Gesang versteht, hört es sofort.«
»Ich versuche, in Zukunft daran zu denken.« Julia strahlte immer noch. »Ich habe ja nicht gewusst, wie es sich anfühlen kann, wenn die Stimme beinahe von allein so weit nach oben steigt. Bisher dachte ich immer, das geht nur mit allergrößter Anstrengung.«
»Und diese Anstrengung hat man dir angehört. Genau das darf aber nicht passieren. Die größten Sängerinnen waren auch deshalb so groß, weil ihre Kunst mühelos klang. Das ist Kunst natürlich niemals, aber sie muss so wirken, um das Publikum in Bann zu schlagen. Das gilt für Sänger und Musiker genau so wie etwa für Schauspieler: Wenn man die Mühe merkt, die dahintersteckt, verfliegt der Zauber. Und wenn man hört, dass du Angst vor den hohen Tönen hast, bekommt man Mitleid mit dir – oder sogar Angst davor, dass du es nicht schaffst.«
Julia nickte nachdenklich. Sie machte bei Marion Varnthal auch deshalb so große Fortschritte, weil diese gut erklären konnte. Immer fand sie anschauliche Bilder, um ihre Worte zu unterstreichen, Bilder, mit denen Julia etwas anfangen konnte. Wie jetzt auch: Sie ging gern ins Kino, es gab einige Schauspieler, die sie bewunderte, und so verstand sie sofort, was Marion Varnthal meinte.
Sie machten weiter, die junge und die ältere Frau. Noch war das Wetter schön, ein Fenster des Raums, in dem der Unterricht stattfand, war geöffnet, so dass Julias Stimme auch draußen zu hören war. In den Gärten der Umgebung hoben die Leute die Köpfe, um zu lauschen, und auf der Straße blieb manch einer stehen und sah sich um, auf der Suche nach dem Ort, an dem so himmlisch gesungen wurde.
Marion Varnthals Wohnung in einer mittelgroßen Stadt am Rande des Sternberger Landes befand sich in einem hübschen Wohnviertel mit alten Häusern und viel Grün. Die kleine Wohnung, die sie hier besaß, hatte sie geerbt. Niemand wusste, dass sie herzkrank war und deshalb nur noch wenige Schülerinnen und Schüler unterrichten konnte, und es wusste auch niemand, dass sie das Geld, das sie so verdiente, dringend brauchte.
Das Leben war nicht eben freundlich mit ihr umgesprungen. Zwei große Lieben hatte sie erlebt. Ihr erster Mann war früh gestorben und hatte ihr hohe Schulden hinterlassen, der zweite, ein begabter Dirigent, hatte von ihr verlangt, dass sie ihre eigene Gesangskarriere seinem Fortkommen unterordnete. Diesem Wunsch hatte sie sich gefügt. Die Ehe scheiterte, als ihr Mann zu trinken begann und deshalb beruflich scheiterte. Nach der Scheidung war es für ihre Karriere als Sängerin zu spät gewesen.
Diese beiden Ehen und ihre Krankheit waren der Grund dafür, dass sie jetzt, mit Anfang Fünfzig, nahezu mittellos war, denn jahrelang hatte sie die Schulden ihres ersten Mannes abgezahlt, und von ihrem zweiten, der mittlerweile psychisch und körperlich ein Wrack war, hatte sie ebenfalls nichts zu erwarten. Aber Marion Varnthal war kein Mensch, der sich gehen ließ. Sie teilte sich ihr Geld ein, lebte sparsam und hütete ihre Wohnung, ihren einzigen Besitz, mit großer Sorgfalt. Ihre Garderobe arbeitete sie selbst um, neue Kleidung leistete sie sich nur im äußersten Notfall. Aber auch das sah man ihr nicht an. Im Gegenteil, sie galt allgemein als elegante Frau, und das war sie auch.
Sie hatte nur eine gute Freundin, die wusste, in welchen Verhältnissen sie lebte, und mit dieser redete sie offen über alles, was sie bewegte. Ansonsten war sie zurückhaltend und freundlich und hielt andere Menschen auf Distanz. Trotz ihres kranken Herzens und ihrer beengten finanziellen Verhältnisse war sie der Ansicht, dass diese Phase ihres Lebens zu ihren besten gehörte. Sie war endlich niemandem mehr Rechenschaft schuldig, sondern konnte ganz allein entscheiden, was sie tun wollte und was nicht.
»Genug für heute«, sagte sie. »Vergiss nicht, was du heute gelernt hast, Julia und üb fleißig bis zum nächsten Mal.«
»Das mache ich doch immer, Frau Varnthal«, erwiderte die junge Frau.
Sie hatte rosig angehauchte Wangen und sah so hübsch aus, dass Marion wieder einmal dachte: Hoffentlich schafft sie es. Hoffentlich erliegt sie nicht den Verlockungen des schnellen Geldes oder den Einflüsterungen eines raffinierten ›Managers‹. Wenn sie nur daran dachte, wie viele