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Medien, Netz und Öffentlichkeit: Impulse für die digitale Gesellschaft
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Medien, Netz und Öffentlichkeit: Impulse für die digitale Gesellschaft

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About this ebook

Medien, Netz und Öffentlichkeit stehen in enger Beziehung zueinander. Die Verfasstheit unserer Gesellschaft hängt immer mehr von der Gestaltung dieser miteinander verwobenen Bereiche ab. Wie sieht die demokratische Zukunft aus? Was sind die richtigen politischen Handlungsebenen? Wie lässt sich Herrschaftswissen hinterfragen und wie kann man den neuen Monopolen mit großer Steuerungsmacht begegnen?
Das Buch liefert Impulse für die medien- und netzpolitische Debatte und bietet mögliche Ansätze für weiteres politisches Handeln an. Über 60 Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven und vielen Berufsfeldern geben mitunter diskursive und kontroverse Antworten. Die Beiträge bieten Momentaufnahmen wie Ausblicke; zugleich ist der Band eine Art Handbuch, das einzelne Branchen ebenso in den Blick nimmt wie grundsätzliche Fragen zu erörtern. Medien und das Netz werden durch uns gestaltet. Dieses Buch trägt dazu bei, Gestaltungsoptionen aufzuzeigen.
LanguageDeutsch
Release dateJun 6, 2013
ISBN9783837510201
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    Book preview

    Medien, Netz und Öffentlichkeit - Klartext Verlag

    Gesellschaft

    Inhalt

    I. Kommunikationsraum Internet

    1. Information und Desinformation: Über die Wirklichkeit des Internets

    Dirk Baecker: Das unsichtbare Internet

    Jürgen Bremer: Das Ur-Internet

    2. Soziale Netzpolitik?

    Caja Thimm: Digitale Lebenswelten – Zur Mediatisierung sozialer Beziehungen

    Helga Trüpel: Digitale Globalisierung fair gestalten – Freiheit im Netz muss gepaart werden mit sozialer Verantwortung und Nachhaltigkeit

    3. Das Private ist öffentlich

    Norbert Schneider: Zwischen Privatheit und Öffentlichkeit

    Gunnar Bender: Informationelle Selbstbestimmung in sozialen Netzwerken

    4. Partizipation und Transparenz

    Christoph Bieber: Partizipation und Transparenz: Ab wann haben Schlagworte Substanz?

    Harald Gapski: Über Konstrukte, Latenzen und neue Kompetenzen

    5. Das Geld der Masse: Crowdfunding?

    Alexander Vogt: Crowdfunding – Geld, Beteiligungen und Wissen

    Claudia Pelzer: Die neue Co-Economy

    Zwischenruf:

    Alexander Kluge: Privatheit, Gesellschaft und Öffentlichkeit

    II. Kulturraum Internet

    1. Musikbranche: ein Zwischenbericht

    Georg Bergheim/Meike kleine Brörmann: Kaufen, Streamen, live Erleben – Musikrezeption im digitalen Zeitalter

    Tim Renner: »Man hätte das alles früher haben können.«

    2. Filmbranche: ein Ausblick

    Bettina Brokemper: Traumfabrik im Strukturwandel

    Tom Spieß: In guten wie in schlechten Zeiten

    3. Fernsehbranche: ein Zustandsbericht

    Steffen Grimberg: Das beste Fernsehen der Welt

    Hans Hoff: Das Fernsehen ist das Fernsehen

    4. Content und Verbreitung: Verwertungsketten und Erlösmodelle

    Michael Caudera: Markenbildung im digitalen Zeitalter

    Tobias Schmid: Die Zukunft des professionellen Inhaltes ist der professionelle Inhalt

    5. Welche Werte prägen die Netzkommunikation?

    Oliver Keymis: Weiter scheitern, besser scheitern oder: ich weiß nichts, also bin ich

    Thorsten Dirks: Faires Miteinander – Kommunikation auf Augenhöhe

    III. Freiraum Internet

    1. Google, Apple, Microsoft, Amazon oder die Vielfalt des Netzes

    Markus Brauck: Vier

    Ibrahim Evsan: Im Glauben, die Freiheit im Internet gefunden zu haben, werden wir zu Sklaven der digitalen Supermächte

    2. Was bedeutet Vielfalt im Netz?

    Jan-Hinrik Schmidt: Vielfalt im Internet

    Björn Böhning: Die Neuvermessung der Freiheit

    3. Was bedeutet Öffentlichkeit im Netz?

    Nico Lumma: Freiräume bewahren und gestalten

    Carsten Brosda: Digitale Chancen für das gesellschaftliche Zeitgespräch

    4. Wozu Datenschutz?

    Peter Schaar: Datenschutz: Wichtig wie die Luft zum Atmen

    Mario Sixtus: Diesen Datenschutz braucht kein Mensch

    5. Die Rechte der Kreativen: Kann Urheberschutz im Netz gelingen?

    Nadine Klass: Das Urheberrecht unter Druck

    Karl-Nikolaus Peifer: Gegenwelten oder Verbündete?

    6. Regulierung von Endgeräten und Plattformen

    Karl-E. Hain: Regulierung von Endgeräten und Plattformen

    Hans Hege: Regeln fürs Suchen, Finden, Navigieren – zwischen Neutralität und Priorisierung

    7. Wie neutral ist das Netz?

    Bernd Holznagel: Der Mediengesetzgeber muss entscheiden

    Klaus Illgner-Fehns: Für einen transparenten Wettbewerb

    Zwischenruf:

    Otfried Jarren: Verantwortungskultur durch Co-Regulierung: Beispiel Social Media

    IV. Medienpolitik in Zeiten des Internets

    1. Zur Zukunft des gedruckten Papiers

    Gerd Walter: Höchste Zeit für die Wahrheit

    Wolfgang Fürstner/Cornelius Wendel: Die Zukunft ist digital

    2. Wozu noch öffentlich-rechtlicher Rundfunk?

    Klaudia Wick: Dazwischen Wo er steht, wird er nicht bleiben können

    Thomas Kleist: Nie war er so wertvoll wie heute

    3. Medienpluralismus und Vielfaltssicherung: Auslaufende Regulierungsansätze?

    Paul Leo Giani: Anreizsysteme fortentwickeln

    Tabea Rößner: Mission impossible?

    4. Wozu noch Jugendmedienschutz?

    Sabine Frank: Jugendmedienschutz im Wandel – Risikomanagement im Internet

    Thomas Krüger: Geht’s eigentlich noch? Warum wir einen angemessenen Jugendmedienschutz im digitalen Zeitalter brauchen

    5. Neue Wege im Föderalismus

    Frauke Gerlach: Der Zusammenbruch des linearen Kulturmodells und die Medienpolitik der Länder

    Olaf Scholz: Von der Rundfunkkommission zur Medienkommission. Die Rolle der Länder in der Media Governance

    Bemerkungen aus medienpolitischer Perspektive:

    Kurt Beck: Mehr Demokratie durch das Netz?

    Marc Jan Eumann: Finanzierung von Öffentlichkeit Oder: Warum es sich lohnt, dafür Verantwortung zu übernehmen

    Marc Jan Eumann/Martin Stadelmaier: Medienpolitik vs. Netzpolitik?

    Zwischenruf:

    Gerhard Zeiler: Weichen stellen. Die neuen Gesetze der Medienwelt

    V. Europäische und globale Regulierungsansätze

    1. Für eine europäische Öffentlichkeit

    Martin Schulz: Die Idee von Europa

    Cem Özdemir: Die digitale europäische Öffentlichkeit stärken!

    2. Europäische Ansätze zur Medien- und Netzpolitik

    Alexander Scheuer: Wolkig, mit Aussicht auf …? Herausforderungen für die europäische Medien- und Netzpolitik

    Bernd Holznagel/Nena Roeske/Dominik Schomm: Europäischer Breitbandausbau – Das Vertrauen in den Markt ist grenzenlos

    3. Internationale Standards: globale Ansätze und neue Wege

    Wolfgang Schulz: Kommunikative Inhalte und ihre Regulierung

    Mark D. Cole: Europäische und globale Regulierungsansätze

    Ein Blick zu den Nachbarn:

    Österreich: Jan Krone

    Schweiz: Vinzenz Wyss

    Vereinigtes Königreich: Steffen Grimberg

    Ausblick:

    Johanna Haberer: Regeln fürs globale Dorf

    Literaturhinweise

    Die Autoren

    »In bunten Bildern wenig Klarheit,

    Viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit«

    Vorspiel auf dem Theater

    Faust I

    J. W. v. Goethe, 1808

    »… die Aura des Netzes ist so magisch wie unerforscht.«

    Sieben Schätze, Augsburger Vorlesungen,

    F. Hoppe, 2009

    Statt einer Einleitung

    Mit diesem Buch verfolgen wir das Ziel, die medien- und netzpolitische Debatte jenseits der Tagespolitik sowie des Erwartbaren anzuregen und diese Politikfelder als Teil von Gesellschaftspolitik zu erforschen und zu diskutieren. Wir verbinden damit den Wunsch, Impulse zu liefern, die die medien- und netzpolitische Debatte bereichern, und mögliche Ansätze für weiteres politisches Handeln anzubieten. Es geht uns auch darum, sinnvolle Regulierung und notwendige Deregulierung zu beschreiben, die auf die medialen Entwicklungen unserer Zeit und ihre Auswirkungen auf die Verfasstheit unserer Gesellschaft und unseres Zusammenlebens reagiert – unabhängig vom Distributionsweg.

    Das Buch besteht aus fünf Themenblöcken: Kommunikationsraum Internet, Kulturraum Internet, Freiraum Internet, Medienpolitik in Zeiten des Internets sowie Europäische und globale Regulierungsansätze. Zu jeder Fragestellung innerhalb der Themenblöcke steht sich ein Autorenpaar gegenüber und bringt jeweils Gedanken, Erkenntnisse und Erfahrungen ein. Dieser Ansatz der Doppel-Perspektive soll auch verdeutlichen, dass Prozesse, die nach dem Muster »entweder-oder« bzw. »schwarz-weiß« gestaltet werden, der Vielfalt und den Möglichkeiten von »Medien, Netz und Öffentlichkeit« nicht gerecht werden. Deswegen haben wir versucht, uns den Aspekten, die sich aus der Betrachtung von »Medien, Netz und Öffentlichkeit« ergeben, aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Akteuren zu nähern. Die Vielfalt und die Möglichkeiten dieser Betrachtungsweise sollen sich sowohl in den Themen als auch durch die Auswahl der Autoren widerspiegeln. Um diese Vielfalt und Möglichkeiten aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten, zu betrachten und zu bewerten, bedarf es eines breiten Professionenmix. Wir sind deshalb dankbar, dass wir Autoren für unsere Idee begeistern konnten, die in Wissenschaft und Wirtschaft, Kultur, Politik und Medien zu Hause sind. Dass es zwischen den Themenblöcken teilweise zu Überschneidungen und Ergänzungen kommt, manchmal auch zu mehr als das, liegt in der Freiheit der Autoren und in der Natur der Sache. Dies ist uns bewusst – und wir haben versucht, es durch Zwischenrufe aufzulösen. Darüber hinaus haben wir uns Ausnahmen in der Struktur erlaubt. Dies gilt zum einen für »Bemerkungen aus medienpolitischer Sicht« im Kapitel »Medienpolitik in Zeiten des Internets« als auch für den »Blick zu den Nachbarn« im Kapitel »Europäische und globale Regulierungsansätze«. In beiden Fällen sind wir davon abgewichen, Fragestellungen von zwei unterschiedlichen Autoren beleuchten zu lassen.

    Mit dem Ausblick »Regeln für das globale Dorf« soll kein Schlusspunkt gesetzt werden. Vielmehr ist es unser Anliegen, das Buch mit den Fragen der Medienethik ausklingen zu lassen, die einen herausragenden Stellenwert für die Zukunft unserer digitalen Mediengesellschaft haben.

    Unsere »Impulse für die digitale Gesellschaft« sind sowohl Momentaufnahme als auch Ausblick, sowohl Annäherung als auch eine Art Handbuch, das einzelne Branchen ebenso in den Blick nimmt, wie den Versuch unternimmt, das »Große und Ganze« einzuordnen. Sie setzen »Medien, Netz und Öffentlichkeit« in Beziehung, grenzen sie nicht voneinander ab, sondern zeigen, dass es gelingen kann, Trennendes zu überwinden und – auch – mit vermeintlich alten Erfahrungs- und Kulturwerten etwas Neues zu gestalten.

    Unser Dank gilt zuallererst allen Autoren, die nicht nur die Zeit aufgebracht haben, ihre Perspektive beizusteuern, sondern auch die Offenheit – und gelegentlich Geduld –, sich mit unserem Ansatz auseinanderzusetzen.

    Wir danken dem Klartext Verlag, dass er sich darauf – und auf uns – eingelassen hat. Insbesondere danken wir unserer Lektorin Sibylle Brakelmann, Herstellungsleiterin Stefanie Döring und dem Verlagsleiter Dr. Ludger Claßen.

    Marc Jan Eumann

    Frauke Gerlach

    Tabea Rößner

    Martin Stadelmaier

    I. Kommunikationsraum Internet

    Dirk Baecker

    Das unsichtbare Internet

    These 1: Das Internet ist unsichtbar.

    Das Internet greift ähnlich tief in die Struktur und Kultur menschlicher Gesellschaften ein wie zuvor nur die Einführungen der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Mit der Sprache lernten die Menschen lügen, mit der Schrift planen und mit dem Buchdruck kritisieren. Mit dem Internet lernen sie, sich zu vernetzen. So wie die Lüge, die Planung und die Kritik die Gesellschaft jeweils tief greifend verändert haben, so ist auch die Vernetzung nicht nur einfach ein Instrument, mit dessen Hilfe wir möglicherweise leichter erreichen können, was wir uns früher auch schon gewünscht haben, sondern ein Medium, das uns auf neue Ideen kommen lässt, was wir uns wünschen und wie wir es erreichen könnten.

    Kennzeichen eines Mediums ist es, das es nicht nur neutral vermittelt, sondern selbst beeinflusst. Das Internet schreckt, fasziniert, unterläuft, fordert heraus und tritt in den Hintergrund. Über seine Benutzeroberflächen wie Mailbox-Dienste, das World Wide Web, die Onlinetransaktionsverarbeitung, elektronische Handelsplattformen, Onlinebibliotheken, Onlinegames, Onlinewetten, Social Media oder die Onlinemaschinensteuerung eröffnet es Zugänge zu Datenspeichern, Rechnern, Sensoren, Tastaturen, Bildschirmen, Kameras und Netzwerken, die nicht einfach verdoppeln oder auch nur effizienter gestalten, was es offline auch schon gab, sondern einen neuen Überschuss an Möglichkeiten der Kommunikation generieren, die die Gesellschaft überfordern, aber auch auf neue Ideen bringen.

    Als Medium ist das Internet unsichtbar. Wir sehen Computer, Bildschirme, Tastaturen und Softwareoberflächen. Wir ahnen Leitungen, Server und Netzwerkknoten. Wir sehen nicht die Internetprotokolle, Compilersprachen, Programmiercodes, Algorithmen und Betriebssysteme, die nicht nur auf unseren Input warten, um ihren Output zu produzieren, sondern die ihrerseits rechnen, verknüpfen, selektieren, darstellen und verschwinden lassen. Wir sehen die Benutzer an den Terminals ihrer Computer und vor den Displays ihrer Smartphones sitzen. Wir sehen nicht, wenn wir nicht, wie manche Suchmaschine, ihren Clickstream verfolgen, was ihre Aufmerksamkeit fesselt, auf welche Verbindung sie warten und mit welchen Ereignissen sie rechnen. Wir sehen, welche Verknüpfung sie im Moment aktualisieren, aber wir sehen nicht, wovon sie sich im nächsten Moment ansprechen lassen. Als Medium ist das Internet immer nur die nächste, noch nicht wahrgenommene Möglichkeit.

    These 2: Das Internet ist operational geschlossen.

    Jede Eingabe in das Internet wird im Internet zu einer Ausgabe verarbeitet, die nur im Internet abgerufen werden kann. Alles Weitere sind Offline-Effekte, die im Internet nur registriert werden, wenn sie in das Internet eingegeben werden. Als elektronisches Medium ist das Internet zu einer scharfen Reduktion der Möglichkeiten der Welt auf solche Möglichkeiten gezwungen, die sich elektronisch darstellen und vernetzen lassen. Wenn der Strom ausfällt, ist alles nichts.

    Es lohnt sich, auf diese operationale Geschlossenheit im Medium elektronischer Schaltungen hinzuweisen, weil das Internet zugleich wie kein Medium zuvor andere Medien wie den Text, das Bild, die Sprache, den Film und den Ton in sich aufnimmt und so multisensorielle Zugänge zu einer Wirklichkeit anbietet, die sich, das ist nur eine Frage der Zeit, demnächst auch mit taktilen und olfaktorischen Eigenschaften ausstatten wird. Unsere nur zum Teil jahrhundertelang eingeübten medienkritischen Fähigkeiten werden dadurch auf das Äußerste gefordert. Lügen erkennen wir, wenn wir Glück haben, mit einem Blick auf die Mimik und Gestik des Lügners. Planungen korrigieren wir mit einem Hinweis auf unvorhergesehene Ereignisse. Kritik fangen wir auf, indem wir uns argumentativ bewaffnen, eine emotionale Heimat pflegen und uns zur Not moralisch einkapseln. Aber wie wir mit bewegten Bildern, strukturierten (klangvollen) Tönen und deren Kombination mit Text, Sprache und Bild zu einer hochgradig beweglichen Simulation der Wirklichkeit umgehen, ist weitgehend unerforscht.

    Im Moment verlassen wir uns auf den Wechsel der Medien und ihrer Inhalte und auf die (Beobachtung unserer eigenen) Ermüdung, um an den Brüchen, Schnitten und Enden das wiederzuerkennen, was wir eine überprüfbare Wirklichkeit nennen. Wir begeben uns in den Flow, wie man dies an Börsenmaklern an ihren Bloomberg-Terminals eindrucksvoll studiert hat, und steigen wieder aus ihm aus. Und wir nennen beides, den Flow, in den wir einsteigen, und die Praktiken, Techniken und Konventionen, in die wir aus dem Flow wieder aussteigen, unsere Wirklichkeit.

    Die operationale Geschlossenheit der elektronischen Medien geht mit einer großen strukturellen Offenheit einher. Arbeit und Freizeit, Geschäft und Reisen, Unterhaltung und Bildung, Predigt und Aufklärung, Familie und Protest lassen sich im Internet abbilden, durch das Internet modifizieren und durch das Internet beim Versuch stützen, sich dem Internet auch wieder zu entziehen. Man kann sich online zu einem Offlinetreffen verabreden. Diese strukturelle Offenheit für eine Fülle von Themen, die im Internet ihren Auftritt haben, ist ein weiterer Grund für die Unsichtbarkeit des Mediums. Man sieht nur auf den zweiten Blick, was und wie es einschränkt. Aber es ist da und es rechnet mit. Längst haben wir gelernt, mit den Mechanismen zu rechnen, dank derer im Internet gerankt, gefiltert und protokolliert wird. Längst haben wir auch gelernt, der uns entgegenkommenden Personalisierung der Antworten der Suchmaschinen und sozialen Medien auf unsere Anfragen zu misstrauen. Aber all das ändert nichts daran, dass wir noch kein wirkliches Gefühl dafür haben, wie das Internet unsere Wirklichkeit verändert.

    Wir kennen die Wirklichkeit der Face-to-Face-Kommunikation, in der wir die anderen wahrnehmen und wahrnehmen, dass sie uns wahrnehmen, und sind blitzschnell in der Lage, aufgrund kleinster Anzeichen unsere Themen, Tonfälle, Sympathien und Neigungen zu wechseln. Wir haben eine reichhaltige Erfahrung im Umgang mit Büchern, in deren fiktionale Welten wir flüchten, denen wir jedoch auch, im Kontrast, den Begriff einer realen Wirklichkeit verdanken. Und dank Film und Fernsehen schaffen wir es mittlerweile auch, eine Wirklichkeit, auf die wir uns konzentrieren, von einer Wirklichkeit zu unterscheiden, in der wir uns zerstreuen. Das Internet jedoch ist nicht so reichhaltig wie die persönliche Kommunikation, nicht so still wie das Lesen und nicht so packend wie das Betrachten bewegter Bilder. Stattdessen kombiniert es das eine mit dem anderen im Modus der Bestätigung und Enttäuschung unserer einschlägigen Erwartungen. Es schleicht sich an, indem es ohne unser Zutun gar nichts tut, schon beim kleinsten Zutun jedoch unendlich viel.

    Erlebt man in der persönlichen Kommunikation die Undurchschaubarkeit des Gegenübers, beim Lesen die Differenz von Text und Bewusstsein und beim Film die Unwirklichkeit der eigenen Wahrnehmung, so bekommt man es im Internet mit einer ebenso beweglichen wie entscheidungsabhängigen Resonanz zwischen den eigenen Aktionen und den Reaktionen des Netzes zu tun. Ein Großteil der Faszination durch das Netz, die wir durch das Checken von E-Mails, das Chatten im Chatroom, das Surfen auf Videoportalen, das Abonnieren von RSS-Feeds, das Posten in sozialen Medien, das Bloggen, Kommentieren und Bewerten auf allen möglichen Portalen ebenso sehr aufbereiten wie abarbeiten, hat etwas mit dem Ausloten dieses immer wieder verblüffenden Verhältnisses von minimalen Aktionen und maximalen Reaktionen zu tun. Wer sich darüber wundert, dass es sich lohnt, die Nachricht zu posten, dass man gerade auf der Fifth Avenue in New York einen Hotdog verspeist, hat nicht verstanden, dass es hier nicht um eine zeitgemäße Form der Kombination von Banalität und Eitelkeit (in dieser Kombination auch bekannt als Vanitas) geht, sondern um das Zünden jenes kleinen Funkens, der dabei hilft, ein ganzes Netz zu reproduzieren.

    Die Wirklichkeit des Internets ist die überraschende Resonanzfähigkeit eines operational geschlossenen und strukturell offenen Netzes. Man kommt nicht umhin, angesichts der operationalen Geschlossenheit, d. h. der Unempfindlichkeit gegenüber allen Impulsen, die nicht elektronischer Art sind, an der Wirklichkeit dieses Netzes zu zweifeln, und wird dann doch überwältigt von der thematischen Relevanz, ja Unvermeidbarkeit all dessen, was es kommuniziert.

    These 3: Das Internet ist ein Medium der Gesellschaft.

    Das Internet ist ein unsichtbares Medium der Gesellschaft, dem ein operational geschlossenes technisches System zugrunde liegt. Wir konzipieren das Internet demnach nicht etwa als ein soziales System, das mit eigenen Operationen, Grenzen, Codes und Strukturen ausgestattet wäre. Es ist so wenig ein soziales System wie dies die Schrift, der Buchdruck oder andere Verbreitungsmedien der Kommunikation sind. Stattdessen ist die Systemreferenz, mit der ein Soziologe das Internet beobachtet, primär die Referenz der Gesellschaft und sekundär, weil er damit seine Kompetenz überschreitet, die Referenz einzelner psychischer Systeme. Auch der Soziologe muss darauf achten, wie das Internet bewusst und unbewusst wahrgenommen wird, weil jede Kommunikation nur verstanden werden kann, wenn man rekonstruieren kann, wie sie auf psychische Systeme in ihrer Umwelt hochselektiv Bezug nimmt. Aber das bedeutet nicht, dass der Soziologe auch an einer Psychologie des Internets arbeiten könnte, die Korrelationen zwischen Internetereignissen, Gemütszuständen und möglicherweise neurophysiologischen Erregungen testet.

    Das Internet ist kein soziales System. Es ist eine Struktur sozialer Systeme unter anderen Strukturen, mehr oder minder hilfreich oder störend bei den Versuchen dieser Systeme, ihre Ausdifferenzierung und Reproduktion sicherzustellen. Und es ist ein Gegenstand in der Umwelt sozialer Systeme, mehr oder minder attraktiv für das jeweilige soziale System und mehr oder minder beunruhigend in der Art, wie andere soziale Systeme es in die Strukturen ihrer Ausdifferenzierung und Reproduktion einbauen.

    Das Internet ist ein Medium der Gesellschaft in jenem seit Fritz Heider zitierbaren, wenn auch nicht eingebürgerten Sinne des Wortes, demgemäß ein Medium aus einer Menge lose gekoppelter Ereignisse besteht, deren Charakter einschränkt, welche Dinge oder allgemeiner Formen in dieses Medium eingeprägt werden können. So wie Zahlungen, Liebeserklärungen oder Wahrheiten, Texte, Bilder oder Formeln zwar einschränken, welche Akteure gegenüber welchen anderen Akteuren in welchen Situationen mit welchen Absichten auf sie zugreifen, aber offen lassen, wer dies wann in welchen Situationen mit welchen Absichten tatsächlich tut, so ist auch das Internet als ein medialer Überschuss an Möglichkeiten zu verstehen, die zwar keineswegs beliebig sind, allerdings auch nicht determinieren, ob und wie mit ihnen umzugehen ist. Dabei ist durchaus mit Betriebsunfällen zu rechnen, die anschließend zur Tradition werden. So waren Platons sokratische Dialoge, wenn man Eric A. Havelock glauben darf, ursprünglich Werbebroschüren, die die reichen Aristokratensöhne in die (teure) Akademie locken sollten, wo dann mündlich die wahre Lehre erarbeitet wurde. Wir jedoch lesen sie als Platons Texte und streiten über ihre Wahrheit. Und auch die berühmten Humanisten des frühen 16. Jahrhunderts, Erasmus von Rotterdam und andere, waren ursprünglich Autoren, die die Inhalte lieferten, wegen derer es sich lohnte, mit teuren Büchern zu handeln und deswegen riskante Kapitalinvestitionen in Druckmaschinen zu tätigen. Wir aber führen auf Inhalte, die daran orientiert waren, dass jedermann, also möglichst viele Käufer, durch sie angesprochen sein musste (das ist »Humanismus«), die ehrwürdigen Traditionen der Aufklärung, der britischen und französischen Revolutionen und der modernen Gesellschaft zurück.

    Ähnliche Betriebsunfälle produziert auch das Internet. Man denke nur an den arabischen Frühling, der ohne gut ausgebildete, aber arbeitslose junge Männer und Frauen, die in der Lage waren, sich über soziale Medien zu vernetzen, wohl nicht möglich gewesen wäre. Man denke an überraschende Modalitäten der Entwicklung ganzer Betriebssysteme, Programmiersprachen und Softwareprodukte, die im Internet möglich sind und in der Industrie, in der Verwaltung und in der Politik neue Fantasien kollaborativer Stile der Arbeit, der Koordination und der Entscheidungsfindung wecken. Und man denke an Patienten mit schwierigen Krankheiten, die durch Internetrecherchen scheinbar bestens informiert bei ihren Ärzten auftauchen und deren Diagnosen und Therapien unter einen bisher ungekannten Rechtfertigungsdruck setzen. Und so weiter und so fort.

    Ähnlich wie zuvor nur die Schrift und der Buchdruck produziert auch das Internet, beruhend auf den instantanen Verknüpfungen der Elektrizität und den Rechenfähigkeiten der Computer, ungeahnte funktionale Turbulenzen in bisherigen Kommunikationsgewohnheiten. Die Turbulenzen der Schrift konnten nur aufgefangen werden, indem sich die tribale Gesellschaft zur antiken Gesellschaft weiterentwickelte, also soziale Schichtung, kosmologische Weltbilder und hierarchische Herrschaftsformen einführte. Die Turbulenzen des Buchdrucks konnten nur aufgefangen werden, indem sich die mittelalterliche Gesellschaft zur modernen Gesellschaft weiterentwickelte, also funktionale Differenzierung zwischen Politik, Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst und Religion, den Glauben an die Vernunft und vielfältige Formen der Organisation einführte.

    Die Turbulenzen des Internets werden vermutlich ähnlich weitreichende Folgen haben. Schon jetzt löst sich die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in Netzwerke auf, die sich nach anderen Mustern profilieren und kontrollieren als denen der alten Funktionssysteme. Schon jetzt organisiert nicht mehr der Glaube an die Vernunft, sondern die wachsame Beobachtung der Evolution ein Weltbild, das mehr auf Serendipität setzt als auf die Geschichte, den Fortschritt oder den drohenden Untergang. Und schon jetzt organisieren sich Produktion, Distribution und Konsum zwar immer noch in machtvollen Hierarchien, wo Massenproduktion noch möglich und umfangreiche Kapitalinvestitionen noch nötig sind, zugleich jedoch in kleineren und beweglicheren Einheiten, die zur Freude und zum Leid aller Beteiligten ebenso lokal verwurzelt wie regional orientiert und global verschiebbar sind.

    Das Stichwort der funktionalen Turbulenz mag dabei helfen, die Beobachtungen zu schärfen, die in der Umbruchphase von der modernen zu einer nächsten Gesellschaft erforderlich sind. Das Stichwort weist darauf hin, dass nichts passiert, was nicht funktional eingebettet ist in die Erfordernisse der Ausdifferenzierung und Reproduktion sozialer Systeme. Man muss nur herausfinden, welche Funktion jeweils erfunden, bedient und verteidigt wird. Und es weist darauf hin, dass niemand vorhersehen kann, welche Rückkopplungen die Reaktion eines Systems freisetzt, das seinerseits eine Adresse für die Orientierung vieler anderer Systeme sein kann. Denn das heißt Turbulenz: Ein System beunruhigt seine Umwelt, indem es Antworten auf die Beunruhigung findet oder auch nicht findet, die es aus seiner Umwelt erfährt.

    Das ist die Wirklichkeit des Internets. Es ist das Medium einer Beunruhigung wie auch einer Zähmung dieser Beunruhigung in einer Gesellschaft, die sich im Modus der Moderne, geschweige denn der Antike oder der Stammesgesellschaft nicht mehr versteht, obwohl Referenzen auf die Vernunft, den Kosmos und die Gemeinschaft nach wie vor mitschwingen. Stattdessen versteht sie sich im Modus überraschender Verknüpfungen innerhalb durch und durch unzuverlässiger Netzwerke.

    Jürgen Bremer

    Das Ur-Internet

    Streng genommen gibt es eine Art Internet schon lange, geschätzt etwa 14 Milliarden Jahre, seit Beginn des Universums. Zu diesem Zeitpunkt war das Weltall punktförmig zusammengepresst. Alle Information, alles Wissen über Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft war in diesem Punkt komprimiert wie auf einer winzigen Festplatte. Seitdem breitet sich das Universum explosionsartig aus und mit ihm alle Information über diese Welt – bis in den letzten Zipfel des Raums, über das Licht abrufbar wie in einer Cloud, wie in einem ideal vernetzten Internet. Wir alle sind mit diesem Ur-Internet verbunden, ständig online und könnten unendlich schlau sein, wenn wir nur all diese von der Natur im Ordner Universum hinterlegten News richtig zu lesen verstünden.

    Das geht leider nicht so einfach. Auch im Ur-Kommunikationsraum Universum haben wir es mit Irrungen und Wirrungen, Täuschungen und Falschmeldungen, Information und Desinformation zu tun. So erlaubt sich die Natur den Scherz, wichtige Files unter riesigen Informationsclustern zu verstecken. Sie täuscht uns mit Simulationen, auf die wir gerne hereinfallen. Unsere Sinne werden jeden Tag über das belogen, was wir im Universum zu erkennen glauben: Die Erde ist keine Scheibe, die Sonne kreist nicht um die Erde, Raum und Zeit sind keine festen Größen, sondern abhängig von der Geschwindigkeit. Relativ sind nicht nur Raum und Zeit, sondern auch Sachverhalte, von denen wir angenommen haben, sie seien definitiv. Die Quantenphysik lehrt uns, dass wir so viele Informationen sammeln können, wie wir wollen: Es bleibt dennoch immer eine Ungenauigkeit, eine Unschärfe, sodass wir entweder den Ort oder Geschwindigkeit und Richtung eines Teilchens genau bestimmen können, niemals beides zugleich. Die Natur betrügt uns. Sie programmiert unser Gehirn so, dass es Täuschungen akzeptiert. Alle Informationen, die uns unsere Sinne übermitteln, müssen wir also mit einer gesunden Portion Skepsis betrachten. Es ist wie im Internet.

    These 1: Das Internet ist keine neue Kommunikationsform – aber ein Raum, der mehr bietet als die Summe einzelner Möglichkeiten.

    Was bringt uns der Ausflug in das Reich der Physik? Er zeigt, dass nicht nur Raum und Zeit, sondern auch Wahrheit und Lüge, Information und Desinformation eine engere Verbindung haben, als wir es uns wünschen würden. Vieles von dem, was im Internet herumschwirrt, hält nicht, was es auf den ersten Blick verspricht. Sender und Empfänger verbinden mit einer Information nicht unbedingt dieselben Erkenntnisse. Aber Information ist der Beginn von allem. Selbst die winzigsten Teile in der Quantenwelt müssen wissen, wie sie sich in einer bestimmten Situation verhalten müssen, welchem Naturgesetz sie Vorrang vor dem anderen einräumen müssen. Dazu ist es unerlässlich, dass sie ihr Umfeld erkennen, wissen, was ihr Nachbar-Quant gerade unternimmt, damit sie die Signale, die sie empfangen, richtig deuten können. Der Zen-Buddhist sagt: Teile dein Wissen, so erlangst du Unsterblichkeit.

    Die richtige Interpretation von Informationen setzt den Empfang von Nachrichten voraus. Zum Empfang und zum Teilen von Information und Wissen sind alle Lebewesen mit Sinnesorganen ausgestattet. Der Mensch hat es verstanden, diese natürlichen Empfangseinrichtungen über neue, selbst geschaffene Informationsmethoden zu versorgen. So wurden im Verlauf der Menschheitsgeschichte viele neue Formen der Informationsvermittlung erfunden. Wir haben gelernt, miteinander zu sprechen, uns mit Gebärden zu verständigen, schon in der Steinzeit die Höhlen zu bemalen, Rauchzeichen zu senden; es wurde die Schrift erfunden, um auf Stein, Papyrus und Papier zu schreiben, Bücher und Zeitungen zu drucken, fotografieren, morsen, telefonieren, filmen, Radio- und Fernsehprogramme auszustrahlen. Die Kommunikation wurde auf viele Schienen verlegt, die sich gar nicht oder nur gelegentlich kreuzten.

    Allen diesen Kommunikationstechniken fügt das Internet nichts Neues hinzu. Auch im Netz wird nur mit Bildern, Texten und Tönen gearbeitet. Aber es hat den alten Kulturtechniken neuen Schwung verliehen, manches modernisiert und sie vor allem auf einer einzigen Plattform zusammengeführt. Zum ersten Mal ist es damit den Usern möglich, alle Facetten der Kommunikation aktiv zu nutzen, ohne einen gewaltigen Apparat zur Verfügung zu haben. Computer, Bildschirm und Datenleitung reichen aus. Gab es vor dem Internet viele Einbahnstraßen – Radio oder Fernsehen, Zeitungen und Bücher –, so schicken wir unsere Daten jetzt über vielspurige Kommunikationsautobahnen, die Daten schwirren hin und her, vom Sender zum Empfänger und von dort aus wieder zurück. Es sind Highways, die auch in die entferntesten Winkel der Welt führen, in Täler der Ahnungslosigkeit, in denen die Menschen vor dem Zeitalter des Internets kaum eine Chance auf Teilhabe an Wissen und Information hatten, vor allem aber auch keine Chance auf eine aktive Teilhabe am weltweiten Kommunikationsprozess. Das ist jetzt der entscheidende Faktor Internet.

    In der Kommunikations-Einbahnstraßen-Welt wird eine Nachricht über Zeitung, Radio und Fernseher verbreitet. Leser, Hörer und Zuschauer konnten die News empfangen und damit war Ende der Durchsage. Gewiss konnte jeder Rezipient einen Brief an die Redaktion schreiben. Ob er veröffentlicht wurde, lag nicht in seiner Macht. Die weitere Diskussion beschränkte sich in der Regel auf das private Umfeld. Diese Publikationsschranke ist abgebaut und verschrottet, sie zählt zum Zeitalter des Vor-Internets, der analogen Zeit – wie jede Redaktion bestätigen kann. Jeder Bericht, jede Sendung wird heute lebhaft kommentiert, mit Lob und Tadel auf der Homepage der Redaktion versehen oder auf Fanseiten kritisiert, bei Facebook oder YouTube begleitet. Wer das ignoriert, riskiert einen öffentlichen Shitstorm, der schon manchen zum Rückzug gezwungen hat. So startete die Umweltschutzorganisation Greenpeace 2010 eine Kampagne gegen den Schokoriegel KitKat. Der Vorwurf: Durch die Nutzung von Palmöl werde der Regenwald und damit der Lebensraum der Orang-Utans zerstört. Das Schockvideo der Umweltschützer verbreitete sich explosionsartig. Hersteller Nestlé ließ den Clip und die vielen Kommentare aus dem Netz löschen. Die Reaktionen darauf waren noch heftiger. Das Publikum ist plötzlich nicht nur Couch-Potato, passiver Rezipient, sondern – wenn er es will – auch Darsteller, Produzent und Sender.

    Gab es früher Gatekeeper, nicht nur bei der Information, sondern auch in der Kunst, Verlage, die Musikalben produzierten und promoteten, ohne die ein Künstler kaum eine Chance auf Erfolg hatte, so bringt das Internet deren Monopolstellungen ins Wanken. Im Internetzeitalter gehen Künstler mit ihren Werken zu YouTube und lassen die unüberschaubare Zahl von Nutzern entscheiden. Und immer wieder werden so Stars aus der Masse emporgespült – wie etwa Justin Bieber, dessen Songs dort schon mehr als drei Milliarden Mal angeklickt worden sind. Nicht jeder wird auf dem Internetweg ein Star, aber jeder hat die Chance dazu – ohne auf einen Musikproduzenten angewiesen zu sein. Jeder kann zeigen, was er kann. Und er kann dazu alle Kommunikationsformen via Film, Foto, Text und Ton auf den Bildschirm bringen. Theoretisch sind Milliarden von Nutzern mit ein paar Mausklicks in Sekundenschnelle erreichbar. Die hohe Kunst ist es nur, damit im Internet Aufmerksamkeit zu erregen.

    Die Plattform Internet hat die Kommunikation revolutioniert. Sie bringt alte Monopole ins Wanken, schafft neue Akteure, die wiederum Kommunikationsformen bündeln wie die Suchmaschine und News-Aggregator Google, wie Facebook, YouTube oder Twitter. Das Vernetzen verschiedener Kommunikationsarten und -zwecke ist der Mehrwert über die Summe der einzelnen Kommunikationsformen hinaus. In der Addition formen die Nutzer mit der Masse ihrer Beiträge im Internet eine Art Schwarmintelligenz. Es kommt dabei nicht darauf an, ob der einzelne Beitrag richtig und wahr, falsch und dümmlich, intelligent, nützlich oder banal ist. Die Summer ergibt neue Qualität, neues Wissen, neue Information. Es ist wie in der ganzen digitalen Welt, die mit zwei banalen Ziffern auskommt, mit der Null und der Eins. Es sind die Summe und die Zusammenstellung, die das komplexe Ganze darstellen, mit denen anscheinend die Welt in ihrer großen Vielfalt dargestellt und wiedergegeben werden kann – die Null und die Eins sind gemeinsam bedeutend mehr als ihre Summe, wie das Internet.

    These 2: Information und Desinformation – im Internet noch inniger verbunden

    Wissen und Information sind das Gold des Internets. Sie sind online in einem Umfang verfügbar, wie es früher kaum vorstellbar war. Taucht eine Frage auf, haben wir – zack – in wenigen Sekunden Antworten, Tausende von Google-Treffern. Das ist eine Errungenschaft, auf die kaum jemand verzichten mag. Das Internet zählt zur Grundversorgung wie der Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, einer sauberen, gesunden Umwelt, Strom und Wasser.

    Lug und Trug sind das Gift des Internets. Das Netz ist eine nahezu unerschöpfliche Wissensquelle, die zwar so gut wie jede Frage beantwortet. Aber wissen wir, welche der Tausenden von Antworten richtig oder falsch sind? Nur weil Informationen über das Netz verbreitet werden, sind sie im Detail nicht schlechter oder besser als in der analogen Welt. Es gilt, richtig von falsch, Wahrheit von Täuschung zu unterscheiden. An diesem Punkt schlägt die Masse um in Qualität, und das im Guten wie im Schlechten.

    Im Netz wimmelt es von Fälschern, Demagogen, Rosstäuschern, Betrügern, Falschspielern. Es gibt jede Art von Täuschung mit jeder Art von Absicht. Es gibt die politischen Betrüger, die Wähler auf die Leimrute führen, die Betrüger, die einfach nur ans Geld anderer Leute kommen wollen. Und angesichts der vielfältigen Möglichkeiten der Verschleierung von Spuren ist es schwierig, sie zu enttarnen. Nehmen wir einmal die Bewertungen in Kundenportalen, etwa zu Hotels. Wer weiß schon, wer hinter den Lobpreisungen einer Herberge steckt. Sind es die Eigentümer selbst, die sich mit Scheinanmeldungen mehrere E-Mail-Accounts verschafft haben und ihre Klitsche über den grünen Klee loben? Sind es professionelle Agenturen, die sich darauf spezialisiert haben, Angebote hochzuloben? Alles ist machbar und das, was machbar ist, wird in der Regel auch realisiert. Gerade Serviceseiten im Internet sind besonders anfällig für Betrug und Manipulation.

    Da im Internet alles zu finden ist, gibt es auch von allem etwas. Für jede Behauptung gibt es im Netz zehn Gegenbehauptungen. Vieles mit dem Anschein von Seriosität, vieles kommt der Wahrheit zumindest nahe. Aber leider befördert gerade die Technik des Internets das Phänomen, dass man das findet, was man finden möchte, und nicht unbedingt das, was man finden sollte. Sascha Lobo spricht im Spiegel von der Query-Realität, der durch Suchanfragen geschaffenen virtuellen Realität. Die großartige Wissensmaschine Internet sei dadurch in Gefahr, zu einer Besserwissermaschine der gefühlten Experten zu werden. Damit kommt Lobo in die Nähe der radikalen Konstruktivisten, für die jede Wahrnehmung ein Stück Realität ist, weil Objektivität im Sinne einer Übereinstimmung von wahrgenommenem (konstruiertem) Bild und Realität unmöglich ist.

    Sicher ist, dass auch Lobos Theorie im Netz viele Befürworter finden wird – wie Gegner. Der Anscheinsbeweis aber spricht für ihn. Wer sich mit Verschwörungstheorien beschäftigt, wird im Netz die schönsten Bestätigungen für alle möglichen Befürchtungen finden, die mit zahllosen angeblichen Beweisen untermauert werden (sollen). Etwa: Die Mondlandung wurde von der NASA nur vorgetäuscht; HIV wurde in CIA-Labors entwickelt, um in den USA ethnische Gruppen wie Afroamerikaner oder Minderheiten wie Homosexuelle auszurotten; es gibt eine jüdische Geheimorganisation, die die Weltherrschaft anstrebt; Martin Luther King wurde in Zusammenarbeit von Mafia und FBI-Chef J. Edgar Hoover ermordet – der verurteilte Täter James Earl Ray war nur ein Köder für die Polizei, die örtlichen Behörden und die Öffentlichkeit; der amerikanische Präsident John F. Kennedy wurde von der Mafia oder der CIA oder Regierungsmitgliedern ermordet – Genaueres weiß nur der Filmregisseur Oliver Stone (J. F. K.); Papst Johannes Paul I. wurde 1978 von der vatikaneigenen Mafia (Kardinal Marcinkus) und angeschlossenen Kräften um die Bank zum Heiligen Geist vergiftet; in einem Hangar auf der amerikanischen Air-Force-Base Wright-Patterson lebt ein Außerirdischer; die Russen haben an einem geheimen Stützpunkt in Sibirien Kinder in außersinnlicher Wahrnehmung ausgebildet – die Kinder können allein mit ihren Gedanken Menschen an jedem beliebigen Ort auf der Welt töten.

    Man kann darüber lächeln, aber das Konstrukt Internet mit Bild, Ton und Text führt viele auf die falsche Fährte. Und nicht alles, was dargeboten wird, ist offensichtlicher Unsinn. Es ist die Verschmelzung aller Informationsmöglichkeiten, die unsere Sinne und unseren Geist noch schneller verwirren und verführen als in der analogen Welt.

    Desinformation und Denunziation sind auch Begleiter sozialer Netzwerke. Es ist eine deprimierende Erscheinung, dass Jugendliche sich über Facebook lächerlich machen, dass Facebook-Partys zu Albträumen ausarten. Die Netzwerke sind aber gleichzeitig eine nicht mehr wegzudenkende Realität im Kommunikationsraum Internet. Ohne sie wäre der politische Wandel in der arabischen Welt vielleicht in Gang gekommen. Aber mit Sicherheit nicht so schnell und so umfassend. Die Blogger waren ein entscheidender Faktor bei der Information der Bevölkerung und der Organisation des Widerstands. Facebook und Twitter waren die Panzer und Gewehre der Opposition. Handyfilme und das Internet bildeten die Gegenöffentlichkeit zur offiziellen staatlichen Propaganda. Der Kommunikationsraum Internet stößt so mit den sozialen Medien in eine neue Dimension der Kommunikation, ermöglicht Information, Interaktion und Massenorganisation. In autoritären Staaten schafft er neue virtuelle Räume für den demokratischen Diskurs.

    Es wäre verkürzt, würden wir in Sachen Internet und Demokratie nur auf die autokratischen Staaten blicken. Auch in den westlichen Demokratien gibt das Internet die Struktur für neue Formen der Aktionen und Vernetzung. Oft verzahnt sich dabei der virtuelle mit dem realen Raum wie etwa beim G8-Gipfel in Schottland 2005, wo sich der Protest koordiniert sowohl auf den Straßen wie im Netz abspielte (nadir.org

    ), oder wie bei der Onlinedemonstration gegen Rechtsradikalismus auf www.idemokratie.de

    (eingestellt 2007). Die Seite www.abgeordnetenwatch.de

    ist wieder eine andere Form der Netzkommunikation. Ein Beteiligungs- und Beobachtungsprojekt, das eine Renaissance bürgerschaftlichen Interesses an demokratischen Einrichtungen erkennen lässt.

    These 3: Die wichtigste Währung im Kommunikationsraum Internet ist Glaubwürdigkeit.

    Das Netz ist im Kleinen wie das Universum im Großen: eine Wissensmaschine von unglaublichem Ausmaß. Es strotzt vor Informationen und Wissen, das sofort zur Verfügung steht. Wir wissen nur nicht, worauf wir vertrauen können. Wir wissen um die Relativität, Subjektivität und die Möglichkeit der Desinformation. Die schiere Masse der Informationen macht es noch problematischer, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wir wissen, dass sich Google-Spitzentreffer erkaufen lassen, dass die ersten Google-Treffer also nicht die wichtigsten Antworten auf unsere Suche beinhalten müssen. Selbst Internet-Newbies sind mit dieser Erkenntnis versorgt.

    Wer mag heute noch Daten von Seiten herunterladen, die er nicht kennt, nachdem er solche Aktionen mit hartnäckigen Viren bezahlt hat? Wer mag sich kostenlose Apps herunterladen, von denen er nicht wissen kann, was diese unbemerkt an Informationen weiterleiten? Wer mag von Amazon E-Books kaufen, wenn er weiß, dass jede Aktion im und am E-Book sorgsam registriert und für Werbung aufbereitet wird?

    Die Freiheit des Internets hat Großartiges hervorgebracht, aber auch deprimierende Niederträchtigkeit gefördert, bei banalen Alltagsgeschäften ebenso wie bei demokratischen Prozessen. Das Problem ist: Wem können wir vertrauen? Vertrauen und Glaubwürdigkeit werden künftig das Kapital sein, das im Internet zählt.

    Caja Thimm

    Digitale Lebenswelten

    Zur Mediatisierung sozialer Beziehungen

    Das Internet ist Lebensraum

    Wie nur wenige globale Veränderungen hat das Internet individuelle, soziale und politische Kommunikations- und Handlungsformen verändert. Sichtbar wird diese neue Rolle von Medien in vielfältigen Kontexten. Sei es der Einfluss von Facebook oder Twitter im politischen Umbruch der arabischen Staaten im Jahr 2011, in denen das Internet Funktionen der Vernetzung und Echtzeitkommunikation entfaltet hat,1

    das Computerspiel, das Strukturen von Unterhaltung revolutioniert2

    oder WikiLeaks, das ganze Staaten unter Druck gesetzt hat.3

    Es ist die Gesamtsicht auf die Vielfältigkeit, die das revolutionäre Moment am besten beschreibt. Diese vielfältigen medialen Nutzungskontexte bestimmen das Selbstverständnis einer ganzen Generation, die das Internet als gleichwertigen Lebensraum konstituiert hat und sich dort genauso selbstverständlich als Person fühlt und agiert wie im nicht digitalen Umfeld.

    Diese Entwicklung lässt sich über verschiedene Stadien zurückverfolgen. Waren zu Beginn des neuen Jahrtausends noch textgebundene Medien im Rahmen des eher restriktiven statischen Netzes Basis des digitalen sozialen Austauschs Thema,4

    so lässt sich der Wandel des Internets zum dynamisch-partizipativen Medium, dem als Web 2.0 benannten Netzwerk aus »user-generated content«,5

    als ein wichtiger Durchbruch in Richtung einer Ermächtigung der Nutzer ansehen. Während anfänglich vor allem informationsrelevante Motive für die Nutzung des Internets vorherrschend waren, so lassen sich die Interessen der heutigen Netzbevölkerung nicht mehr eindimensional festmachen. Das digitale Netzwerk im Zeitalter von Social Media entsteht maßgeblich aus sozial und kommunikativ bedingten Nutzungsmotiven. Im Mittelpunkt stehen dabei interpersonale Kontakte und die aus diesen Kontakten resultierenden Netzwerke, die sich ihrerseits als digitale Gemeinschaften beschreiben lassen.

    Die These, dass sich diese Netzwerke zu einer neuen Form der Wissenskonstitution in Form einer »Schwarmintelligenz« und Ad-hoc-Wissensgemeinde zusammenfinden, bildet dabei einen der viel diskutierten Folgeprozesse dieser Entwicklungen.6

    Ein anschauliches Beispiel für die Macht solcher Ad-hoc-Gruppen ist das 2011 entstandene GuttenPlag Wiki, auf dem die akribische Suche nach den plagiierten Textstellen in der Dissertation des ehemaligen Verteidigungsministers von Guttenberg organisiert wurde (de.guttenplag.wikia.com/wiki/Plagiate

    ).

    Die Rolle des Internetnutzers vom passiven Rezipienten hin zum aktiven Produzenten verändert Inhalte und Nutzungsformen. Eines der Konzepte, das diese strukturellen Veränderungen aus der Nutzersicht zu erklären versucht, ist das von Bruns (2008) etablierte Konzept des Produsage. Im Web 2.0 werden Inhalte ständig neu verhandelt, Produktion und Nutzung bilden einen gemeinsamen Prozess, in dem sich Inhalte durch Interaktivität, Dezentralität und Dynamik ständig verändern. Dabei sind die Nutzer nie nur eindimensional zu betrachten – Nutzung ist automatisch mit Produktion verbunden.

    Diese Veränderungen werden fast überall im alltäglichen Leben spürbar. Der Alltag eines großen Teils der Weltbevölkerung wird von einem fast allzeit und allerorts verfügbaren, kaum zu kontrollierenden Medienangebot in einer Art und Weise bestimmt, die in der Geschichte medialer Entwicklungsprozesse einzigartig ist. Charakteristisch für diese Entwicklung ist die Ubiquität der Medien: Gleichzeitigkeit, räumliche Allgegenwärtigkeit, Dislokalität und Multimedialität. Digitale Mediennutzung ist kein exklusives Ereignis mehr, sondern alltägliches Handeln. Der Jugendliche chattet mit dem Freund im ICQ, während er gleichzeitig am Telefon mit dem Freund telefoniert, die Hausaufgaben per E-Learning erledigt und ein Musikstück downloadet. Singles aller Altersgruppen lernen neue Freunde oder sogar Lebenspartner im Single Usenet kennen, Trauernde können auf einem »virtuellen Friedhof« ihren Verstorbenen ein Denkmal setzen und bei einem Onlinepfarrer über ihre Sorgen »sprechen«, man mailt oder twittert Fotos durch die Welt und managt als Remote-Manager ein virtuelles Team, das über den Globus verstreut ist: Diese Momentaufnahmen charakterisieren aktuelle, reale Medienentwicklungen, die bereits heute zum Medienalltag von Millionen von Menschen gehören.

    Netz der Ungleichheit

    Neben den geschilderten Errungenschaften des Netzes, die unzweifelhaft zu einer spürbaren gesellschaftlichen Dynamik beitragen, muss jedoch auch auf die Grenzen und Limitierungen des Netzes verwiesen werden. Zentral ist dabei auch noch im Jahr 2013 die Frage der Zugänge. Der aktuelle (N)ONLINER-Atlas (new.initiatived21.de/portfolio/nonliner-atlas

    ) zeigt, dass sich rund Zweidrittel (75,6 Prozent) der Deutschen über 14 Jahre derzeit im Internet bewegen und das Netz so in vielerlei Hinsicht zu einem Massenphänomen geworden ist. Auch in Deutschland verfügt jedoch nicht jede Person über Zugang zum Netz. Die Gründe sind vielschichtig –so geht es um den technischen Zugang, also die Frage der technischen Ausstattung und der finanziellen Möglichkeiten, aber auch der Wohnort spielt eine Rolle, denn längst nicht alle Orte in Deutschland verfügen über die erforderlichen Zugänge. Auch in Bezug auf die Präsenz spezifischer sozialer Gruppen zeigt sich ein deutliches Ungleichgewicht. Besonders bei älteren Frauen, aber auch bei Migranten sind die Nutzerzahlen noch deutlich geringer (new.initiatived21.de/portfolio/nonliner-atlas

    ). Neben dem Bildungsstand erweist sich besonders ein höheres Lebensalter als wichtige Kategorie zur Differenzierung zwischen Onlinern und Offlinern.7

    Auch bei Berücksichtigung weiterer Faktoren wie Einkommen, Bildung, Geschlecht und Herkunftsland bleibt das Alter ein herausragender Einflussfaktor. Besonders ausgeprägt sind die Unterschiede in Bezug auf die Kombination der Variablen Alter und Migrationshintergrund: Nur 3,8 Prozent der Frauen über 60 Jahren mit Migrationshintergrund haben Zugang zum Netz.

    Ein elementares Problem der globalen Vernetzung ist also ihr ausgrenzender Charakter. Gemeint ist eine »digitale Spaltung« aufgrund von sozialem Status, Bildung, Alter und Chancengleichheit. Als digitale Kluft (digital gap) oder digitale Spaltung (digital divide) bezeichnet man entsprechend die Spaltung zwischen Menschen, die das Internet nutzen, und denen, die es nicht nutzen. Die theoretischen Wurzeln dieses Konzepts liegen in den frühen Arbeiten zur Hypothese zu Knowledge Gap (Wissenskluft).8

    Ausgegangen wird dabei von einer Ungleichheit des Wissens, die durch Zugangshindernisse zu Medien erzeugt wird. Die Prämisse der Notwendigkeit von Medien für den Informationsstand des Einzelnen führt, so die These, zu einer sich vergrößernden Wissenskluft. Dies wird weltweit als Problem betrachtet, denn nur das Internet bietet Zugang zu den Ressourcen der Informationsgesellschaft.

    Die skizzierten isolierenden und segregierenden Effekte der Distribution neuer Medien werden unter der Perspektive von Zugang und Aneignung besonders unter Berücksichtigung des Ungleichheitsverhältnisses zwischen den Industrienationen und den Schwellen- und Entwicklungsländern, aber auch unter Medienkompetenzkriterien für die entwickelten Nationen thematisiert.9

    Wenn Wissen Macht bedeutet, dann ist der Zugang zu den neuen Wissensmedien von zentraler Bedeutung für die Entwicklung des Einzelnen und der Gesellschaft. Dabei zeigen verschiedene Studien, dass neue Technologien zunächst Ungleichgewichte zwischen verschiedenen Gesellschaften und gesellschaftlichen Gruppen erzeugen, die einerseits durch ökonomische und infrastrukturelle Gegebenheiten bedingt sind, andererseits aber auch durch soziokulturelle Faktoren beeinflusst werden. Dies gilt insbesondere in traditionellen und patriarchalen Gesellschaften.10

    In diesem Zusammenhang wird Technologie zur Verstärkung existierender Ungleichheiten und Kontroll- und Machtstrukturen genutzt. Andererseits zeigt sich ebenfalls, dass neue Technologien als Faktor zur Verbesserung von Lebensumständen dienen können; erste Studien belegen dies vor allem für kulturelle Minderheiten.11

    Neben technologischen Zugangsbarrieren existieren soziale und intellektuelle Divergenzen, die den Umgang mit PC, Handy und Internet erschweren können. Somit kann von einer mehrdimensionalen digitalen Teilung gesprochen werden, deren Entwicklung in verschiedenartigen Gesellschaftsgruppen nicht völlig linear verläuft.

    Dabei beschränkt sich die Debatte um die digitale Spaltung nicht auf technisch bedingte Unterschiede bezüglich des Zugangs zu neuen Medien (first level divide), sondern berücksichtigt auch individuell verschiedene Nutzungsformen, die für die Anwender zu unterschiedlich großen Gewinnen führen und als Second Level Divide bezeichnet werden. Aus dieser Perspektive wird nicht nur der Zugang als solcher, sondern auch das Kompetenzniveau bezüglich digitaler Medien zu einer neuen Kategorie für soziale Stratifikation.12

    Die »soziale« Nutzung des Informationssystems bedeutet Teilhabe an Informationen und die Schaffung von gemeinsam geteilten Räumen zur Kommunikation und Gemeinschaftsbildung und hat positiven Einfluss auf die Formierung und Aufrechterhaltung von Gemeinschaft. Durch das Internet, und dabei zunehmend auch das mobile Internet bzw. Mobiltelefon, können vielfältige Gemeinschaftsaufgaben kommuniziert werden, so der interpersonale Informationsaustausch, die Schaffung einer eigenen Erinnerungskultur und die Realisierung kollektiver politischer und sozialer Anliegen. Onlinemedien erzeugen eine eigene Geografie des digitalen Sozialraums, der neue Formen des interpersonalen Austausches bedingt

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