You are on page 1of 76

Christian Morgenstern

Man muss aus einem Licht


fort in das andre gehen

Ein Spruchbuch

R. Piper & Co. Verlag


München
Herausgegeben von

Margareta Morgenstern
... Freund, so du etwas bist,
so bleib doch ja nicht stehen.
Man muss aus einem Licht
fort in das andre gehen.

Angelus Silesius

Wisset, ein erhabener Sinn


legt das Grosse in das Leben,
und er s u c h t es nicht darin.

Schiller

) 6 (
----------------------
Selbsterkenntnis, goldne Gabe,
wunderbare, jüngende Kraft!
Oh, solang ich dich nur habe,
glüht mein Geist noch unerschlafft.

Immer tiefer, immer wahrer


machst du den, der dich besitzt,
wirkst zugleich, dass immer klarer
Welterkenntnis ihn durchblitzt.

) 7 (
----------------------
Sieh, das ist Lebenskunst:
Vom schweren Wahn
des Lebens
sich befrein,
fein hinzulächeln
übers grosse Muss.

Niemanden hassen,
jeden belassen
in seinem Wesen,
in jedem lesen
die ewige Meinung,
das macht genesen
zum Allumfassen,
zur Allvereinung.

) 8 (
----------------------
EINEM JUNGEN MÄDCHEN

Behaupte dich,
sonst gedeihst du nimmer.
Es gilt: Ich gegen Ich
überall und immer.
Nur die kräftigen
schauen die Höhn;
was weinst du denn --
Ist das nicht schön?

) 9 (
----------------------
EIN JUNGER FREUND

Alles ist in ihm noch Seele,


fand noch nicht den Geistgebieter;
leichtbeschwingte Philomele,
bald verweilt er, bald entflieht er.

Und so flattert er mit vielen,


und geduldig blüht der Garten,
doch sein Treiben ist ein spielen
und die Götter warten ... warten ...

) 1o (
----------------------
Glaube nicht, du kannst mit dir betrügen.
Du wirst genügen oder nicht genügen,
je nach dem Grund, aus dem du aufgestiegen.

Ich lobe mir den Freund, der wachsen macht;


vor trockenen Seelen nimm dich, Herz, in acht.

) 11 (
----------------------
Das ist die ewige Jugend aller Welt,
dass sie mit jedem neu geboren wird.

>>Woran sollen wir uns erziehen?<<


An grossen Biographien.
Plutarch unters Kopfkissen!
wie wir´s von Napoleon wissen.

) 12 (
----------------------
Er konnt´ nie über etwas lachen.
Wie kann ein Mensch so tief verflachen!

Wer sich nicht selbst verspotten kann,


der ist fürwahr kein ernster Mann.

) 13 (
----------------------
Wenn du die Welt an jedem Tag nicht neu
erobern willst,
verlierst du sie von Tag zu Tag mehr.

Der, dessen ganzer Zug


zum Interessanten nur,
er liebt mir nicht genug
die Fülle der Natur.

) 14 (
----------------------
Alles ist von Wichtigkeit,
alles ist nicht gar so wichtig.
Nur die rechte Sichtigkeit
und du wandelst richtig.

Der Kunst Geheimnis hälst du bald am Kragen:


Hab was zu sagen und du wirst es sagen.

) 15 (
----------------------
WORTE

Worte sind wie Rettungsringe,


die dem Leben dienen;
auf den tiefen Grund der Dinge
kommst du schwer mit ihnen.

EWIGES EINERLEI

Was längst beantwortet ist


oder längst zu beantworten wäre,
das wird noch immer gefragt,
das frisst noch immer Gehirn.

) 16 (
----------------------
Man muss Künstler sein,
will man Lehrer sein,
man muss schaffen wollen
in Fleisch und Bein.

TALENT -- GENIE

Talent: ein Gast am Tisch der Zeit.


Genie: hält selber Haus.
Den bücklingt Ihre Herrlichkeit,
der sie zur Tür hinaus.

) 17 (
----------------------
NIETZSCHE

Mag die Torheit durch dich fallen,


mir, mir warst du Brot und Wein,
und was mir, das wirst du allen
meinesgleichen sein.

NIETZSCHE

Wen er nicht einmal zu Tode beschämt


wen er nicht einmal zu Tode gelähmt,
hat nie auch nur im Traum geahnt,
was für ein Geist da fragt und mahnt.

) 18 (
----------------------
Ihr karrt in ewig gleicher Spur
und narrt euch vor, dies sei Kultur.

Armselige Kultur, die nur sich selbst bespiegelt,


und keiner ferne Tore dir entriegelt.

) 19 (
----------------------
JOURNALISMUS

Jungvolk der Pythargoräer


hielt fünf Jahre sich im Schweigen.
Heute will jede/r junge Krähe/r
alsogleich sein Stimmlein zeigen.

PÖBLESSE OBLIGÉE

>>Gutes lasst uns stets beschweigen,


denn es dünkt uns selbstverständlich;
Schlechtem aber stets bezeigen,
wie wir ihm so tief erkenntlich!<<

) 2o (
----------------------
So klein der Winkel,
So gross der Dünkel.

Möge das als niedrig gelten:


Was man nicht vermag, zu schelten.

Dass er so wenig weiss und kann:


Das ist es, was den Edlen schmerzt,
indes der eitle Dutzendmann
zu jedem Urteil sich beherzt.

) 21 (
----------------------
Das ist ein Merkmal dieser Zeit:
Schamlose Unbescheidenheit.
Man scheidet nicht mehr klein und gross,
man urteilt allen Wissens bloss.
Wie lernt sich schwer, was d e n k e n heisst,
doch ü b e r denkt man jeden Geist,
und sieht man ganz besonders >>klar<<,
so über w i n d e t man ihn gar.
Statt dass man sagt: So weit wie den
Lässt mich mein Aug wohl nimmer sehn.
Wer so viel feinste Linsen schliff,
erwuchs zu höherem Weltbegriff.

) 22 (
----------------------
Einen Einzelnen abschätzen heisst schon lügen.
Wer ist denn der Einzelne! Eine Fiktion.
Ein Wort in einem Riesensermon,
den wir nicht fassen trotz allen Flügen.

AN DIE MESSIASSÜCHTIGEN

>>Messias, komm`, gib endlich Licht!


Lass endlich unsre Sehnsucht landen!<<
So jammert ihr -- und habt noch nicht
den ersten grossen Mann verstanden.

) 23 (
----------------------
Was die Menge beseelt
Wider den grossen Mann:
Dass er sie quält,
dass sie ihn nicht begreifen kann.

So fand ich es überall und immerdar:


Wo etwas Grosses zu schaffen war,
stand der Erste allein.
Kein Felsen im Meer konnte einsamer sein.

) 24 (
----------------------
SEGEN DER IN-SICH-RUHENDEN

Lass ihn sprechen, wie er will,


denke: ja, und denke: nein.
Doch er s e l b e r tief und still
werde dein.

Du kannst keinen grossen mehr ruhig verehren,


musst dich zugleich seiner Narren erwehren.

) 25 (
----------------------
Ihr nehmt ja allen Duft und Schleier fort,
darin Lebendiges allein gedeiht.
Dein Sinn ist allzu lüstern, meine Zeit,
und >>Ehrfurcht<< lautet nicht dein Lieblingswort.

GLÜCKSELIGER MALERSTANDPUNKT

Madonna! Welche Armut, welcher Dreck! --


Doch auch wie wundervoll als -- Farbenfleck.

) 26 (
----------------------
DER ZEITUNGSLESER

>>Unendlich viel geschah,


just da
ich Mensch gewesen.<<
Und was geschah von dir?
>>Von mir?
Das, was geschah, zu -- lesen.<<

) 27 (
----------------------
AN JEDEN, DEN´S ANGEHT

Ich weiss, wie der Gesellschaft Mühle klappert,


da kommt der Einkehr Geist kaum zu Gehör.
Es ward ja auch nicht nur so hingeplappert:
das Wort vom Reichen und vom Nadelöhr.

Der Übermensch ist schon kapiert,


wenn man das Dutzend nur chokiert.

Und suchst du einen Zeitvertreib,


so bist du auch schon Überweib.

) 28 (
----------------------
O Scham oft, tiefste Schande, Mensch zu sein,
Mitmensch von Geier, Büffel, Fuchs und Schwein.

Es ist der Massstab, der den Rang bestimmt,


wie leicht, wie schwer ein Geist die Dinge nimmt.
Hier ist ein Mensch, der nicht zu wägen weiss,
und drum gehört er nicht in eines hohen Lebens Kreis.

) 29 (
----------------------
Sahst du schon einmal
Wolkenbruch bei Sonnenschein?
Silbern rinnt der reine Strahl,
spinnt die Landschaft ein.

Es lebe das gefährliche Spiel


mit feindlichen Gewalten.
Gross der Einsatz, gross das Ziel --
also lasst´s uns halten.

) 3o (
----------------------
Wer alles ernst nimmt, was Menschen sagen,
darf sich nicht über Menschen beklagen.
Alles Reden ist meist nur Gered.
Weiss man erst, was dahinter steht,
lässt man´s klappern wie die Mühlen am Bach
und geht stillfein in sein eigen Gemach.

Dieses ewige pro domo reden --


Wie entbehrt es jeder Scham,
und wie sagt es klar für jeden,
w i e die Macht herunterkam.

) 31 (
----------------------
Wie vieles bleibt, bedenkt man´s ehrlich, wichtig,
wie vieles wird dem Wahren leer und nichtig.

SEI -- URSPRÜNGLICH!

Lass dir nie den Mut verwirren:


Ich k a n n schaffen, ich da r f schaffen!
Lass dich doch die ewigen Affen
Der Vergangenheit nicht irren!

) 32 (
----------------------
Ein jeder soll den Weg des andern achten,
wo zwei sich redlich zu vollenden trachten.

Du bist in jedem Augenblicke neu;


drum sei dem Alten nicht zu knechtisch treu.
Und war dein Herz bis heut wie Kohle schwarz --
Du hast die Macht: und es wird weiss wie Quarz.

) 33 (
----------------------
Was braucht ein Volk für Gönner?
Wahrheit-sagen-Könner.

Versäumte Pflicht
Gebiert sich selbst
das Blutgericht.

Habe nur den rechten Blick --


Alles ist Schuld zuletzt
und alles muss -- Sühne sein.
Wer spricht zu sich: ich bin von Fehle rein,
wer sähe vorwurfsfrei auf sein Geschick.

) 34 (
----------------------
Alles Leben steht auf Messers Schneide.
Gleite aus, und du ertrinkst im Leide.

Es gibt Unterschiede
und soll sie geben.
Nur kein fauler Friede.
Lieber kein Leben.

Jeder Feind hat doppelt Quartier,


eins bei sich und eins bei dir.

) 35 (
----------------------
Ist auch alles nur Theater,
jeder dünkt sich doch Gottvater,
und wirklich fehlt nur um ein Haar:
i s t er´s sogar.

Wen lässt ein Musikante leben?


Keinen und ein oder zwei daneben.

Wozu, so fragt man sich, Reich, Wohlstand, Macht,


wenn alles das die Menschen nur v e r f l a c h t.

) 36 (
----------------------
Ich achte heut noch, was ich einst geachtet:
Dem Manne Schmach, dem Geld und Gut gegeben,
ohn´ dass er durch ein zwiefach adlig Leben
den blinden Zufall auszugleichen trachtet.
Verharren wir im >>Unsern<< ohne Liebe,
so schilt man uns nicht nur, so s i n d wir D i e b e.

Was ich möchte im Guten und Bösen:


Recht viele Menschen zur Freiheit erlösen.

) 37 (
----------------------
FREIHEIT

Freiheit ist kein käuflich Gericht;


man hat sie oder man hat sie nicht.
Und wer sie hat, wer wirklicht >>frei<<,
hat noch ein kleines Lächeln dabei.

Erfahr ich, wie Mitchristen sich gebärden,


möchte ich aus Scham und Ingrimm Jude werden.
Noch mehr! Wie´s Jude Christ und Heide treiben,
verwehrt mir fast, noch länger Mensch zu bleiben.

) 38 (
----------------------
IKARIDEN

Er trinkt zu viel, sein Auge schwimmt


in Wonnen zu gemeinen Wohls.
Er bleibt, so hoch den Flug er nimmt,
ein Ikarus des Alkohols.

MÜNCHEN

Du liebe Mutter- und Vaterstadt,


dir will ich nichts Hartes sagen.
Doch trinke dich nicht allzu satt
an alten glänzenden Tagen.

ARITHMETISCHE PROGRESSION

Ein paar Zeitungen


zwei Parteizungen.
Zwei paar Zeitungen
vier Parteizungen usw.

) 39 (
----------------------
Nichts trostloser als ein Humor,
den man aus Humorlosem kitzelt.
Die Welt ward zu Tode gewitzelt
und trister denn je zuvor.

Halt unter Schlüssel


Wirken und Leben.
Jedem Schweinsrüssel
bist du sonst preisgegeben.

) 4o (
----------------------
Das brennt und bricht
durch alle Zeit:
Das Ewige Licht
Sinnlichkeit.

Das nennt ihr grosse Kunst?


Ich nenn es -- grosse Brunst.

Im Sturm, da gibt es nicht mehr dies und das,


nicht mehrerlei, nicht zweierlei, der Sturm
hat eine Möglichkeit nur, sich, den Sturm.

) 41 (
----------------------
Aus reifem Leben nun zurückgewendet:
Zu keinem Hass mehr fühl ich mich beherzt.
Kein Fluch mehr, einem Teil der Welt gespendet!
Das Ganze ist´s, das Ganze, was heut schmerzt.

LEHRE

Was die Welt an Lehre mir gegeben,


willst du wissen?
Unser Bestes dürfen wir nicht leben,
weil wir >>leben müssen<<.

) 42 (
----------------------
Ich liebe mir die überlegenen Geister,
die über Ihren Ernst noch lachen können,
die nicht der Worte Kinderspiel und -Tanz
um ihrer Freiheit Wolkenflug gebracht.

Sie, die des Lebens wunderreichsten Glanz


wie seine höllengleiche Nacht
zu einem A n b l i c k für sich machen können --
sie sind gewiss des Lebens beste Meister.

In allem pulsieren,
an Nichts sich verlieren.

) 43 (
----------------------
FRAGE OHNE ANTWORT

Es gibt Menschen, die so gross sind,


dass ihnen solche Dinge nicht mehr dienen.
Es gibt Menschen, die so gross sind --
gehörst du zu ihnen?

DER KÜNSTLER

Lass dich nicht nach Menschenweise


an den Tanz der Dinge binden.
Sprich: Verwirrt mir nicht die Kreise!
Alles andre wird sich finden.

) 44 (
----------------------
Dankbarkeit und Liebe sind Geschwister.
Dankbarkeit i s t Liebe, mild, doch stet.
Wer ein Liebender durchs Leben geht,
auch ein Dankender für alles ist er.

Aus der ach so karg gefüllten Schale unsres Herzens


lasst uns Liebe schöpfen, wo nur immer einer Seele
Schale leer steht und nach Liebe dürstet.

Nicht versiegen drum wird unsre Schale,


steigen wird die s o geschöpfte Flut, nicht fallen,
Fülle wird das Los des so verschwenderischen Herzens.

) 45 (
----------------------
Blume, die du über vielem schwebst,
nie ganz gefangener Duft der Erdendinge, --
du reiner Hauch, der du der Seele Schwinge
zu immer neuen Flügen hebst, --
der du uns ahnen lässest unter Schauern,
wie hoch wir Menschen unser Bild erhoben,
und über trägen Stoffes dumpfem Trauern
den Isisschleier einer Gottheit woben!

) 46 (
----------------------
Nichts Holderes,
als wenn die Seele reift,
von süssen Säften schwillt
und überflutet!

Bis sie des Herbstes


höchster Rausch ergreift --
und sich zu -- a n d r e r Glück
ihr Glück verblutet.

) 47 (
----------------------
AN DES DICHTERS ANDERE HÄLFTE,
DEN LESER:

Wie wenn der Wind von fernen Dingen singt,


heut magst du ihn verstehn und morgen nicht, --
so wehen unsere kargen Worte dir
des Lebens unbestimmten Duft hinüber.
Und heute schwillt dein Herz in Ahnung mit
und unser Werk wird ihm von neuem Welt,
und morgen stehst du fremd und kalt vielleicht
und vor dir liegt ein totes, stummes Lied.

) 48 (
----------------------
GOETHE

Wer je des Menschen Sinn vergass,


den lehre dieses Menschenlos.
Nie wies ein Mensch so sehr des Menschen Mass
und war in diesem Mass so tief und gross.

AUF EINEN ERNSTEN GELEHRTEN

Nichts Schöneres als eine ernste Seele,


die, was sie schaut, gelassen andern spiegelt
und alle Kraft, die reich ihr innewohnt,
allein ins Leuchten dieses Spiegels legt.

) 49 (
----------------------
ZUM TÄGLICHEN LEBEN

Harmlosigkeit -- wie atm´ ich gern darin!


>>Intelligent<< und >>heiter<< sind die Worte,
die geben mir den frohsten Klang und Sinn.
Beglückt das Haus, hoch über dessen Pforte
sie glänzen!

Nur wer den Menschen liebt, wird ihn verstehn,


wer ihn verachtet, ihn nicht einmal -- sehn.

) 5o (
----------------------
Was kann ein Gastfreund Bessres sagen
als: Ich fühlte mich daheim.
Schenkt nun auch als Gegenreim:
Wir haben ihn wie u n s ertragen.

Zum Menschen fühl ich


Unverbesserlich mich hingezogen,
belogen und betrogen oft --
was tut´s!
Denn, was ich liebe,
steht über dem, was e i n e r ist.

) 51 (
----------------------
Kreuz und quer bin ich gereist,
mochte nirgends lange bleiben.
Einer Heimat zu: dem G e i s t,
tat´s mich immer wieder treiben.

REINKARNATION

Dies ist das Tor, durch das ich eingetreten


und alle Dinge wie verwandelt schaue.

) 52 (
----------------------
Von Herzen Schollenmensch,
von Geist Nomade.

LETZTES

Eine Hütte,
mich,
ein Mädchen,
Ruhe vor der Welt.

Und dann:
Alles
f ü r die Welt!

) 53 (
----------------------
Ich sage dir als tröstlich Wort,
wie eins aufs andre ist gestellt.
Denk einen Punkt des ganzen fort,
du denkst dich selbst aus der Welt.

Du bist zu eng in dich gebannt,


verliere dich, sieh ab von dir.
Stadt, werde Land!

Lass alles in dir untergehn,


was Burg- und Bürgersinn.
Wo Erd und All zusammengehn,
da schaue hin.

) 54 (
----------------------
Du musst den Blick ins Weite kehren,
von deinem engen eignen Wesen.
Die Weite muss die Enge lehren.

Du musst am Leid der Welt genesen.


Zum Leid des Gottes musst du kommen
und musst in Seinem Anlitz lesen --

und aller Gram wird dir genommen.

Wer lebendiges will verstehn,


muss ins Land des Todes gehen.

) 55 (
----------------------
VON EINEM ZUR SCHLACHTBANK
GEFÜHRTEN KALBE

Leben wird zu Tod geführt,


ohne dass das Herz sich rührt,
Mensch!

Freilich, schlachtest noch dich selbst,


wie du auch die Stirne wölbst,
Christ!

Bis die Kreatur d i r schreit,


wie weit noch, o wie weit,
Gott!

) 56 (
----------------------
Das ist das Verwerfliche eurer Strafen,
dass es die Trauer in uns ertötet,
die zehrende Trauer, die uns nicht schlafen
lässt, dass ein Bruder die Hand gerötet.

Da liegt er nun im eisernen Netze …


Und w i r ? Bedauern, vielleicht; doch kein Gram,
kein Wille hinauf, keine Not, Liebe, Scham!
Zerbrecht mir, Menschen, solche Gesetze!

) 57 (
----------------------
RICHTERPHANTASIE

Vor dem irdischen Gericht


Gingst du deiner Wege,
doch es wartet, Bösewicht,
droben mein Kollege.

Heute schreiben wir noch >>Welt<<.


Doch als >>wellt<< wird´s klarer vorgestellt.

) 58 (
----------------------
Lehrer Tod,
der du die Menschen lehrst,
ihren Trotz durch Not
zur Einsicht kehrst --.

Richter Tod,
vor dir gilt kein Gefecht --
du bist weise und
du bist gerecht.

) 59 (
----------------------
Schlachtfelder sind wir allesamt,
auf denen Götter sich bekriegen.

Sieh, dies ist Gottesleid:


Zersplittert sein
in Legionen Herzen;
sein Allundein
in tausendfachem Kleid
um schöpferisches Glück und Pein
verscherzen.

) 6o (
----------------------
Gütig ist die schönste Form von gut,
so wie warm vielleicht die schönste Form von licht.
>>Jenseits von gut<< -- so spricht wohl kühner Mut,
jenseits von gütig, nicht.

Lasset uns einander lieben,


und da heisst es auch einander hassen;
nur wenn wir uns strengst ins Auge fassen,
wird der finstre Wahnsinn einst uns lassen,
der uns auseinander einst getrieben.

) 61 (
----------------------
O reife Frucht
des Baums,
der Leben heisst,
wer pflückte dich,
der´s nicht mit Blut
erkaufte!

Wenn die Rosen um deine Stirn, Mensch,


nicht Blutstropfen sind,
wirst du nicht wissen, warum du lebst,
bleibst du ewig Kind, Mensch.

) 62 (
----------------------
Und so hebe dich denn
aus den Nebeln des Grams
auf des Selbstvertrauens
mächtigen Fittichen
aufwärts,
bis du dir selber
mit all deinem Leide
klein wirst,
gross wirst
über dir selber
und all deinem Leide.

) 63 (
----------------------
Und magst du alle Worte auch verbrennen,
du musst dich endlich doch zum W o r t bekennen.

Ob Jesus ein Mensch war oder nicht,


darob nur ein Tor sich den Kopf zerbricht.
Denn nur ein Totenkopf vergisst,
dass >>Mensch<< nichts als ein Deckwort ist.

) 64 (
----------------------
Ich bin ein Mensch und schlag mich selbst ans Kreuz.
Ich Mensch, den Gott in mir, der ich n i c h t bin.

Dem sinkt der Bogen aus der Hand,


der lässt die raschen Pfeile fallen,
der einmal vor des Lebens Wallen
mit aufgeschlossnem Auge stand.

) 65 (
----------------------
RUDOLF STEINER

Zur Schönheit führt dein Werk:


denn Schönheit strömt
zuletzt durch alle Offenbarung ein,
die es uns gibt.
Aus Menschen-Schmerzlichkeiten
Hinauf zu immer höhern Harmonien
entbindest du das schwindelnde Gefühl,
bis es vereint
mit dem Zusammenklang
unübersehbarer Verkünder G o t t e s
und S e i n e r nie gefassten Herrlichkeit
mitschwingt im Liebeslicht
der Seligkeit …
Aus Schönheit kommt,
zur Schönheit führt
dein Werk.

) 66 (
----------------------
Wir Menschen sind wie Blätter eines Baumes,
die irgendwann in grauer Vorzeit Tagen
vom väterlichen Stamm sich selbst gerissen.

Und nun, Geschöpfe unsres eignen Traumes,


hinwandeln wir in ungeheurem Wagen
den labyrinthnen Weg vom Wahn zum Wissen.

Und sähst du deine Gottheit aller Enden,


du müsstest doch als Mensch dein Los vollenden.

) 67 (
----------------------
Verlange nichts von irgendwem,
lass jedermann sein Wesen,
du bist von irgendwelcher Fern
zum Richter nicht erlesen.

Tu still dein Werk und gib der Welt


Allein von deinem Frieden,
und hab´ dein Sach auf nichts gestellt
und niemanden hienieden.

) 68 (
----------------------
Wie kann ich glücklich sein,
wenn d u nicht glücklich bist,
du Welt voll Harm und Pein

(wie oft in Frost und Zwist


Mein schwaches Herz auch dein
in deiner Not vergisst)!

) 69 (
----------------------
Wie war es nur möglich, im Auge unendliches All,
im Schosse der Gottheit, ja selber der Gottheit ein Teil,
so ganz zu vergessen des Ursprungs unsterblichen Stolz,
so ganz zu verlieren den Adel der Geistesgeburt.
Wie konnte der selber aus nichts als Geheimnis, als nichts
Denn wieder Geheimnis erblühte Mensch seinen Sinn
So niedrig -- eintägig verdüstern, verbürgern …

) 7o (
----------------------
>>Trostlos?<< Das Wort ist mir entschwunden,
seitdem ich Mich in mir gefunden.

Wohl eignen Jammers Furchtbarkeit empfindest du,


doch fühlst du auch die Furchtbarkeit der Welt?

Vergänglichkeit! Wort, das Gott-Welt enthüllt.


Wer dürfte dauern, den ein Ziel erfüllt?

) 71 (
----------------------
O ihr kleinmütig Volk, die ihr vom Heute
nicht loskommt, die ihr meint: so ist es, war es
und wird es sein, so lange Menschen leben --.

O würdet ihr doch andrer Hoffnung Beute


und lerntet wieder schauen Offenbares
und Hirn und Herz zu höchstem Ziel erheben!

) 72 (
----------------------
In Öde würden wir sinken
durch Gleiches und immer Gleiches,
wollten wir Jungkraft nicht trinken
aus Brunnen des Geisterreiches.

Verborgenes erneure,
wen Offenbares verstörte,
Offenbarung befeure
uns aufwärts ins Unerhörte!

) 73 (
----------------------
Es leiht mir wunderbare Stärke
die Zuversicht, dass nimmermehr ich sterbe,
dass ungehemmt ich meine Werke
vollbringe, ob auch oft mein Leib verderbe;
es wirkt, dass ich mit ernster Ruhe
von meiner Plane Fehlschlag mich ermanne. –
Ich weiss: was ich erstrebe, was ich tue,
ist nicht gebannt in e i n e s Lebens Spanne.

) 74 (
----------------------
O wie herrlich, einst sein Kleid
nach der Arbeit abzulegen
und sich eine kleine Zeit
dann in Geistesluft zu regen,
um in neuem Kleide dann
neu zu stehen seinen Mann!

) 75 (
----------------------
Wachen ist Wunder.
Schlafend geht die Welt
aus Stein und Pflanze
ihren steten Gang,
und jede Nacht
gesellt auch Mensch und Tier
dem grossen Schlaf,
in dem die Schöpfung kreist.
Wachen ist Wunder.
Augenaufschlag aus
göttlichem Traum
zu göttlichem Selbstgesicht.
Erwachen aller Werke ist das Ziel,
dem aller Gottesschlaf der Welt zu-strebt.

) 76 (
----------------------
Kostbarer Funke des Enthusiasmus,
wenn du überspringst
von Mensch zu Mensch,
da küssen sich --
Götter . . .
Das ist die Weise,
wie Götter sich lieben:
im unsäglichen Blitz
des heilig schimmernden
Auges!
Dies ist die Art,
wie die in den Himmeln
jubeln!

) 77 (
----------------------
DER SPECHT

Wie ward dir, kleiner Specht, so grosse Kraft!


Von deinem Klopfen tönt der ganze Schaft
der hohen Kiefer. Wär´ auch mir vergönnt,
dass ich den Menschen so durchklingen könnt!

Geduld, du ungeheures Wort!


Wer dich erlebt, wer dich begreift,
erlebt hinfort, begreift hinfort,
wie Gottheit schafft, wie Gottheit reift!

) 78 (
----------------------
Was jetzt Sehnsucht ist, wird Wille,
was jetzt Wille, wird einst Kraft
nach der grossen, reichen Stille.

Kraft, die das Gewollte schafft,


Wille, der aus diesem Schaffen
abermals uns weiter rafft.

) 79 (
----------------------

You might also like