Aus: Die Guerilla zieht Bilanz - Über Uruguay
Auch die Uruguayer außerhalb der Gefängnisse waren während der 12-jährigen Diktatur einer ausgefeilten sozialen Kontrolle unterworfen; es herrschte eine lückenlose Pressezensur, an die Öffentlichkeit gelangte nur die Desinformation des Regimes. Alle drei Millionen Einwohner waren gemäß ihres Gefährlichkeitsgrades in die Kategorien A, Bund C eingeteilt, und das "Zertifikat über den demokratischen Glauben" der Diktatur entschied über Fortbildung, Arbeitsplatz und Überwachung. Die Polizei löste Fußballclubs auf, Lind sogar Geburtstagsfeiern waren genehmigungspflichtig. Langhaarigen wurde auf der Straße der Kopf geschoren und Bärtigen der Zutritt zu Schulen verwehrt.
Aus: Die Guerilla zieht Bilanz - Über Uruguay
Auch die Uruguayer außerhalb der Gefängnisse waren während der 12-jährigen Diktatur einer ausgefeilten sozialen Kontrolle unterworfen; es herrschte eine lückenlose Pressezensur, an die Öffentlichkeit gelangte nur die Desinformation des Regimes. Alle drei Millionen Einwohner waren gemäß ihres Gefährlichkeitsgrades in die Kategorien A, Bund C eingeteilt, und das "Zertifikat über den demokratischen Glauben" der Diktatur entschied über Fortbildung, Arbeitsplatz und Überwachung. Die Polizei löste Fußballclubs auf, Lind sogar Geburtstagsfeiern waren genehmigungspflichtig. Langhaarigen wurde auf der Straße der Kopf geschoren und Bärtigen der Zutritt zu Schulen verwehrt.
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Aus: Die Guerilla zieht Bilanz - Über Uruguay
Auch die Uruguayer außerhalb der Gefängnisse waren während der 12-jährigen Diktatur einer ausgefeilten sozialen Kontrolle unterworfen; es herrschte eine lückenlose Pressezensur, an die Öffentlichkeit gelangte nur die Desinformation des Regimes. Alle drei Millionen Einwohner waren gemäß ihres Gefährlichkeitsgrades in die Kategorien A, Bund C eingeteilt, und das "Zertifikat über den demokratischen Glauben" der Diktatur entschied über Fortbildung, Arbeitsplatz und Überwachung. Die Polizei löste Fußballclubs auf, Lind sogar Geburtstagsfeiern waren genehmigungspflichtig. Langhaarigen wurde auf der Straße der Kopf geschoren und Bärtigen der Zutritt zu Schulen verwehrt.
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Meinungen geteilt; die einen meinen, dies sei der (früheren) politischen Stabilität und der vorbildlichen Sozialgesetzgebung zu verdanken, andere glauben, daß es dem Umstand zu verdanken sei, daß die Uruguayer wie die Eidgenossen überaus konservativ seien. 1903 gelangte der Colorado-Politiker Jose Battle y Ordrriez an die Regierung und legte die Grundlagen für einen modernen Staat. Ohne die Macht der Großgrundbesitzer anzugreifen, schuf er einen internen Markt, nationalisierte die Eisenbahn und Versicherungen, erhöhte die industrielle Produktion und führte Schutzzölle zugunsten der einheimischen Betriebe ein. Die Kirche wurde entmachtet, der Acht-Stunden-Tag, Sozial-und Rentenversicherung sowie das Recht auf kostenlosen Unterricht kamen sechzig Jahre vor der»Fortschrittsallianz« vor allem den Armen zugute. Der Staat wurde zum wichtigsten Arbeitgeber, der Paternalismus und damit Klientelismus wuchs, und es entstand eine riesige Mittelschicht. Nach dem Korea-Krieg war es mit der sozialen Idylle vorbei. Der synthetische Ersatz für Wolle und Leder ließ die Nachfrage für die traditionellen Exporte auf dem Weltmarkt sinken, und die extensive Viehwirtschaft erwies sich als Hemmschuh für die notwendigen Strukturreformen. Die Lohnabhängigen mußten den Gürtel enger schnallen, und das Land geriet unter das Diktat des IWF. Uruguay mußte sich verpflichten, den freien Wechselkurs zuzulassen, der Inflation und Arbeitslosigkeit nach sich zog. Anfang der sechziger Jahre machen ein gewisser Raul Sendic und die von ihm gegründete Gewerkschaft der Zuckerrohrarbeiter UTAA von sich reden; sie besetzen Fabriken und machen in mehreren Märschen in die Hauptstadt auf die feudalen Arbeitsbedingungen auf dem Land aufmerksam. Im Juli 1963 stehlen sie aus dem »Schweizer Schießclub« Gewehre, ein halbes Jahr später beginnen sie mit ihren Robin-Hood- Aktionen: Sie überfallen Lieferwagen und verteilen die Lebensmittel in den Armenvierteln. Aus dieser Gruppe um Raul Sendic, Nato Huidobro und Julio Marenales geht 1966 offiziell die »Bewegung der Nationalen Befreiung«, MLN- Tupamaros hervor. Die Tupas wurden wohl zur berühmtesten Stadtguerilla. Auf ihrem Höhepunkt hatten sie -so eine Schätzung der uruguayischen Polizei -rund 10.000 mehr oder weniger militante Anhänger. Kaum eine Bank und kaum einer aus dem Großkapital war vor ihnen sicher. Ihre spektakulärsten Aktionen waren die Besetzung der Stadt Pando (8. Oktober 1969), die Entführung des britischen Botschafters (9. Januar 1971) und des Herausgebers zweier reaktionärer Tageszeitungen (September 1969) und die Entführung und Erschießung des US- amerikanischen Folterspezialisten Dan Mitrione (31. Juli bis 10. August 1970), nacherzählt in dem Film »Der unsichtbare Aufstand«. Die größten Sympathien erreichten sie mit dem Einbruch in die Finanzierungsgesellschaft »Monty« am 14. Februar 1969; sie ließen dabei nicht nur 24.000 Dollar, sondern auch die Kassenbücher mitgehen, in denen die illegalen Transaktionen mit Scheinfirmen festgehalten waren. Die MLN legte Kopien der Bücher einem Richter vor die Haustür und löste damit die Verhaftung mehrerer angesehener Geschäftsleute und eine Regierungskrise aus. Ein überführter Ex-Minister, den die Justiz mit Samthandschuhen anfaßte, wanderte ins Volksgefängnis. Noch unter der verfassungsmäßigen Regierung des Colorado-Politikers Jorge Pacheco Areco waren der innere Kriegszustand erklärt, die individuellen Rechte außer Kraft gesetzt und das Land in einen Polizeistaat verwandelt worden. Die Tupamaros wurden 1972 militärisch zerschlagen. Als ein Jahr später, am 27. Juni 1973, die Militärs putschten, hielten die Gewerkschaften einen zweiwöchigen Generalstreik durch. Nun wurden die gesamte Linke und die Gewerkschaften iIIegalisiert. Insgesamt lernten 50.000 Bürger die Gefängnisse von innen kennen, und fast alle sind gefoltert worden. Im Hochsicherheits Gefängnis "Libertad", zu deutsch: Freiheit, versuchte ein speziell geschultes Psychologen-Team mit wissenschaftlichen Methoden die Persönlichkeit der Gefangenen zu zerstören. Auch die Uruguayer außerhalb der Gefängnisse waren während der 12-jährigen Diktatur einer ausgefeilten sozialen Kontrolle unterworfen; es herrschte eine lückenlose Pressezensur, an die Öffentlichkeit gelangte nur die Desinformation des Regimes. Alle drei Millionen Einwohner waren gemäß ihres Gefährlichkeitsgrades in die Kategorien A, Bund C eingeteilt, und das "Zertifikat über den demokratischen Glauben" der Diktatur entschied über Fortbildung, Arbeitsplatz und Überwachung. Die Polizei löste Fußballclubs auf, Lind sogar Geburtstagsfeiern waren genehmigungspflichtig. Langhaarigen wurde auf der Straße der Kopf geschoren und Bärtigen der Zutritt zu Schulen verwehrt. Zwar erlangten die Militärs nie eine soziale Basis -bei ihrem Plebiszit 1980 für ihre geplante Verfassungsänderung erhielten sie nur 43 % -aber einen bewaffneten Wiederstand hat es nie gegeben. Die großen Massendemonstrationen für die Demokratie wurden von der traditionellen Colorado-Partei angeführt, die mit den Militärs den Übergang zu einer verfassungsmäßigen Regierung aushandelte. Als die Colorados im März 1985 die Regierung übernahmen, öffneten sie die Gefängnistore und amnestierten die politischen Gefangenen. Nur die Tupamaros, die wegen Kapitalverbrechen angeklagt waren, mußten sich erneut vor zivilen Gerichten verantworten. Dabei wurden ihnen jeder in der Haft verbüßte Tag dreifach angerechnet. Die Regierung hatte wohl damit gerechnet, daß sich die Tupamaros in der Legalität nicht zurechtfinden, sich gegenseitig zerfleischen und schließlich damit selbst zur Bedeutungslosigkeit verdammen. Diese Rechnung ging in Argentinien, aber nicht in Uruguay auf: Zwar haben sich die meisten der früheren Gefangenen aus der aktiven Militanz zurückgezogen -darunter viele Frauen -aber die MLN hat viele junge Mitglieder, es hapert eher im Mittelbau. Ihr Verlag TAE ist inzwischen der größte und angesehenste im Land, die Wochenzeitung MATE AMARGO hat die größte Auflage, und ihre Radiostation PANAMERICANA ist zwar wegen ausgebliebener Anzeigen defizitär, aber viel gehört. Verglichen mit anderen Bewegungen macht sich die Niederlage der MLN eher bescheiden aus. Doch, kein Zweifel, die Niederlage wurde noch nicht verdaut, und es hat bis heute keine organische Begründung für sie gegeben. Die Regierung hat die in sie gesetzten Hoffnungen innerhalb von drei Jahren verspielt; der Reallohn hat sich kaum verbessert, die industrielle Produktion sinkt weiter, die Infrastruktur ist hoffnungslos veraltet, und wirklich funktioniert nur der Klientelismus der Jahrhundertwende. Mit der Visitenkarte eines Colorado-Politikers werden immer noch Berge versetzt, auch wenn sich sonst im Lande nichts rührt. Nur die Auslandsschuld wird mit religiöser Ergebenheit bezahlt. Immer wieder berichtet die Presse über Foltervorwürfe, nicht gegen Linke, sondern gegen Diebe und Betrüger. Gegen die Jugendlichen geht die Polizei mit regelmäßigen gewaltsamen Razzien vor, jung sein ist verdächtig, und früh krümmt man, was ein Häkchen werden soll. Proteste gegen den staatlichen Autoritarismus sind eher rar, und der Ausweg aus der Krise heißt nicht Revolution, sondern Carrasco, der internationale Flughafen. Während unter der Diktatur von drei Millionen Einwohnern jährlich 35.000 Uruguayer das Land verließen, suchen heute -vornehmlich junge Leute -58.000 das Weite. Der Linken -weder der reformistischen noch der revolutionären -gelingt es kaum, aus dem Vertrauensverlust Kapital zu schlagen. Die Leute verfallen in Resignation und Entpolitisierung. Nach einer Meinungsumfrage des GallupInstituts lesen 56% der Uruguayer nicht den politischen Teil der Zeitungen, 77 % nehmen nicht an politischen Veranstaltungen oder Demonstrationen teil, und 80 % der Jugendlichen und 83 % der Armen wollen mit der traditionellen Politik überhaupt nichts mehr zu tun haben. Da war das Ergebnis der Volksabstimmung im April 1989 über das Amnestie-Gesetz für die Folterer keine Überraschung. 53 % bestätigten in einer geheimen und freien Wahl das »Gesetz über die Hinfälligkeit der Strafabsicht des Staates«. Die Ermittlungsakten bleiben geschlossen, Folter-und Mordvorwürfe werden nicht untersucht, und das Schicksal der immer noch entführten Kinder der Verschwundenen bleibt im Dunkeln. »Die Uruguayer haben nicht den Militärs applaudiert, sondern das Wahlergebnis sei Ausdruck einer alten uruguayischen Sitte: Vorsicht, bloß nichts riskieren« -so hieß es in einem Leitartikel in »Republica«. Die linke Tageszeitung machte vor allem die soziale Struktur der Gesellschaft verantwortlich: Uruguay ist ein Land der Alten, insgesamt 600.000 Personen beziehen Rente oder Pension; auf jeden arbeitenden Menschen, darunter auch die 275.000 Beamten, kommen laut der letzten Volkszählung 1,5 Rentner. Die Auswertung der Wahllokale, wo hauptsächlich alte Leute ihren Stimmzettel abgeliefert hatten, ergab, so »Republica«, daß bis zu 85% von ihnen für die Amnestie gestimmt haben. Die Alten seien das konservative Potential, das sich auf keine politischen Experimente einlassen wolle. Eigentlich hatte an der Spitze der Befragten Raul Sendic stehen sollen, aber der MLN-Gründer ist am 28. April 1989 in Paris gestorben. Als sein Sarg zehn Tage später durch die ganze Stadt zu Grabe getragen wurde, waren 150.000 auf den Beinen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Statt Sendic reden die beiden Mitgründer der Tupamaros, Eleuterio Fernandez Huidobro, genannt Nato, und Julio Marenales. Die beiden gehören zu den »Alten«, sie sind Mitglied im Zentralkomitee der MLN, ebenso wie die drei Tupas Mario de Lean, Irma Leites und Eduardo Lean Duter, die eher die zweite Generation repräsentieren.
Interview mit Eleuterio Fernandez
Huidobro, EI »Nato«, Mit-Gründer der MLN- Tupamaros. Während der Militärdiktatur war er als Geisel in Kasernen gefangen gehalten worden. Im März 85 wurde er auf freien Fuß gesetzt und ist seitdem im Zentralkomitee der MLN.
Ich habe mich etwa im Jahr 1958 politisiert, als
ich 16 war. Ich war zehn Jahre lang auf einer katholischen Privatschule. Damals fanden gerade die Auseinandersetzungen um das neue Hochschulgesetz statt, mit Streiks, Demonstrationen usw. In meiner Schule waren viele der Priester Deutsche und Spanier, von denen ich vermute, daß sie ultrarechts waren. Sie lehrten uns, daß die Nordamerikaner Imperialisten seien, und sie gaben einen kritischen Geschichtsunterricht, in dem viele Fragen aufgeworfen wurden. Und als dann die Studenten auf die Straße gingen, waren wir dabei, obwohl wir damals die Sachen politisch keineswegs klar hatten.
F: 1958 war das Jahr, in dem die Nationale Partei,
die »Blancos«, die Wahlen gewannen.
Das war nach über 90 Jahren Herrschaft der
Colorado-Partei das erste Mal, daß die Blancos gewannen. Ich erinnere mich, daß ich den Wahlsieg der nationalen Partei gefeiert habe. Ich hatte sie zwar nicht gewählt, aber ich freute mich über die Niederlage der Colorados, die für die Studenten und Schüler das Feindbild gewesen waren. Im selben Jahr härte ich mit dem Studium auf und begann, in einer Bank zu arbeiten, denn ich hatte eine feste Beziehung zu einem Mädchen begonnen.
F: Was hattest du studiert?
Ingenieurwissenschaft, aber da kam diese
Freundin dazwischen. Meinen Entschluß, mein Studium zu schmeißen und in einer Bank anzufangen, teilte ich zu Hause meinen Eltern mit. Aber schon einen Tag später begriff ich, daß ich Mist gebaut hatte, und nahm das Studium wieder auf. Tagsüber arbeitete ich, und nachts büffelte ich. Ich ging zu den Demos, war ein eifriger Leser der Zeitschrift »Marcha«, und das Milieu, in dem ich mich bewegte, war stark von der kubanischen Revolution beeinflußt.
F: Warst du in einer Partei?
Ende 61/Anfang 62 bin ich in die MRO
eingetreten, in die Revolutionäre Bewegung der Uruguayer. Wir sind als Gruppe eingetreten, denn ich war bereits zu diesem Zeitpunkt in meinem Stadtteil mit einer festen Gruppe von Genossen zusammen, und eines Tages beschlossen wir in einer Kneipe, uns zu organisieren, in irgendeiner Partei oder Organisation. Wir wollten unserer politischen Aktivität einen organisatorischen Rahmen geben. Wir suchten uns die MRO aus, wie sich jemand im Supermarkt eine Ware aussucht. Wir hatten uns vorher alle Parteiprogramme besorgt, von der KP, der Sozialistischen Partei, aber unsere Wahl fiel auf die MRO.
F: Ihr habt also vor allem den Zwang zur
Organisation verspürt?
Klar. Die MRO gefiel uns, weil sie eine neue
Sache war. Ein Genosse von uns ging also in das Büro der MRO, um uns einzuschreiben, wir waren insgesamt um die 19, und der Typ, der unseren Aufnahmeantrag unterschreiben sollte, meinte, da stimme etwas nicht, wir seien Spitzel. Wir haben die Jugendorganisation der MRO gegründet und haben an Demonstrationen teilgenommen, der Studenten, des Solidaritätskomitees für Kuba und gegen die Diktatur in Paraguay. Ich wurde zum ersten Mal am 14. Mai 62 verhaftet, als ich Steine auf die paraguayische Botschaft geworfen hatte. Wir nahmen Kontakte zu den Zuckerrohrarbeitern auf, die 62 ihren ersten Marsch nach Montevideo starteten. Und das zog den Bruch mit der Führung der MRO und der gesamten traditionellen Linken nach sich, die damals ungeheuer klein und unbedeutend war. 1962 fanden nationale Wahlen statt, und es gab -von den Solidaritätskomitees für Kuba ausgehend -die ersten Versuche, eine linke Front zu gründen. Der Versuch ging in die Hose, es gab auch eine Einheit der Gewerkschaftsbewegung, wir hatten eine gelbe Gewerkschaft, die aber immer mehr an Kraft verlor, die Sozialisten hatten ihre eigenen Gewerkschaften und auch einige autonome Gruppen. Wir von der Jugendorganisation hatten bereits mit der MRO- Führung gebrochen und waren während des Wahlkampfs in der FIDEL aktiv, der Linken Front für Befreiung, wir klebten Plakate, organisierten Veranstaltungen usw., aber das Wahlergebnis war eher peinlich, die Linke war um keinen Deut gewachsen. Die Leute waren total frustriert, auch weil die wirtschaftliche Krise immer offener zu Tage trat.
F: Waren bereits die ersten Abkommen mit dem
IWF unterzeichnet worden?
Nach dem Wahlsieg der Blancos im Jahr 58 wurde
die erste Absichtserklärung unterschrieben und Beziehungen zum IWF eingeläutet. Aus Argentinien strömten die Flüchtlinge zu uns, dort war der Plan Conintes bereits in Kraft gesetzt worden, und das alles hatte auf Uruguay großen Einfluß. In mein Stadtviertel zogen eine ganze Reihe von politischen Flüchtlingen aus Argentinien, und schon wenige Monate später, nach dem Staatsstreich 64, kamen die Brasilianer. Und es begannen die faschistischen Gruppen in unserem Land gegen die Studentenbewegung aufzutreten.
F: In welcher Form?
Mit Attentaten und Straßenschlachten. Sie
machten auch Anschläge gegen Juden, politische Aktivisten der Linken und Gewerkschaften. Es bildete sich das Koordinationskomitee gegen die faschistischen Banden, die jüdische Gemeinschaft organisierte Patrouillen ihrer Häuser, und es entstand so etwas wie ein kleiner Sicherheitsdienst.
Die Faschisten griffen die Universität an und
besetzten sie. Später stellte sich heraus, daß die Tageszeitung "EI Pafs« und die Geheimdienste von Anfang diese Aktion unterstützt hatten; es waren dieselben Faschisten, die viele Jahre später beim Staatsstreich eine tragende Rolle spielen sollten.
F: Im Jahr 62 gewinnt die Nationale Partei erneut.
..
Klar, aber diesmal knapper als vier Jahre vorher.
Die Linke gewann keine Stimmen dazu. 1962 ist das Jahr der Kubakrise und der Polemik zwischen China und der Sowjetunion. Und das führte innerhalb der uruguayischen KP zu Abspaltungen, fast die gesamte Leitung der Studentenvereinigung FEUU verläßt die KP und gründet den prochinesischen MIR. Sie, zusammen mit einigen Anarchisten und Genossen der Sozialistischen Partei (PS) beginnen eine lange Diskussion über die Frage, ob die ökonomische Krise des Landes eine strukturelle oder eine Konjunkturkrise sei, und über die Notwendigkeit der Selbstverteidigung gegenüber den faschistischen Banden. Jedes Partei-oder Gewerkschaftsbüro mußte bewacht werden, die Versammlungen in der Uni und im Betrieb hatten einen Sicherheitsdienst, und eine gelbe Gewerkschaft, die aus den USA finanziert wurde, trieb mit den Faschisten ein gemeinsames Unwesen. Auf dem Land war die Repression, die nie strafrechtlich verfolgt wurde, noch viel brutaler als in Montevideo. Damals begannen die Diskussionen über den bewaffneten Kampf, ohne daß man die Sachen klar hatte. Und täglich war mit einem Putsch zu rechnen.
F: Wegen der Erfahrungen in den
Nachbarländern?
Innerhalb der Streitkräfte sympathisierten viele
mit einem Putsch, aber es gab auch fortschrittliche Offiziere, die uns über die Putschgefahren informierten, oft gab es auch nur Mund-zu-Mund-Propaganda. Manchmal schlugen wir uns die Nächte um die Ohren, weil wir stündlich mit einem Staatsstreich rechneten, wobei uns nicht klar war, was wir in diesem Fall eigentlich tun sollten. 1964 rief die KP, nämlich der KP-Chef Rodney Arismendi, im Falle eines Putsches zum bewaffneten Kampf auf. Der bewaffnete Kampf stand, beeinflußt von der kubanischen Revolution und dem Sieg in Algerien, auf der Tagesordnung. Die Diskussionen darüber fanden aus Sicherheitsgründen im privaten Kreis statt, unter wenigen Leuten. Das hatte nicht mit Elite-Denken oder ähnlichem zu tun, denn wir waren alle politisch oder gewerkschaftlich verankert. Es war also nicht so, wie heute manchmal dargestellt wird, daß sich eines Tages plötzlich ein paar Erleuchtete zusammensetzten und erklärten: Nun wollen wir Guerilla machen.
F: Gab es eine Art Aufklärungs-oder
Geheimdienstarbeit von euch über die faschistischen Gruppen und über die Streitkräfte?
Sehr wenig. Die Faschisten, die im studentischen,
politischen oder gewerkschaftlichen Bereich auftraten, kannten wir. Wir veröffentlichten ihre Photos in unserer Presse, einschließlich der Quittung für ihr Handgeld, das ihnen die US- Botschaft zahlte. Über die putschbereiten Offiziere wußten wir wenig, die fortschrittlichen Offiziere waren ja keineswegs links, sondern eher liberal.
Vasconcellos und andere Politiker der Colorado-
Partei deckten viele Dinge auf. 62 war Wilson Ferreira Aldunate Landwirtschaftsminister und stand einem Putsch positiv gegenüber; es gibt von ihm den berühmten Satz, daß in Uruguay die Sachen mit dem allgemeinen Moratorium geregelt werden oder mit General Moratorio. General Moratorio war Verteidigungsminister und ein Hardliner. Rodriguez Camuso ...
F: ... heute Senator der KP-nahen »Democracia
Avancada« ...
... er war Gesundheitsminister der Blanco-
Regierung und hatte die Notstandsgesetze mit unterschrieben. F: Wie gings bei euch weiter?
62 hatten wir bereits mit den
Zuckerrohrarbeitern Pläne für Landbesetzungen geschmiedet. Mit »wir« meine ich eine Gruppe, die sich schon von der MRO getrennt hatte, die Genossen von der prochinesischen MIR, die Anarchos und Unabhängige, die den Marsch der Zuckerrohrarbeiter unterstützt hatten. Der Plan bestand darin, kurz vor den Wahlen im September/Oktober im Norden des Landes ein Stück Land zu besetzen. Wir hatten uns schon reichlich von dem ganzen Wahlspektakel entfernt, wo aber die ganze traditionelle Linke total drin steckte. Einige Abgeordnete und Journalisten hatten uns versprochen, bei der Besetzung dabei zu sein, es gab zwei linke Tageszeitungen, EI Popular und La Epoca. Die Landbesetzung mußte eine Wirkung in Montevideo haben, denn auf dem Land war ja nichts los, da wäre einfach eine Polizeitruppe angerückt und hätte uns mit Knüppeln vertrieben, ohne daß im Land ein Hahn gekräht hätte. Deshalb wollten wir mit der Presse und den Abgeordneten die Landbesetzung in Montevideo politisch wirken lassen. Wir wollten einen neuen Weg beschreiten. Es war geplant, bei der Besetzung Waffen zu tragen, nicht um sich gegen die Polizei zu wehren, sondern um sie zu zeigen, mit einer einfachen Polizeitruppe wären wir also nicht zu räumen gewesen, da hätte schon ein Bataillon oder das Heer anrücken müssen. Der Plan war gut, aber die meisten Leute, die uns Unterstützung versprochen hatten, nahmen wegen des angelaufenen Wahlkampfes immer mehr Abstand von dem Plan. Und dieser Plan vollzog schließlich unsere endgültige Trennung von der traditionellen Linken. Schon vor der Wahl 62 gab es harte interne Auseinandersetzungen.
F: Der Plan wurde also nicht umgesetzt?
Nein, wegen der Führungsspitzen der Parteien.
Nachdem die Diskussionen über die Pöstchen erledigt waren Lind sich die Union Popular und FIDEL gegründet hatten, verlangten sie von uns, daß wir am Wahlkampf teilnehmen und Plakate kleben sollten. Aber wir antworteten den Parteiführern: Wartet mal, ich hab das und das und das auf meinem Programm, da sind Leute, die Land besetzen wollen, das sind Familien, Frauen und Kinder. Aber sie stellten sich stur Lind wollten uns für den Wahlkampf gebrauchen; und wir begannen, viele Dinge langsam klarer zu sehen Lind mit der traditionellen Linken, ihren Methoden und Strategien nichts mehr zu tun haben wollen. Der Plan starb auch deshalb, weil er veröffentlicht wurde -natürlich, um ihn damit zu verhindern. Denn einige Parteispitzen fürchteten, daß wir ihn dann eben alleine realisieren würden und damit den Wahlkampf beeinflussen könnten. Sie glaubten, daß sie an den Urnen einen Wahnsinns-Sieg erringen würden, und deshalb mußten die den Plan von so ein paar Verrückten durchkreuzen. Sie durchkreuzten ihn. Wir verschoben ihn auf das folgende Jahr, und um ihn durchzuführen, holten wir uns aus dem Schweizer Schießclub (Tiro Suizo) am 31. Juli die Gewehre.
F: Verlief die Aktion glatt?
Ein Lastwagen fiel um und die ganzen Gewehre
heraus. Wir mußten deshalb andere um Hilfe bitten, um ein paar Sachen zu verstecken. Schon nach wenigen Tagen waren statt der beiden ursprünglichen Gruppen, die die Aktion im Tiro Suizo gemacht hatten, drei oder vier Gruppen beteiligt. Die Polizei sammelte langsam Informationen und bekommt im September heraus, wer die Gewehre gestohlen hatte. Sendic und andere Genossen müssen abtauchen, und nun wird immer mehr Unterstützung von anderen Genossen nötig, und so wird der Coordinador geboren, aus dem später die MLN hervorgehen wird. Darin setzen sich Vertreter verschiedener kleiner Gruppen einmal wöchentlich zusammen, um über konkrete Dinge zu reden: Du hast das, bring mir das etc. und das bekommt schließlich eine eigene Dynamik und ein eigenes politisches Leben. Ende 63 beschließen wir, die Lastwagen der Supermarktkette Manzanares zu enteignen, um sie in den Elendsvierteln zu verteilen. Dies wurde im Coordinador geplant. Nachdem die Genossen der Tiro-Suizo-Aktion in den Untergrund mußten, wurde die Landbesetzung wiederum verschoben. F: 64 wird in Brasilien geputscht.
Und Uruguay quillt von brasilianischen
Flüchtlingen über, Brizola kommt her, um von hier aus den bewaffneten Kampf in Brasilien zu organisieren. Sie wollten von uns Waffen, Kontakte an der Grenze. Und wir unterstützten, wo wir konnten, wir holten Leute aus Brasilien raus und schleusten welche hinein. Und wieder gehen die Putschgerüchte in Uruguay herum, genährt von offenen Drohungen aus Brasilien. Es wird der Generalstreik diskutiert, und die Zuckerrohrarbeiter machen ihren zweiten Marsch nach Montevideo. Die Gewerkschaften gründen einen Dachverband, und über die Zuckerrohrarbeiter spielen wir dabei eine wichtige Rolle. 64 ist der Coordinador auf dem Höhepunkt; am Anfang war es nur darum gegangen, die brennenden praktischen Probleme nach dem Diebstahl der Gewehre aus dem Schweizer Schießclub zu lösen, danach mußte er das Leben im Untergrund von Sendic und anderen organisieren, und es wurden Dinge gemeinsam verwaltet, Gewehre usw. Eines Tages überfällt eine der Gruppen des Coordinadors an der Straßenkreuzung RiveraiArrascaeta eine Bank, ohne daß die restlichen Leute davon informiert wurden, am Überfall nahmen die Zuckerrohrarbeiter teil, die verhaftet werden. Eine erneute Niederlage!
F: Sie werden bei der Aktion verhaftet?
Am selben Tag, wo die gesamte uruguayische Gewerkschaftsbewegung auf den Beinen ist, um den Marsch der Zuckerrohrarbeiter zu unterstützen, werden die Führer ihrer Gewerkschaft bei einem Banküberfall verhaftet. Du kannst dir vorstellen, was für eine Aufregung dadurch entsteht, man hätte Balkone vermieten können. Und was das Faß zum überlaufen brachte: Der Coordinador tagte im selben Gebäude, wo unten die Bank überfallen wurde. Während oben beschlossen wurde, daß vor solchen Aktionen die übrigen Mitglieder informiert werden müssen, damit sie wenigstens entsprechende Sicherheitsvorkehrungen treffen können, wurde unten eine Bank ausgeräumt. Wir hatten auch über den Sinn diskutiert, ob wichtige Anführer von uns an solchen Aktionen teilnehmen sollten, denn Sendic hatte deshalb in den Untergrund gehen müssen, was der PS und anderen Genossen nicht geschmeckt hat. Sie argumentierten, daß er in der Legalität wichtiger sei. Wenn sich Sendic gestellt hätte, wäre er billig, wahrscheinlich ohne Knast davon gekommen, die Anklage lautete ja auf einfachen Diebstahl. Eine ganze Reihe von Anwälten hatten sich zu seiner Verteidigung bereit erklärt. Wir hatten darüber diskutiert, ob sich Sendic stellen sollte, und als entschieden wurde, daß er sich nicht stellen würde, trafen wir damit eine strategische Entscheidung. Es gab ernste Meinungsverschiedenheiten über diese Frage, und ein Teil des Kompromisses war die Übereinkunft, daß in Zukunft kein Gewerkschaftsfunktionär mehr an solchen gefährlichen Aktionen teilnehmen sollte. Und es war natürlich die Hölle, als nach diesem Abkommen genau die Bank überfallen wurde, wo der Coordinador eine Etage höher debattierte. In der Wohnung wohnte Violeta, die Companera von Sendic, der von dort aus den Überfall auf die Bank plante.
F: Viel Phantasie hatten sie aber nicht bei der
Auswahl des Objekts?
Etliche politische Kader und angesehene
Gewerkschaftsführer verlassen daraufhin den Coordinador für immer. Es kommt zur Spaltung, weil sie das nicht mit sich machen lassen wollten. Das Finanzproblem wird zu einem immer größeren Problem, den Exilierten muß geholfen werden, wir brauchen Gewehre, tausend Sachen. Es geht um praktische Notwendigkeiten, keine theoretischen Erwägungen, daß irgendjemand mit dem bewaffneten Kampf loslegen will. Im Gegenteil, wir hatten eine sehr defensive Haltung. Im selben Jahr noch planten wir eine riesige Aktion, mit der wir die gefangenen Zuckerrohrarbeiter befreien wollten, dafür mußten wir einen gesamten Zug besetzen. Aber statt die Gefangenen in dem für Gefangenentransporte vorgesehenen Zug nach Artigas zu bringen, benutzten sie einen anderen Zug, der über keinerlei Sicherheitsvorkehrungen verfügte. Sie setzten sie einfach zwischen die anderen Passagiere in einen ganz normalen Personenzug. Und unsere ganze Mühe war umsonst gewesen!
F: Hatte deine Gruppe zu dieser Zeit schon einen
Namen?
MAC -Bewegung für die Unterstützung der
Bauern. Der MAC war legal und arbeitete im Stadtteil La Teja. Wir haben in La Teja eine gute Stadtteilarbeit gemacht, haben Kinder-Zelten mit Kanu-Fahren veranstaltet, Wochenendausflüge, Volksküchen, Sportgruppen, Arbeitslosenzentren und eine Werkstatt für Agit-Prop. Wir haben die Leute politisch geschult, wir hatten über 60 feste Mitglieder, aber natürlich einen viel größeren Wirkungskreis. Von den Leuten hatten die wenigsten etwas mit den Illegalen zu tun. 1964 werden wegen Finanzaktionen mehrere Genossen verhaftet, Marenales, Manera, Sendic und Mujica.
F: Wann entstehen die Tupamaros als
Organisation?
Im ersten Kongreß und in dessen
Vorbereitungstreffen in Parque dei Plata 1965. Bereits Ende 64 war der Coordinador in einer tiefen Krise, alles geht zu Bruch, das hängt nicht mit der Repression zusammen, sondern mit internen Widersprüchen und dem Finanzproblem, das zur Verhaftung der Zuckerrohrarbeiter geführt hatte; dies geschah nach dem großen Aufschwung bis Mitte 64, einer Konsolidierung der Gruppen, eine technische Perfektionierung und einem Voranschreiten des Straßenkampfes. Aber auch nach zwei mißglückten Befreiungsaktionen der Gefangenen und der ganzen Verhaftungen. Auch in unserer Gruppe, dem MAC, kommt es aufgrund einer Auseinandersetzung über das Thema Terrorismus zu einer Krise. Ein Teil der Genossen glaubten, mit dem Bombenlegen die Probleme zu lösen. Ich war dagegen, ich empfand das als Entgleisung, die mit dem Scheitern und der Skepsis gegenüber der sozialen und politischen Arbeit an der Basis zusammenhing. Und es war ja so einfach, Bomben zu basteln, und welches publizistische Echo hatte ein Sprengkörper! Auch wir hatten einige Bomben aus Protest gelegt, aber das hatte einen taktisch-strategischen Hintergrund, obwohl wir in diesen Fällen auch beim Terrorismus landeten. Wir lehnten dieses Bombenlegen ab und wurden schließlich als feige und rückschrittlich beschimpft. Die gesamte Diskussion wurde eklig, sie wurde persönlich: Ihr scheißt euch in die Hose usw. Es waren Genossen im Knast, und der Rest stritt sich miteinander, und jede Gruppe gegen die eigene Führung. Es war eine totale Krise! Ich bekam eine Hepatitis, weil ich so verbittert war. Dabei hatten wir so toll gearbeitet, und plötzlich hatte sich die ganze interne Scheiße über uns ergossen, ohne daß wir das Finanzproblem hatten lösen können. Aus lauter Frust verkaufte ich alle Bücher, die ich hatte. F: Was haben denn deine Eltern zu dem ganzen Knatsch gesagt?
Sie wußten überhaupt nicht, wo der Hase lang
lief obwohl ich schon wegen des Diebstahls der Gewehre im Schweizer Schießclub verhaftet worden war. Sie waren immer noch davon überzeugt, daß ich mit alledem nichts zu tun hatte. Sie dachten sich wohl, daß ich meine Finger in irgend einer komischen Angelegenheit hätte, aber ich war auch immer irgendwie komisch gewesen, als Schürzenjäger, Glücksspieler, und auch als Boxer. Ich habe die Boxhandschuhe zu Hause versteckt, damit sie sich nicht unnötig aufregten, aber eines Tages erzählte eine Nachbarin meiner Mutter, daß sie einen Boxkampf von mir im Fernsehen gesehen habe.
F: Du warst zu diesem Zeitpunkt noch legal?
Total. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen
bringt, ist, daß der Coordinador einen letzten Versuch unternimmt, um die Einheit zu retten, es ging um eine Enteignung in einer Waffenhandlung, an der praktisch alle Gruppen teilnahmen. Die Operation verlief gut, und es fallen dabei eine Menge Waffen an, die an einem sehr guten Ort vergraben werden. Als sie 14 Tage später wieder ausgegraben werden sollen, sind sie weg! Alle Leute verdächtigten sich nun gegenseitig, sie machten bewaffnet Jagd aufeinander, es war wie in einem schlechten Theater! Es war offensichtlich, daß nicht die Polizei die Waffen gefunden hatte, weil auch das Versteck wieder sehr gut getarnt worden war. Die Krise war auf dem Höhepunkt. In dieser Zeit kommen alle Aktivitäten zum Stillstand, und das führt zu einer Periode der Reflexion und des Dialogs. Das Nichts-tun, die Reflexion, der Austausch von Ideen zeigt uns einen Weg, wo es lang gehen muß. Das Ideale wäre, eine neue Organisation zu gründen, denn die doppelte Mitgliedschaft hatte zu harten Problemen mit den Parteiführungen geführt. Die doppelte Mitgliedschaft funktionierte nicht. Wir bekamen die Sachen nicht unter einen Hut. Die Leute, die sich grundsätzlich einig waren, mußten eine neue Organisation gründen. Das lief alles im Jahr 65, im gleichen Jahr passierte der Zusammenbruch der Banken, die US-Invasion in der Dominikanischen Republik, der dritte Marsch der Zuckerrohrarbeiter, den der Coordinador organisiert hatte. Und dann werden die Notstandsgesetze verabschiedet.
F: Mit diesem Hintergrund wurde die MLN
geboren?
Wir hatten uns also in Parque dei Plata drei oder
vier Tage zusammengesetzt, weil wir uns für die Diskussionen Zeit nehmen wollten. Wir holten Bebe Sendic dazu, der gerade in Brasilien untergetaucht war, und auch die Zuckerrohrarbeiter der UTAA. Es kamen die Leitungen der verschiedenen Gruppen, aber auch einfache Gruppenmitglieder, und es kommt zu Spaltungen, eine ganze Reihe von Leuten ziehen sich -mit loyaler Haltung -zurück und sagen: Dem hier kann ich nicht zustimmen. Zum Schluß blieben nur diejenigen zurück, die für den Aufbau einer neuen Organisation waren, eine Organisation mit einer Disziplin, einer einheitlichen Führung und und und. Diese neue Organisation sollte für ihre Mitglieder zur Priorität vor jeder anderen Gruppe, Partei oder Gewerkschaft werden. Man vereinbart ein Statut für den Übergang und eine provisorische Leitung bis zum ersten Kongreß. Und man beschließt, alles Materielle wie Waffen, Dokumente, in einen Topf zu werfen. Das ist die Geburtsstunde der MLN.
F: Wieviele wart ihr?
Von Anfang 66 bis Ende des Jahres waren wir
nicht mehr als 50 im ganzen Land, 25 in Montevideo und 25 im Landesinneren. Zwischen Juni 65 bis Januar 66 fanden zwei parallele Prozesse statt, die Organisation perfektioniert sich und wird stärker, und andererseits mußten wir an theoretischen Fragen weiterarbeiten. Wir diskutierten über die pro-chinesische Linie und den Aufbau einer marxistisch-leninistischen Partei der Arbeiterklasse, und ob diese Partei der MIR sei und ob, wie der MIR dies vorschlug, wir uns alle in den MIR eingliedern sollten. Andere wollten mit der Mitgliedschaft in mehreren Organisationen weitermachen, also daß man weiterhin im MIR oder in der PS und zugleich in der Organisation sei, die wir gründeten, und meinten, daß wir der bewaffnete Arm der Linken sein sollten, eine Front. Die andere Position wollte eine ganz neue Organisation gründen, eine Bewegung, keine Partei, zusammengesetzt aus Militanten verschiedener Organisationen mit unterschiedlichen ideologischen Konzeptionen. Die Peking-treuen waren für eine einheitliche Ideologie vom Typ Mao, aber unter den Genossen waren auch MLer, die nicht Maoisten waren. Es gab Anarchisten, Autonome und Trotzkisten. Wir diskutierten alles gründlich durch, und schließlich hieß es, daß die zentrale Aufgabe der bewaffnete Kampf sei, der später als Achse für den Aufbau der Partei dienen würde, obwohl wir die Notwendigkeit einer Partei nicht ausdrücklich bejahten. Aber wir glaubten, daß es dort lang gehen würde. Diese Position gewann schließlich, und die Hälfte der Genossen verläßt den Saal, die Maoisten, die Sozialisten, und die Anarchisten hatten sich schon vorher zurückgezogen.
F: Wie habt ihr eure ersten Aufgaben bestimmt?
Es ging uns zunächst nicht um Rekrutierung von
Mitgliedern. Wir wollten uns und unsere Organisation gründlich auf die Zukunft vorbereiten und danach weiterschauen. Unsere These war der Kampf in der Stadt, denn der Staatsstreich war für uns eine Frage der Zeit. Wir glaubten, daß damals nicht die Stunde der großen Mobilisierung geschlagen habe, und daß wir Kräfte sammeln müßten. Damit verbrachten wir das Jahr 66.
F: 1966 war ein Wahljahr?
Ein Wahljahr und das Jahr der Verfassungsreform.
Sie drohten für den Fall eines Scheiterns der »Apfelsinen«-Reform mit einem Putsch. In Kuba tagten die Tricontinental, und die OLAS, die Lateinamerikanische Organisation für Solidarität, wird vorbereitet. In Argentinien spitzt sich die Situation unter dem Diktator Ongania immer mehr zu, und in Brasilien konsolidiert sich das Regime der Generäle. Und auch Uruguay strebt immer mehr auf eine Diktatur zu. Wir sagen: Wir müssen uns beeilen, damit wir nicht von der Geschichte eingeholt werden. Die Wahlen von 66 haben wir nicht beachtet. Wir enteigneten in der Wahlnacht die Waffenhandlung »EI Cazador« (Der Jäger). Nachdem ich in der Nacht an der Aktion teilgenommen hatte, ging ich morgens, ohne zu schlafen, zu Bebe Sendic, seine Companera Violeta hatte gerade den Sohn Jorgito geboren. Die Operation in der Waffenhandlung ist gut verlaufen, und in den frühen Morgenstunden fuhr ich auf einer Vespa zusammen mit einem Argentinier, der an der Aktion teilgenommen hatte. Wir tranken zum Frühstück einen Capuchino im Green Park am Obelisken, und im gleichen Gebäude hatte die Liste 99 ihr Parteibüro, wo davor ihre Autos standen. Und wir frühstückten in aller Ruhe nach vollbrachter Aktion. Wir sagten: Schau dir nur diese Spinner an! Ich ließ den Argentinier dort zurück und fuhr zum Bebe. Wir redeten über die Aktion, aßen, und als die Stunde der Siesta geschlagen hatte, fuhren wir in den Prado, wo Violeta mit dem Baby war. Wir haben dann im Radio das Wahlergebnis gehört, zugleich war die »Apfelsinen-Reform« durchgegangen, und Gestido war gewählt worden. Er war ein gemäßigter Colorado-Politiker gewesen, der in sein Kabinett Michelini aufnehmen würde, Alba Roballa, Flores Mora, Vasconcellos. Das sollte eine Art Sozialdemokratie werden.
Angesichts dieses Wahlergebnisses dachten wir:
Hier wird eine ganze Zeit gar nichts passieren, die Leute werden sich Reformen erhoffen, das System wird liberaler und progressiver werden, was sich zwar nach einigen Monaten verbrauchen wird, aber zunächst einmal werden die Leute auf die neue Regierung setzen. Wir machten mit unserer Vorbereitung in aller Ruhe weiter. Wir waren uns über unsere Größe bewußt, das heißt, daß wir sehr wenige waren, aber wir arbeiteten ernsthaft und systematisch. Wir hatten exzellente Verbindungen zu den anderen Gruppen der Linken, zu den Anarchos, den Maoisten, den Sozialisten. Wir diskutierten, machten Schulungen, bildeten uns technisch weiter, was wir dringend nötig hatten. Wir hatten ja immer noch keine Werkstatt für Papiere, und wir gründeten die erste Werkstatt für Sprengkörper. F: Aber unter Gestido als Präsidenten war dafür doch kein Platz.
Gestido ernennt Michelini zum Minister und
erarbeitet ein Notstandsprogramm, das wunderbar war, die Leute dachten, alles werde in Ordnung gehen. In dieser Landschaft wirkten wir völlig deplaziert, wie der Schnuller im Arschloch! Aber aufgrund unserer theoretischen Überzeugung glaubten wir, daß wir auf dem richtigen Weg waren, und daß, wenn wir das nicht vorbereiten würden, es niemand vorbereiten würde, wobei es o. k. war, daß die anderen mit ihren Sachen weitermachten. Wir intensivieren unsere internationalen Kontakte zu den Argentiniern und den Brasilianern, die uns bestätigten: Macht weiter so!
Die bisherigen Guerilla-Bewegungen seien fast
alle daran gescheitert, weil sie sich nicht rechtzeitig und nicht gut genug vorbereitet hatten.
F: Wir sind Ende 66 ...
Nach unserem ersten Kongreß unternahmen wir
eine riesige Finanzaktion, aber schon während der Anfahrt zum Objekt kommt es zu einer Schießerei, und zum ersten Mal werden sich die Sicherheitskräfte darüber bewußt, mit was für einer großen Organisation sie es eigentlich zu tun haben. Bis dahin hatten sie wenig klare Vorstellungen von einigen Gruppen, die ab und an mal eine Bombe legten oder einen kleinen Banküberfall unternahmen. Nach dieser Sache im Dezember 66 liegt unsere gesamte Infrastruktur auf, sie erfahren das Ausmaß unserer Organisation auch in technischer Hinsicht, was zum Beispiel die Erforschung der städtischen Kloaken angeht, und es bleibt nichts übrig. Mit großem Glück und Verstand bringen wir unsere Leute knapp in Sicherheit, bevor die Polizei kommt. In der Redaktion der Tageszeitung »Epoca« schleusen wir sie durch die Hintertür raus, während durch die Vordertür die Uniformierten reinkommen, wir lösen Büros auf und tauchen ab. Unser Problem war aber: Wir hatten keine Papiere für die Illegalen, deren Bilder alle Zeitungen veröffentlichten, Bebe Sendie, Beto Falero, Rivero, Manera, Marenales. Sie schliefen am Strand Carrasco mit den gesamten Waffen der Orga unterm Arm! Das war wirklich vollkommen verrückt. Aber dann half uns die politische Solidarität anderer Genossen aus der Patsche, nun konnten wir unsere Sachen und Leute wenigstens unterbringen. Wir waren ja auch ein merkwürdiger Haufen, im damaligen Uruguay völlig fehl am Platze. Die Leute, die uns halfen, traten dann später in die Organisation ein.
F: Wie gings weiter?
Im Januar 67 setzen wir uns erst mal ruhig hin
und strengen unsere Gehirnzellen an. Zunächst einmal mußte ja die Infrastruktur neu aufgebaut werden, und zum Glück waren noch einige Pesos aus alten Aktionen übrig geblieben. Und der nächste Punkt der Tagesordnung hieß: wachsen! Das war der einzige Ausweg, denn wir hatten überhaupt keine legalen Leute mehr, wir waren alle illegal, und ohne Wachstum der Organisation wären wir am Arsch! Viele Genossen, die uns aus der Klemme geholfen hatten, sagten: Ich habe dich versteckt, aber ich will auch politisch mitmachen. 1967 ist das Jahr des langsamen, aber stetigen Wachsens, und es gelingt uns, eine neue Infrastruktur aufzubauen. Aber die Repression schlägt wieder zu, und wir setzten daher auf eine Karte: Massive Rekrutierung!
F: Habt ihr das geschafft?
Ja, wir arbeiteten natürlich aus dem Untergrund
politisch, und das war ein qualitativer Unterschied. Am 8. Oktober 67 stirbt Che Guevara, und mit einem Schlag klopfen viele Leute an unsere Tür. Seine Ermordung stellte für uns einen affektiven Schlag dar und ein politisches Problem; es beginnen die strategischen Diskussionen. Am 9. Oktober werden die Notstandsgesetze verabschiedet (Medidas Prontas de Seguridad) und der Kontakt zum IWF wieder aufgenommen. Das war der Zeitpunkt, auf den wir uns vorbereitet hatten! Unsere These bestätigte sich. Einige Tage später stirbt der liberale Gestido, und Pacheco Areco übernimmt die Macht. Und mit ihm wird -bis auf die KP fast die gesamte uruguayische Linke illegalisiert. Sie müssen alle abtauchen, aber haben keine Ahnung, wie so etwas vor sich geht. Die MRO hielt damals die Fahne des bewaffneten Kampfes verbal hoch und veranstaltete gerade einen Kongreß für ihre Jugendorganisation, zu dem auch Delegierte aus Kuba erschienen waren. Das war im Dezember 67, als Pacheco plötzlich auch die MRO verbietet, und der Geheimdienst verhaftet die kubanischen Gäste. Die Schläge der Repression trafen die gesamte legalitätshörige Linke, die die OLAS-Erklärung (Lateinamerikanische Solidaritäts-Organisation) unterstützt hatten. Dies war uns total grotesk vorgekommen, einerseits öffentlich den bewaffneten Kampf zu propagieren und andererseits sich nicht auf ihn vorzubereiten. 1968 kommt ein weiterer Marsch der Zuckerrohrarbeiter, und nach der Regierungsübernahme von Pacheco wachsen wir massiv. Die Gesellschaft wird militarisiert, es passiert die "Infidencia".
F: Die Infidencia?
Der Vertrauensbruch von Jorge Battle. Das war
ein Skandal, bei dem riesige illegale Gewinne mit der vorher heimlich mitgeteilten Abwertung des Pesos gemacht wurden. Der Minister Acosta y Lara wird der Korruption überführt, und nicht nur er, danach kommen die Notstandsgesetze, die Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes werden militarisiert. Die Angestellten wurden aus den Ämtern rausgeholt und ihnen in den Kasernen der Kopf geschoren. Die Studenten gingen auf die Straße. Der Marsch der Zuckerrohrarbeiter am 1 . Mai 68 war eine riesige Mobilisierung, der schließlich in einer Straßenschlacht endete; das hatten wir alles organisiert. Wir hatten die Organisation bereits in zwei Kolonnen geteilt, die Kolonne 1 und 2. In der Kolonne 1 waren Bebe Sendic und ich, und in der zweiten Manera und Marenales, die auf technische und militärische Dinge spezialisiert waren. Wir trafen uns mit zahlreichen Gewerkschaftsführern, um die weitere Mobilisierung im Gewerkschafts-und Studenten Einzelgewerkschaftenbereich zu diskutieren und zu planen, und so entstand 68 die »kämpferische Tendenz« aus Gewerkschaftern, ganzen Betriebsgruppen und EinzeIgewerkschaften, die eine neue gewerkschaftliche Linie erarbeitet hatten. Dann wurden die Barrikaden wegen der Fahrpreiserhöhung gebaut, und vielleicht hatte das alles mit dem Pariser und Mexikanischen Mai 68 zu tun. Auch hier explodierte die Studentenrebellion. Und wir wuchsen immer mehr, und schließlich wird Liber Arce von der Polizei erschossen. Und wieder spielen wir bei den Demonstrationen die Hauptrolle.
F: Habt ihr euch selbst als Avantgarde
verstanden?
Überhaupt nicht. In jeder Diskussion auf
Leitungsebene stellten wir damals fest, daß uns die Realität bei weitem überholte, daß unsere Organisation zur Nachhut der Volksbewegung würde. Mich regt das auf, wenn man uns vorhält: Ihr wart eine Avantgarde! Quatsch! Wir spürten aber die Forderungen der Studenten-und Gewerkschaftsbewegung; die Streiks wurden zusammengeschlagen, sie schleppten sie in die Kasernen, und die Genossen forderten von uns Solidarität: Hilfe, macht was! Wir haben keine Antworten auf die Repression, sie dreschen uns zusammen, schleppen uns in die Kasernen, sie zwingen uns in den Untergrund! Es herrschte absolute Willkür, der die herkömmlichen Antworten nichts entgegensetzen konnten. In Realität waren wir nichts anderes als die Nachhut der Bewegung, die auf der Straße kämpfte. Wir dezentralisierten die Organisation und gründeten 7 Kolonnen, um mehr Genossen für die konkreten Aktionen zur Verfügung zu haben, um zu wachsen und die Operationskapazität voranzutreiben.
F: 68 findet der zweite Kongreß der MLN statt?
Ja, aber zuerst war eine gründliche Selbstkritik
angesagt. Es wurde eine Führung gewählt und die Linie der Massenarbeit diskutiert sowie die Bildung der sieben Kolonnen.
F: In diesem Jahr entführt ihr den Colorado-
Politiker Pereyra Reverbel.
Die Aktion war ein großer politischer Erfolg, aber
unsere Organisation war, ehrlich gesagt, nicht genügend vorbereitet; unsere Infrastruktur konnte eine Aktion dieser Größenordnung nicht verdauen. Die Repression schlägt wieder zu, wieder sehr hart, und uns fehlen fast die Leute, um die sieben Kolonnen zu bilden. Wir müssen Kader erfinden, bis hin zu einer Führung. Es erscheint unser Dokument Nr. 4 mit der zentralen Aussage, daß wir den Akzent auf die Massenarbeit legen müßten (»jugar la carta de las masas"), daß wir uns nicht auf einen Krieg zwischen zwei Apparaten einlassen dürften, das wäre unser sicherer Tod, denn die Kapazität des Feindes, uns Schläge zu versetzen, ist größer als unsere Kraft, uns von ihnen zu erholen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die MLN eine gute Strategie, später wird sie teilweise vernachlässigt, die Kolonnen werden nicht dieselbe Schlagkraft haben, sondern ungleichgewichtig strukturiert sein, einige werden mehr Gewicht auf das Politische legen, andere auf das Militärische. Den Akzent auf die Massenarbeit zu legen bedeutete, sich zu verankern. Das Land durchlebte gerade eine Periode zunehmender Radikalisierung gro- ßer Teile der Bevölkerung. Wir wuchsen im studentischen und im Gewerkschaftsbereich, ganze Gruppen sind bei uns eingetreten, wir mußten die Leute nicht erst von unseren Vorstellungen überzeugen, sie kamen schon überzeugt zu uns. 1968 und 69 machten wir mit den Entführungen weiter, die Entführung des Eigentümers der Zeitung "Maiiana« im Januar 69 war eng mit dem Betriebskampf verbunden, ebenso wie es die Entführung von Pereyra Reverbel gewesen war.
F: 1969 besetzt ihr eine ganze Stadt, Pando.
Auf militärischem Gebiet ist das ein qualitativer
Sprung. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir stets mit kleinen Kontingenten von Genossen operiert, mit der Besetzung von Pando eröffnet sich uns eine neue militärische Dimension. Aufgrund taktischer Fehler scheitert der Rückzug, die Operation hätte abgebrochen werden müssen, nachdem sich schon am Anfang eine nicht eingeplante Schießerei ereignet hatte, dadurch verloren wir Zeit, und der Feind konnte uns den Weg zurück abschneiden, so daß fast die Hälfte der Genossen verhaftet wurden. Als wir einige Jahre später die Stadt Soca besetzten, werteten wir die Erfahrungen von Pando aus und gingen mit einer erfolgreicheren Konzeption vor. Ich wurde in Pando verhaftet, und ab diesem Zeitpunkt beschränkt sich meine Aktivität als MLN-Mitglied auf den Knast. Draußen war es nicht mehr wie früher, als wir nur Schläge ausgeteilt, aber nie eingesteckt hatten. Nun teilten wir welche aus und steckten welche ein. Das beste Beispiel hierfür ist die zweite Entführung von Pereyra Reverbel, wo wir am Morgen eine harte Niederlage mit der Verhaftung aller Genossen in der besetzten Fabrik "Nibo Plast« erlitten und wenige Stunden später entführten wir -reif fürs Kino -das zweite Mal den Chef der Elektrizitätswerke.
F: Warum habt ihr ihn das zweite Mal entführt?
Aus pädagogischen Gründen?
Auch das! Als wir ihn nach der ersten Entführung
freigelassen hatten, machte er haarsträubende Erklärungen gegen uns und die Arbeiterklasse. Er verdiente eine nochmalige Entführung, die bis Mai 72 dauerte, fast anderthalb Jahre.
F: Du warst in der Zeit gefangen?
Ja, und dort wurden die groben Linien der
Organisation ausgearbeitet, die draußen zum Teil schlechter umgesetzt wurden, als wir uns das in der ruhigen Atmosphäre des Gefängnisses theoretisch vorstellen konnten. Das beste Beispiel hierfür ist der Plan »Satan«, der schließlich zum Tode von Mitrione führte und zur Verhaftung unserer gesamten Leitung 1970 in der Almeria-Straße.
F: Satan war der Entführungs-Plan, dessen Teil
das Kidnapping des US-Folterspezialisten Dan Mitrione war -nacherzählt in dem Film »Der unsichtbare Aufstand«?
Ja, aber der ursprüngliche Plan, wie wir ihn im
Gefängnis von Punta Carretas erarbeitet hatten, sah völlig anders aus, nicht so, wie er später umgesetzt wurde. Es war ein langfristiger Plan. Wir gingen davon aus, daß das Thema der Befreiung der politischen Gefangenen von der Organisation in einen langatmigen Kampf umgesetzt werden müßte, der -zusammen mit den Volkskämpfen -die Pacheco-Regierung destabilisieren und besiegen sollte. Unserer Meinung nach hätte zunächst im ganzen Land eine Infrastruktur der Volksgefängnisse entstehen müssen, danach hätten wir mit den Entführungen von Richtern und Politikern beginnen müssen. Wenn die Sicherheitskräfte ihre Kraft auf den Schutz dieser Leute verwenden würden, dann müßten wir mit Diplomaten weitermachen. Und wenn die Diplomaten massiven Polizeischutz bekommen würden, dann gingen wir wieder auf die Politiker über. Alles ohne Eile und ohne Forderungen zu stellen. Die anderen sollten sich den Kopf darüber zerbrechen, was wir wohl vorhätten! Natürlich würde die Polizei und das Militär alles mögliche versuchen, um die Entführten zu lokalisieren und zu befreien. Und das war ein Knackpunkt unserer Theorie, wir müßten beweisen, daß sie sie niemals finden könnten, daß sie unauftreibbar wären. Erst danach könnten wir die Befreiung der politischen Gefangenen fordern, aber nicht nur von der Regierung, sondern vom Parlament über ein Amnestiegesetz, vom Obersten Gerichtshof über die Begnadigung und von der Regierung über Strafaussetzung -von allen drei Institutionen des Staates, und ohne ein Ultimatum zu setzen! So wollten wir vermeiden, daß sich irgendein Politiker oder Abgeordneter oder Richter oder Regierungsmitglied seine Hände in Unschuld waschen und sich auf den bequemen Standpunkt stellen könnte, dies alles sei nur ein Problem von Pacheco. Das war der ursprüngliche Plan, aber die damalige Leitung der MLN stellte trotzdem eine Frist, was uns im Gefängnis irrsinnig erstaunte, denn in unseren Augen war dies sehr gefährlich. Unsere Konzeption hatte nicht die Befreiung der Gefangenen, sondern die Krise der Regierung im Auge, wir wollten beweisen, daß diese Regierung unfähig sei, die Ordnung im Lande aufrecht zu erhalten und nicht die Sicherheit der Abgeordneten, der Unternehmen und der Diplomaten garantieren konnte. Nachdem ein Ultimatum gesetzt und die Freiheit aller Gefangenen gefordert worden war, wurde das ganze zu einer Schlacht der schnellen Entscheidung. Sie endete objektiv in einer Tragödie und einer Niederlage, als sie in der Almeria-Straße die Führung der MLN verhafteten, und später folgten weitere Schläge. Um Mitrione hinzurichten, erlitten wir schreckliche Schläge.
F: Mitrione zu töten: Was das ein Irrtum oder
sinnvoll?
Es gab damals keinen anderen Ausweg. Der
Irrtum wurde nicht im Moment der Hinrichtung begangen, sondern indem man ein Ultimatum gestellt hatte, dadurch wurde von Pacheco eine große Last weggenommen.
F: Ist mit Plan "Gacao« dasselbe passiert?
Auch er entstand, nach der Niederlage des Plans
»Satan«, im Knast. Wir wollten damit den militärischen Kampf durch die Sabotage intensivieren. Wir wollten direkte Zusammenstöße mit der Polizei vermeiden und boten parallel dazu einen Waffenstillstand auf der Basis von sieben Punkten an. Das heißt: auf der einen Seite eine harte militärische Linie und auf der anderen Seite eine weiche Politik der Verhandlung, um die Regierung in die Sackgasse zu treiben. Dieser Plan wird schlecht umgesetzt und sehr schnell gestoppt. Aus dem Gefängnis heraus und in Hinblick auf die Massenarbeit erarbeiteten wir daraufhin die Idee der CAT, der Unterstützungskomitees der Tupamaros. Es sollten sich spontane Gruppen bilden, die nicht von der MLN kontrolliert werden sollten, sondern uns eigenständig helfen sollten. Wir wollten auf diese Komitees durch Flugblätter und Kommuniqués Einfluß nehmen, aber nicht, indem wir sie direkt über einen politischen Delegierten oder eine Kolonne dominierten. Die CAT sollten spontane und eigenständige Zweige der MLN sein, in den Dörfern, im Gefängnis, in den Stadtteilen, in den Städten -jeder, der eine CAT gründen wollte, sollte dies tun können. Die MLN sollte nur die Linie vorgeben und zu bestimmten Dingen anregen, zum Beispiel bestimmte Dinge anzugreifen und sich mit einer konkreten Sache zu solidarisieren, Parolen auf Flugblättern oder Wänden zu verbreiten, aber ihnen einen eigenen Handlungsspielraum lassen. Diese Idee wurde teilweise realisiert, aber schließlich wurden die CAT nur zu einer Eingangsinstanz für die MLN, und unsere ursprüngliche Idee wurde kastriert und zu einer Karikatur gemacht. Die CAT wurde schließlich zu einer logistischen Unterstützung der militärischen Kolonnen, während wir die CAT für die Propaganda und die soziale und politische Arbeit wollten. Gewiß, sie sollte im Untergrund arbeiten, aber im Untergrund des Volkes.
F: Wir sind jetzt im Jahr 70/71.
Wir gründeten die politische Kolonne »70«, die
internationale Kommission und begannen mit einer Unterstützungskampagne der Frente Amplio, die noch im Embryo-Zustand war. Wir gründeten in den ersten Monaten des Jahres 71 die »Bewegung 26. März«, die Mit-Gründerin der Frente Amplio wurde. Als dann 71 der Wahlkampf losging, war der MLN bereits die Strategie ausgegangen, es gab den »Plan Satan«, den »Plan Cacao«, dann den »Plan Aufschwung« (Remonte) und den »Plan Belästigen« (hostigamiento). Danach kam der Plan über die beiden Ebenen der Macht (dualidad de poderes) -aber das waren alles taktische Pläne. Eine bestimmte Verankerung der MLN im Volk, das heißt: die Karte der Masse spielen, erreichte die 70-Kolonne mit der Bewegung 26. März, den CAT (den Komitees zur Unterstützung der Tupas) und mit der Unterstützung der Frente Amplio, aber auf militärischem Gebiet begannen wir, ernsthafte Mängel aufzuweisen. Aber ich habe eine sehr spezielle, private Sicht der Kritik, die in punkto Massenarbeit immer an der MLN geleistet wird. Ich glaube, wo die MLN wirklich ernsthafte Mängel aufwies, war im militärischen Bereich und nicht in der Massenarbeit. Zwei oder drei Jahre lang hatten wir im politischen Leben Uruguays riesigen Einfluß, wir hatten ein Radio, eine Zeitung, eine Zeitschrift -welche andere Organisation kann von sich behaupten, in der gleichen Zeit eine derartige Entwicklung durchlebt zu haben? Viele Sachen unterschrieben wir nicht mit unserem Namen, wir hatten Kontakte mit fast allen politischen Kräften des Landes und spielten innerhalb der Frente Amplio eine vorherrschende Rolle, nicht nur über die »Bewegung 26. März«, sondern auch über Verbündete und eine intelligente Bündnispolitik mit Zelmar Michelini von der Liste 99, mit Alba Roballa, dem alten Enrique Erro -unsere Ideen standen auf der Tagesordnung.
F: Pascal Allende hat mir in einem Interview
etwas sehr ähnliches gesagt, daß es für eine Guerilla sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich sei, länger als zwei oder drei Jahre durchzuhalten, danach sind die menschlichen Kosten, die dir die Repression zufügt, sehr hoch und auch militärisch hältst du nicht länger die Stellung.
Ich würde gerne mit ihm diskutieren. Das
Problem war, daß es so schwierig war, innerhalb der MLN ab einem bestimmten Zeitpunkt die Mentalität zu ändern. Die »Bewegung 26. März« war wunderbar, mit einer Spontaneität, Frische und einer irrsinnigen politischen Qualität. Die Dynamik der Basiskomitees der Frente Amplio, die heute noch als Mythos besteht und von der man immer noch träumt, war der Arbeit der »Bewegung 26. März« zu verdanken, die ganze politische Arbeit blühte in den Stadtteilen und in den Betrieben. In den Gewerkschaften hatten wir viele Leute. Die politische Arbeit lief gut, aber die Mängel waren offensichtlich auf militärischem Gebiet. Dies zeigt sich mit aller Brutalität im Jahr 71 , als Uruguay »guatemalisiert« wird.
F: Als die Todesschwadron ihre Arbeit aufnimmt?
Ja, der erste Verschwundene ist Castagneto. Wir
sagten: Das ist ihre Antwort, sie vergiften die Umgebung, in der wir uns bewegen, sie schlagen auf die »Bewegung 26. März« und auf die entlassenen Genossen wie Castagneto.
F: Statt die Fische zu töten, vergifteten sie das
Wasser?
Genau. Die paramilitärischen Einheiten legten
Bomben und begannen, die Zivilbevölkerung, die sich in unserer Nähe aufhielt, zu terrorisieren, unsere Familienangehörigen, unsere Anwälte, die entlassenen MLN-Genossen, die Leute, von denen sie wußten, daß sie Tupas waren, aber wo sie keine juristischen Beweise hatten. Wir entwarfen daraufhin eine ganze Reihe neuer Pläne, den "Plan Collar«, den »Plan Tatu« , den »Plan Kloake«, den »Plan Nashorn« -sie alle sollten den Charakter der Stadtguerilla grundsätzlich ändern. Der Nashorn-Plan ...
F: ... ein Plan, der einen Massen-Aufstand
militärisch begleiten sollte ...
... war eine Arbeitshypothese, die die Köpfe der
Genossen verändern sollte, damit sie bei militärischen Planungen auch an die Zukunft denken sollten. Wir entwarfen eine Art Kriegsführungen am grünen Tisch am Beispiel, was die Besetzung von Pando von einer Besetzung der Stadt Montevideo unterscheiden würde. Was würde dies vom militärischen Standpunkt aus bedeuten, was die Menschen angeht, die du dafür brauchst, die Logistik, die Bewaffnung und die politischen Rahmenbedingungen? Das Problem ist: Wie verwandelst du eine Guerilla in ein Heer, das in der Stadt operiert? Alle Guerillas haben sich zu einem bestimmten Zeitpunkt in reguläre Armeen verwandelt, wenn nicht, scheiterten sie! Das ist ein Gesetz! Das würde ich gerne mit Pascal diskutieren. Stell dir das nur mal vor: Eines nachts würde eine Guerilla wie die MLN den Befehl erhalten, sich alle im Roosevelt-Park zu versammeln, die Konspirativität würde an den Nagel gehängt werden, es gäbe nicht mehr die kleinen Gruppen, die im Untergrund arbeiten, wir würden alle Tupamaros im Roosevelt-Park in Kolonnen organisieren und von dort aus losmarschieren, in Autos, Lastwagen, Jeeps, mit schwerer Bewaffnung, und so würden wir zum Angriff auf militärische Ziele im konventionellen Krieg übergehen. Laß uns ganze Gebiete besetzen, Stadtteile verteidigen, laß uns den Feind und die Todesschwadron im konventionellen Krieg bekämpfen, und dann können sie sich die Folter in den Arsch schieben. Nicht mehr an die Entführung eines Satans denken, sondern an die Entführung des gesamten diplomatischen Corps, an die Besetzung der »Bank der Republik«. Das ändert die Sache qualitativ!
F: Du hast gesagt, daß ihr saht oder fürchtetet,
daß der MLN die Strategie ausgehen würde. Warum? Weil ein strategischer Plan taktisch umgesetzt wurde?
Genau. Auch wenn es keine ausgefeilte Strategie
gegeben hatte, so hatte es doch Ideen gegeben. Aber die Genossen draußen machten von ihnen auf die gleiche Art Gebrauch wie von der Idee der CAT (Komitees zur Unterstützung der Tupamaros), sie verstümmelten sie und beraubten sie ihres Inhaltes, der auf dem Volk basierte. Draußen setzten sie sich nicht mit derselben Ruhe und Ernsthaftigkeit wie wir im Knast zusammen, um nachzudenken, draußen dachte man kurzfristig.
F: Ihr seid dann mit dem langen Tunnel in der
Massenflucht im September 71 aus Punta Carretas ausgebrochen; im November des gleichen Jahres waren die Wahlen.
Es gab Angst vor einem Putsch, für den Fall, daß
die Frente Amplio gewinnen würde. In dieser Situation entstand in Absprache mit anderen Parteien der "Plan Chuchumeco«, ein Plan, wie auf den Putsch zu reagieren sei. Vom militärischen Standpunkt aus war der Plan recht gut, er schloß die Besetzung der Luftwaffenbasis Nr. 1 ein, wo Offiziere tätig waren, die mit der Frente Amplio sympathisierten. Der MLN fiel die Aufgabe zu, die Zugangswege der zur Verstärkung nachrückenden Truppen abzuschneiden. Ich war vorher in dem Gebiet der Badeorte aktiv und deshalb erteilte man mir den Befehl, alle Militärkonvois aufzuhalten, die auf der Interbalnearia, der Küstenstraße, nach Montevideo vorstoßen wollten. Wir hatten bereits zahlreiche unterirdische Verstecke (tatuceros) und Treibstofflager, um als Guerilla in dem Gebiet zu arbeiten. Aber wir hatten weder ausreichende Waffen noch Munition, um einer Schießerei von mehr als fünf Minuten stand zu halten. Wir forderten Sprengstoff an, aber wir bekamen lediglich Material, um einen Sprengsatz für die Brücke über den Pando-Fluß in die Luft zu jagen. Wir forderten Krähenfüße an, aber wenn du eine Landstraße damit bestücken willst, mußt du sie kilometerweise bestücken. Die MLN wurde mit der Planung dieser historischen Aufgabe von der Geschichte und konkret von Teilen der Frente Amplio beauftragt -als Reaktion für den Fall, daß es zu einem Staatsstreich käme. Aber die MLN war noch nicht einmal ansatzweise in der Lage, dieser Aufgabe gerecht zu werden. Eine ganze Anzahl von Illegalen betrieb in Uruguay Selbstbefriedigung statt im Ausland zu trainieren, wie man mit Panzern umgeht, zu lernen, wie man Kommunikationstechniken einsetzt und der Basis vorsichtig die militärische Thematik beibringt.
F: Warum ließ sich denn die Niederlage auf
militärischem Gebiet nicht verhindern?
Weil wir nicht rechtzeitig eine Strategie
ausgearbeitet haben, deshalb saßen wir zum Schluß ohne Strategie da. Man weigerte sich, dieses Thema zu diskutieren, man sagte: Schon wieder dieser Verrückte mit seinen ewigen Theorien, immer diese napoleonischen Pläne von Nato! Laßt ihn ruhig reden, aber nehmt ihn nicht ernst. Die Jungs von der Kolonne 15 machen konkrete Aktionen, die es bringen, das ist der Weg. Ich war mit der Besetzung der Stadt Soca nicht einverstanden, weil ich keinen Sinn darin sah; ich habe aus Disziplin daran teilgenommen. Wenn wir die Kraft für die Besetzung hatten, so wäre es besser gewesen, mit diesem Wissen zu schweigen und nicht zu besetzen. Die Besetzung hatte eine politisch-militärisch~ Funktion, kannst du dir das vorstellen? Das alles mit einer Regierung von Bordaberry! Es war so offensichtlich, daß wir keine Strategie mehr hatten. Du sprachst die damalige Führung darauf an, aber sie verschlossen einfach die Augen, sie sahen das nicht so, sondern machten weiter wie gehabt. Dazu fällt mir ein aktuelles Beispiel ein: Ein Genosse, Jorge Torres, hat gerade ein internes Handbuch über die Folter verlaßt und mir ein Exemplar zum Durchlesen gegeben. Ich habe ihm zurückgeschrieben: Du hast eine Handlungsanleitung für einen Kamikaze geschrieben, wenn das ein Jugendlicher in die Hände kriegt, glaubt er, daß seine einzige Zukunftsperspektive darin besteht, sich schon beizeiten abzuhärten und sich zu Hause auf die Folter vorzubereiten, sich einen Trog aufzustellen und sich Elektroschocks zu verpassen. Man soll also schon heute zu einem Fakir werden, der auf dem Feuer wandelt, weil man dich früher oder später zu Klump hauen wird. Und das Wichtigste sei, hart zu bleiben, nicht schwach zu werden. Die Folter besiegt man nicht durch eine bestimmte Atemtechnik, sondern vor allem militärisch. Wenn in allen uruguayischen Kasernen gefoltert wird und die Militärs dabei ruhig Mate trinken können, dann werden wir das mit diesem Handbuch nicht verhindern. Man muß diese Kasernen bombardieren. Dann wollen wir doch mal sehen, ob sie so einfach weiterfoltern können.
F: Wie wäre denn damals die Niederlage zu
verhindern gewesen?
Man hätte die Mentalität ändern müssen, mit
diesen kleinen Gruppen aufhören müssen, sondern die militärischen Probleme im großen Maßstab ins Auge fassen müssen. Als Hypothese: Um die notwendige Menge an Krähenfüßen aufzutreiben, die du für die Besetzung von Montevideo brauchst, mußt du mit der Unterstützung der Arbeiterklasse rechnen können, mit den Fabriken, den Arbeitern und der Bevölkerung. Es war nicht mehr möglich, sie mit unseren Methoden und Mechanismen zu rekrutieren und zu mobilisieren, denn das wäre ein Versuch gewesen, das Meer in einen Eimer zu gießen. Man hätte die Mentalität ändern müssen. Nicht mehr die Kämpfer einzeln aus den radikalisierten Gruppen der Linken rekrutieren und sie uns einzuverleiben, um die Ausfälle zu stopfen, die jede Guerilla erleidet, sondern die Kämpfer hätten die mobilisierte Bevölkerung sein müssen. Das hätte kurzfristig durchaus einen Rückzug der Organisation von militärischen Aktionen bedeuten können und sogar einen Abzug der Kämpfer aus dem Land, um sie an einem sicheren Ort für die neue Mentalität und die neue militärische Konzeption vorzubereiten. Das wäre der Organisation gut bekommen, einige Leute abzuziehen und die Infrastruktur solider zu gestalten. Die kubanischer Guerilla hätte niemals historische Bedeutung erlangt, wenn sie in der Sierra Maestra geblieben wäre. Vielleicht wäre sie heute noch in der Sierra Maestra, so wie die kolumbianische Guerilla seit 30 Jahren in den Bergen bleibt, ohne daß es zu einer sozialen Explosion gekommen ist, die es in Kuba gegeben hat, als Fidel Castro mit großem Weitblick seine Guerilla in eine Volksarmee verwandelt hat, um den Aufstand der Massen flankierend zu begleiten. Dasselbe ist in Nikaragua passiert. In China wandelte sich die Guerilla in ein Heer mit befreiten Gebieten, und von einem Heer zurück in eine Guerilla -je nach dem nationalen und vor allem internationalen Kräfteverhältnis. Als die Japaner im Rahmen der faschistischen Generaloffensive einfielen, traten alle Leute der Guerilla bei und machten Bündnispolitik. Als die Japaner geschlagen waren, wird aus der Guerilla wieder eine Armee, die schließlich den entscheidenden Schlag versetzt. In EI Salvador ist eine Patt-Situation mit befreiten Gebieten. Auch der Knast, wo die FMLN Genossen gefangen sind, ist fast befreites Gebiet, innerhalb der Gefängnismauern regieren die Genossen, drinnen gibt es keine Wächter. Wie anders sah doch der Knast von Libertad aus! Wie verschieden ist doch eine Niederlage im Vergleich zu einem Patt! Die FMLN hat ja auch Gefangene der anderen Seite. Bei ihr handelt es sich wirklich um eine parallele Macht!
F: Glaubst du, daß diese parallele Macht
(dualidad de poderes) eine Alternative zu den im Handbuch von Torres benannten Methoden sein könnte?
Die Techniken, die das »Handbuch des Fakirs«
lehrt, sind ja an sich nicht schlecht; wir haben ja viele derartige Handlungsanweisungen zum Thema, wie sich die Genossen im Verhör zu verhalten haben. Das Fakir-Handbuch beschreibt, was du zu tun hast, wenn sie dich mit dem U- Boot foltern, also deinen Kopf solange unter Wasser halten, bis du keine Luft mehr bekommst. Es erteilt dir Ratschläge, wie du dich bei Elektroschocks zu verhalten hast. Das ist so, als ob die Linke, statt den historischen Materialismus, physische Überlebensstrategien studieren soll. Und die Sache hat einen zweiten Boden: Du prophezeist dem politisch Aktiven, daß man ihn ungestraft foltern wird. Aber du müßtest in einem Handbuch doch erst einmal erklären, warum die Militärs tausende Uruguayer auf industrielle Weise der Folter unterwerfen konnten. Die Folter war systematisch, den Genossen der KP wurde sie wie an einem Fließband verpaßt. Die Kommunisten wurden in der Tablada-Kaserne gefoltert, dabei kann einem wirklich der Schauer über den Rücken laufen, es ist schlimmer als das, was sie mit uns gemacht haben. Als sie uns 72 fertig gemacht haben, war die Folter brutal, aber ohne ausgearbeiteten Plan; sie brachten Genossen in der Folter um, weil sie mit persönlichem Einsatz folterten, sie hatten Wut auf uns, sie nahmen die Kapuze hoch und sagten: Schau her, ich bins, ich foltere dich gerade. Dabei gings drunter und drüber. Als sie beschlossen, die KP aufzulösen, planten sie dies Monate im voraus, mit einem Plan, der die massive Folter einschloß. Sie hatten die Mitgliederliste, soundsoviele eingeschriebene KP- Mitglieder. Um soundsoviele Personen durch die Folterkammer zu schleusen, hatten sie eine genaue Berechnung: Wir brauchen dafür soundsoviele Fässer für das U-Boot, um die Köpfe der Genossen reinzustecken, soundsoviele Folterkammern, soundsoviel Elektrizität für die Elektroschocks, sie legten rechtzeitig die Hochspannungsleitungen, damit es keine Kurzschlüsse wegen der Strombelastung gab. Sie konnten aufgrund ihrer Erfahrungen sogar den Prozentsatz der Gefangenen berechnen, der in der Folter schwach werden würde, von hundert Genossen werden zwanzig sehr viel aussagen, soundsoviel werden ein bißchen erzählen, und soundsoviele werden standhaft bleiben. Sie konnten den Prozentsatz der nicht-gewollten Tode vorausplanen. La Tablada funktionierte wie ein Krankenhaus, mit der gleichen Sterilität, alle, die dort waren, verhielten sich wie im Krankenhaus, die Ärzte, die Folterer, die Soldaten -alle trugen dieselben Schuhe und dieselben Kleider. Sie hatten die Gefangenen auf einem Bettrost festgebunden und ihnen eine bestimmte Anzahl von Stunden Elektroschocks verpaßt, dann hieß es automatisch: Runter mit ihm, er kann sich jetzt erholen, dann stand schon der Krankenpfleger bereit, und man legte das Opfer in ein Bett, alles ganz ordentlich und geplant, mit Kapuze -dabei gab es kein Durcheinander. Soundsoviel Stunden später warst du dann wieder mit der Folter dran, und keine Minute später. Und die Typen waren schon so gelangweilt, daß sie sich untereinander unterhielten, während sie Elektroschocks austeilten, so vielen Leuten, von denen sie zu diesem Zeitpunkt schon gar nicht mehr wußten, wer sie eigentlich waren, die Nummer 46, und dabei unterhielten sie sich über Fußball und fragten: »Wo gehst du heute Abend mit deiner Frau essen?«, »Nein, heute Abend bleiben wir zu Hause«. Und du schriest dabei, und plötzlich fühlten sie sich durch deine Schreie bei ihrer Unterhaltung belästigt, und sie sagten dir: »He du, schrei nicht so laut, bitte.« Und dann setzten sie ihre Folter fort.
F: Hatten sie denn mit dieser
»Fleischverarbeitung« Erfolg?
Sie erreichten ihr gestecktes Ziel: die
Liquidierung der KP. Aber sie konnten sich nur wegen der totalen militärischen Niederlage so verhalten. Der Folter wird nicht hauptsächlich durch die Standfestigkeit der Genossen Einhalt geboten, sondern durch einen Angriff auf La Tablada und auf die Folterer! Du kannst die Folter nicht besiegen, auch weil es sich dabei um ein statistisches Problem handelt. Außerdem: Wenn ein Genosse hart bleibt, dann foltern sie seine Familienangehörigen, das Wasser, in dem er sich bewegt.
F: Laß uns den historischen Teil abschließen und
zum aktuellen übergehen. Du sagtest, daß die MLN aufgrund der geopolitischen Situation und der alten Erfahrung, die auch anders hätte enden können, möglicherweise zur Nachhut wird.
Was damals geschehen ist, ist nicht zu
wiederholen. Aber unter dem Strich bleibt etwas Positives: daß die Massen zum ersten Mal in der Linken aufgingen. Die Linke der sechziger Jahre hat das Volk nicht auf die Straße gebracht, sie war zahlenmäßig sehr gering. Heute demonstrieren Hunderttausende am 1. Mai, es gibt ein reales anti-militaristisches Bewußtsein im Volk, das aufgrund einer gemachten Erfahrung beruht. Dieses Bewußtsein kannst du auch nicht durch Schlagstock-Hiebe herausprügeln, im Gegenteil. Wenn die Linke damit nicht arbeitet, dann liegt das an ihrer eigenen Krise. Der Feind hat ja in den ganzen Jahren sehr viel gelernt.
F: Nicht nur im militärischen Bereich, auch im
politischen. In den ganzen Jahren waren ja vor allem auch die Geheimdienste nicht untätig.
Der Feind versteht es inzwischen ausgezeichnet,
wie die Landguerilla und die Stadtguerilla der sechziger Jahre zu bekämpfen sind. Er hat auch aus Europa ausgefeilte Techniken der Aufstandsbekämpfung übernommen, er beherrscht die Technik der Neutralisierung, wie zum Beispiel in Kolumbien. Und in Nikaragua hat er gelernt, wie man ein Land einschnürt, ohne sich die Hände dabei schmutzig zu machen. Das kommt ihn billiger, es gibt dabei keine Toten, keine Leichen von jungen Nordamerikanern, die aus Vietnam zurückkehren und die heimische Front anheizen. Für Uruguay bedeutet das, daß die alte Tupa- These von der Kontinentalität des Kampfes immer größere Bedeutung erhält. Dieses Ländle mit seinen drei Millionen Einwohnern ist doch eher ein Vorort von Sao Paulo, ein Außenbezirk von Buenos Aires. Wir können eine Revolution nicht auf die Geographie von Uruguay beschränken. Auch der Feind hat in der Stunde der Repression international koordiniert, da haben sie Landesgrenzen keinen Deut mehr interessiert. Der Norden des brasilianischen Bundesstaates Rio Grande do Sul ist eine konfliktreiche Gegend mit seinen Landkonflikten, allein die Stadt Porto Alegre hat mit ihren drei Millionen Einwohnern genauso viel wie Uruguay insgesamt. Wie kann ich da noch in Größenordnungen wie den Zuckerrohrarbeitern der UTAA denken?
F: Nehmt ihr auch die Fahne der »regionalen
Integration« auf, was ja Alfonsin und Sarney eifrig vertreten haben?
Nicht nur die beiden, auch Fidel Castro geht
davon aus, daß nach den vielen Jahren kubanischer Revolution Kuba zur Realisierung des Sozialismus die Integration in den mexikanischen Markt braucht. Ein Markt wird erst ab 200 Millionen Verbrauchern interessant. Der Ökonomie, sagte schon der olle Marx, wohnen eben ein paar unveränderbare Gesetze inne, die man nicht voluntaristisch umstoßen kann. Wenn wir das Wort der »regionalen Integration« im Munde führen, dann geht das nur im Zusammenhang mit der Forderung nach einer neuen Weltwirtschaftsordnung. Denn wenn du in deinem Land mit riesigen Anstrengungen die sozialistische Revolution machst und mit der Zahlung der Auslandsschulden aufhörst, dann hast du schlechte Karten, wenn sie dich mit den bestehenden Terms of trade niedermachen!
F: Die Integration ist auch ein Projekt der
nationalen Bourgeoisien. Was heißt das für eure Bündnispolitik?
Die Integration ist eine undiskutierbare
Notwendigkeit. Durch den Fortschritt der modernen Produktivkräfte wird ein größerer Markt erforderlich. Die Idee von Fidel war, eine große Front gegen den Imperialismus und gegen die Zahlung der Auslandsschulden zu organisieren. Dieser Plan bezog auch Teile der bürgerlichen Kräfte mit ein, die mit der Aussetzung der Zinszahlung einverstanden waren, denn es ging in erster Linie gegen den Imperialismus. Unter dieser Parole wurden die Gäste für die beiden Treffen von Havanna 1985 und 86 ausgewählt, ganz verschiedene Leute, ich war dabei, aber auch Leute der Nationalen Partei. Auch die Colorados waren eingeladen. Diese Auswahl hat sicher bei vielen Genossen anderer Länder zu Kopfschmerzen geführt. Ich sehe bei der FMLN und der FSLN aus EI Salvador und Nikaragua ein enges Bündnis mit der europäischen Sozialdemokratie, was sich auch in einer direkten und lebenswichtigen Hilfe für sie auszahlt. Das ist eine neue Tatsache: In Frankreich, Schweden und anderen Ländern gibt es eine Sozialdemokratie, die so schlau ist und davon ausgeht, daß in der Dritten Welt und besonders in Lateinamerika die Revolution unvermeidbar ist, und daß der Fehler der USA darin besteht, nicht zu begreifen, daß die unausweichlich ist. Sie gehen davon aus, daß unsere Oligarchien so überholt sind, daß sie für einen modernen Kapitalismus nicht mehr nützen. Die Sozialdemokratie unternimmt in Lateinamerika eine ideologische Offensive. Sie haben sehr elegante, subtile Vorschläge, die zum Teil sogar revolutionären Charakter haben. Und dann erzählen sie alles in Ländern, wo schon sozialdemokratisches Gedankengut Gewalt nach sich zieht. Denn wenn morgen ein Hugo BataIla in Uruguay durch Wahlen an die Regierung gelangt und sozialdemokratische Konzeptionen durchsetzen will, dann schlagen sie ihn doch zu Brei, er landet im Knast, nicht ich! Was 'für die schwedische Sozialdemokratie lediglich eine Konsolidierung des Kapitalismus bedeutet, erlauben sie dir hier unter keinen Umständen! Das würde sofort einen Putsch nach sich ziehen. Diese Oligarchie würde das niemals erlauben.
F: Ihr habt den Eintritt in die Frente Amplio
beantragt, während Sozialdemokraten wie Hugo BataIla noch drin waren?
Wir glauben, daß sie Verbündete sein können, für
die Sandinisten und die FMLN sind sie es bereits. Ich glaube, daß die Sozialdemokratie in Europa eine konterrevolutionäre oder reformistische Rolle spielt, sie ist dazu da, um zu bremsen, zu mäßigen und die Arbeiterklasse zu verbürgerlichen, unter dem Motto, es soll ihr gut gehen, damit sie ruhig bleibt. Aber das ist hier ein gefährliches Spiel mit dem Feuer! Denn die Sozialdemokraten versprechen den Leuten dies und das als etwas mögliches Erreichbares, und die Leute fangen an, dies zu glauben. Aber wenn du in Südamerika anfängst, sozialdemokratische Konzepte in die Praxis umzusetzen, dann gerätst du mit dem Verteidigungsminister aneinander und mit den 600 Familien, die davon profitieren, daß Uruguay noch nicht einmal sozialdemokratisch ist. Dann machen sie einen Staatsstreich, weil sich aus dem sozialdemokratischen Gedankengut, das in Europa reformistisch ist, hier etwas revolutionäres entwickelt.
F: Heißt das, daß ein Land der Dritten Welt, das
sich militärisch vom Imperialismus befreit, von der Sozialdemokratie Hilfe verlangen und erwarten kann? Eine Hilfe in der Größenordnung, wie sie zu einem bestimmten Zeitpunkt einmal Kuba von der UdSSR erhalten hat?
Die Krise ist weltweit und hat auch die
sozialistischen Länder erfaßt, und offensichtlich ist es endgültig mit der Ära der subventionierten Revolution vorbei. Es läuft nicht, zu sagen: Wir ergreifen die Macht und hinterher wird uns die Sowjetunion schon irgendwie über die Runden retten. Die uruguayische KP sagt: Wir gelangen über die Wahlen an die Regierung, brechen mit dem Imperialismus und dem Internationalen Währungsfonds und treiben Handel mit den sozialistischen Ländern. Aber das löst dein Problem nicht. Außerdem werden immer mehr sozialistische Länder Mitglied im IWF, und dann werden dir irgendwelche Abkommen aufgedrückt, und dann können dich die Industriestaaten doch wieder zwingen, ihnen deine Produkte zu verkaufen. Es gibt einen grundsätzlichen politischen Wandel im Vergleich zu den sechziger Jahren, der uns zwingt, alles neu zu überdenken.
F: Nikaragua erhält offensichtlich nicht die
notwendige Hilfe, die ihnen die sozialistischen Staaten gewähren könnten?
Das ist richtig. Daß ein so kleines Land
militärische Probleme hat, das sehe ich ja ein. Aber warum muß es auch wirtschaftliche haben? Warum gibt es Versorgungsschwierigkeiten, die dazu führen, daß die Leute hungern. Das geht wirklich nicht! Im vergangenen Jahr war ich auf der Jahresfeier der PVP (Partei für den Sieg des Volkes), da steigt Hugo Cores auf die Bühne, der gerade aus Nikaragua gekommen war und mit großer Eloquenz die dramatische Situation geschildert hat; das Panorama ist wirklich theatralisch, nicht nur die langen Schlangen vor den Geschäften, sondern auch der Kampf, ständig die Leichen der Genossen, die an der Front fallen. Er beendete seine Rede mit der Schilderung, daß er bei seiner Abreise aus Nikaragua von einem Kind gegrüßt wurde, das ein Leuchten in seinen Augen hatte. Na, das war für uns das Stichwort für tobenden Applaus. Aber ich hab ihn danach angerufen und gesagt: Sag, die Rede war wirklich gut und richtig platziert, aber wenn du das an irgendeiner Ecke in Montevideo erzählst und auf der anderen Straßenseite BataIla (Der Sozialdemokrat) steht, dann wirst du nicht eine einzige Hausfrau von deinen Ideen überzeugen können, weil du ihr ja doch nur eine fürchterliche Zukunft in Aussicht stellst. Das einzig konkrete, das du den Leuten anbieten kannst, ist das Leuchten in den Augen eines Kindes. Und dann kommt BataIla, erzählt etwas vom Frieden, von den Wahlen, von Reformen, immer eine nach der anderen, und daß man sich mit allen Leuten gut stellen muß, dann erreiche man schon das Ziel, viel besser als es in Nikaragua laufe! Er wird die Leute immer damit überzeugen. Und wenn ich ein einfacher Mann aus dem Volk wäre, dann würde ich auch auf BataIla setzen. Die liberale und sozialdemokratische Offensive in Lateinamerika -die zwei verschiedene Paar Schuhe sind sind hier ein zweischneidiges Schwert, ein Spiel mit dem Feuer, die die Interessen der Oligarchie bedrohen. Wir haben hier ja nicht die Bourgeoisie wie in Europa, hier herrscht die Oligarchie, und das ist etwas ganz anderes. Bürgerliches Gedankengut aus Europa wird hier als kommunistisch bezeichnet, und wer es vertritt, der landet mit der Kapuze überm Kopf als Gefangener in »Libertad", in der Zelle neben uns.
F: Ich habe allerdings meine Schwierigkeiten, mir
einen deutschen Sozialdemokraten zusammen mit euch im Knast vorzustellen.
Nun gut, bei den Deutschen habe ich dieselben
Schwierigkeiten. Die betrieben ideologische Offensive, während wir gleichzeitig ein riesiges theoretisches Vakuum haben, denn es gibt ohne Zweifel eine ideologische Krise des Sozialismus. Wir Revolutionäre haben noch keine neue Theorie ausgearbeitet, wir sind ohne Theorie geblieben. Ich meine damit nicht nur die MLN, sondern die gesamte Linke in Lateinamerika. Die theoretischen Konzepte von vor 20/30 Jahren bringen heute nichts mehr, und die Bourgeoisie spielt sie heute sehr geschickt gegen uns aus. Wir befinden uns in einem Moment des Umschwungs, des Brodelns der Ideen, es regt sich etwas im intellektuellen Bereich, was revolutionäre Ideen angeht, auch wenn das zur Zeit noch nicht mit ausgearbeiteten Dokumenten und konkreten Dingen zu Tage tritt. Es denken viele Leute nach, diskutieren, arbeiten Thesenpapiere aus, formulieren Fragen. Wir müssen Lenin und Trotzky wieder lesen. Mir scheint, daß die Geschichte Rosa Luxemburg in ihrem Streit mit Lenin recht gegeben hat. Klar, der Film über sie ist Scheiße, aber nicht ihre Schriften. Lenin ist kein Gott und konnte viele Dinge nicht voraussagen, aber das tiefe Mißtrauen von Rosa Luxemburg den total zentralistischen Parteien gegenüber scheint mir berechtigt zu sein ... Es geht nicht um einen Apparat, aber mir scheint, daß der erste Schritt, um die revolutionäre Theorie voranzutreiben, ein intensiver Austausch mit den Genossen aus anderen Ländern sein muß: aus Argentinien und Brasilien.
F: Mit welchen Gesprächspartnern?
In Brasilien ist das die PT, in Argentinien haben
wir keinen Gesprächspartner, und das ist sehr schlimm. Wenn ich mir die revolutionären Prozesse anschaue, dann frage ich mich, ob wir Tupamaros nicht nur die armselige Nachhut sind. Weil wir in so einem kleinen Land geboren wurden, haben wir auch einen Kopf wie ein Millimeterpapier. Ein brasilianischer Genosse denkt in ganz anderen Größen-und Raumordnungen. Für ihn ist es nichts ungewöhnliches, für eine Versammlung 3.500 Kilometer zu reisen. Wenn mir jemand sagt, ich muß morgen 3.500 Kilometer weit reisen, dann kommt die ganze Familie zum Flughafen, um mich zu verabschieden, mit der Aufforderung, auch zu schreiben. Aber in Brasilien gehört das zum Alltag des mittleren Managers, denn das Land ist so geschaffen. Auch ein US-Amerikaner, ein Europäer oder ein Sowjetrusse verhalten sich so. In der Kommission für internationale Angelegenheiten der PT arbeiten Chilenen. Und die PT verübelt das nicht, im Gegenteil, es erscheint ihr völlig normal, denn die Chilenen wissen doch am meisten von Chile, und dazu sind sie noch PT-Mitglieder. Ein anderer Genosse war früher im ERP, und alle treffen sich in der PT wieder. Das ist ein Vulkan. Sie wollten mich nach Curitiba bringen, wo viele Uruguayer studieren, die fast alle in der PT sind, das sind »petistas«. Aber frag du mal einen Uruguayer in Schweden, ob er bei den Sozialdemokraten oder sonstwo aktiv sei! Da sagen sie dir: Nein, wir sind Tupas, und für die Schweden sind die Exilierte. Brasilien ist eine ganz neue Erfahrung, sehr interessant. In Argentinien ist es genau umgekehrt. Dort ist die Linke in einem bedauernswerten Zustand, so daß uns ganze Gruppen der linken um Aufnahme in die MLN bitten. Denn sie wissen nicht, in welcher argentinischen Organisation sie tätig sein sollen. Sie sagen dir: In Argentinien gibt es keine Linke.
F: Laß uns zurück zu Uruguay. Nach 85 schrieb
die MLN zwei wichtige Dinge auf ihre Fahnen: Das Referendum und den neuen politischen Raum, die »Bewegung für die Beteiligung des Volkes«, MPP.
Im Fall des Referendums war es etwas sehr
Spontanes. Ich glaube, daß alle linken Gruppen diese Möglichkeit sehr wohl in Betracht gezogen haben, aber daß sie sich nicht getraut haben. Wir haben uns getraut, weil wir kein Wahlkalkül daraus gemacht haben, wir haben nicht daran gedacht, ob und wie es die Wahlen im November 89 beeinflussen könnte. Für viele war das Plebiszit ein wahnsinniges Risiko, und sie wollten das Thema Menschenrechte lieber abschließen. Die MLN hat diese Position nicht aufgrund einer überragenden Einsicht eingenommen, sondern weil wir eine andere Strategie als die restlichen Gruppen der Linken haben. Im Falle der neuen MPP sieht die Sache ähnlich aus, sie hat drei wesentliche Thesen: Die Basis wählt die Leitung und bestimmt, wer die Kandidaten für die Wahlen sind. Welche andere Gruppe der Linken kann sich so etwas erlauben? Wir sind für das Wahlrecht ab 16 Jahren. Jede Basisgruppe hat ihren Delegierten, der sich direkt an die Leitung wendet. Die nationale Führung wird geheim und direkt gewählt, und alle Mitglieder haben das Recht, bei den Sitzungen anwesend zu sein. Das macht sonst doch keiner! Kannst du dir vorstellen, daß die KP ihren Mitgliedern erlaubt, bei den Sitzungen des Zentralkomitees dabei zu sein? Die Revolution wird durch die Beteiligung der Massen gemacht, auch wenn im rein militärischen Bereich dies anders aussieht. Um die Massen zu mobilisieren, muß man sie am Geschehen beteiligen, ein grundlegender Gedanke des Sozialismus, der auch in der Sowjetunion wieder aufgenommen wird.
F: Bei der Arbeit, die Massen zu organisieren,
mußt du doch schon eine Vorstellung davon haben, wie die organisierten Massen zu führen seien, weIche Rolle eine Avantgarde oder eine Führung im revolutionären Prozeß spielen soll? Die MLN stellt sich dieser Herausforderung. Falls wir uns das nicht vornehmen, laufen wir die Gefahr der politischen Ohnmacht. Man darf sich nicht auf den Standpunkt stellen: es zählt nur die Beteiligung der Massen, es zählt die Zahl und nicht die Führung. Aber die Massen können ja auch bei der christlichen Nächstenliebe landen, in der Gewalt um der Gewalt willen, im Chaos, in sozialen Explosionen ohne klare politische Ziele. Hier setzt die politische Organisation an. Auch nicht die 150-prozentigen Anarchisten haben jemals auf ihre FAU (uruguayische anarchistische Föderation) verzichtet. Das heißt, eine Organisation oder eine Partei spielt eine ganz klare Rolle, sie setzt sich zusammen aus den Aktivisten und sozialen Kämpfern aus den Stadtteilen, Gewerkschaften, sie ist die Summe der gemachten Erfahrungen und die Summe der Verarbeitung dieser vergangenen Erfahrungen. Denn die Theorie, die ideologische Analyse und all das, muß eine politische Organisation verkürzt zusammenfassen und dann wieder an der Basis einbringen, um zur Führung zu werden. Und da ist noch ein Punkt: Die MLN hat in den vergangenen vier Jahren durch ihre Kommunikationsmittel für eine große Dynamik gesorgt; keiner anderen Kraft der Linken ist das in so kurzer Zeit gelungen, Ideen zu verbreiten und zu diskutieren. Wir haben ein Radio, eine Zeitschrift, die alle zwei Wochen erscheint und die größte Auflage hat, einen Verlag mit den meisten verkauften Büchern, und da wird noch einiges hinzu kommen. Alle Leute staunen über unsere Mobilisierungskraft, die aber mit der Existenz des Radios zu tun hat. Es hat die Stunde der Massen geschlagen, die Stunde der Agitation, des Streits der Ideen. Dafür ist ein Radio unerläßlich. Dieser Herausforderung muß sich die Linke stellen, und wenn es die Linke und die Frente Amplio ernst meinen würden, dann würden sie die Gründung eines eigenen Fernseh- Kanals in Angriff nehmen. Sonst verlieren wir doch nur Zeit.
F: Das heißt, es geht in erster Linie um die
Schaffung von Voraussetzungen?
Klar. Um die Basis für die Diskussion und den
ideologischen Kampf. Wenn wir morgen die uruguayische Linke fragen, was sie dem Volk konkretes gegeben haben, welche Kampfformen, dann kommen nur die KP-Genossen ungeschoren davon, denn sie agitieren wenigstens unentwegt auf der Straße, sie haben Unterschriften für das Referendum gesammelt, und das muß man anerkennen, sie haben einen Apparat, der in bestimmten Momenten nützlich ist.
F: Wenn ich die MLN von außen betrachte, drängt
sich mir der Eindruck auf, daß sie eine perverse Struktur hat, daß sie ihre eigenen Leute auffrißt. Aus ihnen besteht die Organisation, und sie erweist sich als unfähig, die künftigen Wechsel in die Hand zu nehmen. Es fehlen neue, junge Leute. Sie verändert die Realität auf Kosten eines Selbstmordes. Sie frißt sich selbst und ihre besten Leute auf, um Politik zu machen.
Die organisatorische, edukative und kulturelle
Entwicklung der Organisation ist unzureichend, vor allem was die Schulung neuer Leute angeht. Das ist richtig, aber ich habe auch keine Antwort darauf. Das ist für mich eines der größten Probleme. Wir haben viele Mitglieder, die keine Erfahrungen mit Basisarbeit haben, weil sie früher eine andere Arbeit gemacht haben. Du kannst auch von einem Genossen nicht von einem Tag auf den anderen verlangen, daß er plötzlich zum populären Leitungsmenschen werden soll -auch wenn wir alle glauben, daß im Moment die Basisarbeit auf der Tagesordnung steht. In einem Land, das gerade die Diktatur hinter sich gebracht hat, muß die Schulung der neuen Generation von Aktivisten sehr viel bescheidener sein als unsere damals. Du mußt praktisch bei Null anfangen, ganz langsam, ruhig, die Leute nicht unter Druck setzen. Wir haben ein furchtbares Erbe übernommen. Und wir haben an die Mitglieder zu hohe Anforderungen gestellt, zu hoch für die derzeitige Situation. Alles zu seiner Zeit. Das ist etwas anderes, wenn du von deinen Mitgliedern verlangst -auf zur Entscheidungsschlacht -oder wenn du gerade eine Niederlage hinter dir hast, wenn das ganze Volk gerade aus einer Diktatur kommt. Dazu kommt die total schwierige wirtschaftliche Situation, um etwas im Kochtopf zu haben, müssen die Leute den ganzen Tag arbeiten. So etwas mußt du berücksichtigen. Die Organisation wird sich niemals aus ehe Guevaras zusammensetzen. Es gibt ja so wenige davon. Dann kommen die persönlichen Einschränkungen dazu. Wegen der Vergangenheit ist es für jemanden ein großer Schritt, in die MLN einzutreten, er setzt dabei seine Haut aufs Spiel, das ist kein Scherz oder eine Worthülse. Viele Leute sind Pro-Tupa und unterstützen uns, wo sie können, aber sie werden nie eintreten. Wir waren bisher noch nicht in der Lage, so etwas wie die alte »Bewegung 26. März« zu gründen, einen Platz für die Leute, die sich nicht mit Haut und Haar der Politik verschreiben wollen. Die MPP versucht, in diese Richtung zu gehen. Und schließlich gibt es noch einen allgemeinen Rückzug aus der politischen Arbeit, die Leute kommen zwar zu den Demos und Veranstaltungen, die unterschreiben für das Referendum, aber sie sind nicht aktiv. Das hängt mit den finanziellen Problemen zusammen und auf der anderen Seite mit der theoretischen Krise der Linken.