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Potlatch by U. Kobbé*
Zusammenfassung
Der Beitrag referiert das psychogeographische Konzept des Umherschweifens (»dérive«) anhand der Veröffentlichungen der
Lettristischen Internationale im Informationsbulletin ›Potlatch‹. Im Kontext der Subversion einer disziplinargesellschaftlichen Ar-
chitektur lassen sich urbane Stadtplanprojekte von Debord und Rumney exemplarisch vorstellen und Beziehungen zur kata-
strophischen Subversion postmoderner Cyberspace-Realitäten bei Virilio und Baudrillard aufzeigen.
Schlüsselwörter
Lettristische Internationale, Potlatch, Psychogeographie, Subversion, Umherschweifen / dérive
›Psychogeographie‹ war ein Kampfbegriff und Konzept zunächst der Lettristischen Interna-
tionale (1952-57), dann der Situationistischen Internationale (1957-72). Das Paradigma zielt
auf die kritisch-unvoreingenommene Untersuchung der architektonischen oder geographi-
schen Umgebung in ihren Wahrnehmungseffekten auf Erleben, Wahrnehmungsstereotypien,
Urteilsmuster und Verhaltensgewohnheiten. In diesem Sinne ist ›psychogeographische‹ For-
schung an Schnittstellen der Geographie, der Architektur, der Kunst und der Psychologie
angesiedelt.
Zur Aktualität des lettristischen Konzepts
Die ›psychogeographischen‹ Provokationen der Lettristen und Situationisten suchten, die
Wirkungen eines von Foucault später als ›Disziplinargesellschaft‹ charakterisierten Sozialen
zu unterlaufen. Diese Kritik hat insbesondere in Zeiten einer durch GPS geodätisch bestimm-
ten geometrischen Raums als Bestandteil eines »hyper-rationalistische[n] Rasters der impe-
rialen Infrastruktur« (Holmes, 2004, S. 21) höchst aktuelle Bedeutung. Das elektronisch mög-
liche ›Mapping‹ mit den modernen Ortungstechniken erscheint bestenfalls noch als »eine
Festschreibung des Individuums, ein geodätisches Maßwerk individueller Unterschiede«
(Holmes, 2004, S. 21), ohne dass das digital ge- und verortete Subjekt noch selbstbestimmte
Möglichkeiten hätte, sich gegen derartige Kontrollpraktiken zur Wehr zu setzen.
Gegen diese Kolonialisierung des öffentlichen wie privaten Raums in den modernen Über-
wachungs- und Kontrollgesellschaften setzen Kritiker in der Nachfolge des lettristisch-
situationistischen ›Psychogeographie‹ die Idealvorstellung eines ›anthropologischen‹ Raums
als einer globalisierungs- und ortungsfreien Gesellschaft.
Das Konzept ›Psychogeographie‹
Der subversive Kampfbegriff ›Psychogeographie‹ bezeichnete in der Lettristischen Interna-
tionale (LI) und in der Situationistischen Internationale (SI) die Protokollierung einer Stadter-
fahrung, die durch gezielt-zielloses Umherschweifen (»dérive«) provoziert wird. Den Autoren
geht es um die situationistische Auflösung der im urbanen Alltag relevanten Wahrneh-
mungsmuster durch Bloßstellung eines letztlich eindimensionalen Alltag, durch die Entlar-
vung schematisierter Selbstorientierungen in einer sozial vorcodierten urbanen Umwelt (Bat-
ty, 2002).
»Unter den verschiedenen situationistischen Verfahrensweisen läßt sich das Umher-
schweifen als eine Technik des hastigen Passierens verschiedenartiger Stimmungs-
felder definieren. Das Konzept des Umherschweifens ist unlösbar verbunden mit der
Erkundung psychogeographischer Auswirkungen und der Affirmation eines kon-
struktiv-spielerischen Verhaltens. Es steht in jeder Hinsicht im Gegensatz zu den
klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs« (Debord, 1956, S. 332).
Bereits im ersten Informationsbulletin ›Potlatch‹1 der französischen Gruppe der Lettristischen
Internationale vom 22.06.1954 wird eine erste Variante dieses »psychogeographischen
Spiels« (IL, 1954, S. 9) veröffentlicht:
»Wählen Sie je nach Bedarf einen Landstrich, eine Stadt mit mehr oder weniger dich-
ter Bevölkerung, eine mehr oder minder belebte Straße. Bauen Sie ein Haus. Möblie-
ren Sie es. Ziehen Sie den besten Nutzen aus seiner Einrichtung und seiner Umge-
bung. Suchen Sie sich die Jahreszeit und den Zeitpunkt aus. Bringen Sie die geeig-
netsten Personen, die passenden Schallplatten und Alkoholika zusammen. Beleuch-
tung und Gesprächsthemen sollten ebenso wie die Außenatmosphäre oder Ihr Erin-
nerungsvermögen selbstverständlich angemessen sein.
Sofern sich kein Fehler in Ihre Planung eingeschlichen hat, muss das Ergebnis Sie
zufriedenstellen.«
Für die subversive Strategie der Lettristen war analog auch die Aufforderung charakteri-
stisch, sich absichtlich in fremden Städten zu verlaufen, um sich neuen Entdeckungen, Er-
fahrungen und Zusammentreffen auszusetzen oder dort Stadtpläne anderer Städte zur (Des-
)Orientierung zu nutzen. So kommentiert Michèle Bernstein (IL, 1954b, S. 39f.):
»Ein Artikel von Christian Herbert, veröffentlicht im France-Observateur vom 19. Au-
gust [1954], fordert eine radikale Lösung der Pariser Parkprobleme: das Verbot aller
Privatautos im Stadtzentrum und ihre Ersetzung durch eine große Anzahl niedrigprei-
siger Taxen.
Wir können diesem Projekt nicht genug Beifall spenden.
Jeder weiß um die Bedeutung, die dem Taxi in der von uns ›Umherschweifen‹ ge-
nannten Zerstreuung zukommt, von der wir überzeugendste erzieherische Ergebnis-
se erwarten.
Allein das Taxi gewährt eine völlige Freiheit des Weges. Indem es unterschiedliche
Entfernungen in dem hierfür erforderlichen Zeitraum zurücklegt, verhilft es zu einer
automatischen Befremdung. Das Taxi ist austauschbar und bindet den ›Reisenden‹
nicht. Es kann überall verlassen und aufs Geratewohl genommen werden. Dem Ziel
eines ziellosen und während der Fahrt willkürlich vorgenommenen Ortswechsels ist
nur mit dem wesensmäßig zufällig unterwegs seienden Taxi Genüge zu tun.«
In der gesellschaftskritischen Analyse der Lettristen manifestiert der bebaute urbane Raum
jenes (über-)rationale Denken, dem sie ihre anarchische Kritik entgegen setzten: Jedes Ge-
bäude – speziell jede Plattenbausiedlung, jedes Einkaufszentrum – bringt demnach Denk-
weisen über Menschen, Menschenbilder, auf die soziale ›Bühne‹ und enthält daraus resultie-
rende Handlungszwänge an die darin verkehrenden Subjekte, sich auf bestimmte Weise zu
verhalten. Entsprechend entwarf Guy Debord, dominantes Mitglied der französischen Grup-
pe der Lettristischen Internationale, mehrere ›psychogeographische‹ Pläne von Paris, in de-
nen die Stadtteile zerschnitten sind bzw. Teile fehlen: Das dargestellte Stadtbild entspricht
dem inneren Bild, das durch Fahrten mit der Metro, durch entsprechend beliebiges Ein- und
Aussteigen, bei dem man nicht sieht, wohin man fährt, das im Umherstreifen durch einen von
Schnellstrassen zerschnittenen städtischen Raum geschaffen wird. Seine Stadtplan ›The
Naked City‹ (Debord, 1959) zeigt dabei folgende ›psychogeographische‹ Kartographie der
Stadt:
In einem durchaus verwandten, jedoch auf andere Weise subversiven Ansatz entwarf Ralph
Rumney, usprünglich Gründer der Gründer der London Psychogeographical Society, dann
1957 Mitbegründer der Situationistischen Internationale, einen Stadtplan des XVI. Pariser Ar-
rondissements, auf dem jene Wege eingezeichnet sind, die eine Studentin in einem Jahr zu-
rücklegte; die Kartographie ergab ein x-fach wiederholtes Dreieck zwischen Wohnung, Uni-
versität (›École des Sciences Politiques‹) und Musikkonservatorium, ergänzt durch wenige
andere Lebenslinien. Das heißt, der ›psychogeographische‹ Plan macht die Einsamkeit ei-
nes vorhersehbar-stereotypen, letztlich vereinzelten Lebens sichtbar.
Anmerkungen
*
Der Beitrag wurde ursprünglich für das Themenheft ›Subversion‹ der Zeitschrift Psychologie & Gesellschafts-
kritik erstellt, entfiel dann aber aus Platzgründen, siehe P&G 32. Jg. (2008), H. 4, Nr. 128. Die Textzusam-
menstellung, -kommentierung und Übersetzung aus dem Französischen besorgte Ulrich Kobbé. Quelle: Le
Bail (2007); eine – allerdings sprachlich geglättete, Schreibduktus und -ästhetik nicht beibehaltende – Über-
setzung ins Deutsche von W. Kukulies findet sich bei Debord (2002).
Fußnoten
1
Potlatch-Beiträge sind samt und sonders gemeinfrei, nachdem in Nummer 22 (IL, 1955, S. 118) folgender ›An-
ticopyright‹-Vermerk erschien: »Alle in Potlatch veröffentlichten Texte dürfen ohne jegliche Herkunftsangabe
reproduziert, kopiert oder in Teilen zitiert werden«.
Abbildungen
1
Pariser Stadtplan ›The Naked City‹ von Debord. Quelle: http://www.notbored.org/naked-city.gif (Stand:
31.10.2008).
2
Pariser Stadtplan von Rumney. Quelle: http://juralibertaire.over-blog.com/article-6292884.html (Stand:
31.10.2008).
Literatur
Batty, Michael (2002). Editorial: Thinking about Cities as Spatial Events. In: Environment and Planning B: Plan-
ning and Design, 29 (1), 1-2
Baudrillard, Jean (1982). Der symbolische Tausch und der Tod. München: Mattes & Seitz
Debord, Guy-Ernest (1954). Einführung zu einer Kritik der urbanen Geographie. In: Debord, Guy (2002) a.a.O.,
299-306
Debord, Guy-Ernest (1955). Theorie des Umherschweifens. In: Debord, Guy (2002) a.a.O., 332-340
Debord, Guy (1978). Die Gesellschaft des Spektakels. Hamburg: Nautilus
Debord, Guy (Hrsg.) (2002). Potlatch 1954-1957. Informationsbulletin der Lettristischen Internationale. Berlin:
Tiamat
Holmes, Brian (2004). Durch das Raster schweifen. Psychogeographie und imperiale Infrastruktur. In: Springerin,
X (3), 18-21. Online-Publikation: http://www.springerin.at/dyn/heft_text.php?textid=1523& (Stand: 31.10.2008).
IL Internationale Lettriste (1954a): Le jeu psychogéographique de la semaine. In: Potlatch, 1 (22.06.1954), 9. On-
line-Publikation: Le Bail (2007) a.a.O.
IL Internationale Lettriste (1954b). La dérive au kilomètre. In: Potlatch, 9/10/11 (17.-31.08.1954), 39-40. Online-
Publikation: Le Bail (2007) a.a.O.
IL Internationale Lettriste (1955). Potlatch, 22 (09.09.1955), 109-121. Online-Publikation: Le Bail (2007) a.a.O.
Le Bail, Yves (Hrsg.) (2007). Internationale Lettriste (1954-1957). Potlatch. Online-Publikation:
http://classiques.uqac.ca/contemporains/internationale_lettriste/Potlatch/Potlatch.html (Stand: 31.10.2008)
Virilio, Paul. (1994). Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. Wien: Böhlau