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501 2. Ueber die Méglichkeit einer elektromagnetischen Begrindung der Mechanik; von W. Wien. (Aus den Berichten der Société hollandaise des sciences 4 Harlem. Jubel- band fiir H. A. Lorentz, 11. December 1900.) Hr. H. A. Lorentz!) hat vor kurzem die Gravitation auf elektrostatische Anziehungen zwischen den aus Ionen be- stehenden Elementen eines Kérpers zuriickzufihren gesucht. Er macht zu diesem Zweck die Annahme, dass die Anziehung zwischen positiver und negativer Elektricitit die Abstossung zwischen gleichnamigen Elektricititen itberwiegt. Ich bin da- durch angeregt worden, Betrachtungen tiber denselben Gegen- stand zu veréffentlichen, die ich schon vor langerer Zeit an- gestellt habe, wobei ich indessen iiber den Lorentz’schen Standpunkt noch hinaus gehe. Es ist zweifellos eine der wichtigsten Aufgaben der theo- retischen Physik, die beiden zunichst vollstindig isolirten Ge- biete der mechanischen und elektromagnetischen Erscheinungen miteinander zu verkniipfen und die far jedes geltenden Diffe- rentialgleichungen aus einer gemeinsamen Grundlage abzu- leiten. Maxwell und Thomson und anschliessend Boltz- mann und Hertz haben den zunichst sicherlich naturgemissen Weg eingeschlagen, die Mechanik als Grundlage zu wihlen und aus ihr die Maxwell’schen Gleichungen abzuleiten. Zahl- reiche Analogien, die zwischen elektrodynamischen und hydro- dynamischen sowie elastischen Vorgingen bestehen, schienen immer wieder auf diesen Weg hinzuweisen. Die Hertz’sche Mechanik scheint mir ihrer ganzen Anlage nach dafir er- sonnen zu sein nicht nur die mechanischen, sondern auch die elektromagnetischen Erscheinungen zu umspannen. Dass eine mechanische Ableitung der Maxwell’schen Hlektrodynamik méglich ist, hat Maxwell bekanntlich selbst gezeigt. 1) H. A. Lorentz, Koninkl. Akad. v. Wetensch. te Amsterdam 31, Marz 1900, 502 W. Wien. Diese Untersuchungen haben zweifellos das grosse Ver- dienst, nachgewiesen zu haben, dass beiden Gebieten etwas Gemeinschaftliches zu Grunde liegen muss, und dass die gegen- wartige Trennung nicht in der Natur der Sache begriindet ist, Andererseits aber scheint mir aus diesen Betrachtungen mit Sicherheit hervoraugehen, dass das System unserer bisherigen Mechanik zur Darstellung der elektromagnetischen Vorginge ungeeignet ist. Niemals wird man die complicirten mechanischen Modelle, die den fir specielle technische Zwecke ersonnenen Maschinen nachgebildet sind, als ein endgiiltig befriedigendes Bild fir die innere Zusammensetzung des Aethers anerkennen. Ob die Hertz’sche Mechanik, deren Aufbau in der That fir die Aufnahme sehr allgemeiner kinematischer Zusammeén- hange besonders geeignet ist, zweckmissigeres leistet, muss dahingestellt bleiben. Vorlaufig hat sie auch nicht die aller- einfachsten Vorginge, die ausserhalb der Kinematik liegen, darzustellen vermocht. Viel aussichtsvoller als Grundlage fiir weitere theoretische Arbeit scheint mir der umgekehrte Versuch zu sein, die elektro- magnetischen Grundgleichungen als die allgemeineren anza- sehen, aus denen die mechanischen zu folgern sind. Die eigentliche Grundlage wiirde der Begriff der elek: trischen und magnetischen Polarisation im freien Aether bilden, die durch die Maxwell’schen Differentialgleichungen mit- einander zusammenhingen. Wie diese Gleichungen am besten aus den Thatsachen abgeleitet werden konnen, ist eine Frage, mit der wir uns hier nicht zu beschiiftigen haben. Nennen wir X, ¥, Z die Componenten der elektrischen, L, M, N die der magnetischen Polarisation, 4 die reciproke Lichtgeschwindigkeit, 2, y, z die rechtwinkligen Coordinaten, so haben wir: (42X _@M _ an gil _ 82 oY 6t 8K ay’ at Oy ~ dx’ oY oN aL OM _ 0X aZ @) 455 = Ge > oe” 4 of = On ~ on” 484 _ ob am AoW OY ax Ot” Oy 62’ ét ” On ay Elektromagnetische Begriindung der Mechanik. + 508 Als Integrationsconstanten ergeben sich hieraus das elek- trische und magnetische Quantum, wenn wir die Gleichungen (1) beziehentlich nach z, y, z differentiiren und addiren. Es ist dann namlich 6x oY OZ a/éL aM oN aS tay te) —% glade tay tan) —% Ot\ ea oy Ox oy On also 6x oY aZ oL , aM, an Qge tay tae =7 48S) ge tay tae tem wo ¢ und m yon der Zeit unabhingig, also zeitlich und ver- anderliche Quanten sind. Multiplicirt man die erste Reihe der Gleichungen (1) mit Xj4a, Yj/4n, 2/40, die zweite mit L/4a, M/4a, N/4a, und addirt sie simtlich, so erhilt man nach partieller Inte- gration iiber einen geschlossenen Raum, dessen Oberflichen- normale x und Oberflichenelement dS sein mége, den Satz [prt Sererecees P4224 184 M+ ¥) (3) = fas(yv—-2M) cos (vn) + (ZL — XW) cos (ny) | + (XM—Y 1) cos(nz)]. Verschwinden an der Oberfliche entweder X, ¥, Z oder L, M, N, so haben wir (4) aff fe dy dz(X94.¥24224 24 M?+4 N4 = const. Den linksstehenden, iiber einen geniigend grossen Raum summirt immer constant bleibenden Ausdruck, nennen wir die elektromagnetische Energie. Wir machen nun die Annahme, dass die mechanischen Vorginge auch elektromagnetischer Natur sind, sich also aus den betrachteten Grundlagen entwickeln lassen. Wir nehmen hierfiir zunichst an, dass das als Materie bezeichnete Substrat aus positiven und negativen elektrischen Quanten zusammengesetzt ist und zwar aus solchen Elementar- 504 W. Wien. quanten, die wir einfach als Convergenzpunkte elektrischer Kraftlinien anzusehen haben. Wir miissen indessen einem solchen Elementarquantum eine gewisse Ausdehnung beilegen, weil sonst der hierdurch reprasentirte Energievorrat unendlich gross im Vergleich mit dem Quantum selbst wire. Da die ganze Materie sich aus diesen Quanten aufbauen soll, so miissen diese so klein an- genommen werden, dass die Atomgewichte ganze Vielfache derselben sind. Das positive Elementarquantum ist ferner als durch eine gewisse kleine Strecke vom negativen entfernt an- zusehen. Dass die Materie aus solchen Dipolen sich zusammensetzt, ist kaum eine besondere Annahme, sondern wohl von allen Physikern gegenwirtig zugegeben. Bisher nahm man nun ausserdem noch ponderable Substanz an, die wir mit diesen Quanten identificiren wollen. Die Aussage, dass sowohl die Materie als die Elektricitat atomistisch aufgebaut ist, ist nach unserer hier vertretenen Anschauung gleichbedeutend. Der Aether selbst ist nach dem Vorgange von Lorentz als ruhend anzusehen. Ortsveriinderungen kénnen nur bei den elektrischen Quanten vorkommen, von einer Bewegung des Aethers zu sprechen wiirde nach dem hier zu verfolgen- den Grundsatz keinen Sinn haben. Alle Krafte sind auf die bekannten elektromagnetischen, im Sinne Maxwell’s also auf Spannungen im Aether zurtick- zufiihren, obwohl der der Blasticitatslehre entnommene Be- griff hier kaum noch bedeutungsvoll ist. . Bei kleinen Geschwindigkeiten der bewegten Quanten sind es elektrostatische Kriifte, die zwischen den Quanten wirk- sam sind. Ob eine Zuriickfiihrung der Molecularkrafte auf solche Krafte méglich ist, muss zunichst dahingestellt bleiben. Klar ist nur, dass man durch verschiedene Gruppirungen yon posi- tiven und negativen Quanten in verschiedenen Entfernungen sehr complicirte Wirkungen erhalten kann, Durch diese An- nahme wiirde man die Schwierigkeit verringern, welche der Michelson’sche Interferenzversuch der Theorie ruhenden Aethers bisher gemacht hat. Elektromagnetische Begriindung der Mechanik. 505 Hr. H. A. Lorentz) hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Linge eines Kérpers in der Richtung der Erdbewe- gung durch die Geschwindigkeit v dieser Bewegung im Ver- haltnis 1 — 4?0? verkiirzt wird, wenn die Molecularkrafte durch elektrostatische Krafte ersetzt werden kénnen. Damit wire das Michelson’sche Ergebnis erklaért, wenn man von der Molecularbewegung selbst Abstand nehmen kann. Wie weit dies zutrifft’, muss durch gastheoretische Unter- suchungen gezeigt werden. Fir die Erklarung der Gravitation miissen wir, wie Lorentz auseinander gesetzt hat, zwei verschiedene Arten elektrischer Polarisationen annehmen. Jede geniigt fir sich den Maxwell’schen Gleichungen. Ausserdem ist bei statischem Felde o@ ¥ o@ oa’ a Ga- a@ Xt=- ay? oe und die Energie al f dx dy dz (52) + (2+ (2 =f tte Om aS, dz dydzDA®. Verschwindet © oder 0 ®/An an der Oberfliche des Raumes, so ist die Energie =- Af [fecayarvae. Nun ist nach (2) AO=—4n6, off dents, also ist das Integral =+ff meas pf dx dy dz =SSSSSS £6 de dy de de by dx 1) H. A. Lorentz, Versuch einer Theorie der elektromagnetischen Erscheinungen in bewegten Kérpern, Leiden 1895. Annalen der Physik. IV. Folge. 5. 88 506 OW. Wien. Befinden sich in der Entfernung r zwei gleichnamige Quanten e=cdxrdydz, é=odx' dy dz, so ist die Energie 6) fae [Sars diese Energie ist durch Arbeitsleistung hervorgebracht gegen eine zwischen den Quanten wirkende abstossende Kraft im Betrage von (6) -o Hierdurch ist die zwischen zwei Quanten wirkende Kraft definirt. Dies Gesetz muss fir jede der beiden Polarisationen gelten. Treten positive und negative Quanten in Wechselwirkung, so ist die Lorentz’sche Annahme dic, dass die dann auf: tretende anziehende Kraft in einem bestimmten Verhiltnis grisser ist, als die abstossende zwischen gleichnamigen. Auf gréssere Hntfernungen wirken die Dipole so, als ob das posi: tive und negative Quantum an derselben Stelle lage. Also erhalt man durch die Gesamtwirkung der negativen und posi- tiven Quanten auf einen zweiten Dipol einen Ueberschuss in . der Anziehung. Diese Erklirung der Gravitation hat die unmittelbare Consequenz, dass ihre Stérungen sich mit Lichtgeschwindig- keit ausbreiten und sie selbst eine Modification durch die Be- wegung der sich anziehenden Korper erfahren muss. Lorentz hat untersucht, ob diese Modificationen der Gravitation die Anomalien in der Bewegung des Merkur erkliren kénnen, hat indessen ein negatives Resultat gefunden. inzelne Astro- | nomen haben fiir die Ausbreitung der Gravitation eine gréssere Geschwindigkeit als die Lichtgeschwindigkeit annehmen zu miissen geglaubt. Von einer Ausbreitungsgeschwindigkeit der Gravitation selbst, als einer statischen Kraft, kann man in- dessen nicht sprechen. Elektromagnetische Begriindung der Mechanih. 507 Dies ware nur dann sinngemiiss, wenn man die Gravitation starken oder schwichen und dann die Ausbreitungsgeschwindig- keit der hierdurch hervorgerufenen Stérungen beobachten kénnte. Da aber die Gravitation immer unveranderlich wirkt, so kénnen nur die ausserordentlich kleinen Aenderungen in Frage kommen, welche durch die Bewegung hervorgerufen werden, die wie Lorentz gezeigt hat, von zweiter Ordnung sind. -Die Trigheit der Materie, welche neben der Gravitation die zweite unabhiingige Definition der Masse giebt, lasst sich ohne weitere Hypothesen aus dem bereits vielfach benutzten Begriff der elektromagnetischen Tragheit folgern. Das elektrische Elementarquantum denken wir uns als einen elektrisirten Punkt. Die von einem solchen bewegten Punkt ausgehenden Krifte und Polarisationen sind von Heaviside!) abgeleitet. Da sich immer gleich grosse positive und negative Quanten zusammen bewegen, so heben sich, in einer Entfernung die gross gegen ihren Abstand ist, die von ihnen ausgehenden Krifte, abgesehen von der oben besprochenen Gravitation, und die Polarisationen auf. Doch nehmen wir im Folgenden die Ausdehnung der Quanten selbst so klein gegen ihren Abstand an, dass die Energie jedes einzelnen so gross ist, als ob das aweite nicht vorhanden ware. Nach einer Berechnung von Searle?) gehen dieselben Polarisationen von einem Ellipsoid aus, das in der Richtung seiner Axe a mit der Geschwindigkeit » bewegt wird, dessen andere beiden Axen a/V1—4?v* sind, und das dieselbe La- dung auf seiner Oberfliche tragt. Das Verhiltnis der Axen hiingt daher von der Geschwindigkeit ab. Die Energie eines solchen Ellipsoides ist nach Searle L=S(1 + pate’), Das Ellipsoid mit denselben Axen hat im Zustand der Ruhe die Energie 2Vi- ae : E= SV 4H aresin Av. 2a Av 1) O. Heaviside, Electrical papers 2. 2) G. F.C. Searle, Phil. Mag. 44. p. 340. 1897. 33* 508 W. Wien. Nun darf naturgemass ©, die Energie des ruhenden Ellip- soides, die Geschwindigkeit » nicht enthalten. Es ist also, da e unveranderlich ist, a variabel oa = Saresin Avi a ~ Avg , pag Anat ss) = @—A2E Fee Vi 4? earesin Av oder durch die Reihenentwickelung () B=G(l + 3 Av? + 18 Atvt..). Die durch die Bewegung hervorgebrachte Energiever- mehrung ist also in erster Naherung pester = Bot, also die trige Masse m = ¢€ 4. Hiernach wire die durch Tragheit definirte Masse nur bei kleinen Geschwindigkeiten constant und wiirde mit grésser werdender Geschwindigkeit zunehmen. Da die Tragheit der Anzahl der Quanten, aus denen sich ein Kérper zusammen- setzt, proportional ist, ebenso die von diesem Kérper aus- gehende Gravitation, so folgt, dass die durch die Trigheit definirte Masse der durch die Gravitation bestimmten pro- portional sein muss. Lassen wir einen Kérper, dessen Masse m = 4€ 4? ist, bis in die Entfernung r von einem Kérper von der Masse M anziehen, so ist der elektromagnetische Energie- vorrat der Gravitation um den Betrag ¢ 4 € 4? M/r vermindert, wo « die Gravitationsconstante bereichnet. Diese Energie ist zur Herstellung der Geschwindigkeit v in Bewegungsenergie verwandelt. Wir haben also ZEAL — Av...) = Akan, oder, da vo = dr/dt ist ® (G7)

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