ÖSTERREICH 24.

Februar 2011 DIE ZEIT No 9 13

DRAUSSEN

Zu Gast bei Nina Hagen

Fotos (Ausschnitt): Michael Rathmayr für DIE ZEIT (o.); www.ernstschmiederer.com

Eine Österreicherin in Nordrhein-
Westfalen: Andrea Eberl, 46, Sängerin

Ich bin gleich nach meiner Geburt erblindet, weil

meine Netzhaut im Brutkasten zu viel Sauerstoff
abbekam. Blind zu sein ist für mich normal. Für
die Sehenden bleibe ich eine Exotin. Viele glauben,
sie müssten uns bemitleiden. Andere versuchen,
einen zu übervorteilen. Wertvoll sind mir jene
Menschen, die mich normal behandeln. In Mode-
fragen verlasse ich mich auf den Geschmack meiner
Freundinnen.
Ausgebildet wurde ich als Steno- und Phono-
typistin sowie als Telefonistin. Blinde Menschen
müssen in Österreich für diesen Job eine Berufsaus-
bildung absolvieren, Sehende werden einfach ange-
lernt. Anfangs war ich Telefonistin im Wiener Fi-
nanzministerium, dann bei RTL in Köln. Weil mich
Ein kleines Zimmer als der Job psychisch stark belastete, beziehe ich heute
sicherer Hafen: Nur hier Erwerbsunfähigkeitsrente und widme mich ganz der
ist Amin K. Musik. Schon als Kind lernte ich Schlager auswendig.

Verwaltungsdelikt Leben
vor Strafen sicher Später bekam ich Gesangsunterricht am Konser-
vatorium. Eines Tages war ich dann als Gast mit Nina
Hagen auf Tour, anschließend mit der amerika-
nischen Soulsängerin Marla Glen. Heute arbeite ich
mit dem Pianisten Martin Burike zusammen, und
wir touren durch Deutschland und Österreich.
Die Existenz von Amin K. ist ein Rätsel. Sein Name scheint nirgends auf. Österreich möchte ihn abschieben, Am vergangenen Heiligen Abend starb meine
Blindenführhündin Smokey. Wir waren fast zehn
seine Heimat Marokko lässt ihn aber nicht einreisen. Es ist, als sei er nie geboren worden VON STEFFEN ARORA Jahre zusammen und gerade zu Besuch in Wien, als
bei ihr Leberkrebs diagnostiziert wurde. Sie ist noch

F
ünf Quadratmeter Normalität. Auf
den ersten Blick erinnert der Raum an
eine Abstellkammer. Für Amin K. hat
darin jedoch seine ganze Welt Platz.
Im Dachgeschoss des Integrations-
hauses der Caritas in Innsbruck bezog der schlak-
sige junge Mann vor wenigen Tagen seine erste
Wohnung. Eine winzige Unterkunft, in der es die
Dachschräge kaum erlaubt, aufrecht zu stehen.
Doch es ist sein Zimmer, das erste richtige Zu-
hause im Leben des 19-jährigen Marokkaners.
Die erste eigene Bleibe: ein wichtiger Schritt im
Leben jedes Heranwachsenden, der erste in die
Selbstständigkeit. Selbstständig war Amin K. frei-
lich schon als Straßenkind in den Slums von Casa-
blanca. Auf sich allein gestellt war er auch, als er im
Alter von elf Jahren die Flucht nach Europa wagte
und in Tirol strandete.
Nun hat Amin den abgewohnten Verschlag mit
Postern von Fußballern austapeziert. Ein Tisch, ein
Stuhl und eine Matratze haben ihm Bekannte aus
einem Secondhandladen besorgt.
Für Amin sind die fünf Quadratmeter ein si-
cherer Hafen, hier ist er vor Polizeikontrollen ge-
schützt. Denn sobald er auf die Straße tritt, beginnt
ein Spießrutenlauf. Er ist »illegal im Bundesgebiet
aufhältig« und kann keinen gültigen Ausweis vor-
weisen. Vor drei Jahren wurde sein Asylantrag abge-
lehnt. Seine bloße Existenz ist seitdem ein Ver-
waltungsdelikt. Mangels Abkommen zwischen
Österreich und Marokko kann er nicht abgescho-
ben werden. Auch freiwillig darf er nicht in seine
Heimat zurückkehren: Man kenne keinen Amin
K. heißt es aus der marokkanischen Botschaft. Als
Straßenkind wurde seine Geburt nicht behördlich
registriert – er existierte in Marokko nie.
Marokkaner gelten in Innsbruck
als Synonym für Kriminalität
Illegal, ohne Dokumente und nicht abschiebbar
– Amin ist gefangen in einer absurden Spirale.
Allein im vergangenen Jahr wurden dem jungen
Mann 22 Verwaltungsstrafen aufgebrummt, weil
er sich bei Polizeikontrollen nicht ausweisen
konnte. Weit über 8000 Euro an Bußgeldern
sammelten sich 2010 an; da Amin aber mittellos
ist, musste er die Strafen absitzen. Kaum aus der
Zelle, begann das groteske Spiel von Neuem:
Polizeikontrolle, keine Dokumente, Strafe. An
manchen Tagen sogar mehrmals.
»Ja weil i a Marokkana bin«, erläutert Amin
seine Situation im breiten Tiroler Dialekt und zuckt
mit den Schultern. Die »Marokkaner« sind eine
Gruppe junger Asylwerber aus Nordafrika, die seit
sechs Jahren für Aufruhr in Innsbruck sorgen. Sie
kontrollieren den Drogenhandel in der Tiroler
Landeshauptstadt. In den italienischen Metropolen
leben Tausende nordafrikanische Einwanderer
ohne Perspektive. Viele von ihnen wollen nach
Deutschland. Auf dem Weg dorthin bleiben ei-
nige in der Stadt am Inn hängen.
Während in Wien die Drogenszene vornehm-
Für den Innsbrucker Polizeidirektor Thomas
Angermaier eine typische Marokkaner-Karriere:
»Während der Asylantrag läuft, gehen sie ihren
Geschäften nach«, sagt er. Er meint den Drogen-
handel. Auch Amin finanzierte sich damit sein
Leben. Mehrmals wurde er mit kleineren Mengen
Haschisch erwischt. In den vergangenen sieben
Jahren hielten sich in Innsbruck laut Angermaier
rund 500 verschiedene Personen auf, die der »Ma-
rokkaner-Szene« zugeordnet werden. Die Fluktua-
tion ist sehr hoch, sie kommen und gehen. Wer bei
der illegalen Einreise erwischt wird, den verfrachtet
die Polizei postwendend zurück nach Italien. Mehr
als 700 solcher sofortiger Rückführungen pro Jahr
sind es allein auf der Bahnstrecke über den Brenner.
Über ein Drittel betreffen junge Marokkaner. Wie
viele ihr Glück auf der Autobahn versuchen, will
Angermaier gar nicht schätzen.
Die Exekutive steht dem Treiben hilflos gegen-
über. In der Kleinstadt werden die jungen Männer
als enormes Sicherheitsrisiko wahrgenommen. Sie
gelten als Synonym für Kriminalität – auch wenn
sie, abgesehen vom Handel mit Drogen, seit zwei
Jahren sehr unauffällig sind, wie selbst der Polizei-
chef einräumt. In Innsbruck setzt die Exekutive
auf Härte, errichtet Schutzzonen und kontrolliert
unablässig alle Jugendlichen, die in ihren Augen
nordafrikanisch aussehen, um der Lage Herr zu
werden. Ausgetrocknet ist die Szene dadurch al-
lerdings nicht. Sie geht ihren Geschäften in Hin-
terhöfen und Seitengassen nach. Immerhin trage
die Unsichtbarkeit zum subjektiven Sicherheits-
gefühl der Bevölkerung bei, redet sich die Polizei
ihr Vorgehen schön.
Für die Marokkaner bedeutet diese Taktik
einen permanenten Spießrutenlauf. Doch sie
haben sich schnell angepasst. Sie wissen, dass sie
nicht abgeschoben werden können. Ihre Tage
verbringen sie mal auf der Straße, mal im Ge-
fängnis. Sie schlafen in Abbruchhäusern, leeren
Eisenbahnwaggons oder kommen bei einhei-
mischen Freundinnen unter. Es ist ein Katz-
und-Maus-Spiel, das keinen Sieger kennt. Für
Amin ist dieses Spiel Routine. Seit sein Asyl-
antrag abgelehnt wurde, zieht jede Polizeikon-
trolle eine Verwaltungsstrafe nach sich. Die ver-
gangenen Jahre war er entweder auf der Flucht
vor Ausweiskontrollen oder er befand sich ge-
rade in Haft. Zukunftsperspektive besitzt Amin
längst keine mehr. Er schlug sich durch, suchte
täglich einen neuen Verschlag zum Über-
nachten. Am besten zugedröhnt, mit Alkohol,
Tabletten und anderen Drogen, um Angst und
Kälte zu vergessen.
Amin wollte aus diesem Teufelskreis ausbre-
chen. Er versuchte, freiwillig nach Marokko zu-
rückzukehren. Ohne Erfolg. Weil es in seiner alten
Heimat keinen Beweis dafür gibt, dass er überhaupt
je existiert hat.
Den Meldezettel bekommt Amin
nur wegen seines Strafregisters
Kürze wird Amin auch seinen ersten Job antreten.
Ein karitativer Möbelladen erklärte sich bereit,
Amin als Praktikanten aufzunehmen. Eine volle
Anstellung ist nicht möglich, weil sich Amin illegal
in Österreich aufhält.
Am 11. Februar feierte der Gestrandete aus
Marokko seinen 19. Geburtstag. Erstmals hatte er
das Gefühl, Zukunft zu haben. Doch die schein-
bare Normalität ist trügerisch. Denn wie es wei-
tergeht, weiß niemand. Seine Latte an Vorstrafen
schließt ihn von der Gewährung des humanitären
Bleiberechts aus. Schon bald steht er wieder vor
Gericht, weil er in einer Tankstelle beim Diebstahl
einer Flasche Whiskey ertappt worden war. Zudem
wirft ihm die Polizei »gefährliche Drohung« und
Widerstand gegen die Staatsgewalt vor. Vier bis acht
Monate Haft wird er dafür erhalten.
Mit dieser Vorgeschichte eignet sich Amin so
gar nicht als Galionsfigur für eine Kampagne gegen
die Systemfehler im Fremdenrecht. Er ist weder gut
integriert, noch hat er eine fotogene Familie. Sein
vernarbtes Gesicht zeugt von der Gewalt, die viele
Jahre lang sein täglicher Begleiter war.
Für Mitleid sieht Polizeidirektor Thomas An-
germaier keine Veranlassung. Er glaubt nicht, dass
der junge Mann nicht abschiebbar sei. Doch er
räumt ein, dass die Kooperationsbereitschaft der
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auf der Intensivstation verstorben. Jetzt bin ich seit
marokkanischen Behörden in solchen Fällen be- über einem Monat ohne Führhündin und ganz
scheiden sei, »um es höflich auszudrücken«. Er schön aufgeschmissen. Mit dem Stock muss man
würde gerne restriktiver vorgehen, wenn es das alles selbst ertasten.
Gesetz zuließe, und auf Härte setzen. Ginge es nach
ihm, würde er jeden Marokkaner so lange in Schub-
haft nehmen, bis die Situation geklärt ist. Anger-
maier hofft auf ein bilaterales Abkommen zwischen
Andrea Eberl stammt aus
Österreich und Marokko zur Rückführung abge-
Wien. Sie erblindete bei
lehnter Asylwerber. Doch mit Hilfe aus Wien kann
ihrer Geburt und lebt als
er nicht rechnen. Es gebe derzeit keine Verhand-
Sängerin in Grevenbroich
lungen mit Marokko. »Die marokkanische Com-
munity in Österreich ist insgesamt absolut unauffäl-
lig«, heißt es dazu aus dem Innenministerium. Ich habe 13 Jahre in Köln verbracht, vergangenes
Amin ist der Rummel um seine Person unange- Jahr bin ich nach Grevenbroich übersiedelt, wo
nehm. Verloren sitzt er in der Gemeinschaftsküche meine ebenfalls blinde Freundin Theodora lebt, eine
des Integrationshauses und setzt eine Kanne Wasser Griechin. Vor ein paar Jahren habe ich sie auf meiner
auf. »Mogsch a an Tee?«, fragt er. Wortlos schenkt Lieblingsinsel Samothraki kennengelernt, auf der
er ein, stellt sich ans Fenster und zündet sich eine ich mit zwei Zelten, Schlafsack und Laptop meine
Zigarette an. Langsam bläst er den Rauch aus, so Sommer verbringe. Derzeit muss ich bangen, ob die
als wolle er, dass dieser Moment der Ruhe nie ver- Krankenkasse die Operationskosten für Smokey und
gehe. Eigentlich wollte er vor zwei Wochen mit dem die Anschaffung einer neuen Führhündin bezahlen
Rauchen aufhören, aber der Stress sei ihm zu viel. wird. Meist muss man mit denen streiten, weil sie
»Dafia trink i nix mehr«, entschuldigt er sich. Am nur einen Teil der Kosten übernehmen wollen. Im
wichtigsten ist für Amin jetzt seine eigene Bleibe, Notfall werde ich klagen. Ohne Hund komme ich
seine fünf Quadratmeter Sicherheit: »I will jo nix, auf Dauer jedenfalls nicht zurecht.
außer mei Ruhe. Und Ruhe hob i nur, wenn i schlof.
Sobald i aufsteh, hob i Stress.« Aufgezeichnet von ERNST SCHMIEDERER
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lich aus Osteuropa versorgt wird, gelangt in Tirol
das Gros des Suchtgiftes über den Brenner ins
Land. Der Nachschub versiegt nicht – weder jener
von Stoff noch an Dealern. Auf diesem Weg kam
auch Amin im Oktober 2006 nach Österreich. Als
eines von neun unehelichen Kindern einer Ob-
dachlosen hatte er in den Straßen von Casablanca
keine Chance auf eine Zukunft. Kinder wie er be-
kommen in dem maghrebinischen Königreich
keine Papiere, sie leben in einer Parallelwelt. Wie
so viele andere trat Amin die Flucht nach Europa
an. Sprechen möchte er darüber nicht. Nur knapp
erzählt er von seiner dreijährigen Odyssee.
Zuerst landete er in Spanien, dann noma-
disierte er über Frankreich und Italien nach Tirol.
Hier wurde der damals 14-Jährige von der Frem-
denpolizei aufgegriffen und in das Erstaufnahme-
zentrum Thalham gebracht. Amin stellte einen
Im September vergangenen Jahres tat sich plötzlich
ein Silberstreif am Horizont auf. Eine Projekt-
gruppe des Studiengangs Soziale Arbeit des Ma-
nagement Centers Innsbruck nahm sich des Falles
an. Die angehenden Sozialarbeiter beschäftigten
sich schon seit längerer Zeit mit der Marokkaner-
Szene in Innsbruck und wollen neue Lösungs-
ansätze finden. Amin wurde ihr Vorzeigefall. Dank
finanzieller Unterstützung des ÖVP-Vizebürger-
meisters Franz Gruber konnte für ein paar Hundert
Euro ein Zimmer für Amin im Integrationshaus
angemietet werden. Trotz fehlenden Lichtbildaus-
weises ist Amin mittlerweile sogar amtlich gemel-
det. Sein Strafregister half ihm dabei, das erste
Dokument von einer Behörde zu bekommen, das
bestätigt, als Mensch tatsächlich zu existieren. Wer
so viele Anzeigen von der Polizei erhalten hat,
dessen Dasein gilt als erwiesen, begründeten die
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Asylantrag, verließ das Lager aber nach nur zehn
Tagen, um auf eigene Faust wieder nach Innsbruck
Beamten ihre Entscheidung.
2
Stand: 15. Februar 2011; Zinssatz für die über 30.000,– Euro hinausgehende
Einlage variabel. Dieser wird im Falle einer Zinsänderung auch während
Der Meldezettel soll nun den Weg zur Sozial- des Aktionszeitraums entsprechend angepasst.

zurückzukehren. Hier hoffte er, bei seinen Lands- versicherung ebnen. Der Flüchtlingskoordinator
leuten Anschluss zu finden. des Landes Tirol versprach dabei zu helfen. In