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Tagebuch eines Journalisten

von

Christian Sickendieck

01. November 2009


Ich bin gefeuert worden. In der derzeitigen Krise müsse man nun alle Kräfte und
Kompetenzen in einer Zentralredaktion bündeln, so mein ehemaliger Chefredakteur. Da
brauche man mich nicht mehr. Ich bin schockiert. Das war doch überhaupt nicht
abzusehen. Andere Kollegen, die schon länger ohne Job sind, raten mir nun, in die
Zukunft zu blicken und ein Blog zu eröffnen. Das klappt sofort. Schnell schreibe ich den
ersten Artikel. Ich habe schon einen Leser – mich selbst. Bloggen ist toll. Zur Feier des
Tages gönne ich mir eine Flasche Rotkäppchen aus dem ALDI. Bald ist mehr drin. Ich
habe gesehen, Alyssa Milano, Dieter Bohlen und viele Prominente bloggen auch. Das ist
die Zukunft.

10. November 2009


Das Blog brummt. Durch das Kommentieren bei A-Bloggern und das Verschicken
unzähliger Trackbacks finden immer mehr Leser mein Blog. Ich bin also nicht mehr der
Einzige, der mein Blog liest. Ich schalte Werbung und gönne mir einen neuen Chefsessel.
Ich überlege, eine GmbH zu gründen. Stolz gehe ich ins Bett. Die neue Freiheit ist
atemberaubend. Ich träume davon, als erster Blogger den Pulitzerpreis zu bekommen.

14. November 2009


Ich bin urlaubsreif. Täglich Artikel schreiben, auf anderen Blogs lesen und kommentieren,
geht an die Substanz. Wieder haben 10 neue Leser mein Blog gefunden. Die zu
erwartende Umsatzsteigerungen teile ich meiner Bank mit. Dort ist man von meiner
Leistung beeindruckt. Die Kurve zeigt steil nach oben. Nach Gründung meiner Blog
GmbH genehmige ich mir ein angemessenes Chefredakteurs-Gehalt. Hätte ich das alles
nur viel früher getan.

19. November 2009


Ein Unternehmen braucht einen Betriebsrat. so denke ich zumindest. So habe ich es
gelernt. Als Chef lehne ich diesen natürlich ab. Macht nichts. Als Redakteur werde ich
mich zu wehren wissen. Ich kämpfe mit mir selbst. Wie gut, dass ich gewinnen werde.

22. November 2009


Ich organisiere einen Warnstreik und blogge darüber live. Eine ehemaliger Kollege
interviewt mich und stellt den Artikel auf sein Blog. Der erste Trackback, der bei mir
landet. Den Screenshot von Technorati schicke ich per Mail an meinen Anlagenberater.
Zusätzlich habe ich Twitter entdeckt. Ich habe mehr Kontakte als zu meiner Journalisten-
Zeit. Weitere 10 Besucher haben mein Blog entdeckt. Bald bin ich im 3-stelligen Bereich.
Meine Bank genehmigt mir daraufhin einen höheren Dispo-Kredit. Barack Obama ist
mein neuer Freund. Ich rufe meine Familie an. Sie ist stolz auf mich.

24. November 2009


Als Chef genehmige ich den Betriebsrat um in der Vorweihnachtszeit Ruhe zu haben. Auf
der folgenden Weihnachtsfeier wird sehr viel getrunken. Ich habe einen One-Night-Stand
mit meiner Sekretärin. Hinterher habe ich ein schlechtes Gewissen. Meine Mutter hat
immer gesagt, Onanie macht blind.

27. November 2009


Bald habe ich täglich bis zu 200 Besucher. Ich erwarte die erste Zahlung von Google und
Adnation. Ich genehmige mir eine weitere Gehaltserhöhung und überlege, in die FDP
einzutreten. Das ist die Partei für uns selbständige Besserverdiener. Was soll ich nur für
einen Firmenwagen nehmen? Wenn diese schwierigen Entscheidungen nur nicht wären.

30. November 2009


Mein Steuerberater ruft an, er müsse dringend mit mir reden. Habe das Gespräch nicht
zum Chef durchgestellt. Der hatte keine Lust, mit dem kleinen Beamtensohn zu reden. Als
Angestellter wusste ich natürlich von nichts. Man, war der sauer.

02. Dezember 2009


Der neue Monat beginnt. Wenn der neue Monat genauso erfolgreich wird, wie der alte,
überlege ich, ein Startup zu gründen. Vielleicht ein Blognetzwerk? Der Besucherstrom ist
ein wenig eingebrochen. Macht nichts, klicke ich halt selbst auf die Werbung. Tja, ich
weiß mir zu helfen.

05. Dezember 2009


Die Bank hat mein Konto gesperrt. Habe denen von meinen Besuchern und der Werbung
erzählt. Die haben mich ausgelacht. Ich habe wutentbrannt aufgelegt. Die werden mich
noch kennenlernen. Schließlich bin ich Unternehmer, und nicht sonst wer. Was glauben
die, wer die sind? Und das in der Finanzkrise. Die werden es bereuen, einen potenten
Kunden wie mich verärgert zu haben.

07. Dezember 2009


Ich gründe das von langer Hand geplante Startup. Laut lachend schicke ich die
Pressemitteilung an die Bank. Ich bin nun Verleger, Geschäftsführer, Redakteur,
Angestellter, CEO, Founder und Web-2.0-Enthusiast in einer Person. Ich brauche größere
Visitenkarten.

12. Dezember 2009


Geschockt sitze ich in meinem Büro. Bei Google hat es für keine Auszahlung gereicht.
Adnation hat mir aus Mitleid neben dem Scheck eine Packung Zwieback mitgeschickt.
Ich muss wohl eine Gewinnwarnung herausgeben. Meine Bank hat angerufen. Das
Lachen zwischen den Zeilen habe ich verstanden. Ich bin doch nicht doof.

15. Dezember 2009


Seit auf der Blogbar über mich gelacht wurde, traue ich mich nicht mehr, auf anderen
Blogs zu kommentieren. Dadurch finden kaum noch Besucher mein Blog. Als Konsequenz
trete ich als Geschäftsführer und CEO zurück. Ich habe wenigstens noch Rückgrat.

17. Dezember 2009


Ich sehe nur eine Lösung für mein Problem: Personaleinsparung. Wie konnte es nur so weit
kommen? Ich hatte doch so viele Besucher, habe viele Artikel veröffentlicht, habe auf
anderen Blogs kommentiert, war einer der großen Web-2.0-Sterne im deutschsprachigen
Internet. Ich bin fassungslos. Was ist da nur falsch gelaufen?

19. Dezember 2009


Ich kündige mir selbst. Es erfolgt eine sofortige Freistellung und Hausverbot. Das kenne ich
schon aus meinem vorherigen Job. Das ist alles so trostlos. Draußen regnet es,
Weihnachten steht vor der Tür, meiner Familie habe ich abgesagt. Ich schäme mich.

21. Dezember 2009


Ich habe jetzt wieder sehr viel Zeit. Was soll ich nur mit dieser ganzen Zeit anfangen? War
heute auf dem Arbeitsamt und habe mich eingehend informiert. Dort hat man mir
geraten, mich für potentielle Arbeitgeber im Internet zu präsentieren, ein Weblog zu
eröffnen und eventuell auf XING ein Profil zu erstellen…

Veröffentlicht auf F!XMBR

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