You are on page 1of 48

APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


61. Jahrgang · 40–42/2011 · 4. Oktober 2011

Mexiko
Franz Smets
Schlaglichter aus einem Land ohne klare Richtung

Karl-Dieter Hoffmann
Calderóns gescheiterter Feldzug gegen die Drogenkartelle

Günther Maihold
Zwischen NAFTA-Partnerschaft und Zweckgemeinschaft

Matthias Jäger
Schritt zurück nach vorn? Mexikos Demokratie

Anne Huffschmid
Alltag statt Apokalypse:
Mexiko-Stadt als Labor urbaner Kultur

Marianne Braig
Hinterhof der USA? Eine Beziehungsgeschichte

Alex Gertschen
Das bessere Leben, erträumt und erlitten
Editorial
Mexiko durchlebt seit Ende der 1990er Jahre einen tief grei-
fenden Wandel: Mit der Amtszeit von Präsident Vicente Fox
(2000–2006) endete die Vorherrschaft der Partido Revolucionario
Institucional (PRI), die sich als selbsternannte Erbwalterin der
Mexikanischen Revolution über 70 Jahre lang an der Macht gehal-
ten und diese weitgehend monopolisiert hatte. Volkswirtschaft-
licher Erfolg sowie Demokratisierungs- und Pluralisierungsfort-
schritte der vergangenen Jahre werden jedoch zunehmend von
schwerwiegenden Problemen verdeckt, allem voran vom „Dro-
genkrieg“, dem unter anderem grassierende Korruption und ekla-
tante soziale Ungleichheit einen fruchtbaren Boden bereiten.

Seit seinem Amtsantritt 2006 hat Präsident Felipe Calderón


über 45 000 Berufssoldaten in den Kampf gegen die Drogenkar-
telle geschickt. Doch der innerstaatliche Einsatz der Armee hat
die Lage keineswegs verbessert: Von staatlichem Kontrollge-
winn kann keine Rede sein, die Zahl der Opfer geht inzwischen
in die Zehntausende. In den an die USA grenzenden mexikani-
schen Bundesstaaten ist das staatliche Gewaltmonopol weitge-
hend ausgehöhlt, so dass insbesondere im nördlichen Nachbar-
land offen darüber diskutiert wird, ob Mexiko ein failing state
sei. Dabei fußt die Drogenökonomie vor allem auch auf der im-
mensen Nachfrage aus den USA.

Im kommenden Jahr wird in Mexiko ein neuer Präsident ge-


wählt. Viele rechnen damit, dass die PRI an die Macht zurück-
kehren wird. Doch damit verbundene Hoffnungen könnten
rasch enttäuscht werden; Beobachter warnen, das Land drohe in
eine „Nostalgiefalle“ zu tappen. Durch den von der Verfassung
nicht gedeckten Einsatz des Militärs im Innern ist zudem ein
weiterer Akteur auf den Plan gerufen worden, der gerade im Fal-
le politischer Instabilität weiter an Einfluss gewinnen könnte.

Johannes Piepenbrink
Franz Smets on ist gefangen in einem Circulus vitiosus. Es
ist nicht gelungen, ihn zu durchbrechen, weil

Schlaglichter aus das Land fast wie durch ein Wunder überlebt,
und zwar trotz der vertanen Chancen“, hieß
es jüngst in einer Studie von Wissenschaft-
einem Land ohne lern der Autonomen Nationaluniversität
(UNAM) über die Befindlichkeit Mexikos. ❙1

klare Richtung
Für die beiden Autoren ist die Geschichte ih-
res Landes ein Roman, der, wenn er tatsäch-
lich so geschrieben würde, ein Bestseller wäre.

Essay Es ist alles vorhanden: finstere Personen,


Grenzsituationen, Heroisches, Machtkämpfe,
Blut, Opfer, Intrigen und Hoffnungen. Nur
das glückliche Ende wird stets auf den Sankt-

D ie Avenida Paseo de la Reforma ist die


historische Prachtstraße im Herzen von
Mexiko-Stadt. Mit insgesamt 14 Spuren zieht
nimmerleinstag ­verschoben.

Die mexikanische Bevölkerung ist von 40


sich der Boulevard von Millionen Einwohnern im Jahr 1970 auf rund
Franz Smets West nach Ost durch 112 Millionen Einwohner heute angewach-
Dr. phil., geb. 1950; Korrespon- das Stadtzentrum. Un- sen, dazu leben über 10 Millionen Mexika-
dent für die Deutsche Presse- ter den Glasfassaden ner in den USA. Das Land ist über fünfmal
Agentur (dpa), Avenida Paseo der Hotels, Banken so groß wie Deutschland und besteht aus 31
de la Reforma 382, 06600 und Versicherungen, Staaten und einem Bundesdistrikt. Sein wirt-
Ciudad de Mexico, DF/Mexiko. die inzwischen fast alle schaftliches Kapital sind vor allem Öl und
smets.franz@dpa.com zweistöckigen Gebäu- Gas sowie Metalle wie Gold, Silber, Zinn
de aus dem 19.  Jahr- und Kupfer. Es gibt alle Klimazonen, Wüs-
hundert verdrängt haben, und Tausenden von ten, tropische Wälder und Gletscher in über
scheinbar stets grünen Bäumen stehen Dut- 5000  Meter Höhe. Zudem verfügt Mexi-
zende Statuen und zahlreiche Denkmäler, die ko über mindestens 10 000 Kilometer Küste
an historische Persönlichkeiten erinnern sol- mit den schönsten Stränden an beiden großen
len: Ixtacalli, Kolumbus, Moctezuma, Cuau- Ozeanen. An der engsten Stelle, dem Isthmus
thémoc. Daneben gibt es eine Menge moder- von Tehuantepec, sind Atlantik und Pazifik
ner Kunst. So sieht sich Mexiko, so zeigt sich lediglich zwei Autostunden voneinander ent-
Mexiko: Verliebt in seine Geschichte, aber fernt. Hier unter anderem hat das Schwellen-
modern und offen für Neues, gastfreundlich land damit begonnen, modern zu werden und
und unvoreingenommen gegenüber Fremden. mit Wind Strom zu ­erzeugen.
Doch ist dies nur die Oberfläche. Hinter der
glitzernden Fassade tut sich ein anderes Me- Mexiko ist ein Land der Gegensätze. Regel-
xiko auf: Gebäude, die nur von der Farbe zu- mäßig kommt es zu Naturkatastrophen, weil
sammengehalten zu sein scheinen, Baulücken es im Sommer zu heiß ist und die Wälder und
aus der Zeit des Erdbebens von 1985, Bett- Ackerflächen niederbrennen. Danach bringt
ler, Prostitution. In Stadtteilen weiter östlich, die Regenzeit mit ihren Wirbelstürmen hun-
wie die Delegacion Iztapalapa, fehlt es häu- dertfachen Tod. Die Menschen ertrinken in
fig an grundlegenden kommunalen Dienst- reißenden Flüssen und kommen in Erdlawi-
leistungen wie fließendem Wasser oder ei- nen um, die von den Regenmassen ausgelöst
ner Müllabfuhr. Und die zur Hauptstadtre- werden. Und in den Wintermonaten erfrieren
gion zählende Stadt Chalco wird regelmäßig im Norden die Menschen, während die wohl-
von den Abwassern von Millionen Menschen habenderen Mexikaner im karibischen Can-
überflutet. cún oder in Acapulco im Pazifik baden. Es
gibt sowohl unermesslichen Reichtum wie in
Das alles gehört zur Hauptstadt mit seinen Nordamerika als auch so große Armut wie in
über 20 Millionen Einwohnerinnen und Ein- Haiti, dem ärmsten Land in Amerika.
wohnern, aber auch zu ganz Mexiko, von dem
niemand so recht weiß, wie es regiert wird, ❙1  Alejandro Rosas/Ricardo Cayuela, El Mexico que
wie es funktioniert. Dass es überhaupt funk- nos duele. Cronica de un pais sin Rumbo, Mexiko-
tioniert, ist zumindest erstaunlich. „Die Nati- Stadt 2011.

APuZ 40–42/2011 3
Selbstbild und Fremdbild sicher. Denn die politischen Kräfte sind sich
nicht einig, ob sie lieber einen starken Prä-
Viele Mexikaner tun sich schwer mit einer sidenten oder eine starkes Parlament wün-
realistischen Analyse ihrer Lage, gerne wird schen. Der frühere Außenminister Jorge Cas-
die Wahrheit geschönt. Vor dem Elend der taneda aber spricht seinem Volk den für eine
Armen verschließen die meisten Reichen die Demokratie notwendigen Charakter ab: „Wir
Augen. Wie in anderen Ländern auch wollen wissen nicht zu streiten. Jede Kritik ist eine
sie nicht auf die Vorteile verzichten, die ihnen tödliche Beleidigung. Wir ziehen es vor, dass
die Armut der anderen bietet. Sie haben bil- Entscheidungen von oben gefällt werden, da-
lige Arbeitskräfte ohne eigene Rechte in ih- mit wir uns danach in die Lage des Opfers be-
ren Unternehmen, Häusern und Gärten. Und geben können.“ ❙2
statt Steuern zu zahlen, damit der Staat sie
und ihr Eigentum schützen kann, engagieren Viele Mexikaner beklagen, dass das Bild ih-
sie lieber eigene Sicherheitskräfte und errich- res Landes im Ausland zu negativ sei, allen vo-
ten hohe Mauern um ihre Häuser. ran der derzeitige Präsident Felipe Calderón.
Und tatsächlich wird Mexiko zumeist mit
Noch weniger können viele Mexikaner Kri- Brutalität und Gewalt assoziiert, selbst wenn
tik ertragen. Wenn etwa ein Mexikaner einen es dazu keinen Anlass gibt. Ein Beispiel un-
Besucher fragt, wie er das Land wahrnimmt, ter vielen bietet die Tageszeitung „Die Welt“,
dann erwartet er keine Kritik. Er möchte, als sie im Mai 2011 im Internet einen Bericht
dass auch der Ausländer die Lage schönredet. über neu gefundene Maya-Stätten in Yucatán
Gewiss, es gibt Kriminalität, den „Drogen- veröffentlichte und ihren Lesern „weiterfüh-
krieg“ mit Tausenden von Toten, Rassismus rende Links“ anbot: „Maya opferten Jungen,
gegen die indigene Bevölkerung, Missach- keine Jungfrauen“, „Mayakalender – Weltun-
tung der Menschenrechte. Aber bitte, so pfle- tergang am 21. 12. 2012“ und „Als Montezu-
gen viele Mexikaner zu argumentieren, das ma seine künftige Braut häutete.“ Abgesehen
alles gibt es doch anderswo auch. Und wo davon, dass der Aztekenkönig Moctezuma
Selbstkritik, Kritik und schonungslose Ana- eigentlich nichts mit den Mayas zu tun hat,
lysen nicht erwünscht sind, da ändert sich zeigt dieses Beispiel, wie häufig schon das
auch nichts. Es ist, als würde einem Arzt un- historische Erbe Mexikos als belastet darge-
tersagt, dem Kranken die Diagnose mitzutei- stellt wird.
len. Und so kann er ihm auch keinen Behand-
lungsplan nahelegen.
Sichtbare und unsichtbare Fronten
Das gilt auch für das politische und gesell-
schaftliche System. Nach der fast 40-jährigen Die Mehrzahl der rund 170 000 städtischen
Diktatur von Porfirio Diaz gelangte die Re- Polizisten in Mexiko-Stadt verdient monat-
volutionär-Institutionelle Partei (Partido Re- lich etwa 5000 Pesos (ca. 300 Euro) oder we-
volucionario Institucional, PRI) zu Beginn niger. Dies macht sie empfänglich für Korrup-
der 1920er Jahre an die Macht. Sie herrsch- tion; sie verlangen fast gezwungenermaßen
te gut sieben Jahrzehnte, institutionalisier- Schmiergelder, um ihre Familien ernähren zu
te aber keineswegs die Revolution, sondern können. Viele Polizisten lassen sich auch von
monopolisierte die Macht, ähnlich wie später den Drogenkartellen engagieren und werden
die kommunistischen Parteien in Osteuropa. selbst Entführer, Erpresser, Räuber. So ist es
„Das Schlechteste des Kapitalismus und das kein Wunder, es in der Bevölkerung kaum
Schlechteste des real existierenden Sozialis- Vertrauen in die staatlichen Institutionen
mus“ habe sich seinerzeit in Mexiko getrof- gibt. Der Polizei wird nach Möglichkeit aus
fen, schrieb darüber der mexikanische Autor dem Weg gegangen, Überfälle und Einbrüche
Ricardo Cayuela. werden nur angezeigt, wenn es nicht mehr an-
ders geht. Auch kleinere Unfälle machen die
Heute Mexiko ist ein sogenanntes Schwel- Mexikaner lieber untereinander aus: Bei der
lenland, ein Land der „Dritten“ auf dem Weg Polizei auf der Wache erwarten sie nur Un-
in die „Erste Welt“ – Ankunft unbestimmt. annehmlichkeiten. Diese Haltung setzt sich
Politisch ist es auf dem Weg in eine Demokra-
tie, eine eher präsidiale oder eher parlamen- ❙2  Jorge Castaneda, Manana o pasado. El misterio de
tarische Demokratie, auch das ist noch nicht los mexicanos, Mexico-Stadt 2011.

4 APuZ 40–42/2011
fort in alle Bereiche der Gesellschaft. Laut Norden des Landes, wo sich die Kartelle um
dem Anfang Mai 2011 veröffentlichten Nati- die Schmuggelrouten vor allem bekriegen. So
onalen Korruptionsindex haben die Mexika- kann von heute auf morgen auch im Zentrum
ner im Jahr 2010 in rund 200 Millionen Beste- des Landes aus einem Paradies ein Vorhof zur
chungstatbeständen insgesamt 32 Milliarden Hölle werden. Cuernavaca etwa, die Haupt-
Pesos (knapp zwei Milliarden Euro) für Kor- stadt des kleinen Bundesstaates Morelos, wo
ruption ausgegeben. Demnach hat jeder me- die Reichen der mexikanischen Hauptstadt
xikanische Haushalt mit durchschnittlich ihre Wochenenden verbringen, wird terrori-
167 Pesos (ca. 10 Euro) Behörden, Polizisten, siert, seit dort der Drogenboss Arturo Beltran
Richter oder andere Stellen geschmiert. Leyva von Sicherheitskräften aufgespürt und
getötet wurde.
Nicht so vorsichtig wie die Normalbürger
und so diplomatisch wie die Politiker sind In- Menschenrechtsverletzungen und Gewalt
tellektuelle, Künstler und ehemalige Amts- seitens der staatlichen Institutionen nimmt
träger. Sie fordern etwa die Legalisierung des Calderón in Kauf, Kritik daran lässt er an
Drogenhandels und rufen nach Reformen, sich abprallen. Im Mai 2011 veröffentlichte
um den Staat wieder funktionsfähig zu ma- Amnesty International (AI) seinen Jahresbe-
chen. Das Justizsystem, das politische System richt über die Menschenrechtslage in Mexiko.
und das Finanzsystem, alles müsse reformiert AI-Direktor Alberto Herrera Aragón pran-
werden, forderte kürzlich der Schriftsteller gerte darin vor allem die Straflosigkeit an und
Carlos Fuentes. Doch gerade in diesen Mo- konstatierte: „Die Politik der öffentlichen Si-
naten, ehe im kommenden Jahr die Amtszeit cherheit der Bundesregierung hinsichtlich
von Präsident Calderón endet und ein neuer der verwundbarsten Bevölkerungsschichten
Präsident und ein neues Parlament gewählt ist gescheitert.“ Dem „Drogenkrieg“ fielen in
werden, werden alle Projekte wieder in den knapp fünf Jahren bislang über 40 000 Men-
Schubladen versenkt. Als Calderón Anfang schen zum Opfer, den bisherigen Höhepunkt
Juni 2011 vorschlug, das Parlament möge län- stellt das Jahr 2010 mit 15 000 Morden dar,
ger tagen, um überfällige politische und wirt- ganz zu schweigen von den Entführungen,
schaftliche Reformen doch noch in seiner der Gewalt gegen Frauen und Kinder, der
Amtszeit zu beschließen, da lehnten die op- Ausgrenzung der indigenen Bevölkerung vor
positionellen Kräfte dies unter anderem mit allem im Süden des Landes und der Gewalt
dem Hinweis ab, dass sie sich an einer Show gegen Migranten, die Mexiko auf ihrem Weg
für die Medien nicht beteiligen würden. in die USA durchqueren. Zunehmend wer-
den die Menschenrechtsverletzungen auch
Im von ihm ausgerufenen „Drogenkrieg“ von staatlichen Behörden, der Polizei und
gegen das organisierte Verbrechen rechtfer- den Streitkräften begangen.
tigt Präsident Calderón seine Mission und
ihre Opfer bisweilen mit historischen Verglei- Nach Meinung von AI steht Mexiko des-
chen. Wie beim Sieg über die übermächtigen halb am Scheideweg: „Es kann die Dinge un-
französischen Invasionsstreitkräfte im Jahr ter den Bedingungen lassen, die ihm erlaubt
1862 habe Mexiko es auch heute mit mäch- haben, eine schlechte Machtausübung zuzu-
tigen Feinden zu tun. Kritik an seinem Weg, lassen (…). Oder es kann sich der gesellschaft-
die Gewalt mit Gewalt zu bekämpfen, begeg- lichen Klage annehmen, die nach drastischen
net Calderón mit Unverständnis: „Angesichts Änderungen verlangt.“ Danach sieht es der-
eines derartigen Feindes gibt es welche, die zeit aber nicht aus. Calderón ließ keine Ge-
wollen, dass unsere Truppen zurückweichen, legenheit aus, zu bekräftigen, dass er seinen
die wollen, dass unsere Institutionen weg- Kurs der harten Hand für alternativlos hält.
schauen und den Verbrechern freie Fahrt las- Als weiteres historisches Vorbild bemüh-
sen. Ein Zurückweichen der Sicherheitskräf- te er dabei den legendären britischen Premi-
te vor der kriminellen Welt würde bedeuten, erminister Winston Churchill. Auch dieser
den Verbrechern eine Lizenz zum Entführen, sei seinerzeit aufgefordert worden, den Nazis
Erpressen und auch zum Töten der Bürger zu nachzugeben. Im Ton des Briten erklärte Cal-
geben.“ Die zunehmende Unsicherheit, die derón: „Sie fragen mich, was ist unsere Poli-
um sich greifende Kriminalität und die Angst tik und Strategie? Ich sage: Unsere Politik ist,
sind derzeit die wichtigsten Themen in Me- zu Wasser, zu Lande und in der Luft mit aller
xiko. Und das gilt keineswegs nur für den Macht, die Gott uns geben kann, gegen eine

APuZ 40–42/2011 5
monströse Tyrannei zu kämpfen.“ So sei auch densein behindert offenbar Reformen, die das
Mexiko dabei, die Kriminellen zu bekämpfen Land zukunftsfähig gestalten könnten. Die
und sie letztlich zu besiegen. Reichen werden reicher, die Armen ärmer und
zahlreicher, und eine Mittelschicht entsteht
Ein Sieg ist indes nicht in Sicht. In dem nur langsam. Es steht zu befürchten, dass vie-
Krieg, in den Calderón bislang rund 50 000 le Menschen, die aus der Mittellosigkeit auf-
Soldaten geschickt hat, gibt es keine sichtba- gestiegen sind, bei der nächsten Krise wieder
ren Fronten. Auf Polizei, Staatsanwaltschaf- in die Armut fallen – so wie es schon in den
ten, Gerichte ist kein Verlass. Bis in die höchs- vergangenen Jahren der Fall war, weil Mexiko
ten Ämter ist der Staat von der Drogenmafia aufgrund seiner Abhängigkeit von den USA
unterwandert. So ist das Drogengeschäft zu besonders hart von der Finanzkrise in Mitlei-
einer Basis des wirtschaftlichen Wirkens Me- denschaft gezogen wurde. In guten Zeiten ist
xikos geworden; seine Einnahmen übertref- die Nähe zu den USA ein Segen, doch in der
fen sowohl die Gewinne aus dem Tourismus Krise erweist sich die Abhängigkeit als eine
als auch die Überweisungen der über zehn große Gefahr – sie wirkt wie ein Monopol.
Millionen mexikanischen Gastarbeiter in den
USA. Selbst die Gewinne des staatlichen Erd- Noch heute ist der Staatskonzern Pemex
ölkonzerns Petroleos Mexicanos (Pemex) lie- ein Beispiel des verhärteten sozialistischen
gen darunter. Realismus, der jeden Fortschritt blockiert,
weil er den gesamten Sektor monopolisiert
hat. Aber auch dort, wo Staatsunternehmen
Gelähmte Gesellschaft privatisiert wurden, sind neue Monopole ent-
und Rufe nach Reformen standen, die sich die einflussreichen Famili-
en gesichert haben. Diese – die Slims, Sali-
Pemex ist das wichtigste mexikanische Un- nas, Ascaragas, Zambranos, um nur einige
ternehmen. Dem Öl verdankt Mexiko sein zu nennen – zeigen nur verbal Interesse an ei-
Wirtschaftswunder, durch das es in den ver- nem Staat, der eine gerechtere Verteilung des
gangenen Jahrzehnten von einem Entwick- Wohlstandes anstreben könnte. Tatsächlich
lungs- zu einem Schwellenland geworden setzen sie alles daran, ihre Monopolstellung
ist. Doch hinter den Glasfassaden dominiert zu sichern.
der Ruin, wuchern soziale Probleme, drohen
Gewalt und Armut. Der Umstand, dass ein Angesichts dieser Lage ist es nur verständ-
Großteil des Staatshaushalts durch die Ein- lich, dass landauf, landab nach grundlegenden
nahmen von Pemex aufgebracht wird, befreit Reformen gerufen wird. Doch Calderón hat
den Steuerzahler scheinbar von seinen Ver- bisher keines seiner wichtigen Reformprojek-
pflichtungen, den Staat am Leben zu erhalten te durchsetzen können, oder die Neuerungen
und ihn in die Lage zu versetzen, seine grund- wurden so verwässert, dass sie wirkungslos
sätzlichen Aufgaben wahrzunehmen, Stra- geblieben sind. Angesichts der bevorstehen-
ßen und Schulen zu bauen, die Unversehrt- den Präsidenten- und Parlamentswahlen im
heit der Bürger zu garantieren. Ändern wird Jahr 2012 ist klar, dass sich auch nicht mehr
sich daran in absehbarer Zeit nichts, denn viel tun wird, weil ein Erfolg vermutlich nur
es gibt keine politische Kraft, die sich trau- der Regierungspartei PAN (Partido Accíon
en würde, die 1938 verstaatlichte Ölindus­ National) zugute käme.
trie etwa durch mehr private Unterstützung
effektiver zu gestalten. Doch das wäre not- Gegen Calderóns Politik, insbesondere ge-
wendig, denn die Vorräte erschöpfen sich zu- gen seine Sicherheitsgesetze, durch die er den
sehends, und die Ölproduktion sinkt bestän- massiven Einsatz der Streitkräfte gegen die
dig. Fieberhaft wird nach weiteren Ölfeldern organisierte Kriminalität nachträglich lega-
gesucht, um dem Niedergang der Ölindustrie lisiert hat, regt sich zunehmend Widerstand.
entgegenzuwirken. Doch möchte man dem Denn die Gesetze erlauben es dem Präsiden-
Land fast wünschen, dass die Quellen rasch ten, unter dem Vorwand der Kriminalitätsbe-
versiegen, damit der Druck zur Modernisie- kämpfung in jedem Winkel des Landes auch
rung der Gesellschaft weiter steigt. gegen soziale Bewegungen vorzugehen. Dies
sei, so die Kritiker, die Vorstufe zu einem Po-
Auch im Falle Mexikos sind die Bodenschät- lizei- und Militärstaat. Der Dichter Javier Si-
ze also nicht nur ein Segen, denn ihr Vorhan- cilia aus Cuernavaca, dessen Sohn Anfang

6 APuZ 40–42/2011
2011 ermordet wurde, rief eine Protestbewe- ges der Kartelle geführt – und zu einer Ver-
gung ins Leben, die inzwischen auch politi- schlechterung der Menschenrechtslage. In frü-
sche Forderungen formuliert. „Wir wollen heren Zeiten wurden die Streitkräfte vor allem
die Regierung nicht stürzen“, betonte er zwar gegen Aufstandsbewegungen eingesetzt; viele
mehrfach, aber seine Bewegung wolle „das Mexikaner befürchten, dass mit dem massi-
gesellschaftliche Dach rekonstruieren, gegen ven Einsatz in den nördlichen Provinzen auch
die absurde Gewalt des Krieges“. Mehrere der Rechtsstaat auf der Strecke bleibt. Der
Wochen zog Sicilia durch das Land, besuchte „Drogenkrieg“ liefert den despotisch herr-
auch die von Kriminalität besonders betrof- schenden, von der Mafia unterwanderten In-
fenen Regionen im Norden an der Grenze zu stitutionen in den Regionen einen Vorwand,
den USA und forderte eine grundlegende Re- ihre Macht zu missbrauchen und Menschen-
form des politischen Systems in Mexiko. Un- rechtsbewegungen zu ­unterdrücken.
terstützt wird er unter anderem vom Bischof
von Saltillo, Raúl Vera López, der sagt: „Das Der im März 2011 mit dem AI-Menschen-
Land zerbröselt von Tag zu Tag mehr. Straf- rechtspreis ausgezeichnete Aktivist Abel
losigkeit und Unsicherheit nehmen zu. Mexi- Barrera aus dem Bundesstaat Guerrero sagte
ko ist ein Land ohne Kopf. Bei den Regieren- kürzlich in einem Interview mit dem „Tages-
den sehe ich keine demokratische Mentalität.“ spiegel“: „Es ist schlimmer geworden. Nie-
Das Sicherheitsgesetz sei mit Diktatorentinte mand vertraut mehr in die Justiz, niemand
geschrieben. „Es zielt darauf ab, den Staat vor erstattet auch nur Anzeige, denn die Wahr-
seinen Bürgern zu schützen, aber nicht da- scheinlichkeit ist größer, dass das Opfer be-
rauf, die Gesellschaft zu verteidigen.“ droht wird, als dass es Konsequenzen für
den Täter hat. Die Selbstjustiz greift um sich,
und die Menschen versuchen, sich so gut es
Düstere Aussichten geht selbst zu schützen. Der Staat hat abge-
dankt.“ Nach sieben Jahrzehnten der Herr-
Doch wer sollte die mexikanische Gesell- schaft einer einzigen Partei, der PRI, hatte
schaft verteidigen können? Eine dominieren- Mexiko seit dem Jahr 2000 schon den Weg in
de Mittelklasse gibt es noch nicht. Die Armen, Richtung Demokratie beschritten. Nach den
immerhin über 40 Prozent der Bevölkerung, Einschränkungen durch den „Drogenkrieg“
kommen auch nicht in Frage. Ihnen werden befürchten nun viele, dass mit der wahr-
Menschenrechte, die Werte des Rechtsstaats scheinlichen Rückkehr der PRI an die Macht
und Mitsprache vorenthalten. Es gibt, selbst- im kommenden Jahr auch einige demokrati-
verständlich, eine Verfassung und unzählige sche Errungenschaften wieder verspielt wer-
Gesetze, aber sie werden nicht eingehalten. den könnten.
Korruption gehört zur mexikanischen Nor-
malität. Und in den Narco-Gebieten des Nor-
dens hat der Staat völlig abgedankt. Tausende
von Einwohnern dort haben aufgegeben, sind
in die USA emigriert oder in vermeintlich si-
chere Gebiete umgezogen. Und die meisten
Mexikaner finden sich offenbar damit ab. Es
ist dieses scheinbar wehrlose Hinnehmen,
das Autoren wie der ehemalige Außenminis- Mehr Infos zu
ter Jorge Castaneda meinen, wenn sie schrei- Mexiko und anderen
ben, dass es scheint, als müssten die Mexika- Ländern Lateinamerikas
ner stets in eine Opferrolle schlüpfen.

Es gibt Politologen, die sagen, dass in Me- Lateinamerika-Dossier:


xiko bald sogar ein Bürgerkrieg ausbrechen www.bpb.de/lateinamerika
könnte. Dafür gibt es einige Gründe, doch
zunächst muss man anderes befürchten. Der
Einsatz der Streitkräfte gegen die organisier-
te Kriminalität hat nicht die erhoffte Verbes-
serung der Sicherheitslage zur Folge gehabt,
sondern eher zu einer Verschärfung des Krie-

APuZ 40–42/2011 7
Karl-Dieter Hoffmann ereinsatz gegen die Kartelle bzw. deren gut
bewaffnete Schutztrupps. Hintergrund der
Calderóns geschei- Regierungsoffensive war ein seit etwa 2002
eskalierender, blutiger Konkurrenzkampf in-

terter Feldzug gegen nerhalb des Drogenhandel-Oligopols, der al-


lein im Wahljahr 2006 rund 2100 Todesopfer
forderte. Da parallel dazu auch die allgemei-
die Drogenkartelle ne Gewaltkriminalität stark anstieg, wuchs in
der Bevölkerung die Besorgnis über den pre-
kären Zustand der öffentlichen Sicherheit.

D er „Drogenkrieg“ in Mexiko illustriert


auf besonders drastische Weise die Tatsa-
che, dass Jahr für Jahr im Kontext der Produk-
Calderóns forsche Vorgehensweise wird
nur verständlich im Zusammenhang mit dem
tion und Distribution knappen Ausgang der Präsidentschaftswahl
Karl-Dieter Hoffmann verbotener Suchtstoffe und den Zweifeln an der Rechtmäßigkeit seines
Dr. sc. pol., geb. 1950; Politik- wesentlich mehr Men- Wahlsiegs bzw. seiner politischen Legitimati-
wissenschaftler, Geschäfts- schen sterben als infol- on. Durch ein konsequentes Vorgehen gegen
führer des Zentralinstituts ge des Konsums sol- das organisierte Verbrechen hoffte der Präsi-
für Lateinamerika-Studien an cher Substanzen. Was dent Führungsstärke demonstrieren und sei-
der Katholischen Universität auf den ersten Blick als ne Popularität steigern zu können. Dass dieses
Eichstätt-Ingolstadt, Osten­ Paradoxon erscheinen Kalkül aufging, ließ sich leicht an den steigen-
straße 26, 85072 Eichstätt. mag, ist Resultat der den und dann auf hohem Niveau verharrenden
karl.hoffmann@ spezifischen Funkti- Umfragewerten ablesen. Die öffentliche Stim-
ku-eichstaett.de onslogik illegaler Dro- mung änderte sich jedoch seit Mitte 2008 in
genmärkte. Es sind vor dem Maße, wie die von Calderón versproche-
allem die exorbitanten Gewinnspannen, die ne Wende im Gewaltgeschehen auf sich war-
zu erklären vermögen, warum der Konkur- ten ließ. Die von der Regierung fortwährend
renzkampf verschiedener Drogenanbieter vor- veröffentlichten Erfolgsmeldungen ihrer An-
zugsweise mit gewalttätigen Mitteln ausgetra- tidrogenstrategie – Verhaftungen im Drogen-
gen wird: Die Differenz zwischen dem Preis, händlermilieu, Beschlagnahmungen von il-
den der Konsument für eine Ware zahlt, und legalen Suchtstoffen und Waffen, Zerstörung
deren wirklichen Produktionskosten dürfte von Marihuana- und Schlafmohnfeldern so-
bei keiner Güterkategorie größer sein als bei wie Drogenlabors – korrespondieren auf ma-
den „harten“ Drogen (Kokain, Heroin) und kabre Weise mit den rasant steigenden Zahlen
synthetischen Suchtmitteln. Ein anderes Kal- in der Opferbilanz des mexikanischen war on
kül liegt dem Geschäft mit Cannabis zugrun- drugs. Wurden 2007 rund 2600 drogenhan-
de: Da es sich um die weltweit mit Abstand am delsbedingte Todesfälle gezählt, waren es ein
stärksten nachgefragte illegale Droge handelt, Jahr später schon mehr als 5100, 2009 knapp
sind es die riesigen Absatzmengen, die trotz 6600, und 2010 waren es bereits mehr als 11 500
des relativ niedrigen Endverbraucherpreises Tote. ❙2 Rund eine Viertelmillion Menschen ha-
für hohe Umsätze und Gewinne sorgen. ❙1 ben ihren Wohnort auf der Flucht vor der dro-
genhandelsinduzierten Gewalt verlassen. ❙3
Nahezu fünf Jahre sind vergangen, seit der
mexikanische Präsident Felipe Calderón den Bisher deutet nichts darauf hin, dass die Re-
Drogenhändlerbanden den „Krieg“ erklärte. gierung diesen Konflikt für sich entscheiden
Er ließ der markigen Wortwahl rasch Taten könnte; die postulierten Ziele wurden klar ver-
folgen und übertrug dem Militär die Haupt- fehlt: Anstatt den Einfluss und Aktionsradius
rolle bei der Bekämpfung der (fälschlicher- der Kartelle spürbar zu verringern, sind diese
weise) sogenannten Drogenkartelle, deren heute in mehr Regionen des Landes präsent
Einnahmen größtenteils aus dem Schmuggel
verschiedener illegaler Suchtstoffe in die USA
stammen. Nach und nach wurden immer mehr ❙1  Vgl. UNODC (Hrsg.), World Drug Report 2011,
Wien 2011, S. 19–34.
Truppenkontingente gegen diverse Hochbur-
❙2  Vgl. Viridiana Ríos/David A. Shirk, Drug Violence
gen des Drogenhandels in Marsch gesetzt; seit in Mexico. Data and Analysis through 2010, San Die-
2008 befinden sich insgesamt rund 45 000 Sol- go 2011.
daten an wechselnden Schauplätzen im Dau- ❙3  Vgl. El Universal vom 6. 4. 2011.

8 APuZ 40–42/2011
als zu Beginn von Calderóns Präsidentschaft. Bereich der von den kolumbianischen Dro-
Der massive Militäreinsatz hat vielmehr dazu genkartellen bevorzugten Transportrouten
beigetragen, dass sich die Gewaltspirale immer durch die Karibik intensivierten. Vor allem
schneller dreht. Bei einer strengen Auslegung die Existenz einer kriminellen Infrastruk-
des Begriffs hat der Staat seinen Anspruch auf tur machte die 3200 Kilometer lange mexi-
das legitime Gewaltmonopol längst verwirkt; kanische Nordgrenze zu einer idealen Alter-
weniger rigoros interpretiert lautet der Be- native für den klandestinen Drogentransfer
fund, dass die immer dreister agierenden para- in die USA. Fungierten die mexikanischen
militärischen Kämpfertrupps der Kartelle das Schmugglerbanden in der ersten Zeit als eine
staatliche Gewaltmonopol ernsthaft in Frage Art Juniorpartner der kolumbianischen Ko-
stellen. Auch wenn es gute Argumente dafür kainlieferanten, änderte sich diese Konstella-
gibt, dass Mexiko von einem failed state noch tion nach der Zerschlagung der Kartelle von
weit entfernt ist, lässt sich wohl kaum bezwei- Medellín und Cali in den Jahren 1993 bis 1995.
feln, dass sich das Land mitten in einem failed Dies löste eine Neuordnung des kolumbiani-
war befindet. ❙4 Die Anzeichen eines zuneh- schen Kokaingeschäfts in Gestalt einer Viel-
menden Staatsversagens in mehreren Regio- zahl kleiner und mittlerer Drogensyndikate
nen und Großstädten sind weniger Resultat aus, während dadurch auf mexikanischer Sei-
der wachsenden Machtfülle des organisierten te ein gegenläufiger Trend begünstigt wurde.
Verbrechens als Folge einer nicht nur ineffizi- Dort bildeten sich binnen weniger Jahre in
enten, sondern zumindest partiell auch kont- dem Maße große Drogenhandelsorganisatio-
raproduktiven Strategie zur Eliminierung der nen heraus, wie der Anteil des mexikanischen
Drogenkartelle. Transithandels an der Gesamtmenge des auf
den US-Markt gelangenden Kokains anstieg.

Aufstieg der mexikanischen Kartelle Spätestens seit der zweiten Hälfte der 1990er
Jahre diktieren die mexikanischen Kartelle die
Es gehört nicht viel Mut dazu, die These zu Geschäftsbedingungen im interamerikani-
formulieren, dass sich die mexikanische Dro- schen Kokainhandel. Heute liefern mexikani-
genproblematik völlig anders darstellen wür- sche Banden rund 90 Prozent des in den USA
de, fände das Land auf der anderen Seite sei- konsumierten Kokains sowie einen Großteil
ner Nordgrenze nicht den weltweit größten des dort nachgefragten Heroins und Mari-
und lukrativsten Markt für illegale Suchtstof- huanas, letztere aus heimischer Produktion.
fe vor. Der Aufstieg Mexikos zum wichtigs- Mittlerweile werden in Mexiko auch in gro-
ten Lieferanten des US-Drogenmarktes ist ßem Maßstab synthetische Rauschmittel (vor
dabei nur eine von mehreren Facetten eines allem Methamphetamin) für den US-Markt
weltweit singulären Nachbarschaftsverhält- produziert.
nisses, dessen Charakteristika in erster Linie
vom krassen Wohlstands- und Machtgefälle Die Entwicklung der Drogenbanden zu
zwischen den beiden Staaten geprägt werden. schlagkräftigen bewaffneten Akteuren, de-
ren kriminelles Treiben der Staat nicht zu un-
Als Ende der 1970er Jahre der rasche Auf- terbinden vermag, geht auf ein Bündel von
stieg des kolumbianischen Kokains zum be- Ursachen zurück, unter denen die riesigen
liebtesten und umsatzstärksten illegalen Einnahmen aus dem Transithandel mit Ko-
Suchtstoff auf dem US-Drogenmarkt be- kain zweifellos den gewichtigsten Einzelfak-
gann, partizipierten alsbald auch mexikani- tor darstellen. Die Grenze zwischen Mexiko
sche Schmugglerbanden an diesem Geschäft, und den USA bildet jene Schnittstelle in der
viele Jahre lang jedoch nur in geringem Maße. langen Handelskette zwischen der Rohstoff-
Das änderte sich, als die USA etwa zehn Jah- produktion (Koka) und dem Endverbraucher,
re später ihre Überwachungsaktivitäten im an der die größte absolute Wertsteigerung der
illegalen Ware erfolgt. Die Differenz zwi-
❙4  Vgl. Jorge Castañeda, What’s Spanish for Quag- schen dem Großhandelspreis in Kolumbien
mire?, in: Foreign Policy, (2010) Januar–Februar, und den USA beträgt je nach Marktlage zwi-
S.  78–82; Karl-Dieter Hoffmann, Mexiko im „Dro-
schen 15 000 und 20 000 US-Dollar pro Ki-
genkrieg“ – auf dem Weg zu einem failed state?, in:
Günter Meyer/Andreas Thimm (Hrsg.), Staatlichkeit logramm. Der weit überwiegende Teil dieser
in der Dritten Welt – fragile und gescheiterte Staaten Verdienstspanne fließt in die Taschen der me-
als Entwicklungsproblem, Mainz 2011 (i. E.). xikanischen Schmugglerbanden.

APuZ 40–42/2011 9
Die erste Generation großer Drogenhandels- Mittlerweile ist es den mexikanischen Kar-
organisationen bestand im Wesentlichen aus tellen gelungen, ihren Einfluss weit über das
vier kriminellen Formationen, die jeweils be- nationale Territorium hinaus auszuweiten.
stimmte Abschnitte entlang der Grenze zu den Den US-Justizbehörden zufolge kontrollie-
USA kontrollierten. Dies waren die Kartelle ren mexikanische Organisationen seit etwa
von Tijuana und Ciudad Juárez (zwei bedeu- 2008 den Großhandel mit Kokain und ande-
tende Grenzstädte), das nach dem nordwest- ren Suchtmitteln in nahezu allen Großstäd-
lichen Gliedstaat benannte Sinaloa-Kartell ten der Vereinigten Staaten. ❙5 Die in den USA
sowie das im Nordosten des Landes veran- operierenden gangs sind zwar keine direkten
kerte cártel del golfo. Dass es sich bei den gro- Ableger der in Mexiko aktiven Kartelle, un-
ßen Drogenhandelsorganisationen nicht um terhalten aber enge Verbindungen zu diesen.
homogene, firmenähnliche Gebilde handelt, Ihre Mitglieder rekrutieren sich in der Regel
zeigt sich am deutlichsten beim Sinaloa-Kar- aus in den USA lebenden Mexikanern. Außer-
tell. Dieses wird häufig auch als federación be- dem haben mexikanische Drogenbanden ihre
zeichnet, was schon darauf hindeutet, dass es Präsenz in den Staaten des zentralamerikani-
aus einem Verbund mehrerer krimineller Or- schen Isthmus verstärkt, über den die wich-
ganisationen besteht, wobei sich das Gemein- tigsten Lieferrouten für Kokain verlaufen.
schaftsprofil primär aus dem Abwehrverhal-
ten gegenüber den Konkurrenzorganisationen Einen Teil der großen Gewinne nutzen die
ergibt. Die mythisch verklärte Führungsfigur Kartelle zur Korrumpierung staatlicher Stel-
an der Spitze der Föderation ist Joaquín „El len und Funktionsträger. Besonders zweck-
Chapo“ („der Kleine“) Guzmán, dem 2001 mäßig ist die Bestechung von Mitgliedern
eine spektakuläre Flucht aus einem Hochsi- oder auch ganzen Einheiten der Munizipal-
cherheitsgefängnis gelang und der seit Jahren polizei, weil sich die konkreten Aktivitäten
als meistgesuchter Verbrecher des Landes gilt. der Drogenbanden stets im lokalen Rahmen
abspielen. Begünstigend wirkt dabei zum ei-
nen die dezentrale Organisationsstruktur
Expansion und Korruption der mexikanischen Polizei, zum anderen der
Umstand, dass das Delikt „illegaler Drogen-
Das mit Abstand wichtigste Funktionsele- handel“ in die Kompetenz der Bundespolizei
ment im Distributionsnetz der Drogenkar- fällt. Auch der Ruf der Polizeibehörden auf
telle stellen die stark frequentierten Grenz- der Ebene der Gliedstaaten und des Bundes
übergänge zu den USA dar. In Tijuana oder hat infolge zahlreicher Korruptionsskandale
Ciudad Juárez konnten nur deshalb mächti- arg gelitten. In den vergangenen Jahren wur-
ge Drogenbanden entstehen, weil die nahe- den mehrere ranghohe Polizisten als Kollabo-
gelegenen ports of entry in die USA optima- rateure des einen oder anderen Drogenkartells
le Schmuggelmöglichkeiten offerieren. Eine enttarnt. ❙6 Zahlreiche fehlgeschlagene Polizei-
enorme Wertsteigerung im Geschäftskal- aktionen gegen Drogenbosse sind darauf zu-
kül der Kartelle erfuhren die Handelsplätze rückzuführen, dass die Einsatzpläne von In-
(plazas) in unmittelbarer Nähe von wichti- formanten aus den eigenen Reihen verraten
gen Grenzübergängen nach dem Inkrafttre- wurden. Eine Serie von Säuberungsaktionen
ten des Nordamerikanischen Freihandelsab- auf allen drei Ebenen der Polizeibehörden und
kommens (NAFTA) 1994. Seither hat sich mehrere organisatorische Reformen bei der
der Warenaustausch zwischen den USA und Bundespolizei zeitigten allenfalls kurzfristi-
Mexiko vervielfacht. Der tägliche Grenz- ge Erfolge. Auch die 2001 von Präsident Vi-
verkehr in die USA ist so groß, dass sich die cente Fox (2000–2006) nach dem Vorbild des
Kontrollen auf US-Seite auf Stichproben be- FBI geschaffene und mittlerweile schon wie-
schränken. Die Bedeutung der ports of entry der aufgelöste Bundespolizeibehörde AFI er-
bei Tijuana und Ciudad Juárez wird nur noch wies sich keineswegs als korruptionsresistent.
vom Grenzübergang zwischen Nuevo Lare- Sichtbare Erfolge der von Calderón initiierten
do und Laredo (Texas) übertroffen, wo mehr Polizeireformen beschränken sich bislang auf
mexikanische Waren die Grenze passieren als
an jedem anderen der insgesamt 25 Kontroll- ❙5  Vgl. U. S. Department of Justice, National Drug
punkte. Die plaza Nuevo Laredo bildete lan- Threat Assessment, Washington, DC 2010.
ge Zeit die strategische Relaisstation im Ein- ❙6  Siehe Anabel Hernández, Los señores del narco,
flussgebiet des Golf-Kartells. México, DF 2010.

10 APuZ 40–42/2011
die Bundesebene, während insbesondere im rüchtigten Arellano Félix-Clan in Tijuana in
Munizipalbereich kaum Verbesserungen er- der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Mit der Er-
zielt werden konnten. ❙7 Nach wie vor kommt mordung von sechs Mitgliedern des Sinaloa-
es häufig vor, dass lokale Polizeieinheiten we- Kartells und einem Bombenanschlag auf ein
gen Kollaboration mit dem organisierten Ver- Haus von „El Chapo“ begann Anfang 1992
brechen kollektiv vom Dienst suspendiert eine Serie von gegenseitigen Attacken, zu de-
werden; in Hunderten von Fällen übernah- ren Opfern der im Mai 1993 von Söldnern der
men Militäroffiziere die Führung von städ- Tijuana-Gang irrtümlich getötete Erzbischof
tischen Polizeibehörden. Ein Teil der entlas- von Guadalajara gehörte. ❙8 Die Regierung re-
senen Polizisten heuert mangels Alternativen agierte auf diese spektakuläre Tat mit einer In-
bei den Drogenbanden an. Schon einige der tensivierung der Fahndungsmaßnahmen, die
bekanntesten Drogenbosse der ersten Gene- unter anderem zur Ergreifung von „El Cha-
ration taten früher bei der Polizei Dienst. po“ führten. Diese bewirkte zwar eine vorü-
bergehende Deeskalation, schaltete das Sina-
Die in starkem Maße durch die notorische loa-Kartell aber keineswegs aus.
Korruption bedingte mangelnde Effizienz der
Polizeibehörden gilt als einer der wichtigsten Als der legendäre Chef des Juárez-Kartells,
Gründe dafür, dass Präsident Calderón die Amado Carillo Fuentes, 1997 bei einem ge-
Bekämpfung der Drogenkartelle dem Militär sichtschirurgischen Eingriff verstarb, wit-
übertrug. Nun lässt sich kaum bestreiten, dass terten die anderen Kartelle eine Chance, ih-
die Streitkräfte bei weitem nicht so korrupti- ren Einflussbereich auf diese attraktive plaza
onsanfällig sind wie die Polizei. Das Risiko auszuweiten. Die Juárez-Gruppe suchte sich
steigt allerdings in dem Maße an, wie das Mi- durch ein Bündnis mit der Sinaloa-Föderati-
litär in die Bekämpfung der Drogenkrimina- on der Angriffe der verbündeten Golf- und
lität einbezogen wird. Seit einigen Jahren be- Tijuana-Kartelle zu erwehren. In wechseln-
mühen sich die Kartelle auch verstärkt um die den Allianzen und Konstellationen weite-
Bestechung von Zollbeamten und Sicherheits­ ten die Kartelle in den folgenden Jahren ih-
personal auf US-Seite. Die erfolgreiche Rek- ren erbitterten Kampf um die Vorherrschaft
rutierung eines solchen Kollaborateurs hat für in Juárez, Tijuana, Nuevo Laredo und ande-
die Kartelle einen Nutzwert, der auf heimi- ren plazas aus. Verhaftungen einzelner Füh-
schem Gebiet allenfalls von Informanten und rungspersönlichkeiten stellten dabei keine
Protektoren in der Führungsebene staatlicher wirklichen Erfolge dar, ist es doch in mexi-
Einrichtungen übertroffen wird. Infolge der kanischen Haftanstalten keineswegs unge-
Eskalation der blutigen Fehde zwischen den wöhnlich, dass sich prominente Insassen aus
verfeindeten Drogenbanden haben sich die dem Drogenhandelsmilieu durch Korrup-
Voraussetzungen für die Rekrutierung von tions- und Einschüchterungspraktiken Privi-
Kollaborateuren und Informanten innerhalb legien und Freiräume verschaffen, die es ihnen
staatlicher Einrichtungen eher verbessert. Die ermöglichen, mittels moderner Kommunika-
ausufernde Gewalt hat eine allgemeine At- tionsmittel die Aktivitäten ihrer kriminellen
mosphäre der Bedrohung geschaffen, die der Organisationen weiterhin zu steuern.
makaber-zynischen Alternative plata o plomo
(Geld oder Blei) traurige Relevanz verleiht. Der Konfliktverlauf wurde durch mehre-
re Faktoren maßgeblich beeinflusst. Der erste
davon betrifft die verstärkten Anstrengungen
Beschleunigung der Gewaltspirale auf US-Seite zur Absicherung und Überwa-
chung der Grenze sowie zur Effizienzsteige-
Den Auftakt des blutigen Konkurrenzkampfs rung der Kontrollen an den Grenzübergän-
zwischen den großen Drogenbanden bildete gen. Gelingt es angesichts dieses Trends einem
die Fehde zwischen dem Sinaloa-Kartell und Kartell, seinen territorialen Einflussbereich zu
dem für seine extreme Gewaltbereitschaft be- Lasten eines Konkurrenten auszuweiten, ver-

❙7  Siehe Daniel Sabet, Police Reform in Mexico: Ad- ❙8  Zur Geschichte der mexikanischen Kartelle sie-
vances and Persistent Obstacles, in: Eric L. Olson he u. a. Malcolm Beith, The Last Narco. Hunting El
et al. (eds.), Shared Responsibility: U. S.-Mexico Po- Chapo, London 2010; George W. Grayson, Mexico.
licy Options for Confronting Organized Crime, San Narco-Violence and a Failed State, New Brunswick–
Diego 2010, S. 247–270. London 2010.

APuZ 40–42/2011 11
größert sich das Arsenal seiner Schmuggelop- mexikanischen Armee verzeichnen. Im Zeit-
tionen. Ungleich wichtiger ist ein zweiter As- raum von 2001 bis 2010 registrierte das Mili-
pekt: das Erreichen einer gewissen Obergrenze tär mehr als 150 000 irreguläre Abgänge, davon
beim mexikanischen Lieferanteil an der in den mehr als 1600 Elitesoldaten. ❙10 Unter Präsident
USA verkauften Kokainmenge. Solange die- Calderón wurde der Sold für die unteren mili-
ser Anteil im Steigen begriffen war (1990: rund tärischen Ränge bereits zweimal spürbar ange-
30 Prozent; 2000: rund 70 Prozent) hatten alle hoben, ohne dass dadurch die Desertionsquote
Kartelle die Chance, an den damit verbunde- nennenswert verringert werden konnte.
nen Mehreinnahmen zu partizipieren. Da der
seit etwa 2005 um die 90  Prozent oszillieren- Die geografische Nähe zum wenig regu-
de Beitrag zur Deckung der US-Nachfrage lierten Waffenmarkt der USA erleichtert es
kaum weiter ausbaufähig ist, lassen sich grö- den Kartellen, ihre Schutztrupps mit moder-
ßere Gewinnzuwächse im grenzüberschreiten- nem Kriegsgerät auszurüsten. Pistolen und
den Schmuggelgeschäft nur noch auf Kosten Gewehre werden von Strohmännern in US-
der Marktanteile der anderen Kartelle realisie- Waffengeschäften oder auf sogenannten gun
ren, zumal sich gleichzeitig in den USA eine shows erworben, großen Verkaufsveranstal-
Stagnation des Kokainverbrauchs bemerkbar tungen für zumeist gebrauchte Waffen, wo
machte. Der dritte Faktor bezieht sich auf den die tödliche Ware ohne jegliche Identitäts-
raschen Bedeutungsanstieg des mexikanischen kontrolle des Käufers den Besitzer wech-
Drogenmarkts, der zu einem verstärkten En- selt. Die Waffen gelangen als Schmuggelwa-
gagement der Kartelle in Mexiko selbst führ- re nach Mexiko, wo sie zum Mehrfachen des
te. Insbesondere in Großstädten kommt es im- Kaufpreises in die Arsenale der Drogenban-
mer wieder zu blutigen Auseinandersetzungen den übergehen. Appelle der mexikanischen
zwischen Angehörigen verschiedener Drogen- Regierung an die USA, den Waffenschmug-
banden. ❙9 Sehr viele Opfer des „Drogenkriegs“ gel Richtung Süden zu unterbinden, zeitigten
sind daher kleine Dealer. bislang wenig greifbare Folgen.

Die Intensivierung des Bandenkonflikts Die Eskalation des Konflikts betrifft nicht
ging mit einer Paramilitarisierung der Sicher- nur die rasch steigenden Opferzahlen, son-
heitsapparate der Kartelle einher. Golf-Kar- dern auch die zunehmende Brutalität und
tell-Chef Osiel Cárdenas Guillén übernahm Grausamkeit, welche die Gewalthandlungen
die Pionierrolle, als er Ende der 1990er Jahre kennzeichnen. Im mexikanischen Banden-
eine schlagkräftige Kampftruppe formierte, krieg werden prinzipiell keine Gefangenen ge-
deren Kern aus desertierten Mitgliedern einer macht; Mitglieder gegnerischer Kartelle, derer
Spezialeinheit der mexikanischen Streitkräf- man habhaft wird, werden fast ausnahmslos
te bestand und die unter der Bezeichnung Ze- getötet. Auch wenn es früher schon üblich
tas aufgrund ihres ebenso professionellen wie war, die Gefangenen zwecks Informationsge-
rücksichtslosen Vorgehens alsbald schaurige winnung vor ihrer Ermordung körperlichen
Berühmtheit erlangte. Die Mitglieder der Ze- Torturen zu unterziehen, haben die in jüngs-
tas werden in geheimen Trainingscamps mi- ter Zeit praktizierten Foltermethoden eine
litärisch geschult, sind mit modernen Schuss- Dimension erreicht, die das damit verbunde-
waffen und neuester Kommunikationstechnik ne Leiden unvorstellbar machen. Die fürch-
ausgerüstet, agieren in größeren, hierarchisch terlich entstellten Leichen, die zur Verstär-
strukturierten Formationen und treten zum kung der medialen Aufmerksamkeit oftmals
Teil in einheitlichen Uniformen in Erschei- an stark frequentierten öffentlichen Orten
nung. Um der Effizienz dieser Kampfverbände abgelegt werden, geben Zeugnis von diesem
entgegenwirken zu können, kamen die gegne- Trend. 2006 tauchten die ersten abgetrennten
rischen Kartelle nicht umhin, den Professiona- Köpfe sowie Leichen ohne Köpfe auf. Was zu
lisierungsgrad ihrer eigenen Schutztrupps zu Beginn auf die Einschüchterung des Gegners
verbessern. Es liegen zahlreiche Indizien dafür abzielte, hat sich mittlerweile längst zu einem
vor, dass die Söldnerverbände der Drogenban- grausamen Ritual gewandelt.
den einen stetigen Zugang von Deserteuren der
Der war on drugs hat mittlerweile zu deut-
❙9  Siehe Jorge Fernández/Ana María Salazar, El ene- lichen Kräfteverschiebungen in der Kartell-
migo en casa. Drogas y narcomenudeo en México,
México, DF 2008. ❙10  Vgl. Milenio vom 3. 7. 2011.

12 APuZ 40–42/2011
Landschaft geführt. Dazu trugen wie schon stiegen ist, stellen die Angehörigen der Dro-
früher Differenzen innerhalb der Führungs- genbanden mit über 85  Prozent noch immer
riege einzelner Kartelle sowie die Ausschal- das Gros der Toten. Trotz des massiven Mili-
tung einiger Drogenbosse bei. Im September täraufgebots ist es der Regierung in fünf Jahren
2004 wurde Rodolfo Carrillo, der Kopf des nicht gelungen, die dominante Rolle in diesem
Juárez-Kartells, im Auftrag von „El Chapo“ Konflikt zu übernehmen. Die martialische In-
ermordet, was der Allianz zwischen beiden szenierung des staatlichen Autoritätsanspruchs
Kartellen ein jähes Ende bereitete und den kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die
Anfang des systematischen Versuchs der Si- zum „Drogenkrieg“ abkommandierten Solda-
naloa-Föderation zur Übernahme der pla- ten weniger agieren denn reagieren und dass es
za Ciudad Juárez markiert. Ende 2007 löste primär die Kartelle und deren Söldnertrupps
sich die Beltrán Leyva-Bande aus der Sina- sind, welche die Dynamik und den Verlauf der
loa-Gruppe und ging alsbald eine Allianz mit Konfrontation bestimmen. Längst ist deut-
den berüchtigten Zetas ein, die sich zu jener lich geworden, dass der Maßnahmenkatalog
Zeit allmählich vom Golf-Kartell zu emanzi- des Militärs (Patrouillenfahrten, Straßenkont-
pieren begannen. Spätestens seit Anfang 2010 rollen) die Kampfkraft und operativen Kapa-
agieren diese als eigenständige Organisation, zitäten der Schutztrupps der Kartelle nicht zu
welche sich in einen gnadenlosen Feldzug ge- beeinträchtigen vermag. Auch wenn die para-
gen ihre ehemaligen Partner begeben hat. militärischen Kampfverbände das Tageslicht
nicht scheuen und sich häufig in großen Fahr-
2009 wurden in Ciudad Juárez über 2600 zeugkonvois fortbewegen, handelt es sich den-
Opfer des „Drogenkriegs“ registriert, womit noch um einen weitgehend unsichtbaren Geg-
der Kampf um die Beherrschung der begehrten ner, der in Guerillamanier blitzartig zuschlägt
plaza einen Höhepunkt erreichte. Vieles deu- und ebenso schnell den Einsatzort wieder ver-
tet darauf hin, dass sowohl in Juárez als auch lässt. Anders als seine Kontrahenten ist das Mi-
in Tijuana die Sinaloa-Gang inzwischen die litär ein stets sichtbarer und unschwer lokali-
dominierende Rolle im Drogengeschäft über- sierbarer Akteur, woraus bedeutende taktische
nommen hat. So schält sich seit 2009 ein Trend Nachteile resultieren.
heraus, der auf eine zunehmende Polarisierung
des mexikanischen Drogengeschäfts in Gestalt Obwohl der Militäreinsatz sein strategisches
zweier Machtzentren hinausläuft: die Sinaloa- Ziel klar verfehlt hat, bedeutet dies nicht, dass
Föderation auf der einen und Los Zetas auf der die diversen Operationen keinen nennens-
anderen Seite. Beide Akteure sind bemüht, Ge- werten Einfluss auf den Konfliktverlauf nah-
ländegewinne des Gegners zu verhindern bzw. men – ganz im Gegenteil. Unfähig, die Kartelle
wieder rückgängig zu machen. So unterstüt- militärisch zu eliminieren, hatten die Truppen-
zen Kampftrupps der Zetas die Reste der Are- einsätze häufig Auswirkungen auf das Kräfte-
llano Félix-Bande in Tijuana sowie das massiv verhältnis zwischen den verfeindeten Banden.
bedrängte Juárez-Kartell, während die Sina- Fatale Folgen ergeben sich aus der Tatsache,
loa-Föderation ihren ehemaligen Todfeinden dass die durch die Verlegung großer Militär-
vom Golf-Kartell bei dessen Abwehrkampf kontingente in eine der Kartellhochburgen be-
gegen die Zetas zu Hilfe geeilt ist. wirkte partielle Paralysierung der betroffenen
Drogenbande mittlerweile von den jeweiligen
Konkurrenten als eine Gelegenheit zur Rea-
Auswege aus dem Gewaltlabyrinth? lisierung von Geländegewinnen wahrgenom-
men wird. So liegen eindeutige Hinweise dafür
Den deutlichsten Beleg dafür, dass der dem or- vor, dass die Sinaloa-Föderation die massiven
ganisierten Drogenhandel von Präsident Cal- Militäreinsätze in den Einflussgebieten des Ti-
derón Ende 2006 erklärte „Krieg“ gescheitert juana- und Juárez-Kartells ihrerseits zu ver-
ist, stellt die Tatsache dar, dass die Kartel- stärkten Attacken gegen die Konkurrenten ge-
le nach wie vor die konkurrierenden Drogen- nutzt hat. Da Truppenkontingente regelmäßig
banden und nicht die staatlichen Sicherheits- dann in Marsch gesetzt werden, wenn es in ei-
kräfte als ihren Hauptgegner betrachten. Auch nem Bundesstaat bzw. einer der umkämpften
wenn der Anteil der Opfer des war on drugs, Großstädte zu einem starken Gewaltausbruch
der auf Soldaten und Polizisten einerseits und kommt, gehört es inzwischen zur Taktik der
(unbeteiligte) Zivilisten andererseits entfällt, Drogenbanden, auf dem Gebiet eines gegne-
während der Amtszeit Calderóns merklich ge- rischen Kartells ein möglichst spektakuläres

APuZ 40–42/2011 13
Blutbad anzurichten, um die Streitkräfte auf Das zweite und dritte Szenario weisen dem
den Plan zu rufen. Solche Fälle einer Instru- Staat eine Statistenrolle zu: Die Gewalt könn-
mentalisierung des Militärs durch das organi- te spürbar zurückgehen, wenn es entweder
sierte Verbrechen zählen zu den zahlreichen der Sinaloa-Föderation oder aber – derzeit
kontraproduktiven Effekten dieses failed war. weniger wahrscheinlich – den Zetas auf mitt-
lere Sicht gelingt, die Konkurrenzorganisati-
Freilich beschränkt sich der Misserfolg der onen auszuschalten oder – realistischer  – so
Regierungsoffensive gegen die Drogenkartel- weit zu schwächen, dass sie die Rolle eines Ju-
le nicht auf die militärische Komponente. Eine niorpartners ihrer völligen Vernichtung vor-
herausragende Bedeutung in der negativen ziehen. Sollte sich der gegenwärtig bereits
Gesamtbilanz kommt der impunidad (Straf- sichtbare Trend zur Herausbildung zweier
losigkeit) zu, die sich aus dem absoluten Ver- großer Kartellblöcke verstärken, ist auch eine
sagen der Strafverfolgungsbehörden bei der Art Friedensabkommen auf der Basis einer
Aufklärung und Ahndung der drogenhan- Aufteilung des drogenhandelsrelevanten Ter-
delsbedingten Gewaltverbrechen ergibt. Im ritoriums nicht auszuschließen.
Vergleich dazu stellen die gravierenden Ko-
ordinationsprobleme zwischen verschiedenen Auch wenn es in den vergangenen Jahren
Einrichtungen des staatlichen Sicherheitsap- mehrere große Demonstrationen gegeben hat,
parats ein eher sekundäres Handicap dar. Ein die ein Ende der Gewalt forderten, sah es bis
nicht zu unterschätzendes Defizit der Anti- vor kurzem nicht so aus, als ob von zivilge-
kartellpolitik ist darin zu sehen, dass es nicht sellschaftlicher Seite eine Korrektur der offi-
gelungen ist, die klandestine Finanzarchitek- ziellen Antidrogenstrategie bewirkt werden
tur (Geldwäsche) der Drogenbanden zu de- könnte. In den zurückliegenden Monaten hat
montieren. Zudem mangelt es der Strategie aber eine Bürgerbewegung unter dem Motto
gegen die Kartelle an einer sozialen Kompo- hasta la madre (etwa: genug ist genug) landes-
nente – offeriert doch der ausgeprägte Mangel weit Aufmerksamkeit erregt und Sympathi-
an Beschäftigungs- und Einkommensmöglich- en gewonnen, die von Javier Sicilia angeführt
keiten für junge Leute, vor allem junge Män- wird, einem bekannten Dichter und Schrift-
ner, den Drogenbanden ein großes und nicht steller, dessen Sohn im März 2011 zusammen
versiegendes Rekrutierungsreservoir für ihre mit anderen jungen Leuten von Mitgliedern
Schutz- und Kampftrupps – trotz der allseits eines der Drogenkartelle ermordet wur-
bekannten tödlichen Risiken solcher Jobs. de. Die Bewegung, die mittlerweile Unter-
stützung von zahlreichen gesellschaftlichen
Im Hinblick auf den weiteren Verlauf des Gruppen erhält, hat viele „Friedensmärsche“
„Drogenkriegs“ lassen sich drei mögliche Sze- in Brennpunkte des Bandenkriegs unternom-
narien ausmachen, die einen Ausweg aus dem men und in mehreren Großstädten Kundge-
Gewaltlabyrinth weisen. Im ersten Szenario bungen organisiert, an denen Hunderttau-
könnte sich die Regierung zu einem Arran- sende Menschen teilnahmen. Die Bewegung
gement mit den Drogenbanden oder zumin- propagiert einen aus sechs Punkten bestehen-
dest mit den stärksten Kartellen entschließen. den „Friedenspakt“, der unter anderem ein
Ein solcher Deal könnte etwa lauten: Duldung Ende der Militarisierung der Drogenpolitik
der illegalen Aktivitäten gegen Gewaltver- und die Bekämpfung der sozioökonomischen
zicht. ❙11 Die Praktikabilität dieser Option ist Wurzeln der Attraktivität des Drogenge-
allerdings durch die seit 2009 erfolgten Spal- schäfts fordert. Mehrere Treffen zwischen Si-
tungen und Kräfteverschiebungen im Kartell- cilia und Präsident Calderón zeigen, dass die
milieu nicht leichter geworden. Dazu kommt, Regierung die neue Massenbewegung ernst
dass die USA ein solches Stillhalteabkommen nimmt. ❙12 Das öffentliche Wirkungspotenzial
kaum tatenlos hinnehmen würden. Sollte es dieser zivilgesellschaftlichen Initiative scheint
zu einem Arrangement dieser Art kommen, noch längst nicht ausgeschöpft zu sein.
dann wohl erst unter der nächsten Regierung,
die aller Voraussicht nach von der Traditions-
partei PRI (Revolutionär-Institutionelle Par- ❙12  Vgl. Natalia Cote-Muñoz, Javier Sicilia’s Natio-
nal Movement for Peace: A Speck of Hope in a Sea of
tei) gestellt werden wird. Blood, Washington, DC 2011; A turning tide, in: The
Economist vom 30. 6. 2011.
❙11  Vgl. A pax narcotica?, in: The Economist vom
7. 1. 2011.

14 APuZ 40–42/2011
Günther Maihold gistiknotwendigkeiten, Energie- und Um-
weltkonflikte sowie Urbanisierungsfolgen.
Mexiko und die USA: Diese „Hyper-Grenze“ ❙3 definiert das Ver-
hältnis beider Länder offensichtlich mehr als

zwischen NAFTA- es den Politikern lieb ist, obwohl sie das Ge-
schehen an der Grenze natürlich auch als po-
litische Bühne zu nutzen wissen.
Partnerschaft und
Zweckgemeinschaft Leben an und jenseits der Grenze
Mexiko als Ursprungs-, Transit-, Ziel- und
Rückkehrland von Migranten hat diese viel-

G eteilte Verantwortung“ war das zentrale


Stichwort von US-Außenministerin
Hillary Clinton bei ihrer ersten Reise nach
fältige Eigenschaft lange nur eindimensio-
nal in seinem Verhältnis zu den USA wahr-
genommen. Dafür spricht die hohe Zahl
Mexiko im neuen Amt von jährlich rund 550 000 Staatsbürgern,
Günther Maihold im März 2009. Diese die die Grenze nach Norden illegal über-
Dr. phil., geb. 1957; Honorar­ zunächst nur auf den queren, zu denen aber noch jährlich etwa
professor an der Freien sogenannten Drogen- 140 000 Migranten aus Zentralamerika sto-
Universität Berlin; stellvertre- krieg gemünzte Veror- ßen, die über Mexiko den Weg in die USA
tender Direktor der Stiftung tung der Beziehungen suchen. Auch wenn viele von ihnen dabei
Wissenschaft und Politik (SWP), zum südlichen Nach- nicht erfolgreich sind und von den US-Be-
gegenwärtig Wahrnehmung barn wurde dort als hörden wieder abgeschoben werden, so ist
des ­Alexander und Wilhelm von Chance begriffen, zu doch das Migrationsphänomen inzwischen
Humboldt Sonderlehrstuhls einem neuen Verhält- in seiner Süd-Nord-Dimension konstitutiv
am Colegio de México und der nis ­untereinander zu für einen großen Teil der Beziehungen zwi-
Nationaluniversität UNAM/ gelangen. Doch rasch schen Mexiko und den USA geworden, ohne
Mexiko-Stadt; SWP, Ludwig- machte auch in den dass die von Mexiko mit dem Abschluss des
kirchplatz 3–4, 10719 Berlin. USA die Einordnung NAFTA-Abkommens 1994 erwartete Ent-
guenther.maihold@ Mexikos als failed sta- spannung in diesem Bereich eingetreten
swp-berlin.org te die Runde. ❙1 Die me- wäre. Die wirtschaftlichen Asymmetrien
xikanische Regierung haben sich nicht signifikant verändert; ❙4 die
hat darauf mit einer energischen Kampagne Motivation zum Verlassen des Heimatlan-
geantwortet, um zu verdeutlichen, dass sich des hat zwar durch die Wirtschaftskrise in
das Land von diesem Zustand weit entfernt den USA konjunkturbedingt nachgelassen,
sieht. Das Ausmaß der Gewalt an der Grenze aber in der Substanz sind die push- und pull-
zu den USA hebt in einem weiteren Politikfeld Faktoren, die das Migrationsgeschehen be-
den hohen Grad an Interdependenz zwischen stimmen, dieselben geblieben (Unsicherheit
beiden Ländern im Rahmen des Nordameri- und eingeschränkte Arbeitsmöglichkeiten
kanischen Freihandelsabkommens (NAFTA) in Mexiko, Erwartung auf erhöhten Lebens-
hervor. Auch wenn sich in Mexiko kein allge- standard und Familienzusammenführung in
meines Staatsversagen feststellen lässt, so sind den USA).
doch Räume begrenzter Staatlichkeit zu er-
kennen, ❙2 die bei weitem nicht das ganze Land
erfassen, aber mit deutlichen Einschränkun- ❙1  Vgl. George Grayson, Mexico, Narco-Violence
and a Failed State?, New Brunswick, NJ 2010.
gen bei der Gewährleistung grundlegender
❙2  Vgl. hierzu das Forschungsprogramm des Sonder-
staatlicher Leistungen verbunden sind. forschungsbereichs 700 „Governance in Räumen be-
grenzter Staatlichkeit“ an der Freien Universität Ber-
Der Problemhaushalt im bilateralen Ver- lin, online: www.sfb-governance.de (22. 7. 2011).
hältnis geht insoweit über die Regelung blo- ❙3  Vgl. Fernando Romero, Hyperborder. The Con-
ßer Nachbarschaftsbeziehungen hinaus: An temporary U. S.-Mexico Border and its Future, New
York 2008.
der gemeinsamen Grenze und im Grenzraum
❙4  Vgl. Sidney Weintraub, Unequal Partners. United
beider Länder kristallisieren sich Sicherheits- States and Mexico, in: Issues in International Political
probleme, Migrationsfragen, wirtschaftliche Economy, Nr. 124 (April 2010), online: www.csis.org/
Dynamiken und Krisen, Transport- und Lo- files/publication/issues201004.pdf (22. 7. 2011).

16 APuZ 40–42/2011
Doch die restriktiven Zugangsmöglichkei- (2000–2006) propagierte Idee eines NAFTA­
ten zum Arbeitsmarkt der USA im Rahmen plus zielt vor allem auf das Thema Migration,
der Migrationskontrolle haben die zirkulären das für Mexiko auch weiterhin höchste Prio-
und temporären Wanderungsbewegungen me- rität besitzt, aber gleichzeitig mit dem Part-
xikanischer Arbeitskräfte eingeschränkt. Von ner USA seit Jahrzehnten kaum befriedigend
den rund 30 Millionen Mexikanern, die heute zu bearbeiten ist. ❙7 Seit den Terroranschlägen
in den USA leben, sind 11,8 Millionen in Me- vom 11.  September 2001 sind die Spielräume
xiko geboren, 18,5 Millionen sind sogenannte hierfür noch weiter geschrumpft, da das The-
Mexican Americans, also in den USA zur Welt ma der Grenzsicherung in den USA hohe in-
gekommen. Damit stellen sie zehn Prozent der nenpolitische Priorität gewann. Mit der 2005
Bevölkerung der USA und dominieren mit ei- zwischen den Regierungschefs bzw. Präsi-
nem Anteil von zwei Dritteln die Gruppe der denten der Mitglieder des NAFTA-Verbunds
Hispanics, der aus Lateinamerika bzw. Spani- vereinbarten Partnerschaft für Sicherheit und
en stammenden Bevölkerungsgruppe. ❙5 Dank Prosperität (Security and Prosperity Partner-
dieser Präsenz in den USA flossen 2010 mehr ship of North America, SPP) wurde zwar eine
als 21 Milliarden US-Dollar an Überweisun- Erweiterung der Kooperationsagenda ver-
gen an Familienmitglieder nach Mexiko – ein einbart, in deren Rahmen über verschiedene
Devisenzufluss, der 2006 noch über 26 Milli- Arbeitsgruppen zu Themen wie Transport,
arden Dollar betragen hatte. ❙6 Damit liegt diese Energie, Umwelt oder Finanzdienstleistungen
Summe noch immer deutlich über den auslän- konkrete Schritte vereinbart werden sollten,
dischen Direktinvestitionen in Mexiko, die aber schon 2009 war diese SPP-Initiative wie-
2010 etwa 18 Milliarden Dollar erreicht hat- der eingeschlafen. Erneut erwies sich, dass die
ten. Wer sich vor Augen führt, dass sowohl bei USA, aber auch Kanada, nur sehr begrenzt In-
den privaten Rücküberweisungen als auch bei teresse daran hatten, über den Freihandel hi-
den Auslandsinvestitionen der Anteil aus den naus Vereinbarungen zu treffen und den von
USA bei über 85 Prozent liegt, kann erahnen, Wissenschaftlern immer wieder geforderten
dass die Wirtschaftskrise in den USA auch in Weg zur Nordamerikanischen Gemeinschaft
Mexiko deutliche Auswirkungen hatte. in Anlehnung an den europäischen Integrati-
onsprozess einzuschlagen. ❙8

Von NAFTAplus zu Post-NAFTA Für die USA wie für Kanada sind offen-
sichtlich Kooperationsmuster attraktiver, die
Mit dem Jahr 2010 sind die meisten der auf den trilateralen Rahmen des NAFTA-Ab-
den Freihandel ausgerichteten Regelungen des kommens für hinreichend ansehen, um unter
NAFTA-Abkommens in die Realität umge- diesem Dach multiple bilaterale Übereinkom-
setzt. Damit ist die ursprüngliche Agenda die- men abzuschließen. Ein solcher themen- und
ses Abkommens weitgehend abgearbeitet, und politikfeldbezogener Ansatz enthebt einer-
die schon früher lancierten Überlegungen ei- seits die Mitgliedstaaten von der Notwen-
ner erweiterten Kooperationsagenda zwischen digkeit, bestimmte Verhandlungen sofort im
Kanada, Mexiko und den USA haben an Be- Dreierformat führen zu müssen und kommt
deutung gewonnen. Dahinter steht nicht nur andererseits dem Interesse der USA an ei-
die Frage nach der Konsolidierung einer Wirt- nem multiplen Bilateralismus entgegen. Dies
schaftsgemeinschaft in Nordamerika, sondern gilt insbesondere für die Gestaltung der Mi-
auch die Überlegung, dass Themen wie die grationspolitik, bei der Kanada kein Inte-
Energieversorgung und die Gewährleistung resse daran hat, die herausgehobene Positi-
von Sicherheit auf die gemeinsame Agenda ge- on seiner Bürger bezüglich des Zugangs zum
setzt werden sollten. Diese schon im Jahr 2000 US-Arbeitsmarkt durch gemeinsame Ver-
vom mexikanischen Präsidenten Vicente Fox
❙7  Vgl. Günther Maihold, Auf dem Weg zum „ande-
❙5  Vgl. Carlos Heredia Zubieta, La migración mexi- ren“ Mexiko: Eine Bilanz der Amtszeit von Vicente
cana y el debate en Estados Unidos. A la sombra del Fox, in: Peter Birle (Hrsg.), Lateinamerika im Wan-
Tea Party, in: Nueva Sociedad, 233 (2011), S. 132–149, del, Baden-Baden 2010, S. 139–164.
hier: S. 134. ❙8  Paradigmatisch dafür steht Robert A. Pastor, To-
❙6  Vgl. Roberto González Amador, BdeM: las remesas ward a North American Community: Lessons From
no retoman los montos anteriores a la crisis, in: La Jor- the Old World for the New, Washington, DC 2001;
nada vom 2. 2. 2011, S. 26, online: www.jornada.unam. sowie jüngst ders., The North American Idea. A Vi-
mx/2011/02/02/economia/026n1eco (22. 7. 2011). sion of a Continental Future, Oxford 2011.

APuZ 40–42/2011 17
handlungen mit Mexiko zu schmälern. Ent- len. Das Denken in der Post-NAFTA-Katego-
sprechend haben sich auch US-amerikanische rie statt eines Hoffens auf den Ausbau einer
Wirtschaftsvertreter gegen das NAFTAplus- NAFTAplus-Agenda ist angesichts der Präfe-
Konzept ausgesprochen und betont, dass ih- renzen der nördlichen Nachbarn wohl unaus-
nen eher an einer Gestaltung der bilateralen weichlich, ein konzeptioneller Neusatz für die
Beziehungen in einer Post-NAFTA-Ära ge- nordamerikanische Idee dringend gefragt.
legen ist. ❙9 Dabei wird vor allem die Verein-
fachung der Grenzkontrollverfahren für den
Güterverkehr gefordert, um schließlich zu ei- Druck auf die Grenze:
ner „Modellgrenze im Weltmaßstab“ zu ge- Migration und Gewalt
langen. Grundlage hierfür ist die enge Ver-
flechtung beider Staaten: Jedes in den USA Gewalt ist an der Grenze zwischen Mexiko
verkaufte Produkt aus Mexiko enthält 64 Pro- und den USA zu einem alltäglichen Phäno-
zent Input aus den USA. Insofern – so wird men geworden. Dabei variieren die Gewalter-
argumentiert – müssten die Abfertigungsbe- fahrungen von Entführungen, Raub, Erpres-
dingungen an der Grenze so gestaltet werden, sung und sexueller Gewalt bis zur Ermordung
dass die Versorgungsketten der Unternehmen durch Drogenkartelle, Schmuggler oder sogar
nicht beeinträchtigt werden und den Unter- korrupte Mitglieder der mexikanischen Si-
nehmen keine Verluste durch Staus und um- cherheitsorgane. Die Entdeckung von Mas-
ständliche Verfahren drohen. Allein der Wert sengräbern mit 72 Ermordeten im August
der US-Exporte nach Mexiko hat sich von 28 2010 und 145 Toten im April 2011 im mexi-
Milliarden Dollar im Jahr 1990 auf 163 Milli- kanischen Bundesstaat Tamaulipas hat erneut
arden Dollar im Jahr 2010 erhöht, und neben verdeutlicht, dass der (illegale) Grenzübertritt
dem Import von saisonalen Konsumgütern in die USA nicht nur durch die Umweltbedin-
(Früchte, Gemüse) wird weiteres dynami- gungen (Durchquerung von Wüsten und Ge-
sches Wachstum durch grenzübergreifende wässern) mit dem Tod enden kann, auch die
Produktionsprozesse im Bereich der Lohn- Versuche der Drogenkartelle, die Migranten
veredelungsindustrie (Maquila ❙10) erwartet, zu Kurierdiensten zu zwingen und dadurch
so dass eine Erweiterung des bestehenden ihr eigenes Geschäft gewaltsam zu befördern,
Verbindungsnetzes dringend geboten sei. hat vielen verzweifelten Menschen aus Mexi-
ko und Zentralamerika das Leben gekostet.
Wenn allerdings die wirtschaftlichen und
sozialen Beziehungen im NAFTA-Raum jen- Die Daten weisen ein paradoxes Bild aus:
seits des erreichten Niveaus des Freihandels Während die Zahl der Aufgriffe illegaler Mi-
auf die Ebene reiner Nachbarschaftspolitik granten an der Südgrenze der USA im Zeit-
zurückfallen sollten, dann wird insbesonde- raum von 2004 bis 2009 um mehr als 50 Pro-
re für Mexiko die Erwartung auf eine tiefer zent zurückgegangen ist, hat sich die Zahl der
gehende Partnerschaft langfristig enttäuscht. Toten an der Grenze im gleichen Zeitraum
Gegenwärtig macht der Handel innerhalb um 28  Prozent erhöht. Obwohl nach Umfra-
Nordamerikas 36  Prozent am Gesamthan- gen 80 bis 95 Prozent der illegalen Einwande-
delsvolumen dieser Region aus, seit dem Jahr rer auf Dienste von Schmugglerorganisationen
2001 ist eine abnehmende Tendenz auszuma- zurückgreifen, um ihre Zukunft in den USA
chen. Die Bindung Mexikos an den nördlichen zu suchen, ❙11 weist das mexikanische Außen-
Nachbarn beschränkt insoweit die eigenen Po- ministerium beinahe einen Toten pro Tag an
litik- und Entwicklungsoptionen – eine Situa- der Grenze aus, trotz der Wirtschafts- und Fi-
tion, die man gerade mit dem Abschluss des nanzkrise in den USA, die zu einem deutlichen
NAFTA-Abkommens hatte überwinden wol- Rückgang der Migrantenzahlen geführt hat. ❙12

❙9  Vgl. American Chamber Mexiko/U.S. Chamber of ❙11  Vgl. Bryan Roberts et al., An Analysis of Migrant
Commerce, Steps to a 21st Century U. S.-Mexico Bor- Smuggling Costs along the Southwest Border, Wa-
der. A U. S. Chamber of Commerce Border Report, shington, DC (U. S. Department of Homeland Secu-
o. J., online: www.uschamber.com/sites/default/files/ rity) 2010, S. 4.
reports/mexicoreportfullbook.pdf (22. 7. 2011). ❙12  Vgl. Dirección General Adjunta de Políticas de
❙10  In sogenannten Maquila(dora)-Betrieben im Nor- Protección – DGPME/Secretaría de Relaciones Ex-
den Mexikos werden aus (zollfrei) importierten Bau- teriores, Migrantes mexicanos fallecidos en la fronte-
teilen günstig Produkte gefertigt, die anschließend ra sur de EUA en su intento por internarse sin docu-
reexportiert werden. mentos 2004–2010, México, DF 2010.

18 APuZ 40–42/2011
Gegenwärtig sind 22 000 Grenzpolizisten fenheit der Grenze erhält damit zentrale
entlang der 3200 Kilometer langen Grenze ­Bedeutung. ❙15
zwischen den USA und Mexiko zur Über-
wachung eingesetzt, gleichwohl nehmen vie-
le US-Bürger die illegale Migration als eine Grenzsicherung – zwischen
Bedrohung der nationalen Sicherheit wahr. ❙13 Liberalisierung und Kriminalisierung
Nicht zuletzt ist dies auf die zunehmende
Verquickung der illegalen Migration mit dem Kontrollverlust ist das zentrale Schlagwort,
organisierten Verbrechen zurückzuführen, das von Seiten der USA zur Beschreibung
was in hohem Maße gewaltförmigen Aus- der Lage an ihrer Südgrenze benutzt wird.
druck gefunden hat. Dieses Argument, das schnell zu einer Er-
zählung von der Bedrohung der nationalen
Neben die traditionellen Menschen- Sicherheit durch Migration und Drogenöko-
schmuggler (coyotes, polleros), die den Mi- nomie ausgebaut werden kann, dominiert
granten für rund 2500 US-Dollar „siche- das beiderseitige Verhältnis und ist dazu an-
re“ Wege über die Grenze versprechen, sind getan, die jeweilige innenpolitische Debatte
die Drogenkartelle getreten, denen es vor al- anzuheizen. ❙16 Obwohl das staatliche Han-
lem um den Transport ihrer Ware und deren deln in beiden Problembereichen weitge-
Vermarktung auf dem größten Konsumen- hend nur reaktiven Charakter besitzt und
tenmarkt der Welt geht. Dabei gehen sie ge- seine Steuerungswirkung damit sehr einge-
waltsam gegen jene Migranten vor, die sich schränkt ist, ist die symbolische Besetzung
weigern, diese Dienste zu übernehmen, wo- des Grenzthemas durch die Politik extrem
bei sich insbesondere die Gruppe der Zetas wichtig. Zwar bestand auch in historischer
als besonders gewalttätig erwiesen und Mas- Perspektive nie eine auch nur annähernd er-
senexekutionen vorgenommen hat. Damit folgreiche Kontrolle über den Grenzbereich,
vermengen sich die Problemfelder Migration aber die Sicherung der Südgrenze hat in den
und Drogenökonomie im ohnedies schwie- USA mit dem Bau eines 1000 Kilometer lan-
rigen Beziehungsfeld zwischen Mexiko und gen Grenzzauns verbunden mit technolo-
den USA. Die Sicherheitsinteressen beider gischer Aufrüstung an der Grenzlinie ei-
Nationen werden damit politisch schwer zu nen neuen Höhepunkt erlangt. Mit Kameras
managen, und in der politischen Auseinan- und Sensoren sowie der personellen Aufsto-
dersetzung gewinnen Vorurteile und Ängste ckung der Grenzpolizei (Border Patrol) soll
an Präsenz. eine Abschreckungswirkung erzielt werden,
die potenzielle Migranten von einer illega-
Menschenschmuggel und Drogenhandel len Überquerung der Grenze abhalten soll.
sind heute die maßgeblichen Kennzeichen Gleichzeitig soll auch der Schmuggel von
des illegalen Grenzverkehrs zwischen Me- Menschen und Drogen eingeschränkt wer-
xiko und den USA, zunehmend gerät auch den, um dem Sicherheitsbedürfnis der im
der intensive grenzüberschreitende Wa- Grenzraum wohnenden Bevölkerung entge-
renaustausch in die Reichweite dieser kri- genzukommen.
minellen Aktivitäten. Dies ist nicht weiter
verwunderlich angesichts einer Grenze, die So wird der Aufbau gemeinsamer Grenz-
heute als die meistüberschrittene gilt. Nach sicherungsteams zwischen Mexiko und den
Daten der US-Regierung überquerten im USA (Border Enforcement Security Task
Jahr 2010 165,7 Millionen Personen in Au- Forces, BEST), die auch lokale, bundes- und
tos oder zu Fuß die Grenze nach Mexiko, zentralstaatliche Sicherheitsagenturen ein-
mehr als 4,5  Millionen Container wurden schließen, als sehr erfolgreich angesehen, da
per LKW ins Nachbarland verbracht. ❙14 Die damit die gemeinsame Verantwortung für
Frage der Sicherung und gleichzeitigen Of- die Sicherheit an der Grenze wahrgenom-

❙13  Vgl. Emma Aguila et al., United States and Mexi- ❙15  Vgl. Günther Maihold, Die neue (Ohn-)Macht der
co. Ties that Bind, Issues that Divide, Santa Monica Grenze: Mexiko–USA, in: Marianne Braig/Ottmar
2010, S. 141 ff. Ette/Dieter Ingenschay/ders. (Hrsg.), Grenzen der
❙14  Vgl. Research and Innovative Technology Admi- Macht – Macht der Grenzen: Lateinamerika im glo-
nistration, Bureau of Transporation Statistics, online: balen Kontext, Frankfurt/M. 2005, S. 39–76.
www.bts.gov/programs/international/transborder/ ❙16  Vgl. Peter Andreas, Border Games. Policing the
TBDR_BC/TBDR_BCQ.html (22. 7. 2011). U. S.-Mexico Divide, Tihaca–London 2009, S. 7.

APuZ 40–42/2011 19
men werde. ❙17 Mit speziellen Aktionen wie rung erfahren, denn zunehmend rückt auch
der „Operation in Plain Sight“ versuchen die die mexikanische Südgrenze in das Zentrum
US-Sicherheitsbehörden bei Transportunter- der US-amerikanischen Aufmerksamkeit. ❙22
nehmen im grenznahen Bereich (Bundesstaat Nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Ver-
Arizona) den Weitertransport von Migran- lagerung von Aktivitäten der Drogenkartel-
ten, denen der illegale Übertritt in die USA le nach Zentralamerika ❙23 wird immer deut-
gelungen ist, zu unterbinden. ❙18 Zugleich lei- licher, dass sich die mexikanische Politik
ten die betroffenen US-Bundesstaaten zuneh- einseitig nach Norden orientiert und der Ent-
mend eigene Schritte gegen die illegale Mi- wicklung der Beziehungen zu den südlichen
gration ein. Besonders bekannt geworden ist Nachbarn nur sehr begrenzt gewidmet hat.
dabei die Arizona Senate Bill 1070, ❙19 die ein Gerade in Bezug auf Zentralamerika bleiben
hartes Vorgehen gegen illegale Migranten und die Leistungen Mexikos deutlich hinter den
jene Unternehmen vorsieht, die diese beschäf- verbalen Solidaritätsbekundungen zurück.
tigen oder transportieren. Mit diesem repres-
siven Zugang soll geltendes Recht konsequen- Bis heute hat sich Mexiko schwer damit ge-
ter umgesetzt werden, um die Bürger des tan, seine Situation als Transitland für Mi-
Staates besser zu schützen – eine Forderung, granten anzunehmen und eine entsprechende
die in den USA sehr populär ist, so dass diese Politik zum Schutz der betroffenen Personen
Initiative – obwohl sie gegenwärtig aufgrund zu entwickeln. ❙24 2010 wurden laut nationalem
eingereichter Klagen noch nicht vollständig Einwanderungsinstitut (Instituto Nacional
in Kraft getreten ist –, in anderen Bundesstaa- de Migración) 62 141 illegale Migranten auf-
ten bereits Nachahmer gefunden hat. ❙20 gegriffen und abgeschoben, was nicht einmal
einem Fünftel aller Migranten entsprechen
Alternative Überlegungen zur Regulie- dürfte. Diese „Migranten, die nicht wich-
rung des Migrantenflusses, etwa in Gestalt tig sind“ ❙25 oder als „unsichtbare Opfer“ ❙26
von Gastarbeiterprogrammen oder Legalisie- aus der öffentlichen Wahrnehmung verbannt
rungsmaßnahmen unterschiedlicher Art für sind, erhalten in Mexiko kaum Schutz durch
die illegal im Land befindliche Bevölkerung staatliche Einrichtungen, vielmehr müssen
mexikanischen Ursprungs finden gegenwärtig Nichtregierungsorganisationen sie biswei-
keine Akzeptanz unter den Meinungsführern len sogar vor Übergriffen der Sicherheitsor-
im amerikanischen Kongress. ❙21 Da sich dieser gane bewahren. Das Bild einer „unsicheren
zudem bereits am Beginn des (parteiinternen) Grenze“ wiederholt sich insoweit auch im
Wahlkampfes befindet, sind für die kommen- Süden des Landes: Die 1000 Kilometer lange
den Jahre keine über Wahlversprechen hin- Südgrenze Mexikos mit Guatemala und Be-
ausgehenden Initiativen zu ­erwarten. lize ist nur schwer zu kontrollieren, so dass
viele Festnahmen auf den Transitstrecken
in Richtung Norden vollzogen werden. Die
Mexikos Südgrenze – vielfach genutzten Güterzüge erweisen sich
die dritte Grenze der USA dabei häufig als Falle für die Migranten, da
die blinden Passagiere nicht nur den Gefah-
Das sicherheitspolitische Argument hat be- ren der Reise selbst, sondern auch der Aus-
züglich der Grenzen Mexikos eine Erweite-
❙22  Vgl. George W. Grayson, Mexico’s Southern
❙17  Vgl. Beschreibung auf der Seite des U. S. Immigra- Flank: A Crime-ridden „Third U. S. Border“, Wa-
tion and Customs Enforcement: www.ice.gov/best/ shington, DC 2003.
(22. 7. 2011). ❙23  Vgl. Günther Maihold, Mexikos Drogenkampf es-
❙18  Vgl. U. S. Immigration and Customs Enforce- kaliert. Gelingt die Kontrolle der Gewaltdynamik?
ment, Fact Sheet „Operation in Plain Sight“ – Targe- SWP-Aktuell A 64, Berlin, September 2010.
ting Arizona Smuggling Operations, 15. 4. 2010, on- ❙24  Vgl. Marianne Braig/Christian U. Baur, Mexi-
line: www.ice.gov/doclib/news/library/factsheets/ kos Süden: Grenzüberschreitungen und die Schleu-
doc/plain-sight.doc (22. 7. 2011). sen hemisphärischer Sicherheit, in: M. Braig et. al.
❙19  Der genaue Name des Gesetzes lautet: „Support (Anm. 15), S. 181–206.
Our Law Enforcement and Safe Neighborhoods Act“. ❙25  So der Titel des Bandes von Óscar Martínez, Los
❙20  Vgl. Audrey Singer, Could Arizona’s Immigrati- migrantes que no importan. En el camino con los
on Law Go National?, 14. 5. 2010, online: www.broo- centroamericanos indocumentados en México, Bar-
kings.edu/opinions/2010/0514_immigration_singer. celona 2010.
aspx (22. 7. 2011). ❙26  Vgl. Amnesty International, Invisible Victims.
❙21  Vgl. E. Aguila et al. (Anm. 13), S. 131 ff. Migrants on the Move in Mexico, London 2010.

20 APuZ 40–42/2011
beutung und Entführungen durch kriminel- für eine Verbesserung der Situation vor allem
le Gruppen, Mitglieder der Sicherheitsorgane im Bereich der Umsetzung zu suchen ist.
und Jugendbanden (maras) ausgesetzt sind. ❙27

Die Entführung von Migranten und die Problemdreieck aus Migration,


Erpressung von Lösegeld von ihren Ver- Drogen und Waffenhandel
wandten für die Freilassung hat sich zu ei-
nem lukrativen Wirtschaftszweig des or- Bislang hat der mexikanische „Drogenkrieg“,
ganisierten Verbrechens entwickelt, dessen den Präsident Felipe Calderón mit seinem
Ertrag von der mexikanischen Menschen- Amtsantritt im Dezember 2006 erklärt hat,
rechtskommission (Comisión Nacional de rund 40 000 Menschenleben gefordert. Trotz
Derechos Humanos) bei rund 18 000 ver- der Ausschaltung führender Köpfe aus den
muteten Entführungsfällen auf 50  Millio- verschiedenen, sich gegenseitig bekämpfenden
nen US-Dollar pro Jahr geschätzt wird. ❙28 Da Drogenkartellen ist kein Rückgang der Gewalt
die Betroffenen fürchten, unmittelbar abge- in Sicht, jeden Tag werden neue Grausamkeiten
schoben zu werden, erfolgt meist keine An- bekannt. Die mexikanische Gesellschaft zeigt
zeige; entsprechend hoch ist die Dunkelzif- Zeichen der Erschöpfung angesichts der andau-
fer. Dies gilt in noch viel höherem Maße für ernden Kämpfe. Die „Bewegung für Frieden
die sexuelle Ausbeutung von Migrantinnen mit Gerechtigkeit und Würde“ (Movimiento de
und Kindern, die zu Opfern des Menschen- Paz con Justicia y Dignidad), die vom Dichter
handels werden. ❙29 Auch in diesem Bereich Javier Sicilia angeführt wird, dessen Sohn von
hat sich ein Markt herausgebildet, der von kriminellen Banden getötet wurde, hat in den
den Akteuren des organisierten Verbrechens vergangenen Monaten versucht, die Perspek-
versorgt wird und in Lateinamerika und der tive der Opfer stärker in das nationale Bewusst-
Karibik jährlich mehr als 16  Millionen US- sein zu rücken und Regierung sowie Parlament
Dollar Umsatz verspricht. ❙30 Mit der Initi- zu einem Dialog über den eingeschlagenen Weg
ative eines Migrationsgesetzes hat die me- des „Drogenkrieges“ zu bewegen. Die Zwei-
xikanische Regierung 2011 versucht, ❙31 den fel am Einsatz des Militärs gegen die Drogen-
Missständen in der Behandlung zentralame- mafia wachsen, führende Politiker des Landes
rikanischer Migranten zu begegnen und ih- fordern einen Strategiewechsel von der Regie-
nen grundlegende Rechte zuzuerkennen, rung, und gleichzeitig rüsten die USA an der
ohne dass sie in die Falle einer Kriminalisie- gemeinsamen Grenze auf und wollen bis zu
rung illegal im Lande befindlicher Personen 1200 Mann der Nationalgarde dort einsetzen.
geraten müssen. Gleichwohl haben mehrere Die ohnedies schwierige bilaterale Agenda en-
Skandale mit Übergriffen staatlicher Funkti- det hier nicht: Der massive Waffenimport aus
onäre im nationalen Migrationsinstitut ver- den USA bereitet der mexikanischen Seite gro-
deutlicht, dass das entscheidende Hindernis ße Schwierigkeiten. So wurden in Mexiko im
Zeitraum von 2006 bis 2009 über 50 000 Schuss-
waffen kleinen und großen Kalibers beschlag-
❙27  Der mexikanische Filmemacher Pedro Ultreras nahmt, zudem 4000 Handgranaten und mehr
hat dies in seinem Dokumentarfilm „La Bestia“ (2011)
als sechs Millionen Schuss Munition – ein Hin-
anschaulich dargestellt.
❙28  Vgl. Comisión Nacional de Derechos Humanos, weis darauf, wie hoch der Grad der Bewaff-
Informe Especial de la Comisión Nacional de los De- nung der Gewaltakteure im Lande ist. ❙32 Nach
rechos Humanos sobre los casos de secuestro en con- Schätzungen des Büros der Vereinten Natio-
tra de migrantes, México, DF 2009, S. 12. nen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung
❙29  Vgl. Günther Maihold, Der Mensch als Ware – (UNODC) beläuft sich der illegale Waffenhan-
Konzepte und Handlungsansätze zur Bekämpfung
del nach Mexiko pro Jahr auf über 20 Millio-
des globalen Menschenhandels, SWP-Studie, Berlin
2011.
❙30  Vgl. Amy Risley, Sex Trafficking: The „Other“ ❙32  Vgl. United States Government ­Accountability
Crisis in Mexico?, in: The Latin Americanist, 54 Office, Firearms Trafficking: U. S. Efforts to Arms
(2010) 1, S. 99–117; Clare Ribando Seelke, Trafficking Trafficking to Mexico Face Planning and Coordina-
in Persons in Latin America and The Caribbean. tion Challenges, Washington, DC, Juni 2009, online:
Congressional Research Service Report RL 33200, www.gao.gov/new.items/d09709.pdf (22. 7. 2011); Di-
Washington, DC, Dezember 2010. anne Feinstein/Charles Schumer/Sheldon Whitehouse,
❙31  Vgl. Ley de Migración, online: www.dof.gob.mx/ Halting U. S. Firearms Trafficking to Mexico, Wa-
nota_detalle.php?codigo=5190774&fecha=25/​​​05/​​​ shington, DC, Juni 2011, online: www.feinstein.sena-
2011 (22. 7. 2011) te.gov (22. 7. 2011).

APuZ 40–42/2011 21
nen Dollar; viele Waffen werden in den 6700 Matthias Jäger
Waffenläden entlang der Grenze auf US-Seite
über Strohmänner oder auf sogenannten gun
shows legal erworben und dann über die Gren-
ze geschmuggelt. Nicht nur die mexikanische
Schritt zurück
Polizei, auch die Armee ist der Feuerkraft der
Kartelle oftmals deutlich unterlegen, zumal mit
Hinblick auf den Modernitätsgrad der Waffen.
nach vorn? Mexi-
Gleichzeitig reißt der Strom illegaler Kleinwaf-
fen aus Zentralamerika, die dort noch aus Bür-
gerkriegszeiten in klandestinen Waffenlagern
kos Demokratie
aufbewahrt und an kriminelle Abnehmer ver-
kauft werden, nach Mexiko nicht ab.

Das Problemdreieck aus Migration, Drogen-


A ls der mexikanische Präsident Felipe
Calderón im September 2011 zum fünf-
ten und vorletzten Mal seinen traditionellen
und Waffenhandel wird mit Einzelmaßnah- Bericht zur Lage der
men nicht gelöst werden können. Nationale Nation abgab, war er Matthias Jäger
Strategien der Bekämpfung der organisierten kaum zu beneiden. Seit M. A., geb. 1975; Studium der
Kriminalität gelangen schnell an ihre Grenzen, einigen Jahren macht Rechtswissenschaften und
das erweist gerade die bilaterale Agenda Mexi- sein Land vor allem Lateinamerikanistik in Freiburg,
kos mit den USA. Ein koordiniertes Vorgehen Negativschlagzeilen. Mexiko-Stadt, Bielefeld und
beider Staaten sollte mit der 2008 vereinbar- Die politische Situa- Madrid; Projektmanager bei
ten Mérida Initiative eingeläutet werden, ein tion, in der sich Me- der Bertelsmann Stiftung in
von Washington finanziell mit 400 Millionen xiko unter Calderón Gütersloh.
Dollar pro Jahr unterstütztes Programm zur befindet, beschreiben matthias.jaeger@
technischen Ausrüstung und Ausbildung der längst nicht mehr nur bertelsmann-stiftung.de
mexikanischen Sicherheitsorgane. Insgesamt um griffige Formu-
werden dafür 1,8 Milliarden Dollar bereitge- lierungen bemühte Journalisten als „Krieg“.
stellt, wovon über 90  Prozent der Mittel auf In seinem jüngsten Konfliktbarometer klas-
Mexiko entfallen, der Rest geht an die anderen sifizierte auch das Institut für Internationale
zentralamerikanischen Länder. ❙33 Bislang sind Konfliktforschung der Universität Heidelberg
die Maßnahmen jedoch nur schleppend ange- die Auseinandersetzungen zwischen Drogen-
laufen, so dass sich die von der Regierung Ob- kartellen und Regierung erstmals als Krieg –
ama offiziell erklärte gemeinsame Verantwor- damit findet sich das OECD-Land Mexiko
tung für das Drogenproblem für Mexiko noch in der Gesellschaft von Afghanistan, Pakis-
nicht ausgezahlt hat. Der Mehrwert eines ko- tan, Irak, Somalia und Darfur. ❙1 Nach offizi-
operativen Handelns lässt damit noch auf sich ellen Angaben starben allein 2010 über 15 000
warten, die „geteilte Verantwortung“ ist bis- Menschen im mexikanischen „Drogenkrieg“,
lang kaum konkret geworden – selbst bei Pro- seit Beginn der Militäroffensive im Dezember
blemen mit klarer transnationaler Dimension. 2006 sind den brutalen Auseinandersetzun-
Die NAFTA-Partner Mexiko und USA haben gen knapp 40 000 Menschen zum Opfer gefal-
bislang nicht bewiesen, auf der Höhe der ak- len. Präsident Calderón hatte zu Beginn sei-
tuellen Herausforderungen zu sein; kurzfristi- ner Amtszeit eine härtere Gangart gegenüber
ge Zweckgemeinschaften dominieren das Bild. dem organisierten Verbrechen eingeschlagen
Bislang ist es beiden Ländern nicht gelungen, als sein Vorgänger Vicente Fox (2000–2006)
die Kraft aufzubringen, auch jenseits der gro- und insbesondere mit der Entscheidung, das
ßen „nordamerikanischen Idee“ nachhaltige Militär in den Einsatz gegen die Drogenkar-
Lösungen für dringende Probleme wie Migra- telle zu schicken, in ein Wespennest gesto-
tion und Sicherheit zu finden. chen. Seitdem haben sich die Spielregeln ge-
ändert, ist der seit Jahren schwelende Konflikt
härter geworden, und er wird auf offener Stra-
❙33  Vgl. Congressional Research Service, U. S.-Me- ße ­ausgetragen.
xican Security Cooperation: the Mérida Initiative
and Beyond, Washington, DC, Februar 2011, online:
www.fas.org/sgp/crs/row/R41349.pdf (22. 7. 2011). Dabei war Calderóns Entscheidung vor al-
lem einem Legitimitätsproblem geschuldet –
erst sein markiges Durchgreifen im Kampf ge-

22 APuZ 40–42/2011
gen das organisierte Verbrechen brachte ihm im Januar erscheinende BTI 2012 stuft Mexiko
(vorübergehend) die erhofften hohen Zustim- ebenso wie 2006, 2008 und 2010 als „defekte
mungswerte in der Bevölkerung. Umfragen Demokratie“ ein, also als eine Demokratie, die
hatten im Vorfeld der Wahlen den ehemaligen in wesentlichen Bereichen eines breiten De-
Bürgermeister von Mexiko-Stadt Andrés Ma- mokratieverständnisses signifikante Schwä-
nuel López Obrador von der linken Partido de chen aufweist. Innerhalb dieser Kategorie hat
la Revolución Democrática (PRD) als klaren sich die Gesamtbewertung, die sich aus 18 ver-
Favoriten gesehen. Es gewann jedoch Felipe schiedenen Indikatoren ergibt, in den vergan-
Calderón von der konservativen Partido Ac- genen Jahren kontinuierlich verschlechtert:
ción National (PAN) mit einem halben Pro- von 7,55 von 10 möglichen Punkten (BTI 2006)
zentpunkt Vorsprung. Trotz dokumentierter über 7,45 (BTI 2008) und 7,25 (BTI 2010) auf
Unregelmäßigkeiten – Stimmen waren offen- nunmehr 6,95 (BTI 2012).
sichtlich gekauft worden, Stimmzettel „gingen
verloren“ und wurden später in Abfalleimern
gefunden – und den Protesten einiger interna- Mexiko – ein failing state?
tionaler Wahlbeobachter wurde nur ein klei-
ner Teil der Wahlkreise neu ausgezählt und In Mexiko ist offensichtlich, dass die hohe
Calderón anschließend zum rechtmäßigen Gewalt- und Drogenkriminalität in einigen
Sieger erklärt. Monatelang protestierten Mil- Regionen des Landes die staatlichen Institu-
lionen Mexikaner wütend gegen den vermute- tionen massiv unterwandern und die Hand-
ten Wahlbetrug; López Obrador weigert sich lungsfähigkeit des Staates ernsthaft in Frage
bis heute, seine Niederlage anzuerkennen. stellen. Seit einiger Zeit räsonieren Beobach-
ter deshalb darüber, ob Mexiko bereits als
Wie es um die Entwicklung der Demokratie failing state einzustufen sei. So wurde der
in Mexiko insgesamt bestellt ist, lohnt sich der- NAFTA-Partner Mexiko 2008 in einer Studie
zeit genauer unter die Lupe zu nehmen. Denn des U. S. Joint Force Command diesbezüglich
in diesen politisch schwierigen Zeiten werden in einem Atemzug mit Pakistan genannt, was
im Land die Karten neu verteilt: Ein Jahrzehnt nicht nur für eine öffentliche Debatte, son-
nach dem Ende der 71 Jahre währenden „De- dern auch für diplomatische Verstimmung
mokratur“ der Partido Revolucionario Insti- sorgte. ❙3 Mexikanische Eliten zeigten sich
tucional (PRI) befindet sich Mexiko mitten in außerdem verstört darüber, dass die US-Re-
einem Wahlmarathon, an dessen Ende im Juli gierung unter Barack Obama 2009 mit Car-
2012 auch der Nachfolger von Präsident Cal- los Pascual einen Botschafter in Mexiko ein-
derón bestimmt wird – den nach zwei Amtszei- setzte, der als Experte für Länder mit fragiler
ten in der Opposition erstmals wieder die PRI Staatlichkeit galt. Calderón hat sich gegen die
stellen könnte. Eine aktuelle und umfassende These von Mexikos drohendem Staatszerfall
Möglichkeit der Bestandsaufnahme bietet der mehrfach öffentlich verwahrt, und die meis-
Transformation Index der Bertelsmann Stif- ten Experten geben ihm Recht. ❙4
tung (BTI). Der BTI untersucht die Fortschrit-
te von 128 Entwicklungs- und Transformati- Im BTI werden Staaten als failing sta-
onsländern auf ihrem Weg zu rechtsstaatlicher tes eingestuft, wenn sie in zwei wesentlichen
Demokratie und sozialpolitisch flankierter Staatlichkeitsindikatoren – dem staatlichen
Marktwirtschaft und bewertet dabei auch die Gewaltmonopol und den grundlegenden Ver-
entsprechenden politischen Gestaltungsleis- waltungsstrukturen eines Landes – einen be-
tungen. Wo dies hilfreich erscheint, soll dieses stimmten Mindestwert unterschreiten. Im BTI
Messinstrument im Folgenden herangezogen 2012 betrifft dies Afghanistan, die Zentralafri-
werden, um einige Kernaspekte der politischen kanische Republik, die Demokratische Repu-
Transformation Mexikos in den vergangenen blik Kongo, Haiti und Somalia, während Me-
Jahren einzuordnen und zu vergleichen. ❙2 Der xiko in beiden Indikatoren deutlich über dem
Mindestwert liegt. Die grundlegenden Verwal-
tungsstrukturen, insbesondere in den Berei-
❙1  Vgl. HIIK, Konfliktbarometer 2010, online: http://
hiik.de (12. 9. 2011).
❙2  Zum BTI siehe online www.bertelsmann-transfor- ❙3  Vgl. U. S. Joint Force Command, The Joint Opera-
mation-index.de; das ausführliche Ländergutachten ting Environment 2008, Suffolk, VA, 25. 11. 2008.
zu Mexiko steht dort ab Januar 2012 zum Download ❙4  Siehe etwa Günther Maihold, Mexikos Drogenkampf
bereit. eskaliert, SWP-Aktuell 64, Berlin, September 2010.

APuZ 40–42/2011 23
chen Infrastruktur, Transport und Kommu- nach wie vor unzureichend sind. Die bürgerli-
nikation, sind in Mexiko praktisch landesweit chen Freiheitsrechte werden zwar grundsätz-
gewährleistet und funktionieren in der Regel lich gewährt; weder ist der Staat jedoch in der
ohne gravierende Einschränkungen – hier sind Lage sie umfassend zu schützen, noch können
die Bewertungen Mexikos über die Jahre kon- sie von den Bürgerinnen und Bürgern verläss-
stant auf einem relativ hohen Niveau geblieben. lich eingeklagt werden. Die konstant schlech-
Sein Gewaltmonopol kann der mexikanische ten Bewertungen in diesem Bereich (seit 2006
Staat hingegen nicht im gesamten Staatsge- stets nur 6 Punkte) hängen insbesondere mit
biet effektiv ausüben. Als problematisch gel- den massenhaften ungeahndeten Frauenmor-
ten neben den grenznahen Regionen insbe- den vor allem im Norden des Landes und den
sondere die Bundesstaaten Sinaloa, Guerrero Schwierigkeiten marginalisierter gesellschaft-
und Michoacán. Deshalb haben sich die dies- licher Gruppen zusammen, ihre Rechte gel-
bezüglichen Bewertungen kontinuierlich ver- tend zu machen. Alle Indikatoren zur Rechts-
schlechtert (BTI 2006 und 2008: 7 Punkte; BTI staatlichkeit zusammengenommen schreibt
2010: 6; BTI 2012: 5). Mexiko befindet sich mit Mexiko seinen Abwärtstrend fort (BTI 2006
dieser Einordnung in Gesellschaft von Staaten und 2008:  6,5 Punkte; BTI 2010:  6,3; BTI
wie Nigeria, dem Jemen oder Georgien; inner- 2012:  5,8) und liegt nun erstmals unter dem
halb Lateinamerikas stehen nur Guatemala, lateinamerikanischen Durchschnitt.
das ebenfalls unter massiven Staatlichkeitspro-
blemen leidet, und – als einziger failing state Zu den gravierenden Defiziten der mexi-
der Region – Haiti noch schlechter da. Auch kanischen Demokratie gehören seit Jahren
wenn die starke Erosion des staatlichen Ge- auch die Einschränkungen der Meinungsfrei-
waltmonopols durch den „Drogenkrieg“ An- heit, insbesondere durch die sich verschlech-
lass zur Sorge gibt, ist Mexiko von einem um- ternden Bedingungen für eine freie Presse.
fassenden Staatsversagen noch weit entfernt. Organisationen wie Reporter ohne Gren-
zen oder das Committee to Protect Journa-
lists berichten von einer zunehmenden Zahl
Achillesferse Rechtsstaat von ermordeten oder verschwundenen Kol-
legen, bewaffneten Angriffen, Entführungen
Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, sowie alltäglicher Einschüchterung und Be-
dass die mexikanische Regierung entschlos- drohung. Nach Einschätzung von Beobach-
sener gegen etablierte Missstände vorgehen tern der Vereinten Nationen und der Orga-
muss, die eine weitere Unterwanderung des nisation Amerikanischer Staaten ist Mexiko
Staates begünstigen, allen voran die grassie- „für Medienvertreter inzwischen der gefähr-
rende Korruption. Entsprechend werden von lichste Staat Lateinamerikas“.
allen 52 Indikatoren des BTI zwei erneut am
schlechtesten bewertet: die Ahndung von Die meisten Berichte machen ähnliche Ur-
Amtsmissbrauch und die Korruptionsbe- sachen für die prekäre Situation der Presse-
kämpfung (je nur 4 Punkte). Eine Verbesse- freiheit in Mexiko aus, allem voran die Kultur
rung könnte die Überprüfung der Vermö- der Straflosigkeit (impunidad) – erschrecken-
gensverhältnisse von öffentlich Bediensteten, de 98 Prozent der Verbrechen in Mexiko füh-
Amtsinhabern und Kandidaten für höhere ren nicht zu einer Verurteilung. Bürokratische
politische Ämter bringen. Dass der Amts- Hürden, unklare Zuständigkeiten sowie man-
missbrauch von Mandatsträgern, dort wo er gelnder politischer Wille stehen so auch der
entdeckt wird, nur in den seltensten Fällen Aufklärung von Verbrechen gegen Journalis-
konsequent verfolgt und sanktioniert wird, ten im Wege. Aber es ist nicht nur die Passivität
hat im BTI 2012 zu einer weiteren Abstufung und Nachlässigkeit der Behörden, häufig sind
geführt und bleibt eines der größten Pro- Amtsvertreter oder korrumpierte Polizisten
bleme der Rechtsstaatlichkeit in Mexiko. mitverantwortlich für schwere Verstöße gegen
das Recht auf freie Berichterstattung und In-
Die weit fortgeschrittene Korruption der formation. So verlaufen Ermittlungen im San-
staatlichen Organe fällt umso mehr ins Ge- de, wird die Suche nach vermissten Journalis-
wicht, als auch die anderen Grundpfeiler des ten „wegen fehlender Spuren“ eingestellt. Als
Rechtsstaats (konsequente Teilung und wech- eine der größten Einschränkungen der Pres-
selseitige Kontrolle der Gewalten, insbeson- sefreiheit sehen viele Beobachter jedoch die
dere unabhängig agierende Justiz) in Mexiko zunehmende Tendenz zur Selbstzensur unter

24 APuZ 40–42/2011
mexikanischen Journalisten, die man ange- trächtlich und gewann 48 Prozent der Sitze in
sichts der akuten Bedrohungen für Leib und der Abgeordnetenkammer. Das „Superwahl-
Leben kaum jemandem verdenken kann. ❙5 jahr“ 2010 mit insgesamt 15 wichtigen Ur-
nengängen in ganz Mexiko bestätigte diesen
Trend. Anfang 2011 verlor die PRI dann zwar
Neuer politischer Pluralismus die Bundesstaaten Baja California Sur an die
PAN und wenige Wochen später Guerrero an
Dabei braucht das Land eine freie Presse die PRD, aber im Juli 2011 entschied sie die
mehr denn je. Denn seit Ende der 1990er Jah- Gouverneurswahlen in Coahuila, Nayarit
re kehrte in Mexiko ein neuer parteipoliti- und dem Estado de México erneut für sich.
scher Pluralismus ein, und seitdem eroberten
die Oppositionsparteien immer mehr Ämter Besondere Bedeutung kommt dem Wahl-
auf kommunaler und bundesstaatlicher Ebe- sieg im Estado de México zu, dem bevölke-
ne. Einer freien Presse käme in diesem Pro- rungsreichsten und wirtschaftlich wichtigsten
zess der Neuordnung des politischen Systems, Bundesstaat. Dabei stand der wichtigste PRI-
bei der über Jahrzehnte bestehende Macht- Kandidat gar nicht auf dem Wahlzettel: Der
strukturen aufgebrochen werden, eine wich- bisherige Gouverneur, Enrique Peña Nieto,
tige Kontrollfunktion zu. Immerhin lässt sich trat nicht wieder an. Er konzentriert sich ganz
konstatieren, dass der neue politische Wettbe- auf andere Ambitionen, für die er mit dieser
werb bei allen Einschränkungen grundsätz- Wahl zusätzlich Rückenwind bekommt – Peña
lich funktioniert und ein friedlicher Wechsel Nieto ist der mit Abstand populärste Kandidat
der politischen Mehrheitsverhältnisse mög- und aussichtsreichste Anwärter auf die Nach-
lich ist. Mexiko hat ein relativ stabiles Partei- folge von Präsident Calderón im Juli 2012. Mit
ensystem aus drei großen Parteien (PRI, PAN, ihm präsentiert die PRI einen jungen, fotoge-
PRD), das zwar zunehmend Züge einer parti- nen und kommunikationsaffinen Kandidaten,
docracia annimmt, in der die Parteien den po- der mit Blackberry und Twitter das unschöne
litischen Prozess dominieren, grundsätzlich Bild von 70 Jahren auf Patronage und Korrup-
aber die Artikulation der verschiedenen ge- tion gestützter Einparteienherrschaft verdrän-
sellschaftlichen Interessen gewährleistet. gen soll. Gegen den im Ausland auch schon als
„mexikanischen Kennedy“ bezeichneten Peña
In dem zentralen Demokratie-Indikator Nieto wird die PRD entweder erneut And-
schlechthin, den freien und fairen Wahlen, rés Manuel López Obrador oder den aktuel-
in dem Mexiko vor wenigen Jahren noch die len Bürgermeister von Mexiko-Stadt Marce-
volle Punktzahl erhalten hatte, hat sich das lo Ebrard aufstellen – darüber soll bis Ende
Land allerdings verschlechtert (BTI 2012: 8 des Jahres in einer offenen Umfrage abge-
Punkte). Dies hängt zum einen mit den weit stimmt werden. Eine Frau kommt derzeit nur
verbreiteten klientelistischen Praktiken, mit in der PAN in Betracht: Die Kandidatenrie-
Unregelmäßigkeiten bei der Parteienfinanzie- ge der derzeitigen Regierungspartei weist ne-
rung und dem faktisch nicht gleichberechtig- ben den von der Opposition als „sieben Zwer-
ten Zugang der konkurrierenden Parteien zu ge“ verspotteten männlichen Aspiranten auch
den Massenmedien zusammen. Zum anderen ein „Schneewittchen“ auf, die ehemalige Erzie-
werden Wahlen auf allen Ebenen immer wie- hungsministerin und heutige Fraktionsvorsit-
der überschattet von Drohungen, Entführun- zende Josefina Vázquez Mota. Wer auch immer
gen und Kandidatenmorden im Auftrag der die innerparteiliche Kandidatenkür gewinnen
Drogenkartelle, die das Recht auf freie Auf- sollte – angesichts der Unzufriedenheit nach
stellung von Kandidaten außer Kraft setzen. zehn Jahren PAN-Regierung werden den Kon-
servativen kaum Siegchancen eingeräumt.
Betrachtet man die Ergebnisse der jüngeren
Wahlen im Überblick, lässt sich ein deutliches
Wiedererstarken der PRI erkennen. Bei den Freunde und Helfer
Kongresswahlen im Juli 2009, einem wichti-
gen Stimmungstest zur Hälfte von Calderóns Das beherrschende Wahlkampfthema der Zwi-
Amtszeit, verbesserte sie ihre Position be- schenwahl 2009 war die innere Sicherheit. Auch
wenn die meisten Parteien mit Blick auf die Prä-
❙5  Vgl. Ricardo Trotti, Self-Censorship or Death, in: sidentschaftswahl 2012 eine eindeutige Festle-
Global Journalist, 16 (2010) 1, S. 20–23. gung auf eine Strategie für die Bekämpfung

APuZ 40–42/2011 25
des Drogenhandels vermeiden, ist bereits klar, Die Bedenken vieler Beobachter gegen einen
dass eine der zentralen Herausforderungen je- Einsatz des Militärs im Innern rühren auch
der neuen Regierung darin bestehen wird, den daher, dass in der enormen Brutalität, die den
unübersichtlichen und intransparenten staat- Konflikt seit einigen Jahren kennzeichnet,
lichen Sicherheitsapparat demokratisch zu re- auch eine Folge der Militarisierung gesehen
formieren. Im Kampf gegen die Drogenkartel- wird. Diese begann bereits Mitte der 1990er
le erzielen die Sicherheitskräfte zwar durchaus Jahre mit der Schaffung eines Nationalen Si-
Achtungserfolge, die meist medienwirksam cherheitsrats, der die Zusammenarbeit der
inszenierten Verhaftungen können aber nicht ­diversen Polizeikräfte mit dem Militär koor-
über den Umstand hinwegtäuschen, dass die dinieren soll. Menschenrechtsrechtsgruppen
in der Regel schlecht ausgebildeten und unter- und Verfassungsrechtler liefen schon damals
bezahlten Staatsdiener für die Drogenkartel- dagegen Sturm, weil sie in ihm den Damm-
le zumeist keine ebenbürtigen Gegner sind. In bruch sahen, der den Ausnahmezustand zum
einigen kleineren Ortschaften haben komplet- Normalzustand machten sollte, was viele nun
te Polizeieinheiten gekündigt, nachdem sie von auch der aktuell diskutierten Gesetzesreform
Drogenbanden angegriffen worden waren, die vorwerfen. Während die politischen Debat-
ihnen in Ausrüstung und Truppenstärke haus- ten andauern, sind im Laufe der vergange-
hoch überlegen waren. Einem Bericht des Ver- nen Jahre längst Fakten geschaffen worden,
teidigungsministeriums zufolge sind seit 2001 die einer weiteren Militarisierung Vorschub
mehr als 1600 Elitesoldaten zu den Kartellen leisten: Immer mehr Polizisten werden mitt-
übergelaufen. Auch wenn mittlerweile meh- lerweile in militärischen Ausbildungslagern
rere Zehntausend Bandenmitglieder verhaftet geschult, der überwiegende Teil ihrer Füh-
worden sind, stehen zumeist langwierige und rungskräfte sind ehemalige Soldaten – mit ei-
intransparente Gerichtsprozesse und über- ner Bürgerpolizei im europäischen Sinne ha-
füllte Gefängnisse einer konsequenten Straf- ben diese Ordnungshüter wenig gemeinsam.
verfolgung und Sanktionierung im Weg. Viel
zu selten wird etwa das aus illegalen Aktivi- Weil das Militär in der Mehrzahl nicht
täten stammende Vermögen überprüft und für die Wahrnehmung polizeilicher Aufga-
­beschlagnahmt. ben, sondern für den Krieg ausgebildet ist,
kommt es immer wieder vor, dass Soldaten
Seit Ende 2006 hat Calderón etwa ein Drit- in kritischen Situationen zu überzogener Ge-
tel des mexikanischen Heeres (50 000 Berufs- walt greifen. Zudem fördert die massive Prä-
soldaten) in den Kampf gegen die Drogen- senz des Militärs in einigen Regionen die
kartelle geschickt. Dabei folgt Mexiko zwei Verstrickung in Entführungen und sonstige
Trends, die für die ganze Region charakteris- im Zusammenhang mit dem Drogenhandel
tisch sind: Die Verteidigungsausgaben stei- stehende Delikte. Menschenrechtsgruppen
gen, und das Militär wird stärker im Innern dokumentieren in den vergangenen Jahren
als in zwischenstaatlichen Konflikten einge- eine zunehmende Zahl illegaler Festnahmen,
setzt. Die Grenzen zwischen den üblicherwei- willkürlicher Hausdurchsuchungen und Fälle
se getrennten Ebenen der inneren und der äu- von Folter und Misshandlung durch Armee-
ßeren Sicherheit werden dadurch zunehmend angehörige (el crimen uniformado, das „uni-
verwischt, was eine Vielzahl von Fragen auf- formierte Verbrechen“) und fordern deshalb
wirft, nicht zuletzt nach der verfassungsrecht- seit langem, dass Menschenrechtsverletzun-
lichen Legitimität. Die mexikanische Verfas- gen von Militärs gegen Zivilpersonen auch vor
sung sieht den Einsatz der Armee zum Schutz Zivilgerichten verhandelt werden. Tatsächlich
der inneren Sicherheit nicht vor, Artikel  129 scheint sich hier ein Wandel anzudeuten: Am
untersagt dem Militär in Friedenszeiten aus- 12. Juli 2011 hat der Oberste Gerichtshof erst-
drücklich, andere als rein militärische Aufga- mals die Anwendbarkeit der Zivilgerichts-
ben wahrzunehmen. Klarheit in dieser Sache barkeit bei Übergriffen von Militärs gegen
soll nun eine umfassende Reform des unter Zivilpersonen festgestellt. Wird diese Ent-
Vicente Fox eingeführten Gesetzes zur Na- scheidung konsequent umgesetzt, könnte dies
tionalen Sicherheit schaffen, die Calderón im wesentlich dazu beitragen, die impunidad zu-
April 2009 ins Parlament eingebracht hat und mindest im Bereich der bisherigen Militärge-
über die der Kongress nach heftigen Diskussi- richtsbarkeit einzuschränken und den Opfern
onen und zivilgesellschaftlichen Protesten im von Menschenrechtsverletzungen effektive-
Herbst 2011 entscheiden will. ren Rechtsschutz zu gewähren.

26 APuZ 40–42/2011
Hoffnungsschimmer Zivilgesellschaft sierung und der wachsenden Bedeutung der
neuen Medien Ansätze einer Stärkung der
Entscheidend für die mexikanische Demo- mexikanischen Zivilgesellschaft erkennen.
kratieentwicklung ist langfristig das Vertrau- Im neuen BTI wird dieser Indikator daher
en der Mexikanerinnen und Mexikaner in die leicht aufgewertet (BTI 2006, 2008, 2010: je 5
demokratischen Spielregeln. Insgesamt war Punkte; BTI 2012 erstmals 6).
die Zustimmung zur Demokratie in Mexiko
2002, kurz nach dem historischen Wechsel Es gehört in Mexiko zu den bekanntesten
des Jahres 2000, am höchsten, in den vergan- Gemeinplätzen, dass das Land eigentlich –
genen Jahren ist die Bewertung dieses Indika- und eigentlich auch immer schon – viel besser
tors gesunken (BTI 2006 und 2008: 7 Punk- dastehen müsste, würde es nur besser regiert.
te; BTI 2010 und 2012: 6). Heute zeigt sich die Neben dem politischen und wirtschaftlichen
Mehrheit enttäuscht, dass seitdem keine der Entwicklungsstand eines Landes berücksich-
beiden PAN-Regierungen die hohen Erwar- tigt der BTI stets auch die politischen Steue-
tungen erfüllt hat. Die Unzufriedenheit fin- rungsleistungen der jeweiligen Regierungen.
det ihren Ausdruck auch in der schwachen Diese Bewertung bietet im BTI 2012 wenig
Wahlbeteiligung bei den Urnengängen 2009, Anlass zum Optimismus, denn Mexiko zählt
und unter denen, die zur Wahl gingen, wird in dieser Hinsicht im Vergleich zu 2010 zu
die sogenannte Nullstimme (voto nulo) im- den deutlichsten Absteigern: Vom 36.  Platz
mer populärer, bei der man aus Protest ei- (BTI 2010) ist das Land auf den 46. abge-
nen nicht ausgefüllten Wahlzettel in die Urne stürzt (BTI 2012) und weist damit im Un-
wirft. tersuchungszeitraum eine der stärksten Ver-
schlechterungen unter den 128 untersuchten
Vorsichtig optimistisch stimmt allerdings Ländern auf (–0,36 Punkte). Der Grund für
die Möglichkeit, dass die scheinbar ausweg- diese drastische Abwertung liegt vor allem in
lose Lage des Landes und die Enttäuschung den strategischen Defiziten, die im zentralen
darüber die Bevölkerung auf eine neue Wei- Politikbereich der inneren Sicherheit zu Tage
se zusammenschweißen und davon ein Schub treten. Calderón setzt nahezu ausschließlich
für die mexikanische Zivilgesellschaft ausge- auf repressive Maßnahmen und blendet so-
hen könnte. Aufgrund der 70-jährigen Prä- ziale Ursachen und Lösungsstrategien weit-
gung des gesellschaftlichen Lebens durch gehend aus. Andere wichtige Politikziele wie
die Einheitspartei PRI und ihre Unterorga- Armutsbekämpfung und Bildung werden
nisationen blieben die zivilgesellschaftlichen dem Kampf gegen das organisierte Verbre-
Strukturen lange Zeit unterentwickelt. Die chen untergeordnet. Zu Buche schlägt aber
enorme soziale Ungleichheit hinderte ihre auch, dass die Regierung zu wenig gegen
Entwicklung zusätzlich, so dass ein auslän- Korruption unternimmt und die Umsetzung
discher Korrespondent bemerkte: „Jedes von wichtigen Reformvorhaben nur schlep-
Mal, wenn sich eine Bewegung anschickt, das pend vorankommt.
Land zu einen, werden sich die Mexikaner
bewusst, wie fragmentiert ihre Gesellschaft Dieses Politikversagen beginnt auch die re-
ist.“ ❙6 Auch über die Ursachen und Lösungs- gionale Zusammenarbeit und internationale
strategien des „Drogenkrieges“ herrscht in Glaubwürdigkeit Mexikos in Mitleidenschaft
der Bevölkerung große Zerstrittenheit. Und zu ziehen. Einerseits prägen hier zwar die
dennoch kommt es zu Schweigemärschen mit hoch gelobte Vermittlungsarbeit von Außen-
Zehntausenden Teilnehmern unterschiedli- ministerin Patricia Espinosa bei den Klima-
cher gesellschaftlicher Herkunft, was eini- verhandlungen in Cancún und die neue Rol-
ge Beobachter als Beginn einer neuen sozia- le des Landes als emerging donor im Bereich
len Bewegung deuten. ❙7 In der Tat lassen sich der regionalen Entwicklungszusammenarbeit
unter dem Einfluss der politischen Plurali- das Bild. Andererseits dominiert der „Dro-
genkrieg“ längst die bilateralen Beziehungen
Mexikos zu seinen regionalen Partnern. Will
❙6  Alex Gertschen, Friedensmarsch in Mexiko, in: sie der Situation Herr werden, wird die me-
Neue Zürcher Zeitung vom 11. 5. 2011, S. 6.
❙7  So etwa Sergio González, Un nuevo movimiento
xikanische Führung noch deutlich stärker als
social en México, in: Foreign Policy en español, Juli bisher mit den Regierungen der USA und der
2011, online: www.fp-es.org/un-nuevo-movimiento- mittelamerikanischen Länder zusammenar-
social-en-mexico (12. 9. 2011). beiten müssen.

APuZ 40–42/2011 27
Fazit Anne Huffschmid
Erstmals in der jüngeren mexikanischen Ge-
schichte kommen Zweifel an der politischen Sta-
Alltag statt Apokalypse:
bilität des Landes auf. Zwar hat Mexiko, vom
peruanischen Literaturnobelpreisträger Mario Mexiko-Stadt als Labor
Vargas Llosa noch 1990 als „die perfekte Dik-
tatur“ bezeichnet, seit Ende der 1990er Jahre städtischen Lebens
Essay
wichtige Fortschritte auf seinem Weg zu einer
rechtsstaatlichen Demokratie gemacht, aber die
gravierende Krise der Staatlichkeit droht diese
zunichte zu machen. Ohne funktionierende
Staatlichkeit ist Demokratie nicht zu machen; ist
der Staat in einer seiner zentralen Funktionen –
dem staatlichen Gewaltmonopol – nicht mehr
L iteraten wie Bewohner der Ciudad de Me-
xico imaginieren die Riesenstadt oft als
„Krebsgeschwür“, unaufhaltsam wuchernd
handlungsfähig, berührt dies schnell die Frage und letztlich tödlich.
der Akzeptanz der Demokratie als Ganzes. Schon längst sind ihre Anne Huffschmid
urbanen Ballungsräu- Dr. phil., geb. 1964; Kulturwis-
Für 2012 hat Präsident Calderón eine freie me über die Grenzen senschaftlerin und Journalistin,
und faire Wahl seines Nachfolgers verspro- des Bundesdistrikts forscht am Lateinamerika-
chen. Ein friedlicher und sauberer Wechsel (Distrito Federal, DF) Institut der Freien Universität
wäre jedoch weder der vielfach beschworene hinausgewachsen. Da- Berlin zu Stadt und Erinnerung
Rückfall in vordemokratische Zustände noch bei leben im Bundes- in Lateinamerika, Rüdesheimer
automatisch die bestandene Feuerprobe zur distrikt selbst „nur“ Straße 54–56, 14197 Berlin.
demokratischen Normalität. Die Gefahr ei- knapp neun Millionen anne.huffschmid@fu-berlin.de
ner Rückkehr der PRI an die Macht liegt darin, Menschen. Erst mit je-
dass Mexiko damit in eine „Nostalgiefalle“ tap- nen Flecken Stadt, die im Norden und Osten
pen könnte. ❙8 PRI-Politiker weisen derzeit ger- in die angrenzenden Bundesstaaten hinüber­
ne darauf hin, dass es die heutigen Gewaltex- reichen, sind es dann die viel zitierten 20 oder
zesse in ihren Regierungszeiten nicht gegeben 22  Millionen. Jahrzehntelang galt die mexi-
habe – und treffen damit einen Nerv. In der Tat kanische Hauptstadt zudem als Hochburg
hat die Eskalation des Konfliktes einiges mit urbaner Kriminalität. Doch jenseits des Kli-
dem Machtwechsel 2000 und dem damit ver- schees vom kollabierenden Moloch bildet sich
bundenen Wegfall der PRI als einer den gesam- angesichts des allerorten eskalierenden „Dro-
ten Machtapparat monopolisierenden Kraft zu genkrieges“ derzeit ein neues Stadtbild her-
tun: Während des demokratischen Übergangs aus: Mexiko-Stadt als sichere Insel in einem
ist die organisierte Kriminalität in die durch Meer entfesselter Gewalt. Dabei war die gi-
den neuen politischen Wettbewerb entstan- gantische Flächenstadt im Tal von Mexiko
denen Freiräume vorgedrungen und hat sich schon immer anders als andere: Kaum eine
Einfluss auf allen Ebenen des mexikanischen wuchs so schnell, doch in kaum einer ande-
Staates gesichert. Es wäre ein Trugschluss zu ren Megalopolis leben die Menschen weniger
glauben, dieser Prozess sei mit einer Rückkehr dicht beieinander. Und inmitten des rechten
der PRI an die Macht umkehrbar, die (schon politischen Mainstreams im Lande wird Me-
damals teuer erkaufte) frühere Stabilität sei auf xiko-Stadt seit knapp 15 Jahren links regiert.
diesem Wege wieder herstellbar. In jedem Fall
aber ist dem Land dieses Mal ein Wahlverlauf
zu wünschen, der Caldérons Nachfolger mit Die öffentliche Stadt
größerer Legitimität und Handlungsfähigkeit
ausstattet, um die für Mexikos Demokratie Ostern war stets die Zeit, in der sich die über-
notwendigen Reformen duchzusetzen. bordende Hauptstadt ein wenig von sich selbst
erholte. Semana santa, die heilige Woche, ist
Auszeit im zumindest kulturell noch immer
❙8  So der mexikanische Politologe Federico Vázquez
hochkatholischen Mexiko. Die Chilangos,
Calero, La trampa de la nostalgia, in: Nueva Socie-
dad, (2011) 235 (i. E.). wie die Bewohner sich nennen, suchen das
Weite – am Strand, im Umland, in einem der
gigantischen Freibäder, in dem Großfamilien

28 APuZ 40–42/2011
für ein paar Pesos urlauben können. Die Stadt Die andere Verrichtung ist das Demons-
leerte und der Verkehr verflüssigte sich, so- trieren. Beachtliche 5,4 Aufmärsche pro Tag
gar die Vulkane, die das Tal von Mexiko um- wurden im vergangenen Jahrzehnt im Schnitt
schließen, ließen sich in dem ungewohnt kla- gezählt, wie bei dem 2010 verstorbenen Stadt-
ren Licht plötzlich blicken. Dieses Jahr war chronisten Carlos Monsiváis nachzulesen
etwas anders. Die Altstadt schien geflutet von ist. ❙1 „Zuweilen“, heißt es bei Monsiváis, „er-
Besuchern, vor allem Einheimischen aus an- scheint die Stadt wie ein Gewimmel der Dissi-
deren Teilen des Landes. Besonders aus dem denz. Und dann sieht es wieder so aus, als ob
Norden waren viele gekommen, um, wie sie gar nichts los sei.“ ❙2 Das hat damit zu tun, dass
den erstaunten Reportern berichteten, „end- Protest keine Ausnahme, sondern Alltag ist
lich einmal wieder in Ruhe durch die Stra- in Mexiko-Stadt. Offizielle und unabhängige
ßen zu flanieren“. In vielen Städten Mexikos Gewerkschafter, Lehrer, Indigene und Bauern
ist urbanes Leben durch Bandenterror und aus dem Süden, Studierende und Straßenhänd-
„Drogenkrieg“ nahezu zum Erliegen gekom- ler, Gays und Feministinnen, gelegentlich auch
men. Öffentliches Leben aber ist, so lässt sich Evangelikale oder Lebensschützer – es vergeht
ohne Angst vor Pathos sagen, so etwas wie kein Tag, an dem nicht eine oder mehrere die-
die Seele der mexikanischen Hauptstadt. ser Gruppe durch die Stadt ziehen, meist mehr
oder weniger entlang der selben Routen.
Da gibt es die post-aztekischen Muscheltän-
zer, die im Zentrum der Altstadt tagein, tag- Eingebrannt ins urbane Gedächtnis haben
aus mit Weihrauch und Federschmuck den sich vor allem die Bilder von den zornigen
Geist des untergegangenen Mexiko beschwö- Megamarches des Spätsommers 2006, als An-
ren. Oder Hunderte von Pärchen mittleren Al- hänger des bei den Präsidentschaftswahlen
ters, die sich jeden Samstagnachmittag im Park unterlegenen Andres Manuel López Obrador
zum Danzón, dem karibischen Standardtanz, gegen den vermuteten Wahlbetrug protestier-
treffen. Oder auch die Mariachi-Combos auf ten. Beim ersten Mal soll es schon eine halbe
der Plaza Garibaldi, die Nacht für Nacht da- Million gewesen sein, am Sonntag darauf eine
rauf warten, dass Besucher ein oder auch zwei ganze Million und am dritten Sonntag gar
Liedchen bei ihnen bestellen: Das alles sind ein- zwei Millionen. Und als die Massenaufläufe
gängige Momentaufnahmen davon, wie mexi- nichts nützten und die geforderte Stimmen-
kanische Kultur den öffentlichen Raum – buch- nachzählung weiterhin verweigert wurde, be-
stäblich – bespielt. Im Alltag jedoch sind es vor schloss man einfach zu bleiben: Der Plantón,
allem zwei kollektiv verrichtete Tätigkeiten, die die Besetzung, war geboren. Fast sieben Wo-
den städtischen als öffentlichen Raum zusam- chen campierten Zehntausende im Stadtzen-
menhalten. Die eine davon ist das Essen. Am trum, Hunderte von Zelten blockierten die
Straßenrand und auf Plätzen, an mobilen Wo- urbanen Lebensadern. Nicht wenige Chilan-
chenmärkten oder überdachten Markthallen: gos begannen zu murren, die Stadtregierung
Überall stehen mobile Taquerías (Taco-Stände) aber ließ die Zeltenden gewähren. Erst zum
mit roten und grünen Salsas, Limonen und fri- Nationalfeiertag, als Protestlager und tradi-
schem Koriander, Backbleche mit Quesadillas, tionelle Militärparade miteinander zu kolli-
Tlacoyos oder Gorditas aus gelbem oder blauem dieren drohten, blies López Obrador die Be-
Mais, Aluminiumtröge mit dampfenden Tama- setzung ab.
les, Stände mit gerösteten Maiskolben, Obst-
und Fruchtsaftbuden. Aus den bunten Plastik- Seit einiger Zeit ist auf den Straßen zudem
tellern, die von Kundin zu Kunde nur kurz mit jene andere Zivilgesellschaft unterwegs, der
einem Stück Papier ausgewischt werden, isst öffentlicher Protest lange wesensfremd war
die vornehme Señora, die ihre Hunde ausführt, und die nun „für Sicherheit“ und „gegen das
ebenso wie der Bauarbeiter, der alte Parkwäch- Verbrechen“ mobilisiert. Sie trägt Namen
ter oder die Blumenverkäuferin von gegenüber. wie „Bürger in Weiß“ und brachte 2004 ei-
Es ist kaum ein Chilango vorstellbar, der nicht nen riesigen Schweigemarsch auf die Beine –
dann und wann auf einem der Plastikhöcker- Forderungen nach harter Hand und Todes-
chen Platz nimmt und „drei Quesadillas“ be- strafe inklusive. Und seit sich die Gewalt als
stellt, „mit Salsa verde und ohne Zwiebeln“.
Öffentliches Essen ist in Mexiko-Stadt eine ❙1  Vgl. Carlos Monsiváis, Apokalipstick, Mexiko-
zentrale städtische und vorübergehend sogar Stadt 2010, S. 131.
klassenübergreifende Praxis. ❙2  Ebd., S. 132.

APuZ 40–42/2011 29
Folge des von Präsident Felipe Calderón er- schmucken roten Markisen. Bis in die 1950er
klärten „Krieges gegen die Drogen“ sich wie Jahre war der Zócalo, benannt nach dem leer
eine Epidemie im Lande ausbreitet, ist Kri- gebliebenen Sockel für ein Nationaldenkmal,
minalität geradezu ein Leitmotiv der urbanen noch eine Art Bürgerpark mit Blumenbeeten,
Proteste geworden. Dabei fordern die De- Bänken und einem verschnörkelten Pavillon.
monstranten heute allerdings nicht mehr die Dann rief ein modernistischer Bürgermeister
Todesstrafe, sondern den Rücktritt des Prä- im Namen der „urbanen Hygiene“ die Neu-
sidenten und eine Kehrtwende in der fatalen ordnung der Altstadt aus, führte eine Sperr-
„­Sicherheitspolitik“. stunde für Cantinas (Kneipen) ein und ließ
allen Zierrat von der Plaza entfernen. Der
Fluchtpunkt aller Protestbewegungen ist bürgerliche Park wurde zu einem staatsbür-
seit jeher der Zócalo, eine weit auslaufende gerlichen Platz, zunächst noch reserviert für
Zementfläche im Zentrum, in die seit Jahr- offizielle Zeremonien, Militärparaden und
zehnten nahezu jede Demonstration mün- Massenaufmärsche. Für kurze Zeit gelang es
det. Der Platz ist an sich schon ein urbaner 1968 den protestierenden Studierenden, auf
Ausnahmezustand, 200 mal 200 Meter nack- den Zócalo zu gelangen, bevor die Panzer
te Betonplatten, kein Ort zum Verweilen, sie wieder räumten. Erst ab Mitte der 1980er
ohne Schattenspender oder Sitzgelegenhei- Jahre, als die staatliche Kontrolle über Ge-
ten. Vor der Sonne schützen kann man sich sellschaft und Raum zu zerbrechen begann,
nur im schmalen Schatten des gewaltigen begannen dissidente Bewegungen sich erneut
Fahnenmastes, der 60 Meter in den Himmel des Herzens der Hauptstadt zu bemächtigen.
ragt. Um ihn herum, im leeren Quadrat, ver-
sammeln sich die Bürger. Drumherum stehen
Bauten, die die wichtigsten Mächte räumlich Die politische Stadt
versammeln: an der einen Flanke die barocke
Kathedrale mit ihren mächtigen Türmen, ge- Das Demonstrieren ist nicht weniger ge-
genüber der Sitz der Stadtregierung, daneben worden, seit die Stadt von der Linken re-
die altehrwürdigen Kaufhäuser und auf der giert wird. Im Jahr 1997, bei den ersten freien
anderen Seite der Palacio Nacional mit seinen Wahlen zum Stadtparlament, gewann prompt

Der Zócalo am Ende einer Demonstration, Oktober 2009. Im Hintergrund der Palacio National.
© Anne Huffschmid

30 APuZ 40–42/2011
Ankunft einer Demonstration gegen Gewalteskalation und „Drogenkrieg“ vor der Kathedrale
auf dem Zócalo, April 2011. Die Losung „Estamos hasta la madre“ („Wir haben die Schnauze voll“)
hatte der Dichter Javier Sicilia nach der Ermordung seines Sohnes im März 2011 ausgegeben.
© Anne Huffschmid

die Partei der Demokratischen Revoluti- von Gratiskonzerten und temporären Mu-
on (PRD). Bis dahin war der Bürgermeister seen auf dem Zócalo über öffentliche Buch-
stets von der Bundesregierung ernannt wor- messen bis zu Kulturzentren für Jugendliche
den und unterstand damit dem Machtmono- der Peripherie. Allerorten wurden Foren der
pol der Revolutionär-Institutionellen Partei Bürgerbeteiligung eingerichtet und die Woh-
(PRI). Auch wenn deren politische Kultur nungsbaupolitik neu ausgerichtet; dabei sollte
des Klientelismus und Autoritarismus bis die Altstadt wieder belebt, Nachbarschafts-
heute fortwirkt  – viele PRD-Politiker stam- initiativen eingebunden und über Mikrokre-
men aus der politischen Wiege der PRI, so hat dite den Ärmsten ein Eigenheim ermöglicht
die neue Stadtregierung immerhin gezeigt, werden. Der städtische Polizeiapparat wur-
was viele zuvor für undenkbar hielten: dass de personell aufgeräumt, den Uniformierten
es im Megamoloch ein Regieren jenseits der wurden Weiterbildungen und Lohnerhöhun-
politischen Megakrake PRI geben kann. gen angeboten. Geradezu vorbildlich gibt sich
Mexiko-Stadt in Sachen Bürgerrechte: Im
Dabei ging es weniger um große Visionen Frühjahr 2007 beschloss das Stadtparlament
als um kleine Schritte zur Steigerung urbaner die vollständige Liberalisierung der in Mexi-
Lebensqualität. Noch unter López Obrador, ko und weiten Teilen Lateinamerikas krimi-
der die Stadt von 2000 bis 2005 regierte, wur- nalisierten Abtreibung. Ende 2009 folgte die
den für bildungsferne Schichten und Bezirke gesetzliche Anerkennung der Homo-Ehe.
neue Gymnasien und sogar eine eigene Stadt-
universität gegründet. Die Gesundheitsver- Die linke Zivilität treibt jedoch auch selt-
sorgung für die Armen wurde ausgebaut und same Blüten. Schon 2001 lud López Obrador
eine bescheidene Rente für über 70-Jährige den ehemaligen Bürgermeister von New York,
eingeführt – unabhängig vom Einkommen Rudolph Giuliani, der dort zero tolerance im-
und daher nicht zu Unrecht als „Stimmen- plementiert hatte, als Berater für die haupt-
fängerei“ kritisiert. Als besonders erfolgreich städtische Sicherheitspolitik ein. Sein Nach-
gilt der Ausbau der kulturellen Infrastruktur, folger, der seit Ende 2006 amtierende Marcelo

APuZ 40–42/2011 31
Ebrard, ließ Tausende von Videokameras an So ist Mexiko-Stadt eine der wenigen Me-
Ampeln und in U-Bahn-Stationen installie- gastädte der Welt, die fernab von jedem Was-
ren – ein eigenartiger Widerspruch zum ger- ser liegen. Viele Stunden sind es zum Pazifik,
ne wiederholten Mantra, dass die beste Prä- zum Golf oder gar zur Karibik, im Innen-
vention nicht Technik oder Waffen, sondern stadtgebiet gibt es gerade einen größeren
eine „Politik der sozialen Wohlfahrt“ sei. Tümpel, den Chapultepec-See. Zugleich säuft
die Stadt wie ein Loch, rund eine Milliarde
Überhaupt ziehe unter Ebrard, so monie- Liter am Tag. Und fast ein Viertel ihrer Be-
ren Kritiker, nun ein neuer „Populismus von wohner bekommt das Wasser nicht aus dem
links“ ein. Dabei zählt offenbar weniger sozi- Hahn, sondern vom Tankwagen.
al- und kulturpolitische Programmatik als viel-
mehr die Frage, was Volk und Medien auf An- Dabei gab es Wasser einst im Überfluss.
hieb gefallen könnte. Den Anfang machte eine Denn ursprünglich war das Hochtal von Me-
gigantische Eisbahn, die Ebrard im Dezember xiko gar kein Tal, sondern eine Bucht. Die aus
2007 erstmals auf dem Zócalo installieren ließ. dem Norden stammenden Azteken hatten sich
Seither darf hier jeder jeden Winter kostenlos vor nahezu 800 Jahren auf einer verwilderten
Schlittschuh laufen, Schuhverleih inklusive. Inselgruppe inmitten einer Seenlandschaft
Kritische Geister rümpften die Nase, „Aztecas niedergelassen. Über Dämme war ihr Insel-
on ice“ höhnte ein Blogger. Die meisten der im reich Tenochtitlán mit dem Festland verbun-
Wintersport bis dahin eher unerfahrenen Chi- den, die Bewohner betrieben eine ausgefeil-
langos aber waren begeistert. Es folgten Stadt- te Wasserwirtschaft mit künstlichen Inseln,
strände oder die Propagierung einer „neuen Kanalisation und getrennten Salz- und Süß-
Fahrradkultur“. Über Nacht wurden Fahrrad- wasserkreisläufen. Kaum hatten die Spanier
wege geschaffen, im Zentrum stehen nun al- das aztekische Imperium erobert, begannen
lerorts blitzende Leihräder bereit, Boulevards sie, Kanäle zuzuschütten und Seen trocken-
werden sonntags für Radler gesperrt. Öffent- zulegen. „Die Spanier haben das Wasser als
liche Angestellte hatten eine Zeitlang gar die Feind behandelt“, notierte einst der Berliner
Anweisung, sich jeden ersten Montag mit dem Reisewissenschaftler Alexander von Hum-
Rad zum Arbeitsplatz zu begeben. Zweifellos boldt. Die Kreisläufe waren aus der Balance
verleiht all dies dem Moloch ökotouristischen gebracht, es kam zu Versalzung, Lufttrocken-
Flair. Doch davon, dass Bewohner im monst- heit und verheerenden Überschwemmungen.
rösen Verkehr nun Zutrauen zum Zweirad ent- Im vergangenen Jahrhundert wurde das Tal
wickelt hätten, kann keine Rede sein. rasch industrialisiert, letzte Flüsse in Rohre
verlegt, über die immer breitere Straßen ge-
Ohnehin scheint es Ebrard eher um Image baut wurden. Bevölkerung und Siedlungsflä-
zu gehen. Die „Stadt der Avantgarde“, wie es che versechsfachten sich in nur 50 Jahren, von
in einer Anzeigenkampagne heißt, ist längst 3 auf 20 Millionen und von 230 auf 1400 Qua-
zum Sprungbrett für nationale Ambitionen dratkilometer. Flüsse gibt es in Mexiko-Stadt
mutiert: Ebrard will 2012 für die PRD bei den heute nur noch auf den Straßenschildern.
Präsidentschaftswahlen kandidieren. Im Weg
steht ihm dabei nur sein Vorgänger und Par- Pro Sekunde werden im Stadtgebiet rund
teigenosse López Obrador. Auch dieser hatte 65 000  Liter Wasser verbraucht, im Jahr ins-
als Bürgermeister Popularität gesammelt, bis gesamt fast vier Milliarden Kubikmeter. Zwei
er sich 2006 in das Rennen um die Präsident- Drittel davon werden aus dem Grundwas-
schaft begab. Und eben dies will der damals ser im Tal selbst hochgepumpt, auf 2200 Me-
„Betrogene“ sechs Jahre später noch einmal ter über dem Meeresspiegel. Ein Drittel des
tun. Wie der Zweikampf unter den linken Ex- Wassers muss aus benachbarten Gebieten ab-
Bürgermeistern ausgeht, ist völlig offen. gezogen werden, sehr zur Empörung der dort
ansässigen Landwirte. Zu allem Überfluss ver-
sickert ein Gutteil des Leitungswassers dann
Die materielle Stadt: noch im defekten Rohrsystem. Die Abwässer
Wasser, Müll, Verkehr wiederum werden überwiegend ungeklärt aus
der Stadt gepumpt. Und kaum eine Ressource
Jenseits aller Wahlpolitischen Ambitionen ist ungleicher verteilt. Im statistischen Schnitt
stellt schon die materielle Infrastruktur eine verbraucht jeder Stadtbewohner 350  Liter am
kaum zu bewältigende Herausforderung dar. Tag. In den Randzonen, wo die Tankwagen

32 APuZ 40–42/2011
nur alle paar Tagen die Kanister füllen, ist es López Obrador hatte vor vielen Jahren die
weniger als ein Zehntel davon, in den reichen Stadtautobahnen ausbauen lassen, in dem
Vierteln geht für Autowaschen und Gartenbe- er ihnen ein „zweites Stockwerk“ (segundo
wässerung leicht das Zehnfache drauf. piso), verpasste. Anwohner und Umwelt-
schützer fluchten, Passanten staunen über die
Die Stadtregierung setzt nun vor allem auf neuen Betonungetüme, die sich an Knoten-
gigantische Kläranlagen, die das Ungleichge- punkten über die Stadt erheben. Den Verkehr
wicht beheben und die Verteilung verbessern soll das hier und da beschleunigt haben, sa-
sollen. Für Experten wie den Stadtökologen gen die Autofahrer.
Iván Azuara ist dies ein „mechanistischer
Trugschluss“. Eine rein technokratische Lo- Ohne die Metro, dieses vielarmige Wun-
gik, die auf Pumpen, Rohre und Steuern derwerk, das seit über 40  Jahren die Men-
setzt, verkenne die Zyklen des Wassers und schen von A nach B oder C bringt, ginge gar
die Ökosysteme. Eine neue Wasserpolitik nichts mehr. Zwischen wie von Zauberhand
müsse auf der Mikro-Ebene ansetzen, vom stets blankpolierten U-Bahnhöfen befördert
Wassersparen über die Trennung von Trink- sie täglich vier Millionen Menschen, und das
und Brauchwasser bis zum Einbezug des Re- im Minutentakt. Elf Linien gibt es bislang,
genwassers. Erst dies würde einen Bruch mit die zwölfte ist im Bau, gerade drei Pesos –
dem engen Ingenieursdenken bedeuten, denn weniger als 20 Eurocent – kostet das Ticket.
es gehe nicht nur um Technik zum besseren Viele Stationen werden zudem als Ausstel-
Auffangen von Regenwasser, sondern darum lungsfläche genutzt, es gibt Graffiti hinter
– und zwar auf regionaler Ebene – „zu ver- Glas, Fotografie, Malerei und archäologische
hindern, dass es aufhört zu regnen“. Funde zu sehen. Die U-Bahn sei eine „Schu-
le der Respekts vor der Diversität“, schrieb
Nicht zu trennen vom Thema Wasser ist Carlos Monsiváis, die eine „Ästhetik der In-
das Thema Müll. Rund 14 000 Tonnen Ab- differenz“ befördere. ❙3 Je nach Tageszeit fin-
fall werden im Großraum täglich produziert. den sich hier grell geschminkte Mädchen,
Heftige Regenfälle machen die Müllhal- kichernde Teenies in Schuluniformen, jun-
den regelmäßig zu Schlammgebieten, Abfäl- ge Männer mit verwegenen Frisuren, ältere
le werden in die Kanalisation geschwemmt, Männer mit müdem Blick und Frauen jeden
giftige Stoffe sickern ins Grundwasser. Die Alters mit riesigen Plastiktaschen. Zu Stoß-
größte Halde am Ostrand der Stadt ist, so zeiten drängen sich die warmen Leiber dicht
haben Journalisten ausgerechnet, 13 Mal so an dicht. Dabei stößt der gepriesene Gleich-
groß wie der Vatikan. Fast 17 000 Müllsamm- mut dann offenbar an seine Grenzen. Seit
ler leben von und sogar in den Abfallbergen, Jahren sind viele Bahnsteige in Frauen- und
um die 200 000 hängen ökonomisch vom Re- Männerabschnitte unterteilt. Die Erfolgs-
cycling ab. Die Stadtregierung hat hoch flie- quote ist eher mäßig, immer wieder gelingt
gende Pläne für Müllverbrennung und Kom- es Männern, die sichtlich weder Sohn, Vater
postierung. Doch auch hier, so Azuara, liege oder Lebensgefährte sind, im Frauenwag-
der Ausweg nicht in Megaprojekten, sondern gon mitzureisen. Und auch die Vielfalt ist be-
in „lokalen Lösungen“ jenseits von Korrup- grenzt: Die Metro benutzen in Mexiko-Stadt
tion und Profitmaximierung. Gerade kei- in der Regel nur diejenigen, die sich ein Auto
ne Großoperationen, nur dezentrale „Aku- nicht leisten können.
punktur“ und „Mikrochirurgie“ könnten die
kranke Stadt letztlich heilen. Im 2005 erstmals in Betrieb genommenen
Metrobus ist das schon anders. Die erste der
Kaum ein Übel erschwert den Alltag der neuen Stadtbuslinien verbindet, auf einer ei-
Chilangos so leibhaftig wie die verstopften genen Spur entlang der Avenida Insurgentes
Straßen. Wurde es früher vor allem zu den – der über 40 Kilometer langen Schnellstra-
Stoßzeiten zäh, so ist jetzt rund um die Uhr ße, welche die Stadt einmal der Länge nach
Rushhour. 1950 gab es noch 22 000 Pferde- durchquert – den Süden mit dem Norden.
wagen und 60 000 Autos. Heute wälzen sich Der Metrobus, der mit seinen feuerwehrroten
dreieinhalb Millionen Pkws durch die Stra- Waggons langsam aber beständig an den ewig
ßen, jedes Jahr werden es ein paar Hundert- langen Autoschlangen vorbeituckert, ist ne-
tausend mehr. Die meisten Autofahrer ver-
bringen täglich mehrere Stunden am Steuer. ❙3  Ebd., S. 232 und S. 238.

APuZ 40–42/2011 33
ben der Metro das einzige berechenbare Fort- sofort für Fahrzeuge und Fußgänger den Zu-
bewegungsmittel – und der beste verkehrspo- gang kontrolliert. Begründet wird das meist
litische Einfall, den eine Stadtregierung nur mit der „Sicherheitslage“. Vor allem seit der
haben konnte. Hunderte dieser Gelenkbusse Wirtschaftskrise von 1995 sind Überfälle an
fahren heute auf bislang zwei Linien, einmal der Tagesordnung – als Erfahrung, vor allem
kreuz und einmal quer durch die Stadt, und aber als Diskurs; an die 2000 private Wach-
befördern dabei täglich über eine halbe Milli- dienste sollen heute in der Stadt tätig sein.
on Menschen – Businessdamen und Hausan- Viele Hundert solcher Cerradas soll es mitt-
gestellte, Bauarbeiter und Anzugträger jeder lerweile geben, nicht reguliert, kaum legal
Preisklasse. und doch geduldet. Doch die De-facto-Priva-
tisierung städtischen Raums beschränkt sich
nicht auf die Wohnanlagen der Bessersituier-
Die bewohnte Stadt ten. Auch die Ärmeren beanspruchen Ne-
bengassen, Hauseinfahrten oder Bürgerstei-
Zwar gibt es im postrevolutionären Mexiko ge für kommerzielle Zwecke – ob in Gestalt
schon seit den 1940er Jahren eine staatliche von Taco-Verkäufern, Orangensaftpressern
Wohnbaupolitik. Dennoch wurde ein Groß- oder Parkhelfern, die auch Anwohner nur ge-
teil der Stadt de facto durch private Initiativen gen ein kleines Entgelt parken lassen. Lizen-
produziert – und zwar im doppelten Sinne: zen wird man hier vergeblich suchen, Unifor-
durch informellen Eigenbau und durch privat- mierte erhalten dafür ein kleines Trinkgeld.
wirtschaftliche Massenproduktion. Zwei Drit- Experten sind sich in der Bewertung solcher
tel des bewohnten Raums entstanden durch Phänomene uneinig: Was die einen als Indiz
Landbesetzung und selbstorganisiertes Bau- für urbanes Chaos und Korruption sehen,
en, das erst im Nachhinein reguliert wurde. werten andere als Symptom einer funktionie-
Daraus wurden dann die Colonias populares renden Verhandlungskultur.
oder Armenbezirke wie etwa der Zwei-Millio-
nen-Einwohner-Bezirk Iztapapalapa oder die
ehemals informelle Siedlung Nezahualcóyotl. Wem gehört die Altstadt?
Seit Ende der 1980er Jahre der Bodenmarkt
dereguliert und städtische Wohnbauprogram- Wie komplex die Frage der städtischen Infor-
me an private Baufirmen delegiert wurden, hat malität ist, zeigt das historische Zentrum der
sich die standardisierte Massenbauweise ver- Stadt, das Centro histórico. Kaum ein Ort ist so
breitet: viele hundert zweistöckiger Einfamili- emblematisch für urbane Mutationen wie die
enhäuser aus der Retorte, deren Pseudodesign Altstadt rund um den Zócalo. Bis in 1980er Jah-
nur notdürftig die schlechte Bausubstanz und ren hinein war sie trotz der prächtigen Koloni-
minimale Ausstattung kaschiert. Seither sind alarchitektur ein heruntergekommener Bezirk,
daraus eine Unzahl Megasiedlungen, auch mit eingefrorenen Niedrigstmieten, bröckeln-
Condominios genannt, an den Rändern der den Fassaden und fragwürdiger Reputation
Stadt entstanden. Wie in den Colonias popula- – eine „No-go-area“ für das bürgerliche Me-
res liegen die Häuser dort dicht an dicht, ohne xiko. Einen Wendepunkt markierten die ver-
Chance auf Privatheit, aber auch ohne öffent- heerenden Erdstöße vom 19.  September 1985,
lichen Raum. Die Condominios, die in der ge- die einen Großteil der Innenstadt verwüsteten,
hobenen Variante auch bewacht werden, sind Zehntausende das Leben kosteten und auch im
so etwas wie die gated communities für die Zentrum Hunderte von Gebäuden ganz oder
klassenbewussten, aber ärmeren Mittelschich- teilweise zerstörten. Doch die Verwüstung
ten. Anders als die Wohnanlagen in den Vor- wurde zum Katalysator einer neuen sozialen
städten der USA, die oft völlig vom urbanen Mobilisierung. Die jahrzehntelange Erfah-
Leben entkoppelt sind, ist hier – schon durch rung der Selbstorganisation mündete in eine
die endlosen Fahrten zur Arbeit  – das Band Politisierung bei den Aufräumarbeiten und im
zur Stadt nicht ganz gekappt. Kampf um neuen Wohnraum. Die Movimien-
tos urbano populares, die städtischen Volksbe-
Aber auch in Innenstadtbezirken trifft man wegungen, waren geboren – eine Keimzelle der
immer öfter auf Calles cerradas, abgesperrte späteren politischen Opposition.
Straßen. Dabei wird eine bis dahin öffentli-
che Straße kurzerhand abgesperrt, die Sperre Doch auch das Establishment entdeckte die
mit einem Wärterhäuschen versehen, das ab Altstadt neu. Schon 1990 wurde eine – vorerst

34 APuZ 40–42/2011
noch private – Treuhandgesellschaft zur „Ret- dabei nicht selten von der PRI kooptiert. Im-
tung des Stadtzentrums“ gegründet. Die Mie- mer wieder kam es zu Versuchen der Um-
ten wurden aufgetaut, die Stadt initiierte ein siedlung, die allesamt scheiterten. Zugleich
alljährliches Kulturfestival. Im Jahr 2000 wur- globalisierte sich der Straßenhandel rapide:
de die „Rettung“ unter López Obrador zur Durch die Warenströme made in China, aber
öffentlichen Aufgabe deklariert, unterstützt auch dadurch, dass ein Teil des Handels heute
vom Magnaten Carlos Slim Helú, der histo- direkt in asiatischer Hand liegt. Die Einhei-
rische Immobilien zwecks Instandsetzung mischen verlegen sich dabei zunehmend aufs
käuflich erwarb – ein durchaus ungewöhnli- Raubkopieren; Mexiko belegt heute den drit-
ches Joint Venture zwischen einem linken Re- ten Platz im globalen Ranking der Produkt-
genten und einem der mächtigsten und reichs- piraterie. An die 20 zumeist straff organisier-
ten Unternehmer der Welt. Das Terrain wurde te Verbände haben das Territorium klar unter
unterteilt in eine A-Zone, in dem die Muse- sich aufgeteilt. Diese seien klientelistische
en stehen und nur noch wenige Menschen le- Interessenverbände, die sich, so die Argu-
ben, und eine größere B-Zone, so etwas wie mentation der Behörden, öffentlichen Raum
der schmuddelige Hinterhof des Zentrums. „privat aneigneten“. Die Vertreter der Ambu-
Im schmucken A-Teil werden seit Jahren un- lantes halten dagegen, dass sie seit jeher zur
ermüdlich Innenhöfe, Fassaden und Plätze Alltagskultur des Zentrums gehören. Ende
restau­riert, allerorten entstehen Straßencafés, 2007 kam es zu einem neuen Räumungsver-
Fußgängerzonen und Künstlerlofts. such, der einvernehmlicher als die bisherigen
verlief. Die Händler wurden von den Stra-
„Gerettet“ werden sollte das Filetstück des ßen in der A-Zone auf feste Stellplätze in der
Zentrums vor allem vom Straßenhandel, der B-Zone „umgesiedelt“. Ob sie sich dauerhaft
sich der Gassen und Bürgersteige des Zent- verbannen lassen, bleibt abzuwarten. Nicht
rums bemächtigt hatte. Zwischen 15 000 und wenige von ihnen kehrten als buchstäblich
25 000 Ambulantes, wie die mobilen Händ- „fliegende“ Händler zurück, die ihre Ware
ler im mexikanischen Spanisch heißen, bieten auf einem Tüchlein feilbieten. Bei jeder An-
hier seit Jahrzehnten ihre Billig- und Billigst- näherung der Polizei verstauen sie ihr Bündel
waren feil. Diese stellten eine urbane „Plage“ in einem Hauseingang. Ebenso schnell haben
dar, lautete jahrelang der Tenor von Stadtre- sie es wieder ausgebreitet. ❙4
gierung und Medien. „Invasoren“, titelten die
Zeitungen, die Händler seien Eindringlinge Gegen den Vorwurf der Gentrifizierung,
und Kriminelle, keine Flaneure oder Kultur- wie ihn Aktivisten und kritische Stadtfor-
konsumenten. Dabei ist der Straßenhandel in scher formulieren, wehrt sich die linke Stadt-
Mexiko-Stadt eine seit Jahrhunderten tradier- regierung vehement. Man brauche nun einmal
te urbane Praxis. Schon in vorspanischer Zeit private Investitionen, und „kein einziger An-
wurden die Freiflächen zwischen den Tem- wohner“ würde durch die Aufwertung bis-
peln als Tianguis, als Marktplatz genutzt. Das lang vertrieben. Entsprechende Studien, auch
blieb auch der Zócalo, als die Eroberer hier zum Verbleib der Straßenhändler, bleibt die
die Kathedrale und den Nationalplast bauten. Ebrard-Administration bislang jedoch schul-
Hier trafen sich Kreolen, Spanier und Indige- dig. Ganz aus dem Blick geraten bei alledem
ne, das Verkaufen galt als Ausweis und Puls die Käufer: Zwischen 600 000 und 1,2  Mil-
von Urbanität. Diese Idee kippte erst, als seit lionen durchqueren tagtäglich das Centro
Ende des 18. und später auch im 19. Jahrhun- histórico, viele von ihnen gerade nicht zum
dert das Ideal der „europäischen Stadt“ Ein- Flanieren oder Kaffeetrinken. Befragungen
zug hielt. Nun galt es, Sauberkeit, Ordnung zufolge kaufen an die 80 Prozent der Chilan-
und Sicherheit herzustellen, der öffentliche gos regelmäßig „auf der Straße“ ein.
Raum musste reguliert werden. Die Märk-
te wurden überdacht und in feste Gebäude
verbannt. Die Händler verloren an Ansehen, ❙4  Siehe hierzu den Dokumentarfilm von Boris Gils-
wurden zu Störenfrieden und Deklassierten, dorff, Raphael Schapira und Steffen Mayer auf der
von den öffentlichen Plätzen zogen sie sich in Website der von der Verfasserin geleiteten Stadtfor-
schungsexkursion „Wem gehört die Metropole?“, on-
die Gassen zurück.
line: http://prof08b.lai.fu-berlin.de/metropole/​i ndex.​
php? (13. 9. 2011).
Seit dem Erdbeben 1985 organisierten sich
die Ambulantes in Verbänden und wurden

APuZ 40–42/2011 35
Marianne Braig gloamerikanische Siedler, 1845 folgte die An-
nexion von Texas, und bis 1848 verschoben
Hinterhof der USA? die USA ihre südliche Staatsgrenze schließ-
lich bis zum Rio Grande. Mit dem Frieden

Eine Beziehungs- von Guadelupe Hidalgo (1848) gingen Texas,


New Mexico, Arizona, Kalifornien, Nevada
und Utah sowie Teile von Wyoming, Colo-
geschichte rado und Oklahoma endgültig in US-ame-
rikanisches Staatsgebiet über. Nach dieser
Aneignung großer Teile des mexikanischen

E in in die USA ausgewanderter Mexika-


ner, der sich dafür einsetzte, auf beiden
Seiten des Rio Grande an Wahlen teilnehmen
Territoriums lehnte der damalige US-Präsi-
dent James R. Polk (1845–1849) ein weiteres
Vordringen in das „Herz Mexikos“ jedoch
und seine politischen entschieden ab. Neben den finanziellen Risi-
Marianne Braig Rechte wahrnehmen ken einer Okkupation wies er dabei vor allem
Dr. phil., geb. 1953; Professorin zu können, antworte- auf die kulturellen Differenzen jenseits des
für Politikwissenschaft am La- te auf die Frage nach Grenzflusses hin und setzte sich damit gegen
teinamerika-Institut der Freien seiner politischen Hei- diejenigen Stimmen durch, die ganz Mexiko
Universität Berlin, Rüdesheimer mat ohne zu zögern: besetzen wollten. Der Rio Bravo (so die me-
Straße 54–56, 14197 Berlin. „La nación mexicana xikanische Bezeichnung des Flusses) wurde
mbraig@zedat.fu-berlin.de llega hasta donde esta- somit als geokulturelle Grenze zwischen den
mos los mexicanos.“ ❙1 Amerikas markiert.
Unter anderem diese Ansicht – nach der sich
die mexikanische Nation auf das Territorium Zugleich tauchte im 19.  Jahrhundert die
erstrecke, auf dem Mexikaner leben, zumal, Vorstellung einer Einheit der westlichen He-
wenn dieses früher zu Mexiko gehört habe –, misphäre in den politischen Diskursen auf
bewog den US-amerikanischen Politikwis- und wurde mit dem Ideal eines Panamerika
senschaftler Samuel Huntington dazu, von verbunden. Die Bewunderung für die Befrei-
einer Hispanic Challenge zu sprechen. Und so ung der nordamerikanischen Kolonien von
warnte er vor mexikanischen Ansprüchen auf England 1776 und speziell für den ersten US-
US-Gebiete oder gar einer reconquista. ❙2 Für Präsidenten George Washington (1789–1797)
viele Mexikaner wie den Schriftsteller Car- unter den Unabhängigkeitsbewegten im Sü-
los Fuentes wiederum ist die heutige Gren- den sowie die rasche Anerkennung der un-
ze zu den USA tatsächlich eine „offene Wun- abhängig gewordenen Republiken durch die
de“, steht sie doch für den Verlust der Hälfte USA beförderten die Bestrebungen, die Be-
des mexikanischen Staatsgebiets im Zuge des ziehungen zu vertiefen und interamerika-
Mexikanisch-Amerikanischen Krieges von nische Konferenzen anzustoßen. Doch erst
1846 bis 1848. 1889 gelang es, den ersten Panamerikanischen
Kongress in New York abzuhalten, bei dem,
mit Ausnahme der Dominikanischen Repu-
Historische Wurzeln: blik, alle Staaten der westlichen Hemisphäre
Gespaltene Amerikas vertreten waren. Doch die im Spanisch-Ame-
rikanischen Krieg von 1898 deutlich zutage
Die Erfahrungen Süd- und Mittelameri- tretende expansionistische Interessenpoli-
kas mit den USA sind geprägt von Anne- tik der USA gab nachträglich all denjenigen
xion, Intervention und kultureller Polari- Recht, die vor der wirtschaftlichen Über-
sierung; zugleich gab es aber auch immer macht und dem politischen und militärischen
wieder Versuche, eine gemeinsame Geschich- Imperialismus des nördlichen Nachbars ge-
te der Befreiung vom europäischen Kolonia-
lismus und vom Kampf für Unabhängigkeit ❙1  Stephanie Schütze, La nación mexicana llega hasta
zu entwerfen. Für die Entgegensetzung der donde estamos los mexicanos. Los partidos políticos
Amerikas und die Wahrnehmung Mexikos mexicanos y su participación política transnacional,
in: Iberoamericana. América Latina, España, Portu-
als „Hinterhof der USA“ sind Verlust- und
gal: Ensayos sobre letras, historia y sociedad. Notas,
Gewalterlebnisse zentral: Bereits 1811 lega- Reseñas iberoamericanas, 7 (2007) 25, S. 143–154.
lisierte der US-Kongress nachträglich die ❙2  Samuel P. Huntington, The Hispanic Challenge,
Besetzung spanischen Territoriums durch an- in: Foreign Policy, (2004) März–April, S. 30–45.

36 APuZ 40–42/2011
warnt hatten, wie etwa der kubanische Dich- vorangetrieben. Die USA verstrickten sich
ter José Martí. In diesem Rahmen konnte es in einen Widerspruch zwischen der eigenen
also keine gemeinsame Interessensphäre aller revolutionären Tradition und einer Außen-
Nationen in den Amerikas geben. Die „Neue politik, die problemlos mit reaktionären und
Welt“ war fortan zweigeteilt, und Mexiko so- konterrevolutionären Kräften im Süden ko-
wie andere Staaten Mittelamerikas und der operierte. Während die revolutionäre Tradi-
Karibik wiesen alle Merkmale auf, die sie in tion durchaus die Anrufung eines gemeinsa-
den „Hinterhof der USA“ verwiesen, waren men emanzipativen Ursprungs ermöglichte,
die entstehenden Republiken doch nicht in zerstörte die von den USA betriebene „Hin-
der Lage, dauerhaft für Stabilität und Sicher- terhofpolitik“ jedoch eine Kooperation unter
heit zu sorgen. Gleichen.

So war Mexiko am 21. September 1821, als


es seine Unabhängigkeit von Spanien erklär- Scheitern der „Latinität“
te, weit davon entfernt, seine Souveränität
nach innen oder außen durchsetzen zu kön- Die Europäer wiederum, die aus der westli-
nen. Angesichts der fehlenden Staatsmacht chen Hemisphäre der unabhängigen Republi-
und der ständigen bewaffneten lokalen Re- ken herausgehalten werden sollten (Monroe-
bellionen und Auseinandersetzungen wurde Doktrin ❙4), versuchten sich auch noch nach
die politische Szene von militärischen cau- der Unabhängigkeit in die Aufteilung des
dillos beherrscht: regionalen Chefs bewaff- Doppelkontinents einzumischen. Bereits der
neter Banden, deren Bedeutung mit jedem französische Publizist Alexis de Tocqueville
Konflikt zunahm, insbesondere während hatte bei seinen Reisen zwei sehr unterschied-
ausländischer Interventionen. ❙3 Aus der Sicht liche Amerikas wahrgenommen. Er war es
des Südens war die „Neue Welt“ gespalten in auch, der zusammen mit dem Ökonomen
einen imperialen Norden auf der einen und Michel Chevalier die Idee eines lateinischen,
eine Vielfalt von Völkern, die um ihre Wür- über Europa hinausgreifenden Kulturkreises
de kämpften, auf der anderen Seite. Aus der oder von einer race latine unterstützte, die
Perspektive des Nordens wiederum standen auch in außereuropäischen Regionen, insbe-
der Demokratie und der Freiheit des Handels sondere in Amerika, zu verorten wäre. Damit
revolutionäre, nationale Bewegungen und au- verband er zugleich die Warnung vor einer
toritäre Regime im Süden gegenüber. Hieraus Expansion der USA und vor der Gefahr eines
ergebe sich, so schrieb der New Yorker Jour- Konflikts entlang der Scheidelinie zwischen
nalist John L. O’Sullivan 1845 im „Democra- dem lateinischen und dem angelsächsischen
tic Review“, die „offenkundige Bestimmung“ Amerika. Mit der US-amerikanischen Anne-
(manifest destiny) der US-amerikanischen xion von Texas 1845 sah man in Frankreich
Nation, „sich auszubreiten und den gesamten diese Befürchtungen bestätigt. Der französi-
Kontinent in Besitz zu nehmen, den die Vor- sche Außenminister François Pierre Guillau-
sehung uns für die Entwicklung des großen me Guizot formulierte in diesem Zusammen-
Experimentes Freiheit und zu einem Bündnis hang die Notwendigkeit, die race latine nicht
vereinigter Souveräne anvertraut hat“. Den allein in Europa, sondern auch in Amerika
Expansionsbestrebungen des Nordens liefer- zu schützen, damit sie nicht unter das Joch
te O’Sullivan damit eine wirkmächtige ideo- der Angelsachsen komme. ❙5 Doch erst unter
logische Rechtfertigung.

Die Zweiteilung der Amerikas wurde in ❙4  Mit der Doktrin formulierte US-Präsident James
Monroe (1817–1825) 1823 ein Angebot an die euro-
unterschiedlicher Weise von beiden Seiten
päischen Kolonialmächte, sich nicht in europäische
Revolutionsprozesse einzumischen, um zugleich von
❙3  Der mexikanische Prototyp dieser überall in La- ihnen zu fordern, von Versuchen der Rekolonialisie-
teinamerika beheimateten politischen Figur war An- rung der Neuen Welt Abstand zu nehmen.
tonio López de Santa Anna: Unter anderem dank ❙5  Vgl. Frank Ibold, Die Erfindung Lateinamerikas.
seiner Beteiligung an der Niederschlagung des Ver- Die Idee der latinité im Frankreich des 19. Jahrhun-
suches einer reconquista durch die Spanier 1829 als derts und ihre Auswirkungen auf die Eigenwahr-
nationaler Held gefeiert, erwies er sich während sei- nehmung des südlichen Amerika, in: Hans-Joachim
ner autoritären Herrschaft als Präsident (1853–1855) König/Stefan Rinke (Hrsg.), Transatlantische Per-
in allen Bereichen als unfähig, was anarchistische Zu- zeptionen. Lateinamerika – USA – Europa in Ge-
stände im Land zur Folge hatte. schichte und Gegenwart, Stuttgart 1998, S. 80.

APuZ 40–42/2011 37
der Herrschaft Napoleons III., im „Seconde und ihre Frontstellung gegenüber dem „An-
Empire“ (1852–1870), wurde die „Latinität“ gelsächsischen“, im 19. und beginnenden
in Frankreich zunehmend politisiert und mit 20.  Jahrhundert eine neue Bedeutung, die
geostrategischen Überlegungen ­verbunden. mit Überlegenheitsgefühlen der europäi-
sierten Intellektuellen des Südens gegenüber
Mit der französischen Intervention in Me- dem pragmatischen Norden einherging. Zu-
xiko von Januar 1862 bis März 1867, die mit gleich erfährt der Begriff bis heute eine an-
der Hinrichtung des vom französischen Mo- dauernde Karriere und Ausweitung und
narchen unterstützten Kaisers Maximilian reicht mit der Zuschreibung latinos für die
(1864–1867) endete, erlebte die Konstruk- spanischsprachige Bevölkerung weit nach
tion einer transatlantischen race latine je- Nordamerika hinein.
doch ihr Fiasko. Der unmittelbare Anlass für
das koloniale Abenteuer waren kommerziel-
le Interessen Frankreichs, etwa die Eintrei- Interventionen aufgrund
bung höchst dubios begründeter Schulden. chronic wrongdoing
Die weitergehenden geopolitischen Moti-
ve Frankreichs zielten eindeutig darauf, im Freilich, das Argument einer möglichen in-
Wettlauf mit den USA zu bestehen und Me- nenpolitischen Destabilisierung der USA
xiko im eigenen Einflussbereich zu veran- im Zuge einer Intervention in einen ande-
kern, bevor die USA die Vorherrschaft über ren Kulturkreis sorgte nicht für grundsätz-
den ganzen Kontinent erlangen konnten. Für liche Zurückhaltung. Im Gegenteil: In einer
viele Mexikaner war es dabei geradezu tra- der einflussreichsten Reinterpretationen der
gisch zu erfahren, dass die beiden Länder, Monroe-Doktrin, dem 1904 von US-Präsi-
die ihnen ideologisch am nächsten waren, dent Theodore Roosevelt (1901–1909) formu-
die USA und Frankreich, offenbar nur ihre lierten „Roosevelt Corollary of the Monroe
eigenen Interessen verfolgten und versuch- Doctrine“, wurde die Notwendigkeit einer
ten, an die Stelle Spaniens als Kolonialmacht Intervention in andere Staaten (gerade auch
zu treten. Die Gelegenheit für die Franzosen jenseits der im Mexiko-Krieg konstruierten
schien günstig zu sein: Die USA waren wäh- geokulturellen Grenze) mit der Fehlerhaftig-
rend des Bürgerkriegs ab 1861 außenpolitisch keit und dem Versagen staatlicher Institutio-
weitgehend handlungsunfähig und konnten, nen jenseits dieser Grenze begründet: „Chro-
selbst wenn sie gewollt hätten, ihre gegen nic wrongdoing, or an impotence which
die europäischen Kolonialmächte formulier- results in a general loosening of the ties of ci-
te Monroe-Doktrin militärisch nicht durch- vilized society, may in America, as elsewhere,
setzen. Legitimiert wurde das militärische ultimately require intervention by some civi-
Abenteuer von Napoleon III. mit der Be- lized nations, and in the Western hemisphe-
hauptung, einen gemeinsamen lateinischen re, the adherence of the United States to the
Kulturkreis beschützen zu müssen. Zugleich Monroe Doctrine may force the United Sta-
bemühte man sich auch über wirtschaftspoli- tes, however reluctantly, in cases of wrong-
tische Maßnahmen um eine stärkere Integra- doing or impotence, to the exercise of the in-
tion. Die Zollunion der lateinischen Länder ternational police power.“ ❙6
und die Gründung einer Union Monétaire
Latine 1865 in Paris waren jedoch ebenso we- Zielte die Monroe-Doktrin zunächst da-
nig erfolgreich wie die militärische Interven- rauf ab, die eigene politische Sphäre gegen
tion der Franzosen in ­Mexiko. die der „Alten Welt“ abzugrenzen, also eine
westliche Hemisphäre frei von Kolonialisie-
Ende des 19. Jahrhunderts war das mit der
französischen Außenpolitik eng verbunde- ❙6  Zit. nach: Martin Sicker, The Geopolitics of Secu-
ne Projekt der „Latinität“ gescheitert. Al- rity in the Americas. Hemispheric Denial from Mon-
lerdings bedeutete dies in keiner Weise das roe to Clinton, Westport 2002, S.  61. Ähnlich wur-
endgültige Aus dieser Idee und der damit de während des Krieges mit Mexiko argumentiert.
verbundenen Abgrenzung gegenüber der an- „Mexico’s failure to improve California, a land of
Eden, was attributed to an incompetent local bureau-
gelsächsischen Kultur. Im Gegenteil: Durch
cracy, degenerating into a state of anarchy, and to a
die Aneignung im Diskurs lateinamerika- slothful population.“ Zit. nach: Frederick Merk, Ma-
nischer Intellektueller im Begriff „Latein- nifest Destiny and Mission in American History. A
amerika“ gewannen beide, die „Latinität“ Reinterpretation, Cambridge, MA 1963.

38 APuZ 40–42/2011
rungsbestrebungen und Interventionen zu ognizing for them another law of self-deter-
schaffen, so führten ihre Weiterentwicklun- mination, a leading-string law.“ ❙8 Erst als die
gen dazu, dass die USA ein exklusives Inter- mexikanische Regierung versprach, die um-
ventionsrecht in inneramerikanische Angele- strittene Passage aus der Revolutionsverfas-
genheiten für sich beanspruchten – erst recht, sung nicht anzuwenden, erkannten die USA
wenn es darum ging, für Recht und Ordnung 1923 den mexikanischen Präsidenten Álvaro
im eigenen „Hinterhof“ zu sorgen. Diese Po- Obregón (1920–1924) an.
litik richtete sich nicht allein gegen mögliche
Interventionen europäischer Staaten, son- Als Präsident Lázaro Cárdenas (1934–1940)
dern gegen jede Art von politischen Bewe- die Nationalisierung des Besitzes der US-
gungen, die den Interessen der USA zuwider amerikanischen und britischen Erdölge-
liefen – auch innerhalb der lateinamerikani- sellschaften wieder auf die Tagesordnung
schen Staaten selbst. brachte, fürchtete die US-Regierung unter
Franklin D. Roosevelt (1933–1945), dass an-
Dies wird bereits in der Reaktion Washing- dere lateinamerikanische Staaten diesem Bei-
tons auf die Mexikanische Revolution (1910– spiel folgen könnten. Zwar konnte 1941 ein
1917) und die postrevolutionäre Entwicklung Kompromiss ausgehandelt werden, aber ins-
deutlich. Dabei waren es weniger die revolu- gesamt blieb die containment-Strategie gegen
tionären Auseinandersetzungen, die Anstoß revolutionäre Bewegungen für die US-ameri-
erregten – vor diesen wussten beispielswei- kanische Lateinamerikapolitik bestimmend.
se die ausländischen Erdölproduzenten ihre Erst nach dem Sieg der kubanischen Revo-
Ölquellen zu schützen. Es war vor allem die lution 1959 suchte die von Präsident John F.
mexikanische Verfassung von 1917 mit ihrem Kennedy (1961–1963) geführte Regierung un-
Artikel  27, der unterschiedliche Eigentums- ter dem Motto „Allianz für den Fortschritt“
formen, die Enteignung von Privateigentum eine engere Zusammenarbeit mit dem süd-
sowie die Nationalisierung der Bodenschätze lichen Amerika. Der new approach umfass-
ermöglichte, die immer wieder zu Konflikten te neben Hilfsprogrammen zur Unterstüt-
und zu einer Mexikopolitik unter dem Mot- zung der wirtschaftlichen und politischen
to führte: „watching them narrowly and in- Entwicklung Lateinamerikas auch eine dis-
sisting that they shall take help when help is kursive Rückbesinnung auf gemeinsame his-
needed“. ❙7 Mexiko war jedoch nicht allein we- torische Erfahrungen. Dabei appellierte der
gen seiner unmittelbaren Nachbarschaft un- US-Präsident an eine gemeinsame Geschich-
ter besonderer Beobachtung, sondern der „re- te: „Our continents are bound together by a
volutionäre Nationalismus“ des politischen common history, the endless exploration of
Regimes galt vielen in den USA als eine Infra- new frontiers. Our nations are the product of
gestellung US-amerikanischer Ordnungsvor- a common struggle, the revolt from colonial
stellungen. Um die Dramatik der Abgrenzung rule. And our people share a common herit-
zu unterstreichen, wurden Vergleiche mit dem age, the quest for dignity and the freedom of
revolutionären Russland keineswegs gescheut. man.“ ❙9 Doch dieser neue Ansatz sollte nicht
Franklin K. Lane, zu jener Zeit Innenminis- von allzu langer Dauer sein.
ter der USA, sah gar eine Doppelbedrohung,
auf die mit einer Neubestimmung des Selbst-
bestimmungsrechts, zumindest für rück- Fatale Nähe
wärtsgewandte Völker, reagiert werden müs-
se: „When I say that Russia may go her own „Pobre México, tan lejos de Dios y tan cer-
way, and Mexico hers, I say so with a  sense ca de los Estados Unidos.“ („Armes Mexiko,
that I have a right in Russia and in ­Mexico, so fern von Gott und den Vereinigten Staa-
and also a right to see that they do not go their
own way to the extent of blocking my way ❙8  Zit. nach: Hans-Jürgen Schröder, Amerika als Mo-
to what of good they hold.  (…) That is why dell? Das Dilemma der Washingtoner Außenpolitik
we are talking of backward peoples and rec- gegenüber revolutionären Bewegungen im 20.  Jahr-
hundert, in: Erich Angermann (Hrsg.), Revolution
und Bewahrung. Untersuchungen zum Spannungs-
❙7  US-Präsident Woodrow Wilson (1913–1921) zit. gefüge von revolutionärem Selbstverständnis und po-
nach: P. Edward Haley, Revolution and interventi- litischer Praxis in den Vereinigten Staaten von Ame-
on. The diplomacy of Taft and Wilson with Mexico, rika (HZ Beiheft 5), München 1979, S. 221.
1910–1917, Cambridge, MA 1970, S. 138. ❙9  Ebd., S. 234.

APuZ 40–42/2011 39
ten so nah.“) Für eine Charakterisierung der die bereits in den 1980er Jahren begonnene
Beziehungen zwischen den USA und Mexiko außenwirtschaftliche Öffnung massiv vo-
kommt man wohl ohne dieses bekannte Zitat rangetrieben; zugleich wurden auch wirt-
des mexikanischen Diktators Porfirio Díaz schaftspolitische Vorstellungen der USA
(Präsident 1877–1880 und 1884–1911) nicht übernommen, was einen Bruch mit den in
aus. Damit wird zugleich auf die Differenz Lateinamerika lange Zeit stark verankerten
und die Abhängigkeit von den USA verwie- Praxen der Importsubstitution und der Ab-
sen, in der sich die mexikanische Politik und grenzung der eigenen Volkswirtschaft nach
Gesellschaft bewegt. außen bedeutete. Viele Südamerikaner wie-
derum glaubten daraufhin, die Mexikaner
Die mexikanische Republik hat sich seit ih- könnten nun dem südlichen Teilkontinent
rer Gründung stets als souveräner Staat und den Rücken kehren.
nicht als Hinterhof des nördlichen Nachbarn
gesehen und lange Zeit die Abhängigkeit zu Die ökonomische Einbindung des mexi-
überspielen versucht bzw. einen pragmati- kanischen Territoriums in den Norden voll-
schen Umgang mit dieser praktiziert. Nach zog sich in den vergangenen Jahrzehnten
der Vertreibung der napoleonischen Truppen in mehreren Etappen. Die seit 1994 durch
und erst recht nach der Mexikanischen Revo- das NAFTA bestehende Nordamerikani-
lution beruhte das außenpolitische Verständ- sche Freihandelszone ist ganz im angelsäch-
nis der Republik auf der Doctrina Juárez, die sischen Sinne der freien Beweglichkeit von
das Selbstbestimmungsrecht der Nationen Waren und Dienstleistungen verpflichtet; die
einfordert. ❙10 Vor allem während der Präsi- freie Beweglichkeit der Menschen versuch-
dentschaft von Luis Echeverría (1970–1976) te man aus den Vereinbarungen und von der
wurden die Bemühungen um eine pronon- Grenze fernzuhalten. Vorausgegangen war
cierte, eigenständige Außenpolitik verstärkt. das mexikanische Grenzindustrieprogramm
So positionierte sich Mexiko in dieser Zeit von 1965, in welchem eine 12,5 Meilen brei-
nicht nur als Teil Lateinamerikas, sondern te Sonderzone entlang der 3141 Kilometer
ganz bewusst auch als Teil der „Dritten Welt“ langen Grenze zu den USA festgelegt wor-
und versuchte sich als Sprecher der „Block- den war. ❙11 Das Programm sollte die hohe Ar-
freien“ für die damit verbundenen Interessen beitslosigkeit in den Grenzregionen bekämp-
zu profilieren. Washington schaute distan- fen, indem ausländischen Investitionen eine
ziert, wenn nicht gar irritiert auf den südli- Sonderbehandlung außerhalb des mexika-
chen Nachbarn, der sich aus der Warte der nischen Arbeits- und Sozialrechts zugebil-
USA angesichts der auch schon lange vor dem ligt wurde. Der Grenzraum zog weitere Mi-
Nordamerikanischen Freihandelsabkommen gration an und verwandelte zahlreiche twin
(NAFTA) bestehenden, engen wirtschaftli- cities an der Grenze zu boomenden Indus-
chen Verflechtungen und der zunehmenden trie- und Dienstleistungszentren. Von diesen
Migration undankbar, ja feindlich gerierte. gingen in den vergangenen Jahren nicht nur
Trotz durchaus vorhandener antiamerikani- stärkere ökonomische, sondern auch kultu-
scher Gefühle ließen sich die Mexikaner in relle Impulse aus.
ihren Beziehungen zu den USA hauptsäch-
lich von Pragmatismus leiten. Die mexikani- Darüber hinaus ist es den USA in jüngerer
sche Diplomatie sucht traditionell einen pro- Zeit gelungen, Mexiko nicht nur ökonomisch
fessionellen Umgang mit dem Hegemon des über die Nordamerikanische Freihandelszo-
Kontinents. ne, sondern auch geostrategisch in die hemi-
sphärische Konstruktion eines neuen North
Diese Praxis galt es in den 1990er Jahren America einzubeziehen. Dieses neue Nord-
den neuen Gegebenheiten einer globalisier- amerika ist Teil einer veränderten Sicherheits­
ten Welt anzupassen, in die Mexiko über
rasch wachsende legale und illegale Wirt- ❙11  Dieses war als Ersatz für das 1951 unterzeichne-
schafts- und Migrationsbeziehungen zu den te und 1964 durch den US-amerikanischen Kongress
USA eingebunden wurde. Nicht nur wurde nicht mehr verlängerte Bracero-Abkommen gedacht.
Dieses hatte die saisonale Arbeitsvermittlung von
mexikanischen, hauptsächlich männlichen Arbeits-
❙10  Die Doctrina Juárez geht zurück auf eine im Juli kräften in die USA rechtlich geregelt und Tausen-
1867 gehaltene Rede des Präsidenten Benito Juárez den von Arbeitsmigranten zeitweilig ein Einkommen
(1861–1872). ­gesichert.

40 APuZ 40–42/2011
perspektive auf die Amerikas, ❙12 ein Blick, Eine solche findet an vielen Orten statt, dies-
der den Kontinent neu aufteilt und Mexiko, seits und jenseits des Rio Bravo. Transmi-
jenseits des „Hinterhofs“, die Funktion ei- grationsprozesse zum Beispiel ziehen nicht
nes Schleusen- und Grenzraums gegenüber allein Verbindungslinien zwischen indiani-
Südamerika zuweist. Aus der Perspektive des schen Dörfern im Süden und ländlichen Re-
US-amerikanischen Verteidigungsministeri- gionen oder städtischen Slums weit im Nor-
ums gehört Mexiko seit 2002 zum „Northern den, sondern sie verändern die Räume an den
Command“ bzw. „NorthCom“ und bildet Staatsgrenzen, am deutlichsten sichtbar in
damit Teil der homefront. Ins Visier geraten den wachsenden twin cities an der US-mexi-
dabei weniger feindliche Staaten als vielmehr kanischen Grenze. ❙16 Sie sind geprägt durch
Individuen. Es geht um die Kontrolle illega- die Bewegungen und Lebensweisen der zahl-
ler und illegalisierter Bewegungen von Men- reich – legal oder illegal – in den USA leben-
schen und Waren, von Migranten, Terroris- den Migranten und ihren Überweisungen in
ten und Drogen. die mexikanische Heimat. Die damit verbun-
denen politischen Themen prägen neue grenz-
Legitimiert durch verschiedene Sicherheits- überschreitende Politikfelder, so genannte
diskurse wurden in den USA in den 1990er intermestics, aber auch die Wahlkämpfe auf
Jahren massive Ressourcen für Grenzschutz- beiden Seiten. In wachsendem Maße werden
programme wie „Operation Gatekeeper“ (in die Stimmen der latinos in den USA als ent-
Kalifornien), „Operation Hold-the-Line“ (in scheidend wahrgenommen. US-amerikani-
Texas) und „Operation Safeguard“ (in Arizo- sche Organisationen, etwa Gewerkschaften,
na) mobilisiert. Gleichzeitig wurde im Rah- haben sich in den vergangenen Jahren durch
men des „Plan Sur“ begonnen, den mexikani- den Zuwachs lateinamerikanischer Mitglie-
schen Süden in einen befestigten Grenzraum der, viele auch ohne legale Aufenthaltsgeneh-
zu verwandeln. Dennoch sind die Erfolge migung, massiv verändert.
des rebordering der lange Zeit relativ offenen
Grenze zwischen den USA und Mexiko em- Umgekehrt erobern US-amerikanische
pirisch kaum festzustellen. Denn trotz deut- Organisationen wie die evangelikalen Kir-
lich verstärkter Grenzkontrollen, technischer chen und andere religiöse Gruppierungen
Aufrüstung, Zaun- und Mauerbau und einer den Süden des Kontinents und verändern den
gewachsenen Zahl von im Grenzraum aufge- Alltag und die sozialen Praxen von immer
griffenen und zurückgeschickten Personen mehr Menschen. Schätzungen zufolge haben
steigt der Anteil der in Mexiko geborenen sich heute mehr Lateinamerikaner in klei-
Menschen in den USA. ❙13 nen „Sekten“ oder „Mega-Kirchen“ den auch
weltlichen Wohlstand verheißenden Evange-
likalen zugewandt, als seinerzeit Katholiken
Verflechtung und Spaltung in Europa im Zuge der Reformation protes-
tantisch wurden. In Mexiko scheint der An-
Folgt man dem argentinischen Kulturwissen- teil dieser Konvertiten an der mehrheitlich
schaftler Hector García Canclini, erleben die katholischen Bevölkerung noch geringer als
Lateinamerikaner Globalisierungsprozesse in anderen mittel- und südamerikanischen
anders als ihre nördlichen Nachbarn. ❙14 Aus Ländern zu sein; doch gerade im Süden, wie
einer Perspektive von unten geht es, wie der im Bundesstaat Chiapas, der einen hohen An-
Soziologe Ludger Pries es ausdrückt, um die teil indianischer und armer Bevölkerung hat,
„Transnationalisierung der sozialen Welt“. ❙15 ist der offizielle Anteil der Nicht-Katholiken
inzwischen auf 21 Prozent angestiegen. ❙17
❙12  Vgl. Marianne Braig/Christian Baur, „¿Hemisfe-
rio occidental dividido?“ O bien: ¿Hasta dónde llega Eine weitere Transnationalisierung der so-
México?, in: Iberoamericana, 5 (2005) 20, S. 109–126. zialen Welt lässt sich im Konsumbereich be-
❙13  Vgl. Andrés Solimano, International Migration obachten. Schmuggel, Produktpiraterie und
and the Age of Crisis and Globalization, New York
2010, S. 129.
❙14  Vgl. Hector García Canclini, Latinoamericanos ❙16  Vgl. ebd., S. 10.
buscando lugar en este siglo, Buenos Aires 2002, ❙17  Vgl. Gerhard Kruip, Religion, Kirche und Staat,
S. 12. in: Walter L Bernecker et  al. (Hrsg.), Mexiko heu-
❙15  Ludger Pries, Die Transnationalisierung der sozi- te. Politik, Wirtschaft, Kultur, Frankfurt/M. 2004,
alen Welt, Frankfurt/M. 2008. S. 152.

APuZ 40–42/2011 41
Produktfälschung stellen nicht allein Ein- Alex Gertschen
kommensquellen dar, sondern vor allem er-
lauben sie dem wachsenden Teil der armen
Bevölkerung Lateinamerikas am Konsum-
modell der westlichen Welt teilzuhaben. Un-
Das bessere
abhängig davon, ob die Produkte nun direkt
in Mexiko-Stadt oder Lima produziert oder
aus China legal oder illegal eingeführt wer-
Leben, erträumt
den, prägen sie den Konsum der Menschen
und verändern zugleich das Straßenbild der
großen lateinamerikanischen Städte.
und erlitten*
Die seit Jahrzehnten rasch wachsende Ver-
flechtung zwischen mexikanischen und US-
Reportage
amerikanischen Orten wird vor allem durch
den Transit von Kokain und anderen Drogen
befördert, die für den Konsum in den USA be-
stimmt sind. Durch das Territorium Mexikos
D ie Aufstiegsgeschichte der Familie Gó-
mez Villanueva beginnt 1984. Javier Gó-
mez und seine Ehefrau Rosa María ­Villanueva
laufen dabei nicht nur die Hauptrouten zwi- kaufen in Tláhuac, tief
schen Süd- und Nordamerika, sondern auch im Süden von Mexi- Alex Gertschen
Gewalt und Konsum haben in Mexiko massiv ko-Stadt, ein kleines Lic. phil., geb. 1979; Korres-
zugenommen. Auch wenn die mexikanische Stück Land. Javiers pondent der „Neuen Zürcher
Regierung immer wieder darauf verweist, Lohn als Lastwagen- Zeitung“ in Mexiko-Stadt.
dass der Drogenkonsum in den USA sowie fahrer eines Suppenfa- alex.gertschen@gmx.ch
der Verkauf US-amerikanischer Waffen an brikanten reicht nicht,
mexikanische Drogenbanden Teil eines ge- um das von den Vätern geborgte Geld zu-
meinsamen Problems sind, welches auch ge- rückzuzahlen. Deshalb zieht er noch im sel-
meinsamer Lösungen bedarf, versuchen die ben Jahr für ein paar Monate nach Chico in
US-amerikanischen Akteure über die Mérida Kalifornien, auf eine Farm, wo er Pflaumen,
Initiative ❙18 das Problem möglichst wieder in Mandeln und Nüsse erntet. Die Arbeit ist äu-
ihren „Hinterhof“ zu verbannen. ßerst hart, das Dasein einsam und kümmer-
lich, aber der Lohn ein Mehrfaches von dem,
Jenseits der Gegenüberstellung angelsächsi- was er zuhause erhielt. Also geht er auch in
scher und lateinamerikanischer Kulturkreise den folgenden Frühjahren, um jeweils im
entstehen durch diese und viele andere trans- Herbst zurück in Tláhuac zu sein.
nationale Verflechtungsprozesse sogenann-
te zonas de negociación transnacional (Räu- Das Ersparte investieren Javier und Rosa
me transnationaler Aushandlungsprozesse). María in Mörtel und Stein. Zusammen mit
Diese schaffen neue mentale Landkarten und ihren Vätern, die auf dem Bau arbeiteten, zie-
verändern die Beziehungen der Menschen in hen sie die Mauern eines Häuschens hoch. Bis
den Amerikas zueinander weit jenseits nati- es 1992 endlich bezugsbereit ist, haust die Fa-
onalstaatlicher Grenzziehungen. Doch trotz milie in der Nähe, bei Javiers Eltern. Als ihr
der zunehmenden Verflechtung scheint aus ältester Sohn César kurz darauf mit 16  Jah-
einer entangled history eher eine geteilte Zu- ren Vater wird, fügen sie ein zweites Stock-
kunft geworden zu sein. werk an. Auf diesem wohnen César und sei-
ne Ehefrau heute noch, mittlerweile mit drei
Kindern. Sein jüngerer Bruder Johny ist in
❙18  Die Mérida Initiative ist ein Sicherheitsabkom-
men zwischen den USA, Mexiko und anderen zen­ dem Jahr zur Welt gekommen, als Javier Gó-
tralamerikanischen Ländern, um das organisierte mez erstmals zur Ernte nach Kalifornien
Verbrechen und insbesondere den Drogenhandel süd- fuhr – deshalb der amerikanische Name. In-
lich des Rio Bravo zu bekämpfen. Das von US-Präsi- zwischen ist auch Johny verheiratet und Va-
dent George W. Bush (2001–2009) initiierte und 2008
vom Kongress verabschiedete Abkommen sieht vor
allem die Lieferung technischer Ausrüstung an die * Erster Teil einer zweiteiligen Reportage, die in Me-
mexikanischen Militär- und Polizeikräfte vor. xiko beginnt und in den USA fortgeführt wird. Der
zweite Teil erscheint im Themenheft „USA“, das am
19. 12. 2011 erscheint (APuZ 51–52/2011).

42 APuZ 40–42/2011
ter zweier Söhne. Seine Familie teilt sich das pischen Sommerspiele eröffnet, die erstmals
erste der vielleicht 60 Quadratmeter großen in die „Dritte Welt“ vergeben worden waren.
Stockwerke mit Rosa María, der unbestritte- Kurz darauf taucht das prächtige, 100 000
nen Patronin im Hause. Im Erdgeschoss ne- Zuschauer fassende Aztekenstadion auf, das
ben der Küche wohnt Verónica, mit 20  Jah- für die Fußballweltmeisterschaft 1970 gebaut
ren das jüngste der drei Kinder von Javier und worden war.
Rosa María.
Doch selbst während des „Wirtschafts-
wunders“ konnte Mexiko die vor allem auf
Oase in der urbanen Öde dem Land verbreitete Armut nicht ausrot-
ten. Die Menschen zogen in die Städte oder
Vom Eingangsraum aus, in dem wir an die- in die USA. Die Einwohnerschaft des Dor-
sem sommerlichen Sonntagnachmittag sit- fes Parácuaro im Gliedstaat Guanajuato, in
zen, sieht man in Verónicas Zimmer. Die dem Javier Gómez im Dezember 1958 zur
Wände sind in dezentem Violett gestrichen Welt kam, bestand während der kaliforni-
und die Fenster mit sauberen, weißen Vor- schen Erntezeit nur aus Kindern, Frauen
hängen versehen. Unschuld und Geborgen- und Alten. Jeder arbeitsfähige Mann suchte
heit strömen durch die offene Türe hinaus. mit den US-Dollars seine Familie durchzu-
Diesen Eindruck erhält, wer von draußen bringen und wenn möglich Saatgut und Vieh
kommt, von der Straße, wo das Leben ein für die eigene Landparzelle zu kaufen. So
raues zu sein scheint. Die meisten Häuser im auch Francisco Gómez, Javiers Vater. Ob-
Quartier sind ärmlich und rußgeschwärzt, wohl die Familie später nach Mexiko-Stadt
auf den Bürgersteigen liegt Abfall. Jugendli- zog, konnte sich Javier 1984 bei seiner ersten
che lungern herum und beobachten das Trei- Wanderung deshalb auf ein Netzwerk ver-
ben im Viertel. Instinktiv meidet man ihre lassen, das über Generationen von Auswan-
Blicke. In dieser trostlosen urbanen Öde ist derern hinweg geknüpft worden war. Es ist
das Häuschen der Familie Gómez Villanu- nahezu unmöglich, aus Parácuaro zu stam-
eva, versteckt in der Sackgasse Cerrada del men, ohne in Kalifornien irgendwo bei ei-
Cazador, eine kleine Oase des Friedens und ner Tante oder einem Vetter Unterschlupf zu
bescheidenen Wohlstands. Die Ausläufer des finden.
„Drogenkrieges“ haben auch hier erste Op-
fer gefordert.
Banges Warten
Tláhuac bedeutet in der Ureinwohnerspra-
che Náhuatl „Ort des Wassergoldes“. Nur Rosa María Villanueva verbrachte dennoch
noch einige Tümpel und Schilfe lassen er- alljährlich Wochen und Monate voller Sorge,
ahnen, dass die Azteken vor fast 600  Jahren bis sie die Nachricht erhielt, Javier sei heil
die erste Siedlung auf einem Deich errichte- in Chico angekommen. „Manchmal brauch-
ten, der ein riesiges Seen- und Sumpfgebiet te er für die Reise einen Monat. Ein weite-
durchzog. Der Moloch, durstig nach Wasser rer verging, bis sein Brief bei uns eintraf“,
und hungrig nach Land, hat es fast vollstän- erzählt sie. Immerhin kann Javier schrei-
dig zerstört. Mitte des 20.  Jahrhunderts be- ben. Im Gegensatz zu ihm hatte sein Vater
gann Mexikos Einwohnerzahl rasch zu stei- die Familie jeweils bis zur Rückkehr nach
gen. Gleichzeitig setzte die Landflucht ein. Parácuaro im Ungewissen gelassen, ob alles
Über das stürmische Wachstum hinaus er- gut gegangen war. Denn schief gehen konn-
lebte die Hauptstadt eine wahre Blüte. Die te und kann einiges. Mehrere Male sei Javier
Fahrt nach Tláhuac erinnert an sie, die (auch) aufgegriffen und ausgewiesen worden, sagt
die Mexikaner von einem Wunder hat spre- Rosa María. Aber stets sei er im Grenzgebiet
chen lassen – dem milagro mexicano. Man geblieben, um sogleich den nächsten Ver-
passiert die 1954 eingeweihte Ciudad Univer- such zu wagen. Einmal hätten ihn die coyo-
sitaria, ein 7,3 Millionen Quadratmeter gro- tes auf der anderen Seite der Grenze sitzen
ßer Campus, auf dem die goldene Künstler- lassen. Die „Kojoten“ sind die Schlepper.
generation der mexikanischen Moderne um Sie führen immer mehr Migranten durch die
Diego Rivera, David Alfaro Siqueiros oder Wüste von Sonora und Arizona, seitdem die
Juan O’Gorman grandiose Werke schuf. Im USA Mitte der 1990er Jahre bei San Diego
Universitätsstadion wurden 1968 die Olym- eine gewaltige Sperranlage errichtet haben,

APuZ 40–42/2011 43
deren Wachtürme und planierte Landstrei- Bustamante führt die Entwicklung auf zwei
fen an die einstige innerdeutsche Grenze er- Faktoren zurück. Zum einen bestehe weiter-
innern. Jahr für Jahr sterben unter der sen- hin ein enormes Wohlstandsgefälle zwischen
genden Sonne Hunderte von Unentwegten den beiden Ländern. Tatsächlich hat das me-
und Verzweifelten an Hitze und Durst. xikanische Bruttoinlandsprodukt pro Kopf
in den vergangenen 60 Jahren stets zwischen
Rosa María erwähnt nicht, dass ihr Ehe- 25 und 30  Prozent des amerikanischen ent-
mann noch nie legal in die USA eingereist ist. sprochen. Zum anderen habe die Verschär-
Das versteht sich von selbst. Mit seinen sechs fung und Militarisierung der amerikanischen
Jahren Primarschule käme er nicht einmal in Grenzkontrollen seit den 1980er Jahren den
die Nähe einer Aufenthaltserlaubnis, auf die Anreiz zur definitiven Auswanderung ver-
jährlich rund 20 000 hoch qualifizierte Mexi- stärkt. „Je schwieriger und kostspieliger der
kaner hoffen dürfen. Er weiß auch so, dass sie Übertritt, umso weniger sind die Migranten
auf der anderen Seite auf günstige und tüch- gewillt, aus freien Stücken zurückzukehren“,
tige Arbeitskräfte wie ihn angewiesen sind. erklärt er.
Die massenhafte Migration setzte im spä-
ten 19.  Jahrhundert ein. Die Landwirtschaft
im Südwesten der USA suchte billige Hände, Keine Träne für Kalifornien
weil ab 1882 die Einwanderung von Chinesen
und später auch von Japanern unterbunden 1989 trug sich auch die Familie Gómez Vil-
wurde. Für die Mexikaner als Ersatz sprach, lanueva mit dem Gedanken, endgültig zu
dass sie bei Gebotenheit nur über den Rio emigrieren. César gelangte mit den Papie-
Bravo und nicht über den Pazifischen Ozean ren eines amerikanischen Jungen über die
gebracht werden mussten. Dafür galt es, sie in Grenze, Rosa María und Johny mit Hilfe ei-
der Illegalität zu halten. „Das kam auch den nes Schleppers. „Für uns zwei bezahlten wir
Arbeitgebern zupass, weil die indocumenta- 200 Dollar“, erzählt sie. Seither seien die Prei-
dos kaum den Schutz der Heimlichkeit ver- se ständig gestiegen, insbesondere nach den
lassen würden, um Rechte und anständige Terroranschlägen vom 11.  September 2001.
Bezahlung einzufordern“, sagt der mexikani- Javier habe die letzten Male zwischen 3000
sche Soziologe Jorge Bustamante, UN-Son- und 5000  Dollar hinblättern müssen. Die
derberichterstatter für die Menschenrechte zunehmende Undurchlässigkeit der Grenze
der Migranten. zeigt sich auch daran, dass heute fast alle ille-
galen Migranten einen „Kojoten“ anheuern.
Das amerikanische Kalkül wird seither je- In den 1960er Jahren, als Javiers Vater nach
doch regelmäßig von den Wirtschaftskri- Kalifornien zu ziehen pflegte, hatten das bloß
sen im südlichen Nachbarland durchkreuzt. 40 Prozent für nötig erachtet. Der Sun State
Allzu kurzlebig war das milagro mexicano. war die natürliche Wahl für die Familie, um
Als zwischen 1982 und 1988 das Bruttoin- vom vermeintlich besseren Leben der grin-
landprodukt pro Kopf um zehn Prozent fiel, gos zu kosten. Im November, nach nur sieben
kam es zu einem regelrechten Exodus: Jedes Monaten, entschied sie sich jedoch zur Rück-
Jahr überquerten im Schnitt fast drei Milli- kehr nach Tláhuac.
onen Mexikaner wie Javier Gómez illegal
die nördliche Grenze. Doch im Gegensatz Johny war damals fünf. „Mir hat es ganz
zu ihm entschieden sich immer mehr zum gut gefallen im Kindergarten. Ich bin viel
Bleiben. Die vormals temporäre Migration geschwommen und habe viel geschlafen“,
von „Gastarbeitern“ wandelte sich für viele frotzelt er, dem die Gemütlichkeit demnach
zur dauerhaften Auswanderung. Die Wahr- seit Kindesbeinen ein Charakterzug zu sein
scheinlichkeit, dass ein illegaler Grenzgänger scheint. Meist überlässt er dem älteren César
innerhalb eines Jahres zurückkehren würde, das Wort. Dieser konzediert, im Vergleich sei-
sank von 41 Prozent (1986) auf 27 (1993) und en die Schuleinrichtungen von einem „ganz
schließlich 8  Prozent (2007). Die Zahl der anderen Niveau“ gewesen. „Aber ich spürte
in Mexiko geborenen Einwohner der USA eine gewisse Ablehnung, nicht nur vonsei-
schwoll deshalb zwischen 1980 und 1996 von ten der Amerikaner, auch der vielen Lands-
2,2 auf 7,1 Millionen an. Mittlerweile beträgt leute“, erzählt er. Im Städtchen Colusa, knap-
sie 11,9 Millionen. Fast zwei Drittel von ih- pe 100 Kilometer nördlich von Sacramento,
nen halten sich illegal im Land auf. Jorge seien die meisten mexikanischen Kinder aus

44 APuZ 40–42/2011
Guanajuato gewesen, wie sein Vater. Ausge- nen Computer bedienen“, antwortet César.
rechnet sie hätten ihn als chilango gehänselt, Um die Dinge ins rechte Licht zu rücken,
wie die Hauptstädter von den anderen Mexi- fügt die Mutter sogleich hinzu: „Hätte er sich
kanern abfällig genannt werden. „Hinzu kam nicht all die Jahre auf den Feldern geplackt,
die ständige Angst vor den Einwanderungs- hätten die Kinder nicht eine so gute Ausbil-
behörden.“ Schließlich habe ihm missfallen, dung erhalten.“
dass man ohne Auto völlig aufgeschmissen
gewesen sei. Nein, dem Leben in Kaliforni- Für sie und Javier spendete nicht das In-
en habe er nie eine Träne nachgeweint, sagt ternet, sondern der Telefonanschluss den Se-
César. gen der Technik. Dass eines der Installati-
onsteams von Teléfonos de México 1993 die
In der Fremde auszuharren, habe sich auch Cerrada del Cazador aufsuchte, war außer-
finanziell nicht gelohnt. „Wir merkten, dass ordentlich – nicht nur, weil die Telefonge-
Javiers Lohn hier viel mehr wert ist als dort“, sellschaft damals in der Regel jahrelang auf
sagt Rosa María, ganz Geschäftsfrau. Hin- sich warten ließ, erst recht in einer ärmli-
ter ihr stapeln sich einige Babytragen. Auf chen Gegend wie Tláhuac: Vorbei war die
dem langen Tisch, an dem wir sitzen, schnei- Zeit, als Rosa María zur Nachbarin hatte hu-
det sie die Muster und den Stoff zu. Die Tra- schen müssen, um Javiers Anrufe entgegen-
gen lässt sie von Heimnäherinnen fertigen, zunehmen, in fünf Minuten zu erzählen und
um sie dann auf den Markt zu bringen. Das zu vernehmen, was an gemeinsamem Leben
sei ein Zusatzverdienst, mehr nicht. Sie fing verloren gegangen war und sich mit einem
ihr kleines Geschäft Anfang der 1990er Jah- hasta luego aufs nächste kurze Rendezvous
re an, als Javier erwog, sein Geld wieder in in einer Woche zu vertrösten. Die Zeit des
Mexiko-Stadt zu verdienen. „Er wollte un- Bangens zwischen dem Abschied und dem
bedingt ein weiteres Kind. Als im April Eintreffen der guten Nachricht wurde so er-
1991 Verónica geboren wurde, sagte ich ihm: heblich verkürzt. Und das Schicksal könn-
Jetzt kannst du nicht gehen und wieder mir te keine bösen Streiche mehr spielen, indem
die ganze Arbeit überlassen.“ Doch die 350 die Nachbarin zur Unzeit aus dem Haus sein
Pesos Wochenlohn (etwa 20  Euro), auf die oder Javier zur abgemachten Stunde partout
er als Busfahrer in Mexiko kam, entspra- kein funktionierendes öffentliches Telefon
chen einem Tageslohn auf der kalifornischen finden würde.
Farm. Im Mai war er bereits wieder in Chico,
­Kalifornien. Seit drei Jahren hat Javier gar ein Han-
dy mit einer Flatrate für Mexiko. An diesem
Sonntag ruft er seine Familie gleich mehre-
Zweite Etappe des Aufstiegs re Male an. „Das hilft schon sehr. Dennoch
fühle ich mich ab und zu allein, ohne Unter-
Das kleine Haus war inzwischen fast fertig stützung“, sagt Rosa María. An diese Nor-
gebaut. Nun galt es, die nächste Etappe des malität hat sie sich auch nach fast 30  Jahren
sozialen Aufstiegs in Angriff zu nehmen: die nicht gewöhnt. Die Kinder hingegen schon.
Ausbildung der Kinder. Trotz seiner frühen „Ich kenne nichts anderes“, bekundet César,
Vaterschaft musste César nach der obliga- und Johny nickt. Verónica sagt, er fehle ihr
torischen Schulzeit nicht den Unterhalt sei- manchmal, zum Beispiel am Vatertag. Die
ner Familie bestreiten. Er machte das Abitur. hinein- und hinausstürmenden Kinder las-
Nach einigen Jahren der Erwerbstätigkeit sen aber keine Stille aufkommen, in der sich
entschloss er sich, an einer privaten Univer- Melancholie breitmachen könnte. Auch der
sität ein Abendstudium in Informatik zu ab- weit entfernte Javier scheint an seinem freien
solvieren. „Genau heute vor einem Jahr er- Tag ungetrübter Laune zu sein. Ohne zu zö-
hielt ich meinen Magister“, erzählt er stolz gern sagt die sympathische Stimme am ande-
und ist etwas enttäuscht, dass die anderen ren Ende der Verbindung zu, mich in Chico
sich der Bedeutung des Datums offensicht- zu treffen, um über sein Leben in den USA
lich nicht bewusst waren. Johny ließ sich an zu sprechen. Nicht zuletzt diese Bereitwil-
einer Fachschule zum Computerexperten ligkeit zeugt davon, dass er und seine Fami-
ausbilden, und Verónica strebt denselben Ab- lie die eigene Wanderungsgeschichte als eine
schluss an. Haben das Internet und Skype die wahrnehmen, in der das Erreichte das Erlit-
Distanz zum Vater verkürzt? „Er kann kei- tene überwiegt.

APuZ 40–42/2011 45
Aus Not, nicht zum Vergnügen habt hätten, hätten sie den Respekt vor ihm
verloren.
Nicht alle der Millionen mexikanischen Mi-
granten sehen ihr Leben in so hellem Lich- Javier Gómez’ Kinder wissen zu schät-
te wie Javier Gómez, weshalb sie ­weniger zen, was er für sie geleistet hat. Solange sich
geneigt sind, darüber zu sprechen. Die der bescheidene Wohlstand mit vereinten
38-jährige Maurilia Hernández, die aus dem Kräften erhalten lässt, wollen sie den Spu-
bitterarmen Gliedstaat Oaxaca stammt und ren der Vorväter aber nicht folgen. Zwar ver-
nun in Mexiko-Stadt im Haushalt einer Fa- diene sein Vater dort als Landarbeiter wohl
milie arbeitet, erzählt, dass zwei ihrer Ge- mehr als er hier in der Informatik, sagt Cé-
schwister längere Zeit in Las Vegas gearbeitet sar. Doch bedeute die Illegalität eine stän-
hätten. Ein Bruder und ein Neffe seien noch dige Bedrohung. Dies hinzunehmen sei er
immer dort. Letzterer wolle aber nicht über umso weniger bereit, als er von seiner Fa-
die Emigration sprechen, weil er seine Fami- milie getrennt wäre. „Zudem fehlt mir der
lie noch als Kind verlassen habe und von den Anstoß, der von anderen Migranten aus-
Erfahrungen in den USA und auf dem Weg geht, wie zum Beispiel in Parácuaro.“ Johny
dorthin traumatisiert worden sei. Auch ihr schließt sich einmal mehr an, und Verónica
Bruder traue sich nicht zu reden, weil er pa- mutmaßt, dass sie möglicherweise gegangen
nische Angst vor den amerikanischen Behör- wäre, hätte sie nicht ein Studium beginnen
den habe. können. Beim Abschied draußen vor der Tür
sagt Rosa María, die Kinder seien ein besse-
Leticia Martínez führt in derselben Ge- res Leben gewohnt als sie und Javier damals.
gend von Mexiko-Stadt ein Lebensmittelge- Sie hätten hier mehr zu verlieren. Es ist eine
schäft. Ihr Mann arbeitet in Tulsa, Oklaho- bloße Feststellung, keine Klage und schon
ma. Doch zurzeit erreicht sie ihn nicht, weil gar kein Vorwurf.
er nach einer Razzia in einer nahen Fabrik
untergetaucht ist. Eine Schwester und eine 2009 erlebte Mexikos Wirtschaft im Gefol-
Nichte von Josefina Flores leben ebenfalls in ge der amerikanischen Rezession einen regel-
den USA, in New York. Die Mittfünfzigerin rechten Einbruch, den ersten seit der soge-
ist die Chefin einer Gemeinschaft der Maza- nannten Tequila-Krise von 1994/1995. Über
hua-Indianer im kolonialen Centro históri- eine Million Familien, die in der Zwischen-
co. Ob ihre Verwandten zu einem Gespräch zeit in die Mittelschicht aufgestiegen waren,
bereit wären? „Ich glaube nicht. Man geht ja rutschten wieder unter die Armutsschwelle.
nicht zum Vergnügen hin, sondern aus Not. Obwohl die Familie Gómez Villanueva von
Darüber spricht man nicht gerne“, wehrt der Krise unbeschadet blieb, wurde auch sie
Flores ab. Der Soziologe Gustavo Verduzco von deren Ausläufern erfasst: Wie stets in
vom Colegio de México hat die Erfahrung konjunkturell schwierigen Zeiten stieg in den
gemacht, dass die zurückgelassenen oft kei- USA der politische Druck gegen die illegalen
ne Vorstellung von den Härten der Emigrati- Einwanderer. In den vergangenen zwei Jah-
on haben. „Ihre Verwandten verdienen drü- ren wurden die US-Grenzwachtcorps massiv
ben wesentlich mehr. Doch was das Wohnen, aufgestockt und fast 800 000 „Sans-papiers“
Essen und die Geborgenheit betrifft, ist das aufgegriffen und abgeschoben, so viele wie
­Leben hier besser“, sagt er. nie in der jüngeren Vergangenheit. Selbst für
den wanderungserprobten Javier Gómez ist
Rosa María Villanueva erzählt, die 1989 der Grenzübertritt deshalb so unsicher und
in Kalifornien verbrachten Monate hätten teuer geworden, dass er seit seinem letzten
ihr die Augen geöffnet. „Es ist hart und ein- Abschied im März 2009 bislang nicht mehr
sam in den USA. Javier rackert sich für uns nach Tláhuac zurückgekehrt ist. Sollte er da-
ab.“ Sie glaubt, das fehlende Verständnis bei nicht längst zuhause das bessere Leben
dafür könne Familien kaputt machen. Ein genießen, das er in der Fremde erarbeitet hat?
Halbbruder Javiers habe deswegen Frau und Eine von vielen Fragen an den abwesenden
Kinder verlassen. Einer ihrer Schwager sen- Protagonisten, die es in Chico, Kalifornien,
de nur noch Geld für die laufenden Ausga- zu stellen gelten wird.
ben, weil seine Frau das meiste für sich ge-
braucht habe. Und weil die Kinder von der
Arbeit ihres abwesenden Vaters so wenig ge-

46 APuZ 40–42/2011
Herausgegeben von
Jetzt neu: der Bundeszentrale
für politische Bildung
„APuZ aktuell“, der Newsletter von Adenauerallee 86
53113 Bonn
Aus Politik und Zeitgeschichte
Redaktion
Wir informieren Sie regelmäßig und kostenlos per E-Mail
Dr. Hans-Georg Golz
über die neuen Ausgaben.
Dr. Asiye Öztürk
Johannes Piepenbrink
Online anmelden unter: www.bpb.de/apuz-aktuell
(verantwortlich für diese Ausgabe)
Anne Seibring (Volontärin)
Telefon: (02 28) 9 95 15-0
www.bpb.de/apuz
apuz@bpb.de
Redaktionsschluss dieses Heftes:
23. September 2011

APuZ Druck
Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Kurhessenstraße 4–6
Nächste Ausgabe 43/2011 · 24. Oktober 2011 64546 Mörfelden-Walldorf

Satz
le-tex publishing services GmbH

50 Jahre Anwerbeabkommen Weißenfelser Straße 84


04229 Leipzig

Abonnementservice
Aus Politik und Zeitgeschichte wird
mit der Wochenzeitung Das Parlament
Haci-Halil Uslucan ­ausgeliefert.
Wie fremd sind uns „die Türken“ wirklich? Jahresabonnement 25,80 Euro; für Schüle-
rinnen und Schüler, Studierende, Auszubil-
Stefan Luft dende (Nachweis erforderlich) 13,80 Euro.
Im Ausland zzgl. Versandkosten.
Migrationsdiskurse im Wandel
Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Jan Hanrath Vertriebsabteilung Das Parlament
Frankenallee 71–81
Vielfalt der türkeistämmigen Bevölkerung in Deutschland
60327 Frankfurt am Main
Telefon (069) 7501 4253
Aysel Yollu-Tok Telefax (069) 7501 4502
Die Lage der Türkeistämmigen auf dem Arbeitsmarkt parlament@fs-medien.de

Sven Rahner Nachbestellungen


Fachkräftemangel in Deutschland IBRo
Kastanienweg 1
18184 Roggentin
Christoph Reinprecht
Telefax (038204) 66 273
Lebensrealitäten älterer türkeistämmiger Migranten bpb@ibro.de
Nachbestellungen werden bis 20 kg mit
Anja Steinbach · Helen Baykara-Krumme · Daniela Klaus 4,60 Euro berechnet.
 
Kommunikationsprobleme zwischen den Zuwanderergenerationen
Die Veröffentlichungen
Yasemin Güner Balcı in Aus Politik und Zeitgeschichte
Zwischen Selbstkritik und Opferdiskurs stellen keine Meinungsäußerung
der Herausgeberin dar; sie dienen
der Unterrichtung und Urteilsbildung.
Paul Mecheril
Wirklichkeit schaffen: Integration als Dispositiv ISSN 0479-611 X
Mexiko APuZ 40–42/2011

Franz Smets
3–7 Schlaglichter aus einem Land ohne klare Richtung
Hinter der Fassade des aufstrebenden Schwellenlandes verbergen sich schwer-
wiegende Probleme: Armut, Korruption und ein „Drogenkrieg“, der zunehmend
auch die Menschenrechtslage verschlechtert.

Karl-Dieter Hoffmann
8–14 Calderóns gescheiterter Feldzug gegen die Drogenkartelle
Der 2006 von Präsident Calderón erklärte „Krieg“ gegen den Drogenhandel hat die
Lage eher verschlimmert als verbessert. Die Kartelle betrachten nicht die staatlichen
Sicherheitskräfte, sondern die konkurrierenden Drogenbanden als ihre Hauptgegner.

Günther Maihold
16–22 Zwischen NAFTA-Partnerschaft und Zweckgemeinschaft
Wirtschaftskrise, Migration und Drogenökonomie dominieren die politische
Agenda in den Beziehungen zwischen Mexiko und den USA. Von der angestreb-
ten „geteilten Verantwortung“ sind beide Länder jedoch noch weit entfernt.

Matthias Jäger
22–28 Schritt zurück nach vorn? Mexikos Demokratie

Eine aktuelle Bestandsaufnahme zeigt, dass sich Mexiko in einigen Kernaspekten
politischer Transformation deutlich verschlechtert hat. Die Achillesferse der me-
xikanischen Demokratie bleiben die Staatlichkeit und der Rechtsstaat.

Anne Huffschmid
28–35 Alltag statt Apokalypse: Mexiko-Stadt als Labor städtischen Lebens

Mexiko-Stadt erscheint oft als Moloch, in dem Chaos, dicke Luft und Kriminali-
tät vorherrschen. Die Megastadt kann jedoch auch als Laboratorium urbaner All-
tagskultur und öffentlichen Lebens betrachtet werden.

Marianne Braig
36–42 Hinterhof der USA? Eine Beziehungsgeschichte

In Mexiko und in den USA gab es immer wieder Versuche, eine gemeinsame Ge-
schichte der Befreiung vom europäischen Kolonialismus zu entwerfen. Doch die
„Hinterhofpolitik“ der USA verhindert eine Kooperation unter Gleichen.

Alex Gertschen
42–46 Das bessere Leben, erträumt und erlitten
Javier Gómez ist wie Millionen anderer Mexikaner ein illegaler Arbeitsmigrant in
den USA. Ein Besuch bei seiner Familie in Mexiko-Stadt zeigt, dass die hart ver-
dienten Dollars den Grundstein für eine kleine Aufstiegsgeschichte gelegt haben.

You might also like