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Das Weihnachts-
geheimnis
scanned 2006/V1.0
Joachim will einen Adventskalender. Doch alle sind bereits ausverkauft – bis
auf einen. Der Buchhändler, bei dem er steht, weiß selbst nicht, wie dieses
alte, handgearbeitete Stück in seinen Laden kommt. Joachim ist überglück-
lich. Zu Hause öffnet er das erste Fenster. Heraus fällt ein kleiner, eng
beschriebener Zettel. Jeden Tag gibt es einen weiteren Zettel mit der
Fortsetzung der Reise. Sie führt immer weiter zurück bis nach Bethlehem zur
Geburt des Jesuskindes. Aber wer hat die Zettel im Adventskalender
geschrieben, und wer ist das kleine Mädchen? Detektivisch finden Joachim
und seine Eltern immer mehr heraus, aber die Lösung bekommen sie erst am
24. Dezember.
ISBN: 3-446-17709-4
Original: Julemysteriet (1992)
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Verlag: Carl Hanser
Erscheinungsjahr: 1998
Umschlaggestaltung: Rosemary Wells
Autor
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den am Marktplatz waren die Adventskalender schon ausver-
kauft.
Doch plötzlich zerrte Joachim an Papas Hand und zeigte auf
ein kleines Schaufenster. An einem Bücherstapel lehnte ein
grellbunter Kalender.
»Da!«, sagte Joachim.
Papa drehte sich um.
»Gerettet!«
Sie betraten den winzig kleinen Buchladen. Joachim fand alles
darin alt und heruntergekommen. Die Wände waren vom Boden
bis zur Decke mit Bücherregalen zugestellt, und in sämtlichen
Regalen reihten sich die Bücher dicht an dicht. Kaum zwei
davon sahen sich gleich.
Auf dem Ladentisch lag ein ganzer Stapel Adventskalender.
Es gab zwei Sorten. Der eine Kalender zeigte vorn einen
Weihnachtsmann mit Rentier und Schlitten. Auf dem anderen
war eine Scheune zu sehen, in der ein winzig kleiner Weih-
nachtsmann aus einer großen Schüssel aß.
Papa hielt die beiden Kalender hoch.
»In dem hier sind Schokoladenfiguren«, sagte er. »Das findet
der Zahnarzt wahrscheinlich nicht so gut. Im andern sind
Plastikpüppchen.«
Joachim betrachtete die beiden Kalender. Er konnte sich nicht
entscheiden.
»Als ich klein war, war das alles ganz anders«, sagte sein
Vater.
Joachim blickte zu ihm hoch. Das wollte er doch gern genauer
wissen.
»Und wie?«
»Damals war immer nur ein kleines Bild unter den Klappen
des Kalenders, für jeden Tag eins. Aber wir waren trotzdem
jeden Morgen von neuem gespannt. Wir haben immer erst zu
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raten versucht, was für ein Bild wohl als Nächstes kommen
würde. Und dann … ja, danach haben wir dann die Klappe
aufgemacht. Es war, als ob wir die Tür zu einer anderen Welt
öffneten.«
Joachim hatte plötzlich etwas entdeckt. Er zeigte auf eines der
Bücherregale.
»Da ist noch einer.«
Er lief hinüber, holte den Adventskalender und hielt ihn sei-
nem Vater entgegen. Der Kalender hatte vorn ein Bild von Josef
und Maria, die sich über das Jesuskind in der Krippe beugten.
Im Hintergrund knieten die drei Weisen aus dem Morgenland.
Vor dem Stall standen die Hirten mit ihren Schafen, und vom
Himmel schwebten die Engel herab. Einer von ihnen blies eine
Trompete.
Die Farben des Kalenders waren blass, als ob er einen Sommer
lang in der Sonne gelegen hätte. Aber das Bild war so schön,
dass Joachim beim Angucken fast ein bisschen traurig wurde.
»Den will ich«, sagte er.
Papa lächelte.
»Der ist bestimmt unverkäuflich. Ich fürchte, der ist sehr alt.
Kann sein, so alt wie ich.«
Joachim ließ nicht locker.
»Die Türchen sind alle noch zu.«
»Der steht nur zur Dekoration.«
Joachim konnte den Blick nicht von dem alten Adventskalen-
der wenden.
»Den will ich«, rief er noch einmal. »Den, der nur einmal da
ist.«
Jetzt erschien der Ladenbesitzer. Es war ein weißhaariger
Mann. Er machte große Augen, als er den Adventskalender sah,
den Joachim in der Hand hielt.
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»Ein wunderschönes Stück!«, sagte er. »Und noch … ja, noch
ganz im Originalzustand. Er sieht beinah handgefertigt aus.«
»Mein Sohn möchte ihn kaufen«, erklärte Papa und zeigte auf
Joachim. »Ich versuche, ihm zu erklären, dass er wohl unver-
käuflich ist.«
Der weißhaarige Mann hob die Augenbrauen.
»Sie haben ihn … hier im Laden gefunden? Ich habe so einen
Kalender seit Jahren nicht gesehen.«
»Er stand da vor den Büchern«, sagte Joachim und zeigte auf
das Regal.
Der Buchhändler nickte.
»Das war wohl wieder der alte Johannes.«
Papa musterte den weißhaarigen Mann.
»Der alte Johannes?«
»Ja, ein komischer Vogel … er verkauft auf dem Markt Rosen,
aber niemand weiß, wo er sie herhat. Manchmal kommt er zu
mir in den Laden und bittet um ein Glas Wasser. Im Sommer,
wenn es heiß ist, gießt er sich schon mal den Rest über den
Kopf, ehe er wieder geht. Zweimal hat er auch mich mit ein paar
Tropfen bespritzt.«
Papa nickte, und der Weißhaarige fuhr fort:
»Als Dank für das Wasser legt er ab und zu ein oder zwei
Rosen auf den Ladentisch … oder stellt ein altes Buch ins
Regal. Einmal hat er das Bild einer jungen Frau ins Schaufenster
gestellt. Es stammte aus einem fernen Land. Vielleicht kommt er
ja selber daher. Auf dem Bild stand: Elisabet.«
Papa blickte dem Buchhändler in die Augen.
»Und jetzt hat er einen Adventskalender hinterlassen?«
»Sieht so aus.«
»Auf dem Kalender steht was«, sagte Joachim. Er las laut vor:
»MAGISCHER ADVENTSKALENDER. PREIS: 75 Öre.«
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Der Ladenbesitzer nickte.
»Dann muss er schon sehr alt sein.«
»Kann ich ihn für 75 Öre haben?«, fragte Joachim.
Der weißhaarige Mann lachte.
»Ich glaube, du kannst ihn umsonst haben. Bestimmt hat ihn
der alte Johannes genau für dich da hingestellt.«
»Tausend Millionen Dank«, antwortete Joachim, der schon mit
dem Kalender unterwegs aus dem Laden war.
Papa gab dem Buchhändler die Hand, und gleich darauf stand
auch er wieder auf der Straße.
Joachim drückte den Kalender an sich.
»Morgen mach ich ihn auf«, sagte er.
Das Glockenlamm
»Elisabet!«, rief die Mutter hinter ihr her. Elisabet Hansen hatte
den großen Haufen Teddys und Kuscheltiere angestarrt, wäh-
rend ihre Mutter nach Weihnachtsgeschenken für die Cousinen
suchte. Plötzlich sprang ein kleines Lamm aus dem großen
Haufen. Es sprang auf den Boden und schaute sich um. Am Hals
trug es eine Glocke, die jetzt mit den Registrierkassen um die
Wette bimmelte.
Ein Kuscheltier mit einer Glocke um den Hals hatte Elisabet
schon oft gesehen. Aber wie konnte ein Stofftier plötzlich
lebendig werden? Elisabet war so verblüfft, dass sie einfach
hinter dem Lamm herrannte, quer durch den Laden auf die
Rolltreppe zu.
»Komm her, mein Lämmchen!«, lockte sie.
Bald stand das Glockenlamm auf der Rolltreppe, die zum
nächsten Stockwerk hinunterführte. Die Treppe bewegte sich
ziemlich schnell, und das Lamm war noch ein bisschen schnel-
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ler. Elisabet musste jetzt also schneller sein als Rolltreppe und
Lamm zusammen, wenn sie das Lamm noch einholen wollte.
»Komm jetzt, Elisabet!«, sagte in dem Moment ihre Mutter
mit mürrischer Stimme.
Aber Elisabet war schon auf die Rolltreppe gesprungen. Sie
sah, dass das Lamm durch das Erdgeschoss wanderte, wo
Unterwäsche und Schlipse verkauft wurden.
Sobald sie wieder festen Boden unter den Füßen hatte, lief sie
in dieselbe Richtung wie das Lamm. Das hatte jetzt schon die
Straße erreicht, wo die Schneeflocken zwischen den vielen
Weihnachtslichtern tanzten, die an dünnen Drähten über die
Straße hingen. Elisabet stieß ein Gestell mit Winterhandschuhen
um und stürzte hinter dem Lamm her.
Draußen im Straßenlärm konnte sie kaum noch hören, ob im
Kirkeveien eine Glocke bimmelte. Aber Elisabet gab nicht auf.
Sie war fest entschlossen, dem Lamm das weiche Fell zu
streicheln.
»Komm her, mein Lämmchen!«
Das Glockenlamm lief bei Rot über die Kreuzung.
Vielleicht glaubte es, Rot bedeutete gehen und Grün stehen
bleiben. Elisabet meinte sogar, in der Schule gelernt zu haben,
dass Schafe farbenblind sind. Jedenfalls blieb das Lamm nicht
bei Rot stehen. Deshalb konnte auch Elisabet nicht warten. Sie
wollte unbedingt das Lamm einholen, und wenn sie ihm bis ans
Ende der Welt folgen müsste.
Autos hupten, ein Motorrad konnte nur noch auf den Bür-
gersteig ausweichen, um weder Elisabet noch das Glockenlamm
zu überfahren. Die Menschen, die unterwegs waren, um Ge-
schenke einzukaufen, rissen die Augen auf. Schließlich rannte
nicht jeden Tag ein kleines Mädchen bei Rot über den
Kirkeveien, um ein Lamm einzuholen, das aus dem Kaufhaus
geflohen war. Überhaupt kam es nicht sehr häufig vor, dass
irgendwer mitten im Winter in der Stadt ein Lamm verfolgte.
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Im Laufen hörte Elisabet die Kirchturmuhr dreimal läuten. Das
war merkwürdig, denn sie wusste, dass sie mit dem Fünfuhrbus
in die Stadt gekommen war. Vielleicht hatten die Zeiger es satt,
Jahr um Jahr denselben Weg zurückzulegen, weshalb sie
plötzlich die Gegenrichtung einschlugen. Elisabet überlegte
sich, dass auch Uhren es langweilig finden könnten, bis in alle
Ewigkeit immer dasselbe zu tun.
Aber das war noch nicht alles. Als Elisabet in das Kaufhaus
gegangen war, war es fast dunkel gewesen. Jetzt war es plötzlich
wieder hell. Das war doch sehr seltsam, schließlich war zwi-
schendurch nicht Nacht gewesen.
In diesem Moment entdeckte das Lamm einen Weg, der aus
der Stadt hinausführte, und lief auf ein Wäldchen zu. Dort
sprang es in einen Hohlweg mit hohen Fichten darüber. Jetzt
wurde das Lamm ein bisschen langsamer, denn der Pfad war in
den letzten Tagen dick zugeschneit.
Elisabet lief hinterher. Auch ihr machte das Laufen jetzt
Mühe. Aber das Lamm hatte vier Beine, die im Schnee stecken
blieben, sie selber nur zwei. Vielleicht würde dieser Vorteil
helfen, den Vorsprung des Lamms aufzuholen.
Die Rufe ihrer Mutter waren längst nicht mehr zu hören. Aber
etwas sang noch immer in ihren Ohren:
»Sollen wir lieber dies hier oder das da kaufen? Was meinst
du, Elisabet? Oder besser beides?«
Vielleicht war das Lamm lebendig geworden und aus dem
Kaufhaus fortgelaufen, weil es die vielen Registrierkassen und
das ganze Einkaufsgeschwätz nicht mehr ertragen konnte.
Vielleicht lief Elisabet aus dem gleichen Grund hinter ihm her.
Sie war noch nie gern einkaufen gegangen.
Joachim blickte von dem dünnen Zettel auf, der aus dem
magischen Adventskalender gefallen war. Was er gelesen hatte,
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war so erstaunlich, dass er beim Lesen mit halb offenem Mund
dagesessen hatte.
Er hatte Geheimnisse schon immer toll gefunden. Jetzt fiel ihm
die kleine Schatulle mit dem Schlüssel ein, die seine Großmutter
ihm mal aus Polen mitgebracht hatte. Mama und Papa hatten
ihm damals feierlich versprochen, nie nach dem Schlüssel zu
suchen und die Schatulle zu öffnen, wenn Joachim schlief oder
in der Schule war. Das wäre genauso schlimm wie fremde
Briefe zu lesen, hatten sie gesagt.
Bis heute hatte Joachim aber überhaupt keine richtigen Ge-
heimnisse gehabt, die sich lohnten, in der Schatulle verschlossen
zu werden. Doch nun tat er den dünnen Zettel aus dem Advents-
kalender hinein, drehte den Schlüssel um und schob ihn sorgsam
unter sein Kopfkissen.
Als seine Eltern aufwachten und auch den Adventskalender
sehen wollten, zeigte er ihnen nur das Bild mit dem Lamm im
großen Kaufhaus.
»Ach, weißt du noch?«, sagte Mama und sah Papa an. »Genau
wie damals, als wir klein waren.«
Papa nickte.
»Da konnten wir uns in das Bildchen hineinträumen und dann
den Rest selber dazudichten. Das war viel besser als all die
Plastikpüppchen heute, die früher oder später ja doch nur vom
Staubsauger verschluckt werden.«
Etwas in Joachim lachte. Nur er wusste, dass im Kalender ein
geheimnisvoller Zettel verborgen gewesen war.
Er zeigte auf das Glockenlamm und sagte:
»Das Lamm ist aus dem Laden weggelaufen, weil es die vielen
Registrierkassen und das ganze Einkaufsgeschwätz nicht mehr
hören konnte. Aber ein kleines Mädchen, das Elisabet heißt,
rennt hinter ihm her, weil es sein weiches Fell streicheln will.«
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»Hab ich’s nicht gesagt«, nickte Papa. »Was soll unser Junge
mit Plastikpüppchen?«
Im Lauf des Tages überlegte Joachim immer wieder, ob Elisa-
bet das Lamm wohl einholen würde, um ihm das Fell zu
streicheln. Ob er es morgen erfahren würde? Dann würde es
doch wohl wieder einen dünnen Zettel geben?
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2. Dezember
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Efiriel
Elisabet Hansen wusste nicht, wie weit oder wie lange sie
inzwischen hinter dem Glockenlamm hergelaufen war. Aber als
sie durch die Stadt gerannt war, hatte es ein Schneegestöber
gegeben. Jetzt hatte es nicht nur aufgehört zu schneien. Elisabet
wunderte sich, dass überhaupt kein Schnee mehr auf dem Weg
lag. Zwischen den Bäumen wuchsen Leberblümchen, Huflattich
und Buschwindröschen, und das war wirklich seltsam, so kurz
vor Weihnachten.
Elisabet kam der Gedanke, dass sie vielleicht bis in ein Land
gelaufen war, in dem das ganze Jahr Sommer war. Wenn nicht,
musste sie zumindest so lange gerannt sein, dass es schon
wieder Frühling und deshalb wärmeres Wetter war. Vielleicht
war sie ja doch noch in Norwegen, aber was war dann aus dem
Weihnachtsfest geworden?
Während sie sich all das überlegte, hörte sie in der Ferne das
zarte Glockengebimmel. Elisabet rannte wieder los und sah auch
bald das Lamm. Es hatte eine kleine Wiese gefunden und fraß
gierig.
Das war ja auch nicht verwunderlich. Bestimmt hatte das
Lamm schrecklichen Hunger. Den ganzen Winter über hatte es
ja kein Gras zu fressen bekommen. Wahrscheinlich hatte es
sowieso nie einen Bissen gesehen, solange es Kuscheltier
gewesen war.
Elisabet schlich sich zu dem Lamm, aber als sie gerade den
letzten Schritt machen und sein Fell streicheln wollte, rannte es
wieder los.
»Komm her, mein Lämmchen!«
Elisabet versuchte, Schritt zu halten, aber sie stolperte über
eine Fichtenwurzel und schlug der Länge nach hin.
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Es tat weh, aber das war nicht so schlimm, doch auf einmal
begriff sie, dass es gar nicht feststand, ob sie das Glockenlamm
je einholen würde. Sie hatte beschlossen, ihm bis ans Ende der
Welt zu folgen, aber die Welt war rund, da konnte es passieren,
dass sie in alle Ewigkeit um die Welt laufen würde, zumindest
aber, bis sie erwachsen wäre, dann würde sie ja vielleicht ihr
Interesse an Glockenlämmern verlieren.
Als sie wieder aufblickte, entdeckte sie plötzlich eine leuch-
tende Gestalt zwischen den Bäumen. Elisabet machte große
Augen, denn es war weder ein Mensch noch ein Tier. Aus dem
Gewand, das mindestens so weiß war wie das Glockenlamm,
ragten zwei Flügel hervor.
Elisabet hatte die Welt gerade erst kennen gelernt. Sie wusste,
wie die häufigsten Tiere hießen, aber sie kannte zum Beispiel
nicht den Unterschied zwischen einer Kohlmeise und einer
Goldammer und auch nicht den zwischen einem Kamel und
einem Dromedar. Trotzdem kamen ihr jetzt keine Zweifel.
Elisabet begriff sofort, dass es sich bei der leuchtenden Gestalt
um einen Engel handeln musste. Sie hatte in Büchern und auf
Glanzbildern Engel gesehen, nun begegnete ihr so ein Geschöpf
zum ersten Mal in Wirklichkeit.
»Fürchte dich nicht!«, sagte der Engel milde.
Elisabet richtete sich gerader auf:
»Glaub ja nicht, ich hätte Angst vor dir«, antwortete sie ein
bisschen vergrätzt, weil sie hingefallen war und sich wehgetan
hatte.
Der Engel kam näher. Er schien einen Viertelzentimeter über
dem Boden zu schweben. Das erinnerte Elisabet an ihre Cousine
Anna, die auf Zehenspitzen tanzen konnte. Der Engel kniete
nieder und streichelte ihr vorsichtig mit einer Flügelspitze den
Nacken. Er sprach:
»Ich sage nur sicherheitshalber ›Fürchte dich nicht!‹. Wir
zeigen uns den Menschen ja nicht so oft, deshalb gehen wir bei
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den seltenen Malen, wenn es passiert, lieber auf Nummer sicher.
In der Regel bekommt ihr nämlich einen Mordsschreck, wenn
euch ein Engel aufsucht.«
Elisabet brach plötzlich in Tränen aus, aber nicht, weil sie
Angst vor Engeln hatte. Auch nicht, weil sie sich wehgetan
hatte. Warum sie weinte, begriff sie selber erst, als sie sich
schluchzen hörte:
»Ich wollte … das Lamm streicheln«
Der Engel nickte graziös:
»Gott hätte den Lämmern bestimmt kein so weiches Fell
gegeben, wenn die Menschen nicht Lust bekommen sollten, es
zu streicheln.«
Elisabet schluchzte weiter:
»Das Lamm läuft aber viel schneller als ich … es hat ja auch
doppelt so viele Beine … das ist doch ungerecht. Ich kann
überhaupt nicht verstehen, warum es ein Glockenlamm so
schrecklich eilig hat.«
Der Engel half ihr auf die Füße und sagte vertraulich:
»Es ist unterwegs nach Bethlehem.«
Elisabet weinte schlagartig nicht mehr.
»Nach Bethlehem?«
»Ja, nach Bethlehem, nach Bethlehem. Dort wird Jesus gebo-
ren.«
Elisabet war sehr verwundert über die Worte des Engels. Um
ihre Überraschung zu verbergen, fing sie an, sich Erde und Gras
von der Hose zu wischen. Sie hatte auch auf ihre rote Jacke ein
paar hässliche Flecken bekommen.
»Dann will ich mit nach Bethlehem«, sagte sie.
Der Engel tanzte jetzt wieder wie auf Zehenspitzen über den
Weg. Einige Millimeter über dem Boden schwebend sagte er:
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»Das trifft sich gut, da will ich auch hin. Dann können wir uns ja
alle drei zusammentun.«
Elisabet hatte gelernt, dass sie niemals mit fremden Menschen
gehen durfte. Sicher galt das auch für Engel. Sie blickte zum
Engel auf und fragte:
»Wie heißt du?«
Elisabet hielt den Engel für einen Mann, war sich aber nicht
ganz sicher. Jetzt machte er einen Knicks wie eine Balletttänze-
rin und sagte:
»Efiriel.«
»Hört sich an wie ein Schmetterling. Hast du wirklich Efiriel
gesagt?«
Der Engel nickte.
»Einfach Efiriel, ja. Engel haben keine Eltern, deshalb gibt es
bei uns auch keine Nachnamen.«
Elisabet schniefte zum letzten Mal. Dann sagte sie:
»Ich glaube, wenn wir den ganzen Weg nach Bethlehem gehen
wollen, haben wir jetzt keine Zeit mehr, uns weiter zu unterhal-
ten. Das ist doch bestimmt ziemlich weit.«
»Ja, es ist weit – und sehr lange her. Aber ich kenne eine
Abkürzung, gleich hier.«
Und dann liefen sie los. Zuerst kam das Lamm, dann Elisabet.
Der Engel Efiriel tanzte hinterher.
Im Laufen bereute Elisabet, dass sie den Engel nicht gefragt
hatte, wieso plötzlich Sommer war. Aber als sie das Glocken-
lamm dicht vor sich auf dem Weg erblickte, wagte sie nicht
mehr anzuhalten.
»Komm her, mein Lämmchen!«
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Buchladen hinterlegt. Wusste er auch etwas über die kleinen
Zettel? Oder kannte als Einziger auf der Welt Joachim dieses
Geheimnis? Schließlich hatte nur er den Kalender geöffnet.
Aber ihm fiel noch etwas anderes ein. Elisabet!, dachte er.
Hieß nicht die Frau, von der Johannes ein Bild ins Schaufenster
gestellt hatte, Elisabet?
Doch, da war er sich ganz sicher. Ob es dieselbe Elisabet war
wie die, von der der Adventskalender erzählte? Die auf den
Zetteln war zwar nur ein Kind, aber der Kalender war ja so alt,
dass sie in all den Jahren bestimmt Zeit gehabt hatte, erwachsen
zu werden.
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Als er aus der Schule nach Hause kam, war er zunächst wie fast
immer allein. Mama kam meistens ein bisschen später.
Joachim lief in sein Zimmer, um nach dem magischen Ad-
ventskalender zu sehen. Natürlich hing er noch da. Zweimal
hatte sich Joachim in der Schule gefragt, ob alles vielleicht nur
ein Traum gewesen war, zumal er ohnehin immer die seltsams-
ten Dinge träumte. Aber der Kalender war Wirklichkeit.
Jetzt war er so neugierig auf das Bild hinter der Drei, dass er
lange das Türchen und die Zahl anstarrte. Er hätte zu gern
gewusst, wie es mit Elisabet und dem Engel Efiriel weiterging.
Ob er das dritte Türchen aufmachen sollte? Er könnte es ja
danach wieder zudrücken und so tun, als ob nichts passiert wäre.
Aber das wär geschummelt gewesen. Beim Kartenspielen
durfte man auch nicht schummeln, und mit der Zeit bis Weih-
nachten zu schummeln war noch viel schlimmer. So schlimm,
wie in Päckchen zu gucken, die erst am Heiligabend geöffnet
werden durften. Es war fast, wie sich selber bestehlen.
Mama kam von der Arbeit und fing an, Kartoffeln und Möhren
zu schälen. Dann kam auch Papa. Er jammerte, dass er seinen
Führerschein verloren hatte.
»Unbegreiflich«, sagte er. »Er ist nicht im Auto, nicht im
Büro, auch nicht in der Manteltasche.«
»Du bist eben ein richtiger Schussel«, sagte Joachim, denn das
sagte Papa sonst immer zu ihm, wenn er sein Federmäppchen
nicht finden konnte oder irgendwelche Spielsachen, die er nicht
aufgeräumt hatte.
Nach dem Essen erklärte Joachim, er wolle gleich schlafen
gehen. Es war vielleicht das erste Mal in seinem Leben, dass er
von sich aus ins Bett wollte.
»Du bist doch nicht krank, mein Junge?«, fragte Mama.
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3. Dezember
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Trompete. Er wollte bestimmt die Schafe und die Hirten
wecken.
Joachim überlegte, dass der Engel rechts auf dem Bild Efiriel
sein musste, der Elisabet getröstet hatte, als sie über die Fich-
tenwurzel gefallen war und sich wehgetan hatte. Genauso hatte
er sich Efiriel jedenfalls vorgestellt, als er den letzten Zettel
gelesen hatte.
Plötzlich bemerkte er, dass der Engel ihm zulächelte und einen
Arm hob, als ob er Joachim zuwinken wollte. Irgendwie schien
der Engel auf dem Bild seit gestern deutlicher geworden zu sein.
Jetzt richtete sich Joachim im Bett auf und öffnete die Klappe
mit der Drei. Dahinter fand er das kleine Bild eines Oldtimers.
Genauso ein altes Auto hatte er mal mit seinem Großvater
zusammen im Technischen Museum gesehen.
Joachim verstand nicht, was ein Oldtimer mit Weihnachten zu
tun haben soll, aber dann hob er das Zettelchen auf, das wie die
beiden an den Tagen zuvor auf sein Bett gefallen war. Er machte
es sich unter der Decke bequem und fing an zu lesen.
2. Schaf
Elisabet und der Engel Efiriel liefen weiter hinter dem Glocken-
lamm her, das vor den vielen Registrierkassen und dem ganzen
Einkaufsgeschwätz aus dem Kaufhaus geflohen war. Bald lag
der Wald hinter ihnen, und sie erreichten eine schmale Land-
straße. In der Ferne quoll dicker Rauch aus Fabrikschloten.
»Da liegt eine Stadt«, sagte Elisabet.
»Das ist Halden«, erklärte der Engel. »Wir kommen jetzt bald
nach Schweden, dann sind wir auf dem richtigen Weg. Nach
Bethlehem geht es nämlich durch Schweden.«
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, als sie hinter sich
einen scheppernden Lärm hörten. Elisabet sah sich um und
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entdeckte ein altes Auto, das direkt auf sie zufuhr. Im Auto saß
ein Mann in Hut und Mantel. Er hatte einen gewaltigen
Schnurrbart und ein bisschen Ähnlichkeit mit dem Bild ihres
Urgroßvaters, das zu Hause auf dem Kamin stand. Als das Auto
an ihnen vorbeifuhr, hupte der Mann und schwenkte seinen Hut.
»Ein Oldtimer!«, rief Elisabet. »Der muss ja uralt sein!«
Der Engel Efiriel musste sich einen Arm vors Gesicht halten,
um nicht loszuprusten.
»Nein, ich glaube eher, er war ganz neu.«
Elisabet seufzte resigniert.
»Ich dachte immer, Engel wären viel klüger als Menschen.
Aber von Autos versteht ihr wohl nichts!«
Weil sie sich nicht mit dem Engel streiten wollte, fügte sie
rasch hinzu:
»Ist ja vielleicht auch kein Wunder, ihr habt doch Flügel, da
fahrt ihr im Himmel bestimmt nicht Auto. Wenn ich es mir
genau überlege, hat Gott bestimmt alles total verboten, was
seine Umwelt zerstört!«
Efiriel zeigte auf einen großen Holzstapel.
»Setz dich da hin«, sagte er. »Du hast ohnehin eine kleine
Ruhepause verdient, und ich muss dir etwas Wichtiges erklä-
ren.«
Elisabet setzte sich und blickte zum Engel hoch.
»Wirst du gar nicht müde?«, fragte sie.
Der Engel schüttelte den Kopf.
»Nein, Engel werden nicht müde, wir sind doch nicht aus
Fleisch und Blut. Wenn ihr müde werdet, dann ist es vor allem
euer Fleisch und Blut.«
Elisabet war es ein bisschen peinlich, dass sie geglaubt hatte,
Engel könnten müde werden. In dem Fall würden sie sicher
nicht ständig zwischen Himmel und Erde hin- und herfliegen.
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Das musste doch weit sein, viel weiter noch als bis nach
Bethlehem.
Wenigstens bei dem Auto, dem sie begegnet waren, lag Elisa-
bet aber wohl richtig. Das war nun wirklich ein Oldtimer.
Der Engel sagte:
»Wo genau wollen wir also hin, meine Liebe?«
»Nach Bethlehem«, antwortete Elisabet.
»Ja, und was wollen wir da?«
»Das Lamm streicheln.«
Der Engel nickte.
»Und dann das Jesuskind willkommen heißen, das ›Lamm
Gottes‹.«
Elisabet zuckte mit den Schultern. Das hatte sie sich noch nie
überlegt, dass das Jesuskind genauso lieb und unschuldig
gewesen war wie ein Lamm mit weichem Fell.
Der Engel fuhr fort:
»Aber dann reicht es nicht, dass wir einfach nach Bethlehem
gehen. Wir müssen auch noch zweitausend Jahre in der Zeit
zurückreisen, denn als du angefangen hast, hinter dem Glocken-
lamm herzulaufen, waren ziemlich genau zweitausend Jahre seit
Jesu Geburt verstrichen. Lass uns versuchen, dabei zu sein,
wenn das große Wunder geschieht.«
Elisabet schlug die Hand vor den Mund.
»Ist das denn nicht unmöglich, in der Zeit zurückzureisen?«
Efiriel schüttelte den Kopf.
»Nicht ganz, nein. Für Gott ist nichts unmöglich, und ich bin
als Bote Gottes hier, deshalb ist auch für mich fast nichts
unmöglich. Wir haben schon ein kleines Stück des langen Wegs
hinter uns. Da unten siehst du Halden, und wir befinden uns am
Beginn des 20. Jahrhunderts nach Christus. Verstehst du?«
Elisabet machte große Augen und nickte:
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»Ich glaube schon … deshalb war der Oldtimer auch gar nicht
alt.«
»Nein, er war nagelneu. Hast du gemerkt, wie stolz der Mann
gehupt hat? In der Zeit, in der wir jetzt gerade sind, haben noch
ziemlich wenige Leute ein Auto.«
Elisabet Hansen starrte die weiß gekleidete Gestalt einfach
weiter an, und der Engel Efiriel fuhr fort:
»Den ganzen weiten Weg nach Bethlehem zu laufen, würde
sehr lange dauern. Aber wir laufen außerdem noch schräg durch
die Geschichte, und auf diese Weise laufen wir gewissermaßen
die ganze Zeit bergab. Das ist so, wie mit dem Wind zu laufen –
oder eine Rolltreppe hinunterzurennen.«
Elisabet nickte. Sie war sich nicht sicher, ob sie alles verstan-
den hatte, was der Engel sagte, aber auf jeden Fall war es genug,
um zu begreifen, wie klug alles arrangiert war.
»Woher weißt du, dass es gerade jetzt Anfang des 20. Jahr-
hunderts ist?«
Der Engel hob einen Arm und zeigte auf eine goldene Uhr an
seinem Handgelenk. Sie war an einem Armband aus glänzenden
Perlen befestigt. Das Zifferblatt zeigte die Zahl 1916.
»Das ist eine Engelsuhr«, erklärte er. »Sie geht genauso richtig
wie andere Uhren, aber im Himmel nehmen wir Stunden und
Minuten nicht so wichtig.«
»Wieso das denn?«
»Wir haben ja die ganze Ewigkeit zur Verfügung«, antwortete
der Engel. »Außerdem brauchen wir keinen Bus zu erwischen,
um pünktlich zur Arbeit zu kommen.«
Elisabet war sehr verwundert über die Worte des Engels, aber
sie glaubte nun zu begreifen, warum die Kirchturmuhr nur
dreimal geschlagen hatte, obwohl es doch um sechs gewesen
war, als Elisabet aus dem Kaufhaus lief. Sie war in der Zeit
zurückgelaufen.
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»Du hast schon angefangen, bergab zu rennen, seit du das
Glockenlamm verfolgst«, erzählte der Engel Efiriel weiter.
»Damit hat die große Reise durch Zeit und Raum begonnen.«
Jetzt kam aus der anderen Richtung ein Oldtimer. Er hinterließ
eine Staubwolke, Elisabet musste husten. Als sich die Staub-
wolke legte, zeigte sie plötzlich nach vorn:
»Da ist ja wieder unser Lamm. Aber jetzt ist noch ein erwach-
senes Schaf dabei.«
Der Engel nickte.
»Wahrlich, ich sage dir, auch dieses Schaf will nach Bethle-
hem.«
Elisabet und Efiriel liefen los. Als sie Lamm und Schaf einge-
holt hatten, stürzten auch diese beiden los.
»Komm her, mein Lämmchen!«, lockte Elisabet.
Aber Lamm und Schaf waren nicht zu bremsen. Sie wollten
nach Bethlehem, nach Bethlehem!
Sie passierten den Stadtrand von Halden. Sie blieben für einen
Moment stehen und sahen sich die vielen Menschen an, die in
den Straßen und auf den Plätzen spazieren gingen. Die Frauen
trugen lange farbenfrohe Baumwollkleider und große Hüte in
allerlei Farben. In den Straßen töfften einige Oldtimer herum,
aber es gab auch viele Pferdekutschen in der kleinen Stadt.
Sie ließen die Stadt hinter sich und erreichten einen Grenz-
übergang. Auf dem großen Schild stand: REICHSGRENZE
SCHWEDEN.
Elisabet blieb stehen:
»Meinst du, die lassen uns rüber?«
Der Engel umflatterte sie wie ein übergroßer Schmetterling.
»Die trauen sich doch gar nicht, einen Pilgerzug anzuhalten«,
sagte er. »Außerdem haben Norwegen und Schweden bis vor
wenigen Wochen denselben König gehabt.«
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»Kann ich noch mal deine Engelsuhr sehen?«
Efiriel hielt ihr seinen Arm hin. Jetzt zeigte das Zifferblatt
1905.
Und dann liefen sie alle an den zwei Grenzposten vorbei –
zuerst Lamm und Schaf, dann Elisabet Hansen und der Engel
Efiriel.
»Halt! Stehen bleiben!«, riefen die Grenzposten. »Im Namen
des Gesetzes!«
Aber da waren sie schon tief in Schweden. Und sie waren auch
schon wieder einige Jahre näher an Christi Geburt heran.
Bald hörte er Mama im Flur. Sie öffnete die Tür und fragte:
»Hast du den Adventskalender schon aufgemacht?«
Joachim nickte, und Mama bückte sich über den Kalender.
»Ein Oldtimer?!«, rief sie.
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Ihre Stimme klang ein bisschen verwundert, fast enttäuscht.
Vielleicht hatte sie für jeden Tag Bilder von Engeln und anderen
Weihnachtsdingen erwartet.
»Elisabet und der Engel sind zu der Zeit nach Schweden
gelaufen, als solche Oldtimer nagelneu waren«, sagte Joachim.
»Sie wollen bis nach Bethlehem.«
»Mir scheint, du bist ein kleiner Dichter«, antwortete Mama
und streichelte ihm den Kopf. Dann ging sie ins Badezimmer.
Joachim spürte ein Kitzeln im Bauch, wenn er daran dachte,
was er alles wusste und was seine Eltern für ausgedacht hielten.
Auf einmal kam ihm eine wunderbare Idee. Heiligabend
würde er alle Zettel aus dem magischen Kalender zusammenpa-
cken und das Päckchen unter den Weihnachtsbaum legen. Auf
das Päckchen würde er schreiben: »Für die besten Eltern der
Welt.«
Eigentlich war es nicht gut, dass ihm die Idee gekommen war,
denn jetzt war die Vorfreude auf Weihnachten noch viel größer.
Und es war nicht nur schön, sich auf etwas zu freuen. Es war
auch ein bisschen öde, schließlich war es ja noch so lange hin.
28
4. Dezember
Josua
Elisabet Hansen und der Engel Efiriel liefen hinter dem Schaf
und dem Glockenlamm her. Sie kamen zuerst an einer roten
Holzhütte, dann an einigen kleinen Feldern auf einer Lichtung
im Wald vorbei. Von einem Hügel aus zeigte Efiriel auf einen
großen See.
»Das ist der größte See Skandinaviens«, sagte er. »Meine Uhr
zeigt, dass seit Jesu Geburt 1891 Jahre vergangen sind, aber wir
sind ja auch erst gerade in Schweden.«
30
Ein reißender Fluss mündete in den großen See. Sie betraten
eine Brücke, die über den Fluss führte. Bald hatten sie das
andere Ufer erreicht.
»Das ist der Götaälv«, sagte Efiriel. »Wir folgen auf einem
alten Karrenweg dem Fluss.«
»Komm her, mein Lämmchen!«, lockte Elisabet, aber Schaf
und Lamm waren schon wieder weitergerannt.
Sie kamen an einem Dorf vorbei. An seinem Rand lag eine rot
gestrichene Kirche. Auf dem Weg zur Kirche wimmelte es von
Menschen. Die meisten gingen zu Fuß, einige saßen in großen
Kutschen, die von Pferden gezogen wurden. Die Männer trugen
schwarze Anzüge und schwarze Hüte, auch viele Frauen trugen
Schwarz. Einige von ihnen hielten Gesangbücher in der Hand.
»Ich wette, es ist gerade Sonntag«, sagte Elisabet.
Sie blieben ein oder zwei Sekunden stehen und sahen den
vielen Menschen zu. Plötzlich entdeckte sie ein kleiner Junge.
Aber er konnte nur noch schnell die Augen aufreißen, denn im
selben Moment setzte sich der Engel Efiriel wieder in Bewe-
gung. Elisabet musste sich alle Mühe geben, mitzukommen.
Einmal drehte sie sich um, aber da waren die Menschen vor der
Kirche längst verschwunden. Genauso wie die Pferdekutschen.
Als sie das Dorf hinter sich hatten, sagte Elisabet zu dem
Engel:
»Nur ein kleiner Junge hat uns gesehen.«
»Ausgezeichnet. Wir versuchen, nicht zu viel Aufmerksamkeit
zu erregen. Vielleicht lässt es sich nicht vermeiden, dass uns ab
und zu jemand entdeckt, aber das ist dann ja nur für eine
Sekunde.«
Sie liefen weiter durch Wald und Feld. Ab und zu sahen sie
Menschen, die Heu zum Trocknen aufhäuften oder mit der
Sense Getreide mähten. Manchmal mussten sie auch einen
Umweg machen, um die Menschen nicht zu erschrecken.
31
Bald hatten Schaf und Lamm eine Weide gefunden, die so
grün und verlockend aussah, dass sie geradezu ins Auge stach.
»Wenn wir uns ganz vorsichtig heranschleichen«, sagte Elisa-
bet, »könnten wir es jetzt vielleicht schaffen.«
Sie hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als sie einen
Mann entdeckten, der aus einer anderen Richtung auf sie zukam.
Er trug einen blauen Kittel. In der Hand hielt er einen langen,
oben gekrümmten Stab. Er trat auf sie zu und sagte feierlich:
»Friede sei mit euch, die ihr über den schmalen Weg am
Götaälv wandert. Ich bin der Schäfer Josua.«
»Dann gehörst du zu uns«, sagte Efiriel.
Elisabet verstand nicht, was der Engel damit meinte. Aber da
sagte der Schäfer:
»Ich komme mit euch ins Heilige Land, denn ich muss auf
dem Feld sein, wenn die Engel die frohe Botschaft verkünden,
dass das Jesuskind geboren ist.«
Elisabet kam eine kluge Idee:
»Wenn du ein Schäfer bist, kannst du mir doch das Glocken-
lamm bringen.«
Der Mann machte eine tiefe Verbeugung.
»Für einen Schäfer ist das die leichteste Übung.«
Mit einigen wenigen entschlossenen Schritten hatte er Schaf
und Lamm erreicht. Im nächsten Moment kniete das Lamm vor
Elisabets Füßen. Auch sie kniete nieder und streichelte das
weiche Fell.
»Ich glaube, du bist das schnellste Kuscheltier der Welt. Aber
am Ende habe ich dich doch gekriegt«, sagte sie.
Doch jetzt stieß der Schäfer mit seinem Hirtenstab auf den
Boden und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem.«
32
Lamm und Schaf stürzten los. Schäfer, Engel und Elisabet
hinterher.
Wieder erreichten sie eine kleine Stadt. Von einem Hügel aus
blickten sie auf die dicht gedrängten roten Holzhäuser. Im
Laufen erzählte Efiriel, dass die Stadt Kungälv hieß.
»Das bedeutet ›Königsstein‹, und diesen Namen trägt die
Stadt, weil die Könige Skandinaviens hier ihre Beratungen
abhielten. Einer von ihnen war Sigurd Jorsalfar.«
Jorsalfar! Elisabet fand den Namen so komisch, dass sie
lachen musste.
»Jorsalfar bedeutet Jerusalemfahrer. Sigurd wurde so genannt,
weil er eine Pilgerfahrt ins Heilige Land unternommen hat,
dorthin wo Jesus geboren wurde.«
Schaf und Lamm hatten inzwischen einen großen Vorsprung.
Der Schäfer Josua tänzelte hinter ihnen her. Jetzt eilten ihnen
auch Elisabet und der Engel Efiriel nach.
Bald kamen sie an einer großen Stadt an der Mündung des
Götaälv vorbei. Von einem Hügel aus hatten sie einen guten
Überblick. In den Straßen stolzierten Frauen mit langen Klei-
dern und Männer mit Hut und Stock. Einige saßen in eleganten
Kutschen, die von zwei Pferden gezogen wurden.
»Das ist Göteborg«, erklärte Efiriel. »Es ist 1814. In diesen
Tagen hat Dänemark gerade Norwegen an Schweden abgetreten.
Jetzt bekommt Norwegen eine eigene Verfassung.«
Der Schäfer Josua drehte sich um und winkte ihnen zu.
»Nach Bethlehem!«, rief er. »Nach Bethlehem!«
Und schon liefen sie weiter durch Schweden.
33
Joachim wusste, dass er gar nicht zu antworten brauchte.
Mama wollte immer selber gucken.
Sie schlug die Hände zusammen.
»Das muss einer der Hirten auf dem Felde sein!«
Joachim schaute zu ihr hoch.
»Warum sagst du ›auf dem Felde‹?«
Mama erzählte, dass es in den alten Adventskalendern viele
Bilder von Schäfern und Hirten gegeben hatte, denn es waren
Hirten auf dem Felde, als die Engel kamen und erzählten, dass
das Jesuskind geboren war.
»Ein Hirte ist in etwa dasselbe wie ein Schäfer, bloß kann er
alle Tiere hüten, ein Schäfer hütet nur Schafe.«
»Jetzt sind sie schon in Göteborg«, erklärte Joachim.
»In Göteborg?«
Mama sah ihn seltsam an.
»Von wem redest du eigentlich?«
»Von Elisabet Hansen, dem Engel Efiriel und dem Schäfer
Josua. Sie wollen nach Bethlehem.«
Mama schnappte Luft.
»Du darfst dich nicht zu sehr in den alten Adventskalender
hineinsteigern. Das sind doch bloß Bilder.«
Joachim merkte, dass er seinen Eltern nicht mehr alles erzäh-
len durfte, was er über Elisabet wusste. Sonst würde er das
Geheimnis über die Zettel im Weihnachtskalender verraten
müssen, und die wollte er doch seinen Eltern zu Weihnachten
schenken.
Und noch etwas anderes sah er ein. Irgendwann musste er
versuchen, mit Johannes zu sprechen. Nur der wusste, was es
mit dem magischen Adventskalender auf sich hatte. Vielleicht
wusste er ja auch mehr über Elisabet Hansen. Nur, wie sollte
34
Joachim Johannes finden? Er durfte doch nicht allein in die
Stadt zum Markt.
Als er am Nachmittag aus der Schule nach Hause kam, schell-
te es plötzlich an der Tür, die er gerade erst hinter sich
zugemacht hatte. Mama konnte es nicht sein. Wer dann?
Er ging in den Flur und öffnete. Auf der Treppe stand der
weißhaarige Buchhändler, von dem er den Adventskalender
bekommen hatte.
»Da bist du ja«, sagte er. »Das hab ich mir gedacht!«
»Was?«, fragte Joachim, er hatte plötzlich Angst, der Buch-
händler könnte den magischen Adventskalender zurückverlan-
Woher wusste er überhaupt Joachims Adresse?
Der Mann steckte die Hand in die Tasche und zog einen
Führerschein hervor.
»Dein Vater hat den hier bei mir verloren«, erklärte er. »Und
als ihr nicht wieder in den Laden gekommen seid, habe ich eure
Adresse im Telefonbuch nachgeschaut. Ich wohne ganz in der
Nähe, weißt du. Ich wohne Kløverveien 12.«
Das war wirklich nicht weit. Einer aus Joachims Klasse wohn-
te in Nummer 7.
»Und was macht der magische Kalender?«, fragte der weiß-
haarige Mann.
Joachim sah zu ihm hoch:
»Super! Hinter jedem Türchen steckt noch ein geheimnisvoller
Zettel.«
»Ach, wirklich?«
Der Buchhändler lächelte breit. Er gab Joachim Papas Führer-
schein.
»Aber ich muss weiter«, sagte er. »Wir Buchhändler haben in
dieser Zeit viel zu tun.«
35
Bald danach kamen Mama und Papa von der Arbeit. Und kurz
darauf saßen sie alle zusammen beim Essen. Joachim hatte
beschlossen, ihnen nichts vom Führerschein zu erzählen,
solange Papa nicht selber auf ihn zu sprechen kam. Stattdessen
fragte er etwas ganz anderes:
»Was ist eigentlich eine Pilgerfahrt?«
Seine Eltern hielten das offenbar für eine seltsame Frage, denn
»Pilgerfahrt« war ein schwieriges Wort. Papa nahm sich noch
etwas Fischauflauf und sagte:
»Ein Pilger reist an einen heiligen Ort.«
»So wie Sigurd Jorsalfar?«, fragte Joachim. »Er ist doch nach
Jerusalem gereist. Deshalb wurde er Jerusalemfahrer genannt.«
Mama und Papa wechselten einen Blick.
»Habt ihr in der Schule über Sigurd Jorsalfar gesprochen?«,
fragte Mama.
Joachim schüttelte den Kopf. Ihm war klar, dass er jetzt ganz
schnell auf den Führerschein kommen musste. Er blickte zu
Papa.
»Hast du deinen Führerschein wieder gefunden?«
»Nein«, antwortete Papa und sah fast ein bisschen wütend aus.
»Aber ich«, sagte Joachim.
Er stand auf, holte den Führerschein aus seinem Zimmer und
überreichte ihn mit einem listigen Lächeln.
Papa hätte sich fast verschluckt. Er runzelte die Stirn und
fragte:
»Wo hast du den denn gefunden? Du hast ihn doch nicht etwa
selber …«
Joachim musste Papa schnell ins Wort fallen, bevor der etwas
sagte, was ihm nachher Leid tun würde:
»Du hast ihn im Buchladen verloren, als wir den Adventska-
lender entdeckt haben.«
36
Papa sah aus, als hätte ihn mitten am hellichten Tag ein Engel
besucht. Und im Grunde stimmte das ja auch, nur hatte der
Engel einen weißhaarigen Buchhändler geschickt, anstatt selber
zu kommen.
»Der Buchhändler war gerade hier«, erklärte Joachim. »Er hat
unsere Adresse im Telefonbuch gefunden.«
Jetzt begriffen Mama und Papa, was passiert war.
»Das ist ja wirklich ein toller Buchhändler«, sagte Papa und
wandte sich nun an Mama:
»Ganz ungewöhnlich, weißt du.«
»Und du bist ein ganz toller Schussel«, sagte Joachim.
37
5. Dezember
38
Der 5. Dezember war ein Samstag. Samstags schliefen Mama
und Papa stets länger. Nur Joachim wurde wie immer gegen
sieben Uhr wach. Er setzte sich auf und betrachtete wieder das
große Bild auf dem Kalender.
Erst jetzt merkte er, dass ein Schäfer einen Hirtenstab in der
Hand hielt – genau wie der Schäfer Josua.
Warum war ihm das nicht schon vorher aufgefallen?
Jedes Mal, wenn er sich den magischen Adventskalender
ansah, entdeckte er etwas Neues. Wie war das möglich? Es
konnte doch nicht jeden Tag etwas dazukommen, was vorher
nicht auf dem Bild gewesen war! Das wäre doch Zauberei?
Joachim holte tief Luft und saß ganz starr vor Verwunderung
da.
Vielleicht war das gerade das Magische an dem alten Ad-
ventskalender. Das Bild war nicht fertig gezeichnet, sondern
entwickelte sich von selbst weiter, sobald jemand ein neues
Türchen aufmachte und den kleinen Zettel las.
Konnte es so eine Zeichnung wirklich geben?
Joachim wusste, dass ein Rosinenbrötchen erst fertig war,
wenn es – ganz von selber – aufgegangen war, zuerst auf dem
Blech, dann im Backofen. Er wusste, dass das von der Hefe
kam. Joachim hatte schon oft geholfen, Rosinenbrötchen zu
backen. Als er noch kleiner gewesen war, hatte er sich sogar
vorgestellt, dass auch Kinder im Mutterleib wie so ein Bröt-
chenklumpen aufgingen.
War nicht die ganze Welt eine magische Zeichnung, die sich
von selbst zeichnete? Die Welt veränderte sich die ganze Zeit.
Sie wurde nie ganz fertig.
Joachim saß jetzt noch starrer da – den Blick auf den magi-
schen Adventskalender fixiert, sein Körper ohne jede Regung:
Wenn Gott eine ganze Welt erschaffen hatte, die sich in jedem
kleinsten Winkel und Eckchen selber erschaffen konnte, konnte
39
er dann nicht auch ein Bild machen, das sich vor den Augen
seiner Betrachter entwickelte?
Erst jetzt atmete Joachim wieder durch. Er war überzeugt, dass
der Schäfer auf dem großen Bild derselbe war, dem Elisabet auf
dem Weg nach Bethlehem begegnet war. Die Frage war nur, ob
er schon einen Hirtenstab in der Hand gehabt hatte, als Joachim
den Kalender im Buchladen entdeckte. Das würde er vielleicht
nie herausfinden, aber jedenfalls war es eine geniale Zeichnung,
denn es gab ständig etwas Neues in ihr zu entdecken. Das allein
war schon so genial wie der ganze Rest des Adventskalenders.
Joachim sah sich nun auch noch einmal die Bildchen im
Kalender an. Zuerst hatte es eins von Elisabet und dem Glocken-
lamm im Kaufhaus gegeben. Danach war das Bild des Engels im
Wald gekommen, dann der Oldtimer und schließlich der Schäfer
mit dem Hirtenstab.
Jetzt öffnete Joachim die Klappe mit der Fünf. Heute fand sich
dahinter das Bild eines Ruderboots. Im Boot saßen ein Hirte, ein
Engel, ein kleines Mädchen und das Schaf und das Lamm.
Joachim wusste, wer sie waren, sein ganzes Interesse galt
deshalb dem Zettel.
Er faltete ihn auseinander und fing an zu lesen:
3. Schaf
Elisabeth, das Lamm, der Engel, das Schaf und der Schäfer
liefen auf Kieswegen und auf von Gras überwucherten Karren-
wegen durch Schweden. Sie liefen durch gelbe Felder und
dichte Wälder, und schließlich entdeckten sie vor sich am Meer
eine kleine Stadt. Es wehte ein so starker Seewind, dass die
Wellen über den Landesteg schlugen. Weit draußen auf dem
Wasser sahen sie ein Schiff mit drei hohen Masten. Am Stadt-
rand lag ein großes Schloss.
40
»Wir sind in Halland«, sagte der Engel Efiriel. »Die Stadt
heißt Halmstad. Die Wellen schlagen vom Kattegat rein. Die
Uhr zeigt 1789 nach Jesu Geburt.«
»Sind wir immer noch in Schweden?«, fragte Elisabet.
Efiriel nickte.
»Aber die Gegend hier hat noch vor kurzem zu Dänemark
gehört.«
Der Schäfer Josua sagte, sie müssten sich beeilen, deshalb
rannten sie jetzt durch die Landschaft, die immer flacher wurde,
je weiter sie nach Süden kamen. Zwischen Weiden und Gärten
erhoben sich kleine Dörfer mit einem Kirchlein und wenigen
Häusern.
Sie liefen durch einen dichten Wald. Plötzlich hielt der Schäfer
Josua an und kniete sich vor einer Birke hin. Er hatte ein Schaf
entdeckt, das sich in einer Schlinge verfangen hatte.
»Die Schlinge war wohl für einen Hasen oder für einen Fuchs
bestimmt«, sagte er.
Er löste die Schnur von einem Bein des Schafes und fuhr fort:
»Aber jetzt kommt das Schaf mit uns nach Bethlehem.«
Der Engel Efiriel nickte energisch.
»Denn es gehört auch zu uns.«
Und das Schaf schien zu antworten:
»Mä!«, sagte es. »Mää …«
Und weiter ging es: das Lamm und die beiden Schafe vorne-
weg, dann der Schäfer und Elisabet Hansen, zum Schluss der
Engel.
Der Engel erzählte, dass sie gerade in Schonen waren, dass die
Stand Lund hieß und dass es sich bei der großen Kirche um
einen alten Dom handelte. Er blickte auf seine Engelsuhr:
»Die Uhr zeigt 1745. Die stolze Kathedrale steht schon seit
vielen Jahrhunderten. In der ganzen Welt gibt es Kirchen und
41
Kathedralen, und der Anfang von allem war das Jesuskind, das
in Bethlehem geboren wurde. Es ist so, als wenn ein einziges
kleines Samenkorn in die Erde gesteckt wird und schließlich zu
einem ganzen Kornfeld wird. Die himmlische Herrlichkeit
verbreitet sich nämlich sehr leicht.«
Elisabet staunte über die Worte des Engels.
»Können wir hinein?«, fragte sie.
Der Engel nickte, und sie betraten die große Kirche. Erst die
Schafe, dann der Schäfer, und nach ihm Elisabet Hansen.
In der Kirche ertönte das Schönste, was Elisabet je gehört
hatte. Von der großen Orgel brausten so warme und zugleich
mächtige Klänge herab, dass ihr Tränen in die Augen traten.
Als der Engel es sah, sagte er:
»Ja, wein nur. Diese wunderbare Musik stammt von Johann
Sebastian Bach. Er lebt um diese Zeit in Deutschland, aber seine
Musik ist in ganz Europa bekannt. Das ist auch kein Wunder,
seine Musik ist wie ein kleiner Zipfel der himmlischen Herrlich-
keit.«
Das Einzige, was die Musik störte, waren zwei Schafe, die
blökten, und ein Lamm, das herumsprang. Sein Glöckchen
bimmelte wie verrückt.
Ein schwarz gekleideter Mann kam durch den Chor. Das war
der Pastor.
»Raus mit euch!«, sagte er mürrisch. »Der Dom zu Lund ist
kein Schafstall!«
Da trat der Engel Efiriel vor den Pastor. Er breitete die Flügel
aus und sagte:
»Der Herr Pastor möge sich nicht ärgern! Er möge aber auch
nicht vergessen, dass Jesus in einem Stall geboren wurde. Er
wird zudem auch ›der gute Hirte‹ genannt.«
42
Der Pastor blieb plötzlich stehen, denn auch als Pastor in einem
sehr alten Dom war er nicht an Engel und dergleichen gewöhnt.
Er fiel auf die Knie und faltete die Hände:
»Ehre sei Gott in der Höhe!«, rief er.
So ließen sie ihn zurück. Der Engel gab ihnen das Zeichen
zum Rückzug.
»Solche Momente dürfen nie zu lange dauern«, sagte er.
»Vielleicht schreibt er einen Bericht an seinen Bischof. Dann
wird entweder alles vertuscht, oder es geraten Gerüchte über das
Wunder von Lund in Umlauf. Auf jeden Fall sollte der Bischof
den Pastor daran erinnern, daß das Wort ›Pastor‹ Schäfer
bedeutet, nicht mehr und nicht weniger.«
Josua schlug mit dem Hirtenstab gegen die Kirchenmauer:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Und schon liefen sie durch einen großen Park voller Vögel.
Zwei Soldaten kamen auf sie zugeritten. Als sie den bunten Zug
sahen, riefen sie:
»Stehen bleiben!«
Die Soldaten galoppierten heran. Aber als sie sich von den
Pferden beugten, um den Schäfer Josua zu packen, war der Zug
plötzlich verschwunden wie Tau in der Sonne.
Elisabet staunte, denn sie stand noch immer genau an der
Stelle wie vorher, als die Soldaten aufgetaucht waren.
»Die sind ja weg!«, rief sie.
Der Engel lachte ein perlendes Lachen.
»Gewissermaßen ja. Aber wir sind vor ihren Augen ver-
schwunden. Vielleicht hat sie das so verblüfft, dass sie von ihren
Pferden gefallen sind.«
Elisabet staunte noch immer, und Efiriel musste ihr noch
einmal erklären, wie sie reisten.
43
»Wir reisen in zwei verschiedene Richtungen auf einmal.
Einerseits auf der Landkarte südwärts nach Bethlehem und
Judäa. Die andere Richtung führt uns durch die Geschichte in
die Stadt Davids zur Zeit der Geburt Jesu. Das ist eine sehr
ungewöhnliche Art des Reisens, viele würden sie für unmöglich
halten, aber für Gott ist nichts unmöglich. Denn Zeiten sind
gekommen, und Zeiten sind verstrichen, und eine Generation ist
auf die andere gefolgt. Aber der Weg nach Bethlehem ist noch
immer genau derselbe.«
Elisabet war sehr verwundert über die Worte des Engels und
bewahrte sie in ihrem Herzen.
»Das macht es auch leicht, allen Gefahren aus dem Weg zu
gehen«, fuhr Josua fort. »Wenn wir mürrischen Pastoren und
wütenden Soldaten nicht durch einen Schritt zur Seite entgehen
können, dann müssen wir einen Schritt zurück in der Zeit
machen. Schon eine viertel oder eine halbe Stunde kann genug
sein.«
Mit diesen Worten machten sie sich wieder auf. Sie kamen
jetzt an weiten Feldern und kleinen Dörfern vorbei. Bald
konnten sie in der Ferne wieder das Meer sehen. Nicht lange
darauf standen sie an einem öden Strand.
»Das hier ist der Öresund«, sagte Efiriel. »Die Uhr zeigt 1703
nach Jesu Geburt. Wir müssen nach Dänemark übersetzen, ehe
das 17. Jahrhundert zu Ende ist.«
»Hier ist ein Ruderboot«, rief Josua aus einiger Entfernung.
Sofort stiegen sie hinein. Erst die Schafe, dann Elisabet und
Efiriel. Der Schäfer Josua schob das Boot ins Wasser und sprang
als Letzter an Bord.
Der Engel Efiriel ruderte, und zwar so kräftig, dass das Wasser
um den Bug schäumte. Das Boot schaukelte auf den Wellen,
sodass die Glocke des Lamms während der ganzen Überfahrt
bimmelte.
44
Josua saß hinten im Boot. Plötzlich zeigte er nach vorn und
sagte:
»Ich sehe Dänemark!«
45
nicht schon sehr lange her, dass Elisabet dem Lamm nachge-
sprungen war?
Er blickte zu Mama:
»Dieser Laden ist doch sicher vierzig Jahre alt.«
Sie sah ihn seltsam an.
»Noch viel älter«, sagte sie nur.
Das wusste er nun also. Vielleicht waren Elisabet und das
Glockenlamm also wirklich von diesem Kaufhaus aus losgelau-
fen. Joachim konnte gut verstehen, warum. Auch er kaufte nur
ungern in diesem Rummel ein. Er wurde jetzt richtig wütend,
weil ihm der Krach schrecklich auf die Nerven ging.
Der Samstag erschien ihm diesmal unendlich lang. Immer
wieder fragte er sich, was Elisabet und der Engel Efiriel wohl in
Dänemark erleben würden. Noch schlimmer war es, als er
schlafen ging. Er musste ja unter dem magischen Kalender
liegen, der vor Geheimnissen nur so überquoll.
So nah bei all den Geheimnissen zu schlafen, war fast wie in
einer Schokoladenfabrik zu wohnen, ohne die kleinste Praline
probieren zu dürfen.
46
6. Dezember
47
Er hatte geträumt, dass in dem magischen Adventskalender
lauter kleine Schokoladenfiguren steckten, die zu lebendigen
Tieren wurden, sobald er die Kalendertüren öffnete und sie aus
ihrer Gefangenschaft befreite. Damit sie nicht wegliefen, musste
er sie in seine Geheimschatulle sperren.
Erst zu Heiligabend hatte er sie wieder freigelassen. Und alle
24 Schokoladentiere waren aus dem Fenster gesprungen und
losgerannt. Sie wollten nach Bethlehem, denn dort wurde das
Jesuskind geboren. Joachim wusste, dass Jesus die Menschen
geliebt hatte, aber im Traum hatte er auch Schokolade geliebt.
Als Joachim lange genug wach war, um sicher zu sein, dass
das mit den lebendigen Schokoladentieren wirklich nur ein
Traum gewesen war, setzte er sich auf und lachte. Jetzt fiel ihm
ein, dass er am Tag zuvor in der Stadt gewesen war und viel-
leicht das große Kaufhaus gefunden hatte, aus dem Elisabet vor
langer, langer Zeit weggerannt war.
Und er beugte sich vor, um das sechste Türchen des Advents-
kalenders zu öffnen. Diesmal gab es ein Bild von einem runden
Turm. Aber das Bild war jetzt nicht so wichtig. Dafür hatte er
später noch Zeit. Erst musste er lesen, was heute auf dem Zettel
stand.
Kaspar
Als das Boot mit Elisabet und dem Engel Efiriel, dem Schäfer
Josua und den drei Schafen an der dänischen Seite des Öresunds
anlegte, nahm sie ein schwarzer Mann feierlich in Empfang.
Elisabet entdeckte ihn als Erste. Der Engel, der ruderte, hatte
dem Land den Rücken zugekehrt. Josua war zu beschäftigt, die
Schafe ruhig zu halten.
»Da steht ein Schwarzer«, sagte sie nur.
Der Engel sah sich kurz um und sagte:
48
»Dann gehört er zu uns.«
Der Schwarze trug einen dunklen Umhang mit Goldknöpfen,
eine rote Trikothose und Lammfellschuhe. Er schritt auf sie zu,
packte das Boot und zog es aufs Land. Die Schafe sprangen als
Erste heraus, nach einer Weile standen auch alle anderen am
Strand.
Der Mann mit den schönen Kleidern bückte sich und gab
Elisabet die Hand.
»Sei mir gegrüßt, mein Kind, und willkommen in Seeland. Ich
bin König Kaspar von Nubien.«
»Elisabet«, sagte Elisabet und machte einen höflichen Knicks.
Sie war so verwirrt, dass sie gar nicht recht wusste, wie sie
sich verhalten sollte. Vielleicht hätte sie sagen sollen, dass sie
Elisabet Hansen aus Norwegen sei, aber das wäre nicht sonder-
lich witzig gewesen, nachdem er sich gerade erst als König von
Nubien vorgestellt hatte.
»Das ist einer der drei Weisen aus dem Morgenland«, flüsterte
Efiriel feierlich.
»Oder einer der Heiligen Drei Könige«, nickte Josua.
Keine dieser Auskünfte machte die Lage für Elisabet leichter.
Der schwarze König beugte sich zu ihr herab und sagte:
»Die Freude ist auf meiner Seite des Öresunds. Ich warte hier
nämlich schon so lange auf euch, dass ich am Ende zwischen
1701 und 1699 Himmel und Hölle spielen musste.«
Das klang so geheimnisvoll, dass sich Elisabet die Augen
reiben musste, um festzustellen, ob sie tatsächlich wach war. Es
war schon schwierig genug, auf dem Asphalt Himmel und Hölle
zu spielen, aber wie machte der Weise das zwischen verschiede-
nen Jahren?
Er erklärte es genauer:
»Als ich im Jahre des Herrn 1701 an diesen Strand kam,
tauchten hier auch einige Fischer auf, und sie bekamen einen
49
solchen Schrecken, als sie einen der Heiligen Drei Könige
entdeckten, dass ich einen Schritt zurücktreten musste. So kam
ich ins Jahr 1700. Ich setzte mich und spähte über den Öresund,
aber nach einer Weile kamen zwei Soldaten aus der Festung in
Kopenhagen geritten. Auch sie erschraken ein wenig, als sie
einen schwarzen König sahen. Im Moment bin ich nämlich der
einzige Schwarze in Dänemark – zumindest der einzige, der
noch dazu ein heiliger König ist. Das erweckt Aufsehen. Alte
Gewohnheiten sitzen tief. Und es kann ziemlich schwer fallen,
sich an eine völlig neue zu gewöhnen. Ich bin deshalb schnell
ins Jahr 1699 zurückgekehrt, seither warte ich hier. Seither sind
mir weder Menschen noch Tiere begegnet. Vor Sonne und
Mond brauchte ich mich ja schließlich nicht zu verstecken, auch
nicht vor den Sternen am Himmel, denn die Sterne sind Gott so
nah, dass sie schon deshalb nie über das Leben der Menschen
auf Erden schwatzen würden.«
Elisabet wusste nicht, ob sie alles verstanden hatte, aber ihr
war klar, dass sie mit einem richtigen Weisen sprach. Er war so
weise, dass sie gar nicht wusste, wohin sie gucken sollte.
Als der Schäfer schließlich mit dem Hirtenstab auf den Boden
stieß, war Elisabet deshalb sehr erleichtert.
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«, sagte Josua.
Und der kleine Pilgerzug setzte sich wieder in Bewegung.
Zuerst die drei Schafe, dann Josua und König Kaspar, am Ende
Elisabet und Efiriel.
Sie liefen über die breiten Pflasterstraßen einer großen Stadt.
Efiriel erklärte, dass sie nun in Kopenhagen waren. Es war so
früh am Morgen, dass die Straßen fast menschenleer waren.
Elisabet fand es einen wunderbaren Anblick, wie eine so große
Stadt so völlig ohne Autos sein konnte. Da machte es auch
nichts aus, dass die Straßen mit Pferdemist übersät waren.
»Die Uhr zeigt 1648«, erklärte der Engel Efiriel. »Es ist das
letzte Regierungsjahr Christians IV. Er wurde schon als kleines
50
Kind zum König von Dänemark und Norwegen gekrönt, was
jetzt bereits viele Jahre her ist.«
»Auch von Norwegen?«, fragte Elisabet.
»Auch von Norwegen, ja. Denn Norwegen gehörte in dieser
Zeit zu Dänemark. Christian IV. hat die Städte Kongsberg und
Kristiansand gegründet. Und er hat Oslo in Christiania umge-
tauft. Er liebte Norwegen sehr und war oft zu Besuch dort.«
Bald hatten sie das Zentrum der dänischen Hauptstadt erreicht.
Sie blieben vor einer Kirche mit einem runden Turm stehen.
»Das ist Rundetårn, der Turm, den König Christian gerade an
die Dreifaltigkeitskirche hat anbauen lassen«, sagte Efiriel.
»Obwohl Kirchtürme ein schöner Anblick sein können, fand er
es schade, den Turm einfach so nutzlos herumstehen zu lassen.
Deshalb ist dieser Kirchturm und Aussichtsturm zugleich, und
Astrologen können dort oben in aller Ruhe die Bahnen der
Planeten und die Stellung der Sterne am Himmel studieren.
Gerade in diesen Tagen werden die ersten Himmelsfernrohre
gebaut.«
»Das ist ja eine seltsame Mischung«, meinte Elisabet.
Ab und zu hatte sie das Gefühl, auch etwas Kluges sagen zu
müssen. Aber wieder schien sie damit kein Glück zu haben,
denn der Weise schüttelte den Kopf.
»Auch die Sterne wurden von Gott erschaffen«, sagte er. »Die
Sterne am Himmel zu studieren, kann deshalb genauso viel wert
sein wie ein Gottesdienst. Aber hier gibt es ja weder Wüsten
noch Kamele.«
Elisabet sah ihn an, und der Weise fuhr fort:
»Die beste Methode, die Sterne zu studieren, ist nach Ansicht
aller heiligen Könige, auf einem Kamelrücken in der Wüste zu
sitzen. Das ist ungefähr so, wie auf einem Turm zu sitzen, aber
ein Kamel kann sich dabei zusätzlich noch von einem Ort zum
andern bewegen, ungefähr so wie die Türme auf einem Schach-
51
brett. Das Einzige, was einem Kamel gewisse Probleme macht,
ist, durch ein Nadelöhr zu gehen.«
Elisabeth blickte verwundert zu dem Weisen. Sie wusste
wirklich nicht, ob sie auch einen Kamelrücken mit einem
Kirchturm gleichsetzen wollte. Und sie wusste genauso wenig,
ob sich eine Wüste mit einem Schachbrett vergleichen ließ.
Kaspar räusperte sich ein paar Mal.
»Der Nachteil solcher Aussichtstürme ist, dass sie in der Regel
ganz still stehen. Ich habe mal einen Turm gesehen, der über
tausend Jahre am selben Fleck gestanden hat. Da müssen die
Mauern die Aussicht am Ende doch satt kriegen. Andererseits
haben sie miterlebt, wie die Menschen gekommen und gegangen
sind, und das hat ihnen vielleicht doch zu größerem Wissen
verholfen.«
Elisabet nickte. Kaspar registrierte es sofort. Mit einer gierigen
Handbewegung sorgte er dafür, dass keiner der anderen das
Wort ergreifen konnte, denn er wollte Elisabet unbedingt noch
mehr erzählen.
»Es gibt genau zwei Möglichkeiten, weise zu werden. Eine ist
die, hinaus in die Welt zu ziehen und sich so viel wie möglich
von Gottes Schöpfung anzusehen. Die andere bedeutet, an einer
bestimmten Stelle Wurzeln zu schlagen und alles, was dort
geschieht, so sorgfältig wie nur möglich zu studieren. Das
Problem ist bloß, dass es absolut unmöglich ist, beides auf
einmal zu tun.«
Wieder war Elisabet sehr verwundert über die Worte des
Weisen. Sicherheitshalber klatschte sie in die Hände, und der
Engel und der Schäfer folgten ihrem Beispiel. Das steckte auch
Kaspar an. Jetzt klatschte er selber in die Hände, weil er so
zufrieden mit dem war, was er gesagt hatte.
Elisabet dachte, es müsste lustig sein, immer so kluge Gedan-
ken zu denken, dass man danach Lust hat zu applaudieren.
Der heilige König schien ihre Gedanken zu lesen. Er sagte:
52
»Kluge Gedanken zu denken ist fast wie ein Besuch im Zirkus.
Dabei rede ich weder von einem Clownszirkus noch von einem
Elefantenzirkus, sondern von einem echten Gedankenzirkus.
Aber natürlich danke ich allen Clowns und Elefanten für ihre
Aufmerksamkeit!«
Josua stieß mit dem Hirtenstab aufs Pflaster:
»Nach Bethlehem!«, sagte er. »Nach Bethlehem!«
Und der Pilgerzug setzte sich wieder in Bewegung – erst die
Schafe, dann Schäfer, Weiser, Engel und Elisabet.
Durch die Stadt ging es hinaus aufs Land, durch wogende
Kornfelder und kühle Laubwälder. Elisabet hielt Dänemark für
ein schrecklich flaches Land, aber das hatte sie ja schon vorher
gewusst. Besonders flach wirkte es, weil es keine hohen
Gebäude gab. Das Einzige, was sich selten mal aus der Land-
schaft erhob, waren die Kirchen, an denen sie vorüberkamen.
Sie sahen das Meer in der Ferne und erreichten eine kleine
Stadt. Efiriel erzählte, dass die Stadt Korsør hieß und am
Großen Belt lag, dem breiten Sund zwischen Fünen und
Seeland.
Die Menschen in der Stadt wären fast umgefallen, als sie den
seltsamen Zug entdeckten. Aber der Schreck dauerte nur einen
kurzen Moment, denn gleich darauf hatte der Zug sich um ein
oder zwei Wochen in der Geschichte der Stadt zurückbewegt.
Und nun entdeckten andere Menschen für ein oder zwei Sekun-
den den Pilgerzug. Deshalb war in jenen Tagen immer wieder
von Engeln und Ähnlichem die Rede.
Josua zeigte schließlich auf ein großes Ruderboot am Wasser.
»Das müssen wir uns ausleihen«, sagte er. »Beeilt euch. Bald
ist es 1600 Jahre nach Christi Geburt.«
Und dann scheuchte er auch schon die Schafe ins Boot.
53
Elisabet fragte den Engel, ob das denn nicht Diebstahl sei. Aber
der Engel erinnerte sie daran, dass Jesus sich auch einen Esel
leihen musste, als er in Jerusalem einzog.
Schließlich fuhren sie alle zusammen über den Großen Belt.
Der Engel nahm das eine Ruder, der schwarze König Kaspar das
andere. Und der Weise musste hart zulangen, um genauso
kräftig zu rudern wie der Engel.
54
7. Dezember
55
gehört er zu uns«, hatte der Engel ganz selbstverständlich
gesagt, als Elisabet den dunkelhäutigen Mann entdeckte.
Alles hatte damit angefangen, dass das kleine Glockenlamm
plötzlich zwischen den vielen Kuscheltieren hervorgeschlüpft
und durch das Kaufhaus davongerannt war, weil ihm das ganze
Einkaufsgeschwätz und das Geklirr der Registrierkassen einfach
zu viel geworden war. Es war zwar vielleicht nicht geplant
gewesen, dass Elisabet hinterherlief, aber später im Wald hatte
der Engel eindeutig auf das Lamm gewartet.
Plötzlich fiel Joachim wieder der weißhaarige Buchhändler
ein. Der hatte gesagt, der Adventskalender sähe wie handge-
macht aus. Das fand Joachim auch. Er wirkte wie zu Hause in
einer Küche gezeichnet und zusammengeklebt. Auf keinen Fall
jedenfalls stammte er aus einer Fabrik. Nur in selbst gemachten
Kalendern konnte man dünne Zettel mit langen Geschichten
finden.
Wenn es Johannes war, der den magischen Adventskalender
gebastelt hatte, dann hatte er doch das Mädchen in der Ge-
schichte bestimmt nach der Elisabet auf dem Bild genannt, das
er einmal ins Schaufenster des Buchhändlers gestellt hatte. Aber
warum? Warum hatte er einen geheimnisvollen Adventskalen-
der gebastelt, um ihn dann im Buchladen zurückzulassen, ohne
zu wissen, was aus ihm werden würde?
Abends, als Joachim ins Bett ging, versuchte er, alle offenen
Türchen des Kalenders wieder fest zuzudrücken, um sich das
große Bild noch einmal gründlich anzusehen. Und da passierte
es wieder, diesmal mit einem der drei Weisen, die hinter dem
Kind in der Krippe knieten. Der Weise hatte genauso dunkle
Haut wie König Kaspar – das war Joachim bisher noch gar nicht
aufgefallen! Er wusste nicht, wie oft er sich schon den magi-
schen Adventskalender angesehen hatte, aber nie hatte er die
schwarze Haut des einen Weisen bemerkt.
56
Warum nur?
War der Kalender etwa wirklich mit magischen Farben gemalt,
die sich dauernd veränderten? Oder gab es auf dem großen Bild
einfach nur so viel zu sehen, dass Joachim nicht alles auf einmal
entdecken konnte?
Wieder hatte er das Gefühl, dass das Bild mit jedem Tag
deutlicher wurde.
Ehe er das Licht ausknipste, warf er einen letzten Blick auf die
Engel und die Hirten auf dem Felde, auf Josef und Maria, die
Weisen und das Jesuskind. Er fand, es müsste ein seltsames
Gefühl sein, ausgerechnet zur Geburt des Jesuskinds in Bethle-
hem zu sein.
Elisabet war dorthin unterwegs, und auf diese Weise nahm
auch er irgendwie an der Reise teil.
4. Schaf
Der Engel Efiriel und König Kaspar hatten Elisabet Hansen, den
Schäfer Josua und die drei Schafe über den Großen Belt
gerudert.
»Jetzt gehen wir wieder an Land«, sagte Efiriel. »Die Insel
heißt Fünen, und es ist genau 1599 Jahre her, dass Jesus in
Bethlehem geboren wurde.«
Vom Strand aus rannten sie los, bis sie ein großes Schloss
erreichten, das auf einer Anhöhe zwischen Wällen und Wallgrä-
ben lag. Der Engel fuhr fort:
57
»Das ist Schloss Nyborg. Wir stehen vor dem ältesten Königs-
schloss Skandinaviens.«
Elisabet zeigte auf einen Wall.
»Da oben geht ein Schaf.«
Der Engel nickte.
»Dann gehört es zu uns.«
Und schon sprangen sie allesamt auf den Wall. Zuerst die drei
Schafe, dann der Schäfer Josua und König Kaspar, schließlich
Elisabet und Efiriel.
Ein Soldat stürzte zwischen den Schlossgebäuden hervor. Er
hob seinen Speer und rief:
»Schafsdiebe!«
Im nächsten Moment kamen noch drei oder vier Soldaten
herbeigestürmt. Alle hatten Speere, einer von ihnen hatte auch
eine Art Gewehr.
Jetzt trat der Engel Efiriel vor die Soldaten. Sie warfen sich zu
Boden und schlugen die Arme über dem Kopf zusammen.
»Fürchtet euch nicht!«, sagte der Engel mit milder Stimme.
»Denn ich verkünde euch eine große Freude. Dieses Schaf wird
mit uns in das Heilige Land ziehen, wo das Jesuskind geboren
wird.«
Nur ein Soldat wagte es aufzublicken. Und zwar der, der sie
»Schafsdiebe« genannt hatte.
»Habt Erbarmen mit uns und nehmt das Schaf mit«, rief er.
Das Schaf hatte sich schon zu den anderen Schafen gesellt, als
ob es bei der kleinen Herde zu Hause wäre. Josua schlug mit
dem Hirtenstab gegen den Wall und sagte:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Und nun wanderten sie über die grüne Insel. Vorn die vier
Schafe, gefolgt von Josua, Kaspar, Efiriel und Elisabet.
58
Am Ufer eines kleinen Flusses kamen sie an einer Stadt mit
engen Straßen und niedrigen Häusern vorbei. Am Stadtrand
stand eine alte Steinkirche mit viereckigem Turm.
»Das ist der Dom von Odense«, sagte Efiriel. »Er ist dem
heiligen Knud geweiht, der hier im Jahr 1086 ermordet wurde.«
Elisabet zeigte auf Efiriels Arm, wo Gold und Perlmutt glänz-
ten.
»Was sagt die Engelsuhr?«
»Sie zeigt 1537 nach Christus. Von nun an wird die Bibel in
allen Sprachen der Welt gedruckt werden, damit alle über Jesus
nachlesen können. Denn vor nicht langer Zeit ist die Buchdru-
ckerkunst erfunden worden. Vorher mussten die Bücher mit der
Hand geschrieben werden, und nur Geistliche hatten Gelegen-
heit, die Bibel zu lesen. Aber bisher haben sowieso nicht viele
Leute Lesen gelernt. Von jetzt an wird aber angeordnet, dass das
ganze Volk zur Schule geht.«
Der König Kaspar hatte den Worten des Engels gelauscht. Er
sagte:
»Vor einigen Jahren trat ein polnischer Sterndeuter namens
Kopernicus an die Öffentlichkeit. Er erzählte, dass die Erde
kugelrund ist und ihre Bahn um die Sonne zieht. Für uns Weise
war das nichts Neues, aber die meisten Leute fanden es sehr neu
und spannend. Jetzt konnten die Seefahrer um den ganzen
Erdball segeln, und auf die Weise gelangte Kolumbus schließ-
lich im Jahr 1492 nach Amerika. Doch dann haben die
spanischen Seeleute die Indianer ziemlich übel behandelt. Nach
Meinung der Heiligen Drei Könige hätten sie sich besser ans
Wüstenschiff gehalten. Denn ein friedlicheres Tier als das
Kamel in der Wüste gibt es nicht, und Friede ist die weihnacht-
liche Botschaft.«
Elisabet verstand ungefähr die Hälfte von dem, was der Weise
gesagt hatte. Und ehe sie sich den Rest überlegen konnte, stieß
der Schäfer Josua wieder mit dem Hirtenstab auf den Boden:
59
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Weiter ging es über einen Höhenzug, der guten Blick auf
Fünen bot. Ab und zu sahen sie unten ein Pferd, das einen Pflug
zog, oder einen Ochsen, der vor einen Karren gespannt war.
»Hier ist es wenigstens nicht mehr so flach«, sagte Elisabet
beim Laufen. »Aber wir sind doch noch immer in Dänemark?«
Der Engel nickte.
»Ja, und die Dänen sind sehr stolz auf solche Hügelketten wie
diese hier. Aber wir sind nicht höher als hundert Meter über dem
Meer. Die Hügel da hinten links nennen sie die ›Fünschen
Alpen‹. Einen anderen Hügelkamm haben sie ›Himmelsberg‹
getauft. Wir im Himmel haben das allerdings immer für eine
gelinde Übertreibung gehalten.«
Sie waren stehen geblieben, und wieder mischte sich Kaspar
ins Gespräch:
»Doch es ist wichtig, sich über das bisschen zu freuen, was
man hat. Egal, wie wenig, es ist immer noch unendlich viel
mehr als nichts.«
Elisabet blieb stehen und dachte gut nach, ehe sie sagte:
»Wenn die Erde genauso rund wäre wie ein Ball, dann dürfte
es auf ihr keinen einzigen Berg geben. Aber dann wäre sogar
eine Geröllhalde schon so spannend wie heute ein Hochgebirge,
jedenfalls, wenn es die einzige Geröllhalde wäre.«
»Siehst du«, nickte Kaspar.
Elisabet zuckte mit den Schultern. Sie wusste nicht so recht,
was er damit sagen wollte.
»Da siehst du, wie leicht kluge Gedanken sich verbreiten«,
fuhr der Weise fort. »Du bist erst seit kurzer Zeit mit einem
Weisen zusammen, aber schon hast du einen Zipfel der himmli-
schen Weisheit verstanden. Bravo!«
60
Elisabet freute sich, dass sie ausnahmsweise mal etwas Kluges
gesagt hatte. Es munterte sie so auf, dass sie gleich noch einen
Versuch machte.
»Und wenn die Erde so klein wäre wie der Mond, würde sich
niemand darüber beklagen, dass sie nicht größer ist.«
Kaspar legte ihr die Hand auf den Kopf.
»Das war ein wahres Wort. Und wenn die Erde nicht größer
wäre als eine Erbse, so wär sie noch immer ein gleich großes
Rätsel. Denn woher wäre die kleine Erbse gekommen? Auch sie
müsste doch letztlich von Gott erschaffen sein. Ich glaube auch
nicht, dass es weniger Anstrengung gekostet hätte, eher im
Gegenteil.«
Das hielt Elisabet nun doch für eine kleine Übertreibung. Denn
wenn die Erde nicht größer wär als eine Erbse, dann wäre auf ihr
nicht mal Platz für Adam und Eva gewesen.
Der Weise schien ihren Protest zu fürchten. Um ihn zu verhin-
dern, ergriff er wieder das Wort:
»Auch wenn es nur einen einzigen Stern am Himmel gäbe,
würde dieser Stern ebenso große Verwunderung erwecken wie
alle anderen Sterne zusammen. Schließlich klagt auch niemand
darüber, dass es nur einen Mond gibt. Ganz im Gegenteil: Wenn
es hundert Monde gäbe, würden sie einander nur im Weg
stehen. Milliarden Sterne am Himmel zu schaffen, war deshalb
eine ziemliche Übertreibung. Wenn es zu viel von etwas gibt,
kann man sich leicht ganz blind sehen. So können wir unter dem
Sternenhimmel gehen und im ganzen Gewimmel keinen
einzigen Stern sehen.«
Das stimmte wirklich, dachte Elisabet. Sie hatte sich oft den
Sternenhimmel angesehen, ohne einen einzigen Stern richtig
wahrzunehmen.
Kaspar fuhr fort:
61
»Nach Ansicht der Heiligen Drei Könige hat Gott die Menschen
ein wenig verwöhnt, weil er zu viel auf einmal erschaffen hat. Er
hat so viele seltsame Dinge erschaffen, dass viele Menschen
Gott nicht mehr sehen. Aber auf diese Weise hat er sich auch
selber verstecken können. Das wäre ihm nicht gelungen, wenn
es nur vier Menschen, drei Bäume und acht Kamele in der
ganzen Schöpfung gäbe. Wenn es im Meer nur einen einzigen
Fisch gäbe, dann hätten die Menschen sicher gesehen, wie
vollkommen er wäre. Und sie hätten sich zudem gefragt, wer ihn
gemacht hätte.«
Er blieb ein Weilchen stehen und sah sich um. Elisabet glaub-
te, dass er wieder auf Applaus für seine weisen Worte wartete.
Sicherheitshalber klatschte sie in die Hände. Und schon applau-
dierten auch die anderen.
»Aber, aber«, sagte Kaspar. »So großartig war das nun auch
wieder nicht!«
Aber dann schien er seine Meinung doch rasch zu ändern:
»Obwohl es ja unendlich mehr war als nichts.«
Der Pilgerzug näherte sich gerade einer kleinen Stadt an einem
schmalen Sund.
»Der Sund ist der Kleine Belt, und die kleine Stadt heißt
Middelfart«, sagte Efiriel. »Die Uhr zeigt 1504 nach Christus.«
Ehe Elisabet fragen konnte, wie sie den Sund überqueren
sollten, lief Josua auf ein Boot zu, das diesmal an einem kleinen
Steg vertäut war. Im Boot saß ein junger Mann und warf die
Angel aus. Als er den Engel Efiriel sah, fiel ihm die Angel ins
Wasser, und er warf sich im Boot zu Boden.
»Hab keine Angst!«, sagte Efiriel. »Wir sind Pilger auf dem
Weg ins Heilige Land, wo Jesus geboren wird. Kannst du uns
über den Kleinen Belt rudern?«
»Amen«, antwortete der Fährmann. »Amen, amen.«
62
Der Engel wusste, dass Amen »ja« hieß. Also stiegen die vier
Schafe und der restliche Pilgerzug in das Boot.
Während der Fährmann sie über den Sund ruderte, starrte er
immer nur den Engel Efiriel an. Sicher sah er zum ersten Mal
einen richtigen Engel. Nicht mal den schwarzen König Kaspar
würdigte er eines einzigen Blickes.
Elisabet dachte nach.
Wenn der Engel nicht dabei gewesen wäre, dann hätte der
Fährmann wohl Kaspar angestarrt. Und wenn der auch nicht
dabei gewesen wäre, hätte er sie vielleicht auch einmal angese-
hen. Dass es in der Welt derart zuging, fand sie ziemlich
schäbig.
Am gegenüberliegenden Ufer sprangen die Schafe wieder aus
dem Boot, und die andern dankten dem Fährmann und verab-
schiedeten sich. Er selber wiederholte immer wieder:
»Amen, amen …«
Joachim hatte den Zettel gerade gelesen, als Mama ins Zimmer
kam. Er knüllte das dünne Papier rasch zusammen, doch Mama
merkte, dass er irgendwas vor ihr verbarg:
»Was hast du denn da in der Hand?«
»Nichts«, sagte er. »Nur Luft.«
»Zeig doch mal!«
Aber Joachim ballte die Faust so fest um sein Papier, dass
seine Fingerknöchel ganz weiß wurden.
»Das ist ein Weihnachtsgeschenk«, sagte er.
Das Wort »Weihnachtsgeschenk« wirkte wie ein Zauberwort.
Jedenfalls lächelte Mama plötzlich.
»Für mich?«
Joachim nickte, es stimmte ja auch.
63
»Dann will ich es gar nicht sehen«, sagte Mama. »Aber es muss
ja ein winzig kleines Weihnachtsgeschenk sein.«
»Es ist unendlich viel größer als nichts«, sagte Joachim.
Mama ging ins Badezimmer.
Joachim fand es seltsam, dass alles, was mit Weihnachten zu
tun hatte, etwas Besonderes war. Das gehörte zu den allergröß-
ten Geheimnissen der Welt.
Aber in einem Punkt irrte sich Mama. Was er in der Hand
hielt, war nun wirklich kein kleines Weihnachtsgeschenk.
64
8. Dezember
65
Er setzte sich auf. Und sein erster Gedanke galt dem magi-
schen Adventskalender über dem Kopfkissen.
Mama schien seine Gedanken zu lesen:
»Für den Adventskalender hast du aber trotzdem gerade noch
Zeit.«
Nein!, dachte Joachim.
Er konnte doch den magischen Adventskalender nicht aufma-
chen, wenn Mama zusah. Da würde sie ja merken, dass ein
zusammengefalteter Zettel herausfiel, und das durfte sie doch
auf gar keinen Fall. Sie sollten ja schließlich das größte Weih-
nachtsgeschenk der Welt werden für Mama und Papa.
»Ich glaube, du bist noch gar nicht ganz wach«, fuhr Mama
fort. »Soll ich den Adventskalender heute aufmachen?«
»Nein!«, sagte Joachim so laut und deutlich, dass Mama
zusammenfuhr.
Es war das allererste Wort, das er an diesem Morgen sagte.
Alles andere hatte er nur gedacht.
»Ich warte lieber bis nach der Schule. Dann … hab ich mehr
Zeit.«
Er sprang aus dem Bett, um sicherzugehen, dass Mama nicht
doch den Kalender aufmachte.
»Wie du willst«, sagte sie. Und ging in die Küche, während
Joachim sich anzog.
Als er aus der Schule zurückkam, stand ein fremder Mann in der
Nähe vom Gartentor. Da er den Mann nicht kannte, tat Joachim
so, als ob er ihn nicht gesehen hätte. Er öffnete das Tor und
machte es hinter sich wieder zu. Aber nun kam auch der fremde
Mann zum Tor.
»Heißt du Joachim?«, fragte er.
66
Joachim blieb auf dem Gartenweg stehen, den Papa morgens
vom Schnee befreit hatte, und drehte sich zu dem Mann um. Der
Mann war ziemlich alt und sah irgendwie sehr lieb aus. Trotz-
dem gefiel es Joachim nicht, dass ein Unbekannter seinen
Namen wusste. Aber was sollte er machen? Er musste ja wohl
antworten.
»Ja«, sagte er. »So heiß ich.«
Der Mann nickte. Er trat ans Tor heran und beugte sich her-
über. Auf dem Kopf trug er einen grünen Filzhut.
»Das hab ich mir gedacht.«
Er hatte eine etwas seltsame Stimme. Vielleicht war er gar
kein Norweger.
»Du hast einen schönen Adventskalender.«
Joachim fuhr zusammen. Woher wusste der Mann etwas von
dem Kalender?
»Einen magischen Adventskalender«, antwortete er.
Wieder nickte der alte Mann.
»Einen magischen Adventskalender, ja. Preis: 75 Öre … Ich
heiße Johannes. Ich verkaufe Blumen auf dem Markt.«
Joachim verschlug es die Sprache. Im Adventskalender hatte
er über Menschen gelesen, die plötzlich einen Engel sahen. Jetzt
war es, als ob er selbst Besuch von einem Engel bekommen
hätte.
Joachim war so feierlich zu Mute, dass er gern etwas Wichti-
ges gesagt hätte, aber er brachte nur heraus:
»Woher weißt du, wo ich wohne?«
Der alte Johannes schmunzelte. Er sagte:
»Gute Frage. Ich gehe oft in den Buchladen, weißt du, da
gefällt es mir. Und ich wollte doch hören, was aus dem alten
Kalender geworden ist.«
Joachim nickte, und der alte Mann fuhr fort:
67
»Gut, dass dein Vater seinen Führerschein vergessen hat.
Sonst wäre es viel schwieriger gewesen, dich zu finden. Aber
früher oder später wärst du ja sicher zu mir auf den Markt
gekommen, glaube ich. Meinst du nicht?«
Wieder nickte Joachim. Die Idee war ihm tatsächlich schon
gekommen.
Ein Weilchen schwiegen sie beide. Schließlich fragte Joachim:
»Weißt du, dass im Adventskalender geheimnisvolle Zettel
stecken?«
Der alte Mann lächelte geheimnisvoll.
»Wenn überhaupt jemand auf der Welt, dann wohl ich. Und
jetzt natürlich auch du.«
Joachim blickte zu ihm hoch:
»Ist der selbst gemacht?«
Wieder schmunzelte Johannes.
»Ganz und gar, ja – und sehr alt. Hast du heute schon das
achte Türchen aufgemacht?«
Joachim schüttelte den Kopf.
»Ich muss es machen, wenn meine Eltern nicht zusehen, ich
will doch nicht, dass sie etwas von den Zetteln erfahren. Die will
ich doch Heiligabend alle zusammen einpacken und dann unter
den Weihnachtsbaum legen.«
Johannes schlug die Hände zusammen:
»Gute Idee! Aber was ist mit gestern? Da haben sie doch ein
Schaf aus dem alten Schloss auf Fünen mitgenommen, und der
Engel Efiriel musste zu allen Wachen im Schloss ›Fürchtet euch
nicht!‹ sagen.«
Joachim bekam es fast mit der Angst zu tun, weil Johannes
alles wusste.
»Hast du den magischen Adventskalender gemacht?«, fragte
er.
68
»Ja und nein …«
Joachim fürchtete, Johannes könnte wieder gehen. Deshalb
stellte er schnell noch mehr Fragen:
»Ist das im Kalender wirklich passiert – oder hast du dir alles
nur ausgedacht?«
Johannes machte ein ernstes Gesicht.
»Gut, dass du fragst … aber es ist nicht immer leicht zu ant-
worten.«
Joachim sagte:
»Ich wüsste nur gern, ob die Elisabet im magischen Advents-
kalender dieselbe ist wie die auf dem Bild, das du beim
Buchhändler ins Schaufenster gestellt hast.«
Johannes seufzte tief:
»Von dem Bild hat er dir also auch erzählt? Na ja, ich habe
wohl nicht mehr viel zu verbergen, dazu bin ich zu alt. Aber
noch ist nicht Weihnachten, deshalb reden wir lieber ein
andermal über Elisabet.«
Er trat einen Schritt zurück.
»Sabet … Tebas«, murmelte er vor sich hin.
Joachim begriff nicht, was er damit meinte, aber vielleicht
hatte er es ja gar nicht hören sollen. Schließlich sagte Johannes:
»Jetzt muss ich gehen. Aber wir sehen uns wieder, denn die
alte Geschichte verbindet uns Menschen.«
Er entfernte sich mit raschen Schritten und war bald ver-
schwunden.
Joachim ärgerte sich, dass er nicht genug Zeit gehabt hatte, all
seine Fragen loszuwerden. Er hätte zumindest fragen sollen, ob
sich das große Kalenderbild veränderte, während er die kleinen
Zettel las.
Jetzt stürzte er ins Haus und öffnete das Türchen mit der Acht.
69
Heute enthielt es das Bild eines Schäfers, der ein Lamm auf der
Schulter trug.
Joachim hob den dünnen Zettel auf, faltete ihn vorsichtig
auseinander und las:
Jakob
An einem der letzten Tage des Jahres 1499 nach Christi Geburt
stiegen vier Schafe, ein Schäfer, ein heiliger König, ein Engel
und ein kleines Mädchen aus Norwegen aus einem Boot, mit
dem sie über den Kleinen Belt nach Jütland gekommen waren.
Das Boot hatte ein Fährmann gerudert, der nur ein einziges Wort
über die Lippen brachte: »Amen«. Zum Ausgleich hatte er
dieses einzige Wort sehr oft gesagt.
»Zum Glück!«, rief Kaspar, als sie an Land gingen.
»Ja, jetzt dauert es lange bis zum nächsten Mal«, antwortete
Josua.
Der Engel Efiriel nickte:
»Wahrlich, ich sage euch, dass es nur noch einmal geschehen
wird, bis wir nach Bethlehem kommen.«
Weil sich die drei so einig waren, wurde Elisabet um so deutli-
cher, wie wenig sie begriff, wovon die Rede war.
»Ist es nicht noch schrecklich weit bis Bethlehem?«, fragte sie.
»Doch«, erklärte der Engel. »Sehr weit, und noch dazu viele
hundert Jahre. Aber wir müssen nur noch einmal ein Meer
überqueren, nämlich das Schwarze.«
Nach dieser Erklärung setzte sich der Pilgerzug wieder in
Bewegung: Hinter vier übermütigen Schafen liefen der Schäfer
Josua und der König Kaspar, der Engel Efiriel und Elisabet
Hansen aus Norwegen. Einige Zeit später kamen sie zu einer
70
Stadt, die weit hinten in einer Bucht lag. Am einen Ende der
Stadt gab es eine große Festung.
»Die Stadt heißt Kolding und liegt in Südjütland«, sagte der
Engel. »Kolding ist schon seit vielen hundert Jahren eine
wichtige Handelsstadt. Die Festung heißt Koldinghus und wurde
oft von dänischen Königen bewohnt. Es ist 1488 nach Christi
Geburt.«
Aber der Schäfer Josua stieß mit dem Hirtenstab auf den
Boden:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Sie erreichten einen kleinen Höhenzug mit schöner Aussicht
über die Landschaft. Überall wuchsen frische Blumen. Bestimmt
war es noch Frühsommer.
Elisabet zeigte im Laufen auf den Boden:
»Seht nur die schönen Wiesenblumen!«, rief sie.
Der Engel nickte geheimnisvoll.
»Das ist ein Zipfel der himmlischen Herrlichkeit, der sich auf
die Erde verirrt hat«, erklärte er. »Im Himmel gibt es nämlich so
viel Herrlichkeit, dass sie sich leicht ausbreitet.«
Elisabet dachte über die Worte des Engels nach und bewahrte
sie in ihrem Herzen.
Plötzlich blieb der Schäfer stehen und zeigte auf die kleine
Schafherde:
»Da fehlt ein Lamm!«
Mehr brauchte er nicht zu sagen, denn alle sahen, dass das
kleine Glockenlamm, das einst aus einem Kaufhaus in Norwe-
gen weggelaufen war, wie vom Erdboden verschluckt war.
»Wo steckt es denn bloß?«, rief Elisabet, obwohl der Schäfer
doch gerade gesagt hatte, dass es verschwunden war.
Josua schüttelte den Kopf.
71
»In der Regel sind sie so süß und haben ein so weißes Fell,
dass sie der reine Augenschmaus sind. Aber sie sind auch so
wild, dass sie fast nicht zu lenken sind. Es hilft nicht immer,
ihnen eine Glocke umzubinden. Wenn ich nach dem einen
Lamm sehe, ist plötzlich das andere verschwunden. Und wenn
ich dann das andere Lamm gefunden habe, hat inzwischen das
erste Lamm die Gelegenheit genutzt, von der Herde wegzulau-
fen. Das Schäferhandwerk ist ein schwieriges Metier. Vor allem,
wenn man eine Schafherde bis nach Bethlehem bringen soll.
Wie es geschrieben steht, muss ich jetzt die anderen Schafe
verlassen, um das verschwundene Lamm zu suchen.«
Elisabet spürte, wie ihr Tränen in die Augen traten. Aber der
Schäfer Josua hatte seinen Satz noch nicht ganz beendet, als ein
Mann auf einem Hügelkamm auftauchte. Er trug genau die
gleichen Kleider wie Josua. Und auf seinen Schultern lag das
Glockenlamm.
»Der gehört zu uns«, sagte Efiriel.
Der Mann legte Elisabet das Lamm zu Füßen, reichte Josua
die Hand und sagte:
»Ich bin der Schäfer Jakob und der zweite Hirte auf dem
Felde. Jetzt werde ich meinen Teil der Verantwortung für die
Herde übernehmen, die in Bethlehem den neuen König begrü-
ßen soll, der in Davids Stadt geboren wird.«
Elisabet klatschte in die Hände. Josua stieß mit seinem Stab
auf den Boden und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Hinter der kleinen Herde liefen die zwei Schäfer her, gefolgt
von König Kaspar, dem Engel Efiriel und Elisabet.
Als sie an der alten Handelsstadt Flensburg vorbeiliefen, sagte
der Engel Efiriel:
»Es ist 1402 nach Christi Geburt. Bald werden wir die deut-
sche Grenze überqueren und ins Mittelalter eintauchen.«
72
Joachim blieb stehen und dachte nach. Der Engel Efiriel hatte
die Blumen auf dem Felde als einen Zipfel der himmlischen
Herrlichkeit bezeichnet, der sich auf die Erde verirrt hatte. Denn
im Himmel gäbe es so viel Herrlichkeit, dass sie sich leicht
ausbreite. Sicher konnte nur ein Blumenverkäufer so etwas
schreiben. Er erzählte seinen Eltern nichts von Johannes’
Besuch. Sonst hätte er womöglich auch noch das Geheimnis der
dünnen Zettel verraten müssen.
Joachim hatte jetzt so viele Geheimnisse im Kopf, dass er ihm
jederzeit platzen konnte.
73
9. Dezember
74
Joachim dachte den Rest des Nachmittags an nichts anderes.
Sabet … Tebas.
Wer oder was waren Sabet und Tebas? Hatten die seltsamen
Worte auch etwas mit dem magischen Adventskalender zu tun?
Vor dem Schlafengehen schrieb er die beiden Wörter in ein
kleines Notizbuch, um sie nicht über Nacht zu vergessen. Dabei
machte er eine seltsame Entdeckung: SABET wurde, wenn man
es rückwärts las, TEBAS. Und umgekehrt wurde aus TEBAS
auch SABET.
Sehr geheimnisvoll, dachte Joachim. Und er spielte ein biss-
chen mit den beiden Wörtern, bis er sie schließlich so in sein
Buch schrieb:
75
Eltern nichts von der Begegnung mit Johannes erzählt. Denn
dann hätte er auch das Geheimnis der Zettel verraten müssen.
Rasch öffnete er den Adventskalender, ehe Mama und Papa
wach wurden. Das Bild zeigte einen Flöte spielenden Mann.
Viele Kinder, große und kleine, folgten dem Mann.
Joachim musste das Bild erst lange ansehen, bevor er den
Zettel aufhob, der aus dem Kalender gefallen war. Dann machte
er es sich im Bett bequem und las, was darauf stand:
5. Schaf
Es war das Jahr 1378 nach Christus. Drei heilige Schafe und ein
Glockenlamm drängten in die Hansestadt Hamburg. Der kleinen
Herde folgten zwei Schäfer in hellblauen Kitteln. Einer trug
einen Hirtenstab, wie man sie oft in südlichen Ländern sieht.
Hinter den Schäfern versuchte ein kleines Mädchen, mit ihm
Schritt zu halten. Und hinter dem Mädchen folgte noch ein
Engel.
Es war Sonntag früh. Auf den Straßen war wieder kaum
jemand unterwegs, außer denen, die gerade zur Frühmesse in der
alten Jakobi-Kirche unterwegs waren. Als sie den Pilgerzug
erblickten, fingen sie wild an zu gestikulieren. Einige hielten
sich sogar die Augen zu, und einer rief:
»Gelobt sei Gott!«
Etwas ganz Ähnliches passierte dann auch einige Jahre früher
in Hannover. Und zwar im Jahr 1351, gleich nach der fürchterli-
chen Pest, die nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa
viele Menschenleben forderte. Es war ein Montag, und die
Buden auf dem großen Marktplatz öffneten gerade. Bauern in
abgenutzten Friesjoppen und Marktfrauen in groben Röcken
legten ihre Waren aus. Sie alle hatten während der Pest einen
geliebten Menschen verloren.
76
Plötzlich lief eine kleine Schafherde auf den Markplatz. Ein
Schaf warf einen Tisch mit Gemüse um. Dann folgte den
Schafen ein seltsamer Zug: zwei Schäfer, ein Mann in fremdar-
tigen Kleidern – er hatte schwarze Haut. Hinter dem Schwarzen
folgte eine weiß gekleidete Gestalt mit zwei Flügeln. Ganz zum
Schluss tauchte noch ein kleines Mädchen auf. Es stolperte über
die Deichsel eines Karrens mit Kohl, fiel hin und blieb liegen,
während der Rest des heiligen Pilgerzugs schon wieder den
Marktplatz verließ.
Elisabet weinte, als sie den Engel Efiriel und die anderen
verschwinden sah. Zum zweiten Mal auf der langen Reise war
sie gestürzt.
Beim ersten Mal hatte sie das Lamm verloren, das aus dem
großen Kaufhaus weggelaufen war. Jetzt hatte sie den ganzen
Pilgerzug verloren und war auf einmal von lauter fremden
Menschen umgeben. Sie befand sich nicht nur in einem fremden
Land, sondern auch in einem fremden Jahrhundert.
Die Menschen auf dem Marktplatz waren ganz außer sich über
das, was sie eben gesehen hatten. Vorsichtig umringten sie
Elisabet, und ein Mann stieß sie so mit dem Fuß an, als ob er
Angst hätte, sie zu berühren. Er rümpfte die Nase und grunzte
hässlich. Aber dann half eine alte Frau doch Elisabet wieder auf
die Füße und versuchte sogar, sie zu trösten. Sie sprach aber
eine Sprache, die Elisabet nicht verstand.
»Ich will nach Bethlehem«, sagte Elisabet.
Die Marktfrau fragte:
»Hameln? Hameln?«
»Nein«, schluchzte Elisabet. »Bethlehem, nach Bethlehem.«
Im nächsten Moment flog plötzlich ein Engel des Herrn über
dem Marktplatz einen Bogen. Elisabet streckte die Hände nach
ihm aus und rief:
»Efiriel! Efiriel!«
77
Die Menschen auf dem Marktplatz warfen sich zu Boden, als
der Engel Elisabet emporhob, mit ihr über den Turm der neuen
Kirche schwebte und dann verschwand.
Efiriel setzte sie auf einer Landstraße vor der Stadt ab. Dort
warteten schon die Schafe, die Schäfer und König Kaspar.
Glücklich über die Ankunft Elisabets klatschten die drei Männer
in die Hände.
»Hab ich’s nicht gesagt«, schmunzelte Josua. »Wenn sich ein
Lamm verirrt, muss der Schäfer die Herde verlassen und das
verirrte Lamm suchen gehen.«
Und gleich stieß er mit dem Hirtenstab auf den Boden und rief
zum Aufbruch:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Nach einer Weile erreichten sie eine Stadt an einem Flussufer.
»Das ist Hameln«, erzählte Efiriel. »Der Fluss heißt Weser,
und die Uhr zeigt 1304 nach Jesu Geburt. Vor einigen Jahren ist
hier in der Stadt ein schreckliches Unglück passiert … na ja …
in gewisser Hinsicht waren die Leute selbst schuld, sie hatten
nämlich ein feierliches Versprechen gebrochen.«
Elisabet schaute zu Efiriel hoch.
»Was war denn da?«
»In der Stadt tummelten sich seit langer Zeit die Ratten. Dann
kam ein Rattenfänger. Er spielte auf einer Zauberflöte, und alle
Ratten liefen hinter ihm her. Auf diese Weise konnte der
Rattenfänger die Tiere zum Fluss führen, wo sie schließlich alle
ertranken.«
»War das denn nicht gut?«
»Doch, aber die Stadt hatte dem Mann eine hohe Belohnung
versprochen, wenn er sie von der Rattenplage befreite. Als er die
Ratten jedoch ertränkt hatte, weigerten sich die Leute zu
zahlen.«
»Und was hat der Rattenfänger gemacht?«
78
»Er fing wieder an, auf seiner Zauberflöte zu spielen, und
plötzlich wurden alle Kinder der Stadt wie verhext und liefen
ihm hinterher. Sie verschwanden mit ihm in einem hohen Berg.
Seitdem hat sie niemand mehr gesehen.«
Elisabet begriff, dass die Frau auf dem Markt in Hannover sie
für eins der Kinder gehalten hatte, die vom Rattenfänger zu
Hameln in den großen Berg gelockt worden waren.
Sie hätte gern noch Fragen zu dem Rattenfänger gestellt. Aber
die anderen wollten endlich weiter durch Europa und weiter
zurück in der Geschichte.
Nach einer Weile kam plötzlich ein Schaf die Landstraße
entlang auf sie zugelaufen und gesellte sich zu den anderen
Schafen. Jetzt bestand die Herde schon aus fünf Tieren.
79
Papa klang jetzt ein bisschen energischer als sonst.
»Das stimmt nicht, Joachim. Du hast vom Rattenfänger zu
Hameln erzählt, und das ist eine alte deutsche Sage. Wer hat dir
davon erzählt?«
Was sollte er antworten? Er musste jetzt ganz schnell eine gute
Idee haben.
»Ingvild«, sagte er. Das war seine Lehrerin. »Oder irgendje-
mand aus unserer Klasse. Ich weiß es schon gar nicht mehr.«
Er log. Aber durfte man nicht lügen, wenn es um Weihnachts-
geschenke ging? Waren sie nicht das Einzige auf der Welt,
wofür man lügen durfte, so viel man wollte?
Immerhin ließen ihn Papa und Mama nach dieser Lüge in
Ruhe, und er kam ohne weitere Fragen in die Schule.
Nach der Schule ging Mama mit Joachim in die Stadt, um eine
neue Winterjacke zu kaufen. Und auf dem Heimweg fragte
Joachim, ob sie nicht noch auf den Markt gehen könnten.
Es waren nicht so viele Menschen auf dem Markt wie im
Sommer. Einige verkauften Adventskränze und Kerzen, andere
Weihnachtsbasteleien und Baumschmuck.
»Dass die das aushalten, hier im Winter herumzustehen«, sagte
Mama fröstelnd. »Dahinten verkauft sogar jemand Blumen.«
Etwas in Joachim lachte.
»Das liegt daran, dass sich ein Stück der himmlischen Herr-
lichkeit auf die Erde verirrt hat«, sagte er.
Mama zerrte an seiner Hand.
»Was sagst du denn da schon wieder Seltsames?«
»Er verkauft mitten im Winter Blumen, weil sich die himmli-
sche Herrlichkeit auf die Erde verirrt hat«, sagte Joachim. »Im
Himmel gibt es nämlich so viel Herrlichkeit, dass sie sich sehr
leicht verbreitet.«
80
Mama schüttelte den Kopf und seufzte resigniert. Es gefiel ihr
nicht, dass Joachim so viele seltsame Wörter benutzte.
Johannes stand hinter einem Tisch mit vielen Blumen. Er
zwinkerte Joachim mit einem Auge zu und winkte ganz leicht
mit einer Hand.
Als sie an ihm vorbei waren, drehte sich Joachim noch mal
um. Jetzt tat Johannes so, als ob er auf einer unsichtbaren Flöte
spielte.
81
10. Dezember
Joachim wachte auf und öffnete als Erstes das zehnte Türchen
des magischen Adventskalenders. Heute war ein Bild von einem
Engel auf einer Kirchturmspitze dahinter. Und wieder fiel ein
82
dünnes, viele Male zusammengefaltetes Papier aus dem Kalen-
der. Joachim faltete es vorsichtig auseinander und las:
Umuriel
83
zu. Noch vor seiner Landung begriff Elisabet, dass der Vogel
gar kein Vogel war. Was auf der Kirchturmspitze gesessen hatte,
war ein Engel. Aber kein erwachsener Engel, er war nämlich
nicht größer als sie selbst.
Der kleine Engel landete genau vor Elisabets Füßen.
»Herrlich!«, rief er. »Ich heiße Umuriel und komme mit nach
Bethlehem.«
Er wirbelte ein wenig herum, blickte zu Kaspar und den bei-
den Schäfern hoch und war überhaupt ziemlich wuselig. Am
Ende sah er Efiriel an und sagte:
»Ich warte hier wirklich schon eine Viertelewigkeit.«
Kaspar dachte nach. Dann räusperte er sich energisch, es war
deutlich, dass er etwas auf dem Herzen hatte.
»Eine Viertelewigkeit«, begann er. »Das sind ungefähr 66289
Jahre … oder annähernd 156 498 Jahre … oder genauer gesagt
439 811 977 Jahre und vier Sekunden … oder vielleicht noch
ein bisschen mehr. Denn es ist nicht so leicht, genau zu sagen,
wie lange eine Viertelewigkeit dauert. Erst muss man herausfin-
den, wie lange eine ganze Ewigkeit dauert, dann muss man die
ganze Ewigkeit durch 4 teilen, aber die ganze Ewigkeit ist sehr
schwer zu berechnen. Egal, von welcher Zahl man ausgeht, ist
die Ewigkeit nämlich immer noch ein bisschen länger. Man
kann deshalb sagen, dass eine Viertelewigkeit genauso lang ist
wie eine ganze Ewigkeit. Selbst ein Tausendstel Ewigkeit ist im
Grunde genauso lang wie der Rest der Ewigkeit. Das ist sehr
schwer zu verstehen, denn nur der Himmel kann mit ganzen
oder halben Ewigkeiten rechnen.«
Der Engel Umuriel schielte beleidigt zu dem Weisen hoch, der
ihm so über den Mund gefahren war.
»Jedenfalls habe ich viele Stunden auf dem Kirchturm geses-
sen«, sagte er.
Wieder räusperte sich Kaspar.
84
»Gut möglich, dass du damit Recht hast, aber es ist trotzdem
nicht dasselbe wie eine Viertelewigkeit.«
Damit zwischen dem Weisen und dem Engelskind weder ein
ganzer noch ein Viertelstreit entbrannte, stieß der Schäfer Josua
energisch mit dem Hirtenstab aufs Pflaster und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Und schon liefen sie durch die Stadt und danach über Straßen
und Ziegenpfade, Umuriel als Erster, vor den fünf Schafen. Auf
diese Weise hatte der Pilgerzug jetzt vorn und hinten einen
Schutzengel.
Unterwegs sahen sie viele Städte und Dörfer, hielten aber erst
wieder an, als sie auf dem anderen Rheinufer die alte römische
Garnisonsstadt Köln erblickten. Efiriel hatte ihnen erklärt, dass
er ihre Wanderung durch Europa so geplant hatte, dass so
wenige Menschen wie möglich sie entdecken konnten.
»Die Engelsuhr zeigt 1272 nach Christus«, sagte er und zeigte
auf eine große Kathedrale, die am Rheinufer erbaut wurde. »Wir
sehen, dass sie jetzt mit dem Bau des großen Kölner Doms
begonnen haben, aber erst in vielen hundert Jahren werden sie
die Kathedrale vollenden.«
Wieder schlug Josua mit dem Hirtenstab und forderte sie auf:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Aber die Pilgerschar hatte sich gerade erst in Bewegung
gesetzt, als vorn eine dünne Stimme erklang. Es war Umuriel:
»Spitzenmäßige Gegend hier, Leute! Wir ziehen jetzt durch
das märchenhafte Rheintal. Hier gibt es Burgen und Schlösser,
steile Weinberge und gotische Kathedralen, Löwenzahn und
Rhabarber.«
Sie folgten dem Ufer des größten Flusses, den Elisabet je
gesehen hatte. Im Vergleich zum Rhein war die Glomma in
Norwegen nur ein kleiner Bach.
85
Das Tal wurde immer enger, die Berge immer höher. Sie
kamen an kleinen Städten und Dörfern vorbei. Auf dem Fluss
segelte ab und zu ein Boot.
Während sie durch die schöne Natur liefen, fragte Elisabet den
Engel Efiriel, ob ihm eigentlich Umuriel schon früher mal
begegnet sei.
Der Engel fand die Frage so komisch, dass er losprusten
musste.
»Alle Engel im Himmel kennen sich. Schon seit aller Ewig-
keit«, sagte er.
»Gibt es denn viele von euch?«
»Ja, natürlich, eine ganze Heerschar.«
»Und wie könnt ihr euch da alle kennen?«
»Wir hatten doch schon die ganze Ewigkeit, uns miteinander
bekannt zu machen. Das ist, wie gesagt, sehr lang.«
Elisabet musste lange überlegen, bis sie begriff, was Efiriel
meinte. Und der Engel erklärte noch einmal ein bisschen
bildhafter:
»Zu einem Fest, das nur drei Stunden dauert, solltest du lieber
nicht mehr als fünf oder sechs Gäste einladen, damit alle
miteinander reden können. Aber wenn das Fest drei volle Tage
dauert, können gut und gern fünfzig oder mehr Gäste kommen.«
Elisabet nickte, über das Thema hatte sie vor jedem Ge-
burtstagsfest mit ihrer Mutter diskutiert.
»Ja?«, fragte sie.
Der Engel breitete die Arme aus.
»Das himmlische Fest dauert schon seit aller Ewigkeit.«
Elisabet hatte das Gefühl, jetzt ein wenig vom Leben im
Himmel zu begreifen. Sie wollte natürlich gern noch mehr
wissen und fragte:
»Haben alle Engel im Himmel unterschiedliche Namen?«
86
»Aber sicher. Sonst könnten wir uns doch gar nicht gegensei-
tig rufen. Dann wären wir auch keine Personen!«
Und Efiriel zählte der Reihe nach alle Engelsnamen auf:
»Die Engel im Himmel heißen Ariel, Beriel, Curruciel, Daniel,
Efiriel, Fabiel, Gabriel, Hammurabiel, Immanuel, Joakiel,
Kakduriel, Luxuriel, Michael, Narriel …«
»Das reicht«, meinte Elisabet. »Wie lange würdest du brau-
chen, um alle Engelsnamen aufzusagen?«
»Das würde in der Tat bis in alle Ewigkeit dauern.«
Elisabet schüttelte verzweifelt den Kopf:
»Dann ist es ja wirklich eine Leistung, alle Namen auswendig
zu wissen.«
»Wenn man die ganze Ewigkeit zur Verfügung hat, ist es gar
nicht so schlimm.«
Elisabet war es jetzt ziemlich schwindlig. Aber sie ließ nicht
locker:
»Ich finde es toll, sich so viele Namen auszudenken, die alle
auf -el enden.«
Der Engel Efiriel nickte.
»Gottes Phantasie ist genauso unendlich wie die Zahl der
Sterne am Himmel. Keine zwei Engel sind jemals ganz gleich,
wie ja auch keine zwei Menschen. Es ist vielleicht möglich,
tausend absolut gleiche Maschinen herzustellen. Aber die sind ja
auch so leicht zu bauen, dass selbst ein Mensch das schaffen
kann.«
Am Ende sagte der Engel Efiriel einige Worte, die Elisabet
fest in ihrem Herzen bewahrte.
»Jeder Mensch auf Erden ist eine ganze Schöpfung für sich.«
87
schaffte es nicht mehr, den Zettel in der geheimen Schatulle zu
verstecken. Rasch schob er ihn, so gut es ging, unter sein
Kopfkissen.
Mama kam ins Zimmer und beugte sich über das Bett, um den
Kalender anzusehen.
»Ein Engel«, sagte sie. »Auf einem Kirchturm.«
Jetzt passierte etwas so Dummes, dass Joachim noch den
ganzen Tag daran denken musste. Er vergaß schon wieder, dass
er nicht darüber reden durfte, was er auf dem Zettel gelesen
hatte, und sagte:
»Das ist doch das Engelskind Umuriel.«
Mama sah ihn an:
»Umuriel?«
Joachim nickte. Er fand ›Umuriel‹ einen guten Namen für
einen Spaßvogel von einem Engel, so gut, dass er ihn in Gedan-
ken immerzu wiederholt hatte, ehe er sich dann bei Mama nicht
bremsen konnte.
»Er sitzt oben auf der Bartholomäuskirche. Da hat er schon
eine Viertelewigkeit gewartet, aber jetzt wird er gleich abheben
und in Schlangenlinien zu Elisabet und den anderen hinunter-
fliegen.«
Mama sagte erst gar nichts. Dann rief sie Papa. Als er ins
Zimmer kam, bat sie Joachim, noch einmal den Namen der
Kirche zu wiederholen.
Ach herrje! Erst jetzt ging Joachim auf, daß er zu viel gesagt
hatte.
»Bartholomäuskirche«, sagte er. »Bartholomäus ist bis nach
Indien gewandert, um dort von Jesus zu erzählen. Aber die
Kirche liegt in Deutschland, in Paderburg oder so.«
Mama und Papa tauschten einen langen Blick.
»Ich sehe mal im Lexikon nach«, sagte Papa. »Dann werden
wir’s ja wissen.«
88
Als er zurückkam, machte er ein Gesicht, als ob er ein Ge-
spenst gesehen hätte. Oder zumindest im Flur ein oder zwei
Engeln begegnet wär.
»Stimmt alles. Die Stadt heißt Paderborn. Und es gibt dort
wirklich eine alte Bartholomäuskirche.«
Sie starrten Joachim genauso an wie damals, als er am 23.
Dezember sämtliche Weihnachtsplätzchen vertilgt hatte. Das
war letztes oder vorletztes Jahr gewesen.
89
Als er aber aus der Schule kam, war Mama schon zu Hause. Sie
hatte seine Geheimschatulle geöffnet!
SIE HATTE SEINE GEHEIMSCHATULLE GEÖFFNET!
Mama hatte etwas getan, was sie versprochen hatte, niemals zu
tun! Sie hatte ein feierliches Versprechen gebrochen. Sie hatte
etwas getan, was genauso schlimm war, wie die Briefe anderer
zu lesen.
Auf dem Esstisch lagen die zehn Blätter, die Joachim im
magischen Adventskalender gefunden hatte.
Er war wütend. Er war so zornig auf Mama, dass er sie am
liebsten geschlagen hätte.
»Ihr habt doch versprochen, dass die Geheimschatulle nur mir
gehört und dass ihr sie niemals im Leben öffnet!«, rief er. »Ihr
habt gelogen. Und stehlen tut ihr auch.«
Wenig später kam Papa nach Hause. Er hatte mit Mama tele-
foniert. Und sie hatten beschlossen, dass Mama den geheimen
Schlüssel suchen und die Geheimschatulle öffnen sollte. Denn
sie wollten unbedingt wissen, warum Joachim so viele seltsame
Namen kannte und so viele Erwachsenen-Wörter benutzte.
Joachim war wütend. Er schimpfte, Leute wie sie dürften
überhaupt keine Kinder haben. »Wer seine Kinder belügt, fängt
auch plötzlich an zu schlagen«, schrie er – und das war schließ-
lich verboten. Sie hätten wenigstens warten können, bis er aus
der Schule zurück war. Und dann hätten sie ihn ja fragen
können, ob sie die Schatulle öffnen dürften. Zuletzt sagte er
noch tief enttäuscht, dass er die geheimnisvollen Zettel nur
versteckt hatte, weil er sie einpacken und ihnen zu Weihnachten
schenken wollte. Er sagte, er würde den ganzen magischen
Adventskalender wegwerfen. Und dann fing er an zu weinen. Er
stürzte in sein Zimmer und knallte die Tür.
Nie mehr in seinem Leben würde er ihnen verzeihen! Und nie
mehr auf sie hören. Ihnen nie mehr glauben. Niemals!
90
Joachim setzte sich aufs Bett und versuchte, den magischen
Adventskalender anzusehen, aber seine Augen waren so feucht,
dass die Farben des Kalenders ineinander verschwammen und er
noch nicht einmal mehr die Engel von den Hirten auf dem Felde
unterscheiden konnte. Jetzt war alles kaputt, der Adventskalen-
der war plötzlich ganz normal wie alle andern, zumindest kein
bisschen magisch mehr.
Nach einer langen Weile schien auf einmal etwas in seinen
Ohren zu singen. Der Gesang, den er hörte, klang ungefähr so:
SABET-TEBAS-SABET-TEBAS-SABET-TEAS …
Es war ein so geheimnisvolles Lied, dass er merkte, es machte
vielleicht gar nichts aus, dass seine Eltern von den Zetteln im
Adventskalender wussten. Vielleicht steckte der magische
Adventskalender so voll von Geheimnissen, dass es für die
ganze Familie langte.
Er hatte noch nichts von seiner Begegnung mit Johannes
erzählt. Davon wusste noch immer nur er.
91
»Das schon«, antwortete sie. »Aber ich weiß ja nicht, in wel-
cher Reihenfolge sie aus dem Kalender gekommen sind. Kannst
du uns nicht helfen – und sie Papa alle vorlesen?«
Joachim überlegte es sich lange.
»Na gut.«
Er war auch ein bisschen erleichtert, dass es so gekommen
war. Von nun an würde er nichts mehr verbergen müssen. Und
wenn er etwas auf den Zetteln nicht begriff, konnte er Mama
und Papa fragen.
Von nun an sollte der magische Adventskalender für die ganze
Familie da sein.
92
11. Dezember
93
… viele Menschen bekommen doch einen Mords-
schrecken, wenn sie einen Engel des Herrn
sehen …
95
Balthasar
Fünf Schafe, zwei Schäfer, zwei Engel, ein heiliger König und
ein kleines Mädchen aus Norwegen eilten im Jahr 1199 nach
Jesu Geburt durch das Rheintal. Sie konnten auf dem anderen
Flussufer einen Kirchturm erkennen. Efiriel erzählte ihnen, dass
es sich um den Dom von Mainz handelte.
Sie blieben zu einer kurzen Beratung stehen.
»Wir müssen über den Fluss«, sagte Josua. »Und das ist
dumm, denn dann müssen wir wieder so einen armen Teufel von
Fährmann erschrecken und ihm erklären, dass wir Pilger sind,
unterwegs in das Heilige Land.«
»Wir müssen es ihm schonend beibringen«, meinte Efiriel.
Plötzlich nahm jemand die Beine in die Hand: das Engelskind
Umuriel.
»Da unten liegt ein Boot!«, rief er.
Im nächsten Moment war er schon hoch in der Luft und flat-
terte mit seinen Flügelchen auf das Boot zu.
Die anderen rannten hinterher. Aber Umuriel redete bereits auf
einen Mann ein, der am Flussufer saß.
»Kannst du uns rüberrudern? Wir wollen nach Bethlehem und
haben es eilig, wenn wir rechtzeitig zu Jesu Geburt dort sein
wollen. Wir sind in heiligem Auftrag unterwegs, meine ich, also
sind wir nicht irgendwer.«
Efiriel schüttelte verzweifelt den Kopf und lief zu Umuriel.
Als er ihn eingeholt hatte, nickte er dem Fährmann zuerst zu und
versuchte ihn um Entschuldigung zu bitten. Dann wandte er sich
an Umuriel und sagte:
»Wie oft muss ich es dir noch sagen, dass du zuerst ›Fürchte
dich nicht‹ sagen sollst?«
96
Aber der Fährmann, der ungewöhnlich schön in einen langen
roten Umhang gekleidet war, hatte sich von dem Engelskind
nicht erschrecken lassen.
Er wandte sich zu Elisabet um und sagte:
»Ich bin Balthasar, zweiter Weiser und heiliger König von
Saba. Ich habe denselben Weg wie ihr.«
»Dann gehörst du zu uns«, sagte Efiriel.
Trotzdem musste er Umuriel erst noch eine kleine Strafpredigt
halten.
»Diesmal ist zum Glück alles gut gegangen. Aber du musst
immer mit ›Fürchte dich nicht!‹ anfangen. Viele Menschen
bekommen doch einen Mordsschrecken, wenn sie einen Engel
des Herrn sehen, vor allem dann, wenn er mit seinen Flügeln
schlägt.«
»Entschuldigung!«, sagte Umuriel.
»Ja, ja, schon gut«, antwortete Efiriel.
»Aber ist es denn nicht unbegreiflich, dass sie solche Angst
haben, bloß weil sie einen Engel sehen?«, wandte Umuriel ein.
»Ich hab bisher noch keiner einzigen Katze etwas getan. Im
Gegenteil: Ich weiß schon gar nicht mehr, wie oft ich einer
Katze aus einem hohen Baum geholfen habe. Katzen sollten
natürlich endlich mal lernen, nicht auf so hohe Bäume zu
klettern, aber wenn wir schon kommen und ihnen helfen, dann
erschrecken sie wenigstens nicht. Nur die Menschen sind immer
so schrecklich schreckhaft.«
Die beiden Weisen lagen sich inzwischen in den Armen.
»Es ist wirklich lange her«, sagte der eine.
»Es war auch wirklich sehr weit weg vom Rhein«, antwortete
der andere.
»Aber es ist wirklich sehr, sehr schön, dich wieder zu sehen.«
Da sie sich eng umschlungen hielten, war es schwer zu sagen,
wer was sagte.
97
Aber jetzt bestieg der gesamte Pilgerzug das Boot. Die heili-
gen Könige nahmen die Ruder und ruderten über den Fluss, der
fast so breit war wie eine Meeresbucht.
Efiriel zeigte auf den schönen Dom am anderen Ufer. Das
Gotteshaus wirkte ein bisschen klobig und hatte nicht so hohe
Türme wie viele andere Kirchen, an denen sie vorübergekom-
men waren, aber es war auch viel älter.
»Die Uhr zeigt 1186 nach Christus. Die Arbeiten an der Kir-
che wurden vor über zweihundert Jahren begonnen. Inzwischen
sind aber fast tausend Jahre vergangen, seit das eine Samenkorn
in die Erde gelegt wurde, auf dass ein ganzer Acker sprießt. Ein
volles Feld. Ein Feld voller Kirchen und Kathedralen.«
»Ein ganzes Feld voller Kirchen!«, quasselte Umuriel ihm
nach.
»Es wäre witzig, auszurechnen, wie viele Tonnen Stein und
Holz gebraucht worden sind, um Jesu Geburt zu feiern. Ganz zu
schweigen davon, wie viele Plätzchen gebacken und wie viele
Geschenke in Weihnachtspapier eingepackt worden sind.
Heiligabend ist nämlich das größte Geburtstagsfest der Welt,
alle Menschen auf der ganzen Welt sind eingeladen. Deshalb
dauert das Fest auch viele tausend Jahre.«
Josua stieß nach dieser langen Rede wieder auf den Boden.
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Die Pilger folgten jetzt dem Westufer des Rheins. Es war sehr
früh am Morgen, sodass sie niemand in ihren fremden Kleidern
sah.
Im Jahr des Herrn 1162 betraten sie schließlich die Stadt
Worms, und dabei begegnete ihnen dann doch ein Reiter auf
einem Pferd. Vielleicht war er Soldat und kehrte gerade von
einem nächtlichen Auftrag zurück.
Sofort flog der kleine Engel Umuriel zu dem Mann, brauste
mit den Flügeln und hustete:
98
»Nicht fürchten! Nicht fürchten! Nicht fürchten!«
Obwohl Umuriel wie eine betrunkene Hummel um ihn herum-
schwirrte und sein »Nicht fürchten!« entsetzlich oft wiederholte,
hatte der arme Mann panische Angst. Er gab dem Pferd die
Sporen und galoppierte um einige niedrige Gebäude herum. Er
konnte nicht mal »halleluja« oder »Gelobt sei Gott!« sagen.
Efiriel schüttelte verzweifelt den Kopf und musste sich schon
wieder das Engelskind vorknöpfen:
»Du brauchst das nur einmal zu sagen. Aber dann mit milder,
himmlischer zurückhaltender Stimme. ›Füüürchte diich niicht!‹
sollst du sagen. Es kann auch ganz gut sein, die Arme zu senken.
Damit zeigt man, dass wir keine Waffen bei uns haben.«
Der Weise Balthasar wies inzwischen auf einen Dom mit
sechs Türmen.
»Überall und zu allen Zeiten haben die Menschen ihre Hände
zu Gott erhoben«, sagte er.
»Auch Kirchtürme weisen gen Himmel, halten aber viel länger
vor.«
Die Schäfer verbeugten sich voller Ehrfurcht über die weisen
Worte. Elisabet musste sie sich erst noch einmal in Gedanken
wiederholen, bevor sie ganz sicher war, was sie bedeuteten.
Dann sagte Josua sein »Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«.
99
»Nach Bethlehem!«, sagte der Schäfer Josua wieder und stieß
mit dem Hirtenstab auf den Boden. »Nach Bethlehem!«
Und dann machten sie sich auf den Weg durch die Schweizer
Gebirgswelt.
100
Joachim schüttelte den Kopf.
»Es ist ja gar nicht sicher, ob er viel Phantasie hat. Vielleicht
stimmt die ganze Geschichte auch«, sagte er.
Papa lachte.
»Du glaubst doch wohl nicht, dass man wirklich bis nach
Bethlehem und dann auch noch weit zurück in der Zeit gehen
kann?«
»Für Gott ist nichts unmöglich«, erklärte Joachim.
Keiner widersprach ihm. Papa schlug vor, den großen Atlas zu
holen, um Elisabets Reise auf der Karte zu verfolgen. Er holte
auch einen historischen Atlas, der zeigte, wie Länder und Städte
in den alten Zeiten geheißen hatten. »Denn ein und dasselbe
Land, ein und dieselbe Stadt haben oft im Lauf der Zeit ver-
schiedene Namen gehabt«, erklärte er.
Plötzlich musste Mama aufstoßen und schlug sich die Hand
vor den Mund.
»Wenn du einen Schluckauf kriegst, musst du Wasser trin-
ken«, sagte Joachim. »Na ja, ein kleiner Engelsbesuch würde
vielleicht auch helfen.«
Sie gab keine Antwort. Stattdessen wandte sie sich an Papa:
»Erinnerst du dich? Da war doch mal diese Geschichte? Es ist
lange her. Hier in der Stadt ist wirklich mal ein kleines Mädchen
verschwunden, als es mit seiner Mutter Weihnachtseinkäufe
machte. Ich glaube, sie hieß auch Elisabet.«
Papa nickte.
»Das war kurz nach dem Krieg. Hieß sie wirklich Elisabet?«
»Ich bin mir ziemlich sicher«, sagte Mama.
Plötzlich schienen Mama und Papa Joachim völlig vergessen
zu haben. Sie waren ganz in die Erinnerung vertieft.
101
»Dann hat er vielleicht an diese alte Geschichte gedacht und
den Rest eben dazugedichtet«, schlug Papa vor. »Wenn der
Kalender denn wirklich von diesem Blumenverkäufer stammt.«
Jetzt versuchte Joachim, sich wieder einzumischen.
»Könnt ihr nicht rausfinden, ob sie Elisabet hieß?«
»Sicher«, antwortete Papa. »Aber es spielt doch im Grunde gar
keine Rolle.«
»Ich finde, das spielt eine große Rolle«, sagte Joachim. »Die
Frau auf dem Bild hieß doch auch Elisabet.«
102
12. Dezember
103
… denn es ist totaler Quatsch, das Richtige zu
glauben, wenn es einen nicht dazu bringt, Men-
schen in Not zu helfen …
Als Papa am 11. Dezember von der Arbeit kam, redeten sie
gleich da weiter, wo sie morgens beim Frühstück aufgehört
hatten.
»Hast du herausgefunden, wie sie hieß?«, fragte Joachim.
»Lasst mich doch erst mal reinkommen«, klagte Papa. »Sie
hieß Elisabet, ja. Elisabet Hansen sogar. Und es war im Dezem-
ber 1948.«
Mama hatte das Essen fertig. Sie setzten sich an den Tisch.
»Ich habe auch beim Buchhändler vorbeigeschaut«, fuhr Papa
fort. »Er ist mit mir in sein Lager gegangen …«
Mama machte große Augen.
»Warum das denn?«
»Dort hat er das Bild herausgesucht, das dieser Blumenverkäu-
fer einmal bei ihm ins Fenster gestellt hat. Ich hab es
mitgebracht.«
»Zeig mal!«, sagte Mama.
Papa stellte das Bild auf den Tisch. Joachim riss es an sich,
auch Mama beugte sich vor.
Das Bild zeigte eine junge Frau mit langen blonden Haaren. In
der Halsgrube trug sie ein Silberkreuz mit einem roten Edel-
stein. Sie lehnte an einem kleinen Auto. Oben im Bild war eine
große Kuppel zu sehen. Unten stand »Elisabet«.
»Kein Nachname, wie ihr seht«, sagte Papa. »Und es ist auch
nicht gerade ein seltener Name. Aber Elisabet ist die norwegi-
sche Schreibweise. In vielen Ländern wird der Name anders
geschrieben.«
Mama sah ihn an.
104
»Glaubst du denn nicht, dass sie Norwegerin war?«
»Keine Ahnung«, sagte Papa. »Aber sieh dir das Bild mal
genau an!«
Als Mama nicht begriff, was er meinte, sagte er:
»Die Kuppel im Hintergrund ist eindeutig der Petersdom in
Rom. Die Frau steht auf der Straße, die zum Petersplatz führt.
Das Auto stammt aus den späten 50er Jahren.«
»Jetzt bekomme ich fast ein bisschen Angst«, flüsterte Mama.
»Wo sind wir da hineingeraten?«
Papa stützte sich mit beiden Händen auf den Tisch.
»Das ist ein kleines Mysterium, ja. Aber es gibt keinen Grund,
das kleine Mädchen, das 1948 verschwunden ist, für die Frau
auf dem Bild zu halten.«
Er starrte vor sich hin.
»Er war nicht auf dem Markt«, sagte er dann.
Joachim wusste sofort, wen Papa meinte, Mama dagegen
fragte:
»Wer?«
»Der Blumenverkäufer … Johannes …, der mit dem Wasser.
Ich gäbe viel für ein kleines Gespräch mit ihm. Denn davon
können wir ausgehen: Er hat diesen seltsamen Kalender ge-
macht. Aber nun ist der Mann plötzlich verschwunden.«
Ungefähr so verlief ihr Gespräch. Joachim dachte die ganze
Zeit, dass er früh ins Bett wollte, damit es nicht so lange bis
morgen dauerte. Dann würde er mehr über Elisabet Hansen und
den Engel Efiriel erfahren.
105
samstags war Joachim normalerweise immer lange vor den
anderen wach.
»Mach das nächste Türchen auf«, sagte Papa. »Beeil dich!«
Es war klar, dass er es am liebsten selber aufgemacht hätte.
Das Bild im Kalender zeigte einen Mann in einem roten Kittel.
In der Hand hielt er ein großes Plakat.
Mama und Papa setzten sich aufs Bett. Joachim hielt den
nächsten Zettel in der Hand. Jetzt faltete er ihn auseinander und
las laut vor.
Cyrenius
106
dem Namen Sankt Moritz stehen. Es war auf allen Seiten von
schneebedeckten hohen Alpengipfeln umgeben.
»Es ist 1079 nach Christus«, sagte Efiriel. »Hier zwischen den
hohen Bergen wohnen bereits seit dem 7. Jahrhundert Mönche
und preisen Gott und seine Schöpfung. Das Kloster ist auf dem
Grab des heiligen Moritz erbaut, der hier im Jahre 285 ermordet
wurde, weil er den römischen Göttern nicht opfern wollte.«
Efiriel hatte den Satz kaum beendet, als ein Mönch aus dem
Kloster trat. Er grüßte mit leichtem Nicken:
»Gloria Dei.«
»Danke, gleichfalls«, antwortete Elisabet, die den Mönch nicht
verstanden hatte. Sie fand, dass er trotzdem eine Antwort haben
musste.
Erst jetzt entdeckte der Mönch die beiden Engel. Er fiel auf die
Knie und sagte:
»Halleluja! Halleluja!«
Es war ganz klar, dass das Kloster nicht an Besuche von
Engeln gewöhnt war, auch wenn die Mönche so hoch in den
Alpen wohnten, dass sie fast als die nächsten Nachbarn der
Engel im Himmel gelten konnten.
Umuriel hob einen halben Meter vom Boden ab, flog mit
lockerem Flügelschlag zu dem Mönch hinüber und sagte mit
seidenweicher Stimme:
»Fürchte dich nicht und bekomm auch nicht den allerkleinsten
Schrecken. Wir machen nur einen kleinen Ausflug nach Bethle-
hem, um das Jesuskind zu begrüßen.«
Jetzt trat König Kaspar von Nubien auf den Mönch zu. Er
sagte:
»Friede sei mit dir und mit deinem Kloster. Wie der Engel
gesagt hat, sind wir unterwegs ins Heilige Land, um in Davids
Stadt Bethlehem dem König der Könige zu huldigen.«
107
Mit diesen Worten brachen sie wieder auf und verschwanden
dem Mönch aus den Augen.
Später erreichten sie einen kleinen Ort namens Martigny. Dort
gab es ein altes römisches Theater.
»Auch die Römer haben diesen Weg durch die Alpen be-
nutzt«, erklärte der Engel Efiriel. »Viel später zog sogar
Napoleon mit seinem Heer hier über die Alpen.«
»Nach Bethlehem!«, rief Josua drängend, und schon wander-
ten sie weiter, hinauf in die hohen Berge. Die Luft war so dünn
und klar, dass Elisabet sich fragte, ob sie direkt auf dem Weg in
den Himmel war. Während sie gingen, sahen sie ab und zu einen
Berghasen, ein Murmeltier oder einen Steinbock. In der Luft
kreisten Krähen und Geier, und hinter einem Busch sprang dann
und wann mal ein Schneehuhn hervor.
Am höchsten Punkt des Passes stand ein großes Haus.
»Die Uhr zeigt 1045 nach Christus«, sagte der Engel Efiriel.
»Das Haus, das wir da sehen, ist eine Herberge für die Men-
schen, die die Alpen überqueren. Es ist nagelneu und wurde von
einem Mann namens Bernhard von Menthon gebaut. Von nun
an bis in alle Ewigkeit sollen hier oben Benediktinermönche
wohnen und einen Rettungsdienst für die Menschen leiten, die
sich im Gebirge verirren. Dabei sind ihnen die klugen Bernhar-
dinerhunde sehr gute Helfer.«
»Genau!«, sagte das Engelskind Umuriel. »Denn Jesus wollte
die Menschen lehren, einander in Not zu helfen. Einmal erzählte
er von einem Mann, der von Jerusalem nach Jericho ging.
Plötzlich wurde dieser Mann von Räubern überfallen. Er blieb
fast leblos am Straßenrand liegen, er konnte sich selbst nicht
mehr retten. Es kamen allerlei Leute vorbei und sogar ein
Priester, aber keiner bückte sich, um dem armen Mann zu
helfen, der in Lebensgefahr schwebte. Jesus meinte, dass es
keinen Sinn hat, Priester zu sein, wenn man nicht einmal Lust
108
hat, einem Menschen in Not zu helfen. Dann kann man die
frommen Gebete auch gleich vergessen.«
Elisabet nickte, und Umuriel fuhr fort:
»Aber dann kam ein Samariter, und Samariter waren in Judäa
nicht besonders beliebt. Sie hatten nämlich einen etwas anderen
Glauben als die Juden. Doch der Samariter half dem unglückli-
chen Mann, und der kam so mit dem Leben davon. Genau! Denn
es ist totaler Quatsch, das Richtige zu glauben, wenn es einen
nicht dazu bringt, Menschen in Not zu helfen.«
Wieder nickte Elisabet und bewahrte die Worte des Engels-
kindes in ihrem Herzen.
Weiter oben gabelte sich der Pass, und dort stand ein Mann,
der ein großes Plakat in der Hand hielt. Er trug einen langen
roten Kittel. Wenn er sich nicht bewegt hätte, hätte man ihn für
einen versteinerten Mann aus der Römerzeit halten können.
Auf dem Plakat stand in großen Buchstaben »NACH
BETHLEHEM!«. Es war auch ein Pfeil darunter gezeichnet, der
anzeigte, in welche Richtung sie gehen mussten.
»Ein lebender Wegweiser!«, rief Elisabet.
Efiriel nickte.
»Wahrlich, ich sage dir, dieser Wegweiser gehört auch zu
uns.«
Das reizte Umuriel so sehr, dass er gleich zu dem Mann hin-
flog und rief:
»Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht!«
Aber der Mann mit dem Plakat fürchtete sich nicht im Ge-
ringsten. Er trat einen Schritt auf Elisabet zu, reichte ihr die
Hand und sagte:
»Herzlichen Glückwunsch … nein, nein, das war wohl nicht
ganz korrekt. Ich meine: Zu Diensten, meine Freundin und
meine Freunde! Aber zuerst muss ich noch meinen Namen
nennen, … denn auch ich darf in diesem Adventskalender
109
mitmachen … mein Name ist Cyrenius, Landpfleger von Syrien
… gut aussehend, wünscht Bekanntschaft … na ja, das Wich-
tigste ist natürlich, lieb und gut zu sein. Dixi!«
Elisabet musste über seine seltsame Redeweise lachen. Es war
so, als ob zwei Menschen durcheinander redeten, denn er
unterbrach sich die ganze Zeit selber. Er reichte ihr das Plakat,
mit dem er vielleicht schon eine Ewigkeit hier gestanden hatte,
während der Wind an seinem Kittel zerrte. Und er sagte:
»Das hier … ich bitte um Aufmerksamkeit, ihr Lieben … hier
habe ich nämlich des Pudels Kern höchstpersönlich … ich
wollte sagen, dieser Kern ist für dich. Dixi!«
Elisabet sah ihn verwundert an.
»Das Plakat willst du mir schenken?«
Cyrenius antwortete:
»Nur auf der einen Seite … ich meine, du musst es umdrehen
… also einmal herum, verstehst du! Dixi!«
Elisabet begriff nicht, warum er die ganze Zeit »Dixi« sagte.
Es waren doch gar keine Jazzmusiker in der Nähe. Aber der
Engel Efiriel flüsterte ihr zu, »dixi« sei lateinisch und bedeute so
viel wie: Ich habe gesprochen.
Elisabet drehte das Plakat um und sah zu ihrer großen Überra-
schung, dass sie einen Adventskalender mit vierundzwanzig
ungeöffneten Türen in der Hand hielt. Über alle Türchen war
das Bild einer jungen Frau mit blonden Haaren gemalt. Sie stand
vor einer großen Kirchenkuppel.
»Die ersten zwölf«, sagte Cyrenius. »Ich meine, du kannst die
ersten zwölf Türchen öffnen … denn genauso weit … sind wir
inzwischen gekommen. Dixi!«
Elisabet setzte sich auf einen Stein und öffnete die erste Klap-
pe. Darunter war ein Lamm gezeichnet. Unter der nächsten war
ein Engel, unter der dritten ein Schaf. Dann folgten Bilder eines
Schäfers, eines weiteren Schafes, eines heiligen Königs, noch
110
eines Schafes, eines Schäfers, wieder eines Schafes, dann eines
Engelskindes und schließlich noch eines neuen heiligen Königs.
Elisabet begriff, dass es sich um Bilder all derer handelte, die
sich auf dem langen Weg durch Europa dem Pilgerzug ange-
schlossen hatten.
Aber wer war die Frau auf dem großen Bild?
»Tausend Dank«, sagte sie.
Cyrenius schüttelte den Kopf.
»Ganz im Gegenteil! Das Letzte, was du gesagt hast, war ganz
und gar falsch … denn nicht du musst dich bedanken … sondern
ich. Ich danke dir und den andern hier …, dass auch ein alter
Römer wie ich … zu dieser heiligen Schar stoßen darf … die auf
dem direkten Weg nach Bethlehem unterwegs ist. Es war
nämlich nicht ich … also warst du es … die zuerst dem kleinen
Lamm hinterhergerannt ist … Dixi! Dixi! Dixi!«
Elisabet blickte zu Efiriel und lachte.
»Aber du hast das zwölfte Türchen noch nicht geöffnet«, sagte
der Engel.
Da öffnete es Elisabet, und nun sah sie ein winzig kleines Bild
des Kalenders, den sie selbst in der Hand hielt. Auch auf dem
kleinen war ein Bild der blonden Frau vor der Kirchenkuppel.
Josua schlug aber jetzt mit dem Hirtenstab gegen ein Wegzei-
chen.
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
Sie blieben sitzen und sahen sich an. Dann musste Joachim
lachen. Er sagte:
»Ich hoffe, Cyrenius bleibt bis Bethlehem dabei!«
Mama und Papa musterten das dünne Papier.
111
»Heute hat der Blumenverkäufer erstmals die junge Frau auf
dem Petersplatz in die Geschichte über die kleine Elisabet mit
hineingedichtet«, sagte Papa.
Mama schüttelte resigniert den Kopf.
»Und außerdem hat er in den großen noch einen kleinen
Adventskalender gebaut.«
Papa nickte:
»Mit beidem muss er ja wohl irgendwas sagen wollen.«
»Meint ihr, in dem kleinen Adventskalender ist noch ein
kleinerer Kalender?«, fragte Joachim.
»Wer weiß?«, meinte Mama.
112
13. Dezember
… so, wie der Blitz über den Himmel jagt und für
ein oder zwei Sekunden einen Strom aus Licht
über die Landschaft ergießt …
113
Jetzt hatte auch Elisabet einen Adventskalender bekommen.
Auf der einen Seite stand: »Nach Bethlehem!« Auf der anderen
Seite war das Bild einer blonden Frau gemalt.
Ob es dieselbe Frau war, die einmal vor dem Petersdom in
Rom fotografiert wurde?
6. Schaf
114
Drei Mönche, die an einem Junitag des Jahrs 998 aus dem
Aostatal ins Gebirge wanderten, sahen den Pilgerzug deshalb
nur für einen kurzen Moment – so, wie der Blitz über den
Himmel jagt und für ein oder zwei Sekunden einen Strom aus
Licht über die Landschaft ergießt …
»Seht da!«, rief der eine Mönch.
»Was denn?«, fragte der andere.
»Ich dachte, ich hätte eine seltsame Schar auf dem Weg gese-
hen. Menschen waren dabei und Tiere. Ganz am Schluss lief ein
kleines Mädchen mit einem Engel.«
Der dritte Mönch stimmte zu:
»Ich habe sie auch gesehen. Sie sahen aus wie die himmli-
schen Heerscharen.«
Der Mönch, der nichts gesehen hatte, schüttelte zweifelnd den
Kopf.
»Seid ihr sicher, dass euch die dünne Bergluft hier bekommt?«
Das sagte er, weil er sich gerade eine Alpenrose angesehen
hatte, als der Pilgerzug vorbeigekommen war.
Vier Jahre zuvor sah eine Gruppe von Kaufleuten aus Mailand
dasselbe wie die beiden Mönche, und zwar nur wenige Kilome-
ter weiter unten im Tal.
Die heilige Schar blieb für einen Moment stehen und genoß
den Blick über das Aostatal. Efiriel zeigte auf den Mont Blanc.
Er zeigte auch auf den spitzen Gipfel des Matterhorns. Elisabet
interessierte sich aber mehr für den Adventskalender, den ihr der
Landpfleger von Syrien geschenkt hatte.
Sie zeigte auf die Tür Nr. 12, hinter der es das Bild eines
Adventskalenders gab, der genauso aussah wie der, den sie
selbst in der Hand hielt. Elisabet wandte sich an Cyrenius und
fragte:
»Lässt sich auch das Türchen in dem winzig kleinen Kalender
öffnen?«
115
Cyrenius schüttelte den Kopf.
»Leider nicht. Dieser Kalender ist mit sieben Siegeln ver-
schlossen. Dixi!«
Jetzt räusperte sich Kaspar, und Balthasar folgte seinem Bei-
spiel.
»Wir sind so weise, dass wir dir trotzdem verraten können,
was sich hinter dem Türchen verbirgt«, sagte der erste Weise.
»Dort steht mit winzig kleinen Buchstaben eine geheimnisvolle
Botschaft.«
Elisabet starrte ihn an.
»Weiter! Jetzt sag schon!«
»Hinter dem ersten Türchen steht Elisabet«, begann Kaspar.
»Hinter dem zweiten steht Lisabet und hinter dem dritten
Isabet. Danach kommen Sabet, Abet, Bet und Et. Das sind die
ersten sieben Türchen.«
Elisabet lächelte breit.
»Und dann?«
Jetzt ergriff der zweite Weise das Wort:
»Danach kommen Te, Teb, Teba, Tebas, Tebasi, Tebasil und
Tebasile. Und danach gibt es noch zehn weitere Türchen.«
Elisabet lachte:
»Und was steht dahinter?«
Kaspar fuhr fort:
»Dort steht Elisabet, Lisabet, Isabet, Sabet, Abet, Bet und Et.«
Elisabet hatte genau mitgezählt.
»Aber dann bleiben noch immer drei Türchen«, sagte sie.
Kaspar nickte feierlich.
»Hinter dem Türchen Nr. 22 steht Roma, hinter Nr. 23 steht
Amor, und hinter Nr. 24 steht …«
»Ja?«
116
»Da steht in sehr schönen und kunstfertigen Buchstaben
›Jesus‹. Ein Buchstabe ist rot, der zweite orange, der dritte gelb,
der vierte blau, der fünfte lila. Zusammen bilden sie alle Farben
des Regenbogens. Denn Jesus war wie ein Regenbogen.«
»Wie bitte?«
»Wenn es schrecklich geregnet hat und die Sonne durch die
finsteren Wolken bricht, zeigt sich am Himmel ein Regenbogen.
Als schwebte ein Stück von Jesus in der Luft. Denn Jesus war
wie ein Regenbogen zwischen Himmel und Erde.«
Josua hob jetzt wieder wie immer den Hirtenstab und schlug
ihn so kräftig gegen einen Stein, dass es von den Bergen
vielfach widerhallte.
»Nach Bethlehem!«, sagte er. »Nach Bethlehem!«
Und die Berge schienen zu antworten:
»Thlehem, thlehem, thlehem …«
Wenig später erreichten sie bereits die Po-Ebene. So heißt das
fruchtbare Land am großen Fluss Po, der aus den italienischen
Alpen im Westen in die Adria im Osten fließt. Efiriel sagte, dass
sie nun einfach dem Flusslauf folgen konnten.
Sie wanderten durch das üppige Land, bis ein anderer breiter
Fluss namens Ticino in den Po mündete. Das war in der Nähe
der Handelsstadt Pavia. Efiriel erzählte, dass die Engelsuhr 904
zeigte und dass Pavia bereits eine berühmte Rechtsschule besaß,
aus der später eine bedeutende Universität wurde.
Josua wollte schon wieder mit dem Hirtenstab auf den Boden
stoßen, um etwas zu sagen, was Elisabet inzwischen bald
auswendig wusste. Aber da ergriff schnell der Schäfer Jakob das
Wort. Er zeigte auf ein Floß, das am Flussufer lag, und sagte:
»Das leihen wir aus.«
Und schon sprang der ganze Pilgerzug auf.
Als sie aber gerade das Floß vom Land abstoßen wollten, kam
ein Mann mit einem Schaf auf den Armen auf sie zugerannt.
117
»Nehmt mein aufrichtiges Opfer entgegen!«, bat er.
Und weil dem alle beipflichteten, mussten sich jetzt also sechs
Schafe auf dem engen Floß zusammendrängen.
Wie sie so auf dem Fluss trieben, meinte Cyrenius, dass Elisa-
bet doch nun die dreizehnte Tür des Adventskalenders öffnen
könnte. Und als sie es tat, verbarg sich dahinter das Bild eines
Mannes, der ein Schaf trug.
Nachdem Mama fertig gelesen hatte, saß die ganze Familie noch
lange schweigend auf Joachims Bettkante.
»Thlehem, thlehem, thlehem!«, sagte Mama schließlich. Sie
schien es fast zu singen.
»Sabet … Tebas«, sagte Joachim leise vor sich hin.
Er hatte die Augen weit aufgerissen. »Sabet … Tebas.« Na
klar. Johannes hatte bei seinem Besuch ganz einfach den halben
Namen von Elisabet gemurmelt. Vorwärts und rückwärts. Dass
Joachim da nicht schon früher draufgekommen war!
Aber warum hatte Johannes das gemacht?
Papa musste jetzt auch etwas loswerden:
»Wenn ich bloß diesen ›Blumenverkäufer‹ finden könnte,
dann würden wir vielleicht erfahren, warum es diesen Advents-
kalender überhaupt gibt. Oder zumindest, wie er entstanden ist.
Oder vielleicht sogar warum. Ich möchte zu gern wissen, was
einen erwachsenen Mann dazu bringt.«
»Er will bestimmt etwas von der himmlischen Herrlichkeit
verbreiten«, meinte Joachim. »Ich glaube, der magische Ad-
ventskalender ist ein kleines Stück der himmlischen
Herrlichkeit, das sich auf die Erde verirrt hat. Dort oben
wimmelt es nämlich nur so von herrlichen Dingen, und deshalb
verbreiten die sich sehr leicht.«
Papa und Mama mussten lachen. Erst jetzt, nachdem sie alle
Zettel gelesen hatten, die aus dem Adventskalender gefallen
118
waren, begriffen sie, warum Joachim in letzter Zeit so viele
seltsame Dinge gesagt hatte.
»Ich muss immer noch an die drei Mönche im Aostatal den-
ken«, sagte Mama.
Papa und Joachim sahen sie an.
»So wie wir hier sitzen«, fuhr sie fort, »geht es uns auch fast
so wie diesen Mönchen. Wir haben etwas in der Hand und
wissen nicht so recht, ob wir es glauben können.«
Joachim fand jetzt alles so seltsam und spannend, dass er sein
Geheimnis, Johannes getroffen zu haben, einfach nicht mehr für
sich behalten konnte. Das letzte kleine Geheimnis, das er noch
besaß, ließ seinen Kopf beinah platzen. Es musste endlich
heraus.
»Neulich, als ich aus der Schule kam, hat Johannes bei uns vor
dem Gartentor gestanden«, erzählte er. »Der Mann im Buchla-
den hat ihm unsere Adresse gegeben.«
Papa sprang vom Bett und schlug mit einer Hand gegen die
Schranktür.
»Und das hast du uns nicht erzählt?«
»Ich wusste nicht, dass es so wichtig war … er wollte mich
doch bloß kennen lernen.«
»Ja, ja. Aber was hat er dir denn gesagt? Er hat doch sicher
etwas über den magischen Adventskalender gesagt?«, fragte
Papa ganz ungeduldig.
»Er hat gesagt, dass noch nicht Weihnachten ist. Und dass er
ein andermal von Elisabet erzählen wird.«
Papa nickte unwirsch.
»Ich schaue heute noch mal auf dem Markt vorbei. Jetzt will
ich diesen Johannes endlich kennen lernen … und wenn ich ihn
mit dem Lasso einfangen muss.«
Aber als er von der Arbeit kam, konnte er nur hilflos mit den
Achseln zucken.
119
»Er ist weg!«, sagte er. »Wie vom Erdboden verschluckt.«
Den ganzen Nachmittag wiederholte Joachim in Gedanken
zwei Namen: Elisabet … Tebasile … Elisabet.
Der eine Name war wie das Spiegelbild des anderen. Aber als
Joachim in den Spiegel blickte, sah er sich selber, obwohl doch
das Bild im Spiegel spiegelverkehrt war.
Konnte das die geheime Mitteilung sein, dass die beiden
Elisabets ein und dieselbe Person waren? Aber auch Tebasile
klang wie ein richtiger Name.
Konnte es auch eine Tebasile geben?
An diesem Abend starrte Joachim lange die Decke an, ehe er
schlafen konnte. Am Ende musste er noch einmal aufstehen und
etwas Kluges in sein kleines Notizbuch schreiben. Es war etwas,
das er in seinem Kopf gesehen hatte.
Er schrieb:
120
14. Dezember
121
… lange, bevor noch der Zeigefinger des Kindes
sich ausstrecken konnte …
122
Am 14. Dezember wurde Joachim wieder einmal vor Mama und
Papa wach. Er setzte sich auf. Jetzt waren es nur noch zehn Tage
bis Weihnachten.
Wie würde es mit Elisabet, dem Engel Efiriel und all den
anderen weitergehen auf ihrem Weg nach Bethlehem?
Ehe er den Adventskalender öffnen konnte, standen aber auch
seine Eltern im Kinderzimmer.
»Also los«, sagte Papa.
Unter dem Arm hatte er zwei große Atlanten.
Joachim öffnete die Klappe mit der 14. Wieder fiel ein Zettel
aufs Bett und gab diesmal das Bild eines Floßes frei, das
Menschen, Tiere und Engel transportierte.
»Das Floß«, sagte Mama.
Sie setzten sich auf die Bettkante. Heute war Joachim mit
Lesen an der Reihe:
Isak
123
sie, dass Gott keine bessere Welt hätte schaffen können –
jedenfalls nicht in sechs Tagen.
Ganz hinten auf dem kleinen Floß stand ein Mann in römi-
scher Tracht und steuerte mit einem langen Ruder. Solche
Kleider waren in dieser Zeit noch nicht lange aus der Mode. Der
Mann redete mit einem kleinen Mädchen, das eine steife Papp-
Tafel in der Hand hielt.
Am auffälligsten waren die beiden Engel, die vorn auf dem
Floß standen und mit den Flügeln schlugen, damit ihr Floß nicht
auf ein Flussufer zutrieb. In dieser Zeit hatten Flöße und Boote
nämlich noch keinen Motor.
Ab und zu drehte sich das Engelskind Umuriel zu den anderen
um und pries die schöne Natur.
»Wunderbar!«, rief es. »Nur Herrlichkeit und Freude allent-
halben. Es ist genau wie am fünften Tag, als Gott sich alles
ansah, was er erschaffen hatte. Und siehe – es war sehr gut!«
Ab und zu kam es vor, dass sie ein Mensch vom Flussufer aus
entdeckte. Aber das Floß war nur für einen ganz kurzen Moment
zu sehen. Es segelte nämlich nicht nur durch die Po-Ebene. Es
kreuzte auch durch die Flutwelle der Zeiten. Wenn ein kleines
Kind am Flussufer stand und schnell auf das seltsame Floß
zeigen wollte, damit es auch Mama oder Papa sähen, war es
schon wieder verschwunden, lange bevor noch der Zeigefinger
des Kindes sich ausstrecken konnte.
War das Floß nur das Spiegelbild von etwas anderem gewe-
sen?
Sie kamen an alten römischen Brücken und Bauwerken vorbei,
an Theatern, Tempeln und Wasserleitungen. Der Engel Efiriel
zeigte auf alle Kirchen.
»Als junger Mann war ich oft in der Gegend«, erzählte Cyre-
nius, während er auf das lange Ruder im Wasser starrte. »Aber
das ist sehr lange her … oder natürlich umgekehrt … ich meine,
bis dahin dauert es noch eine ganze Weile. Dixi!«
124
Elisabet begriff, dass er von der Römerzeit sprach, als die
Soldaten Roms fast die ganze Welt besetzt hielten.
»Wie sah es denn damals hier aus?«, fragte sie.
»Die römischen Theater stehen ja immer noch. Auch die
Apfelsinenbäume – und der rote Mohn am Flussufer. Aber
damals hatte noch niemand von Jesus gehört. Das Neue sind
jetzt diese vielen Kirchen und Klöster und all diese Priester und
Mönche. Dixi! Dixi!«
Bald darauf zeigte Josua aufs Flussufer:
»Dahinten gehen wir an Land!«
Cyrenius versuchte, das Floß an Land zu steuern. Dabei waren
ihm die beiden energisch mit ihren Flügeln schlagenden Engel
von großer Hilfe. Und während der Schäfer Josua noch mit
seinem Hirtenstab das Floß an einen Baum zog, sagte der Engel
Efiriel dem Engelskind Umuriel wieder mal seine bekannten
mahnenden Worte.
Jetzt verließen die Pilger das Floß – die zweibeinigen, die
vierbeinigen und die mit den Flügeln auf dem Rücken. Sie
kamen an einer Dorfkirche vorbei. Von dort zogen sie weiter
durchs Land.
Die Städte waren zu dieser Zeit nicht sehr groß, aber bald
näherten sie sich doch einer der größten. Efiriel erzählte, dass
sie Padua hieß.
Ehe sie durch das Stadttor rannten, erblickten sie einen Mann
in einem blauen Kittel. Er saß auf einem Stein und stützte den
Kopf in die Hände. Er schien schon sehr lange dort zu sitzen.
Umuriel flog auf ihn zu, schwebte vor ihm in der Luft und
brauste mit den Flügeln. Dabei sagte er:
»Fürchte dich nicht und krieg auch ja nicht den allerkleinsten
Schrecken. Ich heiße Umuriel und bin einer der Engel Gottes,
die mit heiligem Auftrag unterwegs sind.«
125
Die Worte des Engelskindes schienen ihre Wirkung zu tun,
denn der Mann warf sich nicht zu Boden und schlug auch nicht
die Hände vors Gesicht. Er sagte auch nicht »Halleluja« und
»Gloria Dei«. Er stand einfach auf und kam auf sie zu.
»Dann gehört er zu uns«, sagte Efiriel.
Der Mann reichte Elisabet die Hand:
»Ich bin der Schäfer Isak und habe denselben Weg wie ihr.«
Umso leichter war es jetzt, die sechs Schafe durch Padua zu
treiben. Den Tieren folgten drei Schäfer, zwei heilige Könige,
zwei Engel, ein Landpfleger und ein kleines Mädchen aus
Norwegen. Insgesamt waren sie nun schon fünfzehn.
Sie hatten inzwischen ein solches Tempo erreicht, dass die
wenigen Menschen auf den Straßen sie gar nicht mehr richtig
wahrnehmen konnten, ehe sie schon wieder verschwunden
waren. Aber auch die Pilger konnten die Bewohner der Stadt nur
so eben erkennen. Wenn sie für einen kurzen Moment einen
Frühaufsteher erblickten, war er im nächsten Augenblick schon
wieder verschwunden – und vielleicht von einem anderen Mann
oder einer anderen Frau ersetzt.
Elisabet glaubte, nur eine halbe Minute in Padua verbracht zu
haben, aber in Wirklichkeit spukte der seltsame Pilgerzug sieben
oder acht lange Jahre durch die Straßen der Stadt. Denn die
halbe Minute bestand aus dreißig kleinen Sekunden, und die
dreißig Sekunden wurden auf die sieben oder acht Jahre verteilt.
Alte Berichte zeigten, dass in Padua niemals so viel von
Engeln die Rede war wie in den magischen Jahren zwischen 804
und 811. Ab und zu glaubte nämlich immer mal jemand, etwas
Erstaunliches in den Straßen gesehen zu haben. Ob das ein
Engelszug sein konnte, der da durch die Stadt gefegt war?
Vor der Stadtmauer blieben sie bei einem kleinen Kloster
stehen.
126
»Seltsam, mal wieder eine römische Stadt zu sehen«, sagte
Cyrenius. »Ich wüsste ja gern, wer jetzt Kaiser ist.«
Efiriel schüttelte seine Engelsuhr.
»Es ist gerade 800 nach Christus. Am ersten Weihnachtstag
wird Karl der Große in Rom zum Kaiser gekrönt.«
»Dann bricht gleich ein neues Jahrhundert an«, sagte der
Schäfer Josua.
Und er schlug mit dem Hirtenstab gegen die Klostermauern
und rief:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Papa schlug den Atlas auf und zeigte auf den Po, danach suchte
er Padua. Dann blätterte er lange hin und her und versuchte, mit
dem Finger den ganzen langen Weg des Pilgerzugs nachzu-
zeichnen.
»Hier ist Halden«, begann er. »Dann kommen sie zu dem
großen See in Schweden … das muss der Vänern sein. Danach
sind sie durch Schweden gelaufen – nach Kungälv, Göteborg,
Halmstad und Lund. Sie sind nach Seeland übergesetzt und
haben Kopenhagen besucht. Doch, ja, ich finde alles. Danach
waren sie auf Fünen und sind durch Odense gelaufen. Von
Middelfart aus sind sie über den Kleinen Belt gesegelt, nach
Jütland. Hier sind sie anschließend an Kolding und Flensburg
vorübergekommen …«
»Sie sind auch in der Geschichte zurückgereist«, sagte Mama.
»Hier ist Hamburg. Danach ist Elisabet in Hannover auf dem
Marktplatz gestürzt. Und hier ist Hameln, die Stadt, die das
feierliche Versprechen gebrochen hatte, das sie dem Rattenfän-
ger gegeben hatte.«
»Ihr habt auch ein feierliches Versprechen gebrochen«, fiel
Joachim ihm ins Wort. »Ihr habt meine geheime Schatulle
aufgemacht.«
127
Papa ging nicht darauf ein, sondern fuhr fort:
»Hier, noch immer in Norddeutschland, ist Paderborn, hier ist
der Engel Umuriel in Schlangenlinien vom Kirchturm herunter-
geflogen. Von hier aus haben sie dann bei Köln den Rhein
erreicht und sind danach durch das Rheintal gewandert. Der
Engel Umuriel hatte ganz Recht: Da ist es wunderschön.«
»Das war im 13. Jahrhundert«, sagte Mama.
»Moment mal«, sagte Papa. »Ich will die ganze Tour nachho-
len. In Mainz kam Balthasar dazu … dann kamen sie nach
Worms und Basel. Heute liegt Basel in der Schweiz …«
»Aber Elisabet war im 12. Jahrhundert dort«, mischte sich
Mama wieder ein.
Papa suchte weiter mit dem Finger.
»Hier ist der Bieler See … und hier der Genfer. Und hier ist
der kleine Ort Martigny … Wirklich, eine gute Karte. Dann ging
es über den Sankt-Bernhard-Pass … heute sind da natürlich fast
überall Tunnel. Dann kam das Aostatal … die Lombardei und
die Po-Ebene.«
»Bravo!«, sagte Mama. »Aber sie reisten auch durch die Zeit,
durch die Geschichte. Das ist ein noch seltsamerer Gedanke,
finde ich.«
Erst jetzt blickte Papa von der Karte auf.
»Aber das erfindet er doch bloß.«
»Ich glaube, das stimmt alles«, sagte Joachim.
Mama nickte.
»Wer weiß?«
Papa schüttelte den Kopf.
»Jetzt wüsste ich gern, wie sie weitergehen …«
»Es ist acht Uhr!«, rief Mama plötzlich.
Sie stritten sich ein bisschen, weil sie nur noch so wenig Zeit
hatten. Sie hatten jetzt genau das, was Joachim Stress nannte,
128
und Stress konnte er einfach nicht vertragen.
Während er zur Schule rannte, wirbelten ihm viele seltsame
Namen im Kopf herum.
In der Schule probten sie für ein Krippenspiel, das Joachims
Klasse am letzten Schultag vor Weihnachten in der Turnhalle
aufführen wollte. Joachim spielte den zweiten Hirten.
129
15. Dezember
130
»Also los«, sagte Papa.
Weder er noch Mama konnten verbergen, dass sie den magi-
schen Adventskalender genauso spannend fanden wie Joachim
selbst.
Joachim richtete sich im Bett auf und öffnete Klappe Nr. 15.
Er musste den Zettel vorsichtig herausfischen, damit er nicht
zerriss. Das Bild dahinter zeigte viele Inselchen mit Häusern.
Die kleinen Inseln lagen in strahlendem Sonnenschein.
Heute war Papa mit Lesen an der Reihe. Er schnappte sich das
dünne Papier, räusperte sich zweimal und fing an.
7. Schaf
131
Efiriel lachte:
»Du siehst ja auch nicht das Venedig des 20. Jahrhunderts vor
dir. Ich habe doch gesagt, dass die Uhr 797 zeigt. Die Menschen
wohnen hier überhaupt erst seit zweihundert Jahren. Aber
Venedig wird bald so dicht bevölkert sein, dass man die Inseln
kaum noch auseinander halten kann.«
Während sie sich noch die vielen kleinen und großen Inseln
ansahen, kam ein kleiner Nachen über das Wasser gefahren. Der
Nachen war am einen Ende mit Salz beladen, am anderen Ende
standen Schafe und blökten die Sonne an, die langsam durch den
Morgennebel brach.
Der Mann im Nachen erschrak so sehr, als er den Pilgerzug
sah, dass er den Arm vor die Augen schlug und zurückwich,
dabei das Gleichgewicht verlor und rückwärts ins Wasser
plumpste. Elisabet sah, wie er wenige Sekunden darauf aus dem
Wasser auftauchte und dann wieder unterging.
»Er ertrinkt!«, rief sie. »Wir müssen ihn retten!«
Aber der Engel Efiriel war schon unterwegs. Er schwebte
graziös über das glitzernde Wasser, packte den Mann, als der
wieder auftauchte, und hob ihn aufs Land. Der Mann war
triefnass, er ließ es geradezu auf den Boden regnen. Efiriel zog
nun auch noch den Nachen an Land.
Der Mann, der fast ertrunken wäre, weil er sich so sehr über
den Anblick der beiden Engel erschrocken hatte, ließ sich auf
den Boden fallen und hustete wie ein Unwetter. Er schnappte
nach Luft und sagte:
»Gratie, gratie …«
Elisabet versuchte zu erklären, dass sie auf dem Weg nach
Bethlehem waren, um das Jesuskind zu begrüßen, und dass er
sich nicht fürchten sollte. Umuriel kreiste jetzt um ihn herum.
»Fürchte dich nicht«, sagte er mit seidenweicher Stimme.
»Und krieg nur ja keinen Schrecken. Aber du solltest auch nicht
132
allein auf dem Meer herumgondeln, wenn du nicht schwimmen
kannst. Du kannst doch nicht hoffen, dass immer gerade ein
oder zwei Engel in der Nähe sind. Wir streifen nämlich nur
ziemlich selten durch diese Gegend, verstehst du?«
Umuriels Ermahnungen schienen den Mann nicht zu trösten.
Aber das Engelskind setzte sich neben ihn, streichelte ihm die
Wange und sagte immer wieder »Fürchte dich nicht«. Beim
siebten oder achten Mal schien es zu wirken, denn jetzt stand
der Mann auf und stapfte allein zurück zu seinem Nachen. Er
hob ein kleines Lamm heraus, hob es empor und kam zu ihnen
zurück:
»Agnus Dei«, sagte er.
Das bedeutete: Lamm Gottes, und das Lamm schloss sich ohne
Widerrede der übrigen Schafherde an.
Josua stieß nach dem ganzen Zwischenfall jetzt umso energi-
scher mit dem Hirtenstab auf den Boden und sagte wie jedes
Mal:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Da rannten sie los. Ganz vorn das Engelskind Umuriel, hinter
ihm die sieben Schafe, die drei Schäfer, die beiden Weisen,
Cyrenius, Elisabet und der Engel Efiriel.
Tief im Golf von Venedig lag die alte römische Stadt Aquileia.
Im Laufen zeigte Efiriel schnell auf ein Kloster:
»Es ist das Jahr 718 nach Christus. Aber hier gibt es schon seit
ältester Zeit eine christliche Gemeinde.«
Der Pilgerzug wanderte nun durch die Stadt Triest. Und da-
nach ging es weiter durch Kroatien, über Stock und Stein.
Papa legte das dünne Papier zurück aufs Bett und holte einen der
großen Atlanten, die er auf Joachims Schreibtisch abgelegt
hatte:
133
»Hier liegt Venedig«, sagte er. »Und hier Triest, an der jugos-
lawischen Grenze. Aquileia finde ich nicht.«
»Vielleicht existiert diese Stadt ja heute nicht mehr«, sagte
Mama. »Guck doch mal in den historischen Atlas.«
Papa holte den anderen großen Atlas. Der enthielt viele Karten
von allen europäischen Ländern, aber die meisten Namen von
Ländern und Städten darauf lauteten anders.
»Du musst eine Karte der Gegend finden, die sie im 8. Jahr-
hundert zeigt«, sagte Mama.
Papa blätterte ewig lange im Atlas herum.
»Hier!«, sagte er plötzlich. »Aquileia, ja. Die alte Stadt lag
genau zwischen Venedig und Triest. Das ist ja phantastisch …«
»Was?«, fragte Joachim.
»Johannes muss die gleichen alten Karten benutzt haben. Denn
die Welt verändert sich ja im Lauf der Zeit. Die Geschichte ist
wie ein hoher Stapel Pfannkuchen, und jeder Pfannkuchen ist
eine neue Weltkarte.«
Joachim schaute Papa an:
»Pfannkuchen?«
Papa nickte.
»Es reicht nie zu fragen, wo etwas passiert. Es reicht auch
nicht zu fragen, wann etwas passiert. Du musst immer fragen:
Wann und wo.«
Er legte seine Hände auf die von Joachim.
»Stell dir vor, du hast zwanzig Pfannkuchen, die aufeinander
liegen. Wenn auf einem davon ein schwarzer Fleck ist – und du
diesen Fleck finden sollst –, dann musst du feststellen, auf
welchem der zwanzig Pfannkuchen er steckt. Vielleicht musst
du den ganzen Pfannkuchenstapel durchsehen.«
Jetzt kapierte Joachim, was Papa meinte.
134
»Sie reisen durch zwanzig Jahrhunderte«, sagte Papa schließ-
lich.
»In diesem Buch gibt es Karten, die genau zeigen, wie die
Welt in jedem dieser Jahrhunderte ausgesehen hat. Ich glaube,
Johannes hat auch so ein Pfannkuchenbuch durchgesehen.«
Erst jetzt nahm Papa seine Hände wieder weg, und als er
»Pfannkuchenbuch« sagte, mussten er und Joachim lachen.
Mama machte die besten Pfannkuchen in der Familie. Aber
jetzt starrte sie einfach nur vor sich hin, während Papa und
Joachim sich unterhielten. Als Papa schließlich mit den Fingern
schnipste, sagte sie:
»Die große Frage ist, ob im Jahr 797 in Venedig wirklich ein
Mann von einem Engel gerettet worden ist. Meint ihr, das lässt
sich feststellen?«
Wieder musste Papa lachen.
»Du kannst doch unmöglich diese ganze Geschichte für wahr
halten!«
Mama ließ ihren Blick wandern:
»Nein, das geht wohl nicht.«
Sie schaute zu Joachim – dann wieder zu Papa.
»Aber wenn es wirklich passiert wäre, dann hätte der Mann
doch sicher davon erzählt, zum Beispiel einem Priester. Und
dann wäre es auch in Büchern erwähnt worden. Vielleicht
sollten wir mal in der Bibliothek nachforschen.«
Papa wollte so ein Gerede nicht mehr hören. Stattdessen sagte
er:
»Heute gehen wir erst in die Stadt Pizza essen, und dann gehen
wir auf den Markt. Weißt du noch, wie dieser Johannes aussieht,
Joachim?«
»Sicher«, antwortete Joachim. »Ich würde ihn sofort wieder
erkennen. Er hat ein wenig seltsam gesprochen, aber er ist ja
auch kein echter Norweger.«
135
An diesem Tag holte Mama Joachim direkt von der Schule ab.
Sie fuhren mit dem Bus in die Stadt und trafen sich dort mit
Papa. Von der Pizzeria aus hatten sie einen guten Blick auf den
Markt vor dem Dom.
Mehrmals fragte Papa, während sie aßen:
»Siehst du ihn, Joachim?« oder: »Du siehst ihn nicht zufällig,
oder?«
Jedes Mal musste Joachim mit »Nein« antworten. Denn Jo-
hannes stand nicht mehr auf dem Markt und verkaufte Blumen.
Enttäuscht kauften sie einige dicke Kerzen und einige Weih-
nachtsgeschenke. Ehe sie nach Hause fuhren, schauten sie auch
noch in dem Buchladen vorbei.
Der alte Mann erkannte Papa und Joachim sofort wieder.
»Hier sind wir schon wieder«, sagte Papa. »Wir wüssten so
gern, ob sie etwas von diesem seltsamen Blumenverkäufer
gehört haben.«
Der Buchhändler schüttelte den Kopf.
»Er war schon seit vielen Tagen nicht mehr hier. Es passiert
ganz selten, dass er so lange nicht kommt, aber gerade um diese
Jahreszeit zieht er sich manchmal ein bisschen zurück.«
»Der magische Adventskalender ist wirklich ein Mysterium,
wissen Sie«, erklärte Mama. »Wir möchten den Mann gern zu
uns nach Hause einladen und uns richtig bei ihm für den
Kalender bedanken.«
Sie beschlossen, dass der Buchhändler Johannes bitten sollte,
sie anzurufen. Er hatte ja ihre Adresse und Telefonnummer.
Als sie gehen wollten, fragte Papa:
»Ach, noch was. Wissen Sie, woher er kommt?«
Der Buchhändler dachte kurz nach:
136
»Ich glaube, er hat mal gesagt, dass er in Damaskus geboren
ist.«
Als sie mit dem Auto nach Hause fuhren, trommelte Papa mit
den Fingern aufs Steuerrad. Schließlich sah er Mama an und
sagte:
»Wenn wir doch diesen Mann bloß finden könnten …«
»Immerhin wissen wir jetzt, woher er kommt«, antwortete sie.
»Damaskus, das ist doch die Hauptstadt von Syrien.«
137
16. Dezember
Noch den ganzen Rest des Tages hatten sie weiter über Elisabet,
Johannes und den magischen Adventskalender geredet. Selbst,
wenn sie schwiegen, wusste jeder, woran die anderen dachten.
Papa konnte beim Abräumen eine Gabel auf den Boden fallen
lassen und sagen:
138
»Schade, dass wir ihn nicht finden. Er ist sicher ein schlauer
Fuchs, und die lassen sich nun mal schwer fangen.«
Mama konnte die ganze Zeit mit der Zeitung auf dem Schoß
dasitzen und vor sich hinstarren. Plötzlich sagte sie dann:
»Es ist ja schon allein ein Rätsel, dass dieses arme Mädchen
nie zurückgekommen ist.«
Joachim hatte das Bild der erwachsenen Elisabet auf den
Kaminsims gestellt. Mitten im spannendsten Fernsehprogramm
konnte er plötzlich zu dem alten Foto hochblicken und sagen:
»Vielleicht war sie ja seine Freundin.«
Mama und Papa hörten, was er sagte. Papa stellte eine Kaffee-
tasse auf den Couchtisch und antwortete:
»Ja, vielleicht.«
Mama fuhr nach einer Weile fort:
»Denn in dem winzig kleinen Adventskalender, der in dem
Adventskalender steckt, den Cyrenius Elisabet geschenkt hat,
stand ja nicht nur Elisabet und Tebasile, sondern auch Roma und
Amor. Amor bedeutet Liebe, und Roma ist das lateinische Wort
für Rom.«
Joachim drückte schließlich die Fernbedienung und machte
den Fernseher aus. Dann sprang er aus dem Sessel hoch und
fragte:
»Bedeutet es wirklich etwas?«
Mama nickte:
»Ja, wie gesagt. Amor ist das lateinische Wort für Liebe.«
»Aber rückwärts gelesen heißt es auch Roma«, fuhr Joachim
fort.
»Dann bedeutet vielleicht Tebalise auch etwas.«
139
»Du musst aufwachen, Joachim«, sagte Mama. »Es ist zwar
erst sieben, aber im Moment brauchen wir ja morgens immer
viel mehr Zeit.«
Joachim richtete sich im Bett auf. Wieder dachte er, dass der
magische Adventskalender so schön und aufregend war wie
mindestens jeden Tag Geburtstag. Ob man wohl so einen
Kalender auch für ein ganzes Jahr basteln konnte?
Plötzlich fiel ihm ein, was er in der letzten Nacht geträumt
hatte: Ein kleines Mädchen war durch eine ganze Ladung
Pfannkuchen gekrochen, um etwas zu suchen, was sie verloren
hatte. Am Ende fand sie es auf dem alleruntersten Pfannkuchen:
Es war eine winzig kleine Puppe, die in ein Stück Stoff eingewi-
ckelt war. Aber im Traum war die Puppe richtig lebendig
gewesen.
Joachim rieb sich den Schlaf aus den Augen und sah die vielen
Türen des Adventskalenders an.
»Nun mach schon die nächste auf!«, sagte Papa. Seine Stimme
hörte sich fast mürrisch an. »Wir müssen anfangen.«
Joachim stand auf und suchte die Klappe mit der 16. Ein
weiterer Zettel fiel aufs Bett. Papa hob ihn sofort auf. Hinter
dem Türchen verbarg sich diesmal das Bild einer alten Burg.
»Ich les vor«, sagte Mama. Sie war heute an der Reihe.
Sie machten es sich gemütlich.
Daniel
Es begab sich aber zu der Zeit, als das alte Römische Reich
zweigeteilt war. Aus dem Weströmischen Reich drängte eine
seltsame Prozession ins Oströmische Reich hinüber. Im Osten
und Westen hatte das Christentum im Volk Wurzeln geschlagen.
Doch noch immer wurden die Christen von heidnischen Völkern
ausgeplündert. Und ihre Gegner behinderten allerorten den Bau
140
neuer Kirchen, stahlen Gold und Silber und machten ganze
Städte dem Erdboden gleich.
Da erließ der Papst in Rom das Gebot, das Eigentum der
Kirche gegen die fremden Völker zu verteidigen, die noch nicht
von Jesus gehört hatten. Und genau da drängte eine seltsame
Prozession auf ihrem Weg nach Bethlehem, die Stadt Davids,
durch Zeit und Raum. Sie kam aus einer fernen Zukunft.
Vorn sprang eine kleine Herde von sieben Tieren; fünf Schafe
und zwei Lämmer. Ein Engelskind, das immer wieder »Fürchtet
euch nicht, fürchtet euch nicht!« sagte, wuselte um die Herde
herum. Es hörte sich gerade so an, als ob das Engelskind an
einem heiligen Schluckauf litte.
Den Schafen und dem Engelskind folgten drei Schäfer, zwei
Weise, zwei Engel, ein römischer Landpfleger aus Syrien und
ein kleines Mädchen aus Norwegen.
Sie kamen nach Salonae in Dalmatien und blieben vor den
alten Ruinen eines römischen Kaiserpalasts stehen. Auf den
ersten Blick wirkten die Ruinen verlassen, aber als die heilige
Prozession durch ein kleines Tor in der Mauer wanderte,
entdeckte sie plötzlich, dass es drinnen nur so von Menschen
wimmelte. Ungefähr so, als wenn man die Rinde von einem
alten Stück Holz abreißt und darunter auf einmal allerlei kleines
Gewürm herumkrabbeln sieht. Mitten im alten Kaiserpalast
befand sich eine kleine Stadt.
Als der Engel Efiriel die vielen Menschen dieser Stadt sah,
sagte er:
»Die Engelsuhr zeigt 688 nach Christus. Wir stehen zwischen
den Mauern von Kaiser Diokletians Palast. Diokletian wurde um
250 nach Christus hier in der Gegend geboren. Er kämpfte
gegen die umherstreifenden Völker und versuchte, das alte
Römische Reich wiederherzustellen. Er ließ die christlichen
Kirchen schließen und alle Christen grausam verfolgen. Nach
seinem Tod wurde er hier in diesem großen Palast begraben.
141
Aber nur wenige Jahre nach Diokletians Tod war das ganze
Römische Reich christlich geworden. Im alten Kaiserpalast
entstand eine neue Stadt. Sehr viel später wird sie den Namen
Split erhalten.«
Während der Engel Efiriel das alles erzählte, wurden sie
plötzlich von einem kleinen Jungen entdeckt. Er war fast nackt.
Jetzt zeigte er auf sie und rief:
»Angelos! Angelos!«
Elisabet wandte sich an Efiriel und fragte:
»Was bedeutet das?«
»Engel«, antwortete Efiriel. »Er hat sicher noch nicht viele
von uns gesehen.«
Im nächsten Moment hatten alle sie entdeckt. Die Kinder
starrten sie einfach nur staunend an, während die Erwachsenen
sich zu Boden warfen und Wörter murmelten wie »gloria«,
»amen« und immer wieder »halleluja«.
Umuriel schwirrte über ihren Köpfen herum.
»Bekommt jetzt bloß nicht den allerkleinsten Schrecken«,
sagte er. »Denn vor 688 Jahren wurde ein spitzenmäßiger
Erlöser in Davids Stadt Bethlehem geboren. Und jetzt kommen
wir aus allen Winkeln der Welt, um ihn anzubeten.«
Ein schwarz gekleideter Mann trat auf sie zu.
»Der Priester«, flüsterte Efiriel.
Der Mann sagte etwas, was Elisabet nicht verstehen konnte,
aber der Engel erklärte, er habe sie gebeten, das Jesuskund auch
aus diesem verlassenen Winkel zu grüßen.
Josua schlug sogleich mit dem Hirtenstab gegen die alte
Stadtmauer und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Und schon eilten sie weiter durch Dalmatien. Sie liefen über
Hügel und Höhenzüge und hatten immer wieder eine herrliche
142
Aussicht auf das Adriatische Meer. Efiriel zeigte schließlich auf
eine kleine Hafenstadt.
»Die Uhr zeigt 659. Die kleine Stadt dort ist Ragusa und
wurde erst gerade von Griechen gegründet. Später wird sie eine
wichtige Handels- und Hafenstadt werden und dann den Namen
Dubrovnik erhalten.«
Schon waren sie weiter.
Auf einem Höhenzug mit Blick aufs Meer stießen sie irgend-
wann auf einen weiteren Schäfer, der unter einer Pinie Schutz
vor der brennenden Sonne gesucht hatte. Er trug den gleichen
hellblauen Kittel wie Josua, Jakob und Isak. Als er sah, dass sich
der Pilgerzug näherte, stand er schnell auf und kam auf sie zu.
»Ehre sei Gott in der Höhe«, sagte er. »Ich heiße Daniel und
warte hier schon seit vielen Jahren. Aber ich wusste ja, dass ihr
irgendwann im 7. Jahrhundert durch Dalmatien kommen würdet.
Ich werde euch nach Bethlehem begleiten und die Engel in
Empfang nehmen, die uns erzählen wollen, dass uns in Davids
Stadt ein Erlöser geboren wurde.«
»Genau!«, sagte das Engelskind Umuriel. »Denn du gehörst zu
uns.«
Josua schlug einmal mehr mit dem Hirtenstab gegen die Pinie:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«, rief er auffordernd.
Sie beeilten sich und erreichten bald einen großen See. Am
Ende des Sees lag wieder eine große Stadt.
»Die Stadt heißt Shkodër und der See Shkodërsee«, sagte
Efiriel.
»In vielen hundert Jahren wird dieses Land den Namen Alba-
nien erhalten. Wir haben jetzt das römisch-katholische Gebiet
verlassen und befinden uns im Machtbereich von Byzanz.«
Elisabet war so verwirrt von all den seltsamen Wörtern, dass
sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Aber der Engel erklärte:
143
»Die Engelsuhr zeigt, dass seit Jesu Geburt 602 Jahre vergan-
gen sind. Zu dieser Zeit und das ganze Mittelalter hindurch hat
die christliche Kirche zwei verschiedene Hauptstädte. Die eine
Hauptstadt ist Rom, die andere Byzanz am Eingang zum
Schwarzen Meer.«
»Aber sie haben doch beide an Christus geglaubt?«
»Im Grunde ja. Aber sie zeigten es auf leicht unterschiedliche
Weise. Denn so wie die Menschen kommen und gehen, so
kommen und gehen auch Kirchensitten und Gottesdienstriten.
Auch wenn alles in der ersten Weihnacht in Davids Stadt
Bethlehem angefangen hat.«
Umuriel brauste mit den Flügeln und sagte:
»Genau! Und es gab dort nur eine einzige Maria und auch nur
ein einziges Jesuskind! Aber seither sind unzählige Bilder von
Maria und dem Jesuskind gemalt und geschnitzt worden, und
keine zwei davon sind völlig gleich. Denn obwohl es nur ein
Jesuskind gibt, haben alle Menschen eine etwas unterschiedliche
Vorstellung.«
Elisabet bewahrte diese Worte in ihrem Herzen. Aber plötzlich
schlug Umuriel mit den Flügeln und trat ganz dicht an sie heran:
»Gott hat auch nur einen Adam und eine Eva erschaffen. Sie
waren kleine Kinder, die Verstecken spielten und auf den
Bäumen im Garten Eden herumkletterten. Denn es hatte doch
keinen Sinn, einen schönen Garten zu schaffen, wenn es keine
Kinder gab, die darin spielen konnten. Es hat ja auch keinen
Sinn, Himmel und Hölle zu erschaffen, wenn keine Kinder darin
herumhüpfen können. Aber dann aßen die beiden Wichte vom
Baum der Erkenntnis, und schon waren sie erwachsen. Damit
war Schluss mit dem Spielen auf der Erde, doch zum Glück
blieb das nicht lange so. Denn schon bald bekamen der erwach-
sene Adam und die erwachsene Eva Kinder, schließlich auch
Enkelkinder usw. Aber auf diese Weise hat Gott dafür gesorgt,
dass es immer viele Kinder auf der Welt gibt. Es hat doch
144
keinen Sinn, eine ganze Welt zu erschaffen, wenn es nicht
immer Kinder gibt, die sie entdecken können. Auf diese Weise
erschafft Gott die Welt immer wieder aufs Neue. Er wird nie
ganz damit fertig, denn immer wieder kommen ja neue Kinder
dazu, die die Welt zum allerersten Mal entdecken. GENAU!«
Die beiden Weisen wechselten jetzt einen Blick.
»Nun ja!«, sagte Balthasar.
Und Kaspar fügte hinzu:
»Diese Erklärung ist vielleicht ein bisschen zweifelhaft. Aber
alle guten Geschichten können mindestens auf zwei oder drei
Arten verstanden werden, und man kann ja nur immer eine
Geschichte erzählen.«
»Aber obwohl auf der Erde viele Milliarden Kinder gelebt
haben, waren noch keine zwei völlig gleich«, fuhr Umuriel fort.
»Es gibt in der ganzen Schöpfung keine zwei Grashalme, die
gänzlich gleich sind. Und zwar, weil Gott im Himmel vor
Phantasie nur so sprüht. Ab und zu sprudelt er geradezu über,
dann spritzt auch ein bisschen auf die Welt. ›Es errege sich das
Wasser mit lebendigen und webenden Tieren, und Vögel sollen
fliegen auf Erden‹, sagte er, während er sich alle Mühe gab, in
sechs Tagen die Erde zu erschaffen. ›Die Erde bringe hervor
lebendige Tiere, ein jegliches nach seiner Art, und allerlei Vieh,
Gewürm und Wild, ein jegliches nach seiner Art …‹«
Nun schielte Umuriel zu Elisabet hinüber:
»Ich kann das alles auswendig.«
Elisabet klatschte in die Hände. Sie selber hatte es immer
schwer gefunden, alte Märchen und Kinderreime auswendig zu
lernen.
Josua stieß jetzt von neuem mit dem Hirtenstab auf den Bo-
den.
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«, rief er wie gewöhnlich.
Und weiter ging es, hinauf in die makedonischen Hochebenen.
145
Als Mama fertig gelesen hatte, lächelten alle.
»Diesem Blumenmann scheint es ja an Phantasie nicht zu
fehlen«, sagte Papa.
Wieder blätterte er in einem Atlas:
»Sie sind durch ganz Jugoslawien gelaufen. Das ist eine
ziemlich weite Strecke für nur einen Tag.«
»Für fast hundert Jahre, meinst du«, korrigierte Joachim.
»Jeder Tag sind fast hundert Jahre.«
»Aber das ist ja nur für uns so«, fuhr Mama fort. »Für Elisabet
und die andern geht alles sehr schnell.«
Papa nickte widerwillig.
»Außerdem heißt es nicht mehr Jugoslawien«, fügte Mama
hinzu.
»Und im 7. Jahrhundert hieß es auch nicht so. Damals hieß es
Kroatien oder Dalmatien.«
Papa studierte weiter die Karte. Er zeigte Joachim, wie der
Pilgerzug gelaufen war. Und am Ende zeigte er ihm noch die
Städte Split und Dubrovnik.
146
Stadt in einem Wäldchen. Das Mädchen hat wohl nur ein kurzes
Leben gehabt.«
»Da solltest du dir nicht so sicher sein«, sagte Mama und
zwinkerte Joachim listig zu.
Papa fuhr fort:
»Ich habe auch versucht, Kontakt zu ihrer Familie aufzuneh-
men. Ich hab ein bisschen herumtelefoniert und schließlich mit
ihrer Mutter gesprochen. Sie ist inzwischen eine alte Frau von
über siebzig.«
Mama und Joachim staunten. Dann fragten sie beide durchein-
ander:
»Und was hat sie gesagt?«
»Kennt sie Johannes?«
»Eins nach dem andern«, sagte Papa. »Die alte Dame konnte
nicht viel mehr erzählen als die Polizei. Aber sie sagte, dass sie
vor vielen, vielen Jahren einmal mit einem Mann aus Syrien
gesprochen habe. Und der hieß Johannes. Elisabets Vater ist vor
wenigen Jahren gestorben. Auch er war wohl in Syrien und auch
in vielen anderen Ländern. Aber …«
Jetzt holte Papa tief Luft:
»Sie wusste nur nichts von dem Bild, das zehn bis fünfzehn
Jahre nach Elisabets Verschwinden in Rom aufgenommen
wurde. Ich habe versprochen, ihr eine Kopie zu schicken.«
Ein paar Minuten nachdem Mama und Papa ihm an diesem
Abend Gute Nacht gesagt hatten, stand er wieder auf und setzte
sich noch mal an seinen Schreibtisch:
Wer war die junge Frau, die Johannes in Rom fotografiert
hatte? Und hieß sie Elisabet, oder hatte sie in Wirklichkeit einen
ganz anderen Namen?
»Sabet … Tebas«, hatte Johannes gesagt. Aber warum? Es
hörte sich fast wie ein Zauberwort an.
147
Joachim öffnete sein kleines Notizbuch und sah, wie er die
beiden Namen geschrieben hatte. Jetzt schrieb er:
War das ein Fenster? Oder ein Kreuz? Vielleicht sollte es auch
einen Adventskalender darstellen.
148
17. Dezember
149
Kaum hatte Joachim den Zettel auseinandergefaltet, als Papa
ins Zimmer kam.
»Du hast doch wohl den Adventskalender noch nicht aufge-
macht?«, fragte er.
Joachim fuhr zusammen.
»Doch. Aber ich habe noch nichts gelesen.«
»Du hättest ruhig auf uns warten können«, schmollte Papa.
Er stürzte ins Schlafzimmer und holte Mama aus dem Bett.
Nicht mal kurz ins Badezimmer durfte sie mehr. Eilig setzten sie
sich auf die Bettkante und beugten sich über das dünne Papier.
Heute las Papa vor.
Serafiel
150
farbenfrohen Kleidern. Das Bemerkenswerteste aber war, dass
zwei Engel diese geheimnisvolle Prozession begleiteten.
Als der Pilgerzug schon längst nicht mehr zu sehen war, ging
dem Schäfer plötzlich auf, dass der weiße Vogel überhaupt kein
Vogel gewesen war. Jetzt hatte also auch er einen Engel des
Herrn gesehen.
Der Pilgerzug folgte dem Fluss bis zur Mündung in der Ther-
maikosbucht in der Ägäis. Elisabet konnte sich nicht erinnern,
jemals so blaues Wasser gesehen zu haben.
Efiriel zeigte auf einen Gipfel ganz weit rechts in der Meeres-
bucht, auf die sie jetzt blickten:
»Das ist der hohe Berg Olympos. In alten Zeiten glaubten die
Griechen, dass dort die Götter wohnen. Die hießen Zeus und
Apollon, Athene und Aphrodite. Aber jetzt zeigt die Engelsuhr,
dass seit Christi Geburt 569 Jahre vergangen sind. Und kein
einziger Grieche glaubt mehr an die griechischen Götter.«
»Glauben sie denn jetzt an Jesus?«, fragte Elisabet.
Der Engel nickte.
»Aber es ist erst wenige Jahre her, dass die Kirche die alte
Philosophenschule in Athen geschlossen hat. Sie war vor fast
tausend Jahren von dem berühmten Philosophen Platon gegrün-
det worden.«
»Warum haben sie denn die Schule geschlossen?«, fragte
Elisabet.
Efiriel schüttelte den Kopf, aber dann sagte er etwas, was
Elisabet in ihrem Herzen bewahrte:
»Sehr viel ist in Jesu Namen geschehen, was dem Himmel
überhaupt nicht gefällt. Jesus wollte mit allen Menschen
sprechen. Er hat ihnen nie befohlen zu schweigen. Nur wenige
Jahre, nachdem Jesus gestorben war, kam der Apostel Paulus
nach Athen. Er war der erste große christliche Missionar, und
als er in Athen war, wollte er mit den griechischen Philosophen
151
sprechen. Er bat sie, den Worten des Herrn zu lauschen, aber er
wollte auch gern ihre Meinung hören und sie nicht unterdrü-
cken.«
Mehr konnte er nicht mehr sagen, denn schon wieder stieß
Josua mit seinem Hirtenstab auf den Boden und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Eine Weile später erreichten sie eine große Stadt, die ganz
hinten in der Meeresbucht lag. Efiriel sagte, die Uhr zeige 551,
die Stadt heißt Thessaloniki, und die Römer hätten sie zur
Hauptstadt Makedoniens ernannt.
»Bereits im Jahr 50 nach Jesu Geburt gründete Paulus hier
eine christliche Gemeinde. Und doch sind wir noch weit vom
Heiligen Land entfernt. Paulus schrieb den Christen in dieser
Stadt zwei Briefe. Wir können sie noch heute lesen, denn beide
Briefe stehen in der Bibel.«
Elisabet dachte über die Worte des Engels nach. Sie hatte sich
noch nie überlegt, dass es möglich sein könnte, Briefe so lange
aufzubewahren.
Sie gingen durchs Tor in die Stadt. Es war früh am Morgen,
und auf den Straßen war kaum ein Mensch zu sehen. Efiriel
zeigte auf die vielen Kirchen und erzählte, dass einige davon
bereits mehrere hundert Jahre alt waren. Bei einer blieb er
stehen und sagte:
»Fünfzehnhundert Jahre werden vergehen, aber diese St.
Georgskirche wird immer noch hier stehen.«
Dann eilten sie weiter gen Osten und erreichten bald eine neue
Stadt.
»Das ist Philippi«, sagte der Engel Efiriel. »Hier hielt Paulus
seine erste Rede auf europäischem Boden. Hier gründete er auch
die erste christliche Gemeinde in Europa. In der Bibel steht ein
Brief, den er an die Philipper geschrieben hat, als er um seines
Glaubens willen im Kerker saß.«
152
Efiriel zeigte auf eine achteckige Kirche. Plötzlich wurden die
Türen von innen geöffnet. Umuriel wollte schon »Fürchtet euch
nicht!« sagen, aber da trat ein weiterer Engel aus der Kirche. Er
machte einige Schritte auf Elisabet zu und sagte:
»Sei gegrüßt, meine Tochter. Ich bin Serafiel und möchte mit
nach Bethlehem, um aus den Wolken des Himmels herabzu-
schweben und das Jesuskind auf Erden willkommen zu heißen.«
Josua schlug mit dem Hirtenstab gegen die Kirchenmauer:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Und sie schlugen den alten Weg zwischen dem Ionischen
Meer und Konstantinopel ein. Serafiel erzählte, dass dieser Weg
»Via Egnatia« hieß.
Ganz vorn sprang das kleine Lamm, das einst aus einem
Kaufhaus in Norwegen weggelaufen war, weil es das Geplirre
der vielen Registrierkassen nicht mehr ertragen konnte. Den
Schafen folgten vier Hirten, und den Hirten wiederum der
römische Landpfleger Cyrenius, zwei Weise, ein kleines
Mädchen aus Norwegen und die Engel Efiriel und Serafiel. Das
Engelskind Umuriel flatterte zwischen ihnen allen hin und her
und war bald hier, bald dort.
Sie eilten weiter ostwärts nach Konstantinopel. Im Laufen
sagte der Engel Efiriel:
»Die Uhr zeigt 551 nach Christus, und wir müssen vor 500 in
Konstantinopel sein!«
153
Er öffnete den zweiten Atlas. Das war der, der zeigte, wie die
Länder in Europa im 6. Jahrhundert ausgesehen hatten.
»Die Via Egnatia muss dieser Weg gewesen sein«, sagte er.
»Hier sind nämlich Thessaloniki und Philippi.«
»Gibt es keine Karte von den Missionsreisen des Paulus?«,
fragte Mama.
Papa blätterte und blätterte im Atlas. Joachim fand jetzt auch
den Atlas ein bisschen magisch, zeigte er doch, wie die Welt zu
anderen Zeiten ausgesehen hatte. Er zeigte sogar Städte, die
schon längst von Erde und Sand begraben waren.
»Hier!«, rief Papa. Er hatte die Karte gefunden, die die vier
großen Missionsreisen des Paulus zeigte. »Paulus hat auf seiner
zweiten Missionsreise Philippi und Thessaloniki besucht.«
155
Jetzt musste Joachim nachdenken. Er dachte an den seltsamen
Adventskalender, den Cyrenius Elisabet geschenkt hatte, und er
dachte daran, was Johannes ihm neulich am Gartentor gesagt
hatte. Er sagte:
»Vielleicht hieß sie sowohl als auch. Vielleicht heißt sie
Elisabet Tebasile.«
»Ja, vielleicht. Vielleicht, ja!«
»War sie Norwegerin?«
Johannes seufzte tief.
»Ja und nein, weißt du. Sie war aus Palästina, aus einem
kleinen Dorf bei Bethlehem. Sie sagte, sie sei ein palästinensi-
scher Flüchtling. Aber sie war offenbar in Norwegen geboren.
Das alles ist ziemlich seltsam.«
»Und dann ist sie zusammen mit Efiriel und dem Glocken-
lamm nach Bethlehem gewandert?«, fragte Joachim schon fast
außer Atem.
Johannes sagte:
»Du stellst vielleicht Fragen. Aber jetzt muss ich auflegen,
weißt du. Wir müssen warten lernen, Joachim. Weißt du, dass
›Advent‹ bedeutet, dass etwas kommen wird?«
Dann legte er auf!
Joachim wuselte im Haus herum, bis seine Eltern kamen. Er
musste natürlich immer wieder von seinem Telefongespräch mit
Johannes erzählen, denn Papa wollte ganz sichergehen, dass der
Blumenverkäufer nichts Wichtiges gesagt hatte, woran sich
Joachim nicht mehr erinnerte.
»Elisabet Tebasile!«, grunzte er. »So heißt ja wohl kein
Mensch!«
Aber das war noch nicht alles. Joachim wusste, dass ein
Flüchtling ein Mensch ist, der aus seinem Land fliehen muss,
weil dort Krieg und Not herrschen. Aber er wusste nicht, dass
auch aus Bethlehem Menschen fliehen mussten.
156
Papa musste noch einmal im Atlas nachschlagen. Er erzählte,
dass viele Menschen aus den Dörfern bei Bethlehem aus ihrem
Land fliehen mussten, weil dort Krieg war. Manche verloren
alles, was sie besaßen, und gerieten in so große Not, dass sie in
Flüchtlingslagern wohnen mussten.
»Dann müsste ein barmherziger Samariter kommen und ihnen
helfen«, meinte Joachim. »Denn Jesus wollte die Menschen
lehren, einander zu helfen, wenn jemand in Not gerät. Nur so
kommt Frieden. Und um Frieden geht es doch in der Weih-
nachtsbotschaft.«
157
18. Dezember
Mama und Papa sind jetzt ganz sicher, dass es Johannes war, der
den magischen Adventskalender gemacht hat. Papa hat den alten
Blumenverkäufer einen schlauen Fuchs genannt, Mama sagt, er
158
sei ein Rätsel. Doch einzig Joachim ist sich sicher, dass die
Elisabet, die unterwegs nach Bethlehem ist, um das Jesuskind
anzubeten, wirklich dieselbe Elisabet ist, die als junge Frau in
Rom gewohnt hat.
Elisabet Hansen ist 1948 verschwunden. Wenn sie damals
sieben Jahre alt war, warum sollte sie dann nicht um 1960
erwachsen gewesen sein?
Aber wieso wusste Johannes nicht, ob die Frau auf dem Bild
Elisabet oder Tebasile hieß? Vielleicht hatte Elisabet ihren
Namen rückwärts gesagt, als sie nach Bethlehem kam, weil sie
fand, dass sich das ein bisschen palästinensischer anhörte?
Kaiser Augustus
159
Horn zwischen dem Marmarameer und dem Schwarzen Meer
zu. Sie wollten nach Bethlehem. Es war fünfhundert Jahre her,
dass Jesus in einem Stall geboren, in ein Stoffstück gewickelt
und in eine Krippe gelegt wurde, weil sonst in der Herberge kein
Platz für Maria und Josef gewesen war. Aber diese alte Ge-
schichte war schon inzwischen in großen Teilen der Welt
bekannt.
Sie blieben vor einem der Stadttore stehen, das von Soldaten
bewacht war. Die Soldaten zogen ihre Schwerter und hoben
bereits die Speere, noch ehe die ersten Schafe das Tor erreicht
hatten. Aber da flog der Engel Serafiel zu den Schafen nach
vorn und stellte sich zwischen sie und die Soldaten.
»Fürchtet euch nicht!«, sagte er. »Wir wollen nach Bethlehem,
um das Jesuskind anzubeten. Ihr müsst uns durchlassen.«
Die Soldaten warfen ihre Waffen weg und fielen zu Boden.
Einer machte ihnen ein Zeichen, dass sie das Stadttor passieren
dürften. Und schon befand sich der ganze Pilgerzug innerhalb
der soliden Stadtmauern.
Es war früh am Morgen, die Stadt war noch nicht zum Leben
erwacht. Der Pilgerzug hielt auf einer Anhöhe mit guter Aus-
sicht auf die Stadt und den Bosporus an, der Europa von Asien
trennt. Diese Meerenge ist so schmal, dass der Pilgerzug bereits
das andere Ufer sehen konnte. Im Vordergrund fiel ihnen eine
Kirche auf, die gerade im Bau war.
»Die Uhr zeigt 495 nach Christus«, sagte Efiriel. »Ursprüng-
lich hieß die Stadt hier Byzanz. Aber im Jahr des Herrn 330
nach Jesu Geburt wurde sie von Kaiser Konstantin zur Haupt-
stadt des Römischen Reichs erhoben. Zuerst nannte er sie ›Das
Neue Rom‹, bald darauf jedoch erhielt sie den Namen Konstan-
tinopel. Später wird die Stadt wieder ihren alten griechischen
Namen Byzanz annehmen. In knapp tausend Jahren, das heißt
1453, wird die Stadt dann von den Türken erobert, die sie
schließlich Istanbul nennen.«
160
»Hatten die Soldaten eben schon was von Jesus gehört?«,
wollte Elisabet wissen.
»Davon können wir ausgehen. Bereits im Jahr 313 machte
Kaiser Konstantin das Christentum zu einer gesetzlich erlaubten
Religion im Römischen Reich. Er selber ließ sich noch kurz vor
seinem Tod taufen. Einige Jahre später, im Jahre 380, wurde das
Christentum sogar zur Staatsreligion des gesamten Römischen
Reichs.«
Elisabet staunte über die Worte des Engels.
»Wie kannst du dir all diese Jahreszahlen bloß merken?«,
fragte sie.
»Ich brauche nur auf die Engelsuhr zu schauen«, antwortete
Efiriel. »Da wir uns nicht um Sekunden, Minuten, Stunden und
Tage zu kümmern brauchen, ist es gar nicht so schwierig, die
Jahreszahlen zu behalten. Übrigens, eine weitere Jahreszahl, die
wir uns merken sollten, ist 395 – das ist jetzt genau vor hundert
Jahren. Damals wurde das Römische Reich zweigeteilt, und
Konstantinopel wurde die Hauptstadt des Oströmischen
Reichs.«
In diesem Moment kam der Engel Serafiel dazu. Er zeigte auf
eine schöne Kirche und sagte:
»Die Kirche da ist eine Basilika und wurde von Kaiser Kon-
stantin zu Ehren der Weisheit Gottes errichtet. In wenigen
Jahren wird sie abbrennen, aber an derselben Stelle wird dann
die schöne Sophienkirche oder auch Hagia Sophia erbaut
werden. Und sie wird für viele hundert Jahre das Wahrzeichen
der Stadt sein.«
Cyrenius hatte sich währenddessen mehrmals geräuspert.
»Wir müssen den Bosporus überqueren«, sagte er. »Dann ist
es nicht mehr so weit bis nach Syrien. Dixi!«
Und auch Josua stieß wieder energisch mit dem Hirtenstab auf
den Boden:
161
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Sie liefen durch die Stadt und standen schon bald am Rand des
Goldenen Horns. Bei den Landungsbrücken trat ihnen ein
stattlicher Mann in farbenfrohen Kleidern und mit einem
glitzernden Zepter in der einen Hand entgegen. In der anderen
Hand hielt er ein dickes Buch.
Umuriel schwebte schon wieder in der Luft, um sein »Fürchte
dich nicht« zu sagen, aber der stattliche Mann achtete nicht auf
das Engelskind. Er kam direkt auf sie zu und erklärte:
»Ich bin Kaiser Augustus und werde euch über den Bosporus
führen. Ich befehle euch, diese Geste ohne unangenehme
Proteste anzunehmen.«
Er zeigte auf ein Schiff mit mehreren großen Segeln. Und
siehe da: Die Schafe sprangen bereits von sich aus an Bord.
»Dann gehörst du zu uns«, sagte Efiriel.
Elisabet drehte sich zu dem Engel um und sagte:
»Ich wusste gar nicht, dass Kaiser Augustus ein Christ war.«
Da huschte ein rätselhaftes Lächeln über das Gesicht des
Engels.
»Aber der alte römische Kaiser spielt schon seit vielen hundert
Jahren als eine Art blinder Passagier im Weihnachtsevangelium
mit. Und Gottes Reich steht allen offen, auch denen, die ohne
Fahrkarte reisen.«
Elisabet fand, dass die Worte des Engels den Himmel noch
größer machten, als sie sich das vorgestellt hatte. Und sie
bewahrte die Worte in ihrem Herzen.
Bald hatte die große Pilgerschar das andere Ufer des Bosporus
erreicht. Als sie an Land gingen, stellte sich Elisabet kurz dem
römischen Kaiser vor und fragte, was er denn da für ein Buch
unter dem Arm hielte. Sicher, dachte sie, würde er darauf
antworten, dass es die Bibel sei – oder doch wenigstens ein
Gesangbuch. Denn das konnte der Himmel doch wirklich von
162
einem alten Kaiser verlangen, der plötzlich beschlossen hatte,
mit ihnen nach Bethlehem zu kommen? Aber Kaiser Augustus
sagte:
»Das ist das heilige Volkszählungsregister.«
Mehr sagte er nicht. Er war so stattlich und stolz, dass es ihm
offenbar nicht gefiel, lange zu reden, jedenfalls nicht mit kleinen
Mädchen. Elisabet kam das ein bisschen komisch vor, schließ-
lich konnte ein römischer Kaiser doch nicht jeden Tag mit
einem Mädchen sprechen, das einem Lamm hinterhergerannt
war, das aus einem Kaufhaus in Norwegen geflohen war und
nun nach Bethlehem wollte, weil es das ewige Gebimmel der
vielen Registrierkassen nicht mehr ertragen konnte.
Der Schäfer Josua stieß schon wieder den Hirtenstab auf den
Boden und erinnerte sie an ihr Ziel. Aber sie waren noch gar
nicht lange unterwegs, als sie schon wieder auf einer Anhöhe
oberhalb der Stadt Calchedon stehen blieben.
Unten in der Stadt wimmelte es nur so von Priestern. Es schien
einen ganzen Schwarm von ihnen zu geben. Elisabet wunderte
sich sehr über den Anblick. Er erschreckte sie fast.
»Fürchte dich nicht«, sagte da aber der Engel Serafiel. »Die
Uhr zeigt 451 Jahre nach Jesu Geburt, und dort unten wird
gerade die größte Kirchenversammlung in der Geschichte des
Christentums abgehalten. Die Stadt heißt Calchedon, und
Priester und Bischöfe aus der gesamten christlichen Welt sind
hierher geströmt.«
»Und worüber reden sie?«, wollte Elisabet wissen.
Der Engel lachte.
»Sie versuchen, sich über die wahre christliche Lehre zu
einigen.«
»Und schaffen sie es?«
»Nach langen Diskussionen kommen sie zu einer Erklärung,
die besagt, dass Jesus Gott und Mensch zugleich war. Aber sie
163
diskutieren auch über viele andere Fragen. Einige Priester sind
so sehr darauf versessen, herauszufinden, was der einzig wahre
Glaube ist, dass sie in der Eile das Allerwichtigste vergessen.«
Jetzt machte Elisabet große Augen:
»Was ist denn das Allerwichtigste?«
»Dass Jesus auf die Welt gekommen ist, um die Menschen zu
lehren, gut zueinander zu sein. Keine andere Lektion fällt den
Menschen schwerer, und keine andere ist wichtiger. Es ist nicht
so wichtig, zu wissen, wie viele Engel es im Himmel gibt oder
ob Gott einen Splitter im kleinen Finger hat.«
»Hat er denn wirklich?«
»Es spielt keine Rolle, hörst du. Es ist viel wichtiger, dass du
den Balken in deinem eigenen Auge siehst.«
Elisabet fand diese Antwort sehr schwer zu verstehen, aber sie
bewahrte die Worte des Engels wieder in ihrem Herzen. Später
würde sie sie vielleicht besser begreifen.
Die beiden Weisen waren offenbar nicht ganz zufrieden mit
dem, was der Engel gesagt hatte. Kaspar legte den Kopf schräg
und meinte lässig:
»Im Grunde ist es auch gar nicht nötig, an Engel zu glauben.
Viele meinen, dass solche Vorstellungen sehr wenig mit dem zu
tun haben, was Jesus uns lehren will.«
Der Engel Efiriel blickte dem Weisen tief in die Augen, um
ihn zum Schweigen zu bringen, und das schien zu helfen,
jedenfalls fürs Erste. Aber nun ergriff Balthasar das Wort:
»Alle Erzählungen über Engel könnten ohne weiteres Märchen
sein. Aber kein Märchen war, dass Jesus die Menschen lehren
wollte, gut zueinander zu sein.«
Erst jetzt widersprach Efiriel. Mit sehr höflicher Stimme sagte
er:
»Wir Engel benutzen nie so starke Worte. Aber ich muss nun
doch sagen dürfen, dass dieser Unsinn so ungefähr das Dümms-
164
te ist, was ich je gehört habe, jedenfalls was diese Pilgerfahrt
betrifft. Ihr solltet euch beide schämen – oder im Morgenland
bleiben und nicht mit solch losen Reden nach Westen wandern.«
»Genau!«, fügte Umuriel hinzu. »Ihr solltet euch beide schä-
men. Jetzt bin ich beleidigt.«
Im nächsten Moment machte Umuriel etwas, was Elisabet
niemals von den Engeln im Himmel erwartet hätte. Er hielt eine
Hand vor sein beleidigtes Gesicht und drehte den beiden Weisen
aus dem Morgenland eine lange Nase!
»Geschieht euch ganz recht!«, rief das Engelskind. »Jawoll!«
Eine gewisse Nervosität überkam jetzt die heilige Prozession.
Der Engel Serafiel räusperte sich zweimal und breitete seine
Arme aus, um zu zeigen, dass er keine Waffen bei sich hatte.
»Es ist leicht, den Mut zu verlieren, wenn sogar unsere Nächs-
ten nicht mehr an uns glauben. Aber selbst wenn wir uns in
solchen wichtigen Glaubensfragen nicht einigen können, so
dürfen wir doch nicht anfangen, uns zu streiten. Und nun, bitte,
lasst uns versuchen, alle bösen Worte und alle bösen Gesten
schnell zu vergessen.«
Der Schäfer Josua stimmte dem letzten Redner offenbar zu,
denn nun stieß er mit dem Hirtenstab auf den Boden und sagte
wieder:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Da setzten sie sich abermals in Bewegung und wanderten jetzt
durch Phrygien.
165
»Das waren schon immer unter den Christen umstrittene
Fragen. Nicht zum ersten Mal ist wegen einer Diskussion über
Engel gereizte Stimmung aufgekommen.«
»Aber im Grunde waren sie sich doch gar nicht so uneinig«,
meinte Mama. »Engel und Weise fanden, dass Jesus die Men-
schen vor allem lehren wollte, gut zueinander zu sein. Und das
kann ja wirklich viel schwerer sein, als an Engel zu glauben.«
Papa schlug unterdessen im Atlas nach und zeigte auf Kon-
stantinopel, das heute Istanbul heißt. Er zeigte auf die schmale
Meerenge des Bosporus, wo Kaiser Augustus sie in seinem
Schiff übersetzte.
Im Pfannkuchenbuch fanden sie die alte Stadt Calchedon. wo
sich die vielen Priester getroffen hatten, um über die wahre
christliche Lehre zu diskutieren. Jetzt also hatte der Pilgerzug
Asien erreicht.
Als Mama am Nachmittag von der Arbeit kam, brachte sie einen
dicken Umschlag mit alten Zeitungsartikeln mit. Sie war in der
Bibliothek gewesen und hatte alle Artikel kopieren lassen, die
von Elisabet Hansens Verschwinden im Jahr 1948 handelten.
Papa, Mama und Joachim setzten sich an den Kaffeetisch und
lasen gemeinsam die alten Zeitungsausschnitte. Ganz besonders
genau sahen sie sich Elisabet Hansens Gesicht auf dem Foto an.
Mama holte das Bild der erwachsenen Elisabet vom Kaminsims
und verglich die Bilder.
Ob die Fotos wirklich ein und dieselbe Elisabet zeigten?
»Beide sind blond«, sagte Mama. »Und haben sie nicht auch
beide die gleiche, ein bisschen spitze Nase?«
»Unmöglich zu sagen!«, schnaubte Papa.
Ihn interessierte viel mehr Elisabets Verschwinden. Während
er in den alten Zeitungen las, sagte er:
166
»Ihre Mutter war Lehrerin … und ihr Vater ein bekannter
Journalist … als einige Monate später der Schnee schmolz,
wurde nur ihre kleine Mütze gefunden … in einem Wäldchen.
Ansonsten hatte die Polizei keine einzige Spur …«
»Die hatte ja auch den magischen Adventskalender nicht
gelesen«, sagte Joachim.
Papa lachte.
»Aber einen Engel hätten sie doch sowieso nicht verhaften
können!«
167
19. Dezember
168
… es machte ihm nämlich tierischen Spaß, den
Leuten Geschenke durchs Fenster zu werfen …
169
Johannes verschwunden. Er behauptete, in der Wildnis zu sein.
Am 19. Dezember gab es im magischen Kalender das Bild
eines Weihnachtsmanns. Er hatte lange weiße Haare und einen
weißen Bart. Er trug einen roten Umhang, und auf dem Kopf
einen roten, spitzen Hut. Auf der Brust trug er ein großes
Silberkreuz mit einem roten Edelstein.
Mama las diesmal vor, was auf dem dünnen Papier im Ad-
ventskalender stand.
Melchior
170
nach Westen hinzieht. Zweitausend Meter über dem Meer
entdeckten sie plötzlich eine grün gekleidete Gestalt. Es war ein
Mann, der als lebender Meilenstein an der Stelle saß, wo sich
das Wasser teilt und der Weg durchs Gebirge zum Mittelmeer
abfällt. Er sah unheimlich groß aus.
Kaspar und Balthasar fuchtelten wild mit den Armen und
wollten am liebsten an all den Schafen vorbei, als sie den Mann
in Grün sahen.
»Wer ist das?«, fragte Elisabet.
»Das muss jedenfalls einer von uns sein«, antwortete Efiriel.
Und richtig, der Fremde stand auf und legte Kaspar und Bal-
thasar die Arme um die Schultern.
»Der Ring hat sich geschlossen«, erklärte er feierlich.
Elisabet begriff jetzt gar nichts mehr, aber da trat der Fremde
zu ihr und begrüßte auch sie höflich:
»Willkommen in Pamphylien. Ich bin Melchior, der dritte
Weise und heiliger König von Egryskullien.«
Jetzt verstand Elisabet, warum er gesagt hatte, der Ring hätte
sich geschlossen, denn nun waren ja alle Heiligen Drei Könige
wieder vereint.
»Ihr habt so viele seltsame Namen«, sagte sie. »Ihr seid Weise,
heilige Könige, Kaspar, Melchior und Balthasar.«
Melchior lächelte breit:
»Und wir haben noch viele andere Namen. Auf Griechisch
heißen wir Galgalath, Magalath und Sakarin. Andere nennen uns
Magier oder persische Priester. Aber es spielt gar keine Rolle,
wie wir genannt werden. Wir vertreten in diesem Bericht
einfach alle Menschen der Welt, die nicht aus dem Heiligen
Land kommen.«
Elisabet blickte zum Engel Efiriel, und der Engel nickte.
»Das stimmt alles.«
171
»Ja ja, man soll doch nicht lügen«, fuhr Melchior fort. »Was
wäre man denn für ein heiliger König, wenn man die Unwahr-
heit sagte? Jedenfalls wäre das nicht sehr weise, höchstens ein
bisschen naseweis.«
Elisabet musste über Melchior lachen. Aber er hatte noch mehr
auf dem Herzen.
»Ich würde auch nicht Melchior heißen, wenn ich nicht so
gern Milch tränke. Und auch nicht Sakarin, wenn ich nicht so
viel Süßstoff in meinen Kaffee täte. Kurz gesagt: Ich bin so froh,
dass ich singen und tanzen könnte. Ich freue mich jedenfalls
sehr über den Heiligen Abend – denn da ist Jesus geboren.«
»Das reicht«, sagte der Schäfer Josua und schlug mit dem
Hirtenstab gegen einen Stein.
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Aber noch einmal ergriff Melchior das Wort:
»Erst sagen wir noch dem Weihnachtsmann Guten Tag. Er
wohnt gleich hier um die Ecke.«
Und schon ging es weiter, die steilen Felshänge zum Mittel-
meer hinunter. Im Laufen fragte Elisabet:
»Sagen wir wirklich dem Weihnachtsmann Guten Tag?«
Efiriel zeigte auf eine Stadt, die eng am Berg klebte. Im Hin-
tergrund konnten sie das Mittelmeer ahnen.
»Es ist 322. Die Stadt heißt Myra, und Paulus war hier, als er
sich auf dem Weg nach Rom befand, um in der Hauptstadt des
Römischen Reichs von Jesus zu erzählen. Auch in Myra
gründete er eine christliche Gemeinde.«
»Und was hat das mit dem Weihnachtsmann zu tun?«
Der Engel ließ sich jedoch nicht unterbrechen.
»Zweihundert Jahre, nachdem Paulus in Myra gewesen war,
wurde hier ein Junge geboren, der auf den Namen Nikolaus
getauft wurde. Seine Eltern waren Christen, und Nikolaus wurde
später zum Bischof von Myra ernannt. In Myra wohnte auch ein
172
Mädchen, das aber leider sehr arm war, weil sein Vater den
ganzen Besitz verloren hatte. Sie wollte gern heiraten, aber da
sie kein Geld für die Mitgift hatte, ging das nicht. Bischof
Nikolaus wollte jedoch dem armen Mädchen gern helfen. Er
wusste allerdings, dass die Familie zu stolz war, um Geld als
Geschenk anzunehmen.«
»Dann hätte er doch das Geld auf das Bankkonto des Vaters
einzahlen können«, schlug Elisabet vor.
»Das ging nicht, weil es zu der Zeit noch gar keine Banken
und Konten gab. Aber Nikolaus machte etwas ganz Ähnliches.
Er schlich sich nachts an ihr Haus und warf durch ein offenes
Fenster ein Säckchen mit Goldmünzen. Auf diese Weise konnte
das junge Mädchen dann doch noch heiraten.«
»Das war aber lieb von Nikolaus.«
»Damit ließ er es aber noch nicht bewenden. Es machte ihm
nämlich tierischen Spaß, den Leuten Geschenke durchs Fenster
zu werfen, und deshalb machte er einfach weiter. Nach seinem
Tod redeten alle noch lange voll Lob über ihn. Später wurde er
dann heilig gesprochen und hieß von da an Sankt Nikolaus. Auf
Englisch heißt er Santa Claus und auf Deutsch eben Nikolaus
oder auch Weihnachtsmann. Und die Namen Nils und Klaus
kommen auch von Nikolaus.«
»Trug er denn einen roten Umhang, einen langen weißen Bart
und eine Zipfelmütze?«
»Wart’s nur ab«, sagte der Engel Efiriel.
Die Sonne war noch nicht wieder aufgegangen. Sie standen
vor einer niedrigen Kirche in Myra.
Kaum waren sie stehen geblieben, als die Kirchentür auch
schon geöffnet wurde. Ein stattlicher Mann in langem rotem
Umhang, mit langem weißem Bart und roter Mütze auf dem
Kopf trat heraus. Um den Hals trug er ein großes Silberkreuz
mit einem roten Edelstein. Er sah fast so aus wie ein Weih-
nachtsmann, aber Efiriel flüsterte Elisabet ins Ohr, dass die Uhr
173
gerade 325 Jahre nach Jesu Geburt anzeige und der Mann
einfach die damals üblichen Bischofskleider trage.
»Das ist also Bischof Nikolaus von Myra«, flüsterte der Engel.
Elisabet musste nachdenken.
»Hat Myra etwas mit Myrrhe zu tun?«
Ein spitzfindiges Lächeln huschte über das Gesicht des Engels.
»Das kannst du durchaus so sagen, denn Myrrhe war eines der
drei Weihnachtsgeschenke für das Jesuskind. Wenn es heute
üblich ist, sich zu Weihnachten etwas zu schenken, dann kommt
das eigentlich von den Weihnachtsgeschenken, die die drei
Weisen dem Jesuskind mitgebracht haben, und auch von
Bischof Nikolaus’ Freigebigkeit.«
Mit energischem Schritt trat Bischof Nikolaus jetzt auf die
Heiligen Drei Könige zu und verneigte sich tief. In seinen
Armen hielt er drei verschiedene Schreine.
»Wir wollen nach Bethlehem«, sagte Kaspar.
Bischof Nikolaus lachte, dass sein Bart nur so bebte:
»Ho, ho! Dann müsst ihr dem Kind in der Krippe aber ein paar
Geschenke mitbringen. Das müsst ihr doch einfach tun, nicht
wahr? Ho, ho!«
Und er reichte jedem einen Schrein. Kaspars Schrein war
gefüllt mit funkelnden Goldmünzen. In Balthasars Schrein fand
sich Weihrauch, in Melchiors Myrrhe.
Da Elisabet jetzt begriff, dass sie vor einem echten Weih-
nachtsmann stand, lief sie einfach zu ihm hinüber und befühlte
seinen roten Umhang. Und er bückte sich und nahm sie auf den
Arm. Sie versuchte, ihn am Bart zu zupfen, ob er auch echt war.
Und das war er natürlich.
»Warum bist du so lieb?«, fragte sie.
»Ho, ho«, lachte der Rotgekleidete wieder. »Je mehr wir
weggeben, desto reicher werden wir. Und je mehr wir für uns
behalten, desto ärmer bleiben wir. Das ist das Mysterium der
174
Freigebigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Aber es ist ja auch
das Mysterium der Armut.«
Der Engel Umuriel klatschte in die Hände:
»Gut gesagt, Bischof!«
Bischof Nikolaus fuhr fort:
»Alle, die sich auf Erden Schätze sammeln, werden eines
Tages sehr arm sein. Aber die, die alles verschenkt haben, was
sie besitzen, werden niemals arm sein. Und sie haben außerdem
so viel Spaß gehabt, dass sie immer fröhlich waren. Ho, ho!
Denn die allergrößte Freude auf Erden ist Freigebigkeit!«
»Das kann schon sein«, sagte Elisabet. »Aber erst muss man
doch etwas haben, was man verschenken kann.«
Jetzt lachte der muntere Bischof so wild, dass sein ganzer
Körper bebte. Elisabet wurde auf seinem Arm fast seekrank.
»Ganz und gar nicht«, sagte er, als er so viel Gelächter ver-
schluckt hatte, dass in seinem Mund auch ein bisschen Platz
zum Sprechen war. »Du brauchst überhaupt nichts zu besitzen,
um Freigebigkeit in den Adern zu spüren. Ein kleines Lächeln
reicht, oder etwas Selbstgemachtes.«
Mit diesen Worten stellte er Elisabet wieder auf den Mosaik-
boden vor der Kirche.
Josua nahm die Gelegenheit wahr und stieß mit dem Hirten-
stab auf den Boden:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Als sie losliefen, hörten sie noch das Lachen des Bischofs auf
dem Kirchplatz:
»Ho-ho! Ho-ho! Ho-ho!«
Mama blickte von dem Blatt auf und musste jetzt ebenfalls
lachen. Das steckte wieder Joachim an, und als auch er loslach-
175
te, konnte sich Papa nicht mehr beherrschen. Auf diese Weise
lachten sie alle drei um die Wette. Am Ende sagte Mama:
»Ich glaube, mit dem Lachen ist es wie mit Wiesenblumen.«
Weder Papa noch Joachim begriffen, was sie meinte.
»Beides ist ein Stück der himmlischen Herrlichkeit, das sich
auf die Erde verirrt hat. Aber diese Art Herrlichkeit verbreitet
sich sehr leicht«, erklärte Mama.
Noch ehe Mama fertig gelesen hatte, was auf dem dünnen Blatt
stand, hatte Papa schon wieder zu dem historischen Atlas
gegriffen. Jetzt erklärte er:
»Die Namen stimmen mit der Karte überein. Und Paulus hat
wirklich eine kleine Stadt namens Myra besucht, als er von
Jerusalem nach Rom reiste.«
»Vielleicht ist die Elisabet auf dem Bild denselben Weg
gereist wie Paulus«, schlug Joachim vor. »Sie ist doch auch
nach Rom gereist.«
»Und sie hatte ein Silberkreuz mit einem roten Edelstein«,
sagte Mama. »Genau wie der Weihnachtsmann.«
Papa lachte. Dann ging er ins Wohnzimmer und holte ein
Lexikon. Bald kam er lesend über den Flur:
»Das mit diesem Bischof von Myra stimmt haargenau. Er war
der allererste Weihnachtsmann.«
»Die Geschichte wimmelt wirklich von seltsamen Zusammen-
hängen«, sagte Mama. »In allen Jahrhunderten scheinen kleine
Weihnachtsmänner auf- und abzuspringen.«
176
20. Dezember
177
»Also los«, sagte Papa.
Joachim öffnete die Tür mit der 20. Sie sahen dahinter das
Bild eines Mannes, der auf dem Boden lag und zu einem grellen
Licht emporblickte, das vom Himmel herabstrahlte.
»Ist das nicht ein seltsames Bild?«, fragte Mama.
Aber Papa war ungeduldig.
»Wir lesen«, sagte er.
Heute war Papa an der Reihe, und er faltete das Papier ausein-
ander und las laut vor, was dort in winzigen Buchstaben
geschrieben stand:
Cherubiel
178
Die geheimnisvolle Prozession zog weiter um den Golf von
Alexandretta herum. Von nun an führte der Weg nach Bethle-
hem südwärts entlang der Ostküste des Mittelmeers. Schließlich
erreichten sie die syrische Stadt Antiochien und blieben dort vor
dem Stadttor stehen.
»Wir befinden uns im Jahre 228«, sagte der Engel Efiriel.
»Hier begann die erste Missionsreise des Paulus. Und außerdem
wurde hier in Antiochien zum ersten Mal auf der Welt das Wort
›Christen‹ verwendet.«
»Aber waren die Jünger Jesu denn keine Christen?«, fragte
Elisabet.
»Ja und nein«, antwortete Efiriel. »Es dauerte jedenfalls
ziemlich lange, bis sich die ersten Christen tatsächlich so zu
nennen anfingen. Und das geschah zum ersten Mal eben hier in
dieser Stadt. Bis dahin hielten die Christen sich selber für Juden.
Paulus war auch Jude, aber auf seinen Missionsreisen wurde
ihm ziemlich bald klar, dass ja auch Römer und Griechen an
Jesus glauben konnten. Paulus meinte von da an, es müssten
nicht alle erst Juden werden, um an Jesus zu glauben. Sie
müssten auch nicht die vielen altjüdischen Regeln aus den
mosaischen Gesetzen befolgen. Denn Jesus hatte doch nicht nur
zu Juden gesprochen. Er hatte ja allen Menschen etwas zu
sagen.«
Die Weisen traten neben Efiriel.
»Wir sind Weise aus dem Morgenland«, sagte Kaspar. »Und
Könige von Nubien, Saba und Egryskullien. Keiner von uns hat
auch nur einen Tropfen jüdisches Blut in den Adern. Trotzdem
gehören wir zu den Allerersten, die das Jesuskind auf Erden
willkommen heißen.«
Josua schlug endlich mit dem Hirtenstab gegen die Stadtmau-
er. Und der Pilgerzug setzte sich wieder in Bewegung. Efiriel
sagte, dass sie jetzt unterwegs nach Damaskus seien, der
Hauptstadt Syriens.
179
Nach einer Weile befahl er, noch einmal anzuhalten. Sie
befanden sich nun auf einer öden Strecke der alten römischen
Straße durch Syrien.
»Hier ist es!«, sagte Efiriel jetzt und zeigte auf eine knallrote
Mohnblume am Straßenrand.
Der Engel Serafiel nickte zustimmend.
»Ja, genau. Das ist die Stelle.«
Elisabet begriff nichts, aber Efiriel sagte:
»Es ist 235 Jahre nach Jesu Geburt. Vor 200 Jahren ist hier ein
Wunder passiert, und dieses Wunder war von großer Bedeutung
für die ganze Weltgeschichte.«
Die drei Weisen standen in Reih und Glied und verneigten sich
höflich. Um seine Zustimmung zu beweisen, bohrte auch Kaiser
Augustus sein Zepter an der Stelle, auf die der Engel gezeigt
hatte, in den Boden.
Die vier Schäfer versuchten, ihre kleine Schafherde um das
Zepter des Kaisers zu versammeln. Es glänzte wie eine kleine
Sonne. Cyrenius, der einst hier Landpfleger gewesen war, zeigte
auf die Umgebung und sagte:
»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein. Jetzt ist es nur noch
zweihundert Jahre her, seit ich Landpfleger von Syrien war.«
»Entschuldige, dass ich so direkt frage«, sagte Elisabet. »Aber
ich bin vielleicht die Einzige, die nicht begreift, wovon ihr redet.
Jesus ist doch nicht hier geboren?«
Efiriel lachte:
»Im Jahr 35 nach Christi Tod war ein Jude aus Tarsus in
Kleinasien unterwegs nach Damaskus. Sein römischer Name
war Paulus, sein jüdischer Saulus. Als junger Mann hielt er sich
in Jerusalem auf, um die alten jüdischen Schriften zu studieren.
Dort hat er vielleicht auch Jesus getroffen und ihm zugehört.
Aber Paulus war Pharisäer, er glaubte, die Menschen könnten
Gott nur zufriedenstellen, wenn sie alle Vorschriften der
180
mosaischen Gesetze befolgten. Er gehörte deshalb zu den
eifrigsten Christenverfolgern. Er hat geholfen, sie ins Gefängnis
zu werfen, ja, er gehörte sogar zu den Mördern des heiligen
Stephanus.«
»So ein Dussel«, sagte Elisabet.
Efiriel und alle anderen nickten. Der Engel fuhr fort:
»Aber als er nach Damaskus ging, um auch dort die Christen
zu verfolgen, hatte er ein geheimnisvolles Erlebnis. Plötzlich
strahlte am Himmel ein Licht auf, und Paulus hörte eine
Stimme, die fragte: ›Saulus, Saulus, warum verfolgst du mich?‹
Paulus fragte, wer ihn da riefe. Und die Antwort lautete: ›Ich bin
Jesus, den du verfolgst. Stehe auf und geh in die Stadt, da wird
man dir sagen, was du tun sollst.‹ Paulus und seine Begleiter
waren sprachlos. Alle hatten die Stimme gehört, aber niemand
hatte etwas anderes gesehen als das Licht am Himmel.«
Umuriel nickte.
»Genauso war das. Die Stimme, die sie hörten, sagte nicht
einmal ›Fürchtet euch nicht‹!«
»Nun ging Paulus nach Damaskus und schloss sich dort der
Gemeinde an. Bald wurde er zum ersten großen christlichen
Missionar. Paulus war römischer Staatsbürger, er sprach
Griechisch und Aramäisch, die Sprache, die Jesus sprach. Er
konnte außerdem auch die alten hebräischen Schriftrollen lesen.
Auf seinen vier Missionsreisen erzählte er in Griechenland und
Rom, Syrien und Kleinasien den Menschen von Jesus.«
Während Efiriel erzählte, schien plötzlich etwas vom Himmel
zu fallen. Das passierte so schnell, dass Elisabet nicht mal
zusammenzucken konnte. Zuerst glaubte sie, ein Vogel sei auf
den Boden gestürzt, weil er vergessen hatte, mit seinen Flügeln
zu schlagen. Aber dann entdeckte sie, dass direkt vor ihr ein
weiterer Engel stand.
»Fürchte dich nicht«, sagte der Engel. »Ich bin Cherubiel und
komme das letzte Stück bis nach Bethlehem mit euch.«
181
Kaiser Augustus hob sein Zepter von der Stelle, wo Paulus die
Stimme vom Himmel gehört hatte, die Schäfer stießen ihre
Schafe leicht an, und Josua rief wie immer:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
182
»Dies Buch ist im Grunde genauso erstaunlich wie der magi-
sche Adventskalender.«
Etwas später rief er aus:
»Jetzt habe ich es gefunden!« Und er las die Bibelstelle laut
vor: »›Da er auf dem Wege war und nahe an Damaskus kam,
umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel. Und er fiel auf
die Erde und hörte eine Stimme, die zu ihm sprach: Saul, Saul,
was verfolgst du mich? Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der
Herr sprach: Ich bin Jesus, den du verfolgst. Stehe auf und gehe
in die Stadt, da wird man dir sagen, was du tun sollst. Die
Männer aber, die seine Gefährten waren, standen und waren
erstarrt; denn sie hörten die Stimme und sahen niemand. Saulus
aber richtete sich auf von der Erde, und als er seine Augen
auftat, sah er niemand. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und
führten ihn gen Damaskus. Und er war drei Tage nicht sehend
und aß nicht und trank nicht.‹«
183
aufgeben … augenblicklich … das verspreche ich … und vielen
Dank für den Anruf!«
Er legte auf.
»War das Johannes?«, fragte Joachim.
Papa schüttelte den Kopf.
»Frau Hansen, Elisabets Mutter. Ich hatte ihr eine Kopie des
alten Bildes geschickt. Sie meint, die junge Frau könnte gut ihre
Tochter sein, die damals vor fünfundvierzig Jahren verschwun-
den ist. Aber Elisabet war damals nur fünf, sechs Jahre alt. Sie
bekam bald darauf noch eine Tochter. Diese Tochter heißt Anna,
und sie …«
Jetzt verstummte Papa und dachte nach.
»Raus mit der Sprache!«, sagte Mama.
»Sie hat ein bisschen Ähnlichkeit mit der jungen Frau vor dem
Petersdom …«
Als Papa an diesem Abend Gute Nacht sagen kam, wandte er
Joachim eine Weile den Rücken zu und starrte in die Finsternis
vor dem Fenster:
»Kannst du dir vorstellen, wo Johannes sich rumtreibt?«
»Er ist draußen in der Wildnis«, antwortete Joachim. »Es ist
doch noch nicht Weihnachten.«
184
21. Dezember
185
Johannes war in Damaskus geboren. Was hatte ihn dann vor
vielen Jahren nach Norwegen gebracht? Warum hatte er nicht
auf dem Markt in Damaskus Blumen verkauft?
Einmal war ihm eine junge Frau mit dem Namen Elisabet
begegnet – vielleicht in Rom, schließlich war das Foto von ihr
dort aufgenommen. Aber wenn Johannes ihr wirklich begegnet
war, warum wusste er dann nicht sicher, ob sie Elisabet war oder
Tebasile?
Die junge Frau hatte selber gesagt, sie sei ein palästinensischer
Flüchtling aus einem Dorf bei Bethlehem. Aber hatte sie nicht
auch gesagt, sie wäre in Norwegen geboren?
Einmal hatte Johannes die Mutter des Mädchens besucht, das
an einem Dezembertag im Jahr 1948 spurlos verschwunden war.
Dabei hatte er sicher auch ihre kleine Schwester Anna kennen
gelernt.
Ob Johannes wohl auch fand, dass Anna Ähnlichkeit mit der
jungen Frau vor dem Petersdom hatte?
Egal: Aber warum hatte der geheimnisvolle Mann aus Syrien
überhaupt angefangen, sich für die alte Geschichte zu interessie-
ren, die viele Jahre, bevor er nach Norwegen kam, hier in der
Stadt geschehen war?
186
Heute kam das Bild eines Dorfes an einem glänzenden See
zum Vorschein. Das Dorf und die Hügel um den See lagen in
Gold gebadet.
Joachim faltete das dünne Papier auseinander, das beim Off-
nen aus dem Kalender gefallen war, und las vor:
Das Evangelium
188
geheißen hatte, und nun fing er so viele Fische, dass sein Netz
fast gerissen wäre.«
»Ein andermal waren sie weit draußen auf dem See«, plapperte
Umuriel. »Plötzlich kam Sturm auf, die Jünger hatten schreckli-
che Angst, nur Jesus legte sich einfach schlafen. Am Ende
musste er aber dem Sturm befehlen, sich zu legen, um seine
Jünger zu beruhigen.«
»Er wollte ihnen zeigen, wie kleingläubig sie waren«, erklärte
Efiriel.
Umuriel nickte eifrig.
»Genau! Wieder ein anderes Mal waren die Jünger allein auf
den See hinausgefahren. Doch plötzlich kam ihnen Jesus entge-
gen. Er ging nämlich über das Wasser. Als die Jünger ihn sahen,
bekamen sie wieder schreckliche Angst und hielten ihn für ein
Gespenst oder so was. Aber als Simon Peter sah, dass es Jesus
war, wollte er sich ein bisschen aufspielen, um Jesus zu zeigen,
wie supergroß sein Glaube war. Also stieg er aus dem Boot und
lief auch übers Wasser. Eine Weile ging das ganz gut, aber dann
fürchtete er sich so vor den Wellen, dass er anfing zu sinken. Er
rief und flehte Jesus an, ihn zu retten.«
Ehe noch mehr erzählt werden konnte, schlug Josua mit sei-
nem Hirtenstab gegen einen Haufen zerbrochener Ziegel.
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Und sie wanderten weiter am Ufer des Sees Genesareth ent-
lang. Doch schon bald ließ Efiriel den Zug wieder anhalten. Er
zeigte auf einen Bergsims oben im Gebirge.
»Dort oben hat Jesus seine berühmte Bergpredigt gehalten.
Das Wichtigste, was er den Menschen beibringen wollte, hat er
dort gesagt.«
»Und was war das?«, wollte Elisabet wissen.
Das Engelskind Umuriel ließ seine Flügel brausen, hob einen
halben Meter vom Boden ab und sagte:
189
»Vater unser, der Du bist im Himmel! Geheiligt werde Dein
Name. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe, wie im
Himmel …«
Hier fiel Efiriel ihm ins Wort.
»Er lehrte sie beten, ja. Vor allem aber wollte er die Menschen
lehren, gut zueinander zu sein. Aber er wollte ihnen auch
klarmachen, dass vor Gott kein Mensch vollkommen ist.«
»Selig sind die Barmherzigen«, sagte Umuriel. »Wenn dich
jemand auf die rechte Wange schlägt, so wende ihm auch die
linke hin … liebet eure Feinde und tut Gutes denen, die euch
hassen … Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, also
tut ihnen gleich auch ihr …«
»Danke, das reicht«, unterbrach ihn Efiriel. »Wir wissen, dass
du das alles auswendig kannst. Das wäre ja auch noch schöner
bei einem Engel des Herrn!«
Jetzt räusperten sich die drei Weisen im Chor. Kaspar und
Balthasar nickten Melchior zu und gaben ihm das Wort:
»Aber es reicht nicht, solche Lebensregeln bloß auswendig zu
lernen. Wichtiger ist der Versuch, sie zu befolgen. Am aller-
wichtigsten ist, etwas für die zu tun, die Not leiden, krank sind
und arm, und für die, die aus der Heimat fliehen mussten. Das
ist die Weihnachtsbotschaft.«
»Nach Bethlehem!« Josua machte noch einen Versuch. »Nach
Bethlehem!«
Sie waren gerade erst wieder losgelaufen, als Efiriel sich zu
Elisabet umdrehte und ihr erzählte, dass in dieser Gegend Jesus
fünftausend Menschen mit nur wenigen Fischen und Broten satt
bekommen hatte.
»GENAU!«, rief Umuriel. »Jesus wollte, dass die Menschen
teilen, was sie haben. Wenn sie nur lernen könnten, miteinander
zu teilen, müsste niemand mehr arm und hungrig sein.«
190
Als sie das Dorf Tiberias erreichten, verließen sie den See
Genesareth und wanderten jetzt durch die Hügel. Vor einem
fruchtbaren Tal mit Palmen und Obstbäumen lag ein weiteres
Dorf. Efiriel befahl dem Pilgerzug anzuhalten.
»Die Engelsuhr zeigt, dass seit Jesu Geburt 107 Jahre vergan-
gen sind. Der Ort heißt Nazareth. Hier wuchs Jesus als Sohn des
Zimmermanns Josef auf. Und hier hat sich einer der Engel des
Herrn Maria offenbart und ihr erzählt, dass sie ein Kind be-
kommen würde.«
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, als schon wieder
etwas aus einem Loch im Himmel zu fallen schien. Im nächsten
Moment stand ein weiterer Engel vor dem Pilgerzug. In der
Hand hielt er eine Trompete. Der Engel stieß einmal hinein und
sagte:
»Ich bin der Engel Evangeliel, und ich verkünde euch eine
große Freude. Jetzt dauert es nicht mehr lange, bis Jesus geboren
wird.«
Umuriel schwirrte um Elisabet herum:
»Er gehört zu uns und kommt den Rest des Wegs nach Bethle-
hem mit.«
Was geschehen war, erinnerte Elisabet an eine Stelle aus
einem alten Weihnachtslied:
»Hirten erst kundgemacht, durch der Engel Halleluja«, sang
sie in ihrer schönsten Stimme.
Die drei Weisen klatschten in die Hände, weil sie so schön
sang. Es war ihr ein bisschen peinlich. Damit nicht alle sie
anstarrten, sagte sie:
»Ich merke genau, dass wir uns Bethlehem nähern, schließlich
gibt es hier so viele Engel.«
Josua gab einem Schaf einen leichten Klaps auf den Hintern:
»Nach Bethlehem! Nach Bethlehem!«
191
Nun waren sie nur noch hundert Jahre von der Stadt Davids
entfernt.
192
»Welche denn?«, fragten Mama und Joachim fast wie aus
einem Munde.
»Der alte Blumenverkäufer hat viele Städte und Gegenden auf
dem langen Weg nach Bethlehem beschrieben. Aber heute war
seine Beschreibung sehr viel genauer. Er schreibt über ›die
gerade Straße, die quer durch die Stadt führt‹, quer durch
Damaskus vom westlichen zum östlichen Stadttor. So schreibt
nur einer, der sich gut auskennt.«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Mama. »Aber meinst du
nicht, er könnte wirklich eine alte Geschichte über Soldaten
gehört haben, die von einem Engelszug umgerannt wurden?«
Papa schnaubte.
»Unfug!«
Dann riss er sich zusammen:
»Na ja, ausschließen lässt sich natürlich nichts. Wenn wir ihn
doch bloß fragen könnten!«
Joachim dachte an etwas ganz anderes. Er blickte auf das
dünne Papier, das er gelesen hatte, tippte mit dem Finger auf
einen Satz und sagte:
»Der Weise hat gesagt, es wäre wichtig, etwas für die zu tun,
die aus ihrer Heimat fliehen müssen. Was hat er wohl damit
gemeint?«
Papa wich ein bisschen aus.
»Er hat an Flüchtlinge und so weiter gedacht.«
»Genau!«, sagte Joachim. »Das meine ich auch.«
Mama und Papa tauschten einen Blick.
»Was denn?«, fragte Mama.
»Ich glaube, es hat etwas mit der Frau auf dem Bild zu tun. Sie
war auch ein Flüchtling. Und außerdem war er in sie verliebt.«
Papa stand vom Bett auf. Er klatschte laut in die Hände und
sagte:
193
»Jetzt müssen wir uns aber schleunigst losreißen. Ich muss in
zehn Minuten fahren.«
Er fand, dass das Ganze ein bisschen aussah wie eine Tür – oder
vielleicht wie eine Tür in einer anderen Tür. Was sich wohl
hinter der Tür befand?
194
22. Dezember
195
Ob Johannes noch vor Heiligabend in die Stadt zurückkam?
Hatte er das nicht Joachim versprochen? Aber was hatte er
damit gemeint, er sei draußen in der Wildnis?
Plötzlich glaubte Joachim, die Lösung gefunden zu haben. Der
Buchhändler hatte gesagt, niemand wisse, wo Johannes die
vielen Blumen hernahm, die er auf dem Markt verkaufte.
Vielleicht ging er ja ab und zu in die Wildnis, um dort Blumen
zu pflücken?
Aber jetzt war Winter.
Wieder durchfuhr Joachim ein Gedanke: Elisabet war eins-
zweidrei plötzlich vom Winter in den Sommer gesprungen.
Darüber war sie sehr erstaunt gewesen, aber auch sie hatte
mitten im Winter Blumen gepflückt.
Joachim wartete gespannt darauf, was er erfahren würde, wenn
er die letzten Türchen im Kalender öffnete. Er traute sich nur
nicht, anzufangen, ehe Mama und Papa aufgestanden waren.
Aber da kamen sie ja. Alle beide. Papa wirkte fast ein bisschen
nervös.
»Fangen … fangen wir an.«
Joachim öffnete die Klappe und sah das Bild eines Mannes,
der bis zur Taille in einem Fluss stand. Am Oberkörper trug er
nur einige Lumpen.
Mama faltete das Papier auseinander und las:
Der Herbergswirt
Eine heilige Schar eilte durch Samaria. Jesu Geburt war nun fast
schon ein Jahrhundert her. Das Engelskind Umuriel lief an der
Spitze des Zuges, hinter ihm kamen die sieben heiligen Schafe,
die von Josua, Jakob, Isak und Daniel gehütet wurden. Auf die
Schäfer folgten die Weisen Kaspar, Balthasar und Melchior, und
hinter ihnen kamen der Landpfleger Cyrenius und Kaiser
196
Augustus. Den Schluss bildeten Elisabet und die Engel Serafiel,
Cherubiel, Efiriel und Evangeliel. Sie alle wollten nach Bethle-
hem.
In der Morgendämmerung eines Tages im Jahre 91 blieb der
Pilgerzug am Jordan stehen, dem Fluss, der vom See Genesareth
ins Tote Meer fließt.
»Hier ist es!«, rief Efiriel.
Der Engel Serafiel nickte und fuhr fort:
»Hier draußen in der Wildnis nahm Jesus die Taufe von Jo-
hannes dem Täufer entgegen. Der Täufer trug einen Umhang
aus Kamelhaar und einen Ledergürtel. Er ernährte sich von
Heuschrecken und wildem Honig.«
»Das weiß ich«, sagte Umuriel. »Denn Johannes hatte gesagt:
›Der aber nach mir kommt, ist stärker als ich, dem ich auch
nicht genug bin, seine Schuhe zu lösen; er wird euch mit dem
Heiligen Geist taufen!‹ Und dann war Jesus gekommen und
hatte sich im Jordan taufen lassen. Ich selber saß damals hoch
oben über den Wolken und klatschte in die Hände. Es war ein
großer Moment.«
»Und ist da nicht auch eine Taube vom Himmel herabgekom-
men?«, fragte Elisabet. Sie glaubte, einmal etwas Ähnliches
gehört zu haben.
Umuriel brauste mit den Flügeln und nickte:
»Genau!«
»Nach Bethlehem!«, sagte Josua plötzlich dazwischen. »Nach
Bethlehem!«
Und wieder liefen sie los. Bald kamen sie an einer großen
Stadt vorbei. Im Laufen erzählte Efiriel, dass sie Jericho hieß
und vielleicht die älteste Stadt auf der Welt war.
Doch schon ging es weiter über die alte Straße von Jericho
nach Jerusalem. Auf dieser Straße hatte einst der barmherzige
197
Samariter dem armen Mann geholfen, der unter die Räuber
gefallen war.
Sie stürmten jetzt nach Jerusalem hinauf. Zuerst kletterten sie
auf den Ölberg. Von dort blickten sie hinunter in den Garten
Gethsemane, wo die Juden Jesus gefangen genommen hatten
und wo seine Jünger eingeschlafen waren, als sie für ihn hätten
beten sollen.
Als die Pilgerschar vom Ölberg herunter auf Jerusalem blickte,
entdeckte Elisabet nur Ruinen und zerstörte Gebäude.
Konnte das denn die Hauptstadt der Juden sein?
Efiriel erklärte ihr:
»Die Engelsuhr zeigt 71 Jahre nach Christus. Vor einem
knappen Jahr haben die Römer Jerusalem gestürmt und die
ganze Stadt in Schutt und Asche gelegt, weil die Juden sich
gegen die römische Kolonialmacht erhoben hatten. Deshalb
sieht die ewige Stadt jetzt aus wie ein zerbrochener Krug.«
»Das war Kaiser Titus«, fügte Umuriel hinzu. »Nicht er allein
natürlich, sondern er mit zehntausend Soldaten.«
Efiriel fuhr fort:
»Sie haben auch den Tempel zerstört, nur ein kleiner Teil der
Westmauer steht noch. Später wird dieser Restteil den Namen
Klagemauer erhalten. Doch von nun an leben die Juden in alle
Welt zerstreut.«
»Es ist so gemein, dass ich fast heulen könnte«, quengelte
Umuriel. »Dauernd sagen wir ›Friede sei mit euch‹ und ›Friede
auf Erden‹. Aber die Menschen hören nicht auf, gegeneinander
zu kämpfen. Dabei war das Letzte, was Jesus vor seiner Gefan-
gennahme sagte: ›Wer zum Schwert greift, wird durch das
Schwert umkommen.‹«
Efiriel nickte:
»Alle, die Weihnachten feiern, müssen an diesen Satz denken,
denn die Weihnachtsbotschaft heißt Frieden.«
198
»Das singen wir auch in jeder Weihnacht«, fügte Umuriel
hinzu. »›Ehre sei Gott in der Höhe und Friede den Menschen auf
Erden!‹ Aber die Menschen scheinen dieses Lied einfach nicht
hören zu wollen. Bald habe ich überhaupt keine Lust mehr zum
Singen!«
Josua schlug wieder mit dem Hirtenstab gegen den Gipfel des
Ölbergs und sagte:
»Nach Bethlehem, nach Bethlehem!«
Schon liefen sie weiter durch die Stadt. Zwischen den Ruinen
waren nur wenige Menschen zu sehen. Eine Frau schien in den
zerstörten Häusern etwas zu suchen, das sie verloren hatte.
Die Pilgerschar lief durch die Reste des westlichen Stadttors
und dann auf die Straße nach Bethlehem. Sie waren nur noch
wenige Kilometer von der Stadt Davids entfernt.
Plötzlich entdeckten sie einen Mann, der neben einem Esel
ging. Als er sie näher kommen hörte, blickte er auf und winkte
mit beiden Armen.
»Fürchte dich nicht! Fürchte dich nicht!«, rief Umuriel schon
aus der Ferne.
Aber der Mann fürchtete sich nicht im Geringsten.
»Dann gehört er zu uns«, sagte Efiriel.
Der Mann mit dem Esel kam auf sie zu und reichte Elisabet
die Hand:
»Ich bin der Herbergswirt. Und ich muss sagen, dass ich
keinen Platz für Josef und Maria habe. Aber ich werde ihnen
meinen Stall geben.«
Mit diesen Worten hob er Elisabet auf den Eselsrücken.
»Du bist sicher müde nach der langen Reise«, sagte er.
Elisabet schüttelte den Kopf.
199
»Ich bin durch ganz Europa gelaufen, aber ich bin auch durch
die ganze Geschichte gelaufen. Das geht so schnell, wie eine
Rolltreppe hinabzurennen.«
Der Mann blickte sie verständnislos an:
»Rolltreppe?«
Elisabet nickte.
»Rolltreppe?«, wiederholte der Mann. »Was für ein komisches
Wort.« Doch schon mussten sie wieder weiter.
200
Bereitet den Weg des Herrn,
und machet Seine Steige richtig!
Alle Täler sollen voll werden,
und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden.
Und was krumm ist, soll richtig werden,
und was uneben ist, soll schlichter Weg werden.
Und alles Fleisch wird den Heiland sehen.‹«
»Wie schön poetisch!«, sagte Mama.
»Im Grunde will uns das wohl der ganze magische Adventska-
lender erzählen«, fuhr Papa fort. »Der Pilgerzug ist durch Täler
und über Hügel und Berge gelaufen. Sie sind nach Bethlehem
gewandert, aber sie haben auch gesehen, wie sich die Botschaft
von Jesus in der ganzen Welt verbreitet hat.«
»Vielleicht«, sagte Mama. »Aber ich werde erst richtig zufrie-
den sein, wenn wir das Rätsel um die drei Elisabets gelöst
haben.«
201
Er schloss ganz schnell auf und setzte sich im Flur auf einen
Hocker. Dann öffnete er den Brief und las, was auf einem Zettel
aus dünnem Papier stand:
Lieber Joachim, ich lade mich selber zu einer Tasse Kaffee und
einem oder zwei trockenen Weihnachtsplätzchen ein, und zwar
für den 23. Dezember um 19.00 Uhr. Ich hoffe, die ganze
Familie wird versammelt sein. Gruß, Johannes.
Kurze Zeit später kam Mama, aber Joachim wollte von Johan-
nes’ Brief erst erzählen, wenn auch Papa da war. Also wartete er
wieder, bis sie zusammen beim Essen saßen, genau wie an dem
Tag, als der Buchhändler den Führerschein gebracht hatte.
»Ich hab einen Brief bekommen«, sagte er dann.
Er musste sich gewaltig anstrengen, um ein breites Lächeln zu
unterdrücken.
»Ach«, sagte Papa. Es schien ihn nicht sonderlich zu interes-
sieren.
»Und zwar von Johannes.«
»Was?«
Papa hätte sich fast verschluckt. Er sprang auf und streckte die
Hand aus:
»Zeig her!«
Er hatte wohl schon wieder vergessen, dass man keine frem-
den Briefe lesen darf.
Aber Joachim lief trotzdem in sein Zimmer, um den Brief zu
holen. Er reichte ihn sogar Papa, und der las ihn laut vor.
Mama und Papa strahlten.
202
23. Dezember
203
»Denn jetzt ist Weihnachten«, sagte er.
Joachim öffnete die vorletzte Klappe im Adventskalender.
Dahinter verbarg sich das Bild von einem Mann, der neben
einem Esel ging. Auf dem Esel saß eine rot gekleidete Frau.
Aus dem Kalender war wieder ein Zettel gefallen. Papa faltete
ihn auseinander und las vor, was darauf stand. Joachim konnte
sehen, dass seine Hände zitterten.
204
»Ich befehle, dass sich alle ins Volkszählungsregister eintra-
gen lassen.«
Er hielt ein Stück Kohle hoch und reichte es der Reihe nach
jedem aus der Pilgerschar. Und alle schrieben ihre Namen in das
große Buch. Auch die Engel mussten sich eintragen. Nur die
Schafe blieben verschont.
Elisabet trug sich als Letzte ein. Doch bevor sie ihren eigenen
Namen hinzufügte, las sie erst alle anderen vor:
1. Schäfer: Josua
2. Schäfer: Jakob
3. Schäfer: Isak
4. Schäfer: Daniel
1. Weiser: Kaspar
2. Weiser: Balthasar
3. Weiser: Melchior
1. Engel: Efiriel
2. Engel: Umuriel
3. Engel: Serafiel
4. Engel: Cherubiel
5. Engel: Evangeliel
Der Herbergswirt
205
Elisabet trug sich so ein:
1. Pilgerin: Elisabet
Dann kam sie auf eine gute Idee. Obwohl die Schafe nicht
schreiben konnten und auch keinen Namen hatten, fand sie
doch, dass sie mitgezählt werden sollten. Und sie schrieb:
1. Schaf
2. Schaf
3. Schaf
4. Schaf
5. Schaf
6. Schaf
7. Schaf
206
Nazareth, in dem jüdischen Land zur Stadt Davids, die da heißt
Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlecht
Davids war. Auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem
vertrauten Weibe, die war schwanger.«
Der Pilgerzug setzte sich langsam in Bewegung. Aber schon
bald ließ Efiriel sie wieder anhalten. Er zeigte auf die Straße.
Dort ging ein junger Mann neben einem Esel. Auf dem Esel saß
eine rot gekleidete Frau. Im Hintergrund lag Bethlehem an
langen, terrassenförmigen Hängen, die die vielen Schafherden
fast kahl gefressen hatten.
»Das sind Josef und Maria«, sagte Efiriel. »Denn jetzt ist die
Zeit gekommen. Sie ist wie eine reife Frucht.«
Der Herbergswirt setzte eine eifrige Miene auf.
»Ich muss mich beeilen und sie überholen«, sagte er.
Schon jagte er davon. Im Laufen murmelte er vor sich hin:
»Nein, leider, hier ist alles belegt. Aber ihr könnt im Stall
übernachten …«
Auch die restliche Pilgerschar wurde von einer gewissen
Nervosität erfasst. Alle schienen etwas zu üben, was sie aus-
wendig können mussten.
Umuriel flog einige Meter empor, brauste mit den Flügeln und
sagte:
»Fürchtet euch nicht, sehet, ich verkündige euch große Freude,
die allem Volke widerfahren wird; denn euch ist heute der
Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt
Davids. Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind
in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.«
Efiriel nickte, und Umuriel rief:
»Herrlich!«
Jetzt stieß der Engel Evangeliel in seine Trompete, und alle
fünf Engel sagten im Chor:
207
»Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Men-
schen, die Gott wohlgefällig sind!«
Die Schafe hatten plötzlich angefangen zu blöken. Auch sie
schienen etwas zu üben, was sie auswendig können mussten.
Der Schäfer Josua wandte sich den anderen Schafen zu:
»Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte
sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat.«
Schließlich ergriff einer der Weisen das Wort:
»Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen
Stern gesehen im Morgenland und sind gekommen, ihn anzube-
ten.«
Sie knieten nieder und boten Schreine voller Gold, Weihrauch
und Myrrhe dar.
Der Engel Evangeliel nickte zufrieden.
»Ich glaube, das klappt jetzt.«
Josua schob seinen Hirtenstab vorsichtig einem Schaf ins Fell
und flüsterte jetzt:
»Nach Bethleeheem! Nach Bethleeheem!«
Papa blieb lange mit dem Zettel auf dem Schoß sitzen, ehe sich
jemand traute, etwas zu sagen.
Er hatte gelesen, dass sich in der Pilgerschar eine gewisse
Nervosität ausgebreitet hatte, als sie sich dem Stall in Bethlehem
näherten. Und in Joachims kleinem Zimmer war es nun nicht
anders.
»Es gibt auf der ganzen Welt nur einen einzigen solchen
Adventskalender«, sagte Papa. »Und nur wir haben ihn.«
Mama nickte:
»Es hat nur einmal eine wirkliche Weihnacht gegeben. Aber
die Weihnacht hat der ganzen Welt Weihnachten gebracht.«
208
»Das liegt daran, dass sich die himmlische Herrlichkeit so
leicht verbreitet«, sagte Joachim. »Ich glaube fast, sie ist
ansteckend.«
209
»Ich wurde in Damaskus geboren und bin in einer christlichen
Familie aufgewachsen. Angeblich können wir unsere Vorfahren
bis zur ersten Gemeinde in Syrien zurückverfolgen. Als Junge
habe ich einmal einen alten Krug mit einigen zerrissenen
Schriftrollen gefunden. Meine Eltern waren klug genug, ihn ins
Museum zu bringen. Dort wurde bald festgestellt, dass der Krug
wirklich sehr alt war. Und die Schriftrollen auch.«
Papa war ungeduldig:
»Und was stand auf den Schriftrollen?«
»Es waren verschiedene Berichte der römischen Legionäre. In
den alten Berichten stand unter anderem etwas, was gegen Ende
des 2. Jahrhunderts nach Christus in Damaskus passiert sein soll.
Im Jahre 175 soll ein seltsamer Zug aus dem östlichen Stadttor
gejagt sein. Einige Jahre später jagte angeblich ein ähnlicher
Zug durch das westliche Stadttor in die Stadt. Und beide Male
sollen Engel dabei gewesen sein.«
Mama und Joachim nickten, denn sie wussten noch, dass sie
das im magischen Adventskalender so gelesen hatten.
»Aus alten Zeiten gibt es viele solche Sagen und Legenden«,
erzählte Johannes. »Aber mir fiel auf, dass der Zug zuerst aus
der Stadt herausgelaufen war und dann in die Stadt hinein. Er
muss also in der Zeit rückwärts gelaufen sein, und das ist doch
völlig unmöglich.«
»Völlig unmöglich«, sagte Papa zustimmend. Er gab Johannes
ein Zeichen, weiterzureden.
»Aber mein Interesse an Sagen und Legenden war geweckt.
Ich fing an, in alten Büchern zu lesen, und mich interessierten
vor allem Geschichten von Menschen, die glaubten, Engel
gesehen zu haben. Am Ende hatte ich eine große Sammlung
solcher Geschichten, aus meinem eigenen Land und aus vielen
Ländern in Europa. Nach einigen Jahren fuhr ich nach Rom, um
dort die reichen Buchschätze durchzusehen.«
»Und da ist dir Elisabet begegnet?«, fragte Joachim.
210
Johannes nickte.
»Warte noch einen Moment. Ich konzentrierte mich auf einige
wenige Engelsgeschichten, weil sie alle Gemeinsamkeiten
aufzuweisen schienen. Sie kamen aus ganz unterschiedlichen
Orten – aus Hannover und Kopenhagen, Basel und Venedig,
dem Aostatal in Norditalien und dem Axiostal in Makedonien.
Aber sie stammten auch aus ganz unterschiedlichen Zeiten. Die
früheste Geschichte kam aus Kapernaum in Galiläa und die
jüngste aus Norwegen – da war der Engel 1916 auf einer
Landstraße bei Halden gesehen worden!«
»Der Oldtimer!«, rief Joachim.
»Natürlich glauben heute nur noch sehr wenige Menschen an
solche Geschichten. Aber alle Geschichten, die ich gesammelt
habe, erzählten auch, dass der Anblick der Engel im nächsten
Moment wieder verschwunden war. Und als ich die Berichte aus
Halden, Hannover und Hameln mit denen aus Aosta, Axios und
Kapernaum verglich – ja, da kamen sie mir doch sehr verwun-
derlich vor!«
Mama sah den Blumenverkäufer an. Der alte Mann widmete
sich ein Weilchen seinen eigenen Gedanken.
»Was in einer Sekunde geheimnisvoll erscheint, verlöscht in
der nächsten oft wie eine leere Öllampe«, sagte er. »Obwohl
vielleicht ein neues Licht entzündet wird, wenn wir den Kopf
nur in die andere Richtung drehen. Denn wir können das Heilige
nicht so auffangen, wie wir einen Stein vom Boden hochheben
und in die Tasche stecken. Engel schweben verstohlen herab
und plumpsen nicht mitten auf den Marktplatz.«
»Aber was war nun mit der jungen Frau auf dem Bild?«, fragte
Papa.
Johannes holte tief Luft und seufzte dann schwer. Joachim
glaubte, in einem Augenwinkel des alten Mannes eine Träne zu
sehen, jedenfalls griff sich Johannes ans Auge. Er sagte:
211
»Vor vielen, vielen Jahren ist mir in Rom eine junge Frau
begegnet. Ich habe sie nur wenige Wochen lang gekannt, aber
ich habe mich wirklich in sie verliebt.«
»Erzählen Sie nur weiter«, sagte Papa. »Erzählen Sie weiter!«
»Sie nannte sich Tebasile und war sehr geheimnisvoll. Sie
sagte, sie sei wahrscheinlich in Norwegen geboren worden, aber
unter Hirten und Schafzüchtern in Palästina aufgewachsen. Das
stimmte wohl auch, sie sprach nämlich fließend Arabisch. Auch
der Name Tebasile klang ja ziemlich palästinensisch … obwohl
er auch italienisch hätte sein können.«
»Aber so klingt Elisabet rückwärts!«, rief Joachim.
Johannes nickte.
»Ja, du bist ein kleiner Schlaukopf. Aber normalerweise
schreibt man Namen ja nicht rückwärts.«
»Und wie ging es weiter?«, fragte Papa.
»Dass sie aus Norwegen kam, konnte auch stimmen. Sie hatte
nämlich helle, fast pfirsichfarbene Haut und außerdem strahlend
blaue Augen. Als ich sie fragte, wie sie nach Palästina geraten
sei, starrte sie mir nur in die Augen und sagte: ›Ich wurde
entführt …‹ Ich musste fragen, wer sie entführt habe, und nun
antwortete sie: ›Ein Engel, der mich in Bethlehem brauchte …
aber das ist lange her … ich war nur ein kleines Mädchen …‹«
Mama musste aufstoßen und schlug sich die Hand vor den
Mund. Papa trommelte mit einer Streichholzschachtel auf den
Tisch.
»Und was haben Sie darauf gesagt?«, fragte er.
»Alle anderen hätten über so ein verlogenes Geschwätz wahr-
scheinlich nur gelächelt. Aber ich dachte an meine vielen
Engelsgeschichten. Und ich antwortete also, dass ich ihr glaubte
… doch gerade, dass ich sie ernst nahm, hat ihr wohl Angst
gemacht.«
»Und was geschah dann?«, fragte Mama.
212
»Danach sind wir uns nur noch einmal begegnet. Und zwar auf
dem Petersplatz auf dem Weg der Versöhnung. Sie sagte, sie
würde Rom noch am selben Nachmittag verlassen. Aber ich
durfte wenigstens ein Foto von ihr machen. Das war im April
1961.«
»Und wie sind Sie nach Norwegen gekommen?«, fragte Papa.
»Ich meine, warum?«
Johannes nahm sich ein Stück Kuchen und sagte:
»Ich bin hergekommen in der Hoffnung, die geheimnisvolle
Frau wieder zu finden. Seitdem habe ich hier gelebt. Aber ich
bin ihr nie begegnet. Wo auf der Welt sie sich heute befindet,
habe ich niemals herausfinden können. Aber wir werden sehen
…«
Er biss in sein Kuchenstück.
»Ich hatte schon bald von dem verschwundenen Kind aus dem
Jahr 1948 gehört. Und da fing ich an, mich zu fragen, ob dieses
arme kleine Mädchen vielleicht Tebasile gewesen sein könnte,
die doch gesagt hatte, sie sei als Kind von einem Engel entführt
worden. Ich hatte nie erfahren, wie alt sie war, aber sie konnte
sehr gut um 1940 geboren sein.«
Der alte Mann schwieg lange Zeit. Dann sagte er:
»Erst jetzt habe ich diese seltsame Namensgleichheit entdeckt.
Oft sagen wir Menschen doch die Namen der Leute, an die wir
denken. Und eines Tages lesen wir sie dann plötzlich rückwärts.
In der ersten Zeit in Norwegen dachte ich fast ununterbrochen
an Tebasile. Und nun plötzlich kam es wie ein Blitz aus heite-
rem Himmel. Wenn ich ihren Namen rückwärts las, wurde
daraus Elisabet! Das überzeugte mich noch mehr davon, dass es
wirklich die verschwundene Elisabet war, die mir viele, viele
Jahre später in Rom begegnet war. Damals habe ich dann den
magischen Adventskalender gebastelt. Ich habe viele Monate
dafür gebraucht, das können Sie sich sicher vorstellen.«
213
»Auf jeden Fall ist es ein ganz unfassbarer Zufall«, meinte
Papa.
»Ich musste mich selber immer wieder fragen, ob es sich
wirklich um ein und dieselbe Person handeln könnte«, betonte
Johannes. »Es war doch bemerkenswert, dass der eine Name
rückwärts gelesen den andern ergab. Es muss kurz nachdem ich
Anna Hansen kennengelernt hatte gewesen sein, Elisabet
Hansens jüngere Schwester. Mir war sofort aufgefallen, dass
Anna so ein witziger Name ist, der von vorne wie von hinten
dasselbe ergibt. Vielleicht habe ich deshalb Elisabet plötzlich
umgekehrt buchstabiert. Und ich fand auch, dass Elisabets
Schwester Tebasile sehr ähnlich sah.«
Mama blickte ihn an und fragte:
»Aber warum haben Sie einen Adventskalender gemacht?
Warum haben Sie nicht alles in ein Buch geschrieben?«
Johannes lachte:
»Meinen Sie wirklich, irgendwer hätte so ein Buch ernst
genommen? Meinen Sie, irgendein Verlag hätte es veröffent-
licht?«
Mama schüttelte den Kopf, und der alte Mann sagte:
»Ich habe den magischen Adventskalender gemacht, damit
wenigstens ein Mensch die Geschichte von Elisabet und der
langen Pilgerfahrt weiterführen könnte. Auf diese Weise hoffte
ich, dass sich das alte Mysterium irgendwann aufklären würde.
Ich weiß ja nicht, wie lange ich selber noch zu leben habe. Aber
jetzt bin ich nicht mehr der Einzige, der diese seltsame Ge-
schichte kennt.«
»Und Sie haben ein Bild von Elisabet ins Schaufenster ge-
stellt?«, fragte Mama.
Johannes nickte.
»Ich wollte sehen, ob irgendwer hier in der Stadt sie wieder
erkennt.«
214
»Warum bist du in die Wildnis gegangen?«, erkundigte Joa-
chim sich nun.
Und der alte Blumenverkäufer erklärte:
»In jedem Jahr zum Advent bin ich aufs Land gegangen und
durch die Wälder und Heidegegenden vor der Stadt gewandert.
Ich wollte Ruhe vor den Weihnachtstagen suchen, und ich
wollte auch sehen, ob ich irgendeine Spur vom Glockenlamm,
von Elisabet und dem Engel Efiriel finden könnte, die 1948 nach
Bethlehem gezogen sind. Das gebe ich zu. Ab und zu habe ich
in Gedanken beide Namen gesagt: Elisabet … Tebasile …
Elisabet.«
»Wollten Sie denn nie nach Damaskus zurück?«, fragte Papa.
Johannes schüttelte den Kopf.
»Nein, jetzt bin ich hier zu Hause. Ich verkaufe auf dem Markt
Blumen, um auf diese Weise etwas von der himmlischen
Herrlichkeit um mich zu verbreiten. Denn die verbreitet sich
sehr leicht.
Und eines Tages kommt vielleicht Elisabet zurück in die Stadt.
Das ist nämlich noch nicht alles …«
Im Zimmer wurde es so still, dass sie fast hören konnten, wie
die Staubflocken auf den Parkettboden fielen. Johannes sagte zu
Joachim:
»Ich habe mir in all den Jahren große Mühe gegeben, die Frau
wieder zu finden. Aber ich wusste ja nur ihren Vornamen …,
dachte ich. Irgendeine Elisabet oder Tebasile nur mit dem
Vornamen zu finden – ob in Rom oder in Palästina –, das ist
schwieriger als mit der bloßen Hand einen Spatz zu fangen. In
vielen Ländern bin ich auf den Botschaften und in den Einwoh-
nermeldeämtern ausgelacht worden. Aber Joachim …«
Wieder wurde es ganz still im Zimmer.
»Joachim hat mir vielleicht geholfen, sie wieder zu finden.
Deshalb habe ich mich zu bedanken.«
215
Joachim schaute zu Mama und Papa. Er verstand nicht, wovon
Johannes jetzt redete.
»Das müssen Sie wohl genauer erklären«, sagte Mama.
»Joachim hat mich auf die Idee gebracht, dass sie vielleicht
beide Namen benutzt, den einen als Vornamen und den andern
als Nachnamen. Es ist seltsam, wie phantasielos wir Menschen
sein können, wenn wir jahraus jahrein dasselbe denken.«
Joachims Gesicht leuchtete auf:
»Elisabet Tebasile!«, sagte er. »Heißt sie wirklich so?«
Jetzt traten Tränen in beide Augenwinkel des alten Mannes.
»Jedenfalls steht im römischen Telefonbuch eine Frau, die so
heißt. Aber noch ist nicht Weihnachten. Morgen werdet ihr das
letzte Türchen im magischen Adventskalender öffnen.«
Und damit erhob sich Johannes vom Kaffeetisch und erklärte,
er habe noch dringend etwas zu erledigen.
»Aber vielleicht darf ich noch einen letzten Blick auf den
magischen Adventskalender werfen?«, bat er.
Joachim stürzte in sein Zimmer und nahm den Kalender vom
Haken. Als er wieder ins Wohnzimmer kam, reichte er ihn
Johannes, und der alte Mann sah sich die Bilder aufmerksam an.
»Du musst alle offenen Türchen wieder zudrücken«, meinte
Joachim.
Johannes tat es und sagte:
»Hier sind sie alle, ja. Cyrenius und Kaiser Augustus, die
Engel im Himmel und die Hirten auf dem Felde, die heiligen
Könige und Maria, Josef und das Jesuskind.«
»Aber Elisabet fehlt«, sagte Joachim.
»Elisabet fehlt, ja.«
Mehr sagte Johannes nicht.
Sie brachten ihn an die Tür. Und er verabschiedete sich mit
dem Satz:
216
»Wir werden ja sehen, was diese Weihnachten bringen.«
»Werden wir«, sagte Papa. Er war sichtlich erleichtert, dass er
endlich die Geschichte des alten Mannes gehört hatte.
Aber Johannes sagte noch etwas:
»Ihr öffnet doch das letzte Türchen erst, wenn Weihnachten
eingeläutet wird?«
Mama sah ihn an:
»Nicht früher?«
»Nein, wir müssen versuchen, so lange durchzuhalten«, ent-
schied Papa.
Als Johannes draußen auf der Treppe stand, sagte er:
»Vielleicht klopfe ich auch morgen wieder an die Tür.«
Joachim freute sich. Er spürte tief in sich etwas sprudeln und
brausen. Und das allein, weil Johannes gesagt hatte, dass er
vielleicht auch morgen hereinschauen würde. Joachim war
nämlich mit allem nicht so zufrieden wie seine Eltern.
Es fehlte noch etwas, fand er.
217
24. Dezember
Der Heilige Abend begann wie jedes Jahr bei ihnen. Immer
musste in letzter Minute noch etwas erledigt werden, immer
218
waren noch letzte Geschenke einzupacken. Ab und zu schlich
sich jemand auf Joachims Zimmer und blickte erwartungsvoll
auf den magischen Adventskalender.
Später am Tag bereiteten sie das Weihnachtsessen vor. Bald
duftete es im ganzen Haus. Endlich schlug die Uhr fünf. Papa
hatte ein Fenster geöffnet, und nun konnten sie die Kirchenglo-
cken hören.
Alle schwiegen und schlichen ins Kinderzimmer. Joachim
kletterte aufs Bett und öffnete die letzte, große Klappe im
Adventskalender, die die ganze Krippe mit dem Jesuskind
verdeckte. Das Bild darunter zeigte eine Felshöhle.
Zum letzten Mal setzten sie sich auf die Bettkante. Joachim
faltete den Zettel auseinander und las Mama und Papa vor.
Das Jesuskind
Wir befinden uns mitten auf der Welt zwischen Europa, Asien
und Afrika. Wir befinden uns mitten in der Geschichte am
Beginn der Zeitrechnung. Bald werden wir uns auch mitten in
der Nacht befinden.
Eine stille Schar schlich zwischen den Häusern von Bethlehem
entlang. Es war eine kleine Schar, die aus sieben Schafen, vier
Hirten, fünf Engeln des Herrn, den Heiligen Drei Königen,
einem römischen Kaiser, dem Landpfleger von Syrien und
Elisabet auf dem langen, schmalen Land unter dem Nordpol
bestand.
Aus den Fenstern einiger niedriger Häuser strömte das schwa-
che Licht der letzten noch brennenden Öllampen. Doch die
meisten Menschen in der alten Stadt waren schon zur Ruhe
gegangen.
Einer der Weisen zeigte zum Himmel, wo die Sterne durch die
Nacht leuchteten wie die Funken eines Feuers in der Ferne.
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Ein Stern leuchtete heller als alle andern zusammen. Er schien
auch etwas tiefer am Himmel zu stehen.
Da wandte sich der Engel Umuriel den andern Pilgern zu, hob
einen Finger an seine Lippen und flüsterte:
»Pst … pst …«
Und die Pilgerschar schlich sich zu einer der Herbergen der
Stadt. Für ein oder zwei Sekunden trat der Wirt ans Fenster. Als
er die Schar draußen entdeckte, nickte er energisch und zeigte
auf eine Höhle in der Felswand.
Der Engel Efiriel flüsterte etwas, es klang wie die Worte eines
alten Gedichts:
»Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären
sollte. Und sie gebar ihren ersten Sohn, wickelte ihn in Windeln
und legte ihn in eine Krippe, denn sie hatten sonst keinen Raum
in der Herberge.«
Sie schlichen sich über den Hof und blieben vor der Höhle
stehen. Der Geruch, der herausströmte, verriet ihnen, dass es
sich um einen Stall handelte.
Plötzlich zerriss ein Kinderweinen die Stille.
Jetzt geschah es. Es geschah in einem Stall in Bethlehem.
Über dem Stall funkelte ein Stern. Im Stall wurde das neuge-
borene Kind in Windeln gewickelt und in eine Krippe gelegt.
Himmel und Erde begegneten sich. Denn auch das Kind in der
Krippe war ein Funke vom großen Feuer hinter den schwachen
Laternen am Himmel.
Das war das Wunder. Es ist jedes Mal das Wunder, wenn ein
neues Menschenkind zur Welt kommt. Das ist das Wunder, das
der Himmel schafft, wenn die Welt aufs Neue erschaffen wird.
Eine Frau atmet schwer und weint. Es ist kein trauriges Wei-
nen, Maria weint ein stilles, inniges und glückliches Weinen.
Aber das Weinen des Kindes ist lauter als Marias Weinen. Das
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Jesuskind ist geboren. Es ist geboren in einem Stall in Bethle-
hem. Es ist auf die Erde gekommen.
Der Engel Efiriel drehte sich feierlich zu den anderen Pilgern
um und sagte:
»Heute ist in der Stadt Davids ein Erlöser geboren.«
Kaiser Augustus nickte.
»Und jetzt sind wir an der Reihe. Alle auf ihre Plätze, alle
denken an ihre Rollen. Das üben wir nun schon fast zweitausend
Jahre lang.«
Cyrenius ergriff auf ein Zeichen des Kaisers das Wort:
»Schäfer! Zieht mit euren Herden aufs Feld und vergesst nie,
dass ihr gute Hirten seid! Ihr Weisen! Zieht in die Wüste und
setzt euch auf eure Kamele! Möget ihr niemals aufhören, die
Sterne des Himmels zu deuten. Ihr Engel! Fliegt allesamt hoch
über den Wolken. Zeigt euch den Menschen auf Erden nur,
wenn es unbedingt notwendig ist, und vergesst niemals, ›Fürch-
tet euch nicht‹ zu sagen. Denn nun ist Jesus geboren.«
Im nächsten Moment waren Schäfer und Schafe, Engel und
Weise verschwunden. Elisabet blieb allein zurück mit Cyrenius
und Kaiser Augustus.
»Ich muss machen, dass ich zurück nach Damaskus komme«,
sagte Cyrenius. »Da spiele ich nämlich eine wichtige Rolle.«
»Und ich muss nach Hause, nach Rom«, sagte Augustus. »Das
ist meine Rolle.«
Ehe sie gingen, blickte Elisabet zu beiden hoch. Sie zeigte auf
den Stall und fragte:
»Ob ich da wohl reingehen kann?«
Der Kaiser lächelte breit.
»Aber natürlich kannst du das. Das ist deine Rolle.«
Cyrenius nickte eifrig:
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»Du bist doch nicht den ganzen weiten Weg mitgekommen,
um hier herumzulungern.«
Mit diesen Worten liefen die beiden Römer in die Richtung
davon, aus der sie gekommen waren.
Elisabet blickte zum Sternenhimmel hoch. Sie musste den
Kopf ganz weit in den Nacken legen, um den großen Stern zu
sehen, der so hell funkelte. Wieder hörte sie aus dem Stall das
Kinderweinen.
Dann ging sie hinein.
Papa stand vom Bett auf und klopfte Joachim auf die Schulter.
»Das war wirklich ein seltsamer Adventskalender, den wir
dieses Jahr bekommen haben«, sagte er.
Für ihn schien die Sache damit beendet zu sein.
Joachim war aber nicht so zufrieden wie er. Denn was war
danach aus Elisabet geworden? Auch Mama blieb noch eine
Weile in Gedanken sitzen. Als sie endlich aufstand, sagte sie:
»Gleich ist das Essen fertig. Ihr könnt vielleicht schon inzwi-
schen die Geschenke unter den Baum legen. Denn auch dieses
Jahr gibt es ja ein paar kleine Überraschungen.«
Genau das sagte sie. Und dann wurde an der Tür geklingelt.
Wieder machte Joachim auf, und wieder stand draußen der alte
Johannes. Heute strahlte er noch mehr als gestern.
»Heute möchte ich mich nur bedanken«, sagte er.
Mama und Papa kamen dazu und baten ihn ins Haus. Wieder
kam der Weihnachtskuchen auf den Tisch. Dorthin hatte Papa
auch eine rote Marzipankugel gelegt. Joachim holte Tassen und
Teller.
Sie setzten sich an den Tisch, und Johannes ließ seinen Blick
von einem zum andern wandern. Er machte ein verschmitztes
Gesicht. Dann sagte er:
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»Als ich das große Bild auf den magischen Adventskalender
gezeichnet habe, wollte ich es so machen, dass es immer etwas
Neues zu entdecken gäbe. So ist doch Gottes gesamte Schöp-
fung, finde ich. Je mehr wir verstehen, desto mehr sehen wir um
uns herum. Und je mehr wir sehen, desto mehr verstehen wir.
Auf diese Weise wird es immer etwas Neues zu entdecken
geben, wenn wir nur Augen und Ohren für die wundersame
Welt offen halten, in der wir leben.«
Papa nickte, und Johannes fuhr fort:
»Aber ich wusste nicht, dass der Kalender so gemacht war,
dass der, der die Zettel liest, auch das alte Geheimnis des
kleinen Mädchens aufklären kann, das vor fast fünfzig Jahren
aus dieser Stadt verschwunden ist.«
Wieder machte er ein verschmitztes Gesicht.
Joachim sah ihm in die Augen.
»Weißt du jetzt mehr über Elisabet?«
Aber ehe Johannes antworten konnte, wurde schon wieder an
der Tür geschellt.
Mama sah Papa an und Papa Mama.
Johannes sagte:
»Du musst aufmachen, Joachim. Schließlich hast du auch alle
Türchen im magischen Adventskalender aufgemacht. Jetzt
musst du also auch diese letzte Tür öffnen. Aber die geht von
innen auf.«
Als er zur Tür ging, sah Joachim, dass Mama und Papa sich an
den Händen fassten. Sie fürchteten doch wohl nicht, der Engel
Efiriel könnte zu Besuch kommen? Jedenfalls wirkten sie etwas
erschrocken.
Vor der Haustür stand eine Frau von vielleicht fünfzig Jahren.
Sie trug einen roten Umhang und hatte blonde, leicht ergraute
Haare. Die fremde Frau lächelte breit und reichte Joachim die
Hand.
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»Mister Joachim?«, fragte sie. »Right?«
Joachim wurde ein bisschen schwindlig, aber er wusste, wer
sie war, deshalb nahm er ihre Hand.
»Elisabet Hansen«, sagte er. »Bitte, komm rein.«
Als sie ins Wohnzimmer kamen, hielten Mama und Papa sich
noch immer an den Händen. Jetzt prustete der alte Blumenver-
käufer los. Er erinnerte Joachim ein bisschen an den Bischof
Nikolaus aus dem magischen Adventskalender.
Elisabet blieb im Zimmer stehen und legte sich den roten
Umhang über den Arm. Um den Hals trug sie ein Silberkreuz
mit einem roten Edelstein.
Als Johannes endlich sein Lachen in den Griff bekam, stand er
von seinem Stuhl auf und sagte:
»Ich sollte vielleicht vorstellen. Das ist Elisabet Tebasile
Hansen – in ein und derselben Person. Ich habe einige Minuten
Vorsprung, aber hier ist sie nun also.«
Mama und Papa waren immer noch völlig verwirrt. Vorsichts-
halber stellte sich Joachim vor sie hin und flatterte mit den
Armen:
»Fürchtet euch nicht! Fürchtet euch nicht!«
Erst jetzt erhoben sie sich vom Sofa und reichten Elisabet die
Hand. Mama nahm ihr den Umhang ab und bot ihr einen Stuhl
an, Papa holte ihr aus der Küche eine Tasse.
Es stellte sich bald heraus, dass sie nur Englisch sprach. Als
sich alle gesetzt hatten, sagte Papa trotzdem etwas auf Norwe-
gisch.
»Ich glaube, ich muss um eine Erklärung bitten«, sagte er.
»Ich meine fast, dass ich eine richtige Erklärung erwarte.«
Johannes räusperte sich:
»Und die gebe ich auf Norwegisch, dem Jungen zuliebe. Ihm
kommt nämlich die Ehre zu, dass wir heute hier alle zusammen
sein können.«
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Die Frau mit dem Silberkreuz schien zu verstehen, was er
sagte, denn sie nickte Joachim zu und lächelte.
»Weiter!«, sagte Papa.
»Schon als ich gestern hier war, wusste ich, dass Elisabet nach
Norwegen unterwegs war«, begann der alte Blumenverkäufer.
Mama riss die Augen auf:
»Aber warum haben Sie das nicht gesagt?«
Johannes schmunzelte vor sich hin. Dann sagte er:
»Weihnachtsgeschenke werden eben erst Heiligabend ausge-
packt. Und ich wusste ja außerdem nicht ganz sicher, ob sie
wirklich kommen würde. Ich wusste nicht einmal ganz genau,
wer kommen würde.«
Papa schüttelte immer wieder den Kopf. Für ein Weilchen sah
es so aus, als ob er ihn nie wieder still halten würde.
»Nein, das begreife ich nicht«, sagte er.
Doch nun erzählte Johannes, wie alles gekommen war:
»Es hat vor einigen Tagen angefangen, als ich mit Joachim
telefoniert habe. Seit vielen Jahren hatte ich versucht, eine
gewisse Elisabet oder eine gewisse Tebasile ausfindig zu
machen – ich war davon überzeugt, dass es sich um ein und
dieselbe Person handeln musste. Aber dann hat mich Joachim
auf die Idee gebracht, dass Elisabet vielleicht Tebasile als
Nachnamen benutzt. Ich rief die Auskunft an, und die hatten
tatsächlich eine Telefonnummer in Rom. Nach einigen Stunden
erreichte ich sie dann, und dann konnte sie sich auch bald an
mich und die magischen Apriltage 1961 erinnern.«
Elisabet wollte etwas sagen, aber Johannes brachte sie mit
einer energischen Handbewegung zum Schweigen.
»Ich habe ihr über ihre Mutter erzählt, die 1948 ihr Kind
verloren hatte. Auf diese Weise konnte ich ihr sagen, wer sie ist.
Sie ist dann gestern Abend spät angekommen, und sie hatte
keinen Fuß mehr in diese Stadt gesetzt, seit sie genau an diesem
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Dezembertag vor fünfundvierzig Jahren von hier verschwunden
war.«
Papa sprang vom Sofa auf und ging zum Telefon.
»Was ist los?«, fragte Mama.
»Ich habe Frau Hansen versprochen, sie sofort anzurufen,
wenn ich etwas Neues höre.«
Johannes lachte:
»Elisabet hat die ganze Nacht bei ihrer Mutter verbracht. Die
beiden haben kein Auge zugetan, aber alles ist jetzt in schönster
Ordnung.«
»Dann muss ich wenigstens die Polizei benachrichtigen«,
beharrte Papa. »Damit sie ein für alle Mal den alten Fall über
das verschwundene Mädchen zu den Akten legen können.«
»Auch das ist schon erledigt«, antwortete Johannes. »Habt ihr
heute noch keine Zeitung gelesen? Noch kein Radio gehört? Wir
sprechen über eine große Freude für das ganze Volk.«
Papa ließ sich aufs Sofa sinken. Es gab nichts für ihn zu tun.
Er konnte sich jetzt nur einfach den Rest von Johannes’ Bericht
anhören.
Er starrte den Boden an.
»Darf ich eine Frage stellen?«, sagte er.
Johannes nickte.
»Was genau ist im Dezember 1948 passiert? Und erzählen Sie
mir jetzt nicht, Elisabet sei hinter einem Glockenlamm hergelau-
fen, das durch die Stadt rannte, weil es das ganze Einkaufsge-
schwätz und das Gebimmel der vielen Registrierkassen nicht
mehr hören mochte. Und erzählen Sie mir auch nicht, dass ihr
ein Engel namens Efiriel begegnet ist.«
Um so schnell wie möglich eine Antwort zu bekommen,
drehte er sich gleich zu Elisabet um und wiederholte seine Frage
noch einmal auf Englisch. Sie musste die Hand vor den Mund
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halten, um ihr Lachen zu unterdrücken, und dann gab sie
Johannes das Zeichen, zu antworten.
»Sie muss immer lachen, wenn wir darüber sprechen«, erklärte
Johannes. »Bei dieser Frage können wir uns nämlich nie
einigen. Ich sage euch zuerst Elisabets Erklärung. Sie selber
findet, dass die Polizei hier in der Stadt schlechte Arbeit
geleistet hat. Aber ich glaube, wir sollten am anderen Ende
anfangen.«
Papa schnaubte.
»Fangen Sie an, wo es Ihnen am besten passt, Hauptsache es
ergibt am Ende einen Sinn.«
Johannes stand auf und ging beim Reden im Zimmer hin und
her. Ab und zu legte er Elisabet die Hand auf die Schulter.
»Elisabet ist in einem kleinen Dorf in der Nähe von Bethlehem
aufgewachsen. Dort hatten die Menschen davon gelebt, ihr
ärmliches Land zu bestellen, aber das wurde ihnen weggenom-
men. Als ich Elisabet im Frühjahr 1961 in Rom kennen gelernt
habe, hatte sie in verschiedenen Flüchtlingslagern gewohnt –
zuerst in Jordanien, dann im Libanon. Nach Rom war sie
gekommen, um dort über die Lage der Flüchtlinge zu erzählen.
Na ja, darüber können wir immer noch reden. Aber Elisabet war
wirklich im Dezember 1948 nach Bethlehem geraten. Sie kam
zu armen und verfolgten Menschen, die Gottes Hilfe brauchten.
Das hat sie damit gemeint, als sie sagte, sie sei von einem Engel
entführt worden. Sie glaubt, sie sei von jemandem entführt
worden, der den Menschen in den Dörfern bei Bethlehem helfen
wollte. Hier wuchs sie als Hirtin auf, und deshalb konnte sie
schon früh die kleinen Lämmer im weichen Fell streicheln –
genau wie Elisabet im magischen Adventskalender.«
Papa versuchte, Johannes zu unterbrechen.
»Und dann ist sie plötzlich aus Rom verschwunden«, sagte er.
»Warum wollte sie denn nichts mehr von Ihnen wissen?«
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»Das ist eine gute Frage, und Sie können mir glauben, dass ich
mir diese Frage im Lauf der Jahre selbst immer wieder gestellt
habe. Die Antwort ist wohl, dass sie sehr vorsichtig sein musste,
mit wem sie redete. Und deshalb hat sie auch ihren Namen
umgedreht und den Nachnamen Tebasile angenommen. Wir
dürfen nicht vergessen, dass sie aus einem Land kam, das im
Krieg war. Elisabet hat erklärt, dass sie Angst vor einer zweiten
Entführung hatte.«
»Weiter!« Papa schnipste mit den Fingern.
»Als ich ihr erzählte, dass ich ihre Engelsgeschichte glaubte,
wurde ihr Misstrauen geweckt. Sie hatte Angst, ich könnte für
sie und das palästinensische Volk gefährlich sein.«
»Aber war Elisabet denn keine Norwegerin?«, wollte Mama
wissen.
Johannes nickte.
»Doch, das schon. Elisabet glaubt, dass sie von sehr unglückli-
chen Menschen entführt worden ist, die fast alles getan hätten,
um die Welt auf die Leiden des palästinensischen Volkes
aufmerksam zu machen.«
»Trotzdem ist es furchtbar, ein unschuldiges Kind zu entfüh-
ren«, meinte Mama.
Johannes nickte energisch.
»Da haben Sie natürlich vollkommen Recht. Elisabet glaubt,
dass sie eigentlich wieder zurückgebracht werden sollte. Viel-
leicht wollten die Entführer ihren Vater dazu bringen, in den
Zeitungen über all die Menschen zu schreiben, die von Dorf zu
Dorf gejagt und schließlich in große Flüchtlingslager in fremden
Ländern getrieben wurden.«
»Ja, aber warum ist sie denn nicht zurückgebracht worden?«,
fiel Papa ihm ins Wort.
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»Elisabet sagt, dass sie sich nur an sehr wenig aus der Zeit
erinnern kann, bevor sich eine große Familie in dem kleinen
Dorf bei Bethlehem um sie gekümmert hat.«
Mama hatte Johannes nicht aus den Augen gelassen, während
er redete.
»Und was ist Ihre Erklärung?«, fragte sie.
Johannes fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
»Die kennen Sie doch schon.«
Joachim rückte an die Stuhlkante vor.
»Meinst du, dass sie dem Glockenlamm gefolgt ist und im
Wald dem Engel Efiriel begegnete?«, fragte er.
Johannes nickte.
»Das meine ich noch immer.«
Elisabet wischte das mit einer heftigen Armbewegung vom
Tisch.
»No!«, sagte sie.
»Yes!«, sagte Johannes.
»No!«, sagte Elisabet und lachte.
Jetzt lachten auch die andern.
»Jetzt zankt euch doch nicht«, sagte Joachim.
»Aber ich gehe jede Wette ein, dass Elisabets Geschichte
stimmt«, sagte Papa.
»Und ihr?«, fragte Johannes und sah Mama und Joachim an.
»Ich gehe vierundzwanzig Wetten ein, dass Johannes’ Ge-
schichte stimmt«, sagte Joachim.
»Dann muss ich zwölf Wetten für Elisabets Geschichte und
zwölf Wetten für die von Johannes eingehen«, entschied Mama.
»Denn ich glaube, dass zu diesem Weihnachtsfest einige Engel
nach Bethlehem geflogen sind. Und dann auch wieder hierher
zurück.«
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Wieder ergriff Johannes das Wort:
»Aber Joachim hat schon Recht, wir dürfen uns nicht zanken,
auch wenn wir etwas anderer Meinung sind. Auch das ist die
Weihnachtsbotschaft. Vielleicht ist es die größte aller Wahrhei-
ten, dass die himmlische Herrlichkeit sich sehr leicht verbreitet
– jedenfalls, wenn wir Menschen sie austeilen. Als ich die Zettel
beschrieben und sie sorgfältig zusammengefaltet und in den
magischen Adventskalender gesteckt habe, hatte ich einige
wenige Anhaltspunkte. Ich hatte von der verschwundenen
Elisabet Hansen gehört, und ich hatte in Rom Tebasile getroffen.
Aber ich hatte ja auch noch die alten Engelsgeschichten. Den
Rest musste ich mir selbst ausdenken.«
Im Zimmer war es jetzt ganz still.
»Das ist Ihnen ziemlich gut gelungen«, sagte Mama.
Der alte Mann lächelte verlegen.
»Aber auch die Dichtkunst ist ein kleiner Zipfel der himmli-
schen Herrlichkeit, der sich auf die Erde herab verirrt hat. Und
auch die verbreitet sich sehr leicht.«
»Das ist alles sehr seltsam«, meinte Mama. »Hier öffnen wir
das letzte Türchen in einem alten Adventskalender, und dann
hören wir, wie Elisabet in einen Stall in Bethlehem geht, um das
Jesuskind auf der Welt willkommen zu heißen.«
Johannes nickte, und Mama fuhr fort:
»Gleich darauf klingelt dieselbe Elisabet hier bei uns an der
Tür. Und da ist es doch fast so, als ob dieses Haus der Stall
wäre, in dem Jesus geboren worden ist.«
Sie stand auf und legte Elisabet die Arme um den Hals.
»Willkommen daheim in Norwegen, Kind«, sagte sie.
Das klang ein bisschen seltsam, denn Elisabet war fast zwan-
zig Jahre älter als Mama.
»Tausend Dank«, sagte Elisabet, und diese Worte sagte sie auf
Norwegisch.
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Kurz darauf schellte das Telefon. Papa nahm ab, und Joachim
wusste sofort, mit wem er redete, denn er hörte Papa sagen:
»Wir sind allesamt genauso überwältigt … das Weihnachtsge-
schenk des Jahres, Frau Hansen … ja, jetzt glaube selbst ich an
Engel … hier kommt sie … und frohe Weihnachten – richtig
frohe Weihnachten der ganzen Familie …«
Papa winkte Elisabet und reichte ihr den Hörer. Sie sprach
Englisch, deshalb konnte Joachim nicht verstehen, was sie sagte.
Aber er dachte, dass es ein seltsames Gefühl sein musste, mit
der eigenen Mutter in einer fremden Sprache zu reden.
Bald danach brachen Elisabet und Johannes auf. Aber sie
versprachen, dass sie sich schon am zweiten Weihnachtstag mit
allen wieder treffen wollten. Mama, Papa und Joachim waren zu
einem großen Weihnachtsfest bei Elisabets Familie eingeladen.
Jetzt begleiteten sie die Gäste zur Treppe. Draußen fiel dichter
Schnee.
Papa fragte, ob sich Elisabet noch aus ihrer Kindheit an einige
norwegische Wörter erinnern könne.
Sie blieb unter der Gartenlampe stehen. Der Schnee rieselte
auf ihren roten Umhang. Plötzlich ging sie in die Knie und
streckte eine Hand aus, als ob sie die tanzenden Schneeflocken
fangen wollte.
»Komm her, mein Lämmchen!«, sagte sie.
Erschrocken biss sie sich auf die Lippen und schlug sich die
Hand vor den Mund. Im nächsten Moment rannte sie los. Einige
Sekunden darauf waren sie und der alte Blumenverkäufer
verschwunden.
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Plötzlich entdeckte er einige Gestalten, die unten auf der
Straße vorüberrannten. Es war nicht so leicht, sie zu erkennen,
denn er sah sie nur kurz im Licht der Straßenlaterne, und nach
ein oder zwei Sekunden waren sie schon wieder verschwunden.
Joachim glaubte, den Engel Efiriel und alle andern wieder
erkannt zu haben, die mit Elisabet nach Bethlehem gezogen
waren.
In dieser Nacht hatten sie sie zurückgebracht.
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