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Reflexivität

Edgar Forster

Einleitung

Unter Reflexivität versteht man in der Alltagssprache die Fähigkeit des Menschen, das
eigene Denken und Handeln zum Gegenstand des Nachdenkens zu machen. Ohne sys-
tematischen Unterschied werden die Wörter Reflexivität, Reflexion und Reflektiertheit
verwendet, um die Vorstellung auszudrücken, dass der Mensch ein sich selbst erken-
nendes Subjekt ist. Reflektieren heißt „zurückstrahlen, spiegeln; nachdenken, grübeln,
erwägen; etwas in Betracht ziehen, erstreben, im Auge haben“. Reflexivität wurde im
17. Jahrhundert dem lateinischen re-flectere (reflexum) „zurückbiegen, zurückwenden“
(bzw. lat. animum reflectere, „seine Gedanken auf etwas hinwenden“) entlehnt. Das
Substantiv Reflexion (frz. réflexion) stammt ursprünglich aus der Optik und bedeutet
„Rückstrahlung“ (von Licht, Schall oder Wärme), oder im weiteren Sinn „Vertiefung in
einen Gedankengang, Überlegung, Betrachtung“. Das Adjektiv reflexiv, „rückbezüglich“,
mit der älteren Bedeutung „auf sich selbst zurückwirkend“ ist eine gelehrte neulateini-
sche Bildung aus dem 19. Jahrhundert.
In der Geschichte der Philosophie wird die Bedeutung des Begriffs Reflexion (aber
nicht das Wort selbst) zuerst mit Aristoteles’ Darstellung der höchsten theoretischen
Aktivität, dem „Denken des Denkens“ (nóesis noèseos), in Verbindung gebracht. Urs
Schällibaum (2001) zeigt in seiner philosophiegeschichtlichen Untersuchung der Be-
griffe Reflexion und Reflexivität, dass Reflexivität in jeder ausgestalteten Philosophie
am Werk ist. Weder historisch noch systematisch lassen sich die beiden Begriffe von-
einander trennen. Anders als in den philosophischen Wörterbüchern, wo das Wort Re-
flexion und nicht das Wort Reflexivität vermerkt ist, ist für Schällibaum Reflexivität in
einem historischen Sinn ursprünglicher als die Theorie der subjektiven Reflexion, die
die philosophische Methode anstelle des Gegenstandes zum Thema macht. Reflexivi-
tät umfasse zugleich die als allgemeines Thema gedachte subjektive Reflexion und das

C. Wulf, J. Zirfas (Hrsg.), Handbuch Pädagogische Anthropologie,


DOI 10.1007/978-3-531-18970-3_54, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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objektiv-logische Reflexive. „Diese ursprüngliche Reflexivität ist die Verbindung einer


philosophischen ‚Reflexion‘ auf einer methodischen, diskursiven Ebene, auf welcher das
allgemeine Thema der Reflexion noch nicht wahrgenommen wird oder nicht in der Ge-
stalt der Subjektivität wahrgenommen werden muss, mit einer als allgemeines Problem
wahrzunehmenden Reflexivität“ (ebd., S. 21 f.).
Auf Reflexion als Methodenbegriff zielt Herbert Schnädelbachs klassische Studie
„Reflexion und Diskurs“ (1977): Reflexion sei der wichtigste Methodenbegriff der neue-
ren Philosophie, aber keine Metatheorie. Sie sei eine Selbstthematisierung von Thema-
tisierungsweisen. In mentalistischen Termini: Denken des Denkens, Erkennen des Er-
kennens, Bewusstsein des Bewusstseins. Reflexion verknüpfe das so Explizierte mit der
Aufgabe einer philosophischen Begründung der Philosophie, die ihrerseits Wissenschaft
und Moral begründen soll. Reflexion werde damit zum Medium der Selbstbegründung
der Philosophie. Der Begriff Reflexion wird in der Philosophie auch verwendet, um
Handlungen subjekttheoretisch zu begründen. Habermas fundiert die Begründung von
Handlungen kommunikativ: Reflexion ist nicht mehr Angelegenheit eines einsamen Er-
kenntnissubjekts, sondern die in das kommunikative Handeln eingebaute Schichtung
von Diskurs und Handeln. Schließlich bezieht sich Reflexion auch auf die Klärung von
Begriffen. In Adornos Werk „Negative Dialektik“ zeigt sich die Reflexionskategorie in
der denkenden Konfrontation von Begriff und Sache.

1 Reflexive turn

Die alltagssprachliche Verwendung der Begriffe und ihre philosophische Analyse er-
öffnen das Problemfeld von Reflexion und Reflexivität in den Human- und Sozialwis-
senschaften: Reflexivität bezieht sich nicht allein auf die Aktivität des Subjekts, auf eine
Denkform oder einen Bewusstseinsprozess, sondern auch auf gesellschaftliche Systeme,
historische Epochen und auf spezifische Wissenschaftspraxen. Mit den Begriffen Refle-
xivität und reflexiv wird heute erstens eine spezifische Signatur der Moderne benannt.
Zweitens bezeichnet der reflexive turn eine analytische Kategorie für einen Korpus so-
zialwissenschaftlicher Untersuchungen, die Antworten auf die Krise der Repräsentation
wissenschaftlicher Darstellungen suchen. Drittens trägt der Begriff Reflexivität dazu bei,
den Begriff von Subjektivität jenseits des sich selbst gewissen Subjekts zu bestimmen.

1.1 Reflexive Modernisierung

Als der Glanz des bürgerlichen Zeitalters verblasste, rückten in den Gesellschaftstheo-
rien die Paradoxien der Modernisierung in den Blick. Georg Simmel und andere nah-
men Analysen vorweg, die heute unter dem Namen reflexive Modernisierung durch-
geführt werden. Aus der Unterscheidung zwischen einer Ersten und einer Zweiten
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Moderne im Anschluss an soziologische Analysen von Ulrich Beck, Anthony Giddens


und anderen resultierten differenziertere theoretische Instrumente, um die gegenwär-
tige Erosion von Basisunterscheidungen und Grundinstitutionen (wie Nationalstaat,
Familie, Erwerbsarbeit) angemessener verstehen zu können. Eine „Modernisierung der
Moderne“ bzw. eine reflexive Modernisierung bedeutet, dass sich die Moderne selbst
zum Problemfall geworden ist. Ihre Institutionen stehen vor der Herausforderung, eine
neue Handlungs- und Entscheidungslogik entwickeln zu müssen, die nicht mehr dem
Prinzip des „Entweder-Oder“, sondern dem des „Sowohl-als-Auch“ folgt. Während die
Erste Moderne Störfälle als Krisen interpretierte, deutet eine Theorie der reflexiven Mo-
dernisierung solche Krisen als „normalen“ Vorgang der Modernisierung. Dadurch ver-
ändert sich deren Bedeutung; sie werden als Momente möglicher Restrukturierungen
und Rekonzeptualisierungen begriffen. Reflexivität bezieht sich auf jene Prozesse, durch
die diese gesellschaftlichen Phänomene in ihrer Ungewissheit und Ambivalenz wahrge-
nommen werden können. Daraus entsteht für Sozialwissenschaften die Aufgabe, eine
theoretische Sprache zu finden, um theoretische Referenzen danach zu beurteilen, ob
sie in der Lage sind, diese Ungewissheiten und Ambivalenzen abzubilden, ohne selbst
ambivalent zu sein. In der Erziehungswissenschaft sollte es etwa darum gehen, „päd-
agogisches Risikowissen“ (Lenzen) zu entwickeln, um jene Risiken abzuschätzen, zu
prognostizieren und zu kontrollieren, die vom pädagogischen Wissen selbst produziert
werden. In der Ökonomie wird mit dem Konzept von Reflexivität (und gegen die klassi-
sche Gleichgewichtstheorie) zum Ausdruck gebracht, dass das Verhalten von Marktteil-
nehmerinnen und -teilnehmern die Grundlagen des Marktes verändern kann.
Zusammengefasst können Reflexivität und Reflexion im Sinne eines doppelten Pro-
zesses beschrieben werden: Sozialer Wandel muss zunehmend als reflexiver Prozess ver-
standen werden und dies erfordert Theorien, die nicht nur diese Reflexivität als Be-
standteil des Wandels begreifen und dies in die Theoriebildung aufnehmen, sondern die
ihre eigene Wissensproduktion als Erklärung und Gegenstand dieses Prozesses in ihre
Theorien einbeziehen. Reflexivität ist damit auch ein Gradmesser für die Qualität von
Theorien und der Wissensgenerierung in den Sozial- und Humanwissenschaften.

1.2 Reflexive Humanwissenschaften

Der reflexive turn charakterisiert eine Neuorientierung in den Kulturwissenschaften.


Von reflexive turn spricht Doris Bachmann-Medick (2009) dann, wenn der neue For-
schungsfokus von der Gegenstands- und Inhaltsebene auf die Ebene von Analysekate-
gorien und Konzepten „umschlägt“, wenn also Reflexivität zum Erkenntnismittel und
-medium wird. Aus beschreibenden Begriffen werden operative Begriffe, die andere
Konzepte von Wirklichkeit hervorbringen. Der reflexive turn bezieht sich auf die bereits
bei Clifford Geertz geäußerte Krise der Repräsentation: Wie lassen sich fremde Kultu-
ren in wissenschaftlichen Darstellungen angemessen darstellen ? Geertz (1987) bezieht
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sich auf die Reflexion des wissenschaftlichen Schreibens, der wissenschaftlichen Praxis
der Erkenntnisgewinnung und der damit verbundenen Bedeutungsproduktion. Diese
Momente tangieren nicht nur das Verhältnis von Erkenntnissubjekt und Erkenntnis-
objekt, sondern auch das Verhältnis von Darstellung und Dargestelltem, die durch kate-
goriale, begriffliche und rhetorische Voraussetzungen auseinander fallen. Damit ist die
Gefahr verbunden, zwischen Subjekt und Objekt, zwischen dem Ich und dem Anderen
eine Differenz zu essentialisieren und eine Asymmetrie einzuführen, die reale Macht-
verhältnisse widerspiegelt. Reflexive Anthropologie fragt deswegen danach, wer spricht,
wer schreibt und unter welchen institutionellen Bedingungen dies geschieht.
Der reflexive turn findet sich ebenso in der Soziologie, etwa bei Pierre Bourdieu
(Bourdieu/Wacquant 1996), in der reflexiven Erziehungswissenschaft oder in der Psy-
chologie des reflexiven Subjekts. Die Möglichkeit von Forscherinnen und Forschern, ge-
genüber der eigenen Position einen absoluten Standpunkt einnehmen zu können, wird
hier als scholastische Illusion über die Allmacht des Denkens verworfen. In der Psycho-
logie wird von einer Subjekt-Objekt-Konfundierung gesprochen: Forschende sind Er-
kenntnissubjekte und -objekte in einer Person, ohne dass die Einflüsse dieser Duplizie-
rung kontrolliert werden können.

1.3 Systemreflexivität

Reflexivität kann sich auf die Verfassung des Subjekts, aber auch auf die Beschaffenheit
von Systemen beziehen. Exemplarisch kann dafür die Systemtheorie Niklas Luhmanns
stehen. Reflexion beschreibt eine bestimmte Form der Selbstreferenz sozialer Systeme,
die in ihren Operationen die Differenz von System und Umwelt zugrunde legen. Die
Selbstreferenz dient der autopoietischen Reproduktion, das heißt der Reproduktion
des Systems aus sich selbst heraus. Die Orientierung an der Differenz von System und
Umwelt erlaubt es dem System, Konditionierungen durch die Umwelt selbst zu wählen.
Ähnliches gilt für psychische Systeme, die für sich selbst operativ unerreichbar und da-
mit auch für die eigenen Operationen intransparent bleiben. Hier liegt für Luhmann der
Grund, weshalb klassische Theorien der Selbstreflexion, sei es des Bewusstseins, sei es
des „Geistes“, mit dem binären Schema bestimmt bzw. unbestimmt arbeiten.

2 Reflexivität und Subjektivität

Für Johann Gottfried Herder (1744 – 1803) ist Reflexion der mentale Zustand der Beson-
nenheit, wie er in „Über den Ursprung der Sprache“ sagt. Sie ist eine anthropologische
Konstante und sprachlicher Art. In der Reflexion wird der unablässige Strom der durch
sinnliche Wahrnehmung erzeugten Bildung angehalten. Der Gegenstand, auf den sich
die Aufmerksamkeit richtet, wird in seinen wesentlichen Eigenschaften erfasst.
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Die Sprache ist auch für Wilhelm von Humboldt (1767 – 1835) der erste Akt der Re-
flexion. Durch diese erwacht der Mensch aus der Dumpfheit der Begierde, wird Selbst-
bewusstsein, indem er sich einem Objekt gegenübersieht. Die Reflexion ist der Akt ei-
nes mächtigen Subjekts und zugleich fällt in der Reflexion Denken und Wahrnehmen
auseinander und als Folge davon Denken und Gedachtes, Denken und Erfahrung. Re-
flexion trifft auf Reflexivität und erzeugt einen Riss, der die Mächtigkeit des Subjekts in
Frage stellt.
Auf Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) geht der Gedanke zurück, dass Reflexion we-
sentlich Trennung und verantwortlich für die Zerrissenheit der modernen Welt ist. Sie
könne nicht mehr durch eine Reflexion der Reflexion überwunden werden, vielmehr sei
der Mensch durch seine exzentrische Positionalität bestimmt.
Während sich die Exzentrik noch mit einem Subjekt vertrug, das seine Souveräni-
tät gerade aus der exzentrischen Positionalität bezog, lässt sich Reflexivität nach den
neueren theoretischen Einsichten der strukturalen Anthropologie, der poststruktura-
listischen Theorien und der Philosophie der Dekonstruktion nicht mehr als Zeichen ei-
nes intentionalen, sich selbst gewissen Subjekts interpretieren. Vielmehr stellt sich die
Frage, in welcher Weise Subjektivierungsformen Gegenstände anthropologischer Unter-
suchungen sind und welche Rolle dabei Reflexivität spielt. Zwei Richtungen innerhalb
der Anthropologie stehen exemplarisch für das Verhältnis von Reflexivität, Subjektivität
und Anthropologie: der Ansatz der kritischen Anthropologie von Dietmar Kamper und
eine subjektkritische Anthropologie der Vernunft, wie sie Paul Rabinow vertritt.

2.1 Anthropologische Differenz: Reflexion und Reflexivität

Von Kamper (vgl. 1973) stammt ein früher Versuch, die Frage nach dem Menschen zwi-
schen Geschichte und menschlicher Natur zu artikulieren und dabei das Verhältnis von
Subjektivität und Reflexivität methodologisch elaboriert zu theoretisieren. In seinen
frühen Arbeiten entwirft er eine kritische Anthropologie, in der weder die transzenden-
tale Subjektivität ein ahistorischer Horizont objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis ist
noch das konkrete Individuum als ein fertiger Knotenpunkt egozentrischer Bedürfnisse
begriffen werden kann. Individuen sind vielmehr in die gesellschaftliche Produktion
und Reproduktion eingelassen, wie sie sich in Sozialisation und Erziehung manifestie-
ren. Jede Auseinandersetzung mit dem Menschen, mit Subjektivität und Reflexivität
muss davon ausgehen, dass das „Objekt“ der Humanwissenschaften zugleich ihr „Sub-
jekt“ ist. Dies impliziert, dass die „Sache“ der Anthropologie mit der Methode, die den
Zugang zur Sache freilegen soll, unauflösbar verknüpft ist. Für die Anthropologie sei es
entscheidend, welche Auffassung vom Menschen in die Methode seiner Erkenntnis und
Erforschung eingeht. Methodologische Fragen sollen dabei nicht als eine Metatheorie
fungieren; sie sind jedoch wichtige Bedingungen für die Untersuchung „des materia-
len Mediums“, nämlich der Praktiken, Körper, Sinne, Gefühle, Rituale, Denkweisen und
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Deutungsmuster. Sie halten den Begriff des Menschen offen, indem sie die produktive
Spannung der anthropologischen Differenz zwischen Geschichte und Natur thematisie-
ren, eine Differenz, die in der materialen Analyse die methodische Reflexion der Hu-
manwissenschaften zur Anwendung bringt und dabei die Reflexivität der Praktiken von
Individuen berücksichtigt (vgl. Wulf/Kamper 2002).
Zu den Grundkategorien der kritischen Anthropologie zählt Kamper (1973, S. 99 ff.)
in „Geschichte und menschliche Natur“ neben dem Individuum, der Aufklärung und
anderen auch den Begriff der Reflexion. Sie bezeichnet die Rückwendung der Erkennt-
nis auf sich selbst zur Erkundung ihrer verdeckten, divergierenden Interessen. Die Re-
flexion hat eine Differenz im erkennenden Welt- und Selbstverhältnis zum Gegenstand.
Diese Differenz ist zwei divergierenden Verhältnissen geschuldet: zum einen dem In-
teresse an Verfügungsgewalt, zum anderen dem Interesse an einer menschlichen Praxis,
die von der Idee vom richtigen Leben inspiriert wird. Aus der Reflexion dieses Span-
nungsverhältnisses entsteht die Kraft zur individuellen Emanzipation. Ein zentrales
Merkmal der anthropologischen Differenz bildet das Verhältnis von Reflexion und Re-
flexivität. Die anthropologische Reflexion stößt, wenn sie gelingt, auf die Reflexivität des
Menschen. Reflexivität ist kein geschlossenes System, sondern hat eine unabschließbare
Struktur und ist, obwohl letzter Horizont individueller Erfahrung, gesellschaftlich und
geschichtlich vermittelt. Die anthropologische Reflexion hat in diesem Sinn die unab-
geschlossene Struktur der Reflexivität zum Gegenstand und sie bewahrt in der theore-
tischen Analyse diese Offenheit. „Was geleistet werden muß, ist der Nachweis einer […]
anthropologischen Struktur, die für Abhängigkeit aber auch für Freiheit, für Selbstent-
fremdung aber auch für Selbstsein verantwortlich ist – einer Struktur mithin, welche die
gesellschaftliche Isolation (‚Individuum‘) und soziale Integration (‚Person‘) ebenso tran-
szendental wie konkret zu erläutern vermag“ (ebd., S. 156).
In Geschichte und menschliche Natur kommt der Subjektivität keine begrifflich be-
deutsame Stellung zu. Die anthropologische Differenz, die sich im Spannungsverhältnis
von Reflexion und Reflexivität darstellt, eröffnet nicht den Raum für das Subjekt oder
für Subjektivität, wird doch der Mensch vielmehr in der anthropologischen Differenz
als Doppelbewegung bestimmt: als Individuum und Person. „Zum Postulat der ‚indi-
vidualen‘ Erkenntnis des Menschen sind alle Verfahren des Verstandes zu rechnen, die
eine Bemächtigung ihres Erkannten intendieren, also jene ‚Logik der Herrschaft‘, die
das objektivierende Denken der Subjektivität durchherrscht. Zum Postulat der ‚perso-
nalen‘ Erkenntnis gehören die Verfahren der Einbildungskraft, die eine Vergegenwärti-
gung des ‚Gegenüber‘ (statt Bewältigung des Gegenstandes) erreichen wollen und einer
streng genommenen ‚Logik der Interaktion‘ verpflichtet sind“ (ebd., S. 159). Dieser Dua-
lismus ergibt sich als Antwort auf die Frage, wie die – unvermeidliche – Aktivität des
Begreifens mit der – notwendigen – Passivität der Erfahrung vereinbar ist. Beschrieben
wird die Struktur des Raums, die sowohl die Emanzipation und das Auftauchen des
Subjekts als auch die Verdinglichung und Entfremdung erklärbar macht. Struktur soll
dabei im Anschluss an Überlegungen zur strukturalen Anthropologie von Lévi-Strauss
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das Postulat hervorheben, dass dieser Raum immer schon strukturiert ist und dass die
Struktur das Ergebnis von Interpretationen einer bereits interpretierten Wirklichkeit ist.
Subjektivität muss in der Folge als Bewegung dargestellt werden, die sowohl die polare
Doppelbewegung des Individuums bzw. der Person berücksichtigt als auch das Verhält-
nis von Reflexion und Reflexivität.
Dies soll an einem Beispiel deutlich gemacht werden: Die nachfolgenden Überlegun-
gen zum Glück und die Reflexion darüber zeigen nicht die Zerrissenheit des Subjekts
durch Reflexion, auch nicht die reflexive Vollendung des Glücks, sondern die Gedan-
kengänge, ihre Darstellung und Reflexion einer bereits durch Reflexivität durchdrun-
genen „Sache“ bilden zusammen genommen die Bewegung von Subjektivität: „Glück-
lich sein kann nur der, der nichts von seinem Glück weiß; indem der Mensch über sein
Glück nachdenkt, ist er schon nicht mehr das, was er eigentlich sein will: glücklich; in
der Reflexion über das Glück verschwindet dasselbige. Oder: das Glück ist mehr als nur
Lustempfindung; gerade in seiner Reflexivität liegt sein eigentliches Merkmal. Ist das
Wissen um sein Glück ein notwendiger Bestandteil desselben ? Oder aber sind die ‚wah-
ren‘ Formen des Glücks, wie Ekstase, Rausch, Meditation, Spiel und Sport, eben solche,
die das Denken und Wissen des Glücks an sich ausschließen ? Sind Glückserfahrungen
nicht auch solche, die Wirklichkeit erschließen, statt sie auszublenden ? Bedeutet Glück
nicht auch – und vor allem ? – die Erfahrung von Realität aufgrund von Sachlichkeit und
Gelassenheit ?“ (Zirfas 1997, S. 815).
Kamper hat in den späteren Werken das theoretische Grundgerüst ausdifferenziert
und mit unterschiedlichen Theoriesprachen experimentiert, aber seine Grundintentio-
nen nicht verändert. Verändert hat sich seine Einschätzung, ob und wie es gelingen
kann, den durch die anthropologische Differenz eröffneten Raum theoretisch und prak-
tisch offen zu halten. Kamper stellt ernüchtert fest, dass Subjektivität durch immer neue
und subtilere Formen der Selbstkontrolle eingesperrt werde. So kippt Emanzipation in
ihr Gegenteil: Der Kampf gegen Fremdbestimmung zeigt sich als ebenso vollständige
wie unbemerkte Internalisierung von Zwangsritualen des Spiels, der Versöhnung von
Regel und Freiheit – und schließlich noch durch „transparente Reflexivität“ als Zeichen
der Perfektionierung des Homo clausus (Kamper 1986, S. 92 ff.). Keine „andere“ Praxis,
keine große Theorie, keine noch so radikale Reflexion vermag einen Ausweg zu ver-
heißen. Kamper erkundet in seinen späten Schriften diese Zwangsgewalten, aber auch
Spuren, die im Denken und in der Sache den Zwängen der aufgeklärten Reflektiertheit
entgehen wollen. Er findet sie in einer Logik des Unscharfen bei Serres, in der Einbil-
dungskraft eines Nerval und Artaud oder in der Reversibilität der Geschichte, wie sie
die Höllenvisionen von Bosch offenbaren.
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2.2 Anthropologie der Vernunft

Paul Rabinow (2004a, S. 7) fragt in seinem Projekt einer „Anthropologie der Vernunft“
nicht nach dem Menschsein als solchem, sondern nach der jeweiligen, den Menschen
konstituierenden „Vernunft“. An die Stelle der Spekulation über anthropologische Kon-
stanten wird Wissen, das sich auf Menschen bezieht, daraufhin befragt, in welchen For-
men es Menschen konstituiert. Rationalitätsformen sind Rationalisierungen, das heißt
Zurechtlegungen, konstruierte Gründe, mit denen Handelnde sich und anderen erklä-
ren und rechtfertigen, warum sie tun, was sie tun. Diese Rationalisierungen haben einen
reflexiven Charakter, der den Rationalitätsformen unterliegt und einerseits den Men-
schen reproduziert, andererseits auch Rationalität verändern kann.
Objekte der Rabinow’schen Anthropologie sind nicht Gesellschaft, Kultur oder Sub-
jekt, sondern Problematisierungen, wie sie Michel Foucault in „Der Gebrauch der Lüste“
skizziert hat. Eine Problematisierung ist weder Repräsentation eines existierenden Ob-
jekts noch diskursive Schaffung eines neuen Objekts. Problematisierungen sind Ensem-
bles von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, die einen Gegenstand der Refle-
xion konstituieren. Dieser Auffassung einer anthropologischen Forschungspraxis liegen
zwei Überlegungen zugrunde: Erstens ist Denken kein Repräsentationssystem, sondern
eine Aktivität der Distanzierung von jener Gegenwart, wie sie uns als scheinbar natür-
liche entgegentritt. „Nachdenken ist die Freiheit, die man im Verhältnis zu dem, was
man tut, besitzt; es ist die Bewegung, durch welche man Abstand von sich gewinnt, sich
selbst als Objekt konstituiert und über das Ganze dieser Bewegung als Problem nach-
denkt“ (Foucault, zit. nach Rabinow 2004b, S. 61). Die Aktivität des Denkens ist eng mit
der Frage verknüpft, wie sich das Wissen über Menschen in einer bestimmten Lebens-
führung niederschlagen kann. Rabinows Forschungspraxis soll seinem Selbstverständ-
nis gemäß zu einem Prozess der Selbstbildung beitragen, den man als Haltung oder
Ethos bezeichnen kann. Auf diese Weise führt die Problematisierung als Objekt anthro-
pologischer Forschung zu Formen der Subjektivierung, die eng mit Freiheit verknüpft
sind. Weil dies auch eine ethische Praxis ist, die Verantwortung einschließt, und wir
nicht anders können, als in der Welt aktiv zu sein, käme es darauf an, „Klarheit gegen-
über sich selbst“ zu schaffen.

3 Pädagogische Anthropologie als reflexive Wissenschaft

Zeitgenössische Ansätze in der anthropologischen Forschung zeichnen sich durch die


Gemeinsamkeit einer Doppelbewegung von Reflexion und Reflexivität aus: Die Refle-
xivität des Gegenstandes ist auf die Reflexion der Perspektiven und Methoden anthro-
pologischer Forschungspraxis bezogen. Diese ist eine reflexiv verfahrende Aktivität des
Denkens, die sich selbst nicht völlig transparent ist, sondern sich als Riss zwischen Erfah-
rung und Denken, zwischen Sache und Denken manifestiert und Eingang in das Den-
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ken findet. Das bedeutet, dass anthropologische Forschungen nicht einfach ihre Objekte
vorfinden wie die Natur, sie aber auch nicht konstruieren, wie wir über soziale Dinge
sagen, sie seien sozial konstruiert. Denn im Spannungsverhältnis von Forschungspraxis
und Gegenstand der Forschung sind Rationalisierungsformen und Subjektivitäten mög-
lich, die sich weder auf das Denken noch auf das Gedachte reduzieren lassen.

Literatur

Bachmann-Medick, Doris (2009): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissen-


schaften. 3., neu bearb. Aufl. Reinbek.
Bourdieu, Pierre/Wacquant, Loïc (1996): Reflexive Anthropologie. Frankfurt/M.
Geertz, Clifford (1987): Dichte Beschreibung. Frankfurt/M.
Kamper, Dietmar (1973): Geschichte und menschliche Natur. Die Tragweite gegenwärtiger An-
thropologiekritik. München.
Kamper, Dietmar (1986): Zur Soziologie der Imagination. München.
Rabinow, Paul (2004a): Anthropologie der Vernunft. Studien zu Wissenschaft und Lebensfüh-
rung. Frankfurt/M.
Rabinow, Paul (2004b): Was ist Anthropologie ? Frankfurt/M.
Schällibaum, Urs (2001): Reflexivität und Verschiebung. Wien.
Schnädelbach, Herbert (1977): Reflexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie.
Frankfurt/M.
Wulf, Christoph/Kamper, Dietmar (Hrsg.) (2002): Logik und Leidenschaft. Erträge Histori-
scher Anthropologie. Berlin.
Zirfas, Jörg (1997): Glück. In: Wulf, Christoph (Hrsg.): Vom Menschen. Handbuch Historische
Anthropologie. Weinheim und Basel, S. 812 – 821.

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