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Gesellschaft
SZ: Frau Deißler, reden wir über die Liebe. Sie versprechen Schüchternen
Selbstbewusstsein, ja sogar, den Traumpartner fürs Leben zu finden - mit
Selbstbewusstsein haben Sie offensichtlich keine Probleme. Waren Sie selbst
mal schüchtern?
Nina Deißler: Tatsächlich war ich nie schüchtern. Als Jugendliche habe ich
Freunden geholfen, auf Mädchen zuzugehen. Dadurch habe ich gelernt,
Schüchternheit zu verstehen. So sehe ich die Situation aus einer anderen
Perspektive und kann Schüchternen erklären, wo ihr Problem liegt.
Sie machen sich zum Beispiel zu viele Gedanken, was andere von ihnen halten
könnten. Äußerlich wirken sie ruhig, aber innen ist der Teufel los: Sämtliche
Szenarien, wie die Reaktion des Gegenüber aussehen könnte, werden
durchgespielt - allerdings nur Horrorszenarien. Ein schüchterner Mensch möchte
eigentlich Kontakt zu anderen. Aber aus Angst, sich zu blamieren, oder weil er
denkt, nicht gut genug zu sein, hält er sich zurück. Nach dem Motto: Ich lehne dich
ab, bevor du mich ablehnst. Vor allem Männer leiden bei der Partnersuche unter
ihren Hemmungen. Da wir nach wie vor von ihnen erwarten, auf die
Frauen zuzugehen.
Es gibt keinen Spruch, der immer funktioniert - aber es gibt Türöffner. Wenn ein
Mann fragt: "Kann ich mich zu dir setzen?", geraten viele Frauen zunächst in eine
innere Abwehrhaltung: "Was will der von mir?" Wenn er aber seine Absicht erklärt,
sind wir zugänglicher. Zum Beispiel: "Es ist so voll hier. Ich bin alleine und du siehst
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9/29/2018 Reden wir über Liebe - "Schüchterne sind ichbezogen" - Süddeutsche.de
nett aus. Darf ich mich zu dir setzen?" Bei einer Unterhaltung brauche ich das
Gefühl, der andere ist mir freundlich gesonnen, hat tatsächlich etwas zu erzählen
und interessiert sich für mich. Es ist übrigens eine Fehlannahme, dass der erste
Eindruck davon abhängt, wie das Gespräch beginnt.
Sondern?
Bereits beim ersten Blick analysiert die Frau blitzschnell, ob der Mann etwa
arrogant oder zugänglich rüberkommt. Ob er gep egt wirkt und so weiter. Eine
Frau sendet Interesse, indem sie den Blickkontakt erwidert. Männer gehen nicht
auf Frauen zu, die abweisend wirken. Das ist das Problem schüchterner Frauen:
Sie trauen sich nicht, einem Mann zu signalisieren, dass sie ihn interessant finden.
Immerhin haben sie es trotz allem leichter, da sie dennoch angesprochen werden
können. Umgekehrt ist das nur selten der Fall.
Dabei weicht das traditionelle Rollenbild doch immer mehr auf. Könnte das
nicht auch eine Chance für den schüchternen Mann sein?
Es könnte eine sein, wenn er wüsste, wie er damit umgeht. Stattdessen führen
Schüchterne eher einen inneren Dialog mit sich selber. Jeder Gedanke löst eine
emotionale Reaktion und einen entsprechenden Gesichtsausdruck aus - in diesem
Fall wirkt er angespannt oder gestresst. Das ist nicht attraktiv und so ist es oft
vorbei, bevor es angefangen hat. Ein Mann, der Selbstbewusstsein ausstrahlt, fällt
positiv auf. Im Frauengehirn werden Instinkte aktiviert, die nicht von 2018,
sondern uralt sind.
Frauen bevorzugen also nach wie vor den starken, selbstbewussten Alpha-
Mann?
Das kommt darauf an, was wir mit ihm vorhaben. In der Attraktivitätsforschung
gibt es einen entscheidenden Unterschied: Wen finden wir attraktiv? Und wen
wählen wir als Partner aus?
Das hieße, Frauen wollen in ihrer Fantasie vom wilden Mann mit dreckigen
Schuhen am Küchentisch genommen werden, wünschen sich aber in der
Realität jemanden, der die Kaffee ecken vom Tisch wegwischt. Ist das nicht
unfair?
Kann eine schüchterne Ausstrahlung bei der Partnersuche nicht sogar von
Vorteil sein? Schließlich wirkt distanziertes Verhalten auch anziehend.
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Ein gewisser Grad an Zurückhaltung ist sexy, ja. Aber nicht, wenn jemand die
Zähne gar nicht auseinanderkriegt.
Das klingt jetzt hart, aber Schüchterne sind ichbezogen. Sie gehen davon aus, dass
andere ständig über sie nachdenken, was ja meist gar nicht stimmt. Die
Betroffenen nehmen sich daher in gewisser Weise wichtiger, als es in der Realität
der Fall ist. Meine Klienten hören das nicht gerne, sehen aber irgendwann ein, dass
es ihre Gedanken sind, die ihr Verhalten bestimmen.
Für introvertierte Menschen kann das hilfreich sein, da sie mehr Zeit haben, nach
den richtigen Worten zu suchen. Sie umgehen aber dadurch, sich dem
Nervenkitzel der ersten Begegnung auszusetzen - der durchaus schön sein kann.
Einigen Menschen fällt es schwer, Werbung für sich selbst zu machen. Da können
professionelle Schreiber helfen und mit Formulierungen unterstützen. Allerdings:
Irgendwann muss ich dem anderen gegenübertreten. Dann besteht die Gefahr,
dass sich die andere Seite in die Worte verliebt hat und beim ersten Treffen
enttäuscht ist.
Das kommt darauf an, was die Schüchternheit auslöst. Manche sind nur in
bestimmten Situationen schüchtern und tauen in der Beziehung auf.
Schüchternheit, die aus schlechten Erfahrungen resultiert, kann dazu führen, dass
sich eine dauerhafte Angst verfestigt hat, dem Partner nicht zu genügen. Die
Betroffenen geben sich aber nicht zwangsläufig als zurückhaltend zu erkennen, da
sie nicht wollen, dass ihre Angst auffällt. Introvertierte Menschen dagegen bleiben
in Beziehungen meist wenig redselig. Sie sind aber nicht schüchtern, sondern von
Natur aus eher stille Beobachter. Daher fehlt ihnen auch die Übung, mit anderen
Menschen zu sprechen, was sich in der Partnerschaft bemerkbar machen kann.
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Ja, da sie oft nicht so viel von sich halten, sind sie häufig eher kon iktscheu und
harmoniebedürftiger als Menschen mit gesundem Selbstvertrauen. Sie geben
öfter klein bei, leiden dann still oder rächen sich emotional bei nächster
Gelegenheit - zum Beispiel indem sie dem Partner, wenn es sich anbietet, für eine
seiner Verfehlungen lange Schuldgefühle einreden.
Ist das Risiko des Fremdgehens bei einem schüchternen Partner geringer -
womöglich, weil sie sich schwertun, andere Partner zu finden?
Ich würde gerne etwas anderes sagen, aber vermutlich ist der Schüchterne
deshalb besonders treu, weil er wenige Gelegenheiten bekommt. Allerdings habe
ich es auch schon erlebt, dass ein Schüchterner, wenn er von jemand Neuem
begehrt wird, seine aktuelle Beziehung komplett in Frage stellt und diese auch
daran zerbrechen kann. Deshalb rate ich Menschen in Beziehungen dazu, ab und
an ein wenig zu irten, um nicht ganz aus der Übung zu kommen.
Wer ist die perfekte Partnerin für einen schüchternen Mann - eine Macherin
oder eine zurückhaltende Person?
Es gibt Schüchterne, die sich bewusst eine Macherin suchen, die das für
Schüchterne oft anstrengende "Socializing" übernimmt. Oder zumindest
jemanden, der nicht ganz so zurückhaltend ist wie sie selbst. So hoffen sie, mithilfe
des Partners an Lebensqualität zu gewinnen, ohne sich selbst in Gefahr zu
begeben. Allerdings habe ich auch schon Paare mit zwei schüchternen Partnern
erlebt. Die haben sich oft viel zu erzählen, weil sie sich ähnlich sind. Sie fühlen sich
verstanden und erkennen: "Hey, du bist wie ich!" Das baut die Hemmung ab.
Allerdings lernen sich solche Konstellationen nicht so leicht kennen.
Was haben Sie bei Ihrer Arbeit über die Liebe gelernt?
Dass die Liebe zum Glück immer noch unberechenbar ist und von vielen
Einzelfaktoren abhängt. Einige davon können wir beein ussen, andere bleiben ein
Geheimnis - oder Magie.
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