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COM/WSNWS
Nr. 43 / 20.10.2018
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Inhalt
72. Jahrgang | Heft 43 | 20. Oktober 2018
Grüne Der Aufstieg der Partei Die Umfragewerte im Bund sind so hoch wie Eine Meldung und ihre
gefährdet ihre Identität . . . . . 28 seit Jahren nicht mehr, in Bayern Geschichte Warum eine
wurden sie zweitstärkste Kraft, in Hessen läuft Amerikanerin einen Bären
SPIEGEL-Gespräch mit es ähnlich gut. Woher kommt der Erfolg? in ihrem Auto einschloss . . . 73
Robert Habeck über den
Aufstieg seiner Partei . . . . . . 36
Und worüber könnten sie stolpern? Seiten 28, 36 Karrieren An der Spitze
einer jüdischen Gemeinde
Regierung Wie sich Armin steht ein Mann, der
Laschet und Christian Lindner kein Jude ist – die Geschichte
eine Neuauflage von Jamaika eines Hochstaplers . . . . . . . . . . 74
vorstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
Homestory Was in jungen
Gleichstellung Die FDP will Leuten vorgeht, die Post von
ihr Frauenproblem lösen ... 42 der Rentenkasse kriegen . . . 80
Konjunktur SPIEGEL-Gespräch
BASTIAN BOCHINSKI
Titelfotos [M]: Bloomberg via Getty Images; Photothek via Getty Images; Anadolu Agency/Getty Images; Fotos Grüne: Andrea Grambow & Joscha Kirchknopf 7
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er SPD geht es schlecht, historisch schlecht. Von der zuweilen mit einer sehr eigenen Sprache Milieus er-
So gut kann
Bier schmecken.
Andreas Dick,
Hopfenbauer für Bitburger
Meinung So gesehen
Reden Sie nicht über Falten! vorstellen, was in Ludwig II., dem
Bayernkönig, vorging, als er am
Ufer des Starnberger Sees stand.
Darf man über Angela Mer- heit, wo die Grenze verläuft. Eine Und mit dem Leben und mit dem
kel sagen, dass sie müde Frage ist, ob man über eine Politikerin Tode rang.
aussieht? Im ARD-»Presse- noch sagen dürfte, dass sie jung und Das ist nun anders, jetzt, da ein
club« hat neulich ein Jour- unverbraucht wirke. Das bezieht sich anderer großer Sohn Bayerns,
nalist erklärt, man sehe der ja, zumindest teilweise, ebenfalls Horst Seehofer, der Nation Einblick
Kanzlerin die Erschöpfung auf das Äußere. Es stimmt übrigens in seine Seele gewährt hat, da er
an. Die 13 Jahre im Amt hätten auch nicht, dass bei Männern nicht sich wandelt vom Minister des
ihr erkennbar zugesetzt. Er wurde über das Aussehen gesprochen wird. Innern zum Minister des Innersten,
daraufhin von einer Journalistenkolle- Die Diskussion über den dunklen seines Innersten. Da sitzt er nun
gin zurechtgewiesen, dass es nicht okay Haaransatz von Gerhard Schröder in Preußen an der Spree und stellt
sei, bei einer Frau über Falten zu reden. beschäftigte die deutsche Öffentlich- sich coram publico existenzielle
Bei Adenauer oder Schröder habe man keit über Wochen. Und »Birne« Fragen: Geh ich nun, oder geh ich
das auch nicht getan. »Dass Frauen auf meinte nicht die Form der Schuhe nicht? Soll ich weitermachen oder
ihr Äußeres reduziert werden, ist All- bei Helmut Kohl. aufhören?
tag«, las ich anderntags bei den Kolle- Es ist eigenartig: Während in einem
gen von »Bento«. »Zum Glück gibt es Teil der Gesellschaft immer zügelloser
Journalistinnen, die darauf aufmerksam geredet wird, nimmt in einem anderen
und sich für Frauen stark machen.« die Rücksicht beständig zu. Mir wäre
Ich mag mich irren, aber ich glaube, es lieber, man würde sich in der Mitte
hier deutet sich eine neue Regel für treffen, also weniger Enthemmung hier,
das Reden über Politik an. Nach dem dafür etwas mehr Entspanntheit dort.
üblichen Verlauf solcher Debatten zu Die meisten Menschen machen sich
urteilen, sind bald nicht nur Beleidi- ohnehin ihre ganz eigenen Gedanken
gungen tabu, wie sie noch bei Wehner über die Politiker, die sie im Wahl-
oder Strauß an der Tagesordnung kampf sehen. Der einzige Weg, dieses
waren, sondern auch Beschreibungen, zu unterbinden, wäre ein generelles Dem Seehofer steht das Wasser bis
die als zu kritisch empfunden werden Bilderverbot, so wie bei Blindbewer- zum Hals, sagen die Preußen. Bayern
könnten. Wenn ich einen Politiker bungen, wo es keine Fotos gibt. Man ist ein Paradies, schwärmt Seehofer
sehe, der so dick ist, dass er sein könnte dann auch auf Alters- und in Berlin und schaut traurig wie ein
Jackett nicht zubekommt, frage ich Geschlechtsangaben verzichten. Wer alter Beagle über die Spree. Selbst
mich unwillkürlich, ob er auch im weiß, vielleicht ist das der nächste den Preußen kommen da die Tränen,
Umgang mit Steuergeldern nicht Nein Schritt hin zu einer vorurteilslosen na, sagen wir: einigen Preußen.
sagen kann. So darf man natürlich Politikbetrachtung. Klar wünscht man diesem großen
nicht denken, das ist mir bewusst. Bayern einen Platz im Paradies.
Wie immer, wenn man Neuland An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Aber das sagt man nicht, dazu hat
betritt, besteht am Anfang Unsicher- Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. man auch in Berlin zu viel Pietät.
Das könnte falsch verstanden wer-
den. Ludwig II. stand am Ufer des
Kittihawk Starnberger Sees, dann versank er.
Seehofer dagegen trieb schon im
Rhein. Und überlebte bestens.
Was der Seehofer alles durchlit-
ten hat. Er sei »verbrannt, aufge-
hängt und in den Rhein gekippt
worden«. Wenn die Macht sich
verflüchtigt, kommt die Sentimen-
talität. Er werde bald 70. Was solle
er da noch für Machtfragen verfol-
gen? »Ich bin froh, wenn ich mich
zu Hause durchsetze.«
Ein Mann am Abgrund also, am
politischen, aber tapfer, ein Steher,
jedenfalls verglichen mit Ludwig II.
»Ich stehe das durch«, sagt Seehofer.
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Titel
Tod am Bosporus
Saudi-Arabien Ein grausiger Kriminalfall erschüttert die Weltpolitik: Agenten des saudischen
Thronfolgers und Regenten sollen in der Türkei einen prominenten Kritiker zerstückelt
haben – der Skandal sorgt im Westen für Erschrecken und setzt Donald Trump unter Druck.
D
er Arzt Salah Muhammed Al- ist seit einem Besuch im saudi-arabischen Saudi-Arabiens Kronprinz Mohammed
Tubaigy ist ein Experte mit Konsulat in Istanbul an jenem 2. Oktober bin Salman beteuerte in einem Interview
außerordentlichen Fähigkeiten. verschwunden. mit Bloomberg, Khashoggi habe das Kon-
Sein Spezialgebiet sind schnelle Türkische Ermittler und Geheimdienst- sulat nach kurzer Zeit wieder verlassen.
Autopsien. In einem Interview mit einer ler glauben zu wissen, was in diesen Stun- Der Prinz hat bislang jedoch keine Bewei-
arabischen Zeitung hat er einst damit ge- den passierte: Das Kommando aus Riad se dafür erbracht. Leider seien sämtliche
prahlt, er könne eine Leiche in Rekordzeit wartete nach ihrer Version im Büro des Überwachungskameras ausgerechnet an
in handhabbare Teile zerlegen. Konsuls auf Khashoggi. Die Männer setz- dem Tag ausgefallen. Die Herstellerfirma
Tubaigy hat eine Bilderbuchkarriere im ten ihn unter Drogen und verprügelten des Systems allerdings schwört, das sei
saudi-arabischen Staatsapparat hingelegt: ihn. Dann hackten sie ihm, er war noch technisch unmöglich.
Nach dem Medizinstudium eröffnete er ei- bei Bewusstsein, die Finger ab. Und Eine Anfrage des SPIEGEL ließ das sau-
nes der ersten Forschungsinstitute für Fo- schließlich enthaupteten sie ihn. di-arabische Außenministerium unbeant-
rensik im Nahen Osten. Mittlerweile trägt Anschließend packte Forensiker Tubai- wortet. Laut CNN soll die Regierung eine
er den Rang eines Oberstleutnants und lei- gy seine Knochensäge aus, die er mitge- neue Erklärung vorbereiten, wonach Kha-
tet die Rechtsmedizin im Innenministeri- bracht hatte. Nach Erkenntnissen der Tür- shoggi bei einem aus dem Ruder gelaufe-
um. Er sollte die Forschung in Saudi-Ara- ken soll er sich Kopfhörer aufgesetzt ha- nen Verhör ums Leben gekommen sei.
bien auf den Stand des Westens bringen. ben, um Musik zu hören. Er empfahl den Der Fall Khashoggi erschüttert das Ver-
Nun haben aber er und 14 Männer fürs Leuten im Nebenraum, es ihm gleichzutun. hältnis zwischen Saudi-Arabien und dem
Grobe das Königshaus in eine der schwers- Das mache die Arbeit leichter. Westen. Er gefährdet auch die Herrschaft
ten Krisen seit den Terroranschlägen vom Und dann zerteilte er Khashoggis Leiche. von Mohammed bin Salman, der seine
11. September 2001 gestürzt. »Es war wie bei Tarantino«, sagt ein türki- Macht konsolidiert hat, seit ihn sein Vater,
Laut Ermittlungen der türkischen Poli- scher Fahnder. Die türkischen Behörden sol- König Salman, im Juni 2017 zum Kron-
zei landete Tubaigy am 2. Oktober um len laut einem Bericht der regierungstreuen prinzen ernannte.
3.13 Uhr gemeinsam mit acht saudi-arabi- Zeitung »Yeni Şafak« Tonaufnahmen besit- Der Skandal bringt zudem US-Präsi-
schen Geheimdienstlern und Militärs in ei- zen, die den Mord dokumentieren. dent Donald Trump in Bedrängnis, der
nem »Gulfstream IV«-Jet des Kronprinzen
Mohammed bin Salman am Flughafen Is-
tanbul. Sechs weitere Männer trafen einige
Stunden später mit einer zweiten Maschi- Vordereingang
ne in der türkischen Metropole ein. Jamal Khashoggi betritt am 2. Oktober
Überwachungskameras haben festgehal- um 13.14 Uhr das saudi-arabische Konsulat.
ten, wie Tubaigy in Lederjacke und Rin-
gelpullover den Passschalter passiert. Er
checkte für drei Nächte in einem Hotel
nahe dem saudi-arabischen Konsulat ein, Überwachungskameras
verließ die Stadt in Wahrheit jedoch schon Nach saudi-arabischen
am selben Tag wieder um 22.46 Uhr. Angaben war keine davon
Was in den neunzehneinhalb Stunden am 2. Oktober in Betrieb.
dazwischen geschah, darüber gibt es zwei
Versionen. Und welche auch immer davon
stimmt – auf jeden Fall geht es um einen Saudi-
Krimi, gegen dessen teils grausige, teils arabisches
groteske Details jeder James-Bond-Film Konsulat in
verblasst. Und der seit diesem Tag die der Türkei
Weltpolitik erschüttert. e
Das saudi-arabische Fernsehen behaup- traß
Istan b u l ağaç-S
tet, Tubaigy und seine Kollegen seien als Ak
DDP/A BACA P R E SS
Saudi-Arabien als einen der wichtigsten im Königshaus von Riad und den Schön- im vergangenen Herbst in die USA. »Seit
Verbündeten im Nahen Osten betrachtet heitswahn der Frauen von Dschidda – aber MbS Kronprinz ist, wird sofort und schnell
und privat, als Unternehmer, schon meh- auch über sich selbst, Saudi-Arabiens gro- zurückgeschlagen«, sagte er dem SPIEGEL.
rere millionenschwere Geschäfte mit Sau- ßen Welterklärer. Für die Rebellion bezahlte er einen Preis:
di-Arabern gemacht hat. Und er konfron- Wie kein anderer Journalist war Kha- Seine Frau reichte die Scheidung ein, Ver-
tiert die Europäer einmal mehr mit der shoggi vernetzt im Machtzentrum von wandte brachen den Kontakt zu ihm ab.
Frage, wie sie mit einem Königreich um- Riad. Er wusste von den Allianzen und Khashoggi weigerte sich zu schweigen:
gehen wollen, das durch sein Öl die Welt- der Konkurrenz der Prinzen, und er ver- »Ich kann sprechen, wenn so viele es nicht
konjunktur beeinflussen oder gar in eine stand es lange Zeit, sich sicher im Schutz können«, schrieb er in einer seiner Kolum-
Krise stürzen kann, Menschenrechte je- wechselnder Gönner zu bewegen. Er bau- nen für die »Washington Post«.
doch grob missachtet. te für Prinz Alwaleed Bin Talal, den heute Es heißt, das Königshaus habe im Som-
Bislang schien Mohammed bin Salman, reichsten Mann der arabischen Welt, einen mer noch einmal die Hand ausgestreckt:
33 Jahre alt, nach seinen Initialen kurz Fernsehsender auf. Und vor allem diente Mittelsmänner hätten Khashoggi angebo-
MbS genannt, mit seinem rabiaten Politik- er lange dem damaligen Geheimdienstchef ten, nach Saudi-Arabien zurückzukehren,
stil ungestraft davonzukommen. als Berater von MbS. Er habe
Er konnte einen zerstörerischen das ausgeschlagen. Hat diese
Krieg im Jemen führen, den liba- Entscheidung sein Schicksal be-
nesischen Premier Saad Hariri siegelt?
kidnappen, eine Blockade gegen Der britische Autor John Brad-
Katar verhängen und Widersa- ley, ein langjähriger Weggefährte
cher in Saudi-Arabien reihen- Khashoggis in Saudi-Arabien,
weise wegsperren, ohne dass vergleicht das Haus Saud mit der
irgendetwas davon für ihn oder Mafia, die ihre Gesetze selbst
sein Regime Folgen gehabt hät- schreibt und keine Skrupel kennt.
te. Der Fall Khashoggi ist nun Khashoggi habe sich lange da-
Donnerstagabend nicht öffentlich ge- Im Hof wachsen Bäume, im Hintergrund lamentarier aus Kuwait. »Istanbul ist die
macht, sondern nur einzelne Details durch- ragen Bankentürme in den Himmel. letzte Enklave des Arabischen Frühlings«,
sickern lassen. Wahrscheinlich auch des- Überwachungskameras der türkischen sagt Ayman Nour, ein ägyptischer Oppo-
halb, weil türkische Geheime das Konsulat Behörden zeichnen auf, wie Khashoggi sitionspolitiker und ehemaliger Berater
verwanzt hatten und die angeblichen Ton- am 2. Oktober um 13.14 Uhr das Konsulat des Ex-Präsidenten und Muslimbruders
aufnahmen so zustande gekommen sind. betritt. Er ahnt, dass er sich einem Risiko Mohamed Morsi. Nour lebt in Istanbul im
Denn damit würden Erdoğans Lausch-Ex- aussetzt, aber er hält dieses Risiko wohl Exil.
perten eingestehen, dass sie die diploma- für überschaubar. Gegenüber Bekannten Khashoggi begrüßte den Arabischen
tischen Gepflogenheiten nicht eingehalten sprach Khashoggi offen über seine Angst, Frühling. In einer Kolumne in der »Wa-
haben. Doch die Indizien, die auf einen entführt zu werden. shington Post« verteidigte er im Sep-
Mord hindeuten, verdichten sich. US-Geheimdienste hatten erst kürzlich tember die Muslimbruderschaft. Sollten
Der Krimi um Khashoggi beginnt am ein Gespräch abgehört, in dem saudi-ara- die Muslimbrüder ausgelöscht werden,
Freitag, dem 28. September, als der Jour- bische Offizielle darüber berieten, den schrieb er, käme das dem Ende der Demo-
nalist zum ersten Mal das saudi-arabische Journalisten im Auftrag von Kronprinz kratie in der arabischen Welt gleich. Er
Konsulat in Istanbul aufsucht, um Doku- Mohammed bin Salman zu kidnappen. stellte sich gegen Kronprinz Mohammed
mente zu holen. Die Mitarbeiter empfan- Doch in Istanbul fühlte sich Khashoggi bin Salman, der die Muslimbrüder als Be-
gen ihn freundlich. Sie sagen ihm, er möge sicher. Er ist mit Präsident Recep Tayyip drohung betrachtet und gemeinsam mit
nächste Woche wiederkommen, bis da- Erdoğan befreundet. Mohammed bin Sal- Ägypten und den Vereinigten Arabischen
hin hätten sie die Unterlagen fertig. Ein man, so vertraute er einem türkischen Emiraten dafür wirbt, dass Europäer und
Konsulatsmitarbeiter ruft ihn am Wochen- Freund an, würde einen Eklat mit Erdoğan Amerikaner die Bewegung als Terrorgrup-
ende an, um den Termin für Dienstag, den sicherlich scheuen. pe einstufen.
2. Oktober, zu bestätigen. Istanbul hat sich zu einem Fluchtpunkt Nach einem Bericht der amerikanischen
Das saudi-arabische Konsulat liegt im für Dissidenten aus der arabischen Welt Nachrichtenseite The Daily Beast soll
Geschäftsviertel Levent im Norden Istan- entwickelt: Rebellen der Freien Syrischen Khashoggi geplant haben, eine Lobbygrup-
buls. Es ist ein schlichter Bau, der wenig Armee halten sich ebenso in der Stadt auf pe zu gründen, um die verstreuten Exilan-
Ähnlichkeit hat mit den Palästen, die das wie Gegner der Militärjunta in Ägypten, ten des Arabischen Frühlings zu einen. In
Königreich in anderen Städten unterhält. Ex-Minister aus dem Jemen und Ex-Par- Istanbul traf er sich regelmäßig mit dem
Morsi-Berater Nour, einem langjährigen
Freund. Zudem soll Khashoggi vorgehabt
»Khashoggi wollte die Mafia verlassen haben, bei dem arabischen Fernsehsender
Al-Sharq einzusteigen, der den Muslim-
und sollte entsorgt werden.« brüdern nahesteht – auch das alles könnte
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Titel
ein Grund dafür gewesen sein, dass er ster- laut türkischer Polizei. »Halt’s Maul, falls indirekt, indem er sagt, die Ermittler der
ben musste. du lebend nach Saudi-Arabien zurückkeh- türkischen Regierung hätten »weitreichen-
Im Mai lernte Khashoggi auf einer Kon- ren willst«, antwortet einer der Killer. Die de Erkenntnisse«.
ferenz die türkische Doktorandin Hatice türkischen Ortskräfte hatten an diesem Erdoğan lässt die Medien von den Be-
Cengiz kennen. Er pendelte von da an Tag kurzfristig freibekommen. hörden beinahe täglich mit Informationen
zwischen McLean, Virginia, wo er seit Um 15.08 Uhr verlassen die Männer füttern, ohne sich selbst ausgiebig zu den
2017 gemeldet ist, und Istanbul. Er kaufte laut Aussagen türkischer Offizieller in Ermittlungen zu äußern. Er versucht wohl
dort eine Wohnung, die er gemeinsam mit sechs Fahrzeugen das Konsulat. Zwei wei- auf diese Weise, den Westen auf seine Sei-
Cengiz einrichtete. Am 3. Oktober wollten tere Fahrzeuge machen sich auf den Weg te zu ziehen. »Die Informationen haben
die beiden heiraten. zur Residenz des Konsuls, die fast 200 Me- den Fall zum internationalen Thema ge-
Nach türkischem Recht müssen Paare vor ter vom Konsulat entfernt ist. In einem macht«, sagt Präsidentenberater Aktay ge-
der Hochzeit mit Dokumenten aus dem Hei- der beiden, so vermuten die Ermittler, be- genüber dem SPIEGEL.
matland belegen, dass sie nicht bereits an- findet sich der zerstückelte Leichnam von Das Verhältnis zwischen Saudi-Arabien
derweitig verheiratet sind. Deshalb wandte Khashoggi. und der Türkei war bereits vor dem Ver-
sich Khashoggi an das saudi-arabische Kon- Hatice Cengiz wartet zu dieser Zeit schwinden des Journalisten angespannt.
sulat in Istanbul. Informanten aus dem Um- noch immer vor dem Konsulat auf ihren Beide Staaten ringen um Einfluss im Na-
feld von Kronprinz Mohammed bin Salman Verlobten. Sie fragt einen Wachmann am hen Osten. Ankara unterstützt die Mus-
hätten ihm versichert, dass er nichts zu be- Eingang nach ihm. Der Mann antwortet: limbrüder, die von Riad als Terrororgani-
fürchten habe, sagt Turan Kışlakçı, der Vor- »Hier drin ist niemand.« sation eingestuft werden. Im Konflikt zwi-
sitzende der türkisch-arabischen Medienge- Als Khashoggi gegen Mitternacht noch schen Saudi-Arabien und Katar schlug sich
sellschaft, ein Freund Khashoggis. immer nicht wieder aufgetaucht ist, ver- Erdoğan auf die Seite des Emirats. Mo-
Trotzdem lässt Khashoggi seine beiden ständigt sie Erdoğan-Berater Aktay und hammed bin Salman bezeichnete die Tür-
Telefone bei seiner Verlobten zurück, be- die Polizei. »Ich mache eine harte, qual- kei als Teil eines »Dreiecks des Bösen«.
Erdoğan hingegen stellt sich gern als
Schutzpatron gläubiger Muslime dar. Der
mutmaßliche Mord an Khashoggi muss ihn
provozieren, ärgern, weil er ihn als
Schwächling erscheinen lässt, der in sei-
nem eigenen Land nicht für Sicherheit sor-
gen kann. Beobachter vermuten, Erdoğan
wolle von Saudi-Arabien nun Zugeständ-
nisse bei Machtfragen in der Region er-
zwingen, etwa im Katar-Konflikt.
Denkbar ist auch, dass Ankara von Riad
Hilfsgelder für die angeschlagene türkische
Wirtschaft einfordern wird. »Wir können
Mohammed bin Salman einen Ausweg aus
der Affäre bieten oder ihn durch Enthül-
lungen noch weiter unter Druck setzen«,
sagt ein türkischer Regierungspolitiker.
»Die Frage ist, was ist dem Prinzen sein
Ruf wert?«
Wenn die Tonaufnahmen existieren –
und darauf deutet vieles hin –, sind sie Er-
doğans Faustpfand. Damit kann er die Sau-
dis am Nasenring durch die arabische Welt
AP
Mitglieder des mutmaßlichen Mörderteams*: Männer fürs Grobe führen. Ein Gemetzel im O-Ton, ausgestrahlt
in alle Welt, hätte verheerende Wirkung.
Bislang geht die Strategie der türkischen
vor er an dem Tag das Konsulat betritt. Sie volle Zeit durch«, sagte sie diese Woche Regierung auf. Saudi-Arabien erlaubte
wartet vor der Tür. Cengiz sollte im Notfall dem SPIEGEL am Telefon. »Ich fühle mich einer türkischen Delegation am Montag-
Yasin Aktay verständigen, einen Berater nicht mehr lebendig.« abend, das Konsulat zu inspizieren. Weni-
Erdoğans, mit dem das Paar befreundet ist. Es dauert, bis Informationen über den ge Stunden vor der Durchsuchung rückte
Das mutmaßliche Mordkommando aus Fall an die Öffentlichkeit gelangen. Zu- allerdings eine Putzkolonne mit Wisch-
Riad um den Gerichtsmediziner Tubaigy nächst heißt es, Khashoggi sei vielleicht mopps an. Die Reinigungskräfte machten
wartet nach Aussagen der Ermittler in die- verschleppt worden. Er wäre nicht der den mutmaßlichen Tatort sauber.
sen Minuten im Konsulat bereits auf Kha- erste saudi-arabische Journalist, den MbS Und es kamen offenbar auch noch Maler
shoggi. Als dieser das Haus betritt, greifen verschwinden lässt. Laut Reporter ohne an. Sie strichen in den Räumen. Womöglich
die Killer sofort zu. Der Konsul, Moham- Grenzen sind seit September 2017 mindes- hatte der Forensiker Tubaigy zwar schnell,
mad al-Otaibi, soll, so türkische Quellen, tens 15 Journalisten und Blogger ver- aber nicht wirklich sauber gearbeitet. Ein
die sich auf die Lauschprotokolle beziehen, schwunden. Oft wurden ihre Festnahmen Erwachsener hat fünf bis sechs Liter Blut.
noch protestiert haben. erst Monate später bekannt. Und Tubaigy hatte eine Säge, aber keinen
»Macht das woanders, ihr bringt mich Am Samstag, dem 6. Oktober, vermel- Seziertisch.
in Schwierigkeiten«, fleht der Diplomat det der Nachrichtendienst Reuters, die tür- In der Nacht von Mittwoch auf Donners-
kische Polizei gehe davon aus, dass Kha- tag durchsuchten türkische Ermittler auch
* Aufnahme einer Überwachungskamera am Istanbuler shoggi im Konsulat ermordet worden sei. die Residenz des Konsuls. Es gab die Ver-
Flughafen. Erdoğan-Berater Aktay bestätigt die These mutung, die Killer hätten Khashoggis zer-
REUTERS
König Salman (M.), Thronfolger bin Salman (4. v. r.): Erdoǧan kann die Saudis am Nasenring durch die arabische Welt führen
stückelten Leichnam im Garten vergraben. Vizechef des Geheimdienstes. Möglich ist schafter rauswarf, die Flüge der saudi-ara-
Denkbar war Donnerstagabend aber auch auch, dass der König außen- und sicher- bischen Staatslinie nach Toronto einstellte
noch, dass die Männer aus Riad Khashoggi heitspolitische Kompetenzen auf Moham- und seine rund 8300 Studenten in Kanada
in einem Istanbuler Wald verscharrt haben. med bin Salmans Bruder Khalid überträgt, zwang, in einem anderen Land weiterzu-
Erdoğan selbst deutete an, man habe der derzeit Botschafter in Washington ist. studieren.
im Konsulat möglicherweise »giftige Sub- Auf jeden Fall wurde er im Zuge der Kha- »MbS agiert wie ein verwöhntes Kind,
stanzen« gefunden. Der Konsul ist aus der shoggi-Affäre zurück nach Riad geholt. das plötzlich die Macht eines Diktators in
Türkei abgereist, mitsamt seiner Familie. Dabei hatten viele im Westen gerade seinen Händen hält«, sagt Loulouwa Al
Er soll gegenwärtig in Riad vernommen auf MbS gesetzt. Er stellt sich als Reformer Rachid, Co-Direktorin des Nahostzen-
werden. Das dürfte für MbS angenehmer dar, seit er faktisch die Macht von seinem trums der Carnegie-Stiftung in Beirut. Al
sein, als wenn die Türken den Mann in die Vater übernommen hat. Er hat die Reli- Rachid stammt selbst aus dem saudi-arabi-
Mangel nähmen. gionspolizei entmachtet, die bis dahin ge- schen Königshaus, als Kind spielte sie mit
Die saudi-arabische Regierung hat of- schminkte oder allein reisende Frauen auf- den Prinzen, inzwischen lebt sie im Exil in
fenbar erkannt, dass sie mit ihrer Legende, griff, um sie zu bestrafen oder ihrem Ehe- Beirut und Paris. Man müsse wissen, wie
wonach Khashoggi das Konsulat nach we- mann oder Vater zu übergeben. Er brachte MbS groß geworden sei. Anders als seine
nigen Stunden verlassen hat, nicht länger Konzerte und Kinos ins Königreich. Seit Brüder habe er nie im Ausland studiert.
durchkommt. König Salman hat eine in- Juni dürfen Frauen Auto fahren. Der Kronprinz breche mit einem Selbst-
terne Untersuchung angekündigt. Er plant Zugleich aber haben die Repressionen verständnis saudischer Herrscher: »Keiner
laut Medienberichten angeblich, die Ver- gegen Kritiker unter MbS zugenommen. der Könige war gefürchtet. Grausamkeit
antwortung für den Mord an untergeord- Vergangenen Herbst hat das Regime Dut- war nicht ihr Markenzeichen. MbS will
nete Beamte abzuwälzen, um seinen Sohn, zende Dissidenten festnehmen lassen, ei- das ändern. Er will gefürchtet werden wie
Kronprinz Mohammed bin Salman, aus nigen von ihnen droht die Todesstrafe. Im einst Saddam Hussein im Irak«, sagt Ra-
der Schusslinie zu nehmen. August reagierte das Königreich derart chid. MbS habe die Minister und Provinz-
In Riad heißt es, dass General Ahmad empört auf einen menschenrechtskriti- gouverneure der alten Elite entmachtet
Asiri zum Bauernopfer gemacht werden schen Tweet des kanadischen Außenmi- und sich eine Entourage aus der zweiten,
könnte, ein Berater des Kronprinzen und nisteriums, dass es den kanadischen Bot- dritten Reihe geholt. »Es gibt kein Korrek-
tiv mehr, das ihn zurückhalten könnte.«
Al Rachid hält es, wie viele Experten,
»MbS agiert wie ein verwöhntes für äußerst unwahrscheinlich, dass die mut-
maßliche Geheimoperation in Istanbul
Kind mit der Macht eines Diktators.« ohne Mohammed bin Salmans Wissen
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Saudi-Arabien Der ehemalige FBI-Agent Ali Soufan über Motive für geschehen ist – oder gar gegen dessen
Willen.
den möglichen Mord an Jamal Khashoggi und die politischen Folgen »Warum haben die Saudis Offizielle, da-
runter einen Forensiker, nach Istanbul ge-
dem 11. September Glaubwürdigkeit im Westen, bei Medien rungsnah und oft gut mit Informationen
2001 zahlreiche Ver- dort, aber auch im eigenen Land. Einer von höchster Stelle versorgt, hat eine Liste
höre mit verdäch- wie Khashoggi ist bedrohlich für so mit Namen und Fotos der 15 Männer ver-
tigen Qaida-Mitglie- jemanden wie MbS. öffentlicht, die am 2. Oktober aus Riad
dern. 2005 verließ SPIEGEL: Es heißt auch, Khashoggi habe nach Istanbul eingeflogen sind. Neben
er das FBI und grün- Insiderwissen zu der Rolle der Saudis bei dem Forensiker Tubaigy haben elf weitere
dete eine Consultingfirma, die besondere den 9/11-Anschlägen gehabt. von ihnen Verbindungen zum saudi-ara-
Expertise im Nahen Osten hat. Soufan: Daran glaube ich nicht. Es gibt bischen Sicherheitsapparat. Und vor allem
ja schon jede Menge Belege für die gehören viele dem direkten Umfeld von
SPIEGEL: Warum scheint es möglich zu angebliche saudische Beteiligung an den Kronprinz Mohammed bin Salman an.
sein, dass der saudische Kronprinz Anschlägen. Aber all das steht schon in Das macht es nahezu unmöglich, ihn aus
Mohammed bin Salman, auch MbS Anklageschriften der Opferfamilien, im der Schusslinie zu nehmen.
genannt, einen seiner Kritiker per Auf- Report der 9/11-Kommission und in Das mutmaßliche Killerteam setzte sich
tragsmord aus dem Weg räumen ließ? Regierungsdokumenten. Dafür muss zusammen aus jüngeren Leibwächtern für
Soufan: Der Fall entwickelt sich noch, man niemanden umbringen. den Kronprinzen. Ihnen zur Seite gestellt
wir haben nicht alle Informationen. SPIEGEL: Was werden die Auswirkungen waren ältere Sicherheitsbeauftragte, von
Aber alles deutet darauf hin, dass Khas- dieses Skandals für Saudi-Arabien sein? denen zwei direkt im Büro des Kronprin-
hoggi ermordet wurde. Es ist immer Soufan: Sollte bewiesen werden, dass zen tätig gewesen sein sollen, und einer,
schwierig, in die Köpfe von Diktatoren MbS einen Mord befahl, wäre der Scha- der den Kronprinzen dieses Jahr auf Aus-
und autoritären Herrschern zu schauen. den enorm. Die Glaubwürdigkeit des landsreisen begleitete.
Warum ließ Putin einst mitten in Lon- Kronprinzen ist dahin, sein Image als Unter den Bodyguards ist die Nummer
don einen Mann mit radioaktivem Mate- Reformer auch. Und wie der republikani- vier der »Sabah«-Liste ein Profi namens
rial vergiften? Ich glaube, MbS wollte sche Senator Lindsey Graham diese Mohammad Saad Al-Zahrani. Er war wäh-
ein Zeichen setzen. Die Nachricht hinter Woche sagte: Die Beziehungen der USA rend eines Empfangs jemenitischer Stam-
diesem Mord lautet: Wenn du gegen zu Saudi-Arabien können nicht mehr meschefs im April im saudi-arabischen
mich bist und mir gefährlich werden sein wie zuvor, solange MbS noch das Staatsfernsehen zu sehen – nur ein paar
willst, dann schlage ich zurück. Ich Sagen hat. Meter von MbS entfernt, wie es sich für
bekomme dich, egal wo du bist. Er woll- SPIEGEL: Das heißt, der König muss sich Leibwächter gehört. Direkt hinter ihm
te es genauso brutal, wie es war, und von seinem Sohn distanzieren? stand Thaar Ghaleb Alharbi, die Nummer
hat wohl gleichzeitig gehofft, dass er Soufan: König Salman müsste sich ent- zehn der Liste. Mohammed bin Salman
irgendwie davonkommt damit. scheiden, falls MbS das getan hat: Will beförderte ihn vor einem Jahr zum Leut-
SPIEGEL: Aber was war an Jamal Khas- er die Stabilität des Hauses Saud und nant – als Dank für seinen Mut bei der
hoggi so bedrohlich? die des Königreichs absichern oder die Verteidigung des Kronprinzenpalastes in
Soufan: Khashoggi ist nicht wie andere Zukunft seines Sohnes? Dschidda gegen einen Attentäter.
Oppositionelle im Ausland, er ist ein Interview: Britta Sandberg Auch die Nummer sechs der Liste, Kha-
lid Alotaibi, soll nach Recherchen der »Wa-
shington Post« Mitglied der königlichen
Leibgarde sein. Die »New York Times« hat
Nummer sieben, Abdulaziz Mohammed
Alhawsawi, als einen Leibwächter des
Kronprinzen identifiziert, der diesen bei
Reisen begleitete. Nummer acht, Waleed
Abdullah Alshehri, gehört der saudi-ara-
ANADOLU AGENCY / ABACA PRESS / DDP IMAGES
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Titel
DPA
Bis vor wenigen Tagen haben die
meisten Mitglieder des mutmaßlichen Kil- Trump-Schwiegersohn Kushner, Königssohn bin Salman: Strategische Nähe
ler-Teams Facebook-Konten unterhalten.
Insgesamt fanden sich dort neun Team-
mitglieder, die sich selbst stolz als Militärs te Ermittlungen« von Riad. Über mögliche Tage in Riad festgehalten hatte, um ihn
bezeichneten. Ob die Profile tatsächlich Konsequenzen will man allerdings erst auf einen kritischeren Kurs gegenüber Iran
die der Gesuchten sind, lässt sich nicht sprechen, wenn die saudi-arabische Regie- einzuschwören. Saudi-Arabien hatte da-
überprüfen. Aber mittlerweile sind alle ge- rung, wie angekündigt, eine Erklärung vor- raufhin vorübergehend seinen Botschafter
löscht. Seltsam. gelegt hat. aus Berlin abgezogen, was auch die Wirt-
Was immer diese angeblichen Touristen Für die Bundesregierung kommt der schaftsbeziehungen zwischen beiden Län-
in Istanbul gemacht haben – sie sind die Fall Khashoggi zum denkbar ungünstigs- dern belastete.
Männer des Prinzen. Gerüchte über einen ten Zeitpunkt. Erst vor einem Monat ver- Als Maas das Außenministerium über-
Mord an Khashoggi stellt Riad als Ver- kündete Außenminister Heiko Maas an nahm, drängten ihn unter anderem Sie-
schwörung gegen das Königreich dar. Das der Seite seines saudischen Kollegen Adel mens und Daimler, das Verhältnis zu Sau-
Staatsfernsehen Al Arabiya strahlte eine al-Jubeir am Rande der Uno-Generalver- di-Arabien zu kitten. Fieberhaft arbeitete
40-minütige Sondersendung aus mit dem sammlung in New York die Rückkehr zu Maas an der Versöhnung. Er verteidigte
Titel: »Was hat Katar mit dem Verschwin- normalen diplomatischen Beziehungen. unter anderem die Lieferung von Patrouil-
den Khashoggis zu tun?« Das Twitter- Maas bedauerte »Missverständnisse«, die lenbooten und einem Radarsystem an das
Hashtag »Twittere deine Liebe für Saudi- durch seinen Vorgänger Sigmar Gabriel Königreich. Waffenlieferungen an Saudi-
Arabien« wurde zum Trend. User twitter- entstanden seien. Arabien sind schon traditionell umstritten
ten Fotos des Kronprinzen, der National- Gabriel hatte MbS »außenpolitisches im Bundestag, erst recht seit die Saudi-
flagge und Sätze wie »Wir sind stolz, wir Abenteurertum« vorgeworfen, weil er den Araber den Jemen bombardieren.
brauchen niemanden. Aber die ganze Welt libanesischen Premier Hariri mehrere Ein Treffen mit Mohammed bin Salman
braucht uns«. in Riad Ende Oktober hat Maas nun abge-
Aus dem Ausland sprangen bislang vor sagt. Sollte sich der Verdacht erhärten,
allem die üblichen Verdächtigen dem Kö- dass das saudi-arabische Regime Khashog-
nigreich bedingungslos bei: die Vereinigten USA 61 % gi hat ermorden lassen, dürfte Berlin wei-
Arabischen Emirate und Ägypten. Der emi- ter unter Druck geraten, Sanktionen gegen
ratische Außenminister, Anwar Gargash, Riad zu verhängen. »Ein politisch moti-
sprach von einer »bösartigen Kampagne«. Saudi-Arabiens vierter Mord wäre weit mehr als Abenteu-
Das ägyptische Außenministerium ärgerte rertum. Diese Art Gewalttaten kennen
sich über Versuche, »den Fall politisch ge- wichtigste gerade wir Deutschen noch aus den dun-
gen Saudi-Arabien zu instrumentalisieren«. Waffenlieferanten kelsten Zeiten des Kalten Krieges«, sagt
Ob Saudi-Arabiens arabische Verbündete Anteile an allen SPD-Politiker Sigmar Gabriel. »Der Wes-
über Khashoggis Verschwinden informiert Großwaffenimporten ten und vor allem Europa dürfen nicht
waren, ist unklar. Auffällig ist, dass die bei- 8,2% 2013 bis 2017 wegsehen aus Angst vor diplomatischen
den saudi-arabischen Jets auf dem Rück- Sonstige oder wirtschaftlichen Drohungen.«
weg nicht direkt nach Riad flogen – son- Die Frage, ob MbS trotz des mutmaß-
dern einen Umweg mit Übernachtstopp in lichen Mordes mehr oder weniger glimpf-
Kairo beziehungsweise Dubai einlegten: 23 % lich davonkommt, wird sich aber vor allem
als hätte man den dortigen Geheimdienst- Deutschland 1,8% Großbritannien in den USA entscheiden. Trump folgte im
kollegen etwas erklären müssen. Im Jahr 2017 wurden in 3,6% Frankreich Fall Khashoggi bislang einem Zickzackkurs:
Die Europäer halten sich bislang mit Deutschland Kriegswaffen- Er drohte Riad in einem Interview mit dem
2,4% Spanien
Kommentaren zurück. Zwar forderten genehmigungen für Saudi- Sender CBS mit einer »schweren Strafe«,
Deutschland, Frankreich und England in Arabien im Wert von Quellen: Sipri,
nur um sich wenig später die saudi-arabi-
einem gemeinsamen Statement »ernsthaf- 152,2 Millionen Euro erteilt. Deutscher Bundestag sche Darstellung zu eigen zu machen, nach
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Deutschland
»Uns haben Hunderttausende gewählt, die das noch nie vorher gemacht haben.« ‣ S. 28
G Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat den Plänen von Bundes- systeme für Arbeitslose zu stützen: Diese könnten sich Geld
finanzminister Olaf Scholz (SPD) für eine europäische Arbeits- leihen, statt Leistungen kürzen zu müssen. Da sich die Beiträge
losenversicherung am Donnerstag beim EU-Gipfel eine Absage an der Höhe der Wirtschaftskraft orientieren würden, müsste
erteilt. »Es gibt dazu unterschiedliche Ansichten in der Bundes- Deutschland am meisten einzahlen.
regierung«, sagte Merkel beim internen Treffen der Staats- und Eine Mehrheit der Bundesbürger steht einer europäischen
Regierungschefs. »Daher kann das im Dezember kein Thema Arbeitslosenversicherung skeptisch gegenüber: Bei einer von
sein.« Dann stehen in Brüssel die Reformen zur Eurozone auf dem FDP-Europaabgeordneten Wolf Klinz beim Meinungs-
der Agenda. Spaniens Premier Pedro Sánchez stellte sich am forschungsinstitut Allensbach in Auftrag gegebenen Befragung
Donnerstag hinter Scholz’ Idee einer europäischen Arbeitslosen- von 1200 Bürgern lehnten 59,3 Prozent den Scholz-Plan ab.
versicherung. Der vom Vizekanzler konzipierte Stabilisierungs- Das Vorhaben ist Teil der im Juni in Schloss Meseberg beschlos-
fonds soll sich aus Beiträgen der Mitgliedstaaten speisen, um in senen deutsch-französischen Initiative für eine »Roadmap« zur
Zeiten großer Wirtschaftskrisen die nationalen Versicherungs- Stabilisierung der Eurozone. MP
Mautpläne erster Stelle steht die Anwaltskanzlei der CSU füllt in erster Linie die Auftrags-
»Goldesel für Berater« Greenberg Traurig, die 14,5 Millionen bücher der Berater, nicht aber das Steuer-
Euro kassieren soll, dicht gefolgt von säckel für Verkehrsinvestitionen«, sagen
G Die Pkw-Maut wird zum einträglichen PricewaterhouseCoopers (PWC), für die Grünenabgeordneten Stephan Kühn
Geschäft für die Beraterbranche. Das Bun- deren Wirtschaftsprüfer 14,1 Millionen und Sven-Christian Kindler. Sie fordern,
desverkehrsministerium (BMVI) rechnet Euro eingeplant sind. Trotz der umfang- das »europarechtswidrige Projekt« zu
zwischen 2017 und 2019 mit Honoraren reichen Beratung gibt es noch keinen stoppen. Auch bei der Lkw-Maut fallen
für Kanzleien, Wirtschaftsprüfer und Sach- Termin für die geplante elektronische hohe Beratungskosten an; bis 2019 will
verständige in Höhe von rund 47 Millio- Vignette. Zuerst sollte sie 2016 kommen, das BMVI insgesamt 35,5 Millionen Euro
nen Euro. Das zeigen Dokumente für den zuletzt war von 2020 die Rede. Kritik dafür ausgeben. Die Maut werde zum
Haushaltsausschuss im Bundestag. An kommt von den Grünen. »Die Pkw-Maut »Goldesel für Berater«, so die Grünen. SVE
Netzbetreiber, damit wir die Versorgungs- men sollen, zu halbieren: Ein Eckpunk-
lücken schließen und die Zukunft der tepapier der Koalition sieht sechs Mona-
Kommunikation nicht verschlafen«, heißt te vor. Das Vorgehen zeugt vom gewach-
es dort. Die Intervention aus Berlin bei senen Selbstbewusstsein der Fraktion
der Bonner Behörde ist heikel. Denn die unter ihrem Vorsitzenden Ralph Brink-
Auktion muss nach Auffassung der Bun- haus, es ist aber riskant: Die Eckpunkte
desnetzagentur ohne Einflussnahme der zur Fachkräfteeinwanderung wurden
Regierung erfolgen. Deshalb rechnet bereits vom Kabinett abgesegnet. Ände-
man in der Netzagentur mit Klagen von rungen könnten zu Streit zwischen SPD
Mobilfunkunternehmen. GT, ROM und Union führen. AMA, WOW
Parteien CSU bei der darauffolgenden Landtags- Seite 54). Auch der CSU-Ehrenvorsitzen-
Seehofer droht Söder wahl 17 Prozent der Stimmen verloren. de Theo Waigel drängt Weber anzutreten.
Nachdem Söder ihn, Seehofer, aus dem Dieser lässt Interesse am Parteivorsitz
G CSU-Chef Horst Seehofer hat dem Amt gedrängt habe, seien es nun 10 Pro- erkennen, will aber gleichzeitig in Brüssel
bayerischen Ministerpräsidenten Markus zent. »Revolutionen kosten Stimmen«, bleiben. Auch auf eine Kandidatur als
Söder mit einer Abrechnung gedroht. Bei sagte der CSU-Chef nach Anga- Spitzenkandidat bei der Euro-
der Sitzung der CSU-Landesgruppe am ben von Gesprächspartnern. pawahl will Weber nicht ver-
KOEHLER / PHOTOTHEK / GETTY IMAGES
Dienstag sagte Seehofer, er sei gern zu Seehofers Gegner bringen den zichten. Das stellt auch deshalb
einer Analyse des schlechten Ergebnisses Vorsitzenden der EVP-Fraktion seine Anhänger in der CSU vor
bei der Landtagswahl in Bayern bereit, im EU-Parlament, Manfred ein Dilemma, weil der EVP-
aber »dann brauchen wir eine Analyse in Weber, als möglichen Nachfol- Spitzenkandidat den Anspruch
vollem Umfang. Dann müssen wir über ger im Amt des Parteichefs in erhebt, nächster EU-Kommis-
alles reden«. Was der Parteichef damit Stellung. So sagte die langjähri- sionspräsident zu werden. Das
meint, hatte er zuvor bereits im kleinen ge Landtagspräsidentin Bar- Amt würde sich mit dem des
Kreis klargemacht: Nach dem Sturz bara Stamm, Weber habe ihre CSU-Vorsitzenden kaum ver-
Edmund Stoibers im Jahr 2007 habe die Unterstützung (siehe Interview Weber einbaren lassen. RAN, MP
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Arbeiterwohlfahrt
Schweriner Kitabetreiber
in Togo und Gambia
G Selten sind Kreisverbände der deut-
schen Arbeiterwohlfahrt (Awo) so in-
ternational aufgestellt wie der Verband
Schwerin-Parchim, der in Gambia,
Togo und Spanien aktiv ist. Das En-
gagement wirft bezüglich seiner Finan-
zierung und Zielsetzung jedoch Fragen
auf. In Westafrika werden über ein
ehrenamtliches Projekt unter dem Awo-
Dach zwei Vorschulen betrieben; doch
die knapp tausend Euro teure Reise zur
Eröffnung der Kita in Togo zahlte der
Kreisverband seinem Geschäftsführer
Axel Mielke aus Awo-Mitteln. Unter
den Förderern der Afrikaprojekte listet
der Verband fälschlicherweise auch das
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Deutschland
D
er Tag danach ist wie immer auch
der Tag davor. Hilft nichts, es
muss ja weitergehen, gerade jetzt,
also: Auftritt Robert Habeck und
Annalena Baerbock.
Montagnachmittag, dritter Stock der
Grünengeschäftsstelle in Berlins Mitte, die
Tür zum Besprechungsraum geht auf, die
beiden Parteichefs kommen herein.
Wie geht’s?
»Ich bin feddich«, sagt Baerbock.
»Ich auch«, sagt Habeck.
Nur: Sie wirken gar nicht so besonders
feddich. Eher im Gegenteil.
Es ist der Tag nach der bayerischen
Landtagswahl, Habeck ist nach der Wahl-
party in München um halb zwei ins Bett
gekommen und um halb fünf wieder auf-
gestanden, vorher war er zwei Wochen
am Stück in Bayern unterwegs, und jetzt
steht, nach kurzer Pause, gleich der nächs-
te Wahlkampf an. Eigentlich müsste er tat-
sächlich ziemlich fertig sein, aber seine Fin-
ger finden keine Ruhe, sie trommeln auf
den Tisch, spielen mit den Wassergläsern
vor ihm. Er sagt: »Jetzt wollen wir auch
in Hessen zeigen, dass wir die gesellschaft-
liche Stimmung drehen können.«
Baerbock war ebenfalls erst um halb
zwei nachts zu Hause in Potsdam, die After-
show bei »Anne Will« dauerte ein bisschen
länger, dann noch Besprechung mit ihrer
Pressesprecherin, aber sie ist kaum zu stop-
pen, sie redet und redet, man kommt nicht
dazwischen. Sie sagt: »Uns haben Hundert-
tausende gewählt, die das noch nie vorher
gemacht haben.« Das Ergebnis in Bayern
sei »ein Auftrag – für Hessen, für die Euro-
pawahl, für Ostdeutschland«.
Und warum nicht gleich die ganze Welt?
Wenn nicht alles täuscht, dann sitzen
hier zwei Parteivorsitzende, die sich gera-
de ein bisschen zusammenreißen müssen,
um nicht abzuheben.
Den Grünen gelingt gerade fast alles. In
Bayern holten sie mit 17,5 Prozent ein Re-
kordergebnis, im Bund sind die Umfrage-
werte so hoch wie seit der Nuklearkatas-
trophe von Fukushima im Jahr 2011 nicht,
und bei der Landtagswahl in Hessen am
28. Oktober dürfte sich ihr Aufstieg fort-
setzen. Am Ende könnten sie entscheiden,
ob Volker Bouffier Ministerpräsident
bleibt – und Angela Merkel Kanzlerin. Wahlsieger Hartmann, Habeck auf der Wahlparty in München
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Doch für Baerbock und Habeck, seit man muss sich da nur mal ihre Werte unter 22 Prozent könnten sich schon nach der
Jahresbeginn Chefs der Grünen, geht es Industriearbeitern oder Arbeitslosen an- nächsten Wahl einen grünen Kanzler oder
um noch mehr, sie planen darüber hinaus. sehen. Doch statt aus zwei Volksparteien eine grüne Kanzlerin vorstellen.
Bayern war aus ihrer Sicht nur ein erster und ein paar Nischenkräften könnte das Baerbock und Habeck reden gern vom
Schritt. Ihr großes Ziel ist es, aus einer Parteiensystem der Zukunft aus mehreren »Bündnis« oder der »Allianz«, die sie
Spartenpartei etwas Neues, Größeres zu mittelgroßen Parteien bestehen, die um schmieden wollen, doch im Kern geht es
machen – nur, was eigentlich genau? die Spitzenposition ringen. Eine davon wä- ihnen schlicht darum, die Grünen breiter
Eine Volkspartei? Das hieße, für fast alle ren dann wohl die Grünen. Nach einer ak- aufzustellen als je zuvor. Fast vier Jahr-
Teile der Gesellschaft wählbar zu sein, und tuellen Umfrage für den SPIEGEL können zehnte nach ihrer Gründung wollen sie die
das trifft auf die Grünen selbst in ihrem sich 47 Prozent der Bürger prinzipiell einstige Protestpartei zur »führenden
aufgepumpten Aggregatzustand nicht zu, vorstellen, sie zu wählen. Und immerhin Kraft im linksliberalen Spektrum« ma-
chen, so drückt es Habeck aus.
Es ist nicht das erste Mal, dass die Grü-
nen zu diesem Sprung ansetzen. Im No-
vember 2010 erschien der SPIEGEL mit
einer Titelgeschichte über »Die neue deut-
sche Volkspartei«. Damals war es unter
anderem die Atompolitik, die den Grünen
Umfragewerte deutlich über 20 Prozent
bescherte. Doch das war nicht alles.
Wie heute gab es damals breiten Ver-
druss über die Performance einer zerstrit-
tenen Bundesregierung. Was damals Stutt-
gart 21 war, ist 2018 der Hambacher Forst:
Aus einer regionalen Angelegenheit wurde
ein bundesweites Symbol für einen Staat,
der rücksichtslos vorgeht, um mutmaßlich
Widersinniges durchzusetzen. Wieder sind
es die Grünen, die vom Protest derjenigen
profitieren, für die Arbeitsplätze ein eher
nachrangiges Argument sind. Der Slogan
»Hambi bleibt« wirkt wie gemacht für die-
se Partei. Hambi bleibt, Bambi auch.
Doch dieses Mal könnte der Höhenflug
sich verstetigen. Nicht nur das Parteien-
system stellt sich ja gerade neu auf. Auch
das Personal der Grünen ist frischer als
das der Konkurrenz. Vor allem Habeck,
der einerseits knallharter Machtpolitiker
ist, andererseits immer ein bisschen aus-
sieht, als käme er gerade vom Strand, wo
er ein paar Haiku über das Auf und Ab
der Gezeiten verfasst hat, wirkt im links-
liberalen Milieu wie ein Magnet. Und die
Partei ist bereit, ihm zu folgen.
Die Frage ist, was auf dem Weg nach
oben auf der Strecke bleibt. Ob eine Partei
sich für die Belange der Mopsfledermaus
einsetzen und trotzdem das große Ganze
im Blick behalten kann. Ob eine Partei,
die breit werden will, noch spitz sein kann
und scharf. Schon jetzt haben die Grünen
viele Ecken und Kanten abgeschliffen. Aus
der chaotischen Truppe von einst ist eine
staatstragende, größtenteils wohlfrisierte
Partei geworden. Katharina Schulze und
Ludwig Hartmann, ihre Spitzenkandida-
ten in Bayern, hätten auch passable Chan-
BJÖRN KIEZMANN / ACTION PRESS
SPIEGEL-Umfrage
»Könnten Sie sich vorstellen, bei der nächsten »Könnten Sie sich vorstellen, dass ein »Welchem politischen Spektrum würden Sie
Bundestagswahl die Grünen zu wählen?« Grüner/eine Grüne Bundeskanzler/in wird?« die Grünen zuordnen?«
Ja, sicher/Ja, vielleicht Ja, sicher/Ja, vielleicht Links
36 %
47% 22%
Mitte
Sicher nicht/ wahrscheinlich nicht Sicher nicht/ wahrscheinlich nicht 55 %
Rechts
50% 75% 3%
Kantar Public vom 16. und 17. Oktober; 1040 Befragte; an 100 fehlende Prozent: »Weiß nicht«/ keine Angabe
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Deutschland
wohl eher Barbara Schöneberger einladen gen die Hose, die ich gerade trage, produ- müht sich aber, eine andere Sprache zu
als Annalena Baerbock. ziert wurde oder mein Laptop, auf dem sprechen, als sie in der Politik üblich ist.
Und noch etwas tut den Spitzengenos- ich gerade schreibe.« Manchmal klingt sie sogar noch ein biss-
sen weh: Seit Willy Brandts Zeiten hat sich Habeck trinkt auch mal Dosenbier, und chen rotzig.
die SPD stets viel darauf eingebildet, er ist zwar Vegetarier, trägt das aber nicht Habeck, Doktor der Philosophie, sagt
Künstler und Intellektuelle auf ihrer Seite vor sich her. So einen kann man ohne häufig Sätze, die erst sehr nachdenklich
zu wissen, zusammen für Gerechtigkeit. Schmerzen wählen, weil er nicht viel ver- klingen, einen dann aber vor allem nach-
Damals war die SPD cool, schick, sexy. langt, eigentlich nur die Stimme bei der denklich zurücklassen, weil man über den
Heute sind es die Grünen. Wahl. Es ist wie bei einem katholischen Sinn nachgrübelt. Nicht immer findet man
Igor Levit, so etwas wie der Pianist der Priester, der mit einem Augenzwinkern zu einen. Gute Umfragewerte kommentiert
Stunde, soll bei ihrem nächsten Bundes- verstehen gibt, dass er das mit dem Zölibat er mit Worten wie »Hoffnungshorizont«.
parteitag im November auftreten. Bei den auch nicht immer so genau nimmt. Baerbock, Politologin mit Spezialisie-
Grünen fühle er sich »nicht nur als Künst- Mitte Mai, ein Termin in Baerbocks und rung auf Völkerrecht, verkündete gleich
ler, sondern eben auch als Staatsbürger« Habecks Büro. Ja, sie haben tatsächlich bei ihrer Bewerbung für den Vorsitz, sie
wahrgenommen, sagt Levit. Bei den ein gemeinsames Büro. werde keinesfalls »nur die Frau an Roberts
Grünen gebe es echte »Offenheit und In- »Annalena hat das große Los gezogen, Seite« sein. Baerbock ist Sachpolitikerin,
teresse«. Vor allem hätten sie eine klare das hier irgendwie hübsch zu machen«, das Schriftstellerische geht ihr eher ab.
Haltung zu »Migration und Integration«. sagt Habeck. Joschka Fischer und Jürgen Trittin, Re-
Die Grünen haben es geschafft: dass »Ohohohoho!«, ruft Baerbock. »Die nate Künast und Claudia Roth kamen aus
Union und SPD gleichermaßen Angst vor klassische Rollenverteilung!« einer Zeit, in der die Grünen noch Bewe-
ihnen haben. Doch das hat jetzt schon sei- Habeck: »Neeneeneeneenee, du hast gung waren und gegen den Mainstream
nen Preis. Eine Partei, die ein breites Spek- gesagt, du willst dich drum kümmern. Ich kämpften. Ihr Grundmodus war die Ge-
trum erreichen will, darf nicht mehr radi- hab gesagt, mir is’ egal.« fechtsbereitschaft. Sie waren hart, kantig,
kal sein. Jedenfalls nicht allzu sehr. Baerbock: »Ja, das stimmt, ich hab ge- und sie konnten ganz schön nerven.
Radikal waren die Grünen, als sie vor sagt, Robert hat keinen Geschmack, des- Baerbock und Habeck kommen aus ei-
20 Jahren fünf Mark für den Liter Benzin halb übernehm ich das.« Sie zeigt auf die ner Gesellschaft, die längst vergrünt ist,
forderten. Als sie aus der Atomkraft aus- Wand. »Und, na ja, der Kalender ist voll, sie reiten den Mainstream, sie wollen eher
steigen wollten, jetzt und sofort. Und sie da komm ich zu nix, deshalb hängt hier sammeln als kämpfen. Das grüne Genom,
waren noch halbwegs radikal, als sie 2013 jetzt dieses pottenhässliche Bild.« die moralische Hybris, blitzt bei ihnen
unter der Regie von Jürgen Trittin ihrer Habeck greift nach einer Zimmerpalme, höchstens als Betriebsunfall auf, so wie
eigenen Klientel eine ganze Liste an Steuer- die sich nach vorn klappen lässt, ohne zu kurz vor der Bayern-Wahl, als Habeck ver-
erhöhungen zumuten wollten. brechen. Palme nach vorn, Palme wieder kündete, von Sonntag an gebe es endlich
Doch dann kam der Veggie Day. Eigent- hoch. »Also, wenigstens haben wir geile »wieder Demokratie in Bayern«. Als Em-
lich war die Forderung, in öffentlichen Pflanzen«, sagt Habeck. pörung aufbrandete, entschuldigte er sich.
Kantinen einmal pro Woche auf Fleisch Es ist alles ein großer Spaß. Und vor Doch so knuffig sie öffentlich rüberkom-
zu verzichten, nicht einmal besonders ra- allem würde es auch auf YouTube funk- men mögen, so zielstrebig arbeiten sie in-
dikal. Doch sie brachte den Grünen den tionieren, Arbeitstitel: Politik macht sich tern am Projekt Diskurshoheit. Als Ha-
Stempel der Verbotspartei ein – und statt locker. beck kürzlich auf einem Podium nach der
dagegenzuhalten, knickten sie ein. So et- In einer Zeit des großen Überdrusses, »grünen Erzählung« gefragt wurde, ver-
was, schworen sie sich, solle ihnen nie wie- an den Parteien, ihren Vertretern, den poli- kündete er selbstbewusst: »Wir reden gar
der passieren. Nun erklären Habeck und tischen Mechanismen, haben die Grünen nicht mehr über eine grüne Erzählung. Wir
Baerbock ständig, sie wollten »radikal und zwei Vorsitzende gewählt, die kaum besser sind darüber hinausgewachsen.« Stattdes-
staatstragend« sein, also irgendwie dick in diese Zeit passen könnten. Das liegt vor sen müsse seine Partei sich jetzt Gedanken
und dünn zugleich. In Wahrheit tun die allem daran, dass es beiden gelingt, irgend- über die Frage machen: »Was ist die ge-
Grünen nicht mehr so richtig weh. Sie zwi- wie anders zu wirken und die Illusion zu sellschaftliche Erzählung?«
cken höchstens noch ein bisschen. erzeugen, sie seien neu, kämen von außen. Übersetzt aus dem Habeck-Deutschen
Statt Verzicht zu fordern, erklären sie Habeck, 49, ist zwar seit fast einem Jahr- hieß das: Wir wollen den Ton angeben,
jetzt, dass der Einzelne ja sowieso kaum zehnt Berufspolitiker und war sechs Jahre und zwar nicht nur bei den Ökothemen,
etwas tun könne. »Wir müssen den Men- lang Landesminister in Schleswig-Holstein, sondern überall. Der italienische Marxist
schen nicht vorschreiben, wann sie kein geht aber in der öffentlichen Wahrneh- Antonio Gramsci hat dafür den Begriff der
Fleisch essen sollen, nämlich donnerstags mung nach wie vor als eine Art politisie- »kulturellen Hegemonie« geprägt.
nachmittags, sondern wir müssen die render Schriftsteller durch. Zu diesem Zweck haben
Agrarpolitik strukturell ändern«, schreibt Baerbock, 37, wurde schon vor neun die Grünen gerade erst die
Habeck in einem seiner Bücher. Und: »Ich Jahren Grünen-Landeschefin in Branden- Parteizentrale umgekrem-
habe keine Ahnung, zu welchen Bedingun- burg und sitzt seit 2013 im Bundestag, be- pelt. Eine neu geschaffene
Grundsatzabteilung soll
Die Grünen
Januar 1980 März 1983 Dezember 1985 März 1990
In Karlsruhe findet der Den Grünen gelingt mit Joschka Fischer wird im In der DDR schließen sich
Gründungsparteitag der 5,6 Prozent der Ersteinzug in Wiesbadener Landtag verschiedene Bürgerrechts-
Bundespartei »Die Grünen« den Bundestag. Im Plenum als erster grüner Minister und Freiheitsbewegungen zu
statt. Die Unterstützer fallen die Abgeordneten der auf Landesebene vereidigt. oppositionellen Gruppen
H . W I E SE LE R / P I CTUR E- AL L I AN CE / D PA
PI CT UR E - AL LI AN C E / DPA
aus verschiedenen Partei durch unkonventionelles In weißen Turnschuhen zusammen. Zur ersten freien
sozialen Bewegungen und Auftreten und Aktionen wie übernimmt er das hessische Volkskammerwahl in der DDR
politischen Strömungen etwa das Mitbringen von Umweltministerium – eine treten sie als Bündnis 90 und
sehen die Partei als Blumen und eines abgestor- Provokation. als Grüne Partei an.
»Anti-Parteien-Partei«. benen Tannenbaums auf.
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Antworten auf die großen Fragen finden. papier. Immer wieder mussten die Grünen Zusammenschluss von Bündnis 90 mit den
Im Frühjahr 2020 soll das neue Grundsatz- dort um den Einzug in die Landtage ban- Grünen erzählen«, empfiehlt ihr Bundes-
programm stehen, es soll nach Habecks gen, und schon jetzt schaut die Parteispitze geschäftsführer. Als ob das auf die Schnelle
und Baerbocks Plänen die »vierte Phase mit Sorge nach Sachsen, Thüringen und etwas ändern würde.
der Grünen« einläuten. Phase eins war die Brandenburg, wo im nächsten Jahr Wah- Im Bankert in Berlin-Friedrichshain
Protestphase gleich nach der Gründung, len anstehen. »In Sachsen und Thüringen kann man veganen Kuchen essen, den Kaf-
Phase zwei nennen sie die »Projektphase«, ist auch wenig von der SPD zu gewinnen, fee selbstverständlich auch mit Mandel-
nach der häufig zum Projekt verklärten da sie dort bereits verzwergt ist«, heißt es milch nehmen und Platten kaufen. An ei-
rot-grünen Bundesregierung. Die dritte in Kellners Papier. nem der Tische sitzt Agnieszka Brugger
Phase bezeichnen sie als »Spagatphase«, Zwar kommen diverse grüne Spitzen- und redet über das unwahrscheinlichste
gemeint ist die Zeit seit 2005: Seither sind politiker aus dem Osten, etwa Fraktions- Thema, über das man an diesem Ort reden
die Grünen im Bund Opposition, regieren chefin Katrin Göring-Eckardt, die Europa- kann: die Bundeswehr.
aber in etlichen Ländern mit, in allen mög- politikerin Ska Keller und auch Kellner Brugger, 33, ist seit 2009 im Bundestag
lichen Konstellationen. In der vierten Pha- selbst. Doch kulturell sind die Grünen dort und seither im Verteidigungsausschuss.
se sollen die Grünen nun zur »Plattform« nie wirklich angekommen, sie sind eine Ausgerechnet. Damals, als sie dazustieß,
werden, an der möglichst viele andocken zutiefst westdeutsche Partei, eine Grün- war es zwar schon ein Jahrzehnt her, dass
können. dung der Bundesrepublik, entstanden aus Rot-Grün deutsche Soldaten auf den Bal-
Aber das wird nicht überall funktionie- den Nachwehen von ’68, im Geist von Öko- kan geschickt hatte, aber Grüne und Mili-
ren. Die grüne Landkarte hat nach wie vor logie, Frauenbewegung und antiautoritä- tär, das war noch immer eine sehr distan-
blinde Flecken. Vor allem im Osten. Seit rem Denken. Damit konnten im Osten die zierte Beziehung. Und dann sah Brugger
je tun sich die Grünen dort schwer, daran wenigsten etwas anfangen, und die Grü- mit ihrer roten Mähne und den Piercings
ändert auch der aktuelle Höhenflug wenig. nen haben es in den vergangenen Jahr- auch noch aus, als würde sie eher bei der
»Der Zugewinn in Ostdeutschland ist un- zehnten nie geschafft, diese Fremdheit zu Friedensdemo mitlaufen, als über die Vor-
terdurchschnittlich«, schreibt Bundesge- überwinden. »Als Antwort sollten wir und Nachteile verschiedener Luftverteidi-
schäftsführer Kellner in seinem Analyse- stärker unsere gemeinsame Geschichte als gungssysteme zu fachsimpeln. »Aber das
Dezember 1990 Mai 1993 Oktober 1998 März 1999 Mai 2011 Oktober 2018
Bei den ersten gesamt- Die gesamtdeutschen Die Partei tritt als Junior- Der Kosovokrieg beginnt. Winfried Kretschmann wird Bei den Landtagswahlen
deutschen Bundestags- Grünen und das ostdeut- partner in eine rot-grüne Unter dem grünen Außen- in Baden-Württemberg schneiden die Grünen im
wahlen scheitern die sche Bündnis 90 fusionie- Koalition unter Bundes- minister Joschka Fischer zum ersten grünen traditionell konservativen
West-Grünen an der Fünf- ren auf dem Parteitag in kanzler Gerhard Schröder sind erstmals seit dem Ministerpräsidenten Bayern mit 17,5 Prozent so
prozenthürde. Der ost- Leipzig unter dem Namen ein. Bis 2005 wird die Zweiten Weltkrieg gewählt. stark ab wie nie zuvor in
deutschen Liste Bündnis Bündnis 90/Die Grünen Koalition ein neues Staats- deutsche Soldaten an diesem Bundesland. Die
90/Grüne gelingt der zur heutigen Partei. bürgerschaftsrecht sowie Kampfeinsätzen beteiligt. Partei zieht damit als
Einzug. das Erneuerbare-Energien- zweitstärkste Kraft in den
Gesetz beschließen. Landtag ein.
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Deutschland
ist ja kein Entweder-oder«, sagt Brugger. Selbst Ministerpräsident Winfried Höhenflüge stand? Das wird von einer
»Grüne Sicherheitspolitik heißt natürlich Kretschmann, konservative Überfigur der politischen Schlüsselqualifikation abhän-
immer, sich für den Frieden und zivile Lö- Grünen, machte in seiner zweiten Amts- gen: ihrem Umgang mit Konflikten.
sungen einzusetzen. Es heißt aber auch, zeit vor allem durch Streitigkeiten mit dem Derzeit gibt es so gut wie keinen Streit
die Mittel zu kennen, die im äußersten Fall Koalitionspartner CDU von sich reden. Im bei den Grünen. Überall aus der Partei
militärisch eingesetzt werden können.« Bundesrat stimmte er in der Migrations- hört man Lob für das neue Spitzenduo, so-
Brugger, mittlerweile stellvertretende politik mehrfach gegen die Linie der eige- gar vom linken Flügel, obwohl doch beide
Fraktionsvorsitzende, hat sich einen Na- nen Partei. Den Unmut der Parteifreunde Chefs zum Realolager gehören. Trotzdem
men gemacht, viele Soldaten kennen sie, tat er als realitätsfernes Gejammer ab. ist abzusehen, dass es auch wieder Ärger
weil sie sich mit geradezu verbissenem Kann der Plan von Habeck und Baer- geben wird bei den Grünen. Vielleicht so-
Fleiß die Details ihres Fachgebiets ange- bock aufgehen? Die vierte Phase, die gar schon bald.
eignet hat, von Rechtsfragen bis zur Lade- Bündnispartei, die Bewegung? Können sie Sollte die Große Koalition platzen, wä-
kapazität verschiedener Transportflug- dieses Mal die harte Landung verhindern, ren die Grünen wie alle anderen Parteien
zeuge. »Ich habe viel zugehört«, sagt die bislang noch am Ende aller grünen gezwungen, sich zu positionieren – entwe-
Brugger. »Ich habe versucht, es anders zu
machen als manche Ausschusskollegen, ANZEIGE
der in neuen Jamaikaverhandlungen oder Während der Gespräche über ein Jamai- gen Transitzonen. Und sie akzeptierten, die
in ihrem Programm für Neuwahlen. Dann kabündnis gaben sich die Grünen-Chefson- Maghrebstaaten als sichere Herkunfts-
würde es nicht mehr reichen, Fragen zu dierer Göring-Eckardt und Cem Özdemir länder für Asylbewerber anzuerkennen.
stellen, es müssten Antworten her. Die Flü- so konziliant, dass sich ihre Gesprächspart- Zur Abstimmung auf dem Parteitag
gel würden sich wieder zu Wort melden, ner aus Union und FDP insgeheim fragten, kam es dann nie. Aber viele Mitglieder ha-
von denen Habeck und Baerbock derzeit wie sie dafür die Zustimmung ihres Partei- ben nicht vergessen, wie geschmeidig ihre
so gern behaupten, sie spielten keine große tags bekommen wollten. Die Forderung Spitzenleute agierten.
Rolle mehr. Realos hier, Linke dort, es gin- nach einem Aus für den Verbrennungs- Ein Septemberabend in Berlin-Kreuz-
ge wieder los. motor gaben sie ebenso auf wie das Jahr berg, Baerbock und Habeck haben 50 Bür-
Und es dürfte noch eine zweite Kon- 2030 als Enddatum für die Kohle. Und sie ger zum Gespräch eingeladen. Niemand
fliktlinie geben: zwischen einer halsstar- opferten zentrale Punkte ihrer Flüchtlings- von ihnen ist Grünenmitglied, sie wurden
rigen, idealistischen, diskutierfreudigen politik: Sie waren bereit, sich mit einer zufällig ausgewählt, jetzt wollen die bei-
Basis – und einer Führung, die unbedingt Härtefallregelung beim Familiennachzug den Vorsitzenden sich anhören, was den
regieren will. zu arrangieren. Sie hatten nichts mehr ge- Bürgern so auf der Seele liegt.
Es geht gemütlich los, ein Mann vom
»Gemeinschaftsgarten Himmelbeet« will
wissen, wie man »gesellschaftliche Teil-
habe« besser organisieren könne. Es geht
um die energetische Sanierung von Miet-
wohnungen, um die Rechtsdrift in der Ge-
sellschaft. Das Frage-Antwort-Spiel läuft
nicht viel anders ab, als es auch bei einer
Grünenversammlung gelaufen wäre. Doch
dann kippt die Stimmung.
»Ich bin tief enttäuscht von den Grü-
nen«, sagt eine Frau. Sie stellt sich als Psy-
chotherapeutin vor, die immer grün ge-
wählt habe, »aber beim letzten Mal nicht
mehr, weil ich diese intellektuelle Arro-
ganz nicht mehr ertrage«. Es geht ihr um
den Aufstieg der AfD.
Statt deren Wählern zuzuhören, ihre
Motive zu verstehen, komme »von euch
nichts als Dünkel«, sagt die Frau. Sie ar-
beite viel mit »Wendeverlierern« und de-
ren Kindern, da gehe es um Demütigun-
gen, um Brüche in der Biografie. »Aber
ich höre von euch praktisch keine adäqua-
te Antwort.« Die Frau redet sich in Rage.
»Gut, vielen Dank auch für die offenen
Worte und die volle Breitseite«, sagt Baer-
bock, sie lächelt ein bisschen gequält und
holt aus zu einer Antwort. Da meldet sich
der Mann neben der Psychotherapeutin
zu Wort: Warum die Grünen eigentlich
nicht jene Dinge benennen würden, die
doch offensichtlich seien: dass derzeit viele
»Männer mit patriarchalem Hintergrund«
nach Deutschland kämen?
Die Frau neben ihm ergänzt: »Viele mei-
ner Nachbarn haben tatsächlich Angst.«
So geht das weiter, statt um Gemein-
schaftsgärten dreht sich die Diskussion um
„WIR GESTALTEN SEIT ÜBER 200 JAHREN DEN WANDEL Integration, um Versäumnisse und grüne
IM RUHRGEBIET. DAS KÖNNEN WIR, WEIL DER WILLE ZUR Naivität. Es ist eigentlich genau das, was
VERÄNDERUNG IMMER SCHON ZUR UNTERNEHMENS- sich Baerbock und Habeck gewünscht hat-
KULTUR VON THYSSENKRUPP GEHÖRT HAT. DIESER ten, raus aus der Nische, rein ins echte Le-
ANSPRUCH TREIBT UNS AN – JEDEN TAG AUFS NEUE.“ ben, ran an die unbequemen Fragen.
GUIDO KERKHOFF, Doch sie wirken an diesem Abend nicht,
VORSTANDSVORSITZENDER DER THYSSENKRUPP AG als hätten sie schon Antworten darauf.
WIR SIND DIE #ZukunftsMetropoleRuhr
Video
Grüne Welle
spiegel.de/sp432018gruene
oder in der App DER SPIEGEL
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SPIEGEL: Herr Habeck, müssen die Grü- hätten nur dann in eine Regierung gehen Eine Volkspartei sind die Grünen ja nicht
nen nicht froh sein, dass sie in Bayern zwar können, wenn die CSU sich bewegt hätte. gerade. Eher eine Elitenpartei.
sehr gut abgeschnitten haben, aber nicht Aber was insgesamt in Deutschland gerade Habeck: Das ist ein Etikett, das ich so nicht
ernsthaft mit Herrn Söder über eine Ko- passiert – nämlich dass die Volksparteien akzeptiere. Es ist ein Kampfbegriff und
alition verhandeln müssen? erodieren –, zeigt, dass etwas Neues ent- ein Vorurteil. Die meisten Besserverdie-
Habeck: Froh? Nein. Ich weiß nicht, ob es stehen muss, damit die Leidenschaft für nenden wählen Union oder FDP. Bei un-
gelungen wäre, mit der CSU etwas Ver- gestaltende Politik irgendwo einen Ort fin- seren Wählern ist die Höhe der Einkom-
nünftiges hinzubekommen. Letztlich kann det. Die Antwort der CSU aber ist nur: men sehr unterschiedlich. Unsere Beschlüs-
man daran begründete Zweifel haben. Wir Wir ändern nichts, wir machen weiter wie se sind sehr häufig gegen diese Idee von
haben eigentlich in allen politischen Posi- bisher. Das wird dem Wunsch nach Verän- Elite gerichtet: höhere Besteuerungen, Re-
tionen gegensätzliche Auffassungen und derung nicht gerecht. duktion des Flugverkehrs und so weiter.
SPIEGEL: In Süddeutschland haben die SPIEGEL: Es geht um ein bestimmtes, eher
Das Gespräch führten die Redakteure Sebastian Grünen die SPD schon abgelöst. Trauen elitäres Milieu. Inwiefern ist es den Grü-
Hammelehle und Stefan Kuzmany in Berlin. Sie sich das auch auf Bundesebene zu? nen denn überhaupt möglich, mit Bevöl-
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Deutschland
kerungsschichten in Kontakt zu kommen, ren jetzt einen Wahlkampf für starke Grü- SPIEGEL: In Ihrem neuen Buch beklagen
die weit weg sind von ihnen? ne. Und dann sehen wir, in welcher Koali- Sie die Sprachverrohung und Stigmatisie-
Habeck: Möglich? Das ist unser Alltag. tion am meisten möglich ist. rung in der politischen Auseinanderset-
Die Aufgaben, die ich in Schleswig-Hol- SPIEGEL: Sind die Grünen überhaupt zung*. Ist die denn wirklich neu? Da Sie
stein hatte, haben mich mit lauter Men- noch eine linke Partei oder schon eine bür- Beatrix von Storchs Wort von den »Klima-
schen zusammengebracht, deren Alltag gerliche? nazis« erwähnt haben: Die Nazivergleiche
nicht Politik ist: Landwirten, Fischern, Jä- Habeck: Spannend, dass Sie das fragen. hat die AfD nicht exklusiv, das linke Lager
gern und Bauern … Wir mussten erst mal In vielen Medien wurde nach der Bayern- zieht sie seit Jahren, und das ziemlich infla-
lernen, uns zu verstehen. Aber wir haben wahl von einem bürgerlichen Lager ge- tionär. Der damalige grüne Bundesumwelt-
uns schnell aufeinander zubewegt. Nicht sprochen – aus CSU, FDP, Freien Wählern minister Jürgen Trittin bescheinigte 2001
alle würden jetzt sagen, die Grünen sind und unter Einschluss der AfD. Also, was sogar dem CDU-Generalsekretär Laurenz
toll, aber sehr wohl, das war ein Streit auf heißt bürgerlich? Gerade wir haben auf Meyer die »Mentalität eines Skinheads«.
Augenhöhe und der ist respektvoll geführt Rechtsstaatlichkeit bestanden und die li- Habeck: Sie werden aus allen Parteien Ein-
worden. Viel mehr kann man vielleicht gar berale Demokratie verteidigt, auch gegen zelbeispiele finden, in denen scharf und
nicht verlangen. Der Traum, dass alle grün übergriffige Formulierungen und Taten zu scharf formuliert wurde. Und Naziver-
denken, ist nicht mein Traum. Wichtig ist, der CSU. Vor allem haben wir bürgerliche gleiche sind in aller Regel falsch. Aber wir
dass wir uns verständigen können. Tugenden an den Tag gelegt, die viele bei haben eine neue Dimension. Die Verro-
SPIEGEL: Es ist bislang tatsächlich eine der CSU vermisst haben. Freundlichkeit, hung der Sprache ist Programm einer gan-
Illusion, dass Ihre Partei die sogenannten Argumente, eine einladende Sprache, Zu- zen Partei, wird übernommen von ande-
kleinen Leute erreicht. Durch den Nieder- versicht. Insofern sehe ich zwischen links ren Parteien – »Asyltourismus« zum Bei-
gang der Sozialdemokratie können die und bürgerlich keinen Widerspruch. spiel –, und sie sickert in die Köpfe. Das
Rechten dieses Milieu mehr oder weniger SPIEGEL: Vielleicht ist der Rechtspopu- in einer Zeit, in der die Institutionen unse-
konkurrenzlos umwerben. lismus in Teilen auch eine Antwort auf rer Demokratie an Vertrauen verlieren.
Habeck: Da wir schon über Sprache reden: den Siegeszug Ihrer Partei? Bei einer gan- Die Situation heute ist doch, dass gesagt
»Die sogenannten kleinen Leute« ernied- zen Reihe von Themen ist das gesell- wird, »wir werden sie jagen«, und danach
rigt Menschen. Ich halte es für gefährlich, schaftlicher Konsens geworden, was die Menschen auf der Straße angegriffen wer-
so zu reden. Der Gedanke und das Spre- den, weil sie vielleicht anders aussehen.
chen von Unterschicht und Elite zemen- SPIEGEL: Das Zitat mit dem »jagen« geht
tiert die gesellschaftliche Spaltung schon auf einen Ihrer Vorgänger im Amt des Grü-
im Kopf. Das will ich nicht zulassen. Aber »Die Verrohung der Sprache nensprechers zurück. Ludger Vollmer sagte
wenn Sie schon ein solches Muster anle- ist Programm einer 1994: »Wir werden den Kanzler jagen.«
gen: Herr Höcke und Herr Gauland sind ganzen Partei – und sie Habeck: Hat er das? Dann ist das eine so
ein Studienrat und ein Staatssekretär aus falsch wie das andere. Ich will ausdrücklich
Westdeutschland, die für ihre politische sickert in die Köpfe.« für mich zugeben, dass mir auch Fehler
Position die Unzufriedenheit, die Angst unterlaufen. Es geht mir in dem Buch nicht
vor Veränderung missbrauchen. darum, eine Sprachpolizei zu etablieren,
SPIEGEL: Mancher in der Unterschicht Grünen früher als Alleinstellungsmerk- sondern die Logik aufzudecken, mit der
sieht das womöglich anders, manche Ost- mal hatten. Ist es so verwunderlich, dass eine andere politische Wirklichkeit herge-
deutschen auch. sich dagegen eine rechte Opposition stellt werden soll, die am Ende eine andere
Habeck: Ich widerspreche erneut. Wenn bildet? Republik bedeuten würde. Wenn eine
man von Unterschicht redet, sagt man, Habeck: Das hieße übersetzt: Weil wir für Sprache permanent gewalttätige Meta-
dass das keine vollwertigen Bürger sind, gleiche Rechte etwa für Frauen und phern produziert, wenn der Faschismus
sondern irgendwie minderwertige. Ein Homosexuelle eingetreten sind, ist es eine als »Vogelschiss« der Geschichte bezeich-
Kernproblem ist ja genau das: dass sich zu politische Zwangsläufigkeit, dass jetzt net wird, wenn man von Umvolkung redet,
viele, gerade in Ostdeutschland, nicht ge- Rechtspopulisten Frauen und Homosexu- dann hat das System. Dann spricht da ein
sehen, nicht gehört fühlen. Ob wir es schaf- elle diffamieren? Das ist eine defätistische Weltbild und ein Denken, das offensicht-
fen, das aufzubrechen, weiß ich nicht. Weltsicht. Sie passt im Übrigen nicht dazu, lich grundlegende Kategorien der Zivilisa-
Aber wir haben fest vor, uns dieser Aufga- dass Rechtspopulisten auch da erstarken, tion, auf die wir unsere Demokratie gebaut
be zu stellen. Mein Heimatland Schleswig- wo die Grünen keine Rolle spielen. Wir haben, nicht mehr anerkennt.
Holstein ist ja ein sehr konservatives Land, sollten weiter daran arbeiten, dass es eine SPIEGEL: Auch die Grünen haben, bis sie
in ganzen Regionen galten die Grünen im- Geschichte des Fortschritts und der glei- 1998 erstmals im Bund an der Macht wa-
mer als die Spinner aus der anderen Welt. chen Rechte gibt. Das Leben im Jahr 2018 ren, 20 Jahre lang Angst geschürt. Es wa-
Nach zehn Jahren Arbeit hat sich das ge- ist ein besseres, freieres, emanzipatorische- ren eben andere Themen, nicht die Angst
dreht. Und jetzt Bayern. Wir können einen res Leben als 1980. vor den Fremden, sondern die Angst vor
Beitrag dazu leisten, dass die Gesellschaft SPIEGEL: Auch ein Verdienst der Grünen. dem Waldsterben, die Angst vor Atomun-
nicht immer weiter auseinanderfällt. Es Habeck: Es ist eine gemeinsame Errungen- fällen, vor dem Wettrüsten, vor der Kli-
wird der Lackmustest, ob wir das auch in schaft dieser Gesellschaft. Und das Ge- makatastrophe. Die Grünen waren lange
Ostdeutschland einlösen können. Da muss meinsame müssen wir erhalten. Das be- Zeit eine apokalyptische Partei.
alle Konzentration draufgehen nach der deutet, dass wir über alles streiten sollten Habeck: Entschuldigung, wenn ich das
Wahl in Hessen. und können. Außer darüber, dass Men- mal scharf zurückformulieren darf …
SPIEGEL: Würden Sie in Hessen eigentlich schen niedergemacht werden in einer Spra- SPIEGEL: Bitte.
eine rot-rot-grüne Koalition mittragen, che der Ausgrenzung und des Hasses. Wer, Habeck: … das ist schon ein Unterschied.
falls die Mehrheit da wäre? wie die Rechtspopulisten, von »grünen Na- Richtig ist, dass Angst als politischer Aus-
Habeck: Ausschließeritis – dieses Wort zis« redet, von »Klimanazis« und so wei-
wurde ja in Hessen erfunden – lähmt das ter, will eben nicht die Auseinanderset- * Robert Habeck: »Wer wir sein könnten. Warum un-
politische System. Wir haben fünf Jahre zung, sondern die Abschaffung der Ausei- sere Demokratie eine offene und vielfältige Sprache
gut mit Schwarz-Grün gearbeitet und füh- nandersetzung. braucht«. Kiepenheuer & Witsch; 128 Seiten; 14 Euro.
löser einfach stark wirkt und dass alle Par- Logischerweise schließt das immer Men- lieu mit seiner Sprachpolitik eigentlich
teien, die sich als außerparlamentarische schen aus. einen Gefallen? Deren Kehrseite ist der
Bewegung verstehen oder gründen, ver- SPIEGEL: Schließt nicht auch eine politisch Vorwurf des »nanny state«, der politisch
führt sind, über diese Angstschiene zu korrekte Sprache Menschen aus – nur korrekten Sprachpolizei, die andere be-
agieren. Alle Menschen, mich wieder ein- auf anderer Ebene? Menschen etwa, die vormunden will.
geschlossen, reagieren auf solche Angst- nicht nachvollziehen können, warum Habeck: Eigentlich ist in meinen Augen
bilder emotional stärker, als wenn man man jetzt nicht mehr Mohrenapotheke sa- der Unterschied zwischen Flüchtlingen
sagt, lass uns doch mal einen gepflegten gen sollte? Oder was das Kürzel LGBTQ und Geflüchteten egal. Wichtig ist aber,
Diskurs führen. Aber ob man eine Angst bedeutet? dass niemand beleidigt und herabgesetzt
vor einem ökologischen Zustand versucht Habeck: Es ist eine Gefahr, dass die politi- wird. Sprachpolizei ist übrigens auch ein
in Worte zu fassen oder eine Sprache der sche Sprache zu technisch, zu unanschau- Kampfbegriff der Rechten.
Angst benutzt, die gegen Menschen hetzt, lich, zu konstruiert ist. Das stimmt. Und SPIEGEL: Vielleicht rührt der Erfolg der
die Menschen ausschließt – das ist eben wenn man deshalb nicht mit Menschen Populisten auch daher, dass sie einem Be-
nicht das Gleiche. Auf diesen Unterschied diskutiert, weil sie nicht alle Abkürzungen dürfnis nach Deutlichkeit nachkommen.
müssen wir bestehen. Hinzu kommt: Wir draufhaben oder Asylant statt Geflüchte- Auf der anderen Seite haben wir ja diese
haben als Partei reale Antworten auf die ter sagen, dann ist das auch falsch. völlig unscharfe, unklare Sprache.
Probleme gefunden. Nicht Angst ist unser SPIEGEL: Erklären Sie doch mal einer Habeck: Das Bedürfnis nach Deutlichkeit,
politisches Programm, sondern Lösungen SPIEGEL-Leserin oder einem SPIEGEL-Le- das habe ich auch. Mein Buch handelt im
sind unser Programm – auch das ein fun- ser, warum sie nicht mehr Flüchtlinge sa- Grunde von der Überlegung, wo die Gren-
damentaler Unterschied. gen sollten, sondern Geflüchtete. ze ist zwischen einem scharfen, pointierten
SPIEGEL: So lobenswert man Ihr politi- Habeck: Einige meinen, dass das Wort demokratischen Streit und dem Über-
sches Engagement finden mag, Sie müssen Flüchtling durch die Endung »ling« ver- schreiten dessen, dass eben kein Streit
zugeben, dass Ihre Partei auch heute ein niedlicht. stattfindet, nämlich dass Menschen aus-
Angstszenario entwirft: Das von der rech- SPIEGEL: Ja? Da hören sie etwas heraus, geschlossen werden, nicht mitstreiten dür-
ten Gefahr. was wir so nicht erkennen können. Es fen, keine Meinung haben sollen. Deswe-
Habeck: Noch mal: So was kann man nur gibt ja die These, man könne heute nicht gen würde ich sagen, dass der Übergang
gleichsetzen, wenn man auf die inhaltliche mehr alles sagen. Tut sich das grüne Mi- von einer streitbaren Politik zu einem
Unterscheidung verzichtet. So rechtfertigt Populismus genau da verläuft, wo nicht
man das autoritäre oder das völkische mehr alle mitreden sollen, sondern Men-
Sprechen. Wenn Volk nicht als Staatsvolk schen ausgeschlossen werden. Und das ist
im Sinne unsere Grundgesetzes verstan- »Der Übergang von dann auch die Grenze von demokratischer
den wird, sondern als »völkisch«, als scharfem Streit zu Popu- Sprache.
irgendeine angenommene biologistische SPIEGEL: Herr Habeck, wir danken Ihnen
Entität, dann heißt das, dass bestimmte
lismus ist da, wo nicht für dieses Gespräch.
Leute eben nicht dazugehören sollen. mehr alle mitreden sollen.«
38 DER SPIEGEL Nr. 43 / 20. 10. 2018
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1) Im Rahmen der Grenzen des Systems. Abbildung zeigt Sonderausstattungen gegen Mehrpreis. Stand 08/2018.
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Deutschland
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saarländische Ministerpräsidentin wegen für das Thema zuständig war. »Da sind tionsvertrag aus. »Das war das Modell für
der FDP Anfang 2012 die Jamaikakoali- wir uns fachlich und persönlich näher- ein faires Miteinander, in dem jeder seine
tion beendete – und das ausgerechnet am gekommen, was auch daran liegt, das Ar- Punkte machen kann«, erzählt Lindner.
Dreikönigstag, an dem sich die Liberalen min Laschet ein geselliger Typ ist«, sagt So könnte es bald wieder sein. »Wenn
traditionell in Stuttgart feiern. Lindner. es so weit kommt und Armin Laschet an-
Die enge Beziehung zwischen Laschet Die persönlichen Verflechtungen wur- rufen würde«, sagt Lindner, »wäre trotz
und Lindner ist dagegen nicht gespielt. den stärker. Laschets Büroleiterin war zwei mancher Reibung das nötige Vertrauen für
Die beiden lernten sich 2005 kennen, als Jahre lang Lindners Lebensgefährtin. Nach Gespräche da.«
Laschet Familienminister in Düsseldorf der Landtagswahl 2017 handelten die bei- Ralf Neukirch, Christoph Schult
wurde und Lindner in der FDP-Fraktion den Parteichefs den schwarz-gelben Koali-
Gleichstellung Immer mehr FDP-Männer können sich eine sagt die Abgeordnete Katharina Will-
komm. Und ihre Fraktionskollegin Britta
Frauenquote vorstellen. Ihr Problem: Die Frauen sind dagegen. Katharina Dassler findet: »Starke Frauen
setzen sich auch so durch; mit der Quote
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Deutschland
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gegen schon nach drei Jahren verbraucht. Weltwirtschaftsforum hat Deutschland ge- Deutschland einige der besten Forscher
Die Kanzlerin hat selbst auf dem Höhe- rade wieder als eine der innovativsten der Welt, nur stehen sie oft längst bei den
punkt der Flüchtlingskrise außerordentlich Volkswirtschaften ausgezeichnet. großen amerikanischen Internetkonzer-
hohe Zustimmungswerte gehabt. Das hat SPIEGEL: Die Frage ist nur, wie lange das nen unter Vertrag. Häufig wissen unsere
sich bis heute nicht geändert. so bleibt. Viele Ökonomen sind skeptisch, Unternehmen zu wenig darüber, was Uni-
SPIEGEL: Unbestritten ist aber, dass die weil die USA und China die digitale Revo- versitäten oder Forschungseinrichtungen
schwarz-rote Regierung seit ihrem Amts- lution wesentlich beherzter vorantreiben gerade entwickeln. Hier müssen wir für ei-
antritt kontinuierlich an Zustimmung ver- als die Bundesrepublik. nen besseren Austausch sorgen.
loren hat. Ist dieses Bündnis überhaupt Altmaier: Deutschland hat in den vergan- SPIEGEL: Bislang galt es als Stärke der
noch zu retten? genen 15 Jahren gezeigt, wie eine reife deutschen Industrie, dass sich der Staat
Altmaier: Davon bin ich überzeugt. Das Volkswirtschaft erfolgreich mit den He- aus der Wirtschaft weitgehend heraushält.
Klima in der Koalition ist viel besser, als rausforderungen der Globalisierung fertig Wollen Sie das ändern?
die Streitereien es nach außen erkennen werden kann. Für die Zukunft müssen wir Altmaier: Nein, der Staat ist meist ein lau-
lassen. Union und SPD müssen den Mut das erst noch beweisen. Die digitale Revo- siger Unternehmer. Aber es gibt Ausnah-
haben, sich stärker zu ihren Gemeinsam- lution erfasst alle Bereiche unserer Wirt- men, wie das Beispiel Airbus zeigt. Auch
keiten zu bekennen und auch größere Pro- schaft, die Welt der Maschinen und das In- das galt anfangs als Verlustprojekt, und heu-
jekte anzupacken: von einer wirksamen ternet wachsen zusammen. Diesen Pro- te erzielt es die Hälfte der weltweiten Flug-
Steuerentlastung über eine verantwor- zess müssen wir aktiv gestalten, wenn wir zeugumsätze. Manchmal, wenn wichtige
tungsvolle Energie- und Klimapolitik bis die Arbeitsplätze der Zukunft in Deutsch- Industrien ins Ausland abzuwandern dro-
zum Zuwanderungsgesetz, auf das wir uns land schaffen wollen. hen, sollte der Staat eben bereit sein, un-
vor wenigen Tagen geeinigt haben. Das ist SPIEGEL: Was haben Sie vor? ternehmerische Entwicklungen anzustoßen.
ein echter Durchbruch, dessen segensrei- Altmaier: Ich werde in Kürze eine Indus- SPIEGEL: Woran denken Sie dabei?
che Wirkungen für Wachstum und Wohl- triestrategie vorlegen, die auf den beiden Altmaier: Das wichtigste Beispiel ist die
stand gar nicht hoch genug eingeschätzt Säulen »stärken« und »schützen« beruht. Produktion von Batteriezellen. Wir wer-
werden können. Die Regierung muss sich deshalb raushalten, den erleben, dass die Stromspeicher bald
SPIEGEL: Gleichwohl gibt es in der SPD wo es gut läuft, zum Beispiel in dem relativ überall eingesetzt werden, von Bohrma-
eine breite Stimmung, die Koalition lieber jungen Geschäftsfeld des 3-D-Drucks, wo schinen über elektrische Fahrräder und Au-
heute als morgen zu verlassen. In der tos bis hin zu Flugzeugen. Es geht um Zehn-
Union wird diskutiert, in diesem Fall ent- tausende Arbeitsplätze, um Wertschöp-
weder mit FDP und Grünen erneut über fungsketten im Land und um Know-how
eine Jamaikakoalition zu verhandeln oder »Der Staat ist ein lausiger für die Zukunft. Deshalb wird die Bundes-
eine Minderheitsregierung zu bilden. Was Unternehmer. Aber es regierung die Gründung eines entsprechen-
wäre Ihnen lieber? gibt Ausnahmen, wie das den Gemeinschaftsbetriebes fördern.
Altmaier: Erstens sehe ich nicht, dass diese SPIEGEL: Industriekonzerne wie Bosch ha-
Koalition zerbricht. Zweitens hat die FDP Beispiel Airbus zeigt.« ben ausgerechnet, dass sich der Aufbau
klipp und klar erklärt, dass sie in dieser einer solchen Produktion in Deutschland
Legislatur für ein Jamaikabündnis nicht nicht lohnt.
zur Verfügung steht. Und drittens darf sich wir Weltspitze sind. Aber dort, wo es die Altmaier: Das respektiere ich, aber andere
die Regierung des viertgrößten Industrie- Unternehmen aus eigener Kraft allein nicht Firmen sind gegenteiliger Auffassung, und
landes der Welt nicht ständig mit sich schaffen, wie bei Batteriezellproduktion das müssen wir nutzen. Es gibt eine Reihe
selbst beschäftigen. Das wäre aber der Fall, oder künstlicher Intelligenz, muss der Staat von Unternehmen, die bereit sind, bei der
wenn sich ein Minderheitskabinett für je- zeitlich begrenzt Hilfe leisten. Batteriezellproduktion einzusteigen und
des Vorhaben eine neue Mehrheit im Par- SPIEGEL: Google oder Facebook sind aber Konsortien zu bilden. Wir brauchen eine
lament suchen müsste. Solche Kompromis- in ihren Geschäftsfeldern unbestrittene Anschubfinanzierung durch den Staat und
se würden für die Bürger teuer werden. Markt- und Technologieführer. Glauben die EU, damit das Ganze in Bewegung
Deshalb muss diese Koalition im Interesse Sie im Ernst, Sie könnten diesen Giganten kommt. Dann aber müssen die Unterneh-
des Landes fortgesetzt werden. Darüber mit deutschen Neugründungen Konkur- men ohne Staatshilfe lebensfähig sein. Wir
hinaus habe ich den Eindruck, dass die gro- renz machen? wollen keine dauerhaften Subventionen.
ße Mehrheit der SPD-Fraktion sowie der Altmaier: Es gibt weltweit einen Wettlauf SPIEGEL: Werden die Wettbewerbshüter
sozialdemokratischen Ministerpräsidenten um die Frage, wer die zentralen Internet- der EU da mitspielen?
und Kabinettsmitglieder derselben Auffas- plattformen der nächsten Generation ent- Altmaier: Die Kommission genehmigt sol-
sung ist. wickelt – die für autonomes Fahren zum che Projekte, wenn sie im gemeinsamen
SPIEGEL: Viele Bürger haben aber das Ge- Beispiel, für die Elektromobilität oder die europäischen Interesse liegen und wenn
fühl, dass diese Regierung nicht Stabilität, Gesundheitsversorgung. Wenn die deut- verschiedene Mitgliedstaaten beteiligt sind.
sondern neue Unsicherheiten schaffe. Und sche Industrie hier mithalten will, muss sie Hierüber bin ich mit den Regierungen in
dies in einer Zeit, in der sich viele Bürger ihren Maschinen das Denken und die Frankreich, Österreich, den Niederlanden
angesichts der vielen Krisen auf der Welt Kunst der Selbstoptimierung beibringen. und Polen im Gespräch. Ich bin zuversicht-
Sorgen um ihre wirtschaftliche Zukunft Das geht nur mithilfe der künstlichen In- lich, dass wir schon in den nächsten Wo-
machen. Zu Recht? telligenz, die wohl die wichtigste techni- chen ein gemeinsames Ergebnis erzielen.
Altmaier: Nein, der Aufschwung in sche Revolution der Gegenwart ist. Wahr- SPIEGEL: In Europa ist derzeit auch des-
Deutschland wird 2019 in sein zehntes scheinlich hat sie eine größere Tragweite halb so viel von Industriepolitik die Rede,
Jahr gehen. Unsere Fabriken sind ausge- als die Erfindung der Dampfmaschine weil Schwellenländer wie China angekün-
lastet, die Beschäftigten schieben Über- oder der Eisenbahn. digt haben, mit staatlicher Hilfe ganze
stunden, die Auftragsbücher sind voll. Das SPIEGEL: Aber auch hier zählt Deutsch- Märkte aufzurollen. Wie gefährlich ist das
ist angesichts schwieriger Rahmenbedin- land nicht zu den Innovationstreibern. für die deutsche Wirtschaft?
gungen und schwelender internationaler Altmaier: Das sehe ich anders. Im Bereich Altmaier: Da bin ich gelassen, wir begrü-
Handelskonflikte ein gutes Ergebnis. Das der künstlichen Intelligenz arbeiten in ßen Investitionen bei uns, auch chinesische
und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.
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Deutschland
kampf zu machen. Aber Bouffier lässt in Sonntagsfrage Hessen vorgesehen – in einem Vorort von Gießen.
dieser Frage nicht mit sich reden. Er emp- »Welche Partei würden Sie wählen, wenn am Für den beim Parteivolk beliebten GroKo-
fängt Merkel freundlich vor dem Frank- kommenden Sonntag Landtagswahl wäre?« Gegner und Juso-Chef Kevin Kühnert sind
furter Amtsgericht, wo sie sich eine dagegen 14 Termine eingeplant.
»Rechtsstaatsklasse« für Flüchtlinge an- 26% Selbst bei den großen Wahlkampf-Ab-
schaut. Kommende Woche soll Merkel schlussveranstaltungen am kommenden
noch bei vier Großveranstaltungen mit 21 20 Samstag taucht Nahles laut Terminliste
Bouffier auftreten. nicht auf. Schäfer-Gümbel will stattdessen
In den vergangenen Jahren hat Bouffier mit den SPD-Ministerpräsidenten Malu
die Hessen-CDU von einer konservativen 12 Dreyer und Stephan Weil punkten.
Kampftruppe in eine grün-kompatible, 9 8 Ob das reicht, um gegen den Bundes-
fast liberale Bürgerpartei transformiert. In trend anzukämpfen? »Bayern ist Bayern,
Berlin zählt er heute zu den loyalsten CDU SPD Grüne AfD FDP Linke und Hessen ist Hessen«, macht sich Schä-
Unterstützern der Kanzlerin. – 12,3 – 9,7 + 8,9 + 7,9 + 4,0 + 2,8 fer-Gümbel Mut. Aber: Die Münchner Ge-
Ein rasanter Wechsel auf einen Anti- Veränderung zur Landtagswahl 2013 in Prozentpunkten, nossen hatten ähnlich wie Schäfer-Güm-
Infratest dimap für die ARD vom 16. und 17. Oktober, 1002 Befragte
Merkel-Kurs würde da völlig unglaub- bel versucht, mit Themen wie Wohnungs-
würdig wirken, sagt ein enger Bouffier- not und Bildung zu punkten. Den Absturz
Vertrauter. Diese Erfahrung hatte schon konnten sie damit nicht verhindern.
Julia Klöckner im Nachbarland Rheinland- Problem total verschlafen. Die Mieter- Wie das Rennen in Hessen ausgeht, ist
Pfalz gemacht. Die CDU-Landeschefin vertreter nicken. schwer vorhersehbar. Vor einigen Wochen
hatte sich dort 2016 nach Monaten de- Eigentlich sollte auch Parteichefin hatten die SPD-Leute noch gehofft, die
monstrativer Einigkeit mit der Kanzlerin Nahles an diesem Vormittag in Hessen FDP auf ihre Seite ziehen zu können. De-
kurz vor der Landtagswahl unvermittelt sein, um Schäfer-Gümbel zu unterstützen. ren Fraktionschef René Rock hatte mehr-
von Merkels Flüchtlingspolitik abgesetzt – Doch der Besuch wurde abgesagt. Nahles fach über CDU-Mann Bouffier gelästert,
und daraufhin die Wahl verloren. sei im Moment das glatte Gegenteil von in dessen Büro man mit Zigarilloqualm
Bei Schäfer-Gümbel ist die Ausgangs- Unterstützung, sagt jemand aus dem SPD- eingenebelt und mit endlosen Monologen
lage ähnlich kompliziert. Der SPD-Lan- Team. Schäfer-Gümbel sei fassungslos ge- zugequatscht werde, aber keinen einzigen
deschef hatte sich große Hoffnungen ge- wesen, als Nahles die Maaßen-Affäre kom- Computer finde.
macht, in Hessen endlich Ministerpräsi- plett vergeigt habe. Tagelang sei nur noch Inzwischen sagt Rock, dass die FDP lie-
dent zu werden. Es ist sein dritter Anlauf. über das Unvermögen der SPD-Spitze ge- ber eine schwarz-grün-gelbe Jamaika-
An einem Montag im Oktober geht redet worden. Es sei unmöglich gewesen, koalition unterstützen würde als eine Am-
Schäfer-Gümbel mit Mietervertretern in Hessen noch mit Themen wie Mieten pel mit Schäfer-Gümbel. »Bei Volker Bouf-
durch das Hochhausviertel »Am Bügel« oder Lehrermangel durchzudringen. fier weiß man, was man hat«, so der FDP-
im Frankfurter Norden. Er hat jede Menge Im Unterschied zu Bouffier haben Schä- Fraktionschef. Bei Schäfer-Gümbel kaufe
Zahlen im Kopf: 60 000 Landeswohnun- fer-Gümbels Wahlkämpfer kein Problem man »ein bisschen die Katze im Sack«.
gen seien von der Regierung privatisiert damit, die Präsenz der Parteichefin auf ein So bleibt den SPD-Leuten nur die vage
worden, Sozialwohnungen würden kaum Minimum zu reduzieren. In der Termin- Hoffnung auf ein Bündnis mit Grünen und
noch gebaut, die Mieten explodierten. Die liste der Hessen-SPD ist in den beiden Wo- Linken. Die Grünen könnten sich wohl da-
schwarz-grüne Landesregierung habe das chen vor der Wahl nur ein Nahles-Auftritt für gewinnen lassen, wenn es mit Jamaika
nichts werde, glauben hessische Genossen:
»Die wollen ja weiterregieren.«
Tatsächlich geht bei Bouffiers Junior-
partnern die Angst um, ähnlich wie in Bay-
ern womöglich zwar mit einem grandiosen
Wahlergebnis abzuschließen, aber am
Ende ohne Regierungsbeteiligung dazuste-
hen. »Wir haben gute Chancen, das beste
Ergebnis zu kriegen, das wir je hatten«,
sagt Grünen-Spitzenkandidat Tarek Al-
Wazir. Aber Jamaika sei eine schwierige
Konstellation, zumal sich die hessische
FDP beispielsweise gegen den Ausbau der
Windkraftnutzung aufgestellt habe.
Sollte die SPD hinter der CDU landen,
wird Schäfer-Gümbel mit Bouffier auch
über eine Große Koalition verhandeln,
daran lassen die SPD-Leute keinen Zwei-
fel. Aber möglicherweise erledigt sich die
Angst der hessischen Grünen vor einer
Großen Koalition auf ganz andere Weise:
FRANK RUMPENHORST / DPA
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Deutschland
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IN DER SPIEGEL-APP
Voll vernebelt
Rauschmittel Für viele Deutsche ist Cannabis gesundes grünes Kraut – und ein Joint
nur eine andere Art Bier. Politiker wollen die illegale Droge
freigeben. Sollte es so weit kommen, wären Kinder und Jugendliche die Verlierer.
A
ls der Joint zum ersten Mal kreiste, nicht unbedingt körperlich abhängig«, sagt Die Droge solle, staatlich überprüft und
ließ Patrick ihn noch vorüberzie- Schmidt. »Aber es kann psychisch sehr überwacht, in speziellen Läden an Erwach-
hen. Haschisch und Marihuana, problematisch werden und zu seelischer sene verkauft werden. Seit in den Sondie-
das hatte er gehört, könnten einem Abhängigkeit führen. Wenn ein Mensch rungsgesprächen nach der vorigen Bun-
furchtbar zusetzen. Und so neugierig der instabil ist, sich nicht wertgeschätzt fühlt destagswahl auch noch die Unterhändler
Teenager war: Das Risiko suchte er nicht. oder etwas Elementares vermisst, hat Can- der FDP die Cannabisfrage stellten, schien
Dann sah er die gelösten Gesichter der nabis das Potenzial, darüber hinwegzutrös- die Droge endgültig in der Mitte der Ge-
Freunde und griff am Ende doch zu. Es wur- ten. Und solche Gemengelagen kommen sellschaft angekommen zu sein.
de ein lustiger Moment nach Schulschluss in der Pubertät oder im jungen Erwachse- Schon 2013 hatte etwa die Hälfte aller
im Park – bis die Jungen wieder ihre Ta- nenalter gehäuft vor.« deutschen Strafrechtsprofessoren gefordert,
schen schulterten, weil zu Hause die ah- Cannabis, lateinisch für Hanf, ist in al- das Betäubungsmittelgesetz zu reformieren,
nungslosen Mütter mit dem Essen warteten. len Ländern der Europäischen Union die weil es Cannabis unverhältnismäßig krimi-
»Leider hatte mir niemand gesagt, dass meistgenutzte illegale Droge. Wer die breit- nalisiere. Die Regeln seien »weder intelli-
Cannabis einem das Leben ruinieren fächerige Pflanze in Deutschland anbaut, gent noch zielführend«, meint auch der Vor-
kann«, sagt Patrick Focken heute, acht Jah- besitzt, verkauft oder abgibt, verstößt gegen sitzende des Bundes Deutscher Kriminal-
re später, mit Mitte zwanzig. Der junge das Betäubungsmittelgesetz und riskiert beamter. Die meisten Rauschgiftdelikte in
Mann, der anonym bleiben möchte und der Kriminalstatistik betreffen Cannabis,
einen anderen Namen trägt, sitzt dem lei- doch die eingeleiteten Verfahren bleiben
2015
tenden Arzt der Bonner Tagesklinik »Im Konsumenten häufig ergebnislos: Polizisten verfolgen oft
Wingert« gegenüber. Vier Monate lang Anteil der 18- bis 59-Jährigen,
7,0 mit großem Aufwand kleine Dealer, die sie
hat die Krankenkasse dem suchtkranken die im zurückliegenden Jahr schnell wieder entlassen müssen. Auch ein
Patienten zugestanden, um zwischen hel- mindestens einmal Cannabis Großteil der Konsumenten wird nicht be-
len Möbeln, Goldfischteich und einer sanft konsumiert haben, in Prozent langt, weil der Besitz von 6 Gramm Can-
hügeligen Wiese einen Alltag wiederzu- nabis in den meisten Bundesländern gedul-
finden, den er ohne Joints bewältigt. Quelle: Reitox-Bericht 2017 det wird, in Berlin sind es bis zu 15 Gramm.
Mit Liebeskummer fing es an, »da kiffte Hanf sei ein Genussmittel, argumentieren
ich plötzlich nicht mehr nur zum Spaß«, zahlreiche Befürworter – weniger schädlich
erinnert sich Focken. »Bald war Cannabis 2006 2009 2012 als Alkohol, der den Tod bringen könne und
ein Allheilmittel. Zum Schluss habe ich 5,1 5,2 5,1 dennoch legal sei. Erwachsenen Cannabis
mich kontinuierlich betäubt, um erst gar zu verweigern sei also unangemessen und
kein schlechtes Gefühl aufkommen zu verstoße zudem gegen Freiheitsrechte. Für
lassen. Dass es mir in Wahrheit immer ein Strafverfahren. Dennoch nahm die zahlreiche Patienten sei die Pflanze ohnehin
schlechter ging, weil ich immer mehr Pro- Zahl der Konsumenten in den vergangenen ein Segen. Seit dem 10. März vergangenen
bleme bekam, wollte ich nicht merken.« Jahren zu. Es sind Hausfrauen, Unterneh- Jahres gilt das »Cannabis als Medizin Ge-
Der Psychiater nickt, er kennt solche mer und Hartz-IV-Empfänger darunter, setz«; seither dürfen Ärzte bestimmten chro-
Verläufe. Etwa ein Drittel der Patienten Professorenkinder und Schüler wie Patrick nisch kranken Patienten, die sich vorher mit
von Axel Schmidt ist abhängig von Can- Focken. Hanf wächst in Dachkammern Fertigmedikamenten aus teils künstlich her-
nabis, viele ihrer Berichte ähneln sich: Da oder früheren Fabrikhallen; er lässt sich in gestellten Cannabinoiden begnügen muss-
ist die Pubertät, in der sich junge Men- Form von Haschisch und Marihuana rund ten, Blüten und Extrakte von Naturhanf ver-
schen so stark fühlen, dass sie alles aus- um jede weiterführende Großstadtschule schreiben. Einige experimentelle Therapien
probieren – und trotzdem verletzlich sind kaufen und gelangt unter anderem aus Al- legen außerdem nahe, dass Hanf bei begin-
wie in kaum einer anderen Lebensphase. banien tonnenweise ins Land. nender Demenz möglicherweise das Ge-
Und da ist Cannabis, erst Spaß, dann Trost Die Drogenpolitik sei gescheitert, be- dächtnis stabilisiert. Hersteller von Kosme-
und schließlich eine Katastrophe. mängeln daher Politiker der Opposition, tik erhoffen sich von den mehr als 400 In-
Innere Leere. Quälende Gedankenschlei- Grüne, Linke; aber auch Wissenschaftler, haltsstoffen der Pflanze erstaunliche Anti-
fen. Antriebslosigkeit. Patrick Focken schaffte Kriminalbeamte und Institutionen wie die Aging-Effekte. Modedesigner schätzen die
es noch durchs Abitur, aber nicht mehr durch Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen. Fasern als ökologischen Naturstoff.
das Studium. Er verbrachte die Tage in sei- Statt friedliche Kiffer wie Verbrecher zu Das pflegeleichte Gras, so bilanzieren
nem Zimmer, tauchte ab in eine Welt aus Bü- behandeln, solle man Cannabis endlich viele Befürworter, biete einen riesigen
chern und Computerspielen, kiffte. »Das war freigeben – so wie in Kanada, wo die Dro- Markt und ermögliche Millionen Euro zu-
wie ein Selbstmord auf Raten«, findet er nun. ge seit wenigen Tagen legal erhältlich ist. sätzlicher Steuereinnahmen.
Wieder nickt der Arzt. »Selbst bei re- Die Grünen legten bereits 2015 einen Ent- Sie werde nicht zulassen, dass sich die
gelmäßigem Gebrauch macht Cannabis wurf für ein Cannabiskontrollgesetz vor: Deutschen um ihre Gesundheit kiffen,
argumentiert hingegen die Drogenbeauf- hingegen, das sich eher schützend auf Ge- Vorweg die gute Nachricht: Tausende
tragte der Bundesregierung. Als Marlene hirnfunktionen auswirken kann, lässt sich probieren Cannabis, ohne dass es sie be-
Mortler in dieser Woche den aktuellen häufig nicht einmal mehr nachweisen. einträchtigt. Ihnen bietet die Droge, was
Drogen- und Suchtbericht vorstellte, be- Mehr als drei Millionen Erwachsene in alle erhoffen: Sie blendet für selige Mo-
zeichnete sie Kanadas Weg der Legalisie- Deutschland haben innerhalb von zwölf mente die elende Welt aus und verstärkt
rung als »Kapitulation«. Sie lehnt selbst Monaten mindestens einmal Cannabis pro- angenehme Sinneseindrücke. Die meisten
Modellprojekte ab, wie sie in Städten wie biert. In der Altersstufe von 18 bis 25 Jah- Konsumenten kiffen zudem höchstens
Berlin geplant waren und für die kürzlich ren ist es fast jeder Fünfte, bei den Jungen zehnmal im Jahr. Werden Studium, Beruf
die FDP im Bundestag warb: Bewohner und Mädchen unter 18 Jahren beinahe und Partner wichtiger, schränken sie oft
in Vierteln mit besonders umtriebigen jeder Vierzehnte. Weil die Zahlen im den Konsum noch weiter ein.
Dealern sollen legal Cannabis kaufen kön- Drogen- und Suchtbericht der Bundes- Statistisch betrachtet tragen Cannabis-
nen, Forscher die Erfahrungen auswerten. regierung auf Selbstauskünften beruhen, nutzer ein erhöhtes Risiko für Verkehrsun-
Auch der Vorsitzende im Gesundheitsaus- gehen Mediziner von höheren Werten aus. fälle, Hodenkrebs und Krankheiten der
schuss, ein Fraktionskollege Mortlers, zog Rund 34 000 Patienten lassen sich im Jahr Atemwege; Schwangere nehmen außerdem
unlängst einen Modellversuch in Betracht. wegen Cannabismissbrauch behandeln, in Kauf, dass ihre Kinder sich später mög-
Sie halte nichts von »Freilandexperimen- auch diese Zahlen sind gestiegen. Viele licherweise verlangsamt entwickeln. Insge-
ten mit der Gesundheit«, sagt dagegen die Zehntausende mehr, so schätzen Gesund- samt aber belasten die legalen Suchtmittel
Drogenbeauftragte. heitsforscher, müssten Hilfe suchen. Alkohol und Nikotin die Gesundheit weit-
Mortler ist seit fast 30 Jahren Mitglied Die Situation ist paradox: Während sich aus stärker. Und nach wie vor sind wesent-
der CSU, sie hat einen Abschluss als Meis- das umstrittene Gras zum Problemge- lich mehr Deutsche von Schnaps, Bier, Wein
terin für ländliche Hauswirtschaft, ihr Va- und Zigaretten abhängig als von Hanf.
ter verdiente sein Geld mit dem Anbau »Der vitale, erwachsene und gelegent-
von Hopfen in der fränkischen Provinz. liche Samstagabendkiffer bereitet uns
Eine Drogenbeauftrage mit einer derart Patienten auch kaum Kopfzerbrechen«, sagt Georg
konservativ-ländlichen Biografie sei vor- Hauptdiagnose Juckel, Ärztlicher Direktor der Bochumer
eingenommen und müsse Cannabis ja ver- bei erstbehandelten Universitätsklinik für Psychiatrie. »Wir
teufeln, argumentieren viele ihrer Gegner. Abhängigen in sorgen uns um die jungen und vorbelaste-
Doch der Politikerin steht eine breite ambulanter Behandlung ten Menschen.«
Koalition zur Seite, die ebenso bunt ist Juckel forscht seit Jahren zu den Folgen
wie die Fraktion der Befürworter. So un- von Cannabiskonsum und hat schon Ki-
terschiedlich ihr Weltbild ist, in diesem Cannabinoide Stimulanzien noprojekte organisiert, um Jugendliche
Urteil sind sich Kriminalbeamte wie Rita 54,6 % 17,5% aufzuklären. »Studien legen nahe, dass
Salgmann, Ärzte wie Rainer Thomasius, Quelle: Reitox-Bericht mindestens jeder elfte regelmäßige Kiffer
Patienten wie Patrick Focken und zahl- Opioide 2017
eine cannabisbezogene Störung entwi-
reiche Psychologen, Präventionswissen- 11,7% ckelt«, sagt er. »Dazu gehören krankhafte
schaftler und Pädagogen einig: Hanf, die- Ängste und Depressionen oder psychoti-
ses sanftgrüne Symbol alter Flower-Power- scher Wahn wie bei einer Schizophrenie.«
Zeiten, sei keinesfalls so harmlos wie oft Rund 800 000 Patienten in Deutsch-
behauptet. Und eine Freigabe, wie in eini- land leben mit dieser Krankheit, die das
gen Bundesstaaten der USA oder nun in wächs entwickelt, scheinen zunehmend Gehirn manchmal vergleichbar stark schä-
Kanada, berge unberechenbare Risiken. viele Menschen von dessen Harmlosigkeit digt wie Alzheimer. Wie viele scheinbar
Cannabis entwickele sich in allen überzeugt zu sein. Letzteres liegt auch an Gesunde genetisch vorbelastet sind, lässt
Schichten der Gesellschaft zu einem ge- Lobbyisten, die den Nutzen überhöhen sich nicht beziffern. Doch Schizophrenie
fährlich wachsenden Problem und habe und von Risiken ablenken, wie der Leiter beginnt typischerweise in der Pubertät
ein viel zu harmloses Image, sagt Rita der Bundesopiumstelle Peter Cremer- oder im jungen Erwachsenenalter – jener
Salgmann, die im niedersächsischen Lan- Schaeffer in einem Buch nahelegt*. »Die Lebensphase, in der zunehmend viele
deskriminalamt die Zentralstelle für Prä- Gesellschaft wird nicht zerbrechen, wenn Menschen Cannabis ausprobieren.
vention leitet. »Die Substanz freizugeben Cannabis zu Genusszwecken legalisiert Man verstehe heute viel besser als vor
wäre verantwortungslos«, meint auch Rai- würde«, resümiert der studierte Anästhe- zehn Jahren, wie sich die Inhaltsstoffe von
ner Thomasius, der an der Hamburger sist. Aber es werde in der Debatte zu vieles Hanf im Gehirn auswirkten, sagt Juckel.
Universitätsklinik dem Deutschen Zen- unzulässig vermischt: der Kampf gegen »Sie können körpereigene Botenstoffe
trum für Suchtfragen des Kindes- und Ju- Kriminalität, das vermeintliche Recht auf aktivieren, die auch beim Entstehen einer
gendalters vorsteht. Er warnt seit Jahren Rausch und die möglichen positiven wie Schizophrenie beteiligt sind.« Sei ein
vor einer Legalisierung. »Es würden noch negativen Folgen für die Gesundheit. Mensch anfällig für die Krankheit, könne
mehr Menschen an sozialen und psy- Am Ende ist es eine drängende Frage, regelmäßiger Cannabiskonsum das Boten-
chischen Problemen leiden.« auf die sich die hitzige, oft hoch ideolo- stoffsystem im Gehirn folgenschwer durch-
Zahlreiche Kiffer wüssten gar nicht, dass gisch geführte Debatte zuspitzt: Lassen einanderbringen. »Dann bricht möglicher-
sie sich gefährden, ergänzt der leitende sich Kinder und Jugendliche vor Sucht und weise ein Leiden aus, das ohne Joints nicht
Oberarzt an der Leipziger Universitäts- Nebenwirkungen besser schützen, wenn ausgelöst worden wäre.«
klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Cannabis als Genussmittel für Erwachsene
Mirko Döhnert. »Viele halten Cannabis legalisiert und der Verkauf staatlich kon- Im Fall von David Wilhelm spricht viel
für gesundes grünes Gras, eine Art Bio- trolliert und reguliert wird? Oder wirkt dafür, dass Cannabis den Ausbruch einer
droge ohne Zusatzstoffe.« Doch anders als das allgemeine Verbot trotz aller Missstän- psychotischen Störung mitverursacht hat.
in vergangenen Hippietagen steckt in den de noch immer am besten? Der 21-Jährige ist Patient einer psychiatri-
heutigen Sorten erheblich mehr THC, schen Klinik im Ruhrgebiet; wie etliche
jener Inhaltsstoff Tetrahydrocannabinol, * Peter Cremer-Schaeffer: »Cannabis«. S. Hirzel; 128 seines Alters wusste er nach dem Abitur
der den Rausch auslöst. Das Cannabidiol Seiten; 14,80 Euro. nicht, wie es weitergehen sollte. Abends
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legte er als DJ in einem Nachtklub Musik teilt, weil er meinte, Kunst zu erschaffen. zu weisen. Überall sah er geheime Bot-
auf, tagsüber lebte er vor sich hin. Er habe Im Badezimmer hatte er Butter in die schaften, ohne dass es ihm gelungen wäre,
in dieser Phase der unklaren Perspektiven Ecke geschleudert und daneben teure sie zu entschlüsseln. Nachts lief er, in sein
immer mehr gekifft, sagt er. »Zwei- oder Turnschuhe platziert, »es war so ein Jo- Laken gehüllt, durch den abgeschlossenen
dreimal täglich, manchmal schon mittags.« seph-Beuys-Ding«, dann sortierte er die Garten, damit ihn jene, die ihn abholen
David Wilhelm wirkt jünger, als er ist, Gegenstände seines Zimmers nach Far- kämen, sofort bemerken würden. »Ich ha-
er spricht leise, als wolle er nicht auffallen. ben: pinkfarbenes Lametta neben pink- be verzweifelt versucht, alles richtig zu ma-
»Ich habe das Gefühl, die Menschen geben farben verpackte Kondome und ein pink- chen, um hier wegzukommen«, berichtet
mir mit allem, was sie tun, ein Zeichen. farbenes Feuerzeug. Zum Schluss kletterte er. Manchmal ahmte er die Schlafgeräusche
Und ich verstehe sie nicht und fühle mich er auf das Hausdach und warf Plakate in eines Patienten nach, weil er meinte, dies
von ihnen nicht verstanden. Am Anfang die Nachtluft. »In diesem Moment fand sei das in der Klinik erwünschte Verhalten.
war es noch viel schlimmer.« ich das alles folgerichtig«, sagt er. »Ich »Cannabis wurde erst mit dem Aus-
Ein Freund brachte ihn in die Klinik, dachte, dass endlich zum Vorschein kom- bruch der Psychose zu einem Problem für
nachdem David Wilhelm mitten in der me, was ich kann.« mich«, sagt der junge Mann. »Die Krank-
Nacht in seiner Wohngemeinschaft in drei Umso unpassender fühlte er sich in der heit hat kaputt gemacht, was ich mir er-
Maschinen gleichzeitig Kaffee gekocht Klinik. Lange begriff er nicht, dass er arbeitet hatte. Das wird mir jetzt erst be-
hatte, obwohl er seit Wochen unter Schlaf- krank war. Er vertraute keinem Arzt und wusst. Ich habe früher so viel konsumiert,
losigkeit litt. Anschließend hatte er den verfolgte Fliegen, weil er meinte, sein Va- dass ich gar nicht erst anfing nachzuden-
Kaffee nicht nur getrunken, sondern mit ter hätte die Insekten ferngesteuert, um ken. Nun nähere ich mich langsam dem
einem Dreckschieber in der Küche ver- dem Sohn den Weg aus dem Krankenhaus Gedanken, dass zum Leben Aufgaben ge-
hören, die man nicht wegdimmen kann.«
Der Psychiater Juckel kennt viele ver-
gleichbare Patienten. »Wäre die Droge
legal und damit noch leichter verfügbar,
könnte die Zahl der Kranken mit psycho-
tischen Störungen oder einer Schizophre-
nie steigen«, meint er. Ähnliches gelte für
Depressionen, die ebenfalls durch Canna-
bis verstärkt werden könnten. »Diese
Krankheiten beginnen mit Symptomen,
die einen jungen Menschen zum Kiffen
verleiten können: Man fühlt sich missver-
standen, man schläft schlecht, man erlebt
die Welt als einzige Schwierigkeit.«
Allerdings fallen auch gesunde Jungen
und Mädchen während der Pubertät in
derartige Gemütszustände. »Und das
führt zum zweiten großen Argument ge-
gen Cannabis«, sagt der Arzt. »Neurobio-
logisch betrachtet, ist das Gehirn eines
Menschen erst mit ungefähr 25 Jahren aus-
gereift. Cannabis kann diesen Prozess
nachhaltig stören.« Oft verstärkt es dann
die Probleme mit den ohnehin komplizier-
ten, anstehenden Entwicklungsaufgaben.
Je jünger ein Kind, desto gravierender
die Folgen.
Studien zeigen, dass Jungen und Mäd-
chen, die vor dem 15. Geburtstag regelmä-
ßig Cannabis zu sich nehmen, seltener die
Schule beenden als ihre Mitschüler. Wer
an zwei oder drei Tagen in der Woche kiffe,
könne Wörter signifikant schlechter be-
halten, sagen Wissenschaftler der Bostoner
Harvard Medical School. Bilder aus dem
Kernspintomografen zeigen in derartigen
Fällen veränderte Gehirnstrukturen. Auch
soziale Fähigkeiten entwickeln sich viel-
fach nicht altersgemäß. Juckel hat zahlrei-
che 17- und 18-Jährige erlebt, die auf dem
Stand eines durchschnittlichen 13-Jährigen
sind.
»Das ist auch deshalb so tragisch, weil
viele mit ihrem Drogenkonsum unbewusst
das entgegengesetzte Ziel verfolgten«, sagt
der Psychiater. »Anders als früher geht es
ja heute kaum mehr darum, mit Joints ge-
Die Marihuana-Industrie sei auf dem ist: Man dürfe Hasch und Marihuana nur
Weg, so mächtig wie die Tabakfirmen zu in begrenzten Mengen und in Läden für Er-
werden, warnen Vertreter von Nichtregie- wachsene verkaufen. Die Mitarbeiter dieser
rungsorganisationen in den USA, wo die Geschäfte sollten ihre Kunden über Sucht-
Branche unter anderem mit THC-haltigen gefahren aufklären, die Inhaber müssten
Bonbons und Cannabiskapseln für die den Jugendschutz beachten. Dazu zähle
Kaffeemaschine zehn Milliarden Dollar ein Werbeverbot, ein Versandhandelsver-
jährlich umsetzt. In zehn Jahren soll es bot und ein Mindestabstand von Schulen
zehnmal so viel sein, und auch Deutsch- und Einrichtungen der Jugendhilfe. Wür-
land werde sich zu einem Multimillionen- den die Vorgaben eingehalten, werde sich
markt entwickeln, sagen Ökonomen vo- das Cannabisproblem bald verringern: Weil
raus. Mediziner Petzke rechnet mit einer in den Läden nur erstklassiger Stoff zu ha-
Vielzahl problematischer Produkte: »Ak- ben sei, werde der Schwarzmarkt mit seiner
tivierende Cannabismittel, sedierende Can- unreinen Ware ausgetrocknet. Und weil nur
nabismittel – und viele von ihnen werden Erwachsene einkaufen könnten, werde die
keine der üblichen randomisierten Doppel- Zahl jugendlicher Kiffer abnehmen – und
blindstudien durchlaufen, die den Nutzen damit die Menge psychischer Krankheiten
und Schaden eines Wirkstoffs ermitteln. im Jugendalter. Unterm Strich bleibe au-
Das kann ich mir nur als Katastrophe vor- ßerdem mehr Geld für Prävention.
stellen.« Dass sich die breite Öffentlichkeit Unverantwortlich!, schallt es aus dem
für die beschränkte Wirksamkeit und mög- Lager der Gegner. Im besten Fall: naiv! Es
liche Nebenwirkungen des Cannabis kaum falle Eltern jetzt schon schwer genug, ge-
interessiere, bereite ihm Sorge. gen jene Helden der Jugendkultur anzu-
erziehen, die Kiffen als lässige Attitüde
Legalisierungsbefürworter nutzen das verherrlichen.
positive Image. Mit Georg Wurth, einem Wie groß der Mindestabstand der künf-
ehemaligen grünen Lokalpolitiker, ver- tigen Läden zu einer Schule denn sein müs-
fügen sie über einen wortgewaltigen Lob- se, damit kein Teenager vorbeikäme? Und
byisten in Berlin. Jahrelang hat der 46-Jäh- wie man ausschließen wolle, dass die Äl-
rige legales Kiffen als Bürgerrecht ein- teren den Jüngeren die Joints einfach mit-
gefordert, nun argumentiert er oft auch brächten? Auf welche Altersgrenze man
mit den Heilkräften der Pflanze. Wurth sich überhaupt einigen wolle, wenn die
unterstützt die »Cannabis Social Clubs«, Hirnreifung erst mit 25 Jahren abgeschlos-
die als Anbaugemeinschaften für Selbst- sen sei? Und wie man den Jungen und
versorger zugelassen werden wollen, und Mädchen erklären wolle, dass Hanf zwar
er ist dabei, wenn bei Hanfdemos Gitar- cool für alle sei, aber nicht für sie? Legali-
sen die Extrakte und Blüten erstatten. Bis- renklänge zum Himmel aufsteigen. Vor al- siere man den Stoff, sende man doch eine
lang stammt der medizinische Hanf in lem aber tritt er als Geschäftsführer des Botschaft: Kiffen ist okay – und Cannabis
deutschen Apotheken aus Ländern, in de- Deutschen Hanfverbands auf – der anders, ein völlig legitimes Genussmittel.
nen der Anbau erlaubt ist. In zwei Jahren als es klingt, kein Zusammenschluss meh- Außerdem werde der Schwarzmarkt si-
soll Cannabis aus hiesigen Gewächshäu- rerer Interessensgruppen ist, sondern ein cherlich nicht austrocknen, er existiere für
sern erhältlich sein. Unternehmen mit dem Ziel, die Legalisie- legale Suchtmittel wie Zigaretten ja auch.
»Wir unternehmen gerade ein riesengro- rung von Cannabis durchzusetzen. Gerade junge Leute würden sich weiterhin
ßes Experiment mit vielen Schwachstel- Die Firma ist weitgehend spendenfinan- dort versorgen: Der Gesetzentwurf sieht
len«, sagt Frank Petzke, der in der Fach- ziert. Das Geld stammt von privaten eine Steuer von fünf Euro für ein Gramm
gesellschaft der Schmerzmediziner einer Förderern und von Betrieben der Hanf- Haschisch vor – da könnten Dealer güns-
Kommission mit dem Titel »Cannabis in branche, die Verdampfer, Anbauzubehör tigere Preise anbieten als Händler, deren
der Medizin« vorsitzt. »In zahlreiche Pra- oder medizinisches Cannabis anbieten. Ware nach Staatsvorgaben geprüft werden
xen drängen nun oft auch junge Leute, die Als Wurth vor vier Jahren in der Sendung müsse. Und auch ein Blick in die Nieder-
über unspezifische Schmerzzustände kla- »Millionärswahl« von Sat.1 und ProSieben lande mit ihren Coffeeshops zeige, dass
gen und letztlich ihren längst bestehenden eine Million Euro gewann, kündigte er an, ein illegaler Markt fortbestehe, wenn sich
Bedarf decken wollen.« Manche bringen dieses Geld auch für Werbung nutzen zu Kunden registrieren lassen müssen und
ihre Vaporisatoren mit ins Sprechzimmer – wollen: »Wir wollen die Debatte über eine nur eine begrenzte Menge kaufen können.
Geräte, mit denen sich Cannabis verdamp- Legalisierung von Cannabis in Kreise tra- Schaut in die USA!, entgegen Befürwor-
fen und anschließend inhalieren lässt. gen, die bisher nicht darüber diskutieren.« ter in solchen Diskussionen. In mittlerwei-
»Schmerzmedizin ist wesentlich kom- Mehrfach haben Politiker der Grünen le neun Bundesstaaten und Washington,
plexer«, urteilt Petzke. »Der Patient muss den Lobbyisten als Sachverständigen in D. C., ist Cannabis als Genussmittel für Er-
sich mit den Ursachen auseinandersetzen den Bundestag gebeten. Ein Video auf der wachsene erhältlich; der Stoff lockt Inves-
und oft auch mithilfe von Physiotherapeu- Internetseite des Hanfverbands zeigt ihn toren und Touristen, keine andere Branche
ten und Psychologen sein Verhalten än- im einvernehmlichen Gespräch mit der wächst so schnell. Weil sie reguliert und
dern.« Leider seien zu viele Kollegen an- drogenpolitischen Sprecherin Kirsten Kap- kontrolliert sei, ergäben sich lauter posi-
sprechbar für die Idee, Patienten solche pert-Gonther. Wurths gesponserter Ver- tive Effekte, meinen die Unterstützer. In
Mühen zu ersparen und das allgemeine band wirkt in solchen Momenten wie eine Colorado sei der Anteil der 12- bis 17-jäh-
Leiden am Leben mit Cannabis zu lindern. Arbeitsgruppe der Partei. rigen Konsumenten innerhalb eines Jahres
»Selbst wenn die Kollegen beste Absichten Viele Befürworter werben mit einem um zwölf Prozent gesunken.
verfolgen: Sie machen sich so auch zum Konzept, das im Entwurf des »Cannabis- Es ist eine beeindruckende Zahl. Doch
Handlanger zweifelhafter Interessen.« kontrollgesetzes« der Grünen nachzulesen sie erfasst nicht nur häufige Nutzer, son-
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erreichen. Wichtig ist, dass sie lernen, ih- nachlässt, dass es zweifelhafte Freunde
ren Konsum zu reflektieren.« trifft. Nach so einem Termin können die SPIEGEL TV WISSEN
Dreimal drei Stunden lang setzen sie Therapeuten nur abwarten. MONTAG, 22. 10., 20.15 – 21.15 UHR | SKY UND
sich dann in Kleingruppen nach den Regeln Gerade Jugendliche mit Cannabispro- BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
von FreD, einem Programm zur »Früh- blemen lassen sich oft schwer erreichen. El-
intervention bei erstauffälligen Drogen- tern bleibe da nur eine Chance, rät Tho- Der Sexperte von Indien
konsumenten«, mit Cannabis, den Risiken masius. Sie müssten klare Grenzen setzen Er ist die indische Antwort auf
und ihrem Konsum auseinander. In ande- und gleichzeitig vermitteln, dass sie jeden »Bravos« Dr. Sommer. Der 93-jäh-
ren Fällen können Richter anordnen, dass Schritt in ein anderes Leben unterstützten. rige Dr. Watsa fordert einen unge-
ein Sozialpädagoge einen Jugendlichen Wenn sich in Hamburg die Mütter und Vä- zwungenen Blick auf das Thema
mehrere Monate lang im Alltag unterstützt. ter montags und mittwochs mit dem leiten- Sex und kämpft für mehr Frauen-
Daten der Europäischen Beobachtungsstel- den Psychologen treffen, berichten sie von rechte im prüden Indien.
le zeigen, dass die Mischung aus Verboten solchen Versuchen: Sie hätten das Kinder-
und Angeboten dauerhafter Abhängigkeit zimmer, diese Kifferhöhle, in ein Durch-
am ehesten vorbeugt. Nur so lasse sich gangszimmer verlagert. Seither müsse sich SPIEGEL TV
überhaupt glaubwürdig vor Konsum war- der Sohn zwangsläufig mehr am Familien- MONTAG, 22. 10., 23.25 – 0.00 UHR | RTL
nen, meint auch Gunner Duttge, Professor leben beteiligen. Sie hätten das Taschen-
für strafrechtliches Medizin- und Biorecht geld gestrichen, um das elende Zeug nicht Das Fleisch-Dilemma
an der Universität Göttingen. zu finanzieren. Aber in Wahrheit wüssten Fleisch ist günstig, nahrhaft und le-
Helfen Fachstellen wie update nicht wei- sie nicht weiter. cker. Und gleichzeitig eine Katastro-
ter, bleibt der Weg in eine psychiatrische Es sei für Väter und Mütter die vielleicht phe: für das Tierwohl, die Umwelt
Klinik oder Ambulanz. Das Deutsche Zen- schwierigste Aufgabe überhaupt, meint und das Klima. In der Produktion
trum für Suchtfragen des Kindes- und Ju- Thomasius. »Auszuhalten, dass ihr Kind geht es meist nicht um das Tier,
gendalters liegt auf dem Gelände der Ham- die Fürsorge ignoriert, weil es noch nicht sondern nur um ein vermarktbares
burger Universitätsklinik, hier sucht über so weit ist, sich von der Droge zu verab-
die Hälfte der Patienten Hilfe, weil Can- schieden.« Statistisch gesehen haben Jun-
nabis sie schädigt. Es sind mehr als 500 gen und Mädchen aus bürgerlichen, bil-
im Jahr, die jüngsten sind zwölf Jahre alt. dungsnahen Familien wie so oft am Ende
Der Aufwand ist hoch: Entzug, Ergo- die besseren Chancen. Ein Elternpaar aus
therapie, Gespräche, Sport, Klinikschule. Hamburg erzählt, sie beide seien verzwei-
Doch sobald sie, oft nach etlichen Mona- felt wie durch eine Hölle gegangen und
ten, entlassen sind, fallen manche Patien- schöpften nun wieder Hoffnung (siehe
ten zurück in den früheren Alltag. So Seite 64). Mehr als die Hälfte der canna-
SPIEGEL TV
unterschiedlich ihre Biografien sind, so bisabhängigen Jugendlichen aber steht
zuverlässig wiederholt sich ein Muster: von vornherein eher auf der Seite der Ver-
Ähnlich wie die Bonner Patientin Valerie lierer. Die jüngsten Konsumenten, die in Massentierhaltung
versuchen sie, Defizite ihres Lebens mit ihrer Gehirnentwicklung besonders gefähr-
Cannabis auszugleichen. Jungen, die unter det sind, leben oft in schwierigsten Ver- Produkt. Gibt es einen Weg aus
der Aufmerksamkeitsschwäche ADHS lei- hältnissen. diesem Dilemma?
den, sitzen nach einem Joint ruhig im Un- In Bonn beendet Axel Schmidt die Ge-
terricht und fühlen sich endlich von Leh- spräche mit seinen Patienten. Patrick Fo-
rern und Mitschülern akzeptiert. Mädchen, cken und Valerie Besgens treten auf die ARTE RE:
die den elterlichen Ansprüchen nicht ge- Terrasse der Klinik, der junge Mann weist DIENSTAG, 23. 10., 19.40 – 20.15 UHR | ARTE
nügen, ziehen sich in den dämmrigen auf seine rechte Hand. Ausgerechnet ein
Rausch wie unter eine schützende Glocke Knochenbruch habe ihn in die Suchtkli- Leben ohne Versicherung –
zurück. Viele waren schon als Kleinkinder nik gebracht, erzählt er. Eine Freundin kein Geld für die Krankenkasse
nicht eng an Mutter oder Vater gebunden, hatte ihm so hartnäckig vorgehalten, sein Hunderttausende Menschen in
einige erlebten ihre Eltern nie liebevoll Leben zu vergeuden, dass er schließlich Deutschland sind nicht kranken-
oder nüchtern oder gelassen. voller Wut mit der Faust gegen eine Wand versichert, immer häufiger trifft es
»Vor allem, wenn Kinder nicht wie ge- hämmerte. »Da merkte ich, dass ich Hilfe die Mitte der Gesellschaft. Wer küm-
wünscht funktionieren, vermitteln leis- brauche.« mert sich um diese Patientengruppe,
tungsbezogene Eltern unbewusst oft eine Bei ihr sei es ein Horrortrip auf Canna- die von der regulären medizini-
emotionale Kühle«, sagt Thomasius. »Da- bis gewesen, entgegnet Valerie. Lauter be- schen Versorgung abgeschnitten ist?
bei wollen auch diese Väter und Mütter kiffte Freunde auf dem Sofa, und alle hät-
nur das Beste für ihre Töchter und Söhne.« ten gedacht, sie schlafe. »Dabei lief in mir
Manche übersähen, dass es einen Hilferuf der schlimmste Film meines Lebens ab.« SPIEGEL GESCHICHTE
bedeuten könne, wenn ihr Kind kiffe. »Sie Hitze, Kälte, Panik, durchweg ausgeliefert DONNERSTAG, 25. 10., 22.45 – 0.10 UHR | SKY
meinen, Joints gehörten zur Pubertät. Und habe sie sich gefühlt, nicht einmal nach ei-
es geht in dieser Zeit natürlich darum, sich nem Glas Wasser habe sie fragen können. Eine intime Geschichte –
auszuprobieren. Aber die Grenze zu kriti- Vier Jahre lang rang sie mit sich. Dann Frankreich unterm Hakenkreuz
schem Konsum ist fließend, und das be- traute sie sich eine Therapie zu. Im Juni 1940 erobern deutsche
merken einige Eltern sehr spät.« »Wenn ich vorher verstanden hätte, wie Truppen halb Frankreich. Die mehr
Manchmal sitzt ein Kind beim ersten abhängig das ganze Zeug macht, hätte ich als vier Jahre andauernde Besat-
Gespräch in der Klinik schweigend neben es beim Ausprobieren belassen«, sagt sie. zungszeit hinterlässt ein zerrissenes
Vater und Mutter. Es hört zu, wie die El- »Oder auch nicht. Das ist das Doofe an Land. In dieser Zeit entstehen un-
tern erzählen, dass es nächtelang kiffend diesen Drogen.« Katja Thimm gewöhnliche zwischenmenschliche
am Computer spiele. Dass es in der Schule Beziehungen.
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Deutschland
Die Familie, die hier erzählt, lebt in einem bürgerlichen Ham- Sozialdienst abgeleistet hatte. Sie musste Wege in einem Park
burger Stadtteil: Er ist Arzt, sie arbeitet als Krankenschwester, säubern und hatte außerdem die Auflage, an einer Drogen-
drei Kinder, ein Hund – die mittlere Tochter ist cannabissüchtig. schulung teilzunehmen. Wir haben sie zu der Beratungsstelle
Um andere Eltern wachzurütteln, hat das Ehepaar entschieden, gebracht, und weil Melanie all diese Auflagen diszipliniert ab-
im SPIEGEL über die Sucht zu sprechen. Der Vorname der Toch- arbeitete, gingen wir davon aus, dass sie tatsächlich nur ein
ter ist zu ihrem Schutz geändert. paarmal gekifft hatte, wie sie uns gegenüber beteuerte. Auch
ihre beste Freundin rauchte Cannabis – und schaffte es offenbar,
ihren Konsum vernünftig einzuschränken. Aber ob ein Heran-
nsere Tochter hat immer so getan, als sei Cannabis wachsender stabil genug für einen bewussten Umgang mit
sind. Wir haben uns bemüht, die digitalen Wir machen uns zehnmal geweckt. Weil sie trotzdem liegen
Räume zu durchdringen, in denen unsere blieb, haben wir sie dann auf dem Weg zur
Tochter unterwegs war. Es ist uns nicht ge- natürlich Vorwürfe, Arbeit vom Handy aus angerufen, um sie daran
lungen, und Melanie hat alles getan, uns zu erinnern, in die Schule zu gehen. Ließ der
den Zugang zu erschweren. Ihre sozialen dass wir nicht Dienstplan es zu, haben wir sie morgens per-
Netzwerke waren ihr heilig, obwohl sie deren viel früher Hilfe sönlich hingefahren. Oft hat sie das Schulge-
zerstörerische Kraft selbst erlebt hatte: Eine bäude durch einen Hinterausgang wieder ver-
Zeit lang kursierte ein Bild von ihr, auf dem gesucht haben. lassen. Am schlimmsten waren die Wochen-
zu sehen war, wie sich ein junger Mann an enden, wenn sie loszog und wir nicht wussten,
ihr vergeht, während sie unter dem Einfluss wohin sie geht und wann sie wiederkommt.
von Cannabis steht. Auch davon haben wir eher zufällig er- Wir haben sie dann über ihr Smartphone geortet, obwohl
fahren. sie das gehasst hat. Sollten wir unser 15-jähriges Kind nachts
Wenn wir uns Fotos von früher anschauen, denken wir durch die Großstadt tigern lassen? Wir haben sie morgens um
manchmal, dass all das nicht wahr sein kann. Melanie war ein fünf auf unbelebten Seitenwegen im Stadtpark und in Shisha-
reizendes Kind, lebhaft und aufgeweckt, sie liebte es, Ballett bars geortet, wir haben sie angerufen und gebeten, nach Hause
zu tanzen. Wir haben unsere Kinder immer fördern und auch zu kommen. Doch sie hat oft nur eine Nachricht geschickt:
ein bisschen fordern wollen; wir wollten ihnen eine gesunde Wir sollten sie nicht nerven. Die Sorge, auch das ständige Ab-
Neugierde auf das Leben und gleichzeitig die dafür notwendi- wägen, haben die ganze Familie ihrer Kraft beraubt: Geben
gen Regeln vermitteln. Jahrelang lief alles in den üblichen Bah- wir Melanie Geld für den Bus, obwohl wir annehmen, dass sie
nen – und plötzlich findet man keinen Zugang mehr zu seinem es für Cannabis ausgibt? Oder geben wir ihr nichts? Aber dann
Kind. Melanie hatte es manchmal nicht leicht, es gab oft Kon- fährt sie auf jeden Fall schwarz oder trampt mit dubiosen Ty-
flikte mit der älteren Schwester, die sehr eifersüchtig auf Mela- pen. Nehmen wir ihr das Smartphone weg? Aber dann können
nie reagiert und sie oft gepiesackt hat. Mit dem Beginn der auch wir sie nicht mehr erreichen. Wir hatten entsetzliche
Pubertät hat sich die Frage nach dem eigenen Platz im Leben Angst, sie würde abhauen, wenn wir zu viel Druck ausüben.
für Melanie dann wohl immer weiter verschärft. Aber reicht Anfang des Jahres ist Melanie dann gar nicht mehr zur
das als Erklärung aus? Hätten wir Melanie stärker schützen Schule gegangen. Irgendwie haben wir in dieser Zeit zu einem
müssen? Unsere ältere Tochter ist längst ausgezogen und der Gespräch gefunden; auch ihr Leidensdruck war mittlerweile
Kontakt zwischen ihr und Melanie rar. so groß, dass sie bereit war, sich in der Suchtabteilung der
Wir machen uns natürlich Vorwürfe, dass wir nicht Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik vor-
viel früher Hilfe in einer spezialisierten Psychiatrie für zustellen. Als sie am Abend vor der Aufnahme wie
Kinder und Jugendliche gesucht haben. Die Psycholo- üblich ihr Cannabis rauchte, hätten wir am liebsten
gin, zu der Melanie ging, hat uns davon abgeraten – geheult.
und das Jugendamt, von dem wir uns Rat erhofften, Aber sie hat durchgehalten, bald sind die vorgesehe-
gab uns zu verstehen, dass in anderen Familien weitaus nen drei Monate vorüber. Wahrscheinlich wird sie an-
schwierigere Fälle warteten. Doch wir arbeiten beide Video- schließend ein Internat besuchen. Sie muss sich aus
in medizinischen Berufen, wir hätten uns nicht so ein- interview dem alten Umfeld lösen: Das frühere Leben, nur ohne
fach beschwichtigen lassen dürfen. Aber das sagt sich Wann ist die Droge, gibt es nicht zurück, sagen die Ärzte. Auch
im Rückblick leicht. man süchtig, wir Eltern müssen uns verändern. Wir können Melanie
Melanie hat uns so viele Lügen aufgetischt, dass wir Dr. Juckel? nun wieder in den Arm nehmen, was wir nicht mehr
ihr die Wahrheit nicht mehr zutrauten – obwohl wir ge- spiegel.de/ zu hoffen gewagt hatten. Aber sobald wir wissen, dass
sp432018cannabis
nau wussten, dass ein Kind, zumal ein Kind in einer Kri- oder in der App sie draußen unterwegs ist, wollen wir sie orten. Wir
se, Vertrauen braucht. Manchmal haben wir sie morgens DER SPIEGEL müssen erst wieder lernen, ihr zu vertrauen. ■
Vergessener Held
Terrorismus 19 Stunden im Oktober 1977 machten Ahmed Dahir aus Mogadischu
zu einem Teil der deutschen Geschichte. Er half, die Entführer der
»Landshut« hinzuhalten – es sind ihm die wichtigsten Stunden seines Lebens.
A
hmed Dahir trieb eine böse Vor- folgte er über Funk und Radio die Entfüh- Dieser und der folgende Tag, der 18. Ok-
ahnung, als er an diesem Tag rung der Lufthansa-Maschine »Landshut« tober 1977, sollten in die Geschichtsbücher
im Oktober 1977 früher als sonst durch ein palästinensisches Terrorkom- eingehen. Ein Tag, von dem Helden und
aufstand. Er zog ein gestreiftes mando. Rom, Larnaka auf Zypern, Bah- Legenden, Dramen und Mythen in Er-
Hemd an und machte sich auf den Weg rain, Dubai, Aden im Südjemen. Er ahnte: innerung blieben. Aber nicht ein Mann,
zur Arbeit. mit dieser Flugroute, angesichts einer pa- der 41 Jahre später in seinem Wohnzim-
Die Sonne hatte sich draußen über lästinenserfreundlichen Regierung in So- mer in Rheine, Nordrhein-Westfalen, sitzt.
dem Indischen Ozean gerade über den malia – gut möglich, dass die »Landshut« In den Regalen glitzert Bling-Bling aus
Horizont geschoben, als er am Flughafen auf dem Weg zu ihm war. Glassteinen. Den Fußboden ziert ein wei-
von Mogadischu ankam. Er ging hinauf Gegen halb sieben tauchte ein Flugzeug ßer Flokati, auf der Fensterbank liegt der
in den Kontrollturm und blickte auf auf. Es sendete kein Transpondersignal, Koran, daneben eine Broschüre: »Die Rol-
ein paar Baracken und die löchrige Roll- der Pilot meldete sich nicht per Funk, wie le der Frau im Islam«.
bahn. Es war kurz vor sechs, für die ein Geisterschiff erschien es aus dem Ahmed Dahir hat für das Gespräch
nächsten Stunden waren keine Landun- Nichts. Die Maschine flog eine Schleife einen grauen Anzug gewählt und eine Kra-
gen geplant. über der Stadt, dann landete sie. »Da erst watte umgebunden. Auf dem Glastisch vor
Dahir, damals 31 Jahre alt, war zustän- haben wir gesehen: Aha, es ist ein deut- sich hat er die Erinnerungsstücke aufge-
dig für die Flugsicherung am Flughafen sches Flugzeug«, sagt Dahir. »Es muss das reiht: die Ehrenmedaille des somalischen
der Hauptstadt Somalias. Seit Tagen ver- deutsche Flugzeug sein.« Präsidenten, die Dankschreiben der Luft-
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Deutschland
hansa und des deutschen Botschafters in schallte es aus dem Lautsprecher im Meer schauen und nicht sehen, was hinter
Somalia, ein Schreiben des damaligen Tower, hier spricht Kapitän Märtyrer ihnen los ist.«
Staatsministers im Kanzleramt Hans-Jür- Mahmud. Dahir verstand »Walter Mah- Von diesem Zeitpunkt an vergingen
gen Wischnewski, einen Artikel über sich mud«, englisch ausgesprochen. Bis heute Stunden im Tower, von denen bis heute
aus der Mitarbeiterzeitschrift der Deut- nennt er den Chef des palästinensischen nicht ganz klar ist, was dort passierte. Ah-
schen Flugsicherung. Die Tonbandaufnah- Terrorkommandos so. »Dass das kein ech- med Dahir kann sie auch nicht mehr füllen.
men des Funkverkehrs, die er damals ge- ter Flugkapitän sein konnte, war mir so- Dass die letzten Stunden des Dramas bes-
macht hat, hat er sich inzwischen auf CDs fort klar.« ser zu rekonstruieren sind, liegt auch an
brennen lassen. Die Nachricht verbreitete sich um die ihm. Er legte ein Tonband ein, um den
Alles wirkt, als wartete Dahir täglich Welt: Die »Landshut« ist in Mogadischu Funkverkehr zwischen der »Landshut«
darauf, dass jemand kommt und ihn be- gelandet. Die Entführer wollten Mitglieder und dem Tower aufzuzeichnen.
lohnt. Protagonisten von damals sind bis der Roten Armee Fraktion freipressen, die
heute begehrte Gesprächspartner. Andere, in Deutschland inhaftiert waren. Sonst Es gibt von diesen Aufnahmen bislang
wie der damalige Bundeskanzler Helmut müssten die Geiseln sterben. Im Tower zwei bekannte Kopien. Eine lagerte jahre-
Schmidt oder der GSG-9-Gründer Ulrich brach Chaos aus. Die Armee, die Polizei, lang unentdeckt im Archiv des Westdeut-
Wegener, sind inzwischen tot. alle möglichen somalischen Akteure woll- schen Rundfunks. Die andere erhielt der
Ahmed Dahir lebt. Aber niemand fragt ten wissen, was passiert war. Der somali- SPIEGEL-Redakteur Erich Wiedemann
ihn. Er wohnt nahe einer Bahnlinie, in sche Diktator Siad Barre rief an. »Was ist 1977 in Mogadischu für »ein Bündel 100-
einem von der Zeit gezeichneten dreistö- da los?«, fragte der Präsident. »Ich weiß Dollar-Scheine« zugespielt, wie er erzähl-
ckigen Klinkerbau. Zwei Zimmer, Küche, es nicht«, antwortete Ahmed Dahir, »das te. Wer in Dahirs Wohnzimmer in Rheine
Bad. Er bezieht Rente, den Mindestsatz. deutsche Flugzeug ist da.« sitzt, erfährt dort: Auch er hat Bänder.
»Ich bin mittellos. Für Ruhm Man hört Piepstöne, es
könnte ich mir nichts kaufen.« rauscht viel. Im Hintergrund
Die Befreiung der »Landshut«, sprechen Menschen, manches
dieser eine Tag im Oktober ist unverständlich. In einem
1977, das ist sein Leben. Dahir der ersten Dialoge sagt Dahir:
spricht einen Mischmasch aus »Left side rear door«, linke
Deutsch und Englisch. Wenn Hecktür. Es geht offenbar um
er von jenem Tag erzählt, hebt die Leiche des erschossenen
sich seine Stimme, rudert er »Landshut«-Piloten Schumann.
mit den Armen, verzieht das Die Terroristen öffneten je-
Gesicht. doch die Tür rechts hinten, lie-
Er macht den Fernseher an, ßen die Notrutsche herab und
www.dva.de 68
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Die Befreiung der »Landshut« in der Nacht vom 17. auf den 18. Oktober 1977 »Mein Sohn ist nicht religiös«, sagt sein
Vater. »Ich bin religiös. Religion kommt
Indischer Ozean von innen.« Diese ganze Geschichte über
Islamismus und die Schabab, das habe mit
AFRIKA
seinem Sohn nichts zu tun. »Die haben
SOMALIA ihn da gefoltert, und nur weil er in der Ge-
Mogadischu Ablenkungs-
Parkposition gend der Schabab war, denkt die Polizei,
feuer dass er zu denen gehört hat«, sagt Ahmed
der »Landshut«
mit Blickrichtung Blendgranaten Dahir. Er sei »ein exzellenter Junge«.
zum Meer Das Oberlandesgericht Frankfurt am
Main verurteilte den Sohn 2016 nach sei-
ner Rückkehr ebenso wie fünf Mitreisende
Annäherung der GSG-9- Tower
aus der Bonner Islamistenszene. Seine Mit-
N Einsatzkräfte an das streiter erhielten Strafen von dreieinhalb
Heck der entführten
und fünf Jahren. Dahir junior kam mit ei-
Maschine
ner Bewährungsstrafe davon, weil er, bevor
er sich der Schabab anschließen konnte,
n
Standort der gefangen genommen und gefoltert worden
b ah Wischnewski-Maschine sei. Für seinen Vater aber hatte auch das
de
an mit dem Piloten
n dL mit der »Landshut« zu tun. »Die Polizei
r t- u Rüdeger von Lutzau war da, und ich habe denen gesagt, wer
Standort der Sta
ich bin«, sagt Ahmed Dahir. »Ich habe das
GSG-9-Maschine MOGADISCHU auch dem Gericht gesagt – bestimmt ha-
ben sie das berücksichtigt.«
Er wartet bis heute auf den Moment, in
tun sollen? Dahir hatte Arbeit, war respek- der Lufthansa, von dem er einst einen dem sein Einsatz am 17. Oktober 1977
tiert, und der Familie ging es gut. Zehn Dankesbrief erhalten hatte. Der war zwar noch einmal alles zum Guten wendet. In
Kinder kamen zur Welt. schon in Pension, aber es klappte wieder. den Stunden der Verhandlungen, sagt
Doch 1991 brach der Bürgerkrieg aus, Dahir bekam einen Job bei der deutschen Dahir, sei auch Helmut Schmidt am Te-
wütete erbarmungslos. 1994 beendete die Flugsicherung in Frankfurt. lefon gewesen. »Er hat mir gesagt: Wir
US-Armee ihren Einsatz in Somalia. Als schätzen so sehr, was Sie tun. Wenn Sie
1995 die Uno-Mission ihr Ende fand, zog Er schwärmt davon. »Das war toll, ich nach Deutschland kommen, dann können
auch die Bundeswehr ab. Ahmed Dahir durfte in einem Gästehaus wohnen, wo Sie ein Haus und ein Auto haben.«
brachte seine Familie dorthin, wo er als man sogar Essen für mich machte«, erzählt Ist es denkbar, dass ein deutscher Kanz-
junger Fluglotse an der Flugschule der er, »ich hatte auch ein Auto, einen Merce- ler einem Fluglotsen in Mogadischu in
Lufthansa Kurse genommen hatte. Zu je- des.« Am Wochenende fuhr er von Frank- einer nationalen Krise ein Haus und ein
nen Menschen, an deren Seite er 1977 ge- furt zu seiner Familie. Doch die deutsche Auto verspricht? Schmidt war an diesem
standen hatte: nach Deutschland. Er selbst Realität holte Ahmed Dahir ein. Als die Tag umtriebig. Dem somalischen Botschaf-
ging nach Dubai, es gab dort gutes Geld Deutsche Flugsicherung Personal abbaute, ter in Deutschland gaukelte er vor, drei
zu verdienen als Fluglotse. nahm Dahir ein Abfindungsangebot an. der vier Entführer seien Deutsche – um
Doch glücklich wurde er nicht. 1997 reis- Danach fand er nie wieder Arbeit. die Somalier davon zu überzeugen, einen
te er in die Bundesrepublik ein. Wenige Hier könnte die Lebensgeschichte des deutschen Zugriff zu erlauben. Wieso soll-
Tage später wurde sein Asylantrag als »of- Ahmed Dahir einen ruhigen, unspektaku- te er nicht dem Mann im Tower sagen, ein
fensichtlich unbegründet« abgelehnt. Er lären Ausklang nehmen. Zu den Wendun- Haus und ein Auto erwarteten ihn?
verstand es nicht. Hatte er nicht den Deut- gen seiner Biografie aber zählt, dass zu je- Ahmed Dahir steht am Flughafen von
schen gegen die Terroristen beigestanden? ner Zeit sein jüngster Sohn in den Islamis- Rheine. Bis vor Kurzem wusste er gar
Dahir fand heraus, dass Wischnewski in- mus abglitt, unter dem Einfluss seiner nicht, dass dieser Flughafen existiert. Er
zwischen für eine Bank in Bonn arbeitete. Freundin, einer deutschen Konvertitin. geht nicht viel nach draußen in seiner
Er schrieb ihm: »Hello, it is me, Ahmed 2008 holte ihn die Polizei in Köln auf neuen Heimat. Es gibt ein arabisches
Dahir.« Und Wischnewski schrieb einen dem Rollfeld aus einem Flieger, er war auf Restaurant in der Stadt, aber er isst lieber
Brief an den Landrat des Kreises Emsland. dem Weg nach Afrika. Die Polizei vermu- bei seiner Tochter. Der Flughafen, findet
Herr Dahir habe sich »besondere Verdiens- tete, er wolle sich einer Terrormiliz an- er, »ist eher ein Fußballfeld als ein Flug-
te erworben«, ließ der Ex-Staatsminister schließen. Fünf Jahre später schaffte er es hafen«.
wissen. Dahir habe »eine sehr positive Rol- nach Somalia. Er reiste ins Gebiet der Eine Windböe kommt. Er wickelt sich in
le in unserem Interesse gespielt«. Es stehe Schabab. Doch anstatt ihn als Gotteskrie- seine Jacke ein. »Es ist zu kalt in Deutsch-
»der Bundesrepublik gut an, wenn wir Leu- ger willkommen zu heißen, verdächtigten land«, sagt er. Demnächst wird er wieder
te nicht vergessen, die uns in schwierigster die Milizionäre den aus Deutschland An- für ein paar Monate nach Afrika fliegen,
Stunde geholfen haben«. gereisten als Spion. Sie sperrten ihn ein er hat gespart. Er lacht. »Das Haus und
Es klappte. Zwar hatte der Kreis Emsland und folterten ihn – so erzählte er es ande- das Auto – das hätte ich wirklich nehmen
Dahir bereits wenige Tage vor Wischnews- ren Islamisten, die ihn in Somalia trafen. sollen.« Fidelius Schmid
kis Brief eine Aufenthaltsbefugnis erteilt, Dahirs Sohn ist Mitte dreißig. Als er an
doch Dahir ist bis heute der Ansicht, alles einem Tag im Herbst 2017 im Wohnzimmer
Gute in seinem Leben habe mit jenen sitzt, trägt er eine Armeehose. Sein Kinn Video
Der Originalmitschnitt
19 Stunden in Mogadischu zu tun. ziert ein dünnes Bärtchen. Er hat einen wa- aus dem Tower
Man kann ihn verstehen. Nachdem er chen Blick, ist eloquent. Reden? Ja, viel- spiegel.de/sp432018landshut
einen Aufenthaltstitel erhalten hatte, such- leicht, aber mit dem SPIEGEL? Er will es sich oder in der App DER SPIEGEL
te er Arbeit. Also schrieb er dem Vorstand überlegen und wird sich nicht mehr melden.
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Mit Live-Diskussion:e
SPIEGEL-Redakteur
über Raumfahr t
und Previewfilm
Gesellschaft
Die raffinierteste aller Legenden, die er verbreitet hat, ist die Geschichte seiner jüdischen Herkunft. ‣ S. 74
Vom Verlies zum Farbfernseher. Verbesserungen im Gefängnis- diese allmähliche Erkenntnis wider. So wurde die Körperstrafe
wesen scheinen von der Öffentlichkeit schwer als Verbesserung nach und nach durch die Freiheitsstrafe ersetzt. Zu Beginn des
im Allgemeinen verstanden zu werden. Der Gefangene, ihm soll 17. Jahrhunderts entstanden in Deutschland die ersten Zucht-
es ja nicht gut gehen, soll wie in einer Art reinigendem Fegefeuer häuser. Ab dem 18. Jahrhundert wurde die Folter abgeschafft.
leiden und über seine Vergehen nachdenken. Punitivität nennen 1912 wurde das erste Gefängnis für Jugendliche eröffnet. 1923
Kriminologen dieses Phänomen, oder auch Straflust. Populisten wurden Dunkelhaft und Schläge als Disziplinierungsmittel
wissen: Das Volk erwartet Härte. Wissenschaftlich ist allerdings abgeschafft, 1949 in der Bundesrepublik die Todesstrafe. Ab
belegt, dass harte Sanktionen keinen Einfluss auf die Entwick- 1953 gab es die Bewährungsstrafe. 1969 wurde die Zuchthaus-
lung der Kriminalität haben. Im 13. und 14. Jahrhundert wurden strafe abgeschafft. Ab 1977 wurde das Konzept der Resozialisie-
in Europa Straftäter noch gehängt, geköpft, ertränkt, gerädert, rung maßgeblich. Ob es überhaupt Sinn macht, Kriminelle
gekreuzigt, gepfählt, verbrannt oder auch zu Tode geschleift. Die jahrelang hinter einer hohen Mauer zusammenzusperren?
Zahl der Tötungsdelikte war trotzdem deutlich höher als heute, Heute, so sehen es Experten für den Strafvollzug, sind wir wie-
etwa 20-mal so viele Menschen wurden umgebracht. Nicht die der in einer Phase des Übergangs. So könnten gemeinnützige
drohende Strafe, sondern die Lebensbedingungen haben einen Arbeit oder elektronisch überwachter Hausarrest die Freiheits-
merklichen Einfluss auf die Kriminalität. Das Strafrecht spiegelt strafe ersetzen. jonathan.stock@spiegel.de
Psychologie der Bahn sein, sondern die Stimme des eingespielten Störgeräuschen beurteilt hat.
Wie findet man die Bahnhofs. Viele glauben, weibliche Stimmen höre
SPIEGEL: Wie findet man eine diskrimi- man besser. Tatsächlich hat man männliche,
richtige Bahnhofsstimme, nierungsfreie, verständliche Stimme? tiefe Stimmen im Bahnhofslärm besser ver-
Labahn: Das war ein monatelanger Prozess. standen. Der sonore Bass trägt weiter.
Herr Labahn? Wir haben eine 20-köpfige Jury einberufen, SPIEGEL: Welche Stimme wird es?
Daniel Labahn, 38, Projektleiter bei darunter eine blinde Reisende, die in einem Labahn: Unser Favorit ist die klassische
DB Station & Service, über das Casting Akustiklabor verschiedene Stimmen mit männliche Stimme. Der »normale Mann«,
für die neue Stimme der Lautsprecher- der Ihnen im Bahnhof entgegenkommt.
durchsagen in Bahnhöfen Einer, mit dem man sich identifizieren
kann.
SPIEGEL: Herr Labahn, was suchen Sie? SPIEGEL: Zugverspätungen, Gleiswechsel,
Labahn: Wir suchen eine gut verständli- veränderte Wagenreihung. Schafft es die
FREDRICK VON ERICHSEN / DPA
che, glaubwürdige und diskriminierungs- neue Stimme, den Ärger mancher Reisen-
freie Stimme. den zu lindern?
SPIEGEL: Diskriminierungsfrei? Labahn: Deshalb war uns eine glaubwürdi-
Labahn: In unseren Bahnhöfen fahren ge Stimme so wichtig. Die klassische Durch-
ja nicht nur Züge der Deutschen sage »Wir bitten das zu entschuldigen«, die
Bahn. Deshalb soll es keine Stimme muss man auch ernst nehmen. JST
Freien, sie wollte noch etwas aus dem Wagen holen. Als sie
Eine Meldung und ihre Geschichte
dem Auto näher kam, sah sie, dass die Scheiben des Wagens
beschlagen waren, von innen, und auf dem Glas der Scheiben
Diskussionen über den angemesse- tes Mal, dabei drückte der Bär im
nen Umgang mit Bären. Die An- Innenraum mehrmals auf die
schaffung bärensicherer Müllton- Hupe. Als wollte er den Menschen
nen wird erörtert, Tierfreunde und Schwarzbär warnen. Im nächsten Moment
verängstigte Eltern diskutieren hit- platzte die Seitenscheibe des Vans,
zig über den Einsatz von Pfeffer- und der Bär hielt seinen Kopf in
spray und Gummigeschossen. die frische Luft. Die Freiheit vor
Nicole Lissenden, von Beruf Gra- Augen, schob er sich gemächlich
fikdesignerin, verfolgte diese Ge- durch das Fenster und verschwand
schichten bislang als interessierte zwischen den Bäumen.
Zuhörerin. Nun hat auch sie eine Von der Website Eu.citizen-times.com Der Wagen hat Totalschaden,
Geschichte zu erzählen. der neue soll bald vor dem Haus
Sie beginnt an einem Sonntag im September, gegen halb stehen. Familie Lissenden fragt sich, was zu tun ist, damit
drei am Nachmittag, auf der Beaverdam Road, in einem Vier- sich so ein Vorfall nicht wiederholt.
tel, wo die Familien noch aufeinander achten. Nicole Lissen- Mike Carraway, Bärenexperte der North Carolina Wildlife
dens Eltern wohnen hier, eine Nachbarin kam herüber und Resources Commission, hat zwei Ratschläge zur Hand. Der
ließ Lissenden wissen, dass eine Tür ihres Vans offen stehe erste heißt: »Nichts Essbares im Auto lassen, auch keine Res-
und Müll vor dem Auto liege. te.« Das, sagt Nicole Lissenden, wird nicht leicht, sie hat zwei
»Oh, wie peinlich«, dachte Nicole Lissenden, bedankte kleine Kinder, zwei und sechs Jahre alt. Der zweite Rat: Die
sich und ging hinaus zum Auto, das sie in der Einfahrt geparkt Türen des Wagens nicht nur schließen, sondern verriegeln,
hatte. Eine Tür des Wagens stand tatsächlich offen, was Lis- immer. Bären seien intelligent, in Asheville hätten sie gelernt,
senden seltsam fand, denn sie war sich sicher, dass sie die Tü- Autotüren zu öffnen.
ren wie immer geschlossen hatte. Aber sie sah und hörte Und nicht nur die. Nachdem der Bär das Auto von Familie
nicht Verdächtiges, deshalb gab sie der Tür einfach einen Lissenden verlassen hatte, besuchte er das Haus der Nachba-
Schubs, die Tür schlug zu. rin, inspizierte die Küche und öffnete mehrere Schubladen.
Dann sammelte Lissenden den Müll auf und ging zurück Mit einer Backmischung für Muffins machte er sich endgültig
ins Haus. Etwa eine halbe Stunde später stand sie wieder im davon. Uwe Buse
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Gesellschaft
D
er Auftritt in der Hamburger Je- in Pinneberg vor Neonazis zu schützen – besorgt ist, würde wohl kaum etwas stren-
rusalem-Kirche ist für Wolfgang auch das beschert ihm öffentliche Auf- ger ahnden als den Rufmord an einem un-
Seibert ein Heimspiel. Selbst- merksamkeit. schuldigen jüdischen Mitbürger.
sicher betritt der Vorsitzende der In seiner Pinneberger Gemeinde ist Sei- Ein erster Besuch bei Seibert in Pinne-
jüdischen Gemeinde Pinneberg das gut be- bert der ungekrönte König. 2002 gehörte berg. Der Gast wird freundlich und kolle-
suchte Gotteshaus, um einen Vortrag über er zu ihren Gründern, seit 2003 ist er ihr gial empfangen. Er habe ja selbst lange
»200 Jahre Reformjudentum« zu halten. Vorsitzender. Mit etwa 250 Mitgliedern Jahre journalistisch gearbeitet, sagt er. Sei-
Die Hamburger feiern an diesem Septem- zählt sie zu den beiden größten der sechs bert, ein mittelgroßer, untersetzter Herr
berabend die »Nacht der Kirchen«, mit Reformgemeinden in Schleswig-Holstein. mit vollem grauem Haar, bittet den Gast
der unter glaubensfernen Zeitgenossen für Seibert ist zudem Mitglied im Vorstand in die Bibliothek, wo sich gerade niemand
das Christentum geworben werden soll. des Landesverbands der Reformgemein- aufhält. Das Gemeindezentrum befindet
Weltoffenheit und Toleranz gegenüber den und vertrat den Verband auch bis sich in einem modernen Bungalow am
anderen Religionen machen sich da gut. vor Kurzem im Zentralrat der Juden in Rande der Stadt.
Auf allen Kanälen, im Internet und im Pro- Deutschland. Seibert sagt, die Gemeinde sei »hoff-
grammheft für die »Nacht der Kirchen«, Wolfgang Seibert hat sich im Lauf der nungslos überaltert«, junge Leute sehe
wird der Vortrag von »Dr. Wolfgang Sei- Jahre Respekt erworben – bei den Mitglie- man hier selten. Etwa 70 Prozent der Mit-
bert« angekündigt. dern der jüdischen Gemeinde, in der evan- glieder seien russischer Herkunft und
»Dr. Seibert«, wie ihn der Hausherr, Pas- gelischen Kirche, in den Medien und im wüssten nur wenig über jüdische Traditio-
tor Hans-Christoph Goßmann, tituliert, linken Milieu. Doch wer einmal seinen nen und Rituale. Trotzdem müsse natür-
hält an diesem Abend einen Vortrag, den Spuren folgt und in seine Biografie ein- lich jedes Gemeindemitglied, »wenn es
er so oder so ähnlich schon oft gehalten taucht, muss feststellen: Wolfgang Seibert möglich ist, die jüdische Geburtsurkunde
hat. Seiberts Reformjudentum trägt pro- ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Wolf- seiner Mutter vorlegen«.
testantische Züge, sehr nüchtern, sehr kri- Seibert zündet sich eine Zigarette an,
tisch gegen die jüdische Orthodoxie. inhaliert tief und kommt dann gleich, von
Seibert genießt im protestantischen Mi- Wer sich in eine jüdische sich aus, zur Sache: Auch seine Mutter sei
lieu großes Ansehen. Zu seinem 70. Ge- Identität flüchten kann, einst aus der Ukraine nach Deutschland
burtstag im vergangenen Jahr veröffent- gebracht worden. Er habe zehn Jahre ge-
lichten Pastoren und Weggefährten aus darf damit rechnen, braucht, bis er in den Besitz einer jüdi-
dem Umkreis der Jerusalem-Kirche eine unangreifbar zu sein. schen Geburtsurkunde gelangt sei. Nur
»Festschrift für Wolfgang Seibert«. Eben- dank seiner Beziehungen zu einem ehe-
falls 2017 wurde ihm der Menschenrechts- maligen sowjetischen Diplomaten in Bonn
preis von Pro Asyl verliehen. Seibert hatte gang Seibert ist ein mehrfach vorbestrafter habe er dieses Dokument erhalten. Die
Flüchtlingen »Synagogenasyl« gewährt Betrüger und Hochstapler. Urkunde sei natürlich überprüft worden:
und war damit bundesweit in die Schlag- Seit Jahrzehnten schon streut er Legen- »Nicht dass dann irgendwann mal raus-
zeilen gekommen. den über seine Herkunft, seinen Bildungs- kommt, dass das eine Fälschung ist. Nee,
Für die Medien ist er ein begehrter An- weg und seine Qualifikationen. Er hat die ist echt. Ihr Name war Polina Sznajder,
sprechpartner. Seiberts Foto schmückte im enge Freunde betrogen, bestohlen und also die jüdische Form von Schneider.«
Februar die Titelseite eines Dossiers der sein Umfeld systematisch belogen. Die raf- Die Frage, ob man einen Blick auf das
»Zeit« über den Umgang mit »einem neuen finierteste aller Legenden jedoch, die er Dokument werfen dürfe, beantwortet er
Antisemitismus«. Die Berliner »taz« und verbreitet hat, ist die Geschichte seiner ein wenig barsch. »Nein, das geht nicht,
das »Pinneberger Tageblatt«, das »Ham- jüdischen Herkunft – diese Lügengeschich- das habe ich nicht hier.« Stattdessen wen-
burger Abendblatt« und der NDR inter- te hat auch am längsten Bestand gehabt. det er sich nun dem väterlichen Teil seiner
viewen und zitieren den umtriebigen 15 Jahre schon amtiert Seibert als Chef der Familie zu. Sein Vater sei gerade noch
Gemeindevorsitzenden immer wieder zu jüdischen Gemeinde in Pinneberg. 15 Jah- rechtzeitig vor Kriegsbeginn mit einem
Fragen des Judentums, zu rechtsextremen re lang hat niemand öffentlich hinterfragt, Kindertransport nach England geschickt
Anschlägen und Fremdenfeindlichkeit. wer Seibert eigentlich ist. worden, seine jüdischen Großeltern hätten
Seibert marschiert an der Spitze von Die Begründung ist einfach: Wer sich Auschwitz überlebt und ihn später mit
Anti-AfD-Demos durch Pinneberg, er einmal hinter den Schutzschild einer – ver- ihren linken Überzeugungen geprägt. Der
spricht bei Podiumsdiskussionen über lin- meintlich – jüdischen Identität flüchten Großvater habe sogar im Spanischen Bür-
ken Judenhass, und manchmal heuert er kann, darf damit rechnen, unangreifbar gerkrieg für die Anarchisten gekämpft.
sogar seine Freunde vom schwarzen zu sein. Eine Gesellschaft, die zu Recht Seibert erzählt die Geschichte seiner
Block aus Hamburg an, um die Synagoge wegen des grassierenden Antisemitismus Großeltern, bei denen er nach der frühen
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Gesellschaft
Auch Wolfgang Seibert besuchte im Deutschen nicht zu interessieren, ob je- Frankfurt räumt jedoch jeden Zweifel aus:
Jahr 2002 zunächst diesen Unterricht, mand nach den Regeln der Orthodoxie Großvater Friedrich wurde am 28. April
weil ihm der Nachweis einer jüdischen Jude ist oder nach den Regeln der Libera- 1943 zum Wehrdienst eingezogen, Vater
Herkunft fehlte. Am 25. Januar 2003 er- len: Wenn er sich als solcher empfindet, Franz Richard am 11. April 1944. Laut Aus-
hielt Rothschild jedoch einen Brief Sei- so liegt die Entscheidung allein bei den kunft der Deutschen Dienststelle in Berlin
berts mit der Kopie eines Dokuments, aus Vertretern des Judentums. brachte es der Großvater zum Unteroffi-
dem hervorging, dass Seibert von 1972 bis Eine Ausnahme allerdings muss gelten: zier in einer Flakabteilung, Vater Richard
1982, mit einer kurzen Unterbrechung, Wenn nämlich ein nicht jüdischer Deut- war zunächst Flakhelfer und dann Grena-
Mitglied der jüdischen Gemeinde in scher sich eine jüdische Identität erschwin- dier im Grenadierregiment 251. Hätte man
Frankfurt am Main gewesen war und dass delt und damit die in Deutschland leben- Friedrich und Franz Richard als Juden be-
der Nachname der Mutter »Cohn« gelau- den Juden (und alle anderen Menschen trachtet, wären sie nicht zur Wehrmacht
tet habe. Im Anschreiben an Rothschild ebenso) täuscht. Und wenn er sich dabei eingezogen worden.
erklärte Seibert damals, dass somit erwie- dann auch noch einer Legende bedient, Über das Schicksal seiner Mutter hat
sen sei, dass seine Mutter »Jüdin war, die ihn zum Nachfahren von Holocaust- Seibert zuletzt unterschiedliche Lesarten
sonst hätte ich ja in Frankfurt kein Mit- Überlebenden macht. verbreitet: Mal wurde sie zur Zwangs-
glied sein können«. Wolfgang Seibert war geschickt darin, arbeit nach Deutschland verschleppt, mal
Fortan, sagt Rothschild, sei Seiberts jene Spuren, die in seine Vergangenheit rettete sie ein guter SS-Mann aus einem
Konversionseifer erlahmt. Zu einer ab- führen, zu verwischen. Auch die Recher- ukrainischen Lager und brachte sie am
schließenden Prüfung der jüdischen Iden- chen der Autoren dieser Geschichte wären Ende des Krieges mit in seine Heimat.
tität Seiberts durch ein sogenanntes Beit beinahe an jener Desinformation geschei- Immerhin beim Vornamen der Mutter
Din, ein aus Rabbinern bestehendes Ge- tert, die Seibert seit Jahren betreibt. Dem- kommt Seibert der Wahrheit nahe. Er
richt, ist es tatsächlich nie gekommen. nach wurde er am 16. August 1947 in ei- nennt sie Polina, tatsächlich hieß sie
Verantwortlich dafür war Rothschild nem sogenannten DP-Camp in Frankfurt Pauline Luise, wie schon das Kirchenbuch
selbst. Er hatte die Erklärungen seines Pin- am Main geboren, also in einem Lager für der St.-Thomas-Gemeinde belegt. Ihre
neberger Freundes offiziell bestätigt und Displaced Persons, zumeist jüdische Eltern Karl Schmidt und Anna Katharina
erinnerte sich erst dann wieder an den Fall, Flüchtlinge. Diese Lager hatten keine ei- Schmidt, geborene Marx, waren laut
als es zum Bruch kam: Rothschild wurde genen Standesämter, die Geburten wurden Hausstandsbuch der Stadt Frankfurt bei-
2015 als Landesrabbiner gefeuert, angeb- andernorts gemeldet. de evangelisch. Der Name Marx kommt
lich, weil er seinen Pflichten nicht nachge- Nach Anfragen und Besuchen in mehr mitunter in jüdischen Familien vor, aber
kommen war. als 20 Archiven, darunter das Institut für laut Auskunft des Zentralarchivs der Evan-
Dass auch Seibert damals mit ihm brach, Stadtgeschichte Frankfurt, das Archiv der gelischen Kirche Hessen-Nassau war be-
ließ Rothschild keine Ruhe. Er fragte bei reits Anna Katharinas Großvater evan-
der jüdischen Gemeinde in Frankfurt nach, gelisch.
welche Unterlagen dort über das frühere Seine Mutter kam nicht Zusammengefasst: Seiberts Großeltern
Gemeindemitglied Seibert vorlägen. Die aus der Ukraine, waren nicht in Auschwitz, sein Großvater
Antwort: Es gebe nur eine »Zuzugsmel- kämpfte nicht im Spanischen Bürgerkrieg,
dung des Einwohnermeldeamtes«, aus der sondern aus Frankfurt- sein Vater war nicht nach England geflo-
hervorgehe, »dass Herr Wolfgang Seibert Heddernheim. hen, und seine Mutter kam auch nicht aus
jüdisch ist«. »Weitere klärende Unterlagen, der Ukraine, sondern aus Frankfurt-Hed-
die die Zugehörigkeit zum Judentum do- dernheim.
kumentieren, liegen uns nicht vor.« Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem Dass seine Großeltern mit ihm bald
Nun wandte sich Rothschild an das Beit und der International Tracing Service in nach seiner Geburt für kurze Zeit nach
Din und schilderte seine Zweifel an Seibert. Bad Arolsen, nach Gesprächen mit Weg- Israel emigrierten – auch diese Geschichte
Auch Rothschilds Freunde in den Reform- gefährten und ehemaligen Mitgliedern der erzählt er gern –, ist äußerst unwahrschein-
gemeinden berichteten dem Rabbinats- Pinneberger Gemeinde ergibt sich ein Bild, lich. Seibert ist ein echter Frankfurter
gericht von den schon seit Jahren in Pin- das in vielen Punkten von den Angaben Junge, der irgendwann seine Großeltern
neberg kursierenden Gerüchten, dass der Wolfgang Seiberts abweicht. verließ und nach Bonn zu seinem Vater
Vorsitzende gar kein Jude sei. Zunächst die Kirchenbücher der Evan- zog.
Doch die Entscheidung der Rabbiner gelischen St.-Thomas-Gemeinde im Frank- Über die ersten Nachkriegsjahrzehnte
fiel eindeutig gegen Rothschild aus: »Die furter Stadtteil Heddernheim: Dort wird finden sich nur jene Angaben, die Seibert
Chazaka (Bescheinigung –Red.) der Jü- am 19. August 1947 die Taufe von Lothar selbst in biografischen Interviews gemacht
dischkeit von Herrn Seibert«, so heißt es Wolfgang Seibert, geboren am 16. August hat. Über seinen Bildungsweg zum Bei-
in einer Mail an Rothschild vom 27. April 1947, vermerkt. Seine Eltern waren Franz spiel verbreitet er ganz unterschiedliche
2015, »ist unserer Einschätzung nach Richard Seibert und Pauline Luise, gebo- Versionen. In den Klappentexten seiner
immer noch gültig. Es scheint sich wieder rene Schmidt, beide evangelisch. Vater Bücher aus den Achtzigerjahren heißt es
mal zu bestätigen, dass bei rechtlichen Franz Richard wurde am 26. März 1942 noch, dass er gelernter Maurer sei. 1991
Streitigkeiten das Anzweifeln der Jüdisch- konfirmiert, Mutter Pauline Luise am sel- gab er vor Gericht zu Protokoll, dass er
keit des Prozessgegners als ein probates ben Ort am 21. März 1943. Verzeichnet ist nur die Hauptschule besucht habe.
Mittel gesehen wird. Wir lehnen dies prin- auch die Trauung der Großeltern väter- Zwanzig Jahre später behauptete er je-
zipiell ab.« licherseits, von Friedrich Seibert und Elise doch in einer Hamburger Kirchenzeitung:
Unter normalen Umständen wäre die Häger, am ersten Weihnachtsfeiertag des »Ich habe mein Abitur auf einem katholi-
Geschichte an dieser Stelle zu Ende, weil Jahres 1923, und beide sind, natürlich, schen Gymnasium gemacht.« Inzwischen
sich für nicht jüdische Menschen jede wei- evangelisch. erklärt Seibert sogar, dass er in den Sech-
tere Nachfrage verbietet. Spätestens seit Theoretisch wäre es möglich, dass sämt- zigern Soziologie und Politologie studiert
den Nürnberger Gesetzen, mit denen die liche Seiberts vor 1923 vom Judentum zum habe, bei Adorno und Horkheimer in
Nazis Menschen jüdischer Herkunft stig- evangelischen Glauben konvertiert waren. Frankfurt – »was man damals so studiert
matisierten, hat es die nicht jüdischen Ein Blick in das Hausstandsbuch der Stadt hat«, wie er sagt. In den Studentenver-
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vom Anstaltspfarrer ausgelobten Preis. Ei- finanziert wird. Der wiederum erhält ei- Pinneberger Gemeindehaus, den Seibert
nige lyrische Versuche Seiberts finden sich nen großen Teil seiner Mittel vom Kieler der Polizei als Nazi-Aktion schilderte.
in einer Dokumentation der Dieburger Bildungsministerium. Derzeit kassiert der 2013 ging wieder eine Scheibe im Gemein-
Knast-Literaten. In einem Gedicht schreibt Landesverband einen öffentlichen Zu- dezentrum zu Bruch. Diesmal bescherte
er: »Mein Volk zieht auf der Landstraße / schuss von etwa 200 000 Euro pro Jahr, der Anschlag Seibert sogar einen Besuch
mein Volk verachtet Euch / Ihr Richter«, 2019 sollen es etwa 320 000 sein, die da- des Kieler Innenministers.
auch das eine Anspielung auf seine neue nach »dynamisiert aufwachsen«. Bislang konnte Seibert meist darauf ver-
Identität. Was mit dem Zuschuss geschieht, ent- trauen, dass ihm seine Umwelt aus Gut-
1984 erschienen gleich zwei Bücher mit scheiden die Gemeinden. Eine externe gläubigkeit oder Angst vor Scherereien
Seibert-Texten, das eine (»Nach Auschwitz Überprüfung, so das Ministerium, finde alle Lügen durchgehen lassen würde.
wird alles besser. Die Roma und Sinti in nicht statt. Nur der Landesrechnungshof Selbst der Doktortitel, mit dem er sich seit
Deutschland«) unter seinem Namen. In darf in die Bücher schauen. Seibert ver- einigen Jahren bei öffentlichen Auftritten
den biografischen Angaben heißt es: »Vater fügt also über viel Geld. Dabei heißt es in vorstellen lässt, störte bisher niemanden.
Jude, Mutter Zigeunerin« oder »Roma«. seinem Strafurteil von 1991: »Die Prog- Nur Rabbi Rothschild hat einmal den Je-
Nach seiner Haftentlassung zog er zu- nose lautet günstig, nachdem er sich ent- rusalem-Pastor Goßmann per Mail gefragt,
nächst nach Singen und dann in eine WG schlossen hat, von der Besorgung von worüber Seibert eigentlich promoviert
nach Hamburg. Dort setzte er am 3. März Geldgeschäften für andere Abstand zu habe. Der Pastor antwortete, dass Seibert
1983 eine Kontaktanzeige in die »Hambur- nehmen.« ihm das mal »vor langer Zeit gesagt« habe,
ger Rundschau«: »M, 35, etw. Bauch und Seibert, so sagt er selbst, bekomme nur er, Goßmann, sich aber »nicht mehr genau
ein bisschen Knast i. Rücken, Zigeuner- »ab und zu ’ne Ladung Benzin« für sein daran erinnern« könne.
herkunft, linker Literat, frisch in HH.« Auto bezahlt. Von Vorteil könnte sein Job Eine Ex-Freundin, die ihm kürzlich vor-
Seibert veranstaltete Konzerte für die aber für seine aktuelle Partnerin sein, die hielt, er sei doch gar nicht promoviert, be-
Roma und Cinti Union, engagierte sich Chefin des Pflegedienstes »Top Vital« in kam zu hören, das sei nicht seine Schuld –
auch in der Nicaragua-Initiative in Elms- Pinneberg. Der Pflegedienst betreut viele »ich kann nichts dafür, dass andere Men-
horn. 1986 zog er für die Grünen in den ältere Mitglieder der Gemeinde und arran- schen mich Doktor nennen«.
Pinneberger Kreistag ein, 1988 kandidier- giert regelmäßig Kaffeekränzchen in den Ein zweiter Besuch bei Wolfgang Sei-
te er bei der Landtagswahl. Räumen des Gemeindehauses. bert im jüdischen Gemeindezentrum in
Doch schon ein Jahr später war seine »So ganz koscher ist diese Verbindung Pinneberg, am Montag dieser Woche. Erst-
politische Karriere beendet. Zuerst stellte nicht«, meint ein Ex-Mitglied der Pinne- mals wird er mit dem Vorhalt konfrontiert,
der Kreisjugendring fest, dass Seibert in berger Gemeinde. Andererseits sei Seibert er habe seine Familiengeschichte erfunden.
seiner Funktion als Kassenwart mindes- für viele unentbehrlich: Der Umzug in das Anfangs widerspricht er entschieden. Auf
tens 10 000 Mark entwendet hatte. Dann die Frage nach Belegen antwortet er aus-
bemerkten die Christlichen Pfadfinder, weichend: »Ich kann nur das sagen, was
dass Seibert etwa 7500 Mark aus ihrer G-20-Proteste, Kurden- mir erzählt worden ist, zum Teil von mei-
Kasse auf sein Privatkonto transferiert demonstrationen – er ner Oma, zum Teil von Verwandten.«
hatte. Und schließlich mussten die Grünen Daraufhin werden ihm die Dokumente
einräumen, dass sie von Seibert sogar um mischt immer mit, wenn vorgelegt, die Auszüge aus den Kirchen-
mindestens 43 000 Mark geprellt worden es irgendwo Krach gibt. büchern, die Hausstandsbücher der Stadt
waren. Wieder folgte ein Urteil wegen Frankfurt. Seibert reagiert zunächst vor-
Untreue. Diesmal erhielt er 15 Monate auf sichtig: »Wenn ich das jetzt so sehe, dann
Bewährung. neue Gemeindehaus im Jahr 2010, die so- fange ich an zu zweifeln, ob ich jüdisch ge-
Mehr als zehn Jahre lang war von Sei- zialen Angebote, die politische Vertretung boren worden bin. Aber ich finde das nicht
bert nichts zu hören. Erst 2002, bei der nach außen – ohne Seibert könne man das so wesentlich.«
Gründung der Jüdischen Gemeinde Pin- alles vergessen. Die Pinneberger Gemein- Aber ist die Wahrheit nicht »wesent-
neberg, trat er erneut an die Öffentlichkeit, de sei eine »One-Man-Show«. lich«, Herr Seibert?
eine für frühere Weggefährten erstaunliche Tatsächlich bietet ihm das Amt des Vor- Für ihn, so erklärt Seibert daraufhin, sei
Wiederauferstehung. sitzenden eine Bühne für sein Bedürfnis immer entscheidend gewesen, dass er sich
In der Pinneberger Lokalprominenz er- nach Anerkennung. Und das Stück, das er als Jude »gefühlt« habe, und zwar schon
innerte man sich natürlich an den Mann dort spielt, ist stets dasselbe: sein helden- sehr früh. Er habe sich im Judentum so
mit der dunklen Vergangenheit. Doch nie- hafter Kampf gegen Faschismus und Anti- gut ausgekannt, dass sogar eine jüdische
mand wies darauf hin, dass sich hier wohl semitismus. Freundin ihm eines Tages bescheinigt
der Falsche an die Spitze der jüdischen Ge- Der Gemeindevorsteher mischt immer habe, er müsse ein Jude sein.
meinde manövrierte. Zu groß sei »die mit, wenn es irgendwo Krach gibt, sei es Seibert hält für einen Moment inne. Of-
Angst gewesen, mit kritischen Bemerkun- bei den G-20-Protesten, sei es bei Kurden- fensichtlich registriert er in diesem Moment,
gen gleich als Antisemit zu gelten«, wie demonstrationen, wo er zuletzt im März – dass es keinen Sinn mehr hat, seine Fassade
ein Weggefährte berichtet. explizit als Vorsitzender der jüdischen aufrechtzuerhalten. Er werde, so sagt er
So wie Seibert in den Achtzigerjahren Gemeinde – seine Solidarität mit der Terror- nun, sein Amt als Vorsitzender der Jüdi-
den Schutz der Opferidentität eines »Zi- organisation PKK bekundete. schen Gemeinde Pinneberg niederlegen.
geuners« gesucht hatte, so wechselte er Er ist gern gesehener Gast in den auto- Eine letzte Frage: Warum die Fantasie-
nun in eine aus seiner Sicht viel effektivere, nomen Zentren der Republik, in der Roten geschichten? Die Legenden von den Groß-
geradezu unangreifbare Identität: in die Flora in Hamburg oder im Leipziger Con- eltern in Auschwitz und von der Mutter
Zugehörigkeit zum Judentum. ne Island. »Ich bin immer noch militant«, aus der Ukraine?
Für den Job eines Gemeindevorsitzen- verriet er 2013 der »taz« im Interview. Für »Ich denke«, so antwortet er nach län-
den, den er 2003 übernahm, bekommt er seine politischen Aktionen habe er die gerem Schweigen, »ich wollte zu meiner
zwar kein Gehalt. Er hat aber Zugriff auf »Rückendeckung der Gemeinde«. gefühlten jüdischen Identität eine jüdische
den Gemeinde-Etat, der vor allem vom Bereits 2008 kam es zu einem ersten, Geschichte haben.«
Landesverband der Reformgemeinden bis heute ungeklärten Steinwurf auf das
Pick, pick, pick graben, damit sie im Winter einen Vorrat haben. Meisen ver-
stecken Samen und Kerne unter Rindenspalten, für schlechte
Zeiten. Stadttauben ernähren sich immer von dem, was sie
so finden. Sie haben nie einen Krümel über.
Homestory Was passiert eigentlich, wenn Ich sollte etwas tun, dachte ich, ich müsste schleunigst in
30-Jährige Post von der Rentenkasse kriegen? Kryptowährungen machen oder Investmentbanker werden.
Oder mir Geld leihen und davon Land kaufen. Ich erinnere
mich, wie meine Verwandten vor vielen Jahren im Wohn-
eulich saß ich auf dem Sofa und öffnete einen Brief von zimmer bei einem Himbeergeist den Geburtstag meiner Oma
N der Deutschen Rentenversicherung. »Renteninforma-
tion 2018« stand auf dem Anschreiben. Ach, dachte ich,
ich bekomme Rentenbescheide? Ich bin 30, unverheiratet und
feierten, ich war noch ganz klein. Sie lachten über den CDU-
Politiker Norbert Blüm und seinen Spruch, dass die Rente si-
cher sei. »Rente vergeht, Hektar besteht«, sagte mein Vater.
kinderlos. Ich beschäftige mich eigentlich nicht damit. Ich Alle lachten. Ich lachte nicht. Ich kannte Norbert Blüm nicht
überflog die Formulare. Graues Recyclingpapier, lange Sätze, und fand das Wort Rente langweilig. Ich finde es eigentlich
schwarze Balken. Sie wirkten auf mich wie Zeugnisse einer immer noch langweilig.
vergangenen Republik. Eines Landes, in dem die Deutschen in Ich habe in der Zeitung gelesen, dass der Sozialminister
Fahrstühlen rauchten und bedenkenlos Koteletts grillten, die Hubertus Heil die Renten um drei Prozent erhöht hat.
Schulterpolster ihrer Sakkos waren steif und der Diesel rein Und dass der Finanzminister Olaf Scholz den Deutschen bis
und billig. Ich verstand nicht, was die Deutsche Rentenver- zum Jahr 2040 eine Rentengarantie geben möchte. In dem
sicherung von mir wollte. Wahrscheinlich sollte ich gezwungen Artikel stand, dass diese Garantie Fehlbeträge von mindestens
werden, über meine Zukunft nachzudenken. 80 Milliarden Euro erzeugt. Um die Fehlbeträge auszu-
Ein Papier war darunter, auf dem stand, dass ich bis zum gleichen, könnte die Bundesregierung den Versicherungs-
Jahr 2054 arbeiten muss. Und dass meine Rente dann 1299,13 beitrag erhöhen. Oder die Mehrwertsteuer. Oder das Renten-
Euro betragen soll. Donnerwetter, dachte ich. Viel Geld. Oder? eintrittsalter. Sie könnte auch alles zusammen machen. Ich
Ich legte den Brief zu den müsste dann viel länger ar-
Broschüren der Pizzaliefer- beiten und hätte jeden Mo-
dienste. Ich sah aus dem Fens- nat weniger Geld.
ter. Dort balancierte eine Tau- Ich dachte an meinen
be über die Dachziegel. Freund Stephan, der sich
Ich fragte mich, was dann bald keine Aktien
1299,13 Euro kostet. Eine mehr leisten könnte. Oder
Monatsmiete für eine Woh- an Fabian, der sich das mit
nung in der Hamburger In- dem Kredit lieber zweimal
nenstadt. Ein schöner Ur- überlegt hätte. Vielleicht ha-
laub. Das neue iPhone. Ich ben sie sich ihre schöne Zu-
THILO ROTHACKER FÜR DEN SPIEGEL
dachte mir, das klingt ganz kunft ohne den Generatio-
gut. Dann fragte ich mich, ob nenvertrag ausgemalt, dach-
ich davon leben könnte, te ich. Vielleicht finden die
wenn ich einmal Kinder Meisen bald keine Krümel
habe. Oder ein Auto, viel- mehr. Vielleicht gibt es bald
leicht auch ein Haus, das ich nur noch Tauben. Pick, pick,
abbezahlen müsste. Es wür- pick. Von einem Krümel
de dann knapp, dachte ich, zum nächsten. Ich sah noch
es wäre dann zu wenig. Ich einmal auf den Zettel.
wählte die Telefonnummer, die auf dem Briefkopf stand. Ich 1299,13 Euro. Verträge kann man brechen, dachte ich. Ich
fragte, ob ich mich auf den Betrag verlassen könnte. »Nee«, erhob mich vom Sofa. Es müsste, dachte ich, endlich mal
antwortete eine junge Frau. »Wenn Sie sagen, Eins-drei oder einer was dagegen unternehmen.
Schlag-mich-tot reicht mir, schön«, sagte sie. »Aber kann ja Die Aktivisten im Hambacher Forst verschanzen sich in
keiner wissen, was das später wert ist. Sie sollten auf jeden Baumhäusern und verteidigen erbittert jedes Ästchen gegen
Fall privat vorsorgen.« Plötzlich erschien mir das Jahr 2054 die Staatsmacht. Ja, dachte ich, Bäume sind nützlich und
ganz nah, fast wie nächste Woche. schön, aber wie kommen die da hoch, wenn sie 67 sind? Ge-
Mein Schulfreund Stephan hat mir erzählt, dass er jeden gen rechts tanzen 65 000 junge Menschen in Chemnitz, und
Monat ein bisschen Geld spart und sich davon Aktien kauft, 20 000 ziehen gegen steigende Mieten durch Berlin. Aber
»für später«, sagt er. Mein Studienfreund Fabian hat gerade was machen sie gegen sinkende Renten?
einen Kredit aufgenommen und davon ein Reihenhaus in Wenn es doch nur ein Fünkchen gäbe, dass uns entflammen
einem heruntergekommenen Stadtviertel gekauft. »Da ist es würde für die Rente, der Generationenvertrag ist ja nicht
jetzt noch ein bisschen vermüllt, aber die Ecke kommt«, hat gottgegeben, dachte ich. 50 000 Hipster würden auf dem
er mir erzählt. »In 30 Jahren ist das Haus das Doppelte wert.« Alexanderplatz für ein Altern in Würde demonstrieren. Ben-
Neulich habe ich gelesen, dass junge Menschen seit der Wirt- galos und brennende Barrikaden gegen die Versorgungslücke,
schaftskrise 2008 wieder mehr heiraten. Manche Soziologen Sitzblockaden vor der Deutschen Rentenversicherung in Ber-
erklären das damit, dass meine Generation verunsichert sei lin. Her mit der schönen Rente. Ça ira, Generationenvertrag,
und sich damit wirtschaftlich absichern wolle. Ich dachte an an die Laterne mit dir. Da klingelte mein Telefon.
mein Motorrad, eine 750er-Honda. Für die bekomme ich »Max, wie geht’s dir?«, fragte meine Mutter gut gelaunt.
vielleicht noch 3000 Euro. Das war’s. Sie ist 56, tanzt Tango und fährt mit meinem Vater gern auf
Die Taube vor meinem Fenster pickte auf einem bemoos- dem E-Bike durchs Bergische Land. Ich setzte mich zurück
ten Ziegel herum. Dumme Taube, dachte ich. Das kannst du aufs Sofa. Vor dem Fenster flog die Taube davon. Max Polonyi
Wirtschaft
»Zum Neujahrsfest tanzten 540 ›Alpha‹-Männchen im chinesischen Fernsehen, Weltrekord.« ‣ S. 88
Streamingdienste Ende dieses Jahres würden die Digital- Radio-Werbemarkt bis 2022 nur noch ein
Spotify und Co. erlösen bald dienste hierzulande mit 656 Millionen leichtes Wachstum voraus. Viel rasanter
Euro etwa 80 Prozent der Nettowerbe- würden im selben Zeitraum aber die Abo-
mehr als Radiosender erlöse aller Radiosender erreichen. Umsätze der Streamer steigen, zu denen
Spätestens Anfang 2020 zögen sie dann auch Google Play und Apple Music zäh-
G Audiostreaming-Anbieter wie Spotify, an ihnen vorbei. Die Werbeeinnahmen len – auf dann 1,33 Milliarden Euro. Es
Amazon Music oder Deezer werden in der Streaminganbieter seien dabei noch sind vor allem jüngere Kunden, die bei den
gut einem Jahr allein mit ihren Abo- nicht einmal berücksichtigt, sagt der Chef Audio-Diensten kostenpflichtige Abos
Umsätzen mehr Geld einnehmen als alle des Unternehmens, Klaus Goldhammer. abschließen. Laut einer aktuellen Studie
deutschen Radiosender durch Werbung. Das zeige die Dimension der »Zeitenwen- von ARD und ZDF nutzen 69 Prozent der
Das prognostiziert eine aktuelle Analyse de im Audiomarkt«. Der Trend werde 14- bis 29-Jährigen mindestens einmal pro
der Medienberatung Goldmedia. Bereits zudem anhalten: Die Analyse sagt für den Woche Musikstreaming-Dienste. ROM
Handel der Vergangenheit sind mir bekannt. Wir an Discounter wie Lidl verkauft, die da-
»Wir haben denen lange haben Lidl aber als Unternehmen erlebt, mit ihre billigen Bio-Eigenmarken be-
das sich glaubhaft wandeln möchte. stückt haben – obwohl Bioland drin war.
nicht geglaubt« SPIEGEL: Anderthalb Jahre Plagge: Das ist ja erst mal Sa-
haben Sie sich über die Koope- che des Händlers. Aber klar,
Jan Plagge, 47, Präsident des Ökoanbau- ration unterhalten. Warum dieses Downgrading hat uns
verbands Bioland, über die Kooperation dauerte das so lange? nicht gefallen.
mit dem Discounter Lidl, der sein Öko- Plagge: Weil wir denen lange SPIEGEL: Wenn Aldi mit dem
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Wirtschaft
Unterm Rad
Konzerne Volkswagen und die Zuliefergruppe Prevent bekämpfen sich erbittert.
Dabei sind Autohersteller und ihre Lieferanten mehr denn je aufeinander
angewiesen. Ein Lehrstück über das System VW in Zeiten von Globalisierung und Dieselkrise.
D
ie Firma Neue Halberg-Guss
(NHG) ist eigentlich ein kleines
Rädchen in der Maschinerie
der globalen Fahrzeugindustrie:
2200 Mitarbeiter fertigen in Saarbrücken
und Leipzig Kurbelwellen, Motorblöcke
und andere Gussteile für die Pkw- und
Nutzfahrzeugbranche.
Doch als bei der NHG im Sommer sechs
Wochen lang gestreikt wurde, sorgte das
kleine Rädchen dafür, dass eine ganze
Branche ins Stocken kam: Der Autoher-
steller Opel zog Werksferien vor, dem Mo-
torenbauer Deutz drohten Produktions-
ausfälle, die wohl dazu geführt hätten, dass
Kunden wie Agco, Kion oder Putzmeister
die Motoren für ihre Mähdrescher, Gabel-
stapler und Baumaschinen ausgehen.
Es wurde klar, dass der Ausfall eines
kleinen Rädchens das hochkomplexe Netz
der Auto- und Zulieferindustrie innerhalb
kürzester Zeit blockieren und damit zu
Lieferausfällen und enormen Umsatzein-
bußen führen kann.
Eine Gefahr, die immer noch akut ist:
Seit einigen Tagen steht die Produktion
bei der NHG erneut still. Einige Lieferan-
ten wollen lediglich gegen Vorkasse liefern.
NHG kann Kunden nur mit dem versor-
gen, was schon produziert ist. Gleichzeitig
wird fieberhaft mit potenziellen Käufern
für die schlingernde Firma verhandelt,
auch eine Abwicklung ist möglich.
Der Fall zeigt, wie sehr Unternehmen
und ihre Zulieferer voneinander abhängen
und wie fragil ihre Beziehung ist.
Auslöser des Konflikts ist in diesem Fall
eine Firmenfehde, wie sie die Autobranche
selten erlebt hat: mit Preiserhöhungen und
Lieferstopps, rund einem Dutzend Ge-
richtsverfahren und einer Spitzelaffäre.
Auf der einen Seite steht Volkswagen,
einer der größten Autohersteller der Welt
und bis vor Kurzem Hauptkunde der
NHG; auf der anderen Seite die bosnische
Unternehmerfamilie Hastor, Eigentümerin
der Autozuliefergruppe Prevent, zu der
PAUL LANGROCK / ZENIT / LAIF
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verwendet. Kann ein deutscher Unterneh- eine Kanzlei damit beauftragt, seine Wort-
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Wirtschaft
A
ls Shannon Hoover zum ersten jemanden finden, der ihn produziert, des- Hoover nimmt die Rolltreppe in den ers-
Mal in seinem Leben den Boden halb ist er nach Shenzhen zurückgekehrt. ten Stock. Er will in einem Geschäft 50
von Shenzhen betrat, erwartete Hoover tritt auf die Straße vor dem USB-Kabel besorgen. »Good quality«, ruft
er eine graue Stadt. Hoover war Gründerzentrum und winkt ein Taxi he- Hoover dem Verkäufer zu, als handle es
in Hongkong gelandet, der glitzernden, ran. Er will zum Elektronikmarkt am an- sich um ein Stück Fleisch beim Metzger.
westlichen Finanzmetropole. Jetzt lief er deren Ende der Stadt. Das Taxi kämpft Der junge Mann nickt.
durch das verschlungene Grenzgebäude hi- sich durch den Mittagsverkehr, draußen Einmal, erzählt Hoover, habe er für sei-
nüber nach Shenzhen. Die Beamten an der ziehen halb fertige Bürotürme vorbei, die nen Baukasten ein Spezialteil gebraucht,
Passkontrolle kamen ihm vor wie Soldaten. aussehen wie offene Wunden. das es so nicht zu kaufen gab. Er wandte
Hoover, ein bärenhafter Kanadier, dachte: Als der Reformer Deng Xiaoping vor sich an einen Händler auf dem Markt.
So sieht also der Kommunismus aus. 40 Jahren beschloss, den Kapitalismus »Nach einer halben Stunde war das Teil
Nichts hatte ihn darauf vorbereitet, was nach China zu lassen, fiel seine Wahl un- fertig«, sagt Hoover.
ihn auf der anderen Seite erwartete: eine ter anderem auf Shenzhen, das damals Der Markt ist eine Trendbörse für neue
Stadt, die von oben aussieht wie Manhat- 30 000 Einwohner hatte und inmitten ei- Elektronikprodukte. Manche Dinge, die
tan. Eine Stadt voller Parks. Eine Stadt, nes Sumpfgebiets lag. Deng glaubte, dass es hier zu kaufen gibt, sind wilde Eigen-
durch die Busse mit Elektroantrieb fahren. in China einige »zuerst reich werden müs- kreationen. Andere sind offensichtliche
Ein chinesisches Wunder. sen«, um das Land aus seiner Rückstän- Fälschungen.
Shannon Hoover, 44, sitzt in einem der digkeit zu holen, und erklärte Shenzhen Während es im Silicon Valley als Tod-
Gründerzentren, in denen sie in Shenzhen zur Sonderwirtschaftszone. sünde gilt, fremde Ideen zu kopieren, ist
die Zukunft erfinden. Auf dem Gang ste- Es dauerte nicht lange, bis die ausländi- dies in China nicht unbedingt verpönt.
hen geschwungene Holzskulpturen, es sche Elektronikindustrie die Region ent- Schon die alten chinesischen Philosophen
riecht nach frischem Beton. Hoover ist deckte. Shenzhen und die benachbarten glaubten, dass der Weg zur Perfektion nur
zum 16. Mal in der Stadt. Gemeinden wurden zur Fabrik der Welt, über Nachahmung führt. Für das Kopieren
Jeder, der irgendwo auf der Welt Elek- sie fertigten das, was der Weltmarkt ver- von Elektronikartikeln gibt es auf Manda-
tronik verkaufen wolle, komme früher langte: erst Radios und Fernseher, dann rin ein eigenes Wort: »Shanzhai«. Nach-
oder später nach Shenzhen, sagt David Li, DVD-Player und Smartphones. Mehrmals dem die Fabriken um Shenzhen jahrelang
einer der größten Kenner der dortigen musste die Lokalregierung das Stadtgebiet wie Söldner für ausländische Firmen gear-
Technologieszene. Im Norden schließen erweitern, so schnell fraßen sich neue beitet hatten, entdeckten sie irgendwann
sich Hunderte Fabriken wie ein Ring um Wohnsiedlungen und Fabriken ins Um- ein noch lukrativeres Modell: das Shan-
die Stadt. Der taiwanische Konzern Fox- land vor. zhai-Geschäft.
conn schraubt in Shenzhen iPhones für Heute ist Shenzhen eine Metropole der Der Begriff Shanzhai steht neben dem
Apple zusammen. Superlative: Heimat für bis zu 20 Millio- Plagiieren auch für die Kunst, aus den Mög-
Der Hunger der Welt nach billiger Elek- nen Menschen, Sitz von mehr als hundert lichkeiten das Beste zu machen, für die Mi-
tronik hat aus dem einstigen Provinznest börsennotierten Firmen. schung aus Chuzpe und Geschäftssinn.
eine wohlhabende Metropole gemacht; ei- Shannon Hoover hat den Elektronik- Der Mann, den sie den »König der Ko-
nen Magneten für Glücksritter und Ge- markt erreicht. Er läuft an einer Filiale von pierer« nennen, residiert hoch über der
schäftemacher aus aller Welt. Eine Stadt Kentucky Fried Chicken vorbei, hinein in Stadt. Im 22. Stock eines gläsernen Wol-
der Träumer. ein mehrstöckiges Gebäude, von denen es kenkratzers hat sich Robin Wu, 34, sein
Shannon Hoover, ein studierter Infor- in der Gegend gut ein Dutzend gibt. Händ- Reich erschaffen. In der Ecke steht ein zu
matiker, arbeitete daheim im kanadischen ler dösen hinter Glastheken, von der De- einem Beamer umfunktionierter Reisekof-
Calgary lange in der IT-Abteilung einer cke fällt Neonlicht. In schuhkartongroßen fer. Die Wände sind verkleidet mit riesigen
Fluggesellschaft. Dann eröffnete er mit sei- Verkaufsabteilen stapeln sich Handyhüllen Bildschirmen. Wu sitzt davor wie Captain
ner Frau Maria Elena eine Kunstgalerie und zu dicken Bündeln zusammenge- Kirk auf der Brücke der »Enterprise«, die
und begann sich für die Verschmelzung schnürte Kabel. Füße in Badeschlappen aus Gummi.
von Mode und Technologie zu interessie- Wu war der Erste, dem es gelang, das
ren. Vor einem Jahr entwickelte Hoover iPad von Apple zu kopieren. Sagt er. Wu
einen Baukasten, mit dem jeder futuristi- nahm das Tablet auseinander wie einen
sche Kleider erschaffen kann: Röcke mit toten Fisch und baute es nach. Seine Ei-
blinkenden LED-Leuchten am Saum, genkonstruktion bot er für ein Drittel des
Rucksäcke, die ihre Farbe ändern, sobald Originalpreises auf dem Elektronikmarkt
ihnen jemand zu nahe kommt. »Wearable Peking von Shenzhen an. 10 000 Stück habe er
technology« nennt Hoover das, tragbare verkauft und damit eine halbe Million Dol-
Technologie. CHINA lar verdient, sagt Wu. Sogar CNN habe
Im Netz stieß seine Idee auf Begeiste- über ihn berichtet.
rung. Per Crowdfunding sammelte Hoover Shenzhen Inzwischen will Wu mit dem Fälscher-
rund 20 000 Euro ein. 200 Menschen wol- gewerbe nichts mehr zu tun haben. Mit
len seinen Baukasten haben. Nun muss er Plagiaten könne man zwar schnell reich
Elektronikmarkt, Erfinder Saoirse, Wu: Der Pioniergeist wird vom Geld verdrängt
Bundesbankpräsident Weber vor der Frankfurter Zentrale 2011: »Zu sehr auf einzelwirtschaftliche Gesichtspunkte gestützt«
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PORSCHE AG
Ankunft von Super-Connie-Passagieren 1960 in Stuttgart zum Porsche-Probefahren: Onlinepetition von 8500 Retro-Anhängern
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Straße, Hausnr. Geburtsdatum
Ausland
»Stephen Bannon wird in Osteuropa empfangen wie der Stellverteter Gottes.« ‣ S. 100
Analyse
Eines der Schlagworte, mit denen der Kreml 2014 die Annexion es ihnen gelungen, den ranghöchsten Führer der orthodoxen
der Krim rechtfertigte, war das von der »Russischen Welt«, Christenheit, den Ökumenischen Patriarchen Bartholomäus, zu
dem »Russki Mir«. Gemeint ist eine eigene russische Zivilisation, bewegen, der Loslösung zuzustimmen. Der hat seinen Sitz in
die sich fundamental vom Westen unterscheidet und weit über Istanbul, dem ehemaligen Konstantinopel. Moskau sieht darin
Russlands Staatsgrenzen hinausreicht. eine unrechtmäßige Annexion kirchlichen Territoriums. Der
Als Kampfbegriff taugte »Russki Mir« gut, weil er sakral aufge- Vorwurf wäre überzeugender, hätte Kirill sich 2014 anders verhal-
laden ist. Der Moskauer Patriarch Kirill benutzt ihn, um die ten. Statt Moskaus zynische Intervention im Nachbarland zu
Nähe Kiews und Moskaus im gemeinsamen orthodoxen Glauben kritisieren, ließ er sich für sie einspannen. Kein Wunder, dass sein
und in einer gemeinsamen Kirche zu betonen. Über Kiew war Ansehen in Kiew gering ist. Nun droht ein Schisma der ortho-
das Christentum nach Moskau gekommen, kirchenpolitisch gehört doxen Welt, weil Kirills Kirche die Konkurrenz aus Konstantino-
Kiew zum Moskauer Patriarchat. pel mit Sanktionen belegt hat. In der Ukraine aber wird es span-
Was man vom »Russki Mir« auch halten mag, in diesen Tagen nend. Denn ob Bischöfe, Priester und Gläubige dem Moskauer
ist er zerbrochen. Die jahrhundertealte kirchliche Einheit ist aufge- Patriarchat die Treue halten oder zu einer neuen Nationalkirche
löst. Kiewer Politiker hatten sich seit Langem bemüht, eine unab- wechseln, bestimmen weder Kirill noch Bartholomäus, weder
hängige ukrainisch-orthodoxe Nationalkirche zu schaffen. Nun ist der Kreml noch Kiew, sondern die Menschen selbst. Christian Esch
USA
»Höchst volatil«
Philip Murphy wurde von Präsident
Barack Obama 2009 als US-Botschafter
nach Berlin entsandt. Er blieb dort
bis 2013. Seit knapp einem Jahr ist der
Demokrat Gouverneur im US-Bundes-
SETH WENIG / AP
SPIEGEL: Sind Sie da
politische Geschehen im ethnisch zerris- Staatspräsidium Anfang Oktober nicht optimistisch, was
senen Bosnien-Herzegowina ein. Um der Kandidat der HDZ, sondern ein Ihren Bundesstaat
die bosnischen Kroaten zu unterstützen, Vertreter der liberalen Demokratischen betrifft?
sponsert die HDZ eine gleichnamige Front siegte, der auf Verständigung Murphy Murphy: Das Rennen
Schwesterpartei im Nachbarstaat. Diese und Ausgleich setzt, begann Zagreb um den Senatssitz
möchte einen eigenen Landesteil, eine den Mann politisch zu demontieren. wird sehr eng werden, aber ich glaube,
sogenannte Entität, für die bosnischen Diese Wahl sei nicht gut für die bosni- wir haben gute Chancen, zu unseren
Kroaten reservieren. Ein Plan, der ein- schen Kroaten, behauptete Premier derzeit sieben Sitzen im Repräsentanten-
deutig gegen das Friedensabkommen von Andrej Plenković. Er will weiter die haus drei oder sogar vier weitere dazu-
Dayton aus dem Jahr 1995 verstößt, über radikalen Nationalisten in ihrem Kurs zubekommen. Ich kann nur hoffen, dass
dessen Einhaltung die EU wachen soll. unterstützen. JPU möglichst viele Demokraten zur Wahl
gehen, bei Zwischenwahlen schwächeln
wir manchmal, das ist die Gefahr.
SPIEGEL: Sind nicht gerade Frauen seit
Chappatte der Affäre um den Supreme-Court-
Richter Brett Kavanaugh hoch moti-
viert, zur Wahl zu gehen?
Murphy: Das stimmt, viele Frauen sind
entsetzt, wie Trump mit diesem Fall
umgegangen ist. Manche Männer wie-
derum fanden das gerade ganz gut. Der
Kavanaugh-Effekt ist schwer einzu-
schätzen. Aber noch haben wir 17 Tage,
und in einer Trump-Präsidentschaft
kann da viel passieren, wie wir wissen.
Wer ahnt schon, wie sich jetzt die
ganze Saudi-Arabien-Geschichte aus-
wirken wird. Ich war früher Banker,
und da nannten wir Situationen wie
diese höchst volatil. Noch ist das Ren-
nen offen.
SPIEGEL: Und was ist, wenn doch die
»blaue Welle« ausbleibt und die Demo-
kraten verlieren?
Murphy: Dann wird mein Bundesstaat
genau wie Kalifornien, New York und
Connecticut weiter dagegenhalten
und bei der Umwelt-, Einwanderungs-
und Gesundheitspolitik, aber auch
bei den Steuern so weit wie möglich
einen eigenen Kurs fahren. BSA
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Ausland
Der Krieger
USA Stephen Bannon, einst Chefstratege von Donald Trump,
galt als Vordenker der Rechten. Jetzt versucht er
sein Glück in Europa. Unterwegs mit einem, der besessen ist.
Von Christoph Scheuermann
rüh am Morgen, ehe er seine drei mals als eine Mischung aus Mephisto,
ferknochen eines Alligators, den ihm ein London, wo er bei einer Veranstaltung des
Bekannter aus Florida geschenkt hat. Der Medienkonzerns Bloomberg auftritt. Da-
Raum ist dem Schlafzimmer Abraham Lin- nach wird er sich in Paris mit Marine Le
colns im Weißen Haus nachempfunden. Pen treffen, der Chefin des rechten Ras-
»Nur viel heller und doppelt so groß«, sagt semblement National. Er redet über den
Bannon. Im Regal neben dem Bett steht Ausstieg Großbritanniens aus der EU, rus-
eine halbe Wand voll Kriegsliteratur. sische Leibeigene des 19. Jahrhunderts und
Er sagt: »Ich bin fasziniert von histori- den Rechtsruck in Europa.
schen Figuren wie Dschingis Khan, Napo- Sein neues Projekt sind die Europawah-
leon oder Admiral Nelson. Ich glaube fest len im Mai 2019. Ende Juli stellte er eine
daran, dass Individuen einen großen Ein- Stiftung mit dem Titel »The Movement« im Parterre geführt. Niedrige Decke, sti-
fluss auf den Gang der Geschichte nehmen vor, die für rechte Parteien auf dem Kon- ckige Luft, Fox News im Fernsehen. Hier
können. An Hitler fasziniert mich, wie ein tinent logistische Hilfe leisten soll: Umfra- sitzt Bannons Truppe. Der Filmemacher
Gammler aus Wien es bis an die Spitze ei- gen, Daten, Analysen, Wahlkampftraining. Daniel Fleuette, genannt Dan, packt gera-
nes Landes schaffen konnte.« Bannon sagt, er wolle seine Erfahrung aus de seinen Koffer für die nächste Reise; Ban-
Dschingis Khan, Napoleon, Hitler. Das der Trump-Zeit nutzen, aber es geht um nons Neffe Sean, der den Besucherstrom
Leben der drei ist sein Resonanzraum. Ei- mehr als Europa. Die Geschichte ist viel organisiert, schwirrt herum; ein Mann
gentlich könnte man im Schlafzimmer blei- größer. Es geht um Stephen Bannon. Es hackt auf seinen Laptop ein; eine Frau na-
ben, um diesen Mann zu erklären. geht darum, ob der Krieger noch mal eine mens Elaine sagt, sie helfe nur aus. Hin
Bannon hat zwei turbulente Jahre hin- Schlacht gewinnen kann. und wieder schaut Raheem Kassam in der
ter sich. Im August 2016 machte ihn Es ist Mitte August, als er in sein Haus Botschaft vorbei, ein Brite, der den Brexit-
Trump zu seinem Wahlkampfmanager, in Washingtons Stadtteil Capitol Hill ein- Kämpfer Nigel Farage beriet.
später wurde er »Chefstratege« im Weißen lädt, das er die »Botschaft« nennt. Besu- Die Arbeit unter Bannon ist hart. Es
Haus. Die Zeitungen zeichneten ihn da- cher werden zunächst in eine Wohnung kommt vor, dass der Chef spontan be-
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schließt, nach Texas zu reisen, und einen ausgelöst. Er erkundigt sich, wie lang der immer noch über diese Garstigkeit, auch
Reisebefehl erteilt. Fleuette, der Filmema- Artikel im SPIEGEL über ihn wird. »Kom- weil sie belegt, dass er im Zentrum der
cher, saugt an einer Elektrozigarette und me ich auf die Titelseite?« Macht nicht ganz vergessen ist.
hüllt sich in Dampf. »Abgesehen von den Washington redet gerade über das Buch Zwischen ihm und Trump herrsche
20 Minuten auf dem Fahrrad morgens und von Omarosa Manigault Newman, der frü- Funkstille, sagt Bannon, sie kommunizier-
abends habe ich keine Zeit für Sport.« Auf heren Trump-Mitarbeiterin, die dem Prä- ten seit Monaten nur über ihre Anwälte.
einem Stehtisch liegen Notizzettel aus den sidenten Rassismus vorwirft. Am Tag zu- Sonderermittler Robert Mueller unter-
Hotels, in denen Bannon absteigt, mit wir- vor erhielt Bannon, so erzählte er Freun- sucht immer noch, ob Trumps Wahlkampf-
ren Notizen. Im Keller klappern Tastatu- den, einen Anruf aus dem Weißen Haus: team 2016 mit den Russen kooperierte.
ren, vibrieren Mobiltelefone. Würde er in eine der Sonntags-Talkshows Bannon musste als Zeuge erscheinen, er
Oben ist mehr Luft. Bannon tritt aus gehen, um Trump zu verteidigen? Gern, sagt, er müsse vorsichtig sein.
der Küche ins Wohnzimmer, er hat gute antwortete Bannon, aber nur, wenn Ivan- Er bittet an den Esstisch und nimmt ein
Laune. Seine Europapläne haben auf dem ka vor ihm auftrete. Trumps Lieblingstoch- Buch in die Hand, eine Biografie des Phi-
Kontinent erfreulich viel Panik und Angst ter ist Bannons Intimfeindin. Er freut sich losophen Martin Heidegger. »Das ist mein
Mann.« Heidegger habe schlaue Ideen volution gewesen, sagte Bannon einmal. gesägt wurde. Er sieht das als Bestätigung
zum Begriff Sein, der ihn fasziniere. So Menschlich fehlerhaft, ideologisch bieg- dafür, dass Berlin am Ende sei. Die Apo-
laufen die Gespräche mit ihm. Er springt sam, aber genial im Fernsehen. Bannon kalypse nahe. »Wir stehen auf der richti-
von den Tiefen der Politik in die Höhen braucht Gefäße, Brandherde. Erst wenn gen Seite der Geschichte.«
der Philosophie. Vom Sumpf zu Heidegger um ihn Flammen lodern, wird er ruhig. Bannon hat sich mit Europa in zwei sehr
in fünf Sekunden. Was unterscheidet uns Es ist ein Samstag Ende September, als speziellen Phasen beschäftigt. Einmal in
von Tieren oder Steinen?, fragt Bannon. er auf eine Bühne in Rom tritt. Die rechte den Achtzigerjahren, als er in Paris und
Was heißt es, Mensch zu sein? Wie weit Splitterpartei Brüder Italiens hat ihn zum London Geschäfte für Goldman Sachs ab-
darf Fortschritt gehen? Parteitag eingeladen, und Bannon hatte schloss; ein zweites Mal in den Zehnerjah-
Apropos Deutschland: Er bewundere zufällig Zeit. Hinter ihm verschränkt Dar- ren des 21. Jahrhunderts, in der Krise.
Leni Riefenstahl. Als Mensch sei Riefen- ren die Arme vor der Brust, ein Ex-Infan- Vor den Europawahlen 2014 zog er
stahl zwar fehlerhaft gewesen, die Nazi- terist der britischen Armee, der für Ban- durch die englische Provinz mit Nigel Fa-
geschichte und so weiter. »Aber als Filme- nons Sicherheit verantwortlich ist. Bannon rage, dem Chef der Unabhängigkeitspartei
macherin ist sie unerreicht.« spricht ohne Manuskript. Seine Rede be- Ukip. Bannon wusste damals nicht, dass
Sein Neffe Sean kündigt den nächsten ginnt mit der niedrigen Geburtenrate in es Europawahlen überhaupt gibt. Was ihn
Besuch an. »Hol mal Wasser«, sagt Italien, schlägt einen Bogen über Mikro- noch mehr erstaunte: dass es einem weit-
Bannon. Beim Hinausgehen deutet er auf chips und Gendesign, und endet mit der gehend unbekannten Kerl wie Farage ge-
ein Foto auf dem Kaminsims. Es zeigt Auslöschung der Menschheit. lang, 24 Mandate für das Europaparla-
seine älteste Tochter Maureen vor sieben Wenn wir, sagt Bannon, den Eliten in ment zu holen. »Plötzlich hatte er Macht.«
Jahren im Irak. Maureen war Soldatin der London, Paris, New York und im Silicon Der Engländer zeigte Bannon, was Eu-
101. Luftlandedivision der US-Armee. In Valley die Macht überlassen, werden sie ropa seiner Meinung nach wirklich ist: ein
ihrem Schoß liegt ein Sturmgewehr. »Sie in 25 Jahren den Homo sapiens völlig neu Haufen Bürokraten, die England kaputt ma-
sitzt da auf dem Thron von Saddam Hus- definieren. »Die ultimative Zerstörung der chen. Am Telefon erzählt Farage, es habe
sein«, sagt Bannon lächelnd. menschlichen Rasse!«, ruft er. Dann steigt Spaß gemacht, mit Bannon durch die Pubs
Er mag die Aura des Sprengmeisters, er in seine Limousine und fährt zurück ins zu ziehen. »Wir haben etwas getan, was die
des zornigen, dreckigen Guerilleros, der Fünfsternehotel am Platz des Volkes. meisten Politiker nicht mehr tun: Wir sind
das Establishment aufmischt. Er sagt, er Eigentlich wollte er von Rom aus durch zu den einfachen Leuten gegangen.«
plane eine Pressekonferenz in Brüssel, da- Europa ziehen, eine Tour durch ein halbes Stimmt es, dass Bannon ihn als bezahl-
nach die Premiere eines rechten Propagan- Dutzend Länder hatte er gegenüber der ten Berater anstellen wird? »Da ist noch
dafilms in New York und einen Wahl- nichts unterschrieben«, sagt Farage.
kampfauftritt für die AfD in Bayern. Er Mittags tritt Raheem Kassam in den In-
sei beeindruckt von den Politikern der Bannons Lieblingszitat: nenhof und inhaliert den Rauch einer Ame-
AfD, sagt er, vor allem von diesen beiden »Besser, man regiert rican Spirit. Er wirkt erschöpft. Er ist erst
Frauen, Alice Weidel und Beatrix von 32, Europa ist seine dritte Schlacht, nach
Storch. Er kneift die Augen zusammen. in der Hölle, als Brexit und Breitbart, er hat das Londoner
»Alischweidl? Bietrischstorsch?«, fragt er. im Himmel zu dienen.« Büro der Website geleitet. Er wohnt in Wa-
Die Sache ist: Wenig von dem, was er shington, aber tatsächlich lebt er im Flug-
ankündigt, wird er umsetzen. Weder die zeug. Bannon möchte, dass Kassam bei
Pressekonferenz in Brüssel noch die Pre- Nachrichtenagentur Bloomberg angekün- den meisten Gesprächen anwesend ist,
miere in New York, noch den Wahlkampf digt. Auch das wird abgesagt. aber vorhin entschuldigte sich Kassam und
in Bayern. Bannon ist geschickt darin, Stattdessen chartert er einen Privatjet fiel halb tot auf sein Hotelbett. Sein Kopf
Journalisten mit Bröckchen zu füttern, die und fliegt von Rom für einen halben Tag schwirrte. Er lag eine Viertelstunde da, bis
»New York Times« und andere. Am Ende nach Prag zum tschechischen Präsidenten ihn eine SMS vom Boss hochschrecken ließ.
passiert aber ganz oft: gar nichts. Miloš Zeman. Der AfD-Abgeordnete Petr Bannon sagt: »Der Unterschied zwi-
Bannons Blick auf die Bundesrepublik Bystron, der aus Tschechien stammt, ist schen den Rechten in den USA und
ist, wie seine ganze Weltsicht, von einer dabei. Bystron meldet sich per Skype aus Europa ist ihre Sicht auf den Staat. Im Ge-
unmittelbar drohenden Apokalypse ge- Berlin und erzählt, die Atmosphäre in Prag gensatz zu uns wollen unsere Freunde in
prägt. Die Entscheidung von Bundeskanz- sei locker gewesen. »Zemans Pressespre- Europa die Kontrolle über den Apparat
lerin Angela Merkel, Kriegsflüchtlinge aus cher kam in Turnschuhen.« Es gab Kaffee erlangen. Salvini und seine Leute streben
Syrien aufzunehmen, werde die Gesell- und Kuchen, man lästerte über die Euro- an die Macht, um den Staat nach ihrem
schaft zerreißen, sagt er. Die Regierung päische Union, und der Präsident hörte Willen zu formen.« Das gelte auch für die
treibe den Bankrott wissentlich voran. zu, wie Bannon von seinem Projekt be- AfD und für das Rassemblement National.
»Merkel und ihre Truppe wollen Deutsch- richtete. Anschließend ging es nach Buda- Auf den Einfall, den Staat in die Luft zu
land zerstören.« Die Kanzlerin sei gefähr- pest, zu den Leuten von Viktor Orbán. jagen, komme leider niemand.
lich, sagt Bannon. »Diese Schlampe.« Bystron sagt: »Bannon wird in Osteu- Er sucht weiter nach Gefäßen, doch es
Wie Trump denkt er, dass die Vereinig- ropa empfangen wie der Stellvertreter Got- ist nicht einfach. Er will Krieg, und keiner
ten Staaten jahrzehntelang von Europa tes auf Erden.« geht hin. In einem Interview sagte der
ausgenutzt worden seien. Deutschlands Drei Tage nach seiner Osteuropareise AfD-Vorsitzende Jörg Meuthen im Juli, sei-
Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg sei sitzt der Stellvertreter in seiner Suite in ne Partei brauche kein »Coaching von au-
nur möglich gewesen, weil amerikanische Rom. Auf dem Tisch stehen Croissants und ßerhalb der EU«. Anfang Oktober sah sich
Soldaten unter Einsatz ihres Lebens die Kaffee, Bannon trägt einen Kapuzenpulli Marine Le Pen dazu veranlasst, zusammen
Sicherheit gewährleistet hätten, unter- mit der Aufschrift »US Army«. Raheem mit dem italienischen Rechtspopulisten
stützt vom amerikanischen Steuerzahler. Kassam, der Brite, tippt E-Mails auf sei- Matteo Salvini auf Distanz zu Bannon zu
Am besten versteht man Bannon, wenn nem Laptop. Bannon sagt, er habe mit gehen. Nur Europäer, sagte sie, sollten
man ihn als Handlungsreisenden für Ideen Freude die Niederlage von Angela Merkel Europa retten.
sieht, die einen Nährboden suchen. Trump am Abend zuvor zur Kenntnis genommen, Nicht alle Rechtspopulisten schätzen es,
sei ein »unperfektes Gefäß« für seine Re- als ihr Vorsitzender der Unionsfraktion ab- wenn ein Amerikaner ihnen erklärt, was
Stratege Bannon, Nationalistin Le Pen*: Das nächste Ziel ist der Vatikan * Im März auf dem Parteitag des Front National in Lille.
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vollenden.« Inzwischen beantwortet Mo- Wenn man Bannon danach fragt, sagt den sein Neffe organisiert hat. »Kommen
drikamen täglich Fragen von ausländischen er: »Geld ist kein Problem.« Es gebe in wir auf die Titelseite?«, fragt Sean.
Medien. Gestern wartete ein Filmteam von Europa einige Milliardäre, die ihn gern un- Bannon klettert durch die offene Hinter-
Vice am Flughafen. Den meisten Journa- terstützten. Namen nennt er nicht. tür. Während der Fahrer sich durch den
listen erzählt der Belgier dieselbe Geschich- Es ist Ende September. Bannon sitzt in New Yorker Nachmittagsverkehr schlängelt,
te: Da er ein Teil des Establishments sei, der Businessclass von British Airways. denkt Bannon über die Zukunft der katho-
wisse er, wie korrupt es dort zugehe. Des- Er hat zugesagt, für einen etwa zehn- lischen Kirche nach. Wie viele Institutionen,
halb setze er sich für den kleinen Mann minütigen Auftritt in einer Show von sagt er, sei auch der Vatikan in den vergan-
ein. Aber im Grunde kämpfen Bannon und Rom nach Los Angeles zu fliegen. Ban- genen Jahrzehnten von links unterwandert
er für dieselbe Sache. Für sich selbst. non sagt: »Ich bekomme dort vermutlich worden. Bannon will die Kirche zu den An-
Modrikamen sagt, sein Klub wolle die Fresse poliert, aber was soll’s. Schärft fängen zurückführen, am besten zurück ins
den Mitgliedern vor den Europawahlen die Klinge.« Mittelalter. Am liebsten würde er den Vati-
Dienstleistungen anbieten: ein Forum Von L. A. fliegt er zurück nach Washing- kan genauso in die Luft sprengen wie den
zum Austausch, Umfragen, Experten so- ton, wo er ein Abendessen für konserva- modernen Verwaltungsstaat.
wie ein Lagezentrum, das auf Ereignisse tive Katholiken organisiert. Mitarbeiter Wenn man ihn fragt, wie sich sein ka-
reagiert, Stellungnahmen verschickt und von Thinktanks kommen in die Botschaft, tholischer Glaube mit seinen drei geschie-
rechte Köpfe in Talkshows setzt. »Wir frühere Trump-Berater, die Moderatorin denen Ehen verträgt, sagt er: »Nach kirch-
müssen Salvini oder Orbán nicht bei- Laura Ingraham, Banker, die Deutsche lichem Recht bin ich nicht geschieden. Mei-
bringen, wie sie Wahlen gewinnen«, sagt Gloria Fürstin von Thurn und Taxis sowie ne erste Ehe wurde annulliert. Die beiden
er. »Aber kleine Parteien sind darüber Kardinal Gerhard Ludwig Müller, ehemals anderen Trauungen waren weltlich.«
sicher glücklich.« Bischof von Regensburg. Müller war fünf Vielleicht muss man gar nicht viel mehr
sagen. Bannon steht am Rand des Gesche-
hens, er weiß das selbst, wie ein Regisseur,
der seinem größten Hit nachtrauert. Ihm
ist egal, ob er in Europa Verwirrung stiftet,
ob er untergeht. Wichtig sei die »Kame-
raderie« unter Gleichgesinnten, sagt er.
Sein Lieblingszitat stammt aus dem Ge-
dicht »Paradise Lost« von John Milton aus
dem 17. Jahrhundert: »Besser, man regiert
in der Hölle, als im Himmel zu dienen.«
Sein Plan, Europa nach rechts zu drü-
cken, bleibt vage. Er erzählt viel und tut
SCHWARWEL / DIEKLEINERT.DE / PICTURE ALLIANCE
Kommentar
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ie Frau, nennen wir sie Suzanne, Warum? Die Antwort ist in der Tat ba- sonaldecke bei den Macronisten mittler-
sitzt in einem Café im Pariser nal: Nach den Schlappen der vergangenen weile ist. So folgt eine Rochade auf die
Stadtviertel Marais und kann Monate soll ein Neuanfang inszeniert wer- andere. Das war so im Umweltministe-
noch nicht so recht glauben, was den, so wollen es Macron und die Seinen. rium, als der scheidende Ex-Fernsehstar
ihr widerfährt: »Es war brutal, es gab kei- Und was sich im Kleinen, fast Verbor- Nicolas Hulot durch den Präsidenten
nen Grund. Jedenfalls haben sie keinen genen im Élysée vollzieht, das wird auch der Nationalversammlung ersetzt wurde.
angeführt.« Suzanne hat gerade ihren Job auf der großen Bühne der Republik mög- Mindestens zwei andere Kandidaten hat-
verloren. Vermutlich, weil mal wieder ein lichst wirkmächtig aufgeführt. Lange war ten zuvor abgelehnt. Daraufhin musste
neues Gesicht hermusste. Ihre Nachfolge- sie angekündigt, nun ist sie endlich voll- wiederum der Posten des Parlamentsprä-
rin jedenfalls soll nun für »frischen Wind« bracht: die Regierungsumbildung. Am sidenten neu besetzt werden, und zwar
sorgen, so formulierte es Suzannes ehema- Dienstag ließ Emmanuel Macron sein durch den Fraktionsvorsitzenden der Re-
lige Chefin bei deren Vorstellung. neues Kabinett vorstellen. Unabdingbar gierungspartei La République en marche
Nun arbeitete Suzanne nicht irgendwo, für den Neuanfang, wie man im Élysée (LREM). Woraufhin dort wieder eine
sondern als Beraterin im Élysée, für Em- glaubt. Lücke entstand – das Ganze wirkte zuletzt
manuel Macron. Sie arbeitete für ihn seit Ein wenig Aufwind könnte nicht scha- wie eine Variante des Kinderspiels Reise
mehreren Jahren, von morgens früh bis den, das ist unbestritten. Denn 17 Monate nach Jerusalem.
spät abends. Schon im Wahlkampf hatte nach seinem Amtsantritt befinden sich Zum neuen Innenminister ernannte Ma-
sie ausgeholfen, ehrenamtlich. Sie gehörte Emmanuel Macron und seine Zustim- cron nun seinen Vertrauten der ersten
nicht zum innersten Zirkel seiner Vertrau- mungswerte auf anhaltender Talfahrt. Zäh Stunde, den früheren Sozialisten Chris-
ten, war aber doch immer dabei. Damit haftet das Pech am einstigen Glückskind tophe Castaner. Das wurde notwendig,
ist jetzt Schluss. Macron – und das schon seit Wochen. Laut weil ein anderer Vertrauter der ersten
Stunde, Gérard Collomb, den Posten auf- Affäre, das Ungemach um einen prügeln- ner Wahl, die Franzosen mit sich selbst aus-
gab, um wieder Bürgermeister von Lyon den Sicherheitsmann, folgten die Rücktrit- zusöhnen, bisher nicht eingelöst hat.
zu sein. Seinen Rücktrittswunsch reichte te wichtiger Minister, die jene zuerst ent- Es gibt einige Theorien darüber, warum
Collomb nicht zuerst beim Präsidenten weder im Radio verkündeten oder in der das so ist. Die stichhaltigste liefert Luc Rou-
ein, sondern bei der Tageszeitung »Le Fi- Zeitung. Es waren Abgänge, bei denen der ban in seiner Analyse »Le paradoxe du
garo«. Die Trennung, so viel lässt sich sa- machtbewusste Macron keine sonderlich macronisme«. Darin erklärt der am renom-
gen, verlief nicht einvernehmlich. Und sie gute Figur machte. mierten Institut Cevipof forschende Politik-
verstärkte den Eindruck, dass der Master- Neben dem Glück scheint ihm auch sein wissenschaftler, inwieweit die Wahl Ma-
plan, den Macron für seine Amtszeit hatte, einst so sicherer Instinkt abhandengekom- crons und ihre Prämissen mit der jetzigen
ihm mehr und mehr zu entgleiten droht. men zu sein. Macron tritt, für ihn unge- Situation zusammenhängen.
Castaner ist keine Wahl, die verblüfft – wohnt, in ein Fettnäpfchen nach dem an- Dieser Präsident, auch weil er so jung
aber wieder eine, die eine Leerstelle hin- deren. So zum Beispiel bei einer Reise auf sei, so Rouban, sei den Franzosen noch
terlässt. Denn »Casta« hatte auf Geheiß die französischen Antillen, wo er Volks- immer weitgehend unbekannt, genau wie
des Präsidenten erst im November den nähe demonstrieren wollte und nahezu diejenigen, die für ihn arbeiten, ob als Be-
Posten des Vorsitzenden von LREM über- zwanghaft jeden, der ihm begegnete, rater oder als Minister. Entsprechend groß
nommen. Eigentlich war er damit betraut, umarmte, küsste, anfasste. sei das Misstrauen ihnen gegenüber. Alles
für die Partei, und damit für Macron, die Auf diese Weise entstand ein merkwür- neu erschaffen zu wollen, alles anders zu
Europawahlen vorzubereiten. Keine völlig diges Bild, das prompt als Meme im Inter- machen als die Vorgänger ist eben nicht
unbedeutende Aufgabe. net um die Welt ging: Auf dem Foto legt nur von Vorteil bei den Wählern.
Christophe Castaner, 52, ist so etwas wie Macron den Arm um den nackten Ober- Zu Recht weist Rouban darauf hin, dass
die Allzweckwaffe Emmanuel Macrons. körper eines muskulösen Mannes. Nur be- das alte Lagerdenken, die Einteilung in
Was ihm bei seiner Aufgabe als »oberster merkte weder er noch jemand aus seiner rechts und links, die Frankreich jahrzehnte-
Polizist« des Landes helfen dürfte, ist seine
große Nähe zum Präsidenten, den er duzen
darf. Seine Beziehung zu Macron erreiche
durchaus eine »Dimension der Verliebt-
heit« erklärte er einmal. Ein Satz, den Cas-
taner auch wiederholt, wenn es sein muss.
Die großartige Verlegerin Françoise
Nyssen hingegen verließ das Kulturminis-
terium mit bitteren Worten. Sie sei auf die-
se Rolle nicht vorbereitet gewesen: »Die
Gewalt und Brutalität des Politbetriebs
sind schwer zu ertragen.«
Zwei Wochen hatte es gedauert von der
Ankündigung der Regierungsumbildung
bis zu ihrer Umsetzung, so lange wie noch
nie. Und wer auf spektakuläre Neubeset-
zungen gewartet hatte, wurde enttäuscht.
Was folgte, war allenfalls eine pragmati-
sche Neuaufstellung, der Emmanuel Ma-
THIBAULT CAMUS / AP
cron am Dienstagabend zur Hauptnach-
richtenzeit eine betont nüchterne Erklä-
rung folgen ließ. Da saß er in seinem Büro
im Élysée, eher schlecht ausgeleuchtet hin-
ter einem Marmortisch, vor ihm seine Vertrauter Castaner (M.): Allzweckwaffe des Staatschefs
handschriftlich korrigierte Erklärung, von
der er, sonst Meister der Inszenierung,
nachrichtensprecherhaft ablas. In Berlin Entourage, dass dieser Mann dabei seinen lang prägte, nicht plötzlich, von einem Tag
würde man sagen: Macron will zurück zu Mittelfinger in die Kamera hielt. auf den anderen, verschwunden sei. Er
den Sachthemen. Prompt prasselte jede Menge Häme auf glaubt, den Franzosen liege der manager-
Seine Ansprache eröffnete der Präsident Macron nieder, sodass er vor Vertrauten hafte Stil Macrons nicht, auch deshalb, weil
mit den Worten: Er wolle den »direkten die Fassung verloren und gesagt haben soll: der so verwirrend autoritär daherkomme.
Kontakt« zu den Franzosen. Macron hat »Manchmal hab ich es so satt, nichts funk- Sein größter Fehler allerdings beruht für
verstanden, dass er zuletzt vor allem als tioniert mehr.« Rouban auf einer falschen Grundannahme:
abgehoben und arrogant wahrgenommen Derjenige, über den der Schriftsteller Em- Anders als Macron glaube, gehe es einem
wurde. »In den vergangenen Monaten war manuel Carrère einmal schrieb, er vermöge Großteil seiner Wähler nicht um mehr
der Sinn meines Handelns vielleicht nicht sogar »einen Stuhl zu verführen«, scheint Eigenverantwortung. Die Franzosen woll-
immer klar erkennbar«, fuhr er fort. Man- zunehmend irritiert von dem Tief, in dem ten vor Armut und vor Gefahren wie dem
che Menschen habe er wohl durch seine er seit Wochen steckt. Spricht man mit Terrorismus, aber auch vor dem Verlust
»Direktheit« und seine »Entschlossenheit« jenen, die ihn umgeben, erzählen sie, dass des eigenen Lebensstandards geschützt
verstört. In diesen Worten liegt eine feine er jetzt manchmal müde wirke oder unauf- werden.
Note »mea culpa«, kalkulierte Demut, eine merksam sei. Die Schuld für seine derzeitige Der sogenannte Macronismus, folgert
Neuerung der vergangenen Wochen. Situation sieht er mal bei den anderen, mal Rouban daraus recht grausam, sei deshalb
Geholfen hat es bisher wenig. bei sich selbst: »Sie gönnen uns keinen Er- nichts anderes als eine »politische Schi-
Es war kein guter Sommer für Emma- folg!«, heißt es dann. Aber natürlich merkt märe«. Julia Amalia Heyer
nuel Macron. Auf die sogenannte Benalla- Macron, dass er das große Versprechen sei-
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Sport
Das Gesäß der Opfer mit Drahtbürsten malträtiert und anschließend mit Schuhcreme eingerieben. ‣ S. 110
9. Januar, Malta 14. Februar, Spanien 19. Februar, Brasilien 1. März, Griechenland
Die Uefa sperrt zwei Die Staatsanwaltschaft fordert Haftstrafen Der ehemalige Bayern-Profi Douglas 58 Fußballfunktionäre, Schiedsrichter
U-21-Spieler wegen für 36 aktive und ehemalige Spieler der Costa gesteht, mit seinem Klub Grêmio und ehemalige Spieler werden zu mehr-
erwiesener Spielmani- ersten und zweiten Liga wegen einer mut- Porto Alegre 2009 ein Spiel im Meister- jährigen Haftstrafen wegen Spiel- und
pulation lebenslang. maßlichen Manipulationsaffäre. schaftsfinale manipuliert zu haben. Wettmanipulation verurteilt.
23. Juli, Italien 22. Mai, Ukraine 17. Mai, Serbien 29. März, Albanien
Parma Calcio darf trotz Landesweite Razzia Ein Schiedsrichter der ersten Die Uefa schließt den Serienmeister
des Vorwurfs der Spiel- wegen mutmaßlicher Liga wird wegen des Verdachts Skënderbeu Korça wegen Wettmani-
manipulation in die Spielmanipulation in der Spielmanipulation in Unter- pulation für zehn Jahre von allen
Serie A zurückkehren. den vier obersten Ligen. suchungshaft genommen. europäischen Wettbewerben aus.
Korruptionsexperten und Ermittler warnen seit Jahren vor Spitzenfußball. Es gibt Verdachtsfälle in den obersten Ligen
der Unterwanderung des Fußballs durch die Wettmafia, die mit in Spanien, Italien und Griechenland. Erst kürzlich kam es
manipulierten Spielen Millionensummen kassiert. Galten lange in Belgien zu Verhaftungen und Hausdurchsuchungen bei
Zeit vor allem unterklassige Ligen als besonders anfällig für Vertretern etlicher Profiklubs, die sich an Spielmanipulationen
Betrügereien, operieren die Kriminellen zunehmend auch im beteiligt haben sollen.
gegen Milan wussten wir: Wenn wir mund, der jetzt am Ende seiner Karriere gemütliche Veranstaltung. Sehr distinguiert.
nicht voll da sind, dann gehen wir zwei- für uns noch einmal international spielt, Nur wenige Vereine haben eine echte Fan-
stellig unter. Im Mannschaftsbus auf der aber auch sieben Jungs, die nicht vom szene. Schmähgesänge und Choreografien
Fahrt ins Stadion hat keiner ein Wort Kicken leben, sondern in der Woche ganz wie in Deutschland sind sehr selten.
gesagt. Man konnte die Anspannung grei- normal arbeiten gehen müssen. SPIEGEL: Holen Sie sich eigentlich Tipps
fen. Gespenstisch! von Ihrem Vater Klaus für die nächsten
SPIEGEL: Ihr Team verlor knapp 0:1. internationalen Spiele? Er stand als
Toppmöller: Wahnsinn, oder? Ich war Trainer 2002 mit Bayer Leverkusen sensa-
so stolz. tionell im Champions-League-Finale.
SPIEGEL: Sind Sie der größte Außenseiter Toppmöller: Er will mich zwar beraten.
GERRY SCHMIT / IMAGO SPORT
aller Zeiten? Das ist sicher auch gut gemeint. Aber ich
Toppmöller: So ganz überraschend sage ihm immer wieder: Ich treffe meine
kommt unsere Europapokalteilnahme ja Entscheidungen selbst. Ich kann aus dem
auch wieder nicht. Wir sind der FC Bay- Training heraus viel besser einschätzen,
ern Luxemburgs und spielen jedes Jahr was der richtige Weg für die Mannschaft
in den Play-offs zur Champions League. ist. Wir sind auch grundverschiedene
In den vergangenen Jahren sind wir jedes Typen. In seine Fußstapfen trete ich also
Mal unglücklich gescheitert. Daraus ist Europa-League-Spiel Düdelingen–Mailand nicht. JDO
D
ie Frau ist zierlich und trägt ihr essen gegangen, habe sie so lange im Hotel- bronze im Abfahrtslauf um 21 Hundertstel.
lockiges Haar lang. Im Wiener zimmer eingesperrt und nach seiner Rück- Als Tochter des Verbandstrainers Ernst
Bezirk Brigittenau, unweit der kehr vergewaltigt: »Dann kam Karl Kahr Spieß und der Olympiamedaillengewinne-
Donau, sitzt sie an einem Holz- dazu, befahl mir, mich anzuziehen, und rin Erika Mahringer wuchs sie mit dem
tisch beim Kaffee und erzählt von dem notierte sich meinen Namen samt Adresse; Hochleistungssport auf zwei Brettern auf.
Mann, der ihre Jugend zerstört habe. anschließend ließ er mich heimfahren.« Sie selbst sagt es so: »Ich bin quasi schon
»Toni Sailer«, sagt sie, »war ein National- So will sich Fuchs erinnern. Kahr be- als Ungeborene Ski gefahren.«
held, für meine Eltern und für mich – über streitet, dass es diesen Vorfall je gab. Er Als Werdenigg im November 2017 im
ihn wurde zu Hause nur in den höchsten könne ihn deshalb nicht kommentieren, Zuge der #MeToo-Kampagne öffentlich
Tönen gesprochen; ich war 14, schüchtern so schreibt sein Anwalt dem SPIEGEL. macht, sie sei in den Siebzigern von einem
und naiv, als er mich im Hotel Bon Alpina Kahr, mittlerweile 86, ist eine Trainer- Teamkollegen vergewaltigt worden, bricht
in Innsbruck-Igls vergewaltigt hat.« legende im Land. Moser-Pröll, die als 15- in Österreich Unerwartetes los: eine öf-
Sailer, genannt »der Blitz von Kitz«: Jährige nach Aussage ihrer damaligen Zim- fentliche Diskussion über den Leistungs-
drei Goldmedaillen bei Olympia in Cortina mergenossin angeblich berichtet haben druck im Nationalsport Ski alpin, über All-
d’Ampezzo 1956, sieben Weltmeistertitel, soll, von Kahr vergewaltigt worden zu sein, machtsgefühle bei Trainern und Betreuern
Österreichs »Sportler des Jahrhunderts«. gilt als beste Skiläuferin des 20. Jahrhun- sowie über das Martyrium Minderjähriger.
Ihm gelang, was auch den Fußball-»Hel- derts überhaupt. Und Sailer, verstorben Binnen weniger Monate melden sich bei
den von Bern« im Namen von Nachkriegs- 2009, war das Idol einer ganzen Nation. Werdenigg Dutzende Betroffene.
deutschland glückte: einem in Trümmern Wer ermessen will, welchen Schock die Unter dem Schlagwort WeTogether
liegenden Land wieder Grund zum Stolz aktuelle Affäre samt ihrer haarsträuben- gründet die Tirolerin eine Anlaufstelle für
zu geben. Sailer holte Olympiagold, drei den Einzelheiten für die skisportverrück- Missbrauchsopfer. »Für viele bin ich mitt-
Monate nachdem der letzte Besatzungs- ten Österreicher bedeutet, stelle sich vor, lerweile so etwas wie eine große Schwester,
soldat Österreich verlassen hatte. in Deutschland sähen sich Franz Becken- manche rufen mich jede Woche an, darun-
Die Frau, die hier Franziska Fuchs hei- bauer, Michael Schumacher und Steffi ter sind immer wieder auch Männer – die
ßen soll, spricht zum ersten Mal öffentlich Graf gleichzeitig dem Vorwurf ausgesetzt, tragen meist viel schwerer als die Frauen
über das, was nach ihrer Erinnerung am schwerwiegende Sexualdelikte entweder an dem, was sie erlebt haben.« Missbrauch
26. Januar 1975 in Innsbruck passiert sei. verübt oder verschwiegen zu haben. im Sport sei »kein rein österreichisches
Sie sagt, sie sei bereit, ihre Aussage bei der Lügt Moser-Pröll, wenn sie sagt, Kahr Phänomen«, sagt Werdenigg, »aber nur
Staatsanwaltschaft zu hinterlegen und als sei nicht ihr »Entjungferer« gewesen und bei uns ist es so, dass der Skisport das na-
Beweismittel in einem Verfahren, das zwei sie habe dergleichen auch nie gebeichtet? tionale Bewusstsein bestimmt – entspre-
andere österreichische Sportlegenden be- Lügt Kahr, wenn er sagt, er sei sein ganzes chend intensiv ist die Verflechtung von
trifft: den ehemaligen Erfolgstrainer Karl Trainerleben lang keiner Athletin zu nahe Sport, Politik, Medien und Wirtschaft.«
Kahr, Spitzname »Downhill-Charly«, als getreten – obwohl zwei eidesstattliche Er- Angeführt wird der Österreichische Ski-
Kläger; und die Weltklasseläuferin Anne- klärungen von Rennläuferinnen vorliegen, verband (ÖSV) seit 28 Jahren vom Tau-
marie Moser-Pröll als Zeugin. in denen von Vergewaltigung die Rede ist? sendsassa Peter »Schröcksi« Schröcks-
Kahr verklagt derzeit vor dem Bezirks- Und was ist mit Toni Sailer, der sich nicht nadel, einem Unternehmer, der sich selbst
gericht in Bludenz eine frühere Rennläu- mehr selbst rechtfertigen kann – mit ihm, als »patentierten Schwarzen« bezeichnet,
ferin wegen Verleumdung – sie hatte ihn dem der Rivale Jean-Claude Killy noch als Parteigänger der konservativen ÖVP.
massiver sexueller Übergriffe bezichtigt, am Sarg nachrief, er sei »auch menschlich Und die Kommission zur Untersuchung
auch unter Berufung auf angebliche frühe- ein ganz Großer, ja der Größte« gewesen? der Missbrauchsvorwürfe leitete die ehe-
re Aussagen der damals noch minderjäh- Franziska Fuchs sagt, nach ihrer Verge- malige steirische Regierungschefin Wal-
rigen, unverheirateten Annemarie Pröll. waltigung durch Sailer habe sie ihr Inners- traud Klasnic, ÖVP.
Kahr, unterstützt von Moser-Pröll, bestrei- tes gepanzert und sich von der Restwelt Die Nähe der Politik zum Skisport hat
tet die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Die abgewandt. Mit 17 wurde ihr aufgrund kie- Tradition. Als Toni Sailer, wie vom »Stern«
zusätzliche Aussage von Franziska Fuchs selgroßer Steine die Gallenblase entfernt, aufgedeckt, 1974 im polnischen Zakopane
könnte bei der Beweisaufnahme ins Ge- es folgte jahrelange Magersucht. Erst seit- wegen »Notzucht« mit einer Prostituierten
wicht fallen: Sie sagt dem SPIEGEL, Kahr dem sie über das, was damals geschehen verhaftet wurde, ließ Österreichs Regie-
sei am Tag ihrer Vergewaltigung in Inns- sei, sprechen könne, seitdem sie das Ge- rung nichts unversucht, den Nationalhel-
bruck dabei gewesen. fühl habe, mit ihrer Demütigung »nicht den herauszuboxen. Neu aufgetauchte Do-
»Unter dem Vorwand, mir als Fan eine mehr allein« zu sein, sagt Fuchs, gehe es kumente zeigen, dass damals auf Weisung
Autogrammkarte schenken zu wollen, hat ihr besser. Sie verdanke das alles Nicola des späteren Bundespräsidenten Rudolf
mich Toni Sailer in sein Zimmer gelockt«, Werdenigg. Kirchschläger »mit großem Nachdruck« in
erinnert sich Fuchs: »Dort schubste er Die Frau, die das Erdbeben in der öster- Polen interveniert wurde, um die Causa
mich aufs Bett und versuchte, in mich ein- reichischen Wintersportlandschaft ausge- spurlos zu bereinigen. Ein abschreckendes
zudringen« – anfangs ohne Erfolg. Sailer löst hat, war selbst Rennläuferin: Werde- Lehrstück? Keineswegs, urteilt Österreichs
sei dann erst einmal in aller Seelenruhe nigg verpasste 1976 in Innsbruck Olympia- aktueller Vizekanzler Heinz-Christian
VOTAVA / IMAGNO
Jahrhundertsportlerin Moser-Pröll 1978: »Und am nächsten Tag hat s’ uns paniert«
AKG-IMAGES / VOTAVA / IMAGNO
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Sport
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Dies aber, so die Staatsanwälte in ihrer Die Spur des Geldes beginnt Ende
Absurde im Mai vorgelegten Anklageschrift, sei
keine Betriebsausgabe. Der wahre Zweck
Mai 2002 in Österreich, bei der Raiff-
eisenbank in Kitzbühel. Beckenbauer
der Überweisung sei vielmehr eine Ent- überweist knapp 2 Millionen Franken, die
These lohnung Beckenbauers für seine formal
ehrenamtliche Arbeit als Chef des WM-
er sich bei der Raiffeisenbank geliehen
hat, auf das Konto eines Schweizer Rechts-
OK gewesen. anwalts. Von dort fließt das Geld nach
Justiz Das Landgericht Frankfurt Für die Richter des Frankfurter Landge- Katar, zum damaligen Fifa-Funktionär
hat die Anklage gegen Ex-DFB- richts war dies eine Steilvorlage, um die Mohamed Bin Hammam, seit 2011 wegen
Funktionäre in der Sommer- Anklage abzulehnen. Sie watschten die Korruption lebenslang für alle Fifa-Ämter
Staatsanwaltschaft mit einer Lektion in gesperrt.
märchen-Affäre abgelehnt. Eine Sachen Steuerrecht ab: Auch eine Ent- Nur 13 Tage später wandern weitere
Blamage für die Ermittler. lohnung Beckenbauers sei als Betriebsaus- 1,5 Millionen Franken auf dem gleichen
gabe anzusehen. Für die steuerliche Ab- Weg in den Orient. Geliehen, wie die
setzbarkeit einer Zahlung sei allein ent- 1,55 Millionen, die zwölf Tage später nach
as Arbeitsprinzip des Sportjourna- scheidend, ob die Zahlung objektiv mit Katar fließen. Eine weitere Million geht
D listen Alfred Draxler ist das eines
Unterziehleibchens: Keiner klebt so
eng am Deutschen Fußball-Bund wie der
dem Geschäftsbetrieb des WM-OK zusam-
menhänge. Im Klartext: Ob dabei getrickst
und gelogen wurde, ist juristisch egal.
am 2. Juli 2002 auf die Reise – macht ins-
gesamt 6 Millionen Franken von 10 Mil-
lionen, die der Katarer fordert. Becken-
Chefkolumnist der »Bild«, keiner umgarnt Ein Eigentor, zum Haareraufen dane- bauer verkauft Ende Juli sogar Aktien, um
die großen Namen so hautfreundlich wie ben. Denn wie die Staatsanwälte ange- weiterhin flüssig zu bleiben. Erst am
Draxler. sichts der Aktenlage darauf kamen, die 20. August kommt Kreditgeber Louis-
Das war schon so, als er 2015 den Ver- 6,7 Millionen Euro seien eine Entlohnung Dreyfus ins Spiel und überweist 10 Millio-
band nach einer angeblichen »Intensiv-
Recherche« in Schutz nahm. Nein, das
Sommermärchen, die deutsche WM 2006,
sei nicht gekauft gewesen, schrieb er in
einer Kolumne. Was der Leser damals
nicht erfuhr: dass Draxler seinen Artikel
zuvor noch dem amtierenden DFB-Präsi-
denten Wolfgang Niersbach zum Gegen-
lesen geschickt hatte, mit der devoten Be-
treffzeile »Ich kann noch alles ändern.«
Genauso ging das Stück vorab auch an
Elvira Netzer, Ehefrau von Altstar Günter
Netzer, der ebenfalls in jenen dubiosen
Wissenschaft+Technik
»Die Gallier hatten die abgeschlagenen Köpfe diverser Feinde recht hübsch in Szene gesetzt.« ‣ S. 126
Fußnote
3 Millionen
Jahre würde die Natur wohl mindes-
tens benötigen, um einigermaßen zu
reparieren, was in erster Linie der
Mensch kaputt macht: Konkret geht es
um den Verlust biologischer Diversität
bei Säugetieren. Wie Forscher aus
Dänemark und Schweden berechneten,
brauchte es einen so langen Evolutions-
zeitraum, um die Folgen des Massen-
aussterbens zu kompensieren und
eine vergleichbare Vielfalt an Abstam-
mungslinien wiederherzustellen.
Verhaltensforschung
Mehr Sex für Softies
G Gorillamännchen, die beim Kinder-
hüten helfen, haben bessere Chancen
auf Sex und Fortpflanzung. Das fanden
Forscher der Northwestern University
in Illinois bei der Beobachtung von drei
Berggorillagruppen in Ruanda heraus.
Anders als angenommen ließen sich die
Weibchen weniger von Muskeln und
martialischem Auftreten begeistern als
vom Anblick eines kinderlieben Männ-
chens, das sich regelmäßig um den
eigenen oder fremden Nachwuchs küm-
mert. Tatsächlich hätten diejenigen
Gorillas, die eine intensive Bindung
zum Gruppennachwuchs aufbauen
konnten, mehr Reproduktionschancen
als ihre Konkurrenten – und zwar
unabhängig vom Gruppenrang. Warum
das so ist, lasse sich bisher nicht beant-
worten, teilen die Biologen mit. Sie
SIMON TOWNSLEY
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Kommentar
Anspruchslos?
Hobbyarchäologen, die wertvolle Entdeckungen machen, sollten einen angemessenen Finderlohn erhalten.
Bei Grabungsarbeiten im eigenen Garten stößt man eher auf dem Landwirt 48 000 Euro; nun kämpft er auf Grundlage eines
widerspenstiges Wurzelwerk als auf archäologische Kostbarkei- Gutachtens für eine siebzehnfach so hohe Zahlung. Verliert
ten. Ganz ausgeschlossen sind Schatzfunde aber nicht. Heraus- er, könnte er sich damit trösten, dass er heute wohl noch viel
ragend ist der Fall jenes vergoldeten Pferdekopfes, der ab weniger bekäme als 48 000 Euro.
Anfang November auf der spektakulären Archäologieschau Wie in allen anderen Bundesländern (außer in Bayern) wurde
»Bewegte Zeiten« in Berlin präsentiert wird. in Hessen mittlerweile das »Schatzregal« eingeführt, nach dem
Der Landwirt, auf dessen Grundstück im hessischen Waldgir- alles, was im Boden steckt und von wissenschaftlichem Wert ist,
mes das Objekt entdeckt wurde, kämpft seit Jahren für eine ange- komplett dem Bundesland gehört. Hobbyschatzsucher, die ohne
messene Belohnung; doch das Land will diese nicht zahlen. Nun Erlaubnis suchen und Funde nicht melden, machen sich daher
wird der Fall vorm Oberlandesgericht Frankfurt am Main verhan- strafbar. Das ist richtig und wichtig so; denn es dient dem Zweck,
delt und wirft ein Schlaglicht auf eine Frage, über die seit Langem der Raubgräberplage Einhalt zu gebieten und illegalen Handel
erbittert gestritten wird: Sollten Privatpersonen, die auf wissen- möglichst zu unterbinden.
schaftlich wertvolle Fundstücke stoßen, angemessen profitieren? Allerdings führt das Schatzregal dazu, dass die Behörden bei
Der Bauer kann froh sein, dass der Pferdekopf, der wohl zu Finderlöhnen meist äußerst zurückhaltend sind und Entdecker
einem 2000 Jahre alten Reiterstandbild von Kaiser Augustus mancherorts Anspruch auf rein gar nichts haben. Dabei wären
gehörte, bereits 2009 ans Tageslicht kam. Damals galt im Land angemessene Zahlungen eine zusätzliche Motivation für Sonden-
noch das Prinzip der »Hadrianischen Teilung«, nach der Ent- gänger und Hobbyarchäologen, fleißig und sorgfältig weiterzu-
decker oder Grundstückseigner Anspruch auf die Hälfte des suchen – und ihre Entdeckungen auch zu melden. Fest steht, dass
Artefaktwerts haben. So wird nicht darüber gestritten, ob ge- noch viele Spitzenartefakte im Boden stecken. Berufsarchäo-
zahlt wird, sondern nur, in welcher Höhe. Das Land überwies logen werden sie allein nicht finden können. Guido Kleinhubbert
Das Gen-Orakel
Medizin Jahrelang suchten Forscher im Erbgut vergebens nach den Ursachen der großen
Volkskrankheiten. Nun endlich melden sie Erfolge: Dank Auswertung Hunderttausender
DNA-Tests gelingt es immer besser, das gesundheitliche Schicksal von Menschen vorherzusagen.
D
ieser Mann war anders als andere puterhilfe, statistische Wahrscheinlichkeits- und seine Kollegen. Sie stellten dabei fest:
Männer. Nie zuvor hatte John aussagen zu treffen, wie groß, wie klug Bei denjenigen Patienten, die einen Herz-
Kauwe einen Menschen gesehen, oder wie gesund der Träger eines bestimm- infarkt erlitten hatten, war der polygene
der selbst in den großzügig be- ten Genoms vermutlich sein mag. Risikowert im Vergleich zu anderen Pa-
messenen Sitzen der First Class seine Bei- Sekar Kathiresan hat die Kunst der ge- tienten im Schnitt tatsächlich auf das Vier-
ne so jämmerlich zusammenfalten musste. netischen Kaffeesatzleserei weit vorange- fache erhöht.
Kauwe kam mit dem Riesen neben ihm trieben. Der Kardiologe vom Massachu- Es setzt sich damit jetzt eine Form der
ins Gespräch. Er hatte Shawn Bradley vor setts General Hospital hat in »Nature Ge- Genetik durch, die sich maßgeblich unter-
sich, der vor rund 20 Jahren als einer netics« sogenannte polygene Risikowerte scheidet von dem, was in den Schulen ge-
der größten Spieler der Basketballliga für fünf häufige Krankheiten vorgestellt. lehrt wird. Seit vielen Jahrzehnten lernen
NBA für Furore gesorgt hatte. Bradley wie- Schon im Kindesalter kann er demnach die Schüler dort, mit dominanten und re-
derum war erfreut, als sich sein Sitznach- am Erbgut ablesen, wie wahrscheinlich es zessiven Merkmalen zu hantieren und mit
bar als Genetiker vorstellte. Ob Kauwe ist, dass ein Mensch dereinst einmal an Stammbäumen, die aus Quadraten und
denn das Geheimnis seines Riesenwuchses Diabetes Typ 2, an Arteriosklerose der Kreisen bestehen.
(2,29 Meter) lüften könne, fragte er. Herzkranzgefäße, an Brustkrebs, chro- Als im Jahr 2000 die Entzifferung des
Aus der Flugzeugbekanntschaft wurde nisch entzündlicher Darmerkrankung oder menschlichen Genoms verkündet wurde,
ein Forschungsprojekt. Inzwischen hat an Vorhofflimmern leiden wird. da schien es, als erlebten diese mendel-
Kauwe veröffentlicht, was dabei heraus- »Bald wird der Begriff ›polygenes Risi- schen Vererbungsregeln ihren ultimati-
gekommen ist: Das vermeintliche Geheim- ko‹ so geläufig sein wie heute der Begriff ven Triumph. Die Grundlage für ein ge-
nis gibt es gar nicht. In Bradleys Erbgut ›Cholesterin‹«, prophezeit Kathiresan. In netisches Verständnis des Menschen sei
findet sich keine Spur eines Goliathgens. der Medizin der Zukunft werde die Prä- gelegt; nun werde es nur noch 10, höchs-
Seine Erbanlagen sind normal, außerge- tens 15 Jahre dauern, bis der Schlüssel
wöhnlich ist nur deren Mischung. Kauwe zur Behandlung großer Volksleiden wie
und seine Kollegen wiesen viele Hundert Die genetische Alzheimer und Diabetes gefunden sei, ver-
genetische Varianten nach, von denen jede Wirklichkeit hat mit sprach Francis Collins, seinerzeit Leiter
Bradley ein klein wenig weiter aufschießen des »Human Genome Project«. Bei Dia-
ließ. Zusammengenommen machten sie den mendelschen betes Typ 2 zum Beispiel vermutete er,
ihn übergroß. Regeln wenig zu tun. dass nur rund ein Dutzend Gene am Werk
Botschaften wie jene, die der Genfor- seien, die man nun im Handumdrehen
scher Kauwe im Erbgut des Basketballers dingfest machen werde.
fand, begegnen seinen Kollegen derzeit vention im Mittelpunkt stehen, das Errech- Zehn Jahre später war Ernüchterung
allerorten: Sie stellen fest, dass es nicht nen von Krankheitsrisiken bekomme da eingekehrt. Der medizinische Nutzen des
einzelne Genvarianten gibt, die uns ag- zentrale Bedeutung. Genomprojekts sei »fast gleich null«, sagte
gressiv oder trübsinnig machen. Die viel In einer Klinik für präventive Herz- im SPIEGEL-Gespräch (26/2010) der nie
beschworenen Intelligenz- oder Schwu- medizin behandelt Kathiresan Menschen, um drastische Formulierungen verlegene
lengene: nichts als Phantome. Und auch die, oft geschockt vom unvermittelten Genforscher Craig Venter, der selbst eine
für Herzinfarkt, Demenz oder Schizo- Herztod naher Verwandter, nach Erklä- der Schlüsselfiguren der Genomentziffe-
phrenie sind nicht bestimmte Erbanlagen rungen suchen für den Schicksalsschlag. rung gewesen war. »Jedermann hat erwar-
verantwortlich. »Bisher beruht unsere Anamnese auf drei tet, im Erbgut wundersame Ja-Nein-Ant-
Die Erklärung: Gene wirken nicht ein- Säulen«, sagt Kathiresan. »Erstens: Wir worten zu finden: ›Ja, Sie werden Krebs
zeln, sie stehen in komplexem Wechsel- befragen die Leute nach ihren Gewohn- kriegen‹ oder ›Nein, Sie werden keinen
spiel miteinander. Jedes unserer Merkmale heiten – also ob sie rauchen, was sie essen Krebs kriegen‹. Aber so einfach ist es eben
wird von Hunderten oder gar Tausenden oder wie viel sie sich bewegen. Zweitens: nicht«, sagte er.
Varianten im Erbgut bestimmt, und umge- Wir bestimmen ihre Blutfettwerte. Und Denn die genetische Wirklichkeit hat
kehrt hat jedes Gen seinen Anteil an Hun- drittens: Wir machen klinische Unter- mit den mendelschen Regeln wenig zu
derten unserer Eigenschaften. suchungen, mit EKG zum Beispiel, mit tun. »Die sind in den meisten Fällen bloße
Doch so verworren dieses Dickicht auch Angiografie oder mit Ultraschall.« Nun Labor-Artefakte«, konstatiert der Gen-
scheinen mag: Inzwischen beginnen For- aber sei die Zeit reif, eine vierte Säule ins forscher Steven McCarroll von der Har-
scher vorzudringen ins genetische Wir- Gebäude der Medizin einzuziehen: die vard-Universität. »Aber Mendel steckt
kungsgeflecht. Zwar verstehen sie die Rol- polygenen Risikowerte. eben tief in den Köpfen.«
le all der zahllosen Gene und ihrer Vari- Ein Abgleich mit Patientendaten in Sehr viele Erkenntnisse seines Fachs
anten nicht, dazu sind deren Regelkreise zwei Bostoner Krankenhäusern gibt ein beruhten auf Experimenten mit Labor-
viel zu verwirrend. Doch auch ohne ein Gefühl für den Vorhersagewert: 20 000 mäusen, erklärt McCarroll. Die aber seien
wirkliches Verständnis gelingt es mit Com- Krankenakten durchforsteten Kathiresan durch langjährige Inzucht genetisch bei-
WELLCOME IMAGES
Lagerroboter mit DNA-Proben in der »UK Biobank«: Woran liegt es, dass wir uns grundlos elend fühlen?
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Wissenschaft
Genomweite Assoziationsstudien Bei polygenen Krankheiten ist der Einfluss einzelner Gene meist sehr
gering. Unterschiede zwischen Krankheits- und Kontrollgruppe werden
deshalb erst sichtbar, wenn in den GWAS die Daten besonders vieler
Probanden (typischerweise Hunderttausende) miteinander verglichen
werden.
Monogene Erbkrankheiten werden durch den Defekt ein-
zelner Gene verursacht. Tausende solcher Leiden sind be-
kannt, die meisten treten eher selten auf. Die Vererbung folgt
den mendelschen Regeln.
Polygene Leiden entstehen Für jede Krankheit wird ein sogenanntes Manhattan-Diagramm
im Wechselspiel vieler Gene mit erstellt. Bestimmte Orte im Erbgut stechen darin hervor. Mutationen
Umwelteinflüssen. Sie sind weit- an diesen Stellen sind unter Erkrankten häufiger als in der Kontroll-
verbreitet, wie etwa Diabetes, gruppe.
Arteriosklerose oder Alzheimer.
Da die mendelschen Regeln bei
ihnen nicht anwendbar sind,
wird der Einfluss dieser Gene in
»genomweiten Assoziationsstu-
dien« (GWAS) untersucht.
Dazu prüft man bei Millionen
Genvarianten, wie häufig sie in
einer Gruppe von Patienten
sowie in einer Kontrollgruppe
von Gesunden auftreten.
Anschließend werden die er-
mittelten Werte verglichen. Chromosom 1 2 3 … … Chromosom 22
Abbildung aller Orte des Genoms
nahe identisch. Deshalb ließen sich bei lysen und Befragungen von 1 310 010 Pro- gradig erblich. Aber auch die Haarfarbe,
ihnen Abweichungen von der Norm oft banden sind eingeflossen, 956 Genen wur- die Kraft des Händedrucks und die Vor-
auf die Wirkung einzelner Genmutatio- de ein – wenngleich jeweils sehr geringer – liebe für Weißwein haben Forscher auf
nen zurückführen. In der Natur sei das schädlicher Einfluss auf den Schlaf be- ihre genetischen Anteile hin studiert; und
anders: Eine Mutation finde sich in je- scheinigt. sie haben Manhattan-Diagramme und Ri-
dem Individuum in anderer Umgebung Ärzte und Forscher stehen einer verwir- sikofaktoren von Glatzenbildung, Verein-
wieder. Die Wirkung sei deshalb oft kaum rend komplexen genetischen Landschaft samung und der Wahrscheinlichkeit, sich
vorhersehbar. gegenüber. Ihre Erkenntnisse stellen sie in scheiden zu lassen, ermittelt.
Die Schwierigkeit bestand also nicht Form von »Manhattan-Diagrammen« dar, »Mir gefällt ganz besonders die Studie
darin, das Dutzend der Diabetesgene zu die so heißen, weil diese Schaubilder einer über die Neigung, sich grundlos elend
finden. Das Problem war, dass es diese Skyline ähneln, in der Hunderte Stellen zu fühlen«, meint Benjamin Neale. »Sehr
Gene nicht gab. Anfangs untersuchten im Erbgut wie Wolkenkratzer im Häuser- britisch.«
die Forscher das Erbgut einiger Hundert meer aus dem Rauschen ihrer genetischen Neale hat am Broad-Institut in Cam-
Patienten, fest überzeugt, dass sich darin Nachbarschaft herausragen. bridge bei Boston die Genetik psychiatri-
Auffälligkeiten zeigen müssten, die die Die Genetik ist damit zum Terrain scher Leiden analysiert. Sein Fazit: »Die
Erkrankung erklären könnten. Sie fan- der Big-Data-Wissenschaft geworden. Gene, die dabei eine Rolle spielen, über-
den – nichts. Führend sind die Briten. Sie haben in ih- schneiden sich.« So finden sich typische
Erst als sie die Zahl der Studienteil- rer »UK Biobank« die Krankenakten von Genvarianten Schizophrener oft auch im
nehmer drastisch erhöhten – zunächst auf 500 000 Personen gehortet und mit den Erbgut von Patienten mit Depression oder
Tausende, dann gar auf Zehntausende Daten des Erbguts verkoppelt. Die Ame- bipolarer Störung. »Der Verdacht, dass
Probanden –, wurden Zusammenhänge, rikaner kämpfen zwar noch mit organisa- diese Diagnosen nicht so scharf sind, wie
komplexe Muster, zwischen Mutationen torischen Problemen. Doch wenn diese die Psychiater glauben machen wollen, be-
und Krankheiten sichtbar. Doch die Kor- überwunden sind, dann wollen sie die Bri- stätigt sich«, meint Neale.
relationen in den sogenannten genomwei- ten mit einer Millionen-Probanden-Datei Auch bei anderen Leiden, sagt er, hätten
ten Assoziationsstudien (GWAS) waren namens »All of Us« übertrumpfen. GWAS faszinierende medizinische Einsich-
viel zu schwach, als dass sie als eindeutige So entsteht ein unermesslicher geneti- ten möglich gemacht. Bei Alzheimer zum
Ursache für einzelne Krankheiten hätten scher Datenschatz, in dem Forscher nach Beispiel lenkten sie die Aufmerksamkeit
herhalten können. Zusammenhängen schürfen dürfen. Beson- der Forscher auf bestimmte Immunzellen
Es mehrten sich bereits die Stimmen ders beliebt sind GWAS zur Körpergröße, im Gehirn (»Mikroglia«). Im Fall der Schi-
derer, die aufgeben wollten. Die Hartnä- denn die ist leicht zu messen und hoch- zophrenie nährten sie den Verdacht, dass
ckigen jedoch insistierten. Sie machten die Rückbildung neuronaler Kontaktstel-
sich daran, nun sogar das Erbgut von Hun- len (»Pruning«) eine entscheidende Rolle
derttausenden zu durchforsten. Und end- spielt. Und bei der Darmerkrankung
lich begannen sich plötzlich, verstreut über Sogar die Kraft des Morbus Crohn offenbarten sie die Bedeu-
alle Chromosomen, lauter genetische Ein- Händedrucks und tung der zelleigenen Verdauung (»Auto-
flüsse vom statistischen Rauschen abzuhe- phagie«).
ben. Den Rekord hält derzeit eine GWAS
die Vorliebe für Weißwein Ihren größten Einfluss aber, da sind sich
zu Schlafstörungen: Daten aus DNA-Ana- haben Genforscher studiert. die Experten einig, werden die GWAS in
Das Auto
von morgen
weiß selbst,
wohin es
fahren soll.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Wissenschaft
GRETCHEN ERTL NYT / REDUX / LAIF
der Prävention entfalten. Der Kardiologe zielt Risikoprobanden für ihre Arznei- Kathiresan hält solche Sorgen für über-
Kathiresan will dafür sorgen, dass seine mittelstudien auswählen. trieben. Schließlich hätten die Menschen
Risikowerte in der Klinik möglichst schnell Kathiresan ist überzeugt davon, dass auch gelernt, mit den Risiken umzugehen,
weite Verbreitung finden. Sie zu ermitteln sich die polygenen Risikowerte schon bald die mit einem hohen Blutdruck oder Cho-
werde nicht mehr als 100 Dollar pro Pa- in der klinischen Praxis durchsetzen wer- lesterinwert verbunden sind. Warum, fragt
tient kosten. Wer bereits einen DNA-Test den. Er spricht von einer Zukunft, in er, solle es bei den polygenen Risikowerten
bei 23andMe, Ancestry oder einem ande- der jedes Kind auf ein Dutzend oder anders sein?
ren Erbgutanalyse-Anbieter hat machen mehr Krankheiten hin getestet werden Fragwürdiger scheint ihm der Nutzen
lassen, braucht gar nichts zu zahlen: Die könnte. Das dabei erstellte genetische Risi- der Studien zur Verhaltens- und kogniti-
Datensätze dieser genetischen Dienst- koprofil werde es sein Leben lang beglei- ven Genetik, bei denen meist menschliche
leister reichen aus, um daraus die Risiko- ten. Ärzte könnten darin jederzeit ablesen, Eigenschaften untersucht werden, die kei-
werte zu errechnen. auf die Symptome welcher Krankheiten nerlei Krankheitswert haben. Was nutze
Den Nutzen hält Kathiresan für erheb- sie besonders achten sollten. es, fragt Kathiresan, die genetische Veran-
lich. So wird der Mediziner fortan bei Eine Medizinbranche, die sich nicht nur lagung zur Intelligenz, zur Aggression
Patienten, die sich als besonders infarkt- der Kranken, sondern auch der Gesunden oder zur Vereinsamung zu bestimmen?
gefährdet erweisen, viel früher mit einer bemächtigt; Ärzte, die von der Krippe an Viel Aufmerksamkeit bekam jüngst eine
cholesterinsenkenden Statintherapie be- das Leben regieren: Manch einer mag die- GWAS, die den Einfluss der Gene auf
ginnen können. Studien sprächen dafür, se Vorstellung beklemmend finden – umso den Schulerfolg analysierte. Die Forscher
dass selbst diejenigen davon profitieren, mehr, als noch ungewiss ist, wie hilfreich werteten die Daten von mehr als 1,1 Mil-
die gar keinen erhöhten Cholesterinwert statistische Risikoaussagen für die Men- lionen Probanden aus und spürten am
haben. schen wirklich sind. Werden sie, wenn ein Ende 1271 genetische Varianten im Erbgut
Frauen mit hohem Risikowert für Brust- DNA-Test ihnen eine Veranlagung zu Ar- auf, die gute Schulleistungen zu begünsti-
krebs könnten Ärzte häufigere Mammo- teriosklerose oder Diabetes attestiert, ihre gen scheinen.
grafien empfehlen. Für Menschen mit Lebensweise entsprechend ändern, oder Doch ihr Effekt ist gering. Außerdem
hohem Diabetesrisiko wäre der Befund wird der Befund nur unnötig Ängste schü- ist fraglich, wozu dieses Wissen eigentlich
eines DNA-Tests möglicherweise ein zu- ren? Viele könnten das Ergebnis des Tests dient. Sollten Kinder, denen der Test eine
sätzlicher Ansporn, ihr Körpergewicht als Schicksalsspruch begreifen, obwohl hohe Begabung bescheinigt, besonders
zu kontrollieren. Patienten mit geneti- eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, ein Lei- gefördert werden? Sollten umgekehrt die
scher Neigung zum Vorhofflimmern wie- den zu entwickeln, noch lange nicht heißt, potenziellen Schulversager von vornhe-
derum könnten vorsorglich Blutverdünner dass man wirklich erkrankt. rein Extranachhilfe bekommen?
nehmen. Außerdem birgt die anschwellende Gen- In einer Handreichung zu ihrer Studie
Schwieriger ist es, jene Tests zu begrün- datenflut die Gefahr von Missbrauch. Was, geben die Autoren Lesehilfen. Auf die
den, bei denen das Wissen um ein erhöhtes wenn Krankenkassen, Lebensversicherer Frage, welche politischen Konsequenzen
Risiko nicht weiterhilft. Was zum Beispiel oder Arbeitgeber Zugriff darauf bekom- zu ziehen seien, geben sie darin eine klare
nützt es einem Patienten, wenn der Arzt men? Die Einsicht in die Krankenakten ist Antwort: überhaupt keine.
ihm eröffnet, dass er Gefahr läuft, einen dazu oft gar nicht nötig. Beim genealo- Sie wollen ihre Arbeit als reine Grund-
Morbus Crohn zu entwickeln? Ein Mittel, gischen Dienstleister GEDmatch zum lagenforschung verstanden wissen. Doch
wie sich der Ausbruch der Krankheit ver- Beispiel sind die genetischen Daten der räumen sie ein, dass ihre Studie mögli-
hüten ließe, gibt es bisher nicht. Immerhin, Kunden frei zugänglich. Jedermann könn- cherweise zu Missverständnissen oder gar
sagt Kathiresan, zeige sich die Pharma- te daraus mit der richtigen Software Risiko- Missbrauch einlade. Johann Grolle
industrie interessiert: Die würde gern ge- werte errechnen.
Die Planer
von morgen
haben alle
Details im Blick.
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
Wissenschaft
Bitte teilen scher Seite der Druck auf die Verlage, den
Wandel zu vollziehen. Anfang September
beschlossen elf europäische Forschungs-
organisationen, unterstützt von EU-Kom-
Forschung Wem gehört das mission und Europäischem Forschungsrat,
Wissen der Welt? Eine wachsende ab 2020 nur noch dann Projekte finanziell
zu fördern, wenn deren Ergebnisse frei zu-
Bewegung will erreichen,
gänglich veröffentlicht werden.
dass neue Veröffentlichungen Beim offenen Zugriff geht es indes um
künftig frei zugänglich sind. mehr als Geld. Es geht um das Recht,
am Weltwissen teilzuhaben – und um die
€
Freiheit vor allem junger Forscher, ihre
€
als hundert weitere deutsche Universitäten schaftlichen Journal eingereicht. schen den Zugriff auf die Daten zu ver-
und Forschungseinrichtungen – Ende 2017 sperren.«
die Aboverträge auslaufen lassen. Ein Redakteur gibt die Nachwuchsforscher wie Maik Luu sind
Der Grund: Die Institutionen wollen Arbeit an Fachleute weiter, mit dem Internet aufgewachsen. Sie wis-
sich nicht mehr dem Preisdiktat der wis- die den Text begutachten sen, dass sie sich die meisten Artikel oh-
senschaftlichen Großverlage beugen. Rund (Peer Review). nehin über Piraten-Websites wie »Sci-
100 Millionen Euro zahlten sie bislang all- Hub« beschaffen können, sie glauben an
jährlich vor allem an Marktführer wie Else- Deren Feedback kann zur Ablehnung die Zukunft der offenen Wissenschaft.
vier, Springer Nature oder Wiley. Nur so führen oder zur Verbesserung – bis Längst gibt es Open-Access-Journale, in
dürfen Wissenschaftler auf Veröffentlichun- der Verlag der Veröffentlichung zustimmt. denen sie ihre Arbeiten verbreiten könn-
gen zugreifen, die mithilfe öffentlicher För- ten. Nur: Ihrer Karriere tun sie damit kei-
derung zustande kamen und auch noch nen Gefallen.
von Wissenschaftlern begutachtet wurden, »Selbst wenn ein solches Journal wirk-
die mit Steuergeldern bezahlt werden – lich großartige Papers veröffentlicht«, sagt
das ist der große Unterschied zu normalen Luu, »würde sich jeder Jungwissenschaft-
Verlagen, deren Autoren (und Lektoren) ler, der die Wahl hat, immer für eine eta-
keine staatliche Unterstützung erhalten. blierte Zeitschrift entscheiden.« Denn je
Ist das gerecht? Das System beschert den Traditionell teuer angesehener das Journal, desto besser die
Verlegern Traummargen von rund 30 Pro- Die klassische Veröffentlichung Aussichten auf Fördergeld und Festanstel-
zent. Und die Umsätze steigen weiter: bei über einen Fachverlag lung. »Ohne hochrangige Publikationen
Elsevier etwa um fünf Prozent pro Jahr. hat man kaum Chancen, überhaupt in ein
»Dieses Geschäftsmodell ist überholt«, Der Verlag fordert von allen Bibliotheken Berufungsverfahren zu kommen«, sagt
urteilt Horst Hippler, bis vor Kurzem Prä- und Forschungseinrichtungen, aber auch Thomas Korff, Physiologieprofessor an der
sident der Hochschulrektorenkonferenz von Privatpersonen, die den Artikel lesen Universität Heidelberg.
und gegenwärtig Verhandlungsführer der wollen, Gebühren. Die Währung, mit der sich viele Nach-
€
nisationen im »Projekt Deal«. Hippler und müssen, heißt »Impact Factor«. Die Zahl
seine Mitstreiter wollen die Verlage wei- gibt an, wie häufig Beiträge bestimmter
terhin bezahlen – aber vor der Veröffent- Fachblätter in anderen Forschungsarbeiten
€
lichung, und zwar aus dem Budget der For- zitiert werden – wie wichtig die Erkennt-
scher, die die Artikel verfasst haben. nisse also offensichtlich sind.
Die Berichte wären dann im Netz frei Da der Faktor aber einen Durchschnitts-
abrufbar, für Wissenschaftler und Studie- wert für das jeweilige Journal angibt, sagt
rende, für Hobbyforscher und Patienten, Offen und günstig er wenig über die Qualität einzelner Arti-
in Harvard wie in Harare. Die Verlage hät- »Open Access«-Publikation kel. »Auch hier brauchen wir einen Para-
ten also weiterhin ihr Auskommen: Eine bei einem Fachverlag digmenwechsel«, sagt Reformer Hippler.
Veröffentlichung nach diesem – schon von »Einzelne Veröffentlichungen sollten nach
einigen Fachzeitschriften praktizierten – ihrer Bedeutung beurteilt werden, nicht
»Open Access«-System kostet die Autoren nach dem Journal, in dem sie erscheinen.«
oft einige Tausend Euro. Das sei vielleicht aufwendiger, als sich
€
Mit Springer Nature und Wiley scheint auf Impaktfaktoren zu verlassen. Machbar
nun eine entsprechende Einigung bevor- Die Autoren zahlen vor der Veröffentlichung eine aber sei es: »Die Kollegen müssen die Ar-
zustehen, doch mit Elsevier sind die Ver- Artikelbearbeitungsgebühr. Dafür steht das Werk beiten nur wirklich lesen.« Julia Koch
handlungen ins Stocken geraten. dann allen Interessierten kostenfrei zur Verfügung.
Der Paketdienst
von morgen
liefert innerhalb
von Minuten.
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Das
Wirtschaftswunder
von morgen
ist digital.
Holen wir es nach
Deutschland.
Die Digitalisierung ist das große Thema unserer Zeit, sie beeinflusst
Gesellschaft und Wirtschaft nachhaltig. Nun wird mit dem „Internet of
Things“ das nächste Kapitel aufgeschlagen. Es eröffnet viele neue Chancen,
insbesondere für die deutsche Wirtschaft. Um sie nutzen zu können, muss
die digitale Infrastruktur modernisiert werden – mit flächendeckenden
Glasfaseranschlüssen und mit 5G-Mobilfunknetzen.
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AKG-IMAGES
Wissenschaft haben, mussten jedoch sehr vielen Leuten
missfallen. Mit der Aufforderung, die Lei-
chen der Gegner zu schänden und daraus
ein grausiges Volksspektakel zu machen,
»Geist und Gewalt« hat er die Bürger als Komplizen ins Boot
geholt. Das hat offenbar funktioniert.
SPIEGEL: Waren die Römer der Antike also
Geschichte Der Althistoriker Martin Zimmermann erzählt über die viel barbarischer, als wir heute denken?
Zimmermann: Teils, teils: Einerseits zele-
seltsamsten Orte der Antike: das Klo der Philosophen, brierte man in Rom lustvoll öffentliche Lei-
paradiesische Gärten und die Treppe der geschändeten Leichen. chenschändungen, andererseits erschauder-
te man vor den Ritualen vermeintlich unter-
legener Völker. Am Ende des zweiten Jahr-
Zimmermann, 58, ist Pro- eine ausführliche Schilderung wert. Wozu hunderts vor Christus fielen beispielsweise
fessor für Alte Geschichte die harte Tour? römische Truppen in Südgallien ein und stie-
an der Ludwig-Maximi- Zimmermann: Um zu zeigen, wie fremd ßen dabei auf eine Kultstätte der Kelten.
lians-Universität München. uns die Menschen in der Antike sind. Wir Die Gallier hatten dort die abgeschlagenen
können nicht wirklich verstehen, wie sie Köpfe diverser Feinde recht hübsch in Szene
SPIEGEL: Herr Professor getickt haben. Da steht man heute als Tou- gesetzt. Die römischen Legionäre waren so
Zimmermann, nehmen rist auf dem Forum Romanum, imaginiert entsetzt, dass sie an Ort und Stelle alles nie-
wir an, es gäbe eine Zeitmaschine, die uns sich die wunderbare Architektur der gro- derbrannten. Solche Widersprüchlichkeiten
zurück in die Vergangenheit bringen könn- ßen Marmorbauten von damals herbei – finden wir in der Antike häufiger.
te: Wohin würden Sie reisen? und vergisst völlig, dass nur unweit davon SPIEGEL: Sie meinen die Nähe von Grau-
Zimmermann: Direkt in den Garten in auf dem Weg zum Kapitol eine Treppe ge- samkeit und Grusel?
Eden! Eridu war die Urstadt der Mensch- baut wurde, auf der jeder Bürger Roms Zimmermann: Auch das unmittelbare Ne-
heit im heutigen Südirak, die um 6000 vor Leichen von Regimegegnern auf übelste beneinander von Geist und Gewalt. Neh-
Christus entstanden ist. Heute sehen Sie Weise zurichten durfte. Anschließend wur- men Sie den assyrischen König Assurba-
da nur noch staubige Hügel und eine ver- den die Toten dann mit Fleischerhaken an nipal, der im siebten Jahrhundert vor
trocknete Landschaft. Das hat unter ande- das Tiberufer gezerrt und ins Wasser ge- Christus eine fantastische Bibliothek mit
rem mit Staudämmen und der Politik Sad- worfen. über 25 000 Tontafeln anlegen ließ. Vieles,
dam Husseins zu tun. Früher muss es dort SPIEGEL: Bauen ließ die furchterregende was wir heute über das alte Mesopotamien
eine überwältigende Vegetation gegeben Gemonische Treppe Augustus, der als Frie- wissen, haben uns diese Quellen verraten.
haben, die Vorbild war für die biblische denskaiser galt. Was hat ihn zu diesem un- Nur hatte Assurbanipal auch weniger rei-
Vorstellung vom Paradies. menschlichen Projekt veranlasst? zende Neigungen. Zum Essen traf er sich
SPIEGEL: In Ihrem soeben erschienenen Zimmermann: Augustus war nur der Bau- beispielsweise mit seiner Frau im Garten,
Buch führen Sie die Leser aber auch an herr. Geschändet wurde dort erst unter sei- während vor ihnen an einem Ast der ab-
weniger paradiesische Schauplätze*. In nem Nachfolger und Stiefsohn Tiberius, getrennte Kopf eines Feindes baumelte.
Rom ist Ihnen die Schändung von Leichen und zwar aus Kalkül. Um Gegner leichter SPIEGEL: Sie wollen »Randzonen und Ge-
loswerden zu können, hatte er den Straf- genwelten« der Antike erkunden. Was
* Martin Zimmermann: »Die seltsamsten Orte der
tatbestand der Majestätsbeleidigung noch meinen Sie damit?
Antike. Gespensterhäuser, hängende Gärten und die verschärft. Solche Erlasse, die das Recht Zimmermann: Wenn wir die Menschen
Enden der Welt«. C. H. Beck; 336 Seiten; 22 Euro. zur freien Rede empfindlich beschnitten von damals annähernd verstehen wollen,
126
РЕЛИЗ ПОДГОТОВИЛА ГРУППА "What's News" VK.COM/WSNWS
oder gar abgetrennten Gliedern ins Kran- lor ein Siebenjähriger auf der Ostseeinsel
S
eit mehr als 60 Jahren sind Karius und menschlichen Körper, aber trotzdem nicht rung. Bei den 65- bis 75-Jährigen sind es
Baktus in deutschen Kinderzimmern undurchdringlich. Nimmt der Mensch Nah- durchschnittlich 17,7 Zähne. An dieser Stel-
zu Hause. Die beiden Trolle aus dem rung zu sich, zersetzen Bakterien diese zu le setzt eine Kariesprophylaxe an, die auf
gleichnamigen Kinderbuchklassiker sollen einem Teil im Mund. Dabei entsteht Säure, dem effektiven, zahnverwandten Wirkstoff
dem Nachwuchs das richtige Zähneputzen welche die Zähne angreift und Mineralien Hydroxylapatit basiert. Die Zahnpasta von
näher bringen. Auf eine fast ebenso lange aus dem Zahnschmelz-Gitter herauslöst. Karex nutzt das Mineral, das dem Hauptbe-
Karriere kann auch Fluorid als Wirkstoff in Bakterien können sich an der Zahnoberfläche standteil des natürlichen Zahnschmelzes
Zahnpasta, Mundwasser und Co. zurückbli- ansiedeln, deren Stoffwechselprodukte die nachgebildet ist. Täglich angewendet, unter-
cken. Der Wirkstoff soll Zähne widerstands- Zähne weiter angreifen. Die Folge: Karies. stützt Karex die Regeneration angegriffener
fähiger gegen Kariesbefall machen. Zahn- Stellen im Zahnschmelz und bildet eine
schmelz, das einem Gitter aus Mineralien Schädliche Einflüsse Schutzschicht. Zusätzlich wirkt sie mit Zink
gleicht, ist zwar die härteste Substanz im Dabei fördern verschiedene Faktoren die und Xylit antimikrobiell, sodass Bakterien
Entstehung von Karies. Neben entsprechen- und Zahnbelag deutlich weniger Chancen
den Bakterien spielt die Ernährung eine haben, sich festzusetzen. Damit bietet Karex
GUT GESCHÜTZT wichtige Rolle. Aber auch Mundtrockenheit, einen modernen, wirksamen Kariesschutz
ausgelöst durch eine Vielzahl von Medika- – ohne Fluorid.
Rund 97 Prozent des menten, kann zu einem erhöhten Karies-
Zahnschmelzes und
risiko führen.
70 Prozent des
Dentins bestehen
aus Hydroxylapatit. Ein
Zahnschmelz stärken
Wirkstoff, der in Karex Zahnärzte müssen immer noch häufig zum
enthalten ist und der Bohrer greifen. So haben jüngere Erwachse-
Natur nachempfunden ne zwischen 35 und 44 Jahren laut Fünfter QR Code scannen und im Film
wurde. Deutscher Mundgesundheitsstudie im „Karies vorbeugen“ erfahren,
Quelle: Karex
Schnitt an 11,2 Zähnen eine Karieserfah- wie ein moderner Kariesschutz ohne Fluorid wirkt.
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Kultur
Bei Feine Sahne Fischfilet gibt es keine Rollenprosa. Sie erleben täglich, wovon sie erzählen. ‣ S. 132
KOOL / FILMAGENTINNEN
New York Public Library
Dokumentationen
Lebensmittel Wissen
G Selten zeigte ein Film die Gesichter so vieler Menschen, man erkundet sie mit der Entdeckerfreude eines Pioniers,
die völlig versunken sind. In seiner Dokumentation »Ex der einen neuen Kontinent durchmisst. Er beschreibt die New
Libris: Die Public Library von New York«, die nun in die York Public Library als durch und durch demokratischen
Kinos kommt, will US-Regisseur Frederick Wiseman heraus- Ort, an dem Menschen aus allen sozialen Schichten zusam-
finden, wie Menschen aussehen, wenn sie ganz und gar von menkommen, weil sie das menschliche Grundbedürfnis
Wissbegier erfasst sind. Sein Film ist das packende Porträt nach Wissen stillen wollen. Drei Stunden und 17 Minuten ist
einer der größten öffentlichen Bibliotheken der Welt. Wise- dieser Film lang – nicht eine Sekunde davon ist zu viel. LOB
Glosse
Präsident Trump polterte, er werde sich den Film nicht ansehen. Tatsächlich ist der flaggenschwenkende Patriotismus, der etwa
Kommentatoren warfen dem Weltraumdrama »Aufbruch zum im US-Kino der Achtzigerjahre angesagt war, aus der Mode gekom-
Mond«, das von der Mondlandung im Jahr 1969 erzählt, mangeln- men. Dies hat ökonomische Gründe. Hollywood spielte vor 30 Jah-
den Patriotismus vor. Die Einspielergebnisse des ersten Wochen- ren das Gros seiner Einnahmen in Nordamerika ein. Heute erzielen
endes liegen mit rund 16 Millionen Dollar unter den Erwartungen. die Studios nicht selten drei Viertel des Box Office im Rest der Welt.
Regisseur Damien Chazelle, der für sein Musical »La La Land« Die Stars and Stripes in Großaufnahme lösen in Europa oder China
2017 den Oscar erhielt, machte aus dem Stoff ein mitreißendes selten Euphorie aus. Eher ist mit negativen Emotionen zu rechnen.
Drama. Beim Festival von Venedig wurde er dafür gefeiert. In den Trump wünscht sich, dass alle Amerikaner nur noch US-Pro-
USA wird er attackiert. Warum? Den Moment, als Neil Arm- dukte kaufen und der Rest der Welt es ihnen gleichtut. Wenn
strong die US-Flagge in den Mondsand steckt, zeigt er nicht. Das Filme Helden feiern, die nur in zweiter Linie Amerikaner sind,
Publikum bekommt sie zwar zu sehen, aber nur in einer Totalen. verkaufen sie sich weltweit offenbar besser. Hollywoods Erfolgs-
Ist das unpatriotisch? Oder lakonisch, cool, selbstbewusst? formel lautet: Make America small. Lars-Olav Beier
Internet bizarre Fälle zusammen, in denen Men- Nils Minkmar Zur Zeit
Im Netz der Leidenschaft schen unversehens im digitalen Netz der
lung irritiert und fasziniert immer bekanntlich der CDU angehört. Auch
mehr Künstler; die Berlinerin Jana das hätte ich bis zum Sommer 2015
Schulz etwa widmet sich dem Kör- nicht nur nie getan, sondern glatt ausge-
perkult junger Boxer unter anderem schlossen. Das Gleiche gilt für Aufste-
in den USA und der Türkei (Foto hen um sechs Uhr, Wanderungen und
Mitte); der Brite Ian Wallace zeigt generell die Lust an der persönlichen
Menschen, die sich begegnen und Verspießerung. Ich hätte noch vor weni-
doch verpassen (Foto unten). Zu- gen Jahren lange Listen zum perfekten
gleich ist die Schau so etwas wie ein Tag erstellen können, heute finde ich
vorgezogener Abschiedsgruß des alle Tage super, insbesondere die ohne
COURTESY HAUSER & WIRTH
aus Deutschland stammenden Di- Besuch beim Anwalt oder beim Arzt.
rektors Nicolaus Schafhausen, eine Die Veränderung ist unsere Konstante
Metapher dafür, dass auch er auf im Leben und – ich schließe jetzt nichts
Distanz geht: Schon vor einiger Zeit mehr aus – vielleicht auch danach.
hat er erklärt, dass er sich in Öster-
reich und der dortigen politischen An dieser Stelle schreiben Nils Minkmar und
Landschaft nicht mehr gut aufgeho- Werke der »Antarktika«-Gruppenschau Elke Schmitter im Wechsel.
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Kultur
Der nötige
Zündstoff
Pop Nazis hassen sie, der Verfassungsschutz hat sie
beobachtet – und der Bundespräsident empfahl
ihr Konzert: Die vorpommersche Punkband Feine Sahne
Fischfilet macht linke Volksmusik. Von Arno Frank
C
ampino spielt nicht einfach nur Hosen, unter deren Fittichen sie ihre Qua-
Pingpong. Der Sänger der Toten litäten erst voll entfalten konnten. Die
Hosen spielt Tischtennis. Back- Tournee führte Feine Sahne Fischfilet in
stage steht immer irgendwo eine die Stadien, in die großen Hallen von Dort-
Platte, und der Mann ist oft auf Tournee. mund bis Wien, von Dresden bis Luzern,
Ehrgeizig spielt er, auf Sieg. Tückisch sind von Bayreuth bis hierher, in den tiefsten
besonders seine Aufschläge, aber alle an- Südwesten der Republik, an den Bostalsee
deren Finten beherrscht er auch. Topspin, im Saarland, an diese Tischtennisplatte.
Unterschnitt, Flip, das ganze Programm. Ihr wichtigstes Konzert liegt da keine
Sobald er die Gelegenheit wittert, schmet- zwei Wochen zurück und war das viel-
tert er. Dann wird’s eng. Campino ist der leicht wichtigste kulturelle Ereignis die-
Timo Boll des Punkrock. Weltklasse. ses Jahres überhaupt: »Wir sind mehr« in
Noch weiß er es nicht. Noch hängt er Chemnitz.
sich richtig rein, täuscht, fuchtelt, flucht. Es spielten Kraftklub aus Chemnitz, die
Aber an diesem Nachmittag hat Campino das Festival organisiert und dafür kurzfris-
seinen Meister gefunden. tig einen Freundeskreis aus Gleichgesinn-
Anderer Stil, anderer Typ. Sein Gegner ten mobilisiert hatten. Auf der Bühne stan-
ist fast zwei Meter lang und gut drei Zent- den des Weiteren Feine Sahne Fischfilet,
ner schwer. Ein bärtiger Kaventsmann mit K.I.Z., Trettmann, Marteria und Casper.
ausführlich illustriertem Körper, der sich Nicht fehlen durften die Toten Hosen, de-
nicht einmal bei den langen Bällen wirk- ren moralischer Kompass inzwischen so-
lich langmachen muss. Auf nackten Füßen gar ein wenig präziser ist als der von U2.
ein Schritt nach rechts, ein Schritt nach Es war ein friedliches Fest der Zivilgesell-
links, so retourniert er routiniert noch je- schaft mit 65 000 Teilnehmern, die sich da
den Angriff. Macht sein Ding, verteidigt am 3. September 2018 auf dem Platz bei
ruhig und wartet einfach ab, ein konzen- der Johanniskirche versammelt und ge-
triertes Lächeln im runden Gesicht. feiert hatten, sich selbst, die Vielfalt, die
Das ist Jan Gorkow, 31, genannt Monchi, Stadt. Ein symbolischer Sieg gegen die
Sänger von Feine Sahne Fischfilet. Das Sex- dort zuvor aufmarschierten Rechtsextre-
tett hat in diesem Jahr einen weiteren Hö- men, die bereits Morgenluft getwittert und
hepunkt seiner unwahrscheinlichen Kar- von Chemnitz als Ausgangspunkt einer
riere erreicht. Das Album »Sturm & Dreck« völkischen Revolution fantasiert hatten.
schaffte es auf Platz drei der Charts, und Sie waren weniger. Hälfte an antirassistische Projekte in Sach-
kürzlich sind sie für die Europe Music Es war einer der seltenen Momente, in sen gingen, als zynischen »Tanz auf Grä-
Awards von MTV als »Best German Act« denen Pop und Politik tatsächlich zusam- bern«. Und »Bild«-Chefredakteur Julian
nominiert worden. Gitarrist Christoph Sell, menfallen. Dabei fehlte es nicht am nöti- Reichelt fiel womöglich allzu gern auf rech-
der die meisten Songs schreibt, dämpft sei- gen Zündstoff für eine Explosion. »Wir te Fake News herein. Ein NPD-Funktionär
ne eigenen Erwartungen. Die heimische waren total erleichtert«, erzählt Monchi, hatte ein Foto geteilt, das Monchi ver-
Konkurrenz aus dem Hip-Hop sei »im »dass uns das Ding nicht um die Ohren ge- meintlich beim Hitlergruß zeigt. Reichelt
Internet viel besser vernetzt«, da hätten flogen ist.« verbreitete das Bild und erkundigte sich
Feine Sahne Fischfilet keine Chance. Trotz- Die Größe des moralischen Erfolgs spie- treuherzig bei seinen Followern auf Twit-
dem möglich, dass Monchi, Sell, Kai Irr- gelte sich im Hass der Unterlegenen im ter: »Handelt es sich um eine Fälschung?
gang, Olaf Ney, Jacobus North und Max Meinungskampf – vor allem auf Feine Wer kann helfen?«
Bobzin aus Mecklenburg-Vorpommern Sahne Fischfilet. Helfen konnte 40 Minuten später die
demnächst in Bilbao mit Eminem, Nicky Die AfD deutete die Veranstaltung, die nicht eben linksradikale sächsische Polizei:
Minaj und David Guetta feiern können. mit einer Schweigeminute für das Opfer »Das Foto ist ein Fake!«
Es läuft also. Viel Zirkus um die Gruppe. Daniel H. begonnen hatte und deren Ein- Gediegenere Kritik kam aus dem bür-
Sie spielten im Vorprogramm der Toten nahmen zur Hälfte an dessen Familie, zur gerlich-konservativen Lager. Nachdem
Auftritt von Feine Sahne Fischfilet in Burg bei Magdeburg am 2. September 2017: Kollektiver Abwehrzauber gegen das Böse
Frank-Walter Steinmeier das Konzert kommt. 2009 textete Monchi: »Die Bul- Wenn eine kleine ehemalige Schüler-
auf seiner offiziellen Facebook-Seite be- lenhelme, sie sollen fliegen / Eure Knüppel kapelle von der Ostsee zum Gegenstand
worben hatte, keilte CDU-Generalsekre- kriegt ihr in die Fresse rein«. Vielleicht bundespolitischer Debatten auf höchster
tärin Annegret Kramp-Karrenbauer ge- spielte sie auch darauf an, dass Feine Sah- Ebene wird, dann hat sie jedenfalls die
gen den Bundespräsidenten: »Was wir ne Fischfilet von 2011 bis 2014 im Verfas- Grenzen ihres angestammten Wirkungs-
wollen, ist, unsere Demokratie und un- sungsschutzbericht des Landes Mecklen- bereichs deutlich überschritten.
seren Rechtsstaat gegen rechts zu schüt- burg-Vorpommern erwähnt wurden. Die Monchi kann das gut verstehen. Alles.
zen. Und wenn man das dann mit denen Gruppe lege eine »explizit anti-staatliche Und er dementiert nichts. Gar nichts.
von links tut, die genau in der gleichen Haltung« an den Tag und »versteht sich »Ich bin kein Engel«, sagt er. »Ich habe
Art und Weise auf Polizeibeamte verbal als politischer Zusammenschluss«. total oft Gülle im Kopf. Bis heute.« Es sei
einprügeln, dann halte ich das für mehr Und auf Druck von CDU und AfD wur- für sie damals völlig normal gewesen,
als kritisch.« de am Donnerstag ein Konzert der Band gleichzeitig Die Ärzte mit dem Anti-Nazi-
Damit spielte die Politikerin vielleicht am Bauhaus Dessau abgesagt. »Schwer bis Hit »Schrei nach Liebe« und die rechte
auf frühe Songs an, in denen durchaus nicht nachvollziehbar« nannte der Regie- Band Landser zu hören, »dazu zu kiffen
eine gewisse Skepsis gegenüber dem Ge- rungssprecher von Sachsen-Anhalt die Ein- und abzuhitlern«. Seine Vergangenheit als
waltmonopol des Staates zum Ausdruck ladung. Fan von Hansa Rostock, als Ultra, ist stadt-
und polizeibekannt. Keiner Prügelei und Verlass, dort in der frustrierten und vom mer mehr davon auf ihren Konzerten auf-
keiner Randale ist er damals aus dem Weg Staat vernachlässigten Fläche. »Wenn die tauchten, entwickelte die Gruppe ihre
gegangen. Er ist ihnen sogar hinterherge- Altenpflege abkackt«, erzählt Monchi, strikt antifaschistische Haltung.
reist. Hat seine eigene Schwester beklaut, dann machten die Rechten den Pflege- Im Unterschied zum Punk der Neunzi-
um sich die Fahrten zu den Auswärtsspie- dienst Pommern auf. »Bibliothek. Hartz- gerjahre, zu Songs wie »Sascha ... ein auf-
len leisten zu können. Mit 14 mussten IV-Beratung. Kinderfeste. Alles.« rechter Deutscher« von den Toten Hosen
seine Eltern ihn in Dortmund aus der Zel- Der Schauspieler Charly Hübner hat oder »Schrei nach Liebe« von den Ärzten,
le holen. Mit 18 hat er einen verwaisten eine berührende Dokumentation gedreht, blicken Feine Sahne Fischfilet nicht mit
Polizeiwagen in Brand gesetzt und dafür »Wildes Herz«, über das Zurückbleiben ironischer Distanz auf ein Problem. Sie ha-
eine Bewährungsstrafe kassiert. Hat einen in einem Landstrich, der von Faschisten ben es vor der eigenen Haustür und bis-
»Landfrieden« gebrochen, an den er bis schleichend kolonialisiert wird – und weilen auch Buttersäure im Briefkasten.
heute nicht glaubt. Hat über all das gesun- die Möglichkeiten des Widerstands dage- Bei Feine Sahne Fischfilet gibt es keine
gen, ganz direkt in »Niemand wie ihr« auf gen. Darin fragt Monchi seinen Vater: Rollenprosa. Sie erleben täglich, wovon
»Sturm & Dreck«, dem jüngsten Album. »Hast du schon mal eine Mülltonne ge- sie erzählen.
Es ist eine Hymne auf seine Familie, seine schmissen, ohne Grund?« Und liefert die Der Clou ist, dass diese Gruppe junge
Eltern: »23 000 kostet ein Sixpack, wenn Antwort gleich mit: »Freiheit.« Gleich- Männer nicht kaninchengleich die Schlan-
es brennt / In dieser Zeit hatte ich Angst, wohl fand er die linken Ausschreitungen ge fixiert. Der Clou ist, dass sie sich alle
dass ihr euch trennt«. bei den G-20-Protesten in Hamburg »auch zusammen umdrehen. Ein tänzelnder
Überhaupt, die Eltern. Auf seiner rech- total düsig, da irgendwelche Kleinwagen Schritt um die eigene Achse, und plötzlich
ten Wade hat er Cartman aus »South Park« abzufackeln«. stehen sie vor Freunden.
tätowiert, den ewigen Grundschüler und
großen Anarchisten, dazu die Sprechblase:
»Strictly Antifascist«. Die linke Wade teilt
sich der Schriftzug »Rostock« in Fraktur –
mit Porträts seiner Eltern. Der Vater ist
Bauunternehmer, die Mutter arbeitet als
Zahnärztin. »Das war schon ein Vorteil,
als mir bei einer Schlägerei mal die Vor-
derzähne ausgeschlagen worden sind.«
Auf dem Album singt er: »Sollte ich mal
Kinder haben, will ich so sein wie ihr«.
Der Punk kommt kurioserweise selten
von unten, sondern aus der bürgerlichen
Mittelschicht. So auch hier. Die Eltern der
Bandmitglieder zumindest sind keine Ver-
lierer der Abwicklung, der Abwertung und
Abwanderung von allem, was das Leben
in der DDR bis zur Wende geprägt hatte.
Und die Söhne sind Krankenpfleger oder
studieren Kunstgeschichte, Politik, Islam-
wissenschaften. Die haben alle etwas im
Kopf und wissen genau, was sie tun. Auch Bandmitglieder: »Explizit anti-staatliche Haltung«
Monchi, der kurz vor dem Abitur das
Gymnasium geschmissen und keine Lehre
gemacht hat. So oder so kommt um eine ungesunde Kein Hass auf die Rechten. Liebe für
Da steht man schnell mal auf der Kippe oder auch gesunde Wut nicht herum, wer die Richtigen.
in Jarmen, einem Kaff mit knapp 3000 in den Neunzigerjahren im Osten aufge- Das ist das entscheidende Manöver in
Einwohnern, aus dem einmal täglich ein wachsen ist. »Pazifismus muss man sich dieser Kunst.
Bus in die nächste Großstadt abfährt, und leisten können«, sagt Monchi. Bullen, Das ist neu.
die nächste Großstadt ist dann Rostock. Knüppel, Fresse? »Hier hat man halt oft Diese Liebe spricht mit Wucht und Pa-
Monchi springt nicht ab nach Hamburg das Gefühl, dass die Polizisten den Faschos thos aus einem Song wie »Zuhause«, in
oder Berlin. Und fragt in einem Song den Weg freiknüppeln. In Chemnitz tun dem Monchi seine Heimat besingt, ohne
rhetorisch: »Was bleibt, wenn immer nur sie ganz hilflos und lassen die Nazis mar- von »Heimat« sprechen zu wollen, denn:
die Guten gehen?« schieren. Aber im Hambacher Forst prü- »Ich habe das Glück, auf diesem Fleckchen
Was, wenn die Mehrheit der verbliebenen geln gefühlt 3500 Bullen 180 Hippie-Ze- Erde geboren zu sein, und getan habe ich
Männlichkeit sich dem Hass ergibt und den cken weg, die sich irgendwo im Baum ver- dafür exakt gar nichts.« Sein »Zuhause«
Angeboten der »Faschobratzen«, wie Mon- orten«, sagt Monchi und zuckt mit den ist eines, auf das man deshalb stolz sein
chi sie nennt? Weil »aufs Maul« bekommt, Schultern: »Man hat sich nicht auf die zu kann, weil es allen offensteht, und er be-
wer irgendwie anders aussieht? Und darüber, verlassen. Ich meine, der Verfassungs- singt es mit einer Herzlichkeit, die schon
wer anders aussieht, nachts auf der Straße schutz hat meine Karre verwanzt!« kein Punk mehr ist. Eher Northern Soul.
im Zweifelsfall die Nazis entscheiden? Weil Gegründet hat sich die Gruppe 2007 North East German Soul. Mit Eiern.
die Kameradschaften in manchen Provinzen »aus Langeweile«, weil eben sonst nichts Feine Sahne Fischfilet mögen Ton Stei-
längst erobert haben, was in der Sprache los war in der Steppe. Anfangs ging es in ne Scherben ähnlicher sein als den Sex Pis-
der Soziologie vornehm als »kulturelle Text und Tat ohnehin nur ums Feiern und tols, radikal ist nur ihr Humanismus. Punk
Hegemonie« bezeichnet wird? Saufen, klassische Themen des Punk. Fürs bis ins Mark allerdings ist die Art und Wei-
Wie fühlt sich dieser Landfrieden an, Feiern und Saufen interessieren sich auch se, wie Feine Sahne Fischfilet mit dieser
vor Ort? Auf die Neonazis jedenfalls ist Neonazis. Erst aus der Tatsache, dass im- Haltung abstrahlen auf die Gegend, aus
der sie kommen. »Da hat man sich schluss- sind, die man im Geilsein bestärkt. Mon- Christen oder Juden ersaufen. Sondern
endlich geradezumachen«, sagt Monchi chi selbst sagt, er sei »kein Sozialarbei- Menschen«. Und das, so Monchi, sei die
und betont: »Allein geht das nicht, nur ge- ter«, und räumt auf Nachfrage ein: größte aller Sauereien.
meinsam.« Gemeinsam mit Gleichgesinn- »Wenn ich sage, dass wir keine Sozial- Das ist eine Pointe, aber noch nicht der
ten vor Ort, die auch noch alle da sind, arbeiter sind, kannste davon ausgehen, ganze Witz.
wenn »die Guten« längst abgewandert dass ich weiß, dass wir eben doch Sozial- Der Witz ist, dass Monchi am nächsten
sind, mit der freiwilligen Feuerwehr und arbeit machen.« Morgen nach Lesbos fliegen wird. Er wird
dem örtlichen Metzger und dem DLRG Und Party. Auf der Bühne am Bostalsee aussteigen am Flughafen an der Küste, an
und dem Sportverein, »da lässt sich immer teilt sich mit, wozu diese Gruppe, wozu dessen Lichtern sich nachts die Flüchtlings-
was reißen«. Beispielsweise eine Tournee rohe Gitarrenmusik mit ein paar Trompe- boote aus der Türkei orientieren. Er wird
wie »Noch nicht komplett im Arsch«, mit ten in der Lage ist. Monchi schwitzt und im Lager Moria einem Familienvater aus
der Feine Sahne Fischfilet vor der vergan- boxt die Luft und wirft Flaschen ins Publi- Algerien begegnen, der mit seinen Kin-
genen Landtagswahl in Mecklenburg-Vor- kum, zündet Bengalos. Es ist ein dionysi- dern seit elf Monaten unter einer Plas-
pommern über die Dörfer tingelten. sches Fest der Ausgelassenheit, der gerich- tikplane »zu Hause« ist. Er wird in ein
Daher der Hass der Neonazis. Weil die- teten Aggression. Ein kollektiver Abwehr- Schlauchboot steigen, das ihn zu einem
se Gruppe den Mumm hat, in deren Revier zauber gegen das Böse und Ertüchtigung Kutter vor der Küste übersetzen wird. Das
zu wildern. Ganz offen, mit durchaus ver- zum Guten zugleich. Schlauchboot heißt »Mudder«, und neben
wandten Angeboten. Präsenz zeigen. An- Irgendwann dann steigt Monchi auf die dem Steuer steht: »Mudder ist wichtiger
gebote machen. Und Party, das auch, Party Monitorbox. Ansprache ans Publikum, als Deutschland«. Die Crew des Kutters
und Saufen. Hier geht es weniger um linke über dem die Fahne der Antifa weht, in wirkt, als hätte der schwarze Block das
Schiff übernommen. Der Kapitän der
»Mare Liberum« ist selbst Punkrocker, bis
in beide Ohren tätowiert und ein Freund
von Monchi. Transportiert eigentlich Die-
sel auf der Elbe. Im Urlaub hält er für eine
NGO hier »die Stellung« auf dem privaten
Seenotretter, weil: »Wir lassen die Leute
nicht einfach absaufen. Punkt.«
Monchi wird nicken, das sagt er auch
immer. Er wird fragen, wie er sich nützlich
machen könne, weil: »Ich habe zwei linke
Hände.« Er wird ein paar Mails an Freun-
de verschicken und mit einem konzentrier-
ten Lächeln lesen, was die »Faschobrat-
zen« im Netz so machen. Abends wird er
dem Gewummer lauschen, das von einer
Technoparty am Strand kilometerweit
übers Wasser schallt, wird über das Ne-
beneinander von Lebensfreude und Le-
bensgefahr nachdenken und über Europa,
ach, Europa. Er wird sich zur Nachtwache
Sänger Gorkow: »Total oft Gülle im Kopf« einteilen lassen und hören, was der Kapi-
tän aus dem zentralen Mittelmeer zu er-
zählen hat, von verwesenden Wasserlei-
Folklore à la »Alerta, Alerta, Antifascis- dem es von »FCK AFD«-T-Shirts nur so chen und kleinen Kindern, die nach Tagen
ta!«, das auch, vor allem aber um eine Re- wimmelt. auf offener See zu zitternden Greisen ge-
conquista all dessen, was das Leben lebens- Aber Monchi ist in seinem Element, worden sind. Monchi wird leise die Hoff-
wert und die Heimat liebenswert machen jetzt ist er beides, Rhetor und Punk. nung äußern, dass »von der ganzen Auf-
kann. Volks-Rock-’n’-Roll von links sozu- Den unbefangenen Beobachter erinnert merksamkeit und dem Zirkus, den wir
sagen. Einer Richtung, aus der man ihn am die Szene an einen Einwand gegen diese gerade mit der Band haben«, auch etwas
wenigsten erwartet. Und es funktioniert. wohlfeile »Haltung des Protestierens«, die abfällt »für die geilen Leude hier«. Im Mor-
Daher auch das Misstrauen im bürger- der Schriftsteller Uwe Johnson schon 1967 gengrauen wird er seine Matratze auf
lich-konservativen Lager. Weil sich diese erhob: »Die guten Leute stehen auf dem Deck ausrollen, denn es ist warm, und sich
Gruppe tatsächlich als »politischer Zusam- Markt und weisen auf sich hin als die bes- mit seiner eigenen Bettwäsche zudecken.
menschluss« versteht, der vom Staat und seren.« Und: »Sollen sie aufhören zu re- Sie ist mit dem Logo des FC Hansa Ros-
seinen Organen nichts mehr erwartet, der den von einem Gutsein, zu dessen Unmög- tock bedruckt, einer stilisierten Kogge.
das »Do it yourself!« des Punk auf den lichkeit sie beitragen.« Er wird nicht aufhören, auf die guten
politischen Stoppelacker führt. Eine manch- Wer jemanden absticht, ruft Monchi der Leute hinzuweisen. Und nicht aufhören
mal rohe, oft sentimentale, immer aber ge- wogenden Menge zu, der sei »ein mieses zu reden von einem Gutsein, zu dessen
richtete Kraft. Ein linker Kreis, der um sich Arschloch«, ganz egal ob Muslim, Jude Möglichkeit er beiträgt.
herum konzentrische Kreise der Selbster- oder Christ. Und dann spannt er den ganz
mächtigung zieht. Man könnte es auch ein- großen Bogen, kommt vom Hölzchen auf
fach Zivilgesellschaft nennen. Baseballschläger, von Pegida zu Horst See- Video
So klingen Feine
Wenn die Probleme dieser Gesellschaft hofer und der angeblichen »Mutter aller Sahne Fischfilet
zu lösen sein sollten, dann so. Von innen, Probleme«, von wo es nicht mehr weit ist spiegel.de/sp432018fischfilet
durch Netzwerke der »geilen Leude«, bis zur EU-Außengrenze und zum Mittel- oder in der App DER SPIEGEL
denen man auch sagt, dass sie geile Leute meer, in dem auch »keine Muslime oder
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Kultur
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s gibt diesen Moment im Film von spricht keine Frau, die gelassen auf ihr Le- mehr als andere. Birkin ist vielmehr wohl-
– Mühe bereitet, sich selbst in dem Bild zu hässlich«, steht da. »Wenn ich 40 bin
erkennen, das sie nach außen abgibt. De- und mein Leben vorbei ist.« Oder auch:
ren Selbstbild so anders ist als jenes Bild, »Bald bin ich 30 Jahre alt, und mich will
das sich andere von ihr machen, seien es keiner mehr.«
ihre Männer oder ihre Fans. Ist das Alter wirklich etwas so Furcht-
In Birkins Tagebüchern geht es nicht Autorin Birkin bares, Madame Birkin?
um die Filme, die sie gedreht hat, und auch »Gern jemand anderes« »Es ist eine Erleichterung«, sagt Birkin.
nicht um die Lieder, die sie gesungen hat. Der Wettbewerb habe nun ein Ende.
Es geht um sie, das Mädchen, die Frau, die Nur ihr Aussehen. Ihre Verkleidung. »Insecure« sei sie gewesen, sagt sie und
Mutter. Vor dem Hintergrundrauschen die- Sie spricht klar, so kühl, als ginge es da- benutzt das englische Wort, nach einem
ser ewig swingenden Sechziger- und Sieb- bei gar nicht um das, was andere ihr Le- halben Jahrhundert in Frankreich. »Und
zigerjahre beschreibt sie ihre Gedanken, benswerk nennen. ich bin es geblieben.«
ihre Gefühle und widerspricht damit auf Jane Birkin ist jetzt 71 Jahre alt, sie hat Wie ein roter Faden flicht sich die Un-
leise, intime Weise dem Klischee einer gan- eine Leukämieerkrankung überlebt und sicherheit durch ihr Leben, zieht sich von
zen Epoche. Insbesondere aber der Legen- kämpft noch mit dem Verlust ihrer ältesten den Tagebucheinträgen bis zu diesem Alt-
de um sie selbst. Tochter Kate, die 2013 bei einem Sturz weibersommertag am Pariser Küchentisch.
An diesem Nachmittag, man sitzt noch aus dem Fenster ums Leben kam. Ob Kate »Ich wäre gern jemand anders, mit star-
keine fünf Minuten in ihrer Küche, sagt Barry, damals 46 Jahre alt, sich selbst kem Charakter, jemand, der sich nicht da-
sie: »Eigentlich habe ich immer nur gefal- tötete oder ob sie verunglückte, ist bis heu- rum schert, was andere von ihm denken«,
len wollen.« te unklar. sagt sie.
Und, als nähme sie den fiktiven Ge- Birkin ist nicht mehr Jane B., unbe- Als kleines Mädchen wollte sie sein wie
sprächsfaden von Varda damals wieder schwert, unbekümmert, sexy. ihr Bruder Andrew: ein Junge, mutig, frei.
auf: So groß sei die Angst gewesen, ver- Sie sagt, so sei nie gewesen. Über ihren Lebenspartner Gainsbourg
lassen zu werden. Liest man ihr Tagebuch, verfestigt sich sagte sie, es sei noch nicht allzu lange her,
Bei diesem Treffen mit Birkin, die auch dieser Eindruck. Es wird zwar gefeiert, ge- sie halte ihn »hoch wie eine Fackel in einer
ein halbes Jahrhundert nach 1968 immer raucht und getrunken, schließlich sind es olympischen Zeremonie«. Sie liest seine
weiter und immer wieder als Stilikone, als die Sechziger-, die Siebzigerjahre!, aber Gedichte, singt seine Lieder. Immer noch.
Muse des großen französischen Selbstdar- es wird eben auch – wirklich, verzweifelt In ihrem Tagebuch schreibt sie von der
stellers Serge Gainsbourg verehrt und – geliebt. Und wer liebt und geliebt werden Angst, ausschließlich als sein – Serges – Ge-
beschrieben wird, wird rasch klar: Hier will, der sorgt sich, der zweifelt. Manche schöpf wahrgenommen zu werden. Nichts
eigenes zu haben, nicht eigenständig zu glied sich selbst tötet. Der Schmerz sei Seit Kates Tod ist auch ihr Selbstbe-
existieren. für alle gleich, sagt Birkin. »Aber als Mut- wusstsein als Mutter, als Großmutter ver-
Liebst du mich?, fragte sie ihn einmal. ter frage ich mich, warum ich nichts be- schwunden.
»Klar«, antwortete er. »Sonst hätte ich dich merkt habe.« Sie macht sich Vorwürfe, dass sie zu we-
längst rausgeschmissen.« Kate sei manchmal mütterlicher gewe- nig für die anderen beiden Kinder da war,
Verletzt schreibt Birkin an ihren Mun- sen als sie selbst, erzählt sie. Ein harmlos zu wenig Zeit mit den Enkelkindern ver-
key, sie hätte sich eine andere Antwort ge- klingender Satz, der es in sich hat. bracht hat.
wünscht. »Je suis de passage«, folgert sie, Ihre erste Tochter bekam sie mit 20 Jah- Ihre Tochter Charlotte Gainsbourg lebt
eine Interimskonkubine. ren, gerade eben verheiratet mit deren Va- mittlerweile meistens in New York. »Sie
Das allerdings war sie nicht. Selbst als ter, dem mehrfach oscarprämierten Film- musste sich selbst retten«, sagt Birkin.
sie sich nach zwölf Jahren trennten, kam komponisten John Barry, um einiges älter Lou, ihre jüngste Tochter, Vater ist der
er oft zu Besuch, manchmal wollte er mit- als sie selbst. Regisseur Jacques Doillon, sei immer um
ten in der Nacht von ihr bekocht werden. Barry, man muss das so sagen, scheint sie herum: »Wie ein kleines Rettungsfloß.«
Mit der gemeinsamen Tochter Charlotte zumindest in dieser Periode seines Lebens »Natürlich lebt man weiter und bringt
haben sie eine Art Dynastie begründet, die ein veritables Arschloch gewesen zu sein. sich nicht selbst um«, sagt sie, aber es
die Franzosen verehren und der sie bis Seine junge Frau ließ er am liebsten zu klingt, als koste dieses Weiterleben nach
heute huldigen. Hause, wo sie mit dem Kajalstift unter wie vor viel Kraft.
Charlotte Gainsbourg, das Gesicht gro- dem Kopfkissen schlief, um sich schnell Ihre Töchter, sagt Birkin, seien anders
ßer Modehäuser; Muse berühmter Regis- schminken zu können, falls er doch noch als sie selbst. Sicherer. »Sie werden um
seure, und wer sie bei einem ihrer Kon- auftauchte. ihrer selbst willen geliebt«, sagt sie. Nicht
wegen ihrer Männer oder weil sie toll ge-
schminkt seien. Sondern für das, was sie
geschaffen haben. Charlotte trage oft gar
kein Make-up, erzählt sie, und Lou, die
Jüngste, mittlerweile erfolgreich als Sän-
gerin, habe sich alles selbst beigebracht,
sogar das Klavierspielen.
Wenn sie mit Lou durch Paris gehe, wer-
de sie immer wieder angehalten. Zu ihr
sage man dann: »Oh Jane, wir mögen dich
so, du bist immer so freundlich!« Ihre
Tochter hingegen werde gelobt für ihre
Musik, ihre Texte.
Birkin legt ihre feine Metallbrille
auf den Tisch: »So muss es sein.« Man
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Kultur
D
ie Leser sind ja nicht die Einzigen, dass die Gegend diesmal nicht das Alte natürlich nicht gibt, aber geben könnte,
die Schriftsteller lieben. Es gibt Land jenseits der Elbe ist, sondern Nord- heißt Brinkebüll. Ingwer ist Archäologe
Schriftsteller, die von anderen friesland. Hansens eigene Heimat. an der Universität in Kiel, mit großem In-
Schriftstellern geliebt werden. Im Roman kehrt Ingwer Feddersen teresse an Steinen und einer heimlichen
Es gibt Schriftsteller, die von Kritikern ge- zurück in das Geestdorf, in dem er gebo- Liebe zu Neil Young. Hundert Kilometer
liebt werden. Und dann gibt es die Schrift- ren und aufgewachsen ist, um sich um sei- liegen zwischen seinem neuen Leben und
steller, die von den Buchhändlern geliebt ne alt gewordenen Großeltern zu küm- der Heimat, aber er ist trotzdem nie von
werden. Zu denen gehört Dörte Hansen. mern. Das Dorf, das es in Wirklichkeit ihr weggekommen.
Und ganz besonders gilt das für Frau See-
mann aus der Buchhandlung im Husumer
Schlossgang.
»Sind Sie es wirklich?«, ruft Frau See-
mann in gespieltem Erstaunen, wenn sie
Hansen zufällig auf einer der Husumer
Straßen trifft, was nicht besonders schwer
ist, weil Husum eine eher überschaubare
Anzahl von Straßen hat. Das Aufeinander-
treffen findet also zum Beispiel wie an
diesem Tag um die Ecke des Schifffahrts-
museums statt.
Und Hansen, die dann gerade zum Bei-
spiel mit Fahrrad, Packtasche und Regen-
mantel auf dem Weg zu ihrem Büro ist,
lacht freundlich über den Scherz und ruft:
»Ja, ich bin es!«
In Langform hieße das: Sie ist tatsäch-
lich und wahrhaftig Dörte Hansen, zwi-
schenzeitlich Namenspatin für das »Dörte-
Hansen-Wunder«, weil ihr Roman »Altes
Land« bei seinem Erscheinen vor drei Jah-
ren der Überraschungserfolg des Jahres
wurde. Allein in Deutschland: mehr als
860 000 verkaufte Exemplare bisher.
Frau Seemann guckt dann sehr glücklich
und auch etwas stolz. Eine Bestseller-
autorin in ihrer Stadt! Und dann sagt sie
noch, dass Hansen nun aber wirklich bald
noch zum Signieren vorbeikommen müs-
se; es ist auch schon alles vorbereitet,
Schutzfolie ab, Bücher gestapelt, denn
noch ist es am Tag dieses Treffens Ende
September, noch liegen im Schaufenster
der Buchhandlung andere Romane aus.
Aber bald erscheint Dörte Hansens
zweiter Roman. Weswegen Frau Seemann,
die normalerweise in ihrem Laden eben
Bücher verkauft und keine Kalender, kei-
nen Tinnef, keine Kuscheltiere, ausnahms-
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Wenn er irgendwo langläuft, denkt er, Großeltern sind noch jung. Der Gasthof, den Rückkehr zu erwähnen. Die von Dörte
die Menschen müssten doch sehen, dass sie betreiben, ist noch das Zentrum des Dorf- Hansen selbst.
er geht, als schöbe er eine Schubkarre vor lebens, überhaupt: das Dorf noch lebendig. Der Erfolg von »Altes Land« hat Han-
sich her. Wenn er das Fischgrätmuster des Dieser zweite Teil ist vor allem die Ge- sen ermöglicht, zurück in ihre Heimat zu
Bodens in der Seminarbibliothek sieht, schichte von Ingwers Mutter Marret, die ziehen. Weil sie nun als Schriftstellerin
muss er an den Brinkebüller Saal denken. schon immer anders war, die Dorfverrück- nicht mehr regelmäßig nach Hamburg in
Und wenn in einem seiner Seminare eine te gewissermaßen. In Holzlatschen läuft die Büros des Norddeutschen Rundfunks
Studentin mit einem nordfriesischen Na- sie durch den Ort und sammelt in einem muss wie noch als Journalistin.
men sitzt, hat er alles wieder direkt vor Heft Zeichen dafür, dass der Untergang Sie wohnt jetzt in einem Haus nicht weit
sich. Den Schrägregen. Den Bücherbus. nicht mehr weit ist. Als sie nach einer un- von ihrem Heimatort entfernt. Mit ihrem
Die Silberpappeln. Die hohen Straßenlam- glücklichen Liebesgeschichte mit einem Mann und der Tochter, die inzwischen das-
pen mit dem bleichen Licht. Die Furchen Landvermesser schwanger wird und Ing- selbe Gymnasium besucht, auf das Hansen
der nassen Stoppelfelder. »Er hing an die- wer auf die Welt kommt, ist klar, dass es früher gegangen ist.
sem rohen, abgewetzten Land«, heißt es die Großeltern sind, die den Jungen wer- »Mittagsstunde« hat Hansen in einer
im Buch, »wie man an einem abgeliebten den großziehen müssen. So wird aus Ing- kleinen Dachkammer im neuen Haus ge-
Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, wer »der Kümmerling«, der im Gasthof schrieben, kleiner noch als die, in der sie
das am Bauch schon kahl war.« schon hinterm Tresen steht, als er noch »Altes Land« geschrieben hat.
Der Roman spielt abwechselnd in dieser kaum über ihn hinweggucken kann. Inzwischen hat sie sich aber ein Büro
Gegenwart und in der Vergangenheit. Ein Aber man kann nur schwer über »Mit- gemietet, mit Holzbalken unter der Decke
halbes Jahrhundert vor der Rückkehr. Die tagsstunde« schreiben, ohne eine andere und Tee im Küchenschrank und einem
Flechtsessel am Fenster. Wenn man vorn
aus dem Büro guckt, sieht man direkt auf
den Husumer Hafen. Wenn man hinten
aus dem Büro schaut, sieht man in Theo-
dor Storms Garten. Und wenn man das
Gebäude betritt, sieht man Hansens Ver-
mieter am Geländer lehnen, der es neuer-
dings mit dem Knie hat.
Dort empfängt sie jetzt Journalisten,
um über die Geschichte Brinkebülls zu
reden, die – wie die verrückte Marret es
vorhergesehen hat – auf gewisse Weise
tatsächlich die Geschichte eines Unter-
gangs ist.
Hansen sagt, es habe sie fasziniert, wie
es nur anderthalb Generationen brauchte,
um das Leben in dieser Gegend für immer
zu ändern. Familienbetriebene Bauern-
höfe haben aufgegeben oder sich in
Monokulturlandwirtschaftsbetriebe ver-
wandelt. Die Jungen sind fortgezogen. Lä-
den haben geschlossen. Und Männer, die
früher Landwirte oder Landwirtschafts-
maschinenhersteller waren, hatten plötz-
lich das Gefühl, ihr Platz auf der Welt sei
verschwunden. Hansen hat in der eigenen
Familie erlebt, wie verloren einen diese
Erfahrung zurücklassen kann.
Während ihrer Recherche hat Hansen
die »Husumer Nachrichten« gelesen, und
jedes Mal, wenn sie in einer der Todes-
anzeigen neben dem Namen eines Mannes
eine Ähre oder einen Pflug sah, ging es ihr
wie Ingwer, wenn er einen nordfriesischen
Namen hört. Sie sah alles vor sich.
Die Geschichte, die »Mittagsstunde« er-
zählt, ist natürlich eine erfundene. Aber
sie ist eben auch die Geschichte des Dorfes,
in dem Hansen aufgewachsen ist, und die
Geschichte all der anderen Dörfer auf der
Geest.
Das eigentlich Besondere an diesem
Buch ist deshalb, dass es dieses alte Leben
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Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller
Belletristik Sachbuch
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Kultur
der Festspiele zu Ehren des Gottes der Freude und der Eksta-
Sehnsucht se, an mehreren Tagen jeweils drei Tragödien und ein Satyr-
spiel nacheinander gezeigt – im Rahmen eines Wettkampfs.
Auch »Dionysos Stadt« ist ein sportliches Großereignis, das
JULIAN BAUMANN
im Stadtrat mitregierende CSU schäumte,
die »Süddeutsche Zeitung« tat sein Pro-
gramm als »Pipifax-Theater« ab. Da half
das Lob vieler überregionaler Kritiker für
einzelne Lilienthal-Angebote wenig. Im Szene aus »Dionysos Stadt«: Mord und Beischlaf
März gab der Chef auf, indem er mitteilte,
dass er seinen bis 2020 geltenden Vertrag
nicht verlängern mag. Zu seinen Zukunftsplänen schweigt er Wohnzimmerbühne ab und führt sie auf einer Riesenlein-
beharrlich. wand vor.
Jetzt also »10 Stunden Antike«, sehr große Kunstkacke, Es ist keineswegs alles große Kunst, was Rüpings un-
um in Lilienthals Worten zu bleiben. Der 33-jährige Regisseur ermüdlich rackernde Theaterathleten auf der Kammerspie-
Christopher Rüping lässt wie im alten Griechenland drei Tra- le-Bühne präsentieren. Wenn im Mittelteil der Tragödien-
gödien und ein Satyrspiel vorführen und nennt das Projekt trilogie Troja gefallen ist, versammeln sich die drei Schau-
»Dionysos Stadt«. Um 13 Uhr mittags beginnt die Show, kurz spielerinnen Wiebke Mollenhauer, Gro Swantje Kohlhof
vor 23 Uhr endet sie, die drei Dramenblöcke heißen »Pro- und Maja Beckmann mit schreckgeweiteten Augen und
metheus«, »Troja« und »Orestie« und sind zusammengemixt emporgereckten Armen zu einem grotesk missglückten
aus Texten unter anderem von Homer und Aischylos, Goethe Klagegesang, dazu gibt es eine kitschige Pantomime um ein
und Heiner Müller. Nur acht Schauspieler, drei Frauen und geraubtes, zum Tode verurteiltes Königskind. In solchen
fünf Männer, treten an. Drei Pausen gibt es, von denen die Momenten sieht »Dionysos Stadt« plötzlich nach rückstän-
längste viel zu lange 75 Minuten dauert. Im kurzen Satyrspiel digstem Provinz-Stadttheater aus, nach hilflos exerziertem
zum Schluss sind zwei kleine Fußballtore auf der Bühne auf- Handwerk der psychologischen Einfühlung.
gestellt, die Darsteller kicken ein bisschen und tragen dann Trotz solcher Abstürze ist das Münchner Zehnstundenthea-
eine Ode an den französischen Kopfstoßfußballer Zinédine ter ein Ereignis, das von den Zuschauern am Ende mit minu-
Zidane und dessen Ausraster im WM-Endspiel 2006 vor. tenlangem Applaus gefeiert wird. Der Regisseur Rüping spielt
Titel dieses Schlussakts: »Was hat das mit Dionysos zu tun?« nicht bloß mit der Sehnsucht nach dem Besonderen, dem
Das ganze Münchner Riesenunternehmen ist eine Be- Spektakel, dem Rausch – er müht sich auch nach Kräften, die-
schwörung des dionysischen Geistes, der Ursprünge des Thea- se Sehnsucht zu stillen. Insofern gilt für die Akteure und das
ters im antiken Griechenland. Vom sechsten vorchristlichen Publikum in »Dionysos Stadt« dieselbe beinahe olympische
Jahrhundert an wurden in Athen während der Dionysien, Wettkampflosung: Dabeibleiben ist alles. Wolfgang Höbel
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VOLKER DAUTZENBERG
lierte, und den Übervater der Christsozialen verband weit ner Heimatstadt Istanbul:
mehr als das Politische. Einmal im Jahr überquerten sie die Seine Schwarz-Weiß-Fotos
Alpen in einem Geländewagen. Später kritisierte Scharnagl aus den Fünfziger- und Sech-
den Umgang der CSU mit Strauß’ Erbe. Als dessen BMW, zigerjahren von Fischern auf
der in der Garage der Parteizentrale stand, Jahre nach dem Bosporus oder von Pas-
seinem Tod verkauft werden sollte, empörte sich Schar- santen auf der Galata-Brü-
nagl: »Und dann hat diese pietätlose Partei gesagt: Wir Die Lasertechnik, die cke gehören zum türkischen
brauchen Platz in der Tiefgarage.« Er kaufte ihn selbst. Bis Leibinger in den USA ent- Kulturerbe. Bewunderer
zuletzt vertrat Scharnagl provokante Thesen, etwa die, deckt hatte, trug entschei- nannten ihn das »Auge von
dass Bayern sich vom Rest der Republik abspalten solle. dend zum Erfolg des Unter- Istanbul«. Güler war Sohn
Mit ihm verliert die CSU einen aufrechten Konservativen nehmens bei. Berthold eines armenischen Apothe-
alter Schule, der bei aller politischen Streitlust noch Wert Leibinger starb am kerpaars. Mit 22 Jahren
auf Anstand und Manieren legte. Bei einem Besuch vor 16. Oktober in Stuttgart. AM heuerte er als Fotoreporter
wenigen Wochen in seinem Haus in Allershausen sagte er: bei der Zeitung »Yeni Istan-
»Ein Ergebnis mit einer Drei am Anfang ist unvorstellbar Paul Allen, 65 bul« (»Neues Istanbul«)
für mich.« Die Drei für seine geliebte CSU ist ihm nicht Im Winter 1974/75 lasen an, später durfte er Mitglied
erspart geblieben. Wilfried Scharnagl starb am 16. Oktober, Paul Allen, damals 21, und der Fotoagentur Magnum
zwei Tage nachdem die CSU mit 37,2 Prozent ihr schlech- der drei Jahre jüngere Bill werden. Mit den Neubauten,
testes Ergebnis seit 68 Jahren eingefahren hatte. MFK Gates in »Popular Electro- dem Verkehr seiner Stadt
nics«, wie man selbst einen haderte er. Und doch war
Computer bauen kann. Istanbul für ihn wie »eine
Mel Ramos, 83 Mikrorechner für jeder- Schatulle voller Juwelen«.
Wer keinen Humor habe, werde seine Werke wahrschein- mann: Diese Idee elektri- Ara Güler starb am 17. Okto-
lich nicht mögen, sagte der US-Künstler. Tatsächlich sierte das Duo, Freunde ber in Istanbul. POP
musste er sich im Laufe seiner Karriere immer wieder kriti- seit der Schulzeit in Seattle,
sieren lassen für die Bilder von Pin-up-Girls, die er so und sie entschlossen sich,
gern malte. Mel Ramos kam 1935 in Sacramento zur Welt, eine Software dafür zu
und man könnte meinen, das Leben in Kalifornien sei schreiben. Allen kam folge-
eben schon immer unangepasster, auch unangezogener richtig auf »Micro-Soft«
gewesen. Dabei ist der Nachkomme portugiesischer Ein- als Name für ihr Start-up-
wanderer zwischen lauter gläubigen Katholiken aufgewach- Unternehmen. Den Durch-
sen. Wie etliche andere Künstler seiner Generation ent- bruch erzielten sie 1980,
deckte Ramos dann die Verlockungen des Konsums und als sie mit dem mächtigen
seiner Ästhetik, auch die unterhaltsamen Bilderwelten der IBM-Konzern ins Geschäft
Comics. Bald wurde er zu den Pop-Art-Künstlern gezählt, kamen und dessen ersten
IMAGO/DEPO PHOTOS
und wenn er auch nie so berühmt wurde wie Andy Warhol, Personal Computer mit
so hatte er doch immer beachtlichen Erfolg. Trotz oder dem »Microsoft Disk Ope-
wegen der Kritik, die sein Werk begleitete. Mel Ramos starb rating System« (MS-DOS)
am 14. Oktober im kalifornischen Oakland. UK ausstatteten. Das Betriebs-
Personalien
Affenstark
● Der deutsche Opernsänger Jonas
Kaufmann, 49, will es in nächster Zeit eher
ruhig angehen lassen. Diese Woche trat er
nach langer Pause wieder in der New Yorker
Met auf, deren Publikum er zuvor durch
mehrere kurzfristige Absagen aus gesund-
heitlichen Gründen sehr enttäuscht hatte.
Um mehr Zeit für die Familie zu haben,
aber auch um Kraft zu sammeln und »frisch«
zu bleiben, kündigte er nun an, in den kom-
menden Jahren seine Verpflichtungen zu
reduzieren. Einige wenige Opernrollen will
der international gefragte Tenor annehmen
und nur eine Konzerttour absolvieren.
Dabei sei die Versuchung immer groß, mehr
zu machen und Nein zu sagen, »sehr hart«.
Und Kaufmann erhält nicht nur Anfragen
von den großen Konzerthäusern dieser
Welt – zuletzt bat ihn der Wiener Tiergarten
Seite für …«, die Gastauto- buch nicht nur Ehre, sondern ren Sie: E-r-h-a-r-d-t!« AKÜ
GABRIELA NEEB
City«, der als Carrie Brad- Luxuslabel Manolo Blahnik,
shaw von Kopf bis Fuß fabel- das auch für Schuhliebhabe-
rin Carrie in der Serie eine
existenzielle Rolle spielte. Es
ist bereits das zweite Geschäft, Der Augenzeuge
das Parker eröffnet hat, und
sie liebt es, unangekündigt
aufzutauchen. Den eigent-
lichen Verkauf überlässt Par-
»Warum stirbt Jesus?«
ker allerdings lieber anderen; Zum 42. Mal bereiten sich die Einwohner im
die Schuhe kosten zwischen bayerischen Oberammergau auf die berühmten
250 und 600 Dollar, und die Passionsspiele vor. Mit der Besetzung der
Vorstellung, dass sich durch
DANIEL DORSA / NYT / REDUX / LAIF
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Ab aufs Pferd gelinde gesagt ein Witz: In der Diktatur Die Städte werden schön
Nr. 42/2018 Revolution – warum die
der ehemaligen DDR lebten mehr als 15 Mil- Nr. 41/2018 Leitartikel: Die Politik
Deutschen so oft scheitern lionen Menschen in Unfreiheit. Sie konn- sollte die Autobranche endlich zu ihrem
ten sich weder frei bewegen noch frei äu- Glück zwingen
Dirk Kurbjuweit hat einen fesselnden Par- ßern. Totalitäre Bespitzelung und Repres-
forceritt durch die Geschichte nationaler sionen waren Teil des Alltags. All diese In der Stadt hängt der Kraftstoffverbrauch
Revolutionen vorgelegt. Am Beispiel von Menschen können heute frei in der Bun- eines Autos in erster Linie von dessen Ge-
dreieinhalb deutschen Revolutionen (1848, desrepublik leben, auch wenn vielleicht wicht ab. Schwere Wagen verbrauchen
1918, 1968 und 1989) macht er wie die noch nicht alle Lebensverhältnisse perfekt viel Treibstoff, kleine weniger – das Glei-
Historiker Heinrich August Winkler und angeglichen werden konnten. Dieser Fort- che gilt für den Schadstoffausstoß. Deshalb
Wolfgang Mommsen mangelnde Ent- schritt ist mehr als ein Quantensprung! Ins- sollte man mit Fahrverboten vor allem die
schlossenheit bei der Durchführung als besondere ist Ihre mit diesem Titel einher- dicken Angeberautos – in denen nur eine
ein spezifisch deutsches Phänomen aus. gehende Geschichtsvergessenheit gegen- Person sitzt– bestrafen!
»Pflaumenweiche Elemente« seien am über allen mutigen DDR-Bürgern, die in Bodo Koglin, Berlin
Werk gewesen, beklagte gar Rosa Luxem- einer Diktatur unter Androhung von
burg. War die deutsche Nation allein schon strengsten Repressionen auf die Straße gin- Mir geht schlicht der Hut hoch, wenn Sie
deshalb nicht bereit zu radikalen Umwäl- gen, um die damaligen Zustände anzupran- ausgerechnet in einem SPIEGEL-Leitarti-
zungen, weil sie, wie Peter Sloterdijk in gern und friedlich eine Neuordnung zu for- kel den Elektromotor als »Technologie der
seiner Rede zum 9. November 1997 im dern, hinsichtlich ihres Erfolgs eine boden- Zukunft« bezeichnen. Sie wissen doch,
Berliner Renaissance-Theater meinte, eine lose Frechheit, die mich tief erschüttert. dass sich ein E-Auto in Relation zu einem
Stressgemeinschaft sei, die sich ständig Dr. Matthias Flurl, München Auto mit Verbrennungsmotor ökologisch
selbst errege, terrorisiere und in Panik ver- erst nach 80 000 Kilometern »rechnet«.
setze? Hätte eine geglückte Revolution Berücksichtigt man auch noch die Produk-
1918 die Nazis verhindern können? tionsgegebenheiten des E-Autos, verdrei-
Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.) facht sich diese Zahl. Der E-Motor kann
deshalb allenfalls als Zwischentechnologie
SCHERL / SV-BILDERDIENST
Ich lese den SPIEGEL jede Woche vom An- bezeichnet werden, die uns nach kurzer
fang bis zum Ende und schreibe nie eine Zeit ähnliche Probleme wie der erdölge-
Lesermeinung, aber diese Titelgeschichte triebene Ottomotor bescheren wird. Die
ist leider völlig misslungen. Die Behaup- Zukunft liegt allein in der Wasserstofftech-
tung, »die Deutschen« würde in revolutio- nologie, deren Erforschung Industrie und
nären Augenblicken »das Große Gemä- Politik ebenfalls tief verschlafen.
ßigtsein« überkommen, weil nicht jeder Demonstrierende Matrosen in Kiel 1918 Joachim Wittern, Papendorf (Meckl.-Vorp.)
gleich zu den Waffen griff und man sich
lieber an die ach so geliebte Obrigkeit an- Revolutionen scheitern immer und überall. Der Verbrennungsmotor ist am Ende, weil
kuschelte, ist derart selbstgerecht, respekt- Was hatten die Franzosen nach ihrer Re- er die Leute davon abhält, wenigstens die
los und verächtlich gegenüber ganzen Ge- volution? Einen Kaiser statt einen König. kurzen Strecken in der Stadt zu Fuß zu ge-
nerationen von Menschen, dass es einem Was hatten die Russen nach ihrer Revolu- hen oder sich aufs Rad zu setzen. Da ist
die Sprache verschlägt. Man kann diese tion? Einen Diktator statt einen Zaren. das Zweitauto mit Elektroantrieb genauso
Revolutionen eben nicht in so einer ober- Was hatten die Chinesen nach ihrer Revo- fehl am Platz. Die Städte ersticken ja nicht
flächlichen Weise einfach gegenüberstellen lution? Einen Diktator statt einen Kaiser. nur an den Abgasen, sondern auch an der
und daraus eine zeitgenössische journalis- Ist es den Menschen in diesen Ländern schieren Menge Autos. Um die Städte um-
tische Erzählung, noch dazu mit einer kla- nach den Revolutionen besser gegangen zuwandeln, reichen Fahrverbote nicht aus.
ren politischen Botschaft dahinter, über als vorher? Mitnichten, millionenfaches Es braucht Anstöße wie die Verknappung
»den Deutschen« und sein »zahmes We- Elend und Massenmorde waren die Folge. von Parkplätzen, die Bevorzugung des
sen« machen. Nichtsdestotrotz wird alles Darüber sollten sich Menschen, die über Radverkehrs, die Optimierung und Verbil-
gut, und ich werde dem Autor meine Zeit- Revolutionen nachdenken, Gedanken ma- ligung des öffentlichen Nahverkehrs und
kapsel schenken: Dann reist er beherzt ins chen. Gut, dass Revolutionen auch mal vieles mehr. Die Leute werden merken,
Jahr 1848, wird sich auf sein Pferd schwin- scheitern – vielleicht ist das Elend für das dass man auch anders in die Stadt kommt
gen und »uns Deutschen«, als freiheitslie- Volk dann geringer, als wenn die Revolu- und dass die Städte auf einmal viel schöner
bender George Washington, ihr »zahmes tion obsiegt. werden.
Wesen« mal so richtig austreiben. Hans-Joachim Lenz, Eppelheim (Bad.-Württ.) Hanspeter Maier, Mörfelden (Hessen)
Florian Kampa, Leipzig
Dahinter steckt
immer ein kluger Kopf.
Scholz & Friends
Wir sind die Hälfte delt und dass sie zudem alle Texte und Fo-
tos auf versteckte Frauenfeindlichkeit und
Sonderausgabe 1/2018 #frauenland
Sexismus prüfen. Wir sind die Hälfte. Wel-
Das Sonderheft #frauenland ist mit Sicher- che Ausrede gibt es? Jedenfalls würde
heit das beste SPIEGEL-Heft, das ich je in dann mein Nachbar seinen SPIEGEL öfter
der Hand hatte. Jeder einzelne Artikel ist vermissen.
interessant! Grandios. Susanne Weik, Bad Zwesten (Hessen)
HERLINDE KOELBL
Diana Borowski, Troisdorf (NRW)
Sorry, aber wenn ich die »Emma« lesen
Diese Ausgabe ist von der ersten bis zur wollte, hätte ich sie abonniert. Diese Aus-
letzten Seite überflüssig. Sollten in der Da- gabe war überflüssig, selten so gelangweilt.
menwelt Komplexe herrschen über emp- Jörg Hardel, Langenhagen (Nieders.) Kanzlerin Merkel
fundene Einschränkungen, kann die Folge
dieses Umstandes nicht sein, dass ich mich Es reicht! Ich bin seit nunmehr fast zwanzig Ohne sie gäbe es kein Gesetz für die gleich-
als Person zweiter Klasse zu fühlen habe, Jahren treuer SPIEGEL-Leser und weder berechtigte Teilhabe von Frauen und Män-
nur weil ich ein Mann bin. Weil Frauen Macho noch Frauenfeind. Aber eine Sonder- nern an Führungspositionen, ohne sie gäbe
sich diskriminiert fühlen, ist die Antwort, ausgabe zum Thema Feminismus? Schaut es nicht so viele Diskussionen zur gleichen
dass Männer diskriminiert werden müs- eigentlich einer Ihrer Redakteure/innen Bezahlung, keinen Equal Pay Day – und
sen? Diese SPIEGEL-Ausgabe war die ers- (fast vergessen!) mal aus dem Fenster Ihres auch beim Gesetz zur Entgelttransparenz
te, die ich wütend in die Zimmerecke ge- Wolkenkuckucksheims in Hamburg? Die haben die Frauenverbände mitgewirkt.
worfen habe. Welt, Europa und Deutschland stehen vor Monika Schulz-Strelow, Präsidentin der Initiative
Christian Müller, Bergisch Gladbach (NRW) Riesenproblemen, und Sie produzieren Frauen in die Aufsichtsräte (FidAR) e. V., Berlin
eine Sonderausgabe zum Thema Gleich-
Meinem Nachbarn den SPIEGEL aus dem berechtigung? Ehrlich, geht’s noch? Als Da habe ich wohl die Niete unter den acht
Briefkasten geklaut, als ich den Titel sah. Abonnent muss ich diesen, mit Verlaub, verschiedenen Titelbildern bekommen.
Diesen und den folgenden Abend gelesen – Lifestylejournalismus auch noch bezahlen! Wie armselig ist es, wieder eine leicht be-
fast jeden Artikel! Das passiert mir sonst Ich erwarte vom SPIEGEL anständigen kleidete, mit Seide und Ketten geschmück-
nie, ich schaffe höchstens ein Fünftel, Journalismus zu aktuellen Themen. te Schöne als Lockvogel zu benutzen.
wenn überhaupt. Ja, warum lesen weniger Steffen Reinhardt, St. Egidien (Sachsen) Schade, besonders für dieses Heft. Wurde
Frauen als Männer Tageszeitungen und die Entscheidung von einer Frau getrof-
politische Magazine wie den SPIEGEL? fen? Als ehemalige Praktikantin in den
Klare Antwort: weil sie und ihre Lebens- Siebzigern beim SPIEGEL finde ich es aber
situation üblicherweise wenig darin vor- sehr gut, dass Sie bei dem Thema #MeToo
MONIKA HÖFLER / DER SPIEGEL
kommen. Vielleicht haben wir einfach kei- nicht die Augen vor Rudolf Augstein und
ne Lust, ständig von Männergerangel und seinen Männern verschließen.
Rechthaberei zwischen und innerhalb der Katrin Malanowski, Krefeld (NRW)
Parteien zu lesen, von alten Jungs zu
hören, die im »Sandkasten Weltpolitik« Ich hatte mir im Stillen ein Exemplar mit
(Handels-) Krieg spielen, sich gegenseitig Charlotte Roche auf dem Cover ge-
bedrohen, sich verbünden, damit angeben, wünscht. Hab ich bekommen. Danke!
wer den größten roten Atomknopf besitzt, Musikerin Ace Tee Aber: Wie macht ihr das?
und Konflikte mit Macht, Intrigen und Ge- Wolfgang Ahrens, Hamburg
walt lösen. Womöglich interessieren uns Solange in Ihrem Heft die Meinungsartikel
die Vorgänge in der kapitalistischen Wirt- am Anfang des Heftes nur von Männern Ich halte gerade die weibliche Ausgabe des
schaft und das Gezocke an der Börse nicht (Augstein, Feldenkirchen und Fleischhauer) SPIEGEL in der Hand und spüre, wie mei-
besonders. Wir haben anderes zu tun: für stammen, kann ich Ihre Auseinanderset- ne Tränendrüsen reagieren. Wie sehr ver-
unglaublich wenig Geld andere Menschen zung mit Frauenthemen nicht wirklich misse ich als politisch interessierte Frau
pflegen, betreuen, versorgen, behandeln, ernst nehmen. eine Zeitschrift für weibliche Tagespolitik,
unterrichten, an der Kasse sitzen, verkau- Dr. Doris Behrendt, Biebelried (Bayern) in der es um »unsere« Belange geht. Ohne
fen – neben der Berufstätigkeit noch die die ständige Alphatier-Showbühne. Ohne,
meiste Hausarbeit erledigen und uns um Wir freuen uns über die Sonderausgabe dass es gleich automatisch um die Ver-
die Kinder und die alten Eltern kümmern. und begrüßen diese Initiative ausdrücklich. schwesterung mit gender-diskussionsbezo-
Schlage vor, dass ab dieser Ausgabe beim Allerdings mussten wir mit Verwunderung genen oder kämpferischen feministischen
SPIEGEL eine Feministin den Auftrag be- feststellen, dass keine der zivilgesellschaft- Belangen geht. Bitte mehr und öfter so et-
kommt, darauf zu achten, dass jeder zwei- lichen Fraueninitiativen und Frauenverbän- was. Ich kaufe gleich zehn Exemplare und
te Beitrag von einer Frau geschrieben wird de, die teilweise seit Jahrzehnten an diesen verschenke sie an Freundinnen.
und jeder zweite Beitrag von Frauen han- Themen arbeiten, hier Erwähnung finden. Nadja Lehmann, Göttingen
Das geht so nicht! rungsposition und fühle mich nicht diskri- islamistischen (nicht islamischen!) Indok-
miniert. Mein Mann und ich haben von trinierung und Verhetzung hergestellt.
Sonderausgabe 1/2018 Anzeige
Anbeginn an immer alles, was anfiel, glei- Ganz wie zum Beispiel Kamel Daoud und
Konferenz »Futura«
chermaßen angepackt, ohne große Diskus- viele andere MuslimInnen.
Im Essay »Dinge, die sonst nur Männer sionen, ob das auch gleich sei. Es muss Alice Schwarzer, Köln
tun« schreibt Barbara Supp: »Es war zur nicht gleich bemessen sein, es muss gleich
Gewohnheit geworden, dieses Denken, gefühlt sein. Ich lege beispielsweise alles
wenn es um Podien, Kongresse oder auch auf Kante zusammen, manchmal auch das, Das wäre ein Signal gewesen!
manche Talkshow ging: Wir brauchen eine was er schon zusammengelegt hat. Darü- Sonderausgabe 1/2018 Die Ex-Minis-
Frau.« Das scheint sich auch das Organi- ber lachen wir inzwischen, und einer gibt terinnen Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD),
Rita Süssmuth (CDU) und Sabine
sationsteam der Futura-Konferenz, die auf sich dann mehr Mühe, einer nimmt sich
Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)
der letzten Seite beworben wird, gedacht zurück. Gott bewahre, dass wir alle irgend- im SPIEGEL-Gespräch über Machos
zu haben. Eine Frau zwischen sieben Män- wann gleich sind: In einer solchen Welt und Feminismus in der Politik
nern, ist das euer Ernst? So wird Deutsch- möchte ich nicht leben!
land nie zum Frauenland. Sandra Unberath, Fürth (Bayern) Wenn es um Teilhabe von Frauen in der
Helena Schäfer, Bayreuth Politik geht, kann ich viele Positionen der
Das ist ja gruselig. Man schreibt eine Ex- drei befragten Damen nachvollziehen. Als
Schöne Idee, dieses eine Heft. Ambitio- cel-Tabelle, um rauszufinden, ob es in der es aber darum ging, 1994 mit Hildegard
niert, streitbar, inspirierend, um (Auf-)Klä- Partnerschaft gerecht zugeht? Der Num- Hamm-Brücher erstmals eine Frau zur
rung bemüht. Und dann, zehn Zentimeter mer gebe ich keine zehn Jahre, dann muss Bundespräsidentin zu wählen, war von
vorm Ziel, die Einladung zu Futura, initi- die Tabelle umbenannt werden, weil sich
iert vom SPIEGEL. Acht Referenten. Da- die Namen der Beteiligten geändert haben.
von eine Frau. Leute, das geht so nicht. Wie wäre es denn einfach mit gesundem
Ich hätte lieber nicht gemeckert, aber das Menschenverstand? Es wird nie gerecht
ist dann wirklich peinlich am Ende eines zugehen, egal ob in einer Beziehung, der
solchen Heftes. Elternschaft, am Arbeitsplatz oder auf dem
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Hohlspiegel Rückspiegel
Zitate
Die »Allgemeine Zeitung« aus Bad
Kreuznach über ein umgekipptes Auto: Die »Süddeutsche Zeitung« zum
»Mit einem Seilzug und Manneskraft 80. Geburtstag der legendären SPIEGEL-
kippten die Feuerwehrmänner schließ- Reporterin Marie-Luise Scherer:
lich das Auto wieder auf vier Räder.« Jetzt im Welche Chancen hat im deutschen Geis-
Handel tesleben der Fünfziger ein Mensch, der
kein Abitur besitzt und dazu noch eine
Frau ist? Da bleibt eigentlich nur eines:
Journalistin! ... Marie-Luise Scherers Ruf
bis heute begründen die Reportagen, die
Anzeige in der »Melsunger Allgemeinen« sie für den SPIEGEL geschrieben hat. In
diesem Leitmedium der noch ziemlich jun-
gen BRD erringt sie ein Privileg, das außer
Aus der »Rheinpfalz«: dem Chef persönlich sonst keiner genießt:
»Der Spritablass vom Samstag war der Sie darf dort »ich« sagen. Vom SPIEGEL-
19. Fall, bei dem Flugzeugpiloten Sound stechen sie scharf ab. Sie besucht
über Deutschland in diesem Jahr Kerosin Modenschauen und Gourmetkonferenzen;
absonderten.« sie erlebt die großen alten Damen des
Show-Geschäfts: Lilli Palmer, wie sie in
ihrem Hosenanzug auf dem Sofa herum-
turnt; Hildegard Knef, die sich im Foyer
eines Luxushotels mit rauchiger Stimme
die Verehrer vom Hals hält; die fast er-
blindete Zarah Leander beim Auftritt vor
einem Publikum, das sie nicht zu schätzen
weiß. Liest man diese Texte im Abstand
von Jahrzehnten, merkt man, wie in den
Schild an einer Tankstelle in Riegelsberg scheinbar kleinen Beobachtungen eine
(Saarland) ganze Expoche eingeschlossen ist.
„ Schwarzriesling!
Hab' ich neu entdeckt! “
Erstaunlich
kräftig.
Württembergische Weingärtner-Zentralgenossenschaft e. G.
Raiffeisenstraße 2 · 71696 Möglingen · Telefon 0 7141 4866-0 · www.wzg-weine.de · info@wzg-weine.de
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