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Vorgelegt am 18.12.

2018 Wintersemester 2018/19

ERASMUS-Auslandssemester an der University of Crete, Rethymno

9. Fachsemester Politikwissenschaften, Goethe Universität Frankfurt

E-Mail-Adresse: s2380472@stud.uni-frankfurt.de

Seminar: Violence & Politics (Βία και Πολιτική) Dozent: Noutsopoulos, Thomas

Modul: Vergleichende Politikwissenschaft, PW-BA-P1

Ernst Blochs Konzept des Naturrechts als moralische Grundlage zur


Versöhnung von Mensch und Natur

vorgelegt von Rudolf Blazevic

-1-
Inhaltsverzeichnis
Einleitung: Diagnose der spätmodernen Gesellschaft …………………………………………………… 3

Der Ursprung der Entfremdung, Arbeit in der Spätmoderne, ideologische Zwänge und
widersprüchliche Freiheiten ……………………………………..…………………………………………………. 4

Motivation, Antrieb und Interesse des Menschen ………………………………………………………… 8

Ernst Blochs Idee des Naturrechts als Rechtsphilosophie ……………………………………………… 10

Blochs Idee des aufrechten Gangs als Lebensphilosophie …………………………………………….. 14

Fazit ……………………………………………………………………………………………………………………………….. 15

Quellenverzeichnis ………………………………………………………………………………………………………. 17

-2-
Einleitung: Diagnose der spätmodernen Gesellschaft

In der folgenden Hausarbeit beabsichtige ich zu betrachten, was heute notwendig wäre, um die
heutige Gesellschaft in eine dem Menschen angemessene und würdige zu transformieren und
thematisiere eher die „westliche“ Gesellschaft des globalen Nordens, wobei wirtschaftlich starke
Gesellschaften besonders betroffen sind, wobei die Eigenschaften des Globalen Westens aufgrund
der Globalisierung mehr oder weniger global verbreitet sind. Ich komme zu diesem Punkt durch den
Widerspruch von zerbröckelnder Kultur trotz großen wirtschaftlichen Wohlstands auf globaler Ebene.
Unter zerbröckelnder Kultur verstehe ich, mich anlehnend an Hartmut Rosa, Phänomene des
gesellschaftlichen „roll-backs“, wie etwa Aufstieg von faschistoidem Denken; eine Beschleunigung
des sozialen Wandels, eng verbunden mit der sich immer stärker ausprägenden Individualisierung.1
Dieser kulturelle Wandel sollte nicht per sé als schlecht beurteilt werden, zumal sich heute neue
Räume für das Denken der Menschen öffnen. Eine selbstbestimmte und nach eigenen Interessen
strebende Lebensgestaltung ermöglicht sich, indem die Menschen „entwurzelt“ werden. Es ist eine
Verurteilung zur Freiheit: Man hat einerseits die Möglichkeiten, selbstbestimmt sein Leben zu
gestalten, ist aber andererseits frei von traditionellen Strukturen wie Gemeinschaften und
Großfamilie. Es ist schwierig, innerhalb dieser Überwältigung von Entscheidungsfreiheit und
Entscheidungszwang durch Handlungsdrang zu wissen, wofür man leben möchte und wie Leben
gestaltet sein sollte. Das individualisierte Subjekt muss sich ein Weltbild zusammenlegen, selbst
erklären können, während mit zunehmender Abwendung von der Religion die Wahrheit der
Sinnlosigkeit der Existenz ebenso schwer zu verdauen ist. Innerhalb dieser schwierig zu
handhabenden Freiheit lauern Abgründe: Die moralischen Freiheiten bringen Konflikt mit anderen,
eventuell auch mit älteren Lebensbegleiter*innen. Neue moralische Wertungen und Philosophien
müssen internalisiert werden. All jenes geht darauf hinaus, dass der eigene Halt in der Welt bedroht
ist, sodass es einfach wird, die simplen Antworten auf die komplexen Themen zu finden, die am
liebsten mit den tiefenpsychologischen Prädispositionen der Individuen auf Resonanz treffen. Wegen
der Überforderung, weil auch die Arbeitsanforderungen unter dem Vorzeichen der Beschleunigung
stehen, sind Tendenzen des roll-backs begünstigt. Man sehnt sich wieder nach den einfacheren
Zeiten, nach den Traditionen und starren Wertesystemen und Identität, während seelische
Depressionen und Burnout zu Volkskrankheiten werden. Wie konnte es hierzu kommen?

Die Philosophen und Hauptvertreter der Kritischen Theorie der „Frankfurter Schule“, Theodor W.
Adorno und Max Horkheimer analysierten in ihrem gemeinsamen Hauptwerk „Dialektik der
Aufklärung“ die Menschheit als etwas vom aufklärerischen Denken angetriebenes, das vor allem seit
der Epoche der Aufklärung sich nach und nach in alle Bereiche der Gesellschaft ausbreitet,

1
Vgl. Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. S. 193ff.

-3-
totalisiert.2 Die Menschen waren der Natur stets unterworfen und litten Furcht und Machtlosigkeit
ihr gegenüber und finden in der Aufklärung Selbstermächtigung. Sie ermächtigen sich der Natur und
beherrschen sie. Das Problem hierbei ist bloß, das der Mensch selbst Teil der Natur ist. Sein
natürliches Wesen wird von ihm selbst diszipliniert und in die Formen gepresst, die von ihm gefordert
werden, so wie er auch nur innerhalb des Bestehenden Orientierung findet, teils auch aus
internalisierter Motivation, die im Grunde aber extrinsisch ist. Das geschieht zum Wohle von
Selbsterhaltung und nur auf widersprüchliche Weise vom Wohle der tief unter den Schichten des
gesellschaftskonformen Bewusstseins liegenden Wünschen und Antrieben. Dies ist wohl eine
notwendige Anpassungsleistung des Menschen an die Gesellschaft an die äußeren Anforderungen,
bloß sind die Anforderungen durch und durch vom aufklärerischen Denken bestimmt. Thronend sitzt
an der Spitze dieses Systems die Logik des Profits durch Vereinheitlichung, das Prinzip des sich selbst
verwertenden Werts, ein sich selbst ständig wiederholender Kreislauf. „Die Arbeitsteilung, zu der sich
die Herrschaft gesellschaftlich entfaltet, dient dem beherrschten Ganzen zur Selbsterhaltung.“3 Es ist
das ideologische Spiegelbild der Logik, die Marx und Engels im kapitalistischen Wirtschaftssystem
erkannten. Welche Alternativen stehen uns offen? Wie können wir überhaupt uns ein
menschenwürdiges Leben denken innerhalb der Realität des allgegenwärtigen Kapitalismus? Wie
können wir die Welt so gestalten, dass nicht mehr eine Herrschaft des Geldes regiert? Der Weg ist
wohl lang und etliche Widersprüche prägen die Gesellschaft, doch entlang der adäquaten
normativen Basis kann ein Weg gefunden werden, den die Aufklärung gebracht hat.

Der Ursprung der Entfremdung, Arbeit in der Spätmoderne, ideologische


Zwänge und widersprüchliche Freiheiten

Karl Marx und Friedrich Engels brachten aus der ihrer historisch-materialistischen Analyse der
Gesellschaft und Wirtschaft einen Begriff heraus, der den Kern der Entfremdung erfasste, die
„ursprüngliche Akkumulation“.4 Der Begriff der ursprünglichen Akkumulation impliziert im
Wesentlichen den historischen Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel. Es gibt
unterschiedliche zeitliche und räumliche Anfänge dieses Prinzips, wie man es schon an den freien
Märkten und freien Arbeitern des 14. und 15. Jahrhunderts im Mittelmeerraum erkennen konnte,
welcher durch den freien Handel über See florierte. Etwas später, aber dafür logisch anschaulicher ist
das Beispiel der englischen Geschichte ab dem 15. und 16. Jahrhundert, in dem das klassische
feudale System vorherrschte, besonders in ländlichen Gebieten, während in den Städten die Zünfte
eine zentrale Rolle spielten. Im 24. Kapitel des „Kapitals“ zur ursprünglichen Akkumulation

2
Vgl. Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, S. 12
3
Ebd. S. 28
4
Marx & Engels, S. 741 ff.

-4-
rekonstruieren Marx und Engels den Prozess des Übergangs der klassischen feudalen und
Zunftordnung zu einer kapitalistischen. Es war ein Prozess, der allmählich Zünfte, Feudalherren und
selbstsubsistente Bauern enteignet wurden und durch den Aufstieg der industriellen Produktion
verdrängt wurden. Die enteigneten, von Besitztümern zur Ermöglichung von Selbstsubsistenz freie
Bürger waren unersetzbare Produktivkräfte, ohne die die kapitalistische Produktionsweise sich nicht
hätte aufbauen können. In der Etablierung einer zweiteiligen Spaltung der Gesellschaft in Bourgeoisie
und Proletariat erkennen Marx und Engels eine Änderung der Qualität von Geld, Waren,
Produktionsmitteln und Lebensmitteln in eine, die sie zu Kapital macht, weil durch das Interesse der
Bourgeoise bezüglich der Vermehrung ihres Besitzes Geld, Waren, Produktionsmittel, etc.
zweckentfremdet werden zugunsten des Primats des Profits.5

In der Gegenwart finden wir uns wieder mit großem, weltweiten wirtschaftlichem Wohlstand, der
ungleich verteilt ist und dem Recht, das lieber zugunsten der Verelendung der Menschheit beiträgt
anstatt das potentielle Glück der Menschen nachhaltig zu sichern oder in diese Richtung zu lenken. Es
scheint vielmehr als Instrument, um Verhältnisse von Privatbesitz zu sichern, die einen Großteil der
Weltbevölkerung in Armut trotz harter Arbeit verkümmern lassen, den Mittelstand auch hart
arbeiten lassen mit besseren Konditionen und die Oberschicht ihr Geld für sich arbeiten lassen,
indem sie mit ihren Besitztümern allerlei Geschäften nachgehen können und sodass sie ohne
Produktivität trotzdem Unmengen an Wohlstand besitzen, die sie nur begrenzt genießen können. Es
ist die Fragen nach Gerechtigkeit, Freiheit, Glück und Solidarität die ich stellen möchte, weil sie es
sind, die allen Menschen zugrunde liegen. Nach der Etablierung von automatisierter
Massenproduktion ist es schon längst fällig, dass die Menschheit eine so enorme Produktivität an
den Tag bringt, die längst genug ist, um ihre Freiheit so zu nutzen, wie es ihren beliebt. Die
Systemfrage ist eine abgestempelte, gar vergessene, seit der Kapitalismus globaler Standard
geworden ist. Es geht auch über die Sphäre der Arbeit hinaus. Die gesamte Gesellschaft ist
durchzogen vom Prinzip der zweckrationalen Wertschöpfung, wenn auch äußerst subtil. Auch wenn
der Begriff der „Arbeiterklasse“ heute etwas überholt ist und deutlich diversifizierter ist als zu den
Lebzeiten Marx‘ und Engels‘, gelten alle Menschen, die nicht ihr Kapital für sich arbeiten lassen
können als Arbeiter und auch diejenigen, die dieses Kapital besitzen, müssen sich den Gesetzen und
Spielen der Kapitalzirkulation beugen. Alle sind den Umständen des Kapitalismus unterworfen und
sind ihm vollkommen immanent und das heißt: das Aufdrängen der fremdbestimmten Zwänge auf
das Individuum bringt Unzufriedenheit und den Wunsch nach Veränderung. Marx und Engels dazu:

„Es ist nicht genug, daß die Arbeitsbedingungen auf den einen Pol als Kapital treten und auf den
andren Pol Menschen, welche nichts zu verkaufen haben als ihre Arbeitskraft. Es genügt auch nicht,

5
vgl. Marx/Engels, S. 742

-5-
sie zu zwingen, sich freiwillig zu verkaufen. Im Fortgang der kapitalistischen Produktion entwickelt
sich eine Arbeiterklasse, die aus Erziehung, Tradition, Gewohnheit die Anforderungen jener
Produktionsweise als Naturgesetz anerkennt. Die Organisation des ausgebildeten kapitalistischen
Produktionsprozesses bricht jeden Widerstand, die beständige Erzeugung einer relativen
Überbevölkerung hält das Gesetz der Zufuhr von und Nachfrage nach Arbeit und daher den
Arbeitslohn in einem den Verwertungsbedürfnissen des Kapitals entsprechenden Gleise, der stumme
Zwang der ökonomischen Verhältnisse besiegelt die Herrschaft des Kapitalisten über den Arbeiter.“
(Marx/Engels, S. 765)

Wir finden uns heute wieder im Zeitalter der sogenannten Spätmoderne, einem weit
fortgeschrittenen Entwicklungsstadium des Kapitalismus, der als Wirtschaftssystem seit fast drei
Jahrzehnten den Status einer beinahe globalen Hegemonie erreicht hat und in den allein die
Bevölkerungszahl in den führenden Industriestaaten eine Art Obergrenze der Effizienz erreicht hat.
Unter Kapitalismus versteht sich im Kern ein simples Prinzip: Eine ständige Verwertung des
bestehenden Werts. Es gilt als höchstes Gut des kapitalistischen, zweckrationalen Denkens. Die
Akkumulationsmittel in Form von Wissen, Technik und Produktionsmitteln steigern sich im
Kapitalismus exponentiell und erreichen heute den Punkt, an dem in die letzten Ecken der
unbenutzten Möglichkeiten das totalitäre Prinzip der Wertschöpfung einsickert, wie man es
beispielsweise an den aktuellsten Tendenzen der flexibilisierten Arbeitsanforderung sehen kann, die
u. A. unter Bourdieus Begriff der „Flexploitation“ fallen, eine von vielen verschiedenen Formen der
Prekarisierung des Arbeitslebens deren Behandlung den Rahmen dieser kurzen Hausarbeit sprengen
würde. Die äußeren Anforderungen und intrinsischen Motivationen im psychischen Innenleben des
Individuums bewegen sich stärker im heutigen Zeitalter der neoliberalen Spätmoderne viel
intensiver, verschwimmen ohne Reflexion ineinander oder geraten in Konflikt während die
Anforderungen, die der Kapitalismus von oben herab verursacht, stetig ihren Zwang aufbürden.

Die angepriesene Freiheit der Selbstverwirklichung, in der allgegenwärtigen latent-liberalen


Ideologie, das ideologische Gegenstück zur Optimierung der kapitalistischen Produktionsweise, ist
zynisch im Anbetracht der Immanenz der Freiheiten, die dem Subjekt überhaupt gewährt wird,
sowohl im Gebiet des Unternehmertums als auch der Lebensgestaltung von Individuum und
Gesellschaft. Immanent ist sind die Freiheiten in dem, was Adorno und Horkheimer den „totalen
Verblendungszusammenhang“ nennen; ein ominöser, schwer zu ergreifender Begriff, der die
Freiwilligkeit des menschlichen Handelns anzweifelt, weil dieser freie Wille unter dem Prämisse der
allgegenwärtigen Einflüsse in Form von Begriffen und Gegenständen des aufklärerischen Denkens
existiert. Ein Denken oder eine Mechanik, was alles, auch die Natur, der der Mensch entspringt,
verstehen und unter zweckrationalen Sinn unterwerfen will; eine Logik, die stark mit dem

-6-
Kapitalismus korreliert. Es ist daher vollkommen logisch, dass man sein Unternehmen optimieren
und das meiste aus den Arbeiter*innen rausholen muss, wenn man innerhalb der globalen
Konkurrenz mit dem eigenen Unternehmen bestehen möchte. Innerhalb der latenten liberalen
Ideologie gilt die Selbstverwirklichung und das Lebenswerk als ein hohes Ziel zur Bewahrung des
Selbstwerts bzw. der Würde und der Freude am Leben und stellt den zentralen Antrieb des
menschlichen Handelns dar, was an sich ein menschenwürdiges Motiv ist, bloß sind die Verzerrungen
der Wünsche wegen fehlender Reflexion wie ein Unkraut, das durch stetige Reflexion gejätet werden
muss oder geraten in direkten Konflikt mit den äußeren (Arbeits-)Anforderungen und anderen
Schwierigkeiten des beschleunigten Lebens wie etwa dem Gefühl der Entfremdung und der Not zur
Selbstartikulation und gleichzeitiger Unfähigkeit dazu.6

Im Großen und Ganzen ist die ursprüngliche Akkumulation in voller Blüte und die Subjekte sind unter
dem Primat der kapitalistischen Logik zu Objekten gemacht, deren Handlungs- und Denkspielraum
nur innerhalb des Systems verweilt, das die künstliche Trennung von Produktion und Produzenten
aufrecht erhält, während die angepriesene individuelle Freiheit an seine Grenzen stößt, die von
kapitalistischen Motiven stammen. Die Arbeitsverhältnisse sind so sehr auf Produktivität ausgelegt
wie möglich, während in manchen Ländern sich wenigstens Arbeiter*innen so organisieren konnten,
dass diese Arbeitsrechte und -anforderungen zu humaneren Bedingungen vollzogen werden und die
ausbeuterische Tendenz des Erfolgs des Widerstands entsprechend zurückgedrängt werden.

Seit Marx‘ und Engels‘ Schaffenszeit hat sich eher wenig im Kern an der Rolle der Arbeitenden im
Kapitalismus geändert, hauptsächlich eine Diversifizierung von Lohnabhängigkeit und Besitztümern.
Sie sind frei von Produktionsmitteln und frei, sich auf dem Arbeitsmarkt ihre Arbeit auszusuchen,
dessen Inhalt oftmals im Interesse des*r Arbeitergeber*in steht, während man sich glücklich
schätzen kann, wenn das Geschäft auch teils im eigenen ideologischen Interesse liegt.
Bemerkenswert sind heute die Flexibilisierung und Verflachung der Hierarchien am Arbeitsplatz, die
das eigene Engagement und Verantwortungsgefühl fördern sollen, sowie der verschärfte
interpersonale Druck aufgrund stärkerer Abhängigkeitsverhältnisse in der Bewältigung der Aufgaben,
wodurch sowohl die Produktivität als auch die psychosoziale Involvierung erhöht werden sollen, was
den Selbstorganisationsdruck und die Lebensgestaltung so verschärft, dass stressinduzierte
Krankheiten wie Burnout und Depression sich stetig häufen in hochindustrialisierten Nationen.² Es
soll jedoch besonders stark hervorgehoben werden, dass in dieser Situation der verschärften und
noch tiefer in das private Leben eindringenden Arbeitsanforderungen nicht lediglich die sogenannte
„Arbeiterklasse“, wie sie zu den Lebzeiten Marx‘ erschien, betroffen ist, sondern aus Furcht vor dem
kafkaesken, Damoklesschwert, die dem kapitalistischen Geist innewohnt, sind auch Manager,

6
Vgl. hierzu Rosa, S. 224ff.

-7-
Abteilungsleiter und sonstige Höhergestellte betroffen, können teils sogar stärker als die
unterrangigeren Mitglieder von Stress betroffen sein. Alle erleiden weniger Stress, umso stärker sie
sich mit ihrer Arbeit identifizieren, weswegen eine psychische Anpassungsleistung und Änderung der
Prioritäten geschehen muss, um im beschleunigten Arbeitsleben zu bestehen. Man könnte hier eine
Art Darwinismus der Ideologie beschreiben, was bedeutet, dass die ideologisch konformsten
Menschen diejenigen sind, die am wenigsten mental unter Druck geraten und in ihrem Leben und
Handeln auf Widersprüche stoßen und gelähmt werden von Stress und Antriebslosigkeit. Eine
ideologische Anpassungsleistung ist also notwendig, um sich zu behaupten, oder gar aufzusteigen,
während man dafür aber ein kritisches Denken einbüßen muss und in der großen Sicht der eigenen
Handlung sehen muss, in welche Richtung das eigene Schaffen tendiert: Ist es kapitalismuskonform
oder emanzipatorisch?

Motivation, Antrieb und Interesse des Menschen

Man merkt an dieser Stelle bereits, was dem Streben der Arbeitenden heute besonders zugrunde
liegt (und allgemein allen Menschen): Die Bewahrung des Selbst vor einem lauernden Abgrund, ein
Scheitern vor den „selbstgestellten“ Anforderungen an das Selbst, ein hartes Über-Ich, das viel Ich-
starke Anpassungsleistung und Aufmerksamkeit vom Subjekt fordert und das Es, das durch seine
Unbefriedigung in die andere Richtung zerrt, solange es nicht streng diszipliniert ist, und dadurch
kräftezehrend wirkt anstatt Antrieb zu sein, wodurch eine Resignation der Wünsche und Ambitionen
begünstigt wird. Wir sehen, dass die Totalität der Naturbeherrschung, wie Adorno und Horkheimer
sie erörtert haben in der „Dialektik der Aufklärung“, sich heute immer noch beständig weiter
ausbreitet und die letzten tiefenpsychische Ecken des menschlichen Wesens unterjocht, um sie als
Produktivkräfte zu optimieren. Die Mittel der kapitalistischen Gesellschaft sind höchst ausgereift,
jedoch ist das kapitalistische System als blind im Streben nach dem angebrachten Zweck der
Tätigkeit. Es liegt ein Versprechen der liberalen Ideologie zugrunde, das eine starke Wirtschaft mit
allgemeinem Wohlstand und somit individuellem Wohlergehen synonym setzt, was sich allein im
Anbetracht der sich stetig weitenden Schere von Reichtum und Armut intra- und international
permanent widerlegt. Es ist eine Tendenz, die generell bekannt ist und die durch Sozialdemokratie
lediglich verlangsamt, gelindert und etwas zurückgedrängt wird. Der Kapitalismus kennzeichnet sich
dadurch, besonders effektiv in der Akkumulation von Wert zu sein, und die Kooperateure und
Investoren hohe Produktivität und Profit genießen zu lassen. Der wirtschaftliche Liberalismus hat
durchaus seine Nützlichkeit für ein Wirtschaftswachstum, bloß leben wir heute in einer Zeit des
Überflusses von Waren im globalen Norden und der weltweiten Ungleichheit bezüglich der
Besitztümer, was man als eine „Überbenutzung“ des Kapitalismus bezeichnen könnte. Es soll nur kurz
angemerkt sein, wie der globalisierte Zwang zum Wirtschaftswachstum auf die Grenzen der irdischen

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Ressourcen stößt und wie sozial instabil und prekär die ausgebeuteten Peripherien sind. Oben drauf
kommt die Unzumutbarkeit des Systems, sogar für die aufsteigenden Mittelschichten: die
Anpassungsleistung an menschenfeindliche und oft entfremdende (Arbeits-)Anforderungen und die
Unterdrückung vieler Bedürfnisse der Menschen. Das sieht in der Realität so aus, dass wir „falsche“
Bedürfnisse haben, die dank der schieren Vielfalt an Konsumgütern temporär gedeckt werden oder
dank ideologischer Überzeugung nicht angezweifelt werden, während eine Aufhebung des Begehrens
und gar Ataraxie, die Seelenruhe, nicht gewährleistet wird, weil diese oft nicht mit den stärker oder
schwächer integrierten äußeren Anforderung vereinbar ist. Eine grobe Parallele als Beispiel könnte
man erkennen in sehr effektiven Medikamenten, deren Patente gekauft werden, die aber nicht
produziert oder nur zu unzumutbaren Preisen verkauft werden, um den Verkauf der
Alternativprodukte, die die Krankheit lindern, aber nicht beenden, die auf Dauer mehr Profit
einbringen, zu gewährleisten. Oder einfacher, der typische Warenfetisch, der nie vollends zu
befriedigen ist, sondern ein Ersatzprodukt oder Mittel zum Zweck der Befriedigung eines
ursprünglichen Wunsches ist, welche man erst durch Analyse und Reflexion zu erkennen vermag.
Gehen wir den Bedürfnissen der Menschen nach und schauen, was sich jenseits der offensichtlichen
Bedürfnisse befindet, merken wir, dass alle Menschen, auf ihre Weisen, möglichst glücklich sein
möchten. Bloß sind wir an dem Punkt angekommen, dass uns etliche Freiheiten bezüglich der
eigenen Lebensgestaltung offen stehen, doch sind die äußeren Anforderungen so hoch, dass man für
die eigene Lebensgestaltung entweder Zeit und Energie in Anpassungsleistungen investiert oder
Fehlleistungen hinnehmen muss. Und das betrifft lediglich das eigene Leben. Es wird schwierig,
überhaupt die sozialen Kontakte zu pflegen und sich um andere Menschen zu kümmern, oder gar um
all die Menschen der prekären sozialen und geographischen Peripherien. Das Leben wird zum
individualisierten, ich-fixierten Streben getrieben von dem Damoklesschwert des seelischen
Zusammenbruchs durch Druck, der von außen und teils von innen kommt. Zusammengefasst ist das
Leben in führenden hochentwickelten Staaten, den Vorreitern der Strebenden der technokratischen
Endlösung, die lieber den Mond kolonisieren würde als die bestehende Welt vor dem Kollaps zu
retten, eine große Zumutung und der Inbegriff von entfremdetem Streben nach suboptimalen
Befriedigungen, die nichts an der sich aufbauenden Sprengkraft der Verhältnisse in Mikro-, Meso-
und Makroebenen der weltweiten Gesellschaften ändert.

Alle gesellschaftlichen Akteure besitzen Macht verschiedener Qualität und Quantität, um die
selbstzerstörerische Tendenz des Kapitalismus aufzuhalten, bloß herrschen verzerrte
Wahrnehmungen von der Gesellschaft: politideologische Verzerrungen, Glaube an Determinismus
und Alternativlosigkeit und Verlust von Hoffnung, egoistische Gier, schiere Irrationalität bzw. Religion
und andere ideologische Gegenstücke der materiellen Verhältnisse, in denen wir die Menschen
wiederfinden.

-9-
Es muss bewusst werden, welches überflüssige Leiden gewaltiger Ausmaße existiert und sich
kontinuierlich oder sprunghaft aufbaut, sodass der Hunger nach Glück aller für alle entfacht wird. Es
muss korrekt adressiert werden, woher das Leiden stammt (gesellschaftliche Verhältnisse) und
wodurch Leiden generell entsteht (Psychologie). Es bedarf also Aufklärung über die gesellschaftlichen
Verhältnisse und Kontemplation, Kritik und Reflexion bezüglich der Natur (des Menschen).

Sowohl beim Ruf nach Freiheit als auch nach Gerechtigkeit und Glück gibt es in praktisch allen
heutigen politischen Systemen der Empathie fähigen Menschen Widerhall und es könnte einem auch
emphatisch bestätigt werden, wie sehr man sich doch bemühe, um gerechtere Verhältnisse zu
etabilieren, jedoch arbeitet man gegen Windmühlen, denn der Kern der Bedürfnisse ist nicht
adressiert. Eben dies ist der Kern, der unter das Primat der Produktivität geordnet wird. Was sich im
Kern des menschlichen Begehrens befindet und dem alle Wünsche untergeordnet sind, seien es auch
abstrakte und große wie Freiheit, Gerechtigkeit oder Glück, ist Würde. Das Verlangen nach
menschlicher Würde liegt allen Menschen zugrunde. So widersprüchlich oder gar entgegengesetzt
die Handlungen der Menschen auch dem Stärken ihrer Würde sind, streben sie doch immer zu ihr.

Ernst Blochs Idee des Naturrechts als Rechtsphilosophie

Menschenwürde wird laut der Bundeszentrale für politische Bildung wie folgt definiert:

Menschenwürde ist

„der unverlierbare, geistig-sittliche Wert eines jeden Menschen um seiner selbst willen. Mit ihr ist (nach einer
Formulierung des Bundesverfassungsgerichts) der soziale Wert- und Achtungsanspruch des Menschen
verbunden, der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen oder ihn einer
Behandlung auszusetzen, die seine Subjektqualität prinzipiell infrage stellt. Nach Art. 1 Abs. 1 GG ist die
M[enschenwürde]. unantastbar; sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Damit
ist in Abkehr von einem Primat des Staates die Würde des Menschen an die Spitze der Rechtsordnung gestellt.
Unantastbarkeit bedeutet Unzulässigkeit jeglicher Missachtung der M. Eine Missachtung ist in einer
erniedrigenden Behandlung oder in der Behandlung des Menschen als bloßes Objekt zu sehen (z. B. Folter). Die
Garantie der M. als tragendes Konstitutionsprinzip des GG reichert die nachfolgend geregelten Grundrechte an,
die überwiegend in ihrem Kern M. enthalten. Ebenso basiert die Idee der Menschenrechte auf dem Gedanken
der M. Das in dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG) enthaltene allgemeine
Persönlichkeitsrecht weist insbesondere in den Ausprägungen des Schutzes der Privatsphäre und der
7
Intimsphäre eine enge Verbindung zur M. auf.“

7
http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22561/menschenwuerde

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Das Verbrechen gegen die Menschenwürde, die das Subjekt in der kapitalistischen Gesellschaft
erfährt ist genau die, dass das Primat des Werts herrscht und nicht das der Menschenwürde, was mit
der freischwebenden Macht des Kapitalismus über alle weltweiten Gesellschaften dank
wertmaximierender globaler und nationaler Ökonomien einhergeht, die jenseits jeglichen Rechts der
Menschenwürde frei handeln.

Um dem Primat des Kapitals eine adäquate Alternative entgegenzusetzen, suggeriert Ernst Bloch in
seinem Werk „Naturrecht und menschliche Würde“ aus dem Jahr 1961 sein Konzept des Naturrechts,
dem die Menschenwürde als Primat impliziert ist.8 Sein Konzept von Naturrecht unterscheidet sich in
einigen Punkten von Naturrechtskonzepten klassischer Vertreter der Politischen Philosophie wie
beispielsweise Thomas Hobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau, weil er das Wesen des
Menschen als etwas Werdendes versteht, also etwas, das sich konstant bewegt.9 Ebenso beharrt
Bloch auf dem Humanismus, der seiner Idee des Naturrechts zugrunde liegt, während bei
beispielsweise aus Hobbes‘ Naturrecht sich Gesetze ableiten lassen, die die besagte und vermeintlich
statische Natur des Menschen10 zu kontrollieren versuchen, Besitztum als Menschenrecht und die
Unveräußerlichkeit von Rechten zu postulieren versuchen und letztlich ihre humanistische Ader
aufgeben. Die Narrativen, die sich im hypothetischen Fall eines Diebstahls von Essen durch einen
Hungernden ergeben, sind grundverschieden:

1. Ein armer, hungernder Mensch, den das Schicksal zu oft Leiden ließ und sich kaum erhalten kann,
kann nicht weiter hungern, während er an einem Apfelbaum reife Früchte sieht. Er nimmt sich, was
er braucht, um ein zumutbares Leben zu führen. Als Hungriger und Notleidender steht ihm das
definitiv zu. (Bloch)

2. Ein Dieb bestiehlt den Besitzer eines Apfelbaums im Interesse seines eigenen Vorteils. Die ganz
klar egoistische Natur des Menschen beweist sich hieran und muss bestraft werden, um die
gesellschaftliche Ordnung aufrecht zu erhalten und das friedliche Zusammenleben zu sichern.
(Hobbes)

Das Naturrecht versteht sich als moralische Gerechtigkeit und steht klar entgegengesetzt zu
rechtlichem Positivismus wie in Hobbes‘ Leviathan.11 Das Naturrecht ist fundiert auf fundamentalen
Prinzipien, die normative Grundlage für Gerechtigkeit und Recht dienen. Aber auch Konzepten wie
das des Naturzustands von Rousseau steht Bloch entgegen. Es geht viel weniger darum, sich zurück
auf das Leben in der Natur zu besinnen oder hypothetisch anzunehmen, wie Menschen gewesen

8
Siehe Bloch, Ernst: Natural Law and Human Dignity. S. XVI (Translator’s Introduction by Dennis J. Schmidt)
9
Vgl. ebd. S. XVIII (Translator’s Introduction)
10
„Again, men have no pleasure (but on the contrary a great deal of grief) in keeping company where there is
no power able to overawe them all.“ (Hobbes, in: Leviathan S. 77)
11
Siehe S. XIV (Translator’s Introduction by Dennis J. Schmidt“

- 11 -
seien und miteinander interagiert hätten, sondern die Natur als etwas stetig zu Betrachtendes zu
nutzen, in Betrachtung ihrer zu reflektieren.

Herbert Marcuse schreibt in seinem Werk „Triebstruktur und Gesellschaft“ im Kapitel „Die
ästhetische Dimension“ bei einer Abhandlung über Freud, Kant und Schiller über eine eine
ästhetische Erziehung des Menschen, die aus psychologischer Sicht ebenfalls die Bewegung der
Entwicklung des Menschen und der Kultur weg von der totalen Beherrschung durch die Vernunft hin
zur Freiheit, was thematisch hervorragend ergänzend zu Bloch ist, wenn man sich die Tendenz der
Befreiung durch Besinnung auf das sich stetig wandelnde Wesen des Menschen verdeutlichen
möchte:

„An diesem Punkt treten die explosiven Eigenschaften der Schillerschen Konzeption aufs deutlichste in
Erscheinung. Für ihn besteht die Krankheit der Kultur im Konflikt zwischen den beiden Grundantrieben des
Menschen (dem sinnlichen und dem Form-trieb) oder besser gesagt, in der gewaltsamen „Lösung“ dieses
Konfliktes: eben in der Aufrichtung der Tyrannei der Vernunft über die Sinnlichkeit. Infolgedessen müßte die
Versöhnung der feindlichen Impulse die Behebung dieser Tyrannei voraussetzen – d.h., die Wiedereinsetzung
der Sinnlichkeit, nicht in der der Vernunft zu suchen sein, in der Beschränkung der Ansprüche der „höheren“
Fähigkeiten zugunsten der „niederen“. Mit anderen Worten, die Rettung der Kultur schlösse die Abschaffung
der repressiven Kontrollen in sich, welche die Kultur der Sinnlichkeit auferlegt hat… Und das ist auch tatsächlich
der Gedanken, der hinter der ästhetischen Erziehung des Menschen steht: sie zielt darauf ab, die Sittlichkeit auf
12
Grundlage der Sinnlichkeit zu errichten ; die Gesetze der Vernunft müssen mit den Interessen der Sinne
13
versöhnt werden. Der Formtrieb, der die Herrschaft an sich gerissen hat, muß in seiner Wirkung
eingeschränkt werden: „die Sinnlichkeit selbst muß mit siegender Kraft ihr Gebiet behaupten, und der Gewalt
14
widerstreben, die ihr der Geist durch seine vorgreifende Thätigkeit gern zufügen möchte.“ Sicherlich bedarf
nicht nur die Vernunft, sondern auch der „sinnliche Trieb“ einer einschränkenden Umformung („Beide Triebe
haben also Einschränkung, und insofern sie als Energien gedacht werden, Abspannung nötig“), wenn die
Freiheit zum leitenden Prinzip der Kultur werden soll. Die zusätzliche Freisetzung sinnlicher Energie muß mit
15
der universellen Ordnung der Freiheit in Einklang stehen. Aber jede Ordnung, die dem sinnlichen Trieb irgend
auferlegt werden müßte, muß selbst die Harmonie zwischen der individuellen und der allgemeinen
Befriedigung schaffen. In einer wirklich freien Kultur sind alle Gesetze vom Einzelnen selbst eingesetzt: „Freiheit
16
zu geben durch Freiheit ist das Grundgesetz“ des ästhetischen Staats. In einer wirklich freien Kultur vollzieht

12
Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“ 3. Brief
13
Ebd., S. 73
14
Ebd., S. 69
15
Ebd., S. 68
16
Ebd., S. 169

- 12 -
17
sich „der Wille des Ganzen“ nur „durch die Natur des Individuums“. Ordnung ist nur dann Freiheit, wenn sie
18
auf der freien Befriedung des Individuums gegründet und von ihr aufrechterhalten wird.“

Das zentrale fundamentale Prinzip, das Bloch anpreist, ist das des „aufrechten Gangs“, das Element,
das allen Revolutionen innerwohnt.19 Jede Art von Bürde, die einem auferlegt wird, muss
nachvollziehbar und vertretbar sein, worin man direkt eine normative Grundlage für
Arbeitsverhältnisse ableiten kann. Die Zustände, die die Opfer der Gesellschaft leiden lassen, ließen
sich auf Grundlage des Naturrechts kritisieren. Es ist kein Recht, dass von „oben herab“ den
Menschen aufoktroyiert wird in der Behauptung, es sei für ihr Wohl, weil man behauptet, die Natur
der Menschen und ihre Bedürfnisse zu kennen, sondern es stammt „von unten“, aus den
unbefriedigten Bedürfnissen und dem unnötigen Leiden, die noch zu decken sind.20 Man merke hier
aber an, dass der Grad, in dem Arbeit und Anstrengung eine Form von Leiden ist, flexibel ist und
hierbei abhängig von dem Grad der eigenen Überzeugung des persönlichen Engagements in der
Tätigkeit und somit der Motivation, so wie es die Theorie der Selbstbestimmung besagt.21. Die Natur
des Menschen ist hierbei etwas Bewegliches und so ist es auch das Recht, dem im Kern lediglich die
Konstante des Naturrechts innewohnt. Es ist der rechtsphilosophische Ausweg aus der Sackgasse der
Naturbeherrschung des aufklärerischen Geists, eine pendelnde Bewegung hin zur Versöhnung von
Natur und Geist. Es schwingt ein gewisser utopischer Klang dazu, bloß unterscheidet sich Blochs
Konzept des Naturrechts von üblichen utopischen Modellen: Utopien malten sich eine glückliche
Zukunft aus mit weniger Mühsal und Belastung, Blochs Naturrecht arbeitet auf Erhaltung der
Menschenwürde hin und bekämpft Degradierung und Kränkung.22 Das Naturrecht besitzt einen
negativen Charakter und bekämpft die Ursachen des Leidens, malt keine rosige, leichte Zukunft aus,
sondern räumt die Laster zur Seite, die die Menschen Leiden lassen. Dies bietet eine ideale
Grundlage für das Schaffen von großem Glück für Gesellschaft und Individuum, zumal Glück ohnehin
nicht die Abwesenheit von Mühsal bedeutet, sondern vielmehr ein Kunstwerk, eine Kreation ist, die
auf Arbeit und Tätigkeit fußt. Statt vermeintlicher Glückseligkeit durch ewige Faulheit, was ohnehin
Undankbarkeit und Konformismus schafft, legt Blochs Philosophie des aufrechten Gangs Betonung
auf das Bekämpfen vom Leiden, auf der die Gesellschaft fußen kann und dem Streben nach dem
großen Ganzen, zu dem das eigene Lebenswerk hinarbeitet. Vergleichen könnte man es mit dem
koreanischen Sprichwort: „Das kleinste Steinchen im Schuh macht mehr Verdruss als der größte Fels
im Weg.“ Es ist ein Seelenheil, eine bedeutsame Aufgabe und einen positiven Einfluss auf die Welt zu
haben, der durch das Naturrecht stetig einen Ausgangspunkt und Anker der Reflexion besitzt. Die

17
Ebd., S. 169
18
Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft, S. 188-190
19
Siehe Bloch, Ernst S. XVI (Translator’s Introduction by Dennis J. Schmidt)
20
Siehe ebd., S. XVIII
21
siehe Lox, C. et al., S. 62ff.
22
Vgl. Bloch, Ernst. S. XXIX (Author’s Preface by Dennis J. Schmidt)

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Orientierung am Naturrecht ist für jede Gesellschaft und ihr Rechtssystem angemessen, bedarf
keiner (gewaltsamen) revolutionären Umwälzung, zumal ihre Etablierung praktisch allen Leuten im
Interesse liegen kann, solange klar gemacht wird, dass wir eine Gesellschaft haben können, die so
frei, gerecht, solidarisch, glücklich und zwangslos sein kann, wie es das menschliche Zusammenleben
gestattet. Ein Keim für das Interesse der Vertretung des Naturrechts wohnt allen Menschen inne,
zumal alle Menschen das Interesse haben, das Wohlergehen ihrer selbst zu sichern. Aufgrund des
empathischen Wesens der Menschen ist eine Sorge um Mitmenschen ebenso in ihrem Interesse.
Bloch malt keine Utopie aus, weil ihm klar ist, dass aus der Immanenz der Gegenwart und der
Möglichkeiten der Entwicklung ein solches Bild unvorhersehbar ist. Wie genau die politische Lage in
dieser Utopie sein würde, wie genau die Wirtschaft gestaltet wird, bleibt kaum bestimmbar und in
dieser negativen Utopie überscheiden sich bemerkenswerterweise Blochs und Adornos
Vorstellungen von der „befreiten Gesellschaft“.

Das Naturrecht sei als moralische Rechtsphilosophie gedacht, die etliche Aspekte des
Zusammenlebens umfasst und unveräußerlich ist und ist somit nicht abgeschafft oder abgelegt
werden kann, so wie es die UNO in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, kurz AEMR,
am 10. Dezember 1948 deklariert hat. Sie besitzt einen allgemeinen negativen Charakter im Sinne
einer Bekämpfung des Leidens in der Gesellschaft und bleibt somit in Bewegung bezüglich ihrer
aktuellen Forderungen, kann aber spezifiziert auf gegenwärtige Verhältnisse auch einen positiven
Charakter annehmen und alle Bereiche des Lebens rechtsphilosophisch und ethisch bestimmen,
deren Abhandlung präzise betrachtet und analysiert werden muss bezüglich ihrer Tendenz: Geht eine
Reform in Richtung einer befreiten, menschenwürdigen Gesellschaft oder werden die unzumutbaren
Zwänge verstärkt?

Blochs Idee des aufrechten Gangs als Lebensphilosophie

Zusätzlich möchte ich das Thema der Selbstverwirklichung im Zusammenhang mit der Philosophie
des Naturrechts und „aufrechten Gangs“ und einer daraus folgenden Ethik der Sorge um sich und
andere in Verbindung setzen und kurz anschneiden, weil dies als eine weitere Dimension von Blochs
Idee des Naturrechts darstellt, die das ethische Gegenstück zum Naturrecht als Rechtsphilosophie
darstellt.

Das Recht auf die Menschenwürde wohnt allen inne, auch wenn es nicht Teil der Grundrechte des
bewohnten Landes ist und an sich ist die Menschenwürde und Naturrecht wertlos, wenn man sich
nicht um sich und andere sorgt. Eine Ethik der Sorge um sich muss mitschwingen und umso stärker
man sich sorgend aufklärt über das eigene Wesen, das Leben der anderen Wesen und die
Lebensumstände, desto stärker ist auch die Handlungsdrang, verantwortungsbewusst und sich um

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sich selbst und andere zu kümmern. Es muss zur Reflexion und Introspektion erzogen werden, mit
Empathie um sich und andere gesorgt werden, um sich gegen die „falsche“ Gewordenheit durch das
Mitgerissenwerden von der Strömung der Zeit zu wehren und die Fortentwicklung von
deterministischen Erzählungen zu reinigen. Natürlich geht man hier von einem hypothetischen
Wesen des Menschen aus, das in der Realität sich deutlich spezifischer und einzigartig als sein
Charakter oder Sein mit allerlei physischen, geistigen und seelischen Zuständen zeigt. Dieses aktuelle
Sein ist ein temporäres, das sich auf einem Gerüst von Gewohnheiten, Erfahrungen und innerhalb
der Grenzen des Seins stützt, aber im Kern fluid bleibt, dank der Freiheiten, die den Menschen
offenstehen. Diese Freiheiten existieren durch Optionen, über die der Mensch sich bewusst ist.
Optionen, die ihm innerhalb der Umstände und Kausalzusammenhänge zur Verfügung stehen und
die er je nach Motivation verwirklichen kann. Umso aufgeklärter er bezüglich dieser Umstände und
Kausalketten ist, desto mehr Optionen stehen ihm offen. In der heutigen Zeit haben wir dank der
Massen an Wissen und Zugangsmöglichkeiten etliche Ressourcen für eine Entwicklung nach den
eigenen Vorstellungen, ebenso wie ein relativ hoher general intellect vorhanden ist. Und in dem
Streben nach den eigenen Entfaltungsmöglichkeiten erkennt man die Erschwernisse, die der
Entwicklung entgegenstehen, die einerseits individuelle Hürden, andererseits gesellschaftliche
Zustände sind. Das sich reflektiert selbstverwirklichende Subjekt fällt als Zahnrad aus dem Uhrwerk
der ihn determinierenden Weltgeschichte, kämpft in seinem Lebenswerk gegen das Ganze der
Verzerrung und Erniedrigung, bleibt durch die Erfahrungen seines Lebens stets einzigartig und nutzt
diese Möglichkeiten, um, zugleich seine Würde als Individuum aufrecht erhaltend und im Wissen
über seine Ressourcen, Fähigkeiten und Interessen zu entwickeln, das bestmögliche aus sich zu
machen, wenn es sich nach möglichst selbstbestimmten Handlungen sehnt. Selbstbestimmt bleibt
das Individuum auch wenn das Helfen der anderen aus eigenem Interesse stammt, das letztlich ein
Ergebnis der Empathie und Vernunft ist. Es ist eine Lebensphilosophie, die aus intrinsischen
Antrieben, Wünschen und Unzufriedenheit mit sich selbst, den Mitmenschen und folglich immer
auch mit der Gesellschaft ihre Energie schöpft und mit dieser schlummernden Motivation in allen
Menschen wohnt ein großen Potential inne, mit dem sie auf dem Weg der Selbstverwirklichung die
Wurzeln des unnötigen Leidens bekämpfen können.

Fazit

Das Naturrecht bewegt sich jenseits der klassischen politischen Skalen von liberal bis autoritär, links
bis rechts, jedoch ließe sich die Stoßrichtung von Blochs Konzept des Naturrechts mit einer
sozialistischen Perspektive auf die nächste Zukunft verbinden, dessen Rechts- und Politiksystem
Verständnis hat für die Bedürfnisse der Bevölkerung und für ihr Wohlergehen, der letztlich ihre
Würde innewohnt, und versucht das bestmögliche zu tun. Es kritisiert klar auch die Unmenschlichkeit

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der Politik des sogenannten „kommunistischen“ Ostblocks des 20. Jahrhunderts, der autoritär die
Meinungsfreiheit unterdrückte und penetrant ideologische Zwänge ausübte, nur um eine
Unzumutbarkeit von vielen zu nennen. Abseits dessen kritisiert es deutliche Beispiele von
Unzumutbarkeiten der Realität wie der globalen Schere zwischen Armut und Reichtum und eventuell
könnten transnationale NGOs wie die UNO oder DiEM25 als vermittelnde Instanz es schaffen, ihre
Aufgabe als Vermittler von Menschenrechten im Auftrag der Menschenwürde ernst zu nehmen und
diplomatisch eine Koordination von multiplen ökonomischen Umstellungen zu organisieren, sodass
die Umschwünge nicht zu brachial sind.

Das Naturrecht ist ein Kritikmittel, um ideologische Verzerrungen aus humanistischer Perspektive
anzuprangern, wie all den aufkommenden religiösen Extremismus und faschistoide Strömungen,
aber auch die gemäßigten bürgerlichen könnten sich ihres Schleiers losreißen, der ihre Perspektive
auf eine sozialistische Alternative verbaut, obwohl er ihnen ebenso im Interesse liegt. Es ist eine
Aufklärung der Aufklärung selbst und baut die Kultur so auf, dass die Menschen sich mit ihren
Konflikten konfrontieren, sich ermächtigen und mit Würde thronend ein glückliches Leben führen
können. Es ist ein legitimes Druckmittel für den politischen Kampf, dass eine Allgemeingültigkeit in
etlichen Ländern der Welt besitzt und ist zugleich auch die Stoßrichtung des Kampfes. Das Naturrecht
stammt aus dem Menschen, dem Kern seines Wesens heraus und kämpft zu dessen Gunsten bis man
in einer Art Utopie landet, dessen Beschreibung wir kaum fähig sind. Wir können sie nur im
Negativen beschreiben, in der Minimalität des Leidens. Die Menschenwürde ist unveräußerlich und
so ist das Naturrecht eine dialektische moralische Grundlage, die von allen Menschen umkämpft
werden sollte. Das Naturrecht ist wie die Mitte eines Pendels, das in verschiedene Richtungen
ausschlägt, so wie die Widersprüche in der Gesellschaft ihre Zeit und Bewegung zur Aufhebung
brauchen, und allmählich die Amplituden der Ausschläge ihre Größe verlieren. Es formiert sich eine
Gesellschaft wie ein Baum, der weder von den Wurzeln aus beeinträchtigt, noch von Naturgewalten
strapaziert wird und die bestmögliche, ihm zumutbare Grundlage besitzt, um sich zu entfalten und zu
wachsen.

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Quellenverzeichnis

Internetquellen:

https://www.apa.org/news/press/releases/stress/2011/impact.aspx (American Psychological


Association) zuletzt aufgerufen am 17.12.2018 um 13:08

http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/recht-a-z/22561/menschenwuerde (Bundeszentrale für


politische Bildung) zuletzt aufgerufen am 17.12.2018 um 13:09

Literatur:

Bloch, Ernst: Natural Law and Human Dignity. Translated from German by Dennis J. Schmidt, 1986,
Cambridge, Massachusetts and London, The MIT Press.

Hobbes, Thomas: Leviathan. 1996, New York, Oxford University Press.

Horkheimer, Max & Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. 1972, Frankfurt, S. Fischer Verlag.

Lox, Curt, et. al:The Psychology of Exercise. Integrating Theory and Practice. 2. Auflage, 2006,
Scottsdale, Holcomb Hathaway.

Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. 1977, Frankfurt am Main, Suhrkamp Verlag.

Marx, Karl & Engels, Friedrich: - Werke, Band 23, "Das Kapital", 1968, Berlin/DDR, Dietz Verlag.

Rosa, Hartmut: Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen


Gesellschaftskritik. 3. Auflage, 2016, Frankfurt, Suhrkamp Verlag.

Schiller, Friedrich: Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen“, Sämtl. Werke, XVII, 1826,
Stuttgart und Tübingen, Cotta Verlag.

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