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Patientenorientierte Beratung in der Pflege

Christine von Reibnitz


Katja Sonntag
Dirk Strackbein
Hrsg.

Patientenorientierte
Beratung in der
Pflege
Leitfäden und Fallbeispiele

Mit 18 Abbildungen
Herausgeber
Christine von Reibnitz Dirk Strackbein
Berlin DISKURS Strackbein GmbH
Deutschland Wuppertal
Deutschland
Katja Sonntag
Remscheid
Deutschland

ISBN 978-3-662-53027-6 ISBN 978-3-662-53028-3  (eBook)


DOI 10.1007/978-3-662-53028-3

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V

Vorwort

Warum haben wir uns dazu entschieden, dieses Buch zu schreiben? Zum Thema patienten-
orientierte bzw. -zentrierte Beratung ist bereits vieles veröffentlicht und geschrieben worden.
Dennoch scheint es im Gesundheitssystem an vielen Stellen an einer gelungenen Kommunika-
tion zu fehlen. So stellt der Deutsche Ethikrat in seiner jüngsten Stellungnahme im April 2016
heraus, dass neben einer Patientenorientierung die Beziehungen von Patienten zu ihren Ärzten,
Pflegenden und Therapeuten insbesondere auf eine gelingende Kommunikation angewiesen
sind. Kommunikationskompetenz ist eine unverzichtbare Schlüsselkompetenz aller Heilberufe.
Sie umfasst neben der Kommunikation mit dem Patienten auch die Kommunikation mit den
Personen im Umfeld des Patienten, denen insbesondere nach der Krankenhausentlassung eine
große Bedeutung bei der Absicherung von Therapieerfolgen zukommt. Empirische Untersu-
chungen belegen zahlreiche Defizite in diesem Bereich und offenbaren erhebliche Unzufrieden-
heit auf Seiten der Patienten. Dieses Buch soll insbesondere Pflegekräfte dabei unterstützen,
ihre Fähigkeiten im Bereich einer patientenorientierten Beratung zu erweitern.

Wichtig ist uns dabei, die patientenorientierte Sichtweise auf die theoretischen Kommunika-
tions- und Beratungsmodelle für die Pflege praxisbezogen aufzuzeigen. In den ersten beiden
Buchteilen werden wir die theoretischen Grundlagen zur patientenorientierten Beratung dar-
stellen und im dritten Teil konkrete Beispiele aus dem Pflegealltag mit verschiedenen Beratungs-
settings bei unterschiedlichen, häufig auftretenden Erkrankungen beschreiben.

In den letzten Jahren wird zunehmend in der Kommunikationswissenschaft auch der Begriff
der „Neurokommunikation“ verwendet; interessanterweise vornehmlich da, wo es anderen
Menschen etwas zu verkaufen gilt. Die Neurokommunikation und ihr Einfluss auf unser lim-
bisches System sind aber nicht nur utilisierbar, wenn es darum geht, Menschen Dinge zu „ver-
kaufen“, sondern auch, wenn es darum geht, Verhaltensmuster zu verändern oder Compliance
und Adherence zu erreichen und sicherzustellen. In der Gesundheitsversorgung kommt es
immer wieder zu Unter-, Fehl- oder Überversorgungen, weil Patienten die für sie erstellten
Therapie- und Behandlungspläne nicht einhalten. Die Gründe dafür finden sich oftmals in
einer unzureichenden, nicht an den Patientenbedürfnissen orientierten Kommunikation. Neben
unnötigen Kosten geht die mangelnde Compliance häufig mit negativen Folgen für den Gesund-
heitszustand des Betroffenen einher. Eine patientenorientierte Kommunikation und Beratung
setzt genau hier an, unter Berücksichtigung der Erkenntnisse aus der Neurokommunikation.

Ziel des Buches ist es, Pflegekräfte und Mitarbeiter in Gesundheitsberufen dabei zu unterstüt-
zen, gezielt und effizient mit ihren Patienten zu kommunizieren. Ein weiteres Ziel ist, durch
gute, dialogorientierte Beratung – eben eine auf den Patienten ausgerichtete Beratung – den
Therapieerfolg im Sinne aller Beteiligten sicherzustellen.

Wir danken Ihnen für Ihr Interesse an unserem Buch und wünschen Ihnen auch ein wenig Spaß
beim Lesen. Wir freuen uns, ein Feedback von Ihnen zu bekommen.

Dr. Christine von Reibnitz


Katja Sonntag
Dirk Strackbein
VII

Inhaltsverzeichnis

I Grundlagen der Kommunikation und Beratung

1 Grundlagen der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3


Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag
1.1 Verbale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.2 Nonverbale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.3 Paraverbale Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

2 Grundlagen der Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein
2.1 Bedarfsbezogene Beratungsangebote . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
2.2 Was bedeutet „Patientenorientierung“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
2.3 Patientenorientierung in der Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13
2.4 Was bedeutet Patientenzentrierung?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

3 Beratungsansätze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein
3.1 Lösungsorientierte Beratung nach Bamberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.2 Patientenzentrierte Beratung nach Rogers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
3.3 Compliance und Adherence – Welche Rollen spielen diese für eine
patientenorientierte Beratung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

4 Beratung als Form der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25


Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag
4.1 Das limbische System und seine Rolle im Lern- und Kommunikationsprozess. . . . . . . . . . . 27
4.2 Extrinsische und intrinsische Motivation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

5 Die Rolle der Beratung in der Pflege. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33


Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein
5.1 Die Bedeutung der Beratung in den nationalen Expertenstandards für
die Pflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
5.2 Gelungene Praxisanleitung als Voraussetzung für eine gute Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
5.3 Rechtliche Grundlagen zur Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
VIII Inhaltsverzeichnis

II Beratung – ein interaktiver Prozess

6 Der Beratungsprozess. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein
6.1 Ablauf der Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
6.2 Der informierte Patient — Was heißt das für das Beratungsgespräch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

7 Gesprächstechniken in der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein
7.1 Konkrete Gesprächstechniken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
7.2 Das NURSE-Modell – Umgang mit Emotionen im Beratungsgespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62
7.3 WWSZ-Techniken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
7.4 EWE-Prinzip. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65
7.5 Kooperativ-vernetzte Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
7.6 Der Realitäten- oder Ideenkellner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
7.7 Beratungsleitfaden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

8 Beratungssettings . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein, Katja Sonntag,
8.1 Innere und äußere Einflussfaktoren im Beratungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

9 Haltung und Rollen in der Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77


Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein
9.1 Paradigmenwechsel hin zu Selbstbestimmung und Autonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
9.2 Merkmale einer professionellen Beratungsbeziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
9.3 Ganzheitliche Beratung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
9.4 Symmetrische versus asymmetrische Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
9.5 Haltung des Beraters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82

10 Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder


Handlungsmuster stecken dahinter? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein
10.1 Schattenseiten des Individualismus und der Autonomie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
10.2 Informationsflut. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
10.3 Mögliche Probleme bei der Kommunikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
10.4 Non-Compliance und ihre Ursachen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
10.5 Hilfreiches im Beratungsgespräch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90
10.6 Einbezug des Umfelds in die Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
IX
Inhaltsverzeichnis

III Erfolgreiche, patientenorientierte Beratung


in verschiedenen Fallbeispielen

11 Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95


Katja Sonntag
11.1 Hintergrundwissen zur Demenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
11.2 Beratung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
11.3 Fallbeispiel Beratung bei Demenz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106

12 Beratung von Menschen mit chronischen Wunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107


Anette Skowronsky, Christine von Reibnitz
12.1 Hintergrundwissen zu chronischen Wunden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
12.2 Dekubitusprophylaxe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
12.3 Ulcus cruris venosum. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111
12.4 Diabetisches Fußsyndrom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

13 Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


Katja Sonntag
13.1 Hintergrundwissen zum Diabetes mellitus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
13.2 Beratung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
13.3 Fallbeispiel Beratung bei Diabetes mellitus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

14 Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag
14.1 Hintergrundwissen zu chronischen Schmerzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
14.2 Die Stadieneinteilung des Schmerzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137
14.3 Zusammenarbeit von Arzt und Patient. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
14.4 Wie können Pflegekräfte hier patientenorientiert beraten?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
14.5 Fallbeispiel Beratung bei chronischem Schmerz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145

15 Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung – Vermittlung


von Fähigkeiten an die Auszubildenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Katja Sonntag
15.1 Tipps für eine erfolgreiche Praxisanleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
15.2 Fallbeispiel Praxisanleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150
Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

Serviceteil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
XI

Mitarbeiterverzeichnis

Anette Skowronsky
Bültestraße 24a
32584 Löhne
anette@skowronsky.de

Katja Sonntag
Stursberg I 43b
42899 Remscheid
katja.sonntag.rs@web.de

Dirk Strackbein
Diskurs Strackbein GmbH
Kronprinzenallee 107
42119 Wuppertal
dirk.strackbein@diskurs.net

Dr. Christine von Reibnitz


Meraner Straße 52
10825 Berlin
cvonreibnitz@t-online.de
1 I

Grundlagen der
Kommunikation
und Beratung
Kapitel 1 Grundlagen der Kommunikation – 3
Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

Kapitel 2 Grundlagen der Beratung – 9


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

Kapitel 3 Beratungsansätze – 19
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

Kapitel 4 Beratung als Form der Kommunikation – 25


Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

Kapitel 5 Die Rolle der Beratung in der Pflege – 33


Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein
3 1

Grundlagen der
Kommunikation
Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

1.1 Verbale Kommunikation – 5

1.2 Nonverbale Kommunikation – 5

1.3 Paraverbale Kommunikation – 6

Literatur – 7

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_1
4 Kapitel 1 · Grundlagen der Kommunikation

Der Duden definiert Kommunikation als Ver- sondern auch in hohem Maße um die emotionale
42
1 ständigung untereinander, als zwischenmenschli- Ankopplung und die anderen Ebenen der Kom-
chen Verkehr besonders mithilfe von Sprache und munikation. Gesa Krämer und Stephanie Quappe
Zeichen. Nichtkommunikation und Nichtverhalten beziehen sich in ihrem Buch Interkulturelle Kommu-
ist nicht möglich. Selbst Schweigen hat Mitteilungs- nikation mit NLP (Krämer u. Quappe 2006) auf For-
charakter (Watzlawick et al. 2011). Ein Mensch, der schungsergebnisse des amerikanischen Psychologen
bewusst schweigt und dabei möglicherweise noch Albert Mehrabian und schreiben dort, dass für das
nonverbal jeden Augenkontakt vermeidet, teilt seiner tatsächliche Verstehen einer Botschaft die verschie-
Umwelt eindeutig mit: Bitte sprich mich nicht an! denen Kommunikationskanäle sehr unterschiedlich
Bevor das eigentliche Thema dieses Buchs, die beteiligt sind:
patientenzentrierte Beratung in der Pflege, aufge- 447% verbale Kommunikation (die Wörter, der
griffen wird, folgt zunächst einiges zu den Begrif- faktische Inhalt),
fen „Kommunikation“ und „Beratung“ in einem all- 4438% paraverbale Kommunikation (Tonfall,
gemeineren Kontext. Über beide Wörter wird viel Betonung, Artikulation),
gesprochen und vermeintlich sind beide Begriffe 4455% nonverbale Kommunikation (Auftreten,
klar definiert und allgemeinverständlich. Aber ist Bewegung, Mimik, Gestik).
das wirklich so? Wenn zwei Menschen miteinander
reden, ist das Kommunikation. Kommunikation ist Nur 7% der Verständigung, des Verstehens, wird
aber nicht auf Worte alleine angewiesen, sondern durch Wörter gesteuert, 93% durch Körpersprache
man kann auch ohne Worte kommunizieren. Wie und andere Signale. Wichtig ist in diesem Kontext,
vielschichtig Kommunikation sein kann, hat bereits dass die Parallelität der sprachlichen und nicht-
Paul Watzlawick im Rahmen seiner fünf Axiome der sprachlichen Kanäle menschlicher Kommunika-
Kommunikation erläutert: „Man kann nicht nicht tion gegeben ist. So definiert Schulz von Thun eine
kommunizieren, denn jede Kommunikation (nicht Nachricht als kongruent, „wenn alle Signale in die
nur mit Worten) ist Verhalten und genauso, wie man gleiche Richtung weisen, in sich stimmig sind“. Miss-
sich nicht nicht verhalten kann, kann man nicht nicht verständnisse hingegen entstehen nicht selten durch
kommunizieren“ (Watzlawick et al. 2011). eine Inkongruenz eben dieser Signale. Eigentlich
sind die Wörter die richtigen und eigentlich ist die
> Nicht nur Sprache ist Kommunikation, Botschaft klar. Passen jedoch die anderen gesende-
Kommunikation ist immer das ten und empfangenen Signale nicht zu den Wörtern,
Zusammenspiel von Sprache, Auftreten ist die Deutung, das Dekodieren schwierig und geht
und Verhalten. damit in die falsche Richtung. Somit ist Kommunika-
tion vielmehr ein zwischenmenschliches Phänomen
Kommunikation ist somit von Verhalten nicht zu denn ein sprachliches. Man erreicht Menschen nicht
trennen, da jede Kommunikation nicht nur einen mit Wörtern, sondern mit nonverbalen Mustern, Sig-
inhaltlichen Aspekt, sondern immer auch einen nalen und Verhaltensweisen.
Beziehungsaspekt besitzt. Das bedeutet, sofern der
Sender einer Botschaft nur auf der inhaltlichen > Nonverbale und paraverbale Signale
Ebene kommuniziert und die Beziehungsebene bestimmen zum deutlich überwiegenden
außer Acht lässt oder sie sogar negiert, wird er seine Teil, ob und wie eine Botschaft vom
Botschaft dem Empfänger nicht nachhaltig vermit- Empfänger aufgenommen wird. Der
teln können. Vice versa ist es identisch: Arbeitet ein sprachliche Inhalt tut dies lediglich
Sender nur an der Beziehungsebene und erreicht er zu ca. 7%.
den Empfänger nicht auf der inhaltlichen Ebene, ist
der kommunikative Prozess hier auch suboptimal. So entsteht z. B. kognitive Dissonanz, wenn die
Den Inhalt einer Botschaft bestimmt nicht der gesendeten Wörter nicht zu den anderen gesendeten
Sender, sondern der Empfänger. Und es geht hier Signalen und den daraus resultierenden Gefühlswel-
nicht nur um den sprachlichen Inhalt der Botschaft, ten des Empfängers passen. So weiß man heute, dass
1.2 · Nonverbale Kommunikation
5 1
selbst bei Kleinkindern, die – aus welchem Grunde
auch immer – gerade weinen, kognitive Dissonanz
ausgelöst wird, wenn die Mutter das Weinen mit Kleidung
tröstenden Worten wie „ist doch nicht so schlimm“
oder ähnlich begleitet. Die kognitive Dissonanz wird Stimme Gehen
ausgelöst, weil die Wörter nicht zur Gefühlswelt des
Kindes passen. Dies ist bei Erwachsenen natürlich
nicht anders! Hier blockiert die kognitive Dissonanz Ohne Worte
wirken
das Verständnis und kann zu einer inneren Abwehr Gestik Stehen
führen. Nachfolgend werden die unterschiedlichen
Arten der Kommunikation näher beschrieben.

Mimik Sitzen
1.1 Verbale Kommunikation

Die verbale Kommunikation ist der eigentliche


Inhalt einer Botschaft und wird durch die Wort- . Abb. 1.1  Wirkungen nonverbaler Kommunikation

wahl, die gesendeten Wörter bestimmt. Neben der


Kernbotschaft sorgen aber andere, begleitende vier Seiten der Kommunikation und die begleitenden
Wörter für bestimmte emotionale Empfindungen. Wörter um die Kernbotschaft herum.
So bahnt ein „bitte“ oder „es wäre schön“ eine eher
positive emotionale Stimmungslage. Ein Befehl, mit
exakt der gleichen Kernbotschaft, löst eher Wider- 1.2 Nonverbale Kommunikation
stand, Reaktanz und mangelnde Kooperationsbe-
reitschaft aus. Weiterhin hat eine Kernbotschaft Hierbei handelt es sich um den nichtsprachlichen
aber auch unterschiedliche Ebenen der Kommu- Teil der Kommunikation. Gemeint sind aber nicht
nikation. Diese zeigt Schulz von Thun in seinem nur die gesamte Körpersprache mit Gestik, Mimik,
Kommunikationsmodell (Schulz von Thun 2010) Augenkontakt und bestimmten Verhaltensweisen,
anhand des einfachen Beispiels „Du, da vorne ist sondern auch bestimmte Kleidungsstile, Frisuren,
grün!“: offenes Tragen von Zeichen und Symbolen bis hin
44Botschaft 1 ist der Sachinhalt, worüber ich zu Tattoos, wie . Abb. 1.1 zeigt.
informiere: „Die Ampel zeigt grün!“. Dazu kommen nicht steuerbare und nicht beein-
44Botschaft 2 ist der Appell, wozu ich jemanden flussbare vegetative Signale wie Schwitzen, Zittern,
veranlassen möchte: „Gib Gas!“. Erröten etc. Die nonverbale Kommunikation sagt
44Botschaft 3 ist der Beziehungsinhalt und zeigt, viel über unseren Gefühlszustand und über die emo-
wie man zu seinem Gegenüber steht, was man tionale Beteiligung im kommunikativen Prozess aus.
von ihm hält: „Du passt nicht auf, Du brauchst Hier wird oft Zustimmung oder Ablehnung, Koope-
meine Hilfe!“. rationsbereitschaft oder deren Verweigerung ganz
44Botschaft 4 ist die Selbstkundgabe, was man ohne Worte zum Ausdruck gebracht. Auch die Welt
von sich selbst kundgibt: „Ich habe es eilig!“. der Sympathie oder Antipathie wird damit sehr stark
beeinflusst. Findet hier keine Passung zwischen den
Das zeigt auf, dass die richtige Wortwahl für die Gesprächspartnern statt, ist ein wirkliches Ver-
Kernbotschaft, die begleitenden Wörter und die ständnis mitunter unmöglich. Die Wörter kommen
unterschiedlichen Seiten einer Nachricht letzt- schlicht und ergreifend nicht an.
endlich das Verständnis und die Kooperationsbe- Apropos Passung: Wie gut ein kommunikativer
reitschaft eines Menschen nachhaltig beeinflussen Prozess zu einem befriedigenden Ergebnis für alle
können. Je weniger stabil die emotionale Situation Beteiligten führt, hängt wie bereits beschrieben nicht
eines Menschen ist, desto sensibler reagiert er auf die nur von Wortwahl und nonverbalen Signalen ab,
6 Kapitel 1 · Grundlagen der Kommunikation

42
1 Werte Werte
Normen Normen
Einstellungen Einstellungen
Haltungen Haltungen
Erwartungen Erwartungen
Empfindungen Empfindungen
Emotionen Emotionen

. Abb. 1.2  Beziehungen durch Passung gestalten

sondern auch von der emotional-zwischenmenschli- Artikulation, Lautstärke, Sprechtempo, Sprachme-


chen Beziehung, der Passung zwischen den Individuen. lodie. Aber auch Pausen, Schweigen und alle spontan
Die Passung zwischen zwei Individuen wird durch viele geäußerten Interjektionen (deutsch: Empfindungs-
Faktoren entweder hergestellt oder eben auch unmög- wörter) wie ach, ach so, aha, oh, oh je, oha, o lala, tja,
lich gemacht. Beispiele für die Faktoren, die oftmals uups, ui, wow, hoppla, igitt, pfui, ei sind ebenso der
sehr unbewusst abgeglichen werden, zeigt . Abb. 1.2. paraverbalen Kommunikation zuzuordnen. Diese
So finden Menschen mit gleichen Interessen und Laute, die meistens sehr spontan zum Ausdruck
Einstellungen viel schneller und einfacher zueinan- gebracht werden, sagen sehr viel über die wahre
der als Menschen mit sehr unterschiedlichen Normen Befindlichkeit des Senders aus. Oft ist der Inhalt des
und Werten. Besonders deutlich wird die Dynamik Satzes nach der Interjektion von geradezu gegensätz-
des Passungsmodells bei zwei Menschen mit z. B. sehr licher Bedeutung.
unterschiedlichen politischen oder ethischen Werten
und Einstellungen. Sprechen dann beide Seiten offen Beispiel
und kontrovers über ihre möglicherweise entgegen- Sie sind durch eine Aussage ihres Gegenübers über-
gesetzten politischen Einstellungen und Werte, ist rascht, möchten aber diese Überraschung verber-
eine nachhaltig erfolgreiche Kommunikation in gen. Durch die Überraschung rutscht Ihnen spontan
anderen Kontexten kaum möglich, weil die Reaktanz, ein „Oh“ über die Lippen. Sie wollen sich aber die
die durch die konträren politischen Werte auf beiden Überraschung nicht anmerken lassen und sagen
Seiten ausgelöst wurde, auch in die anderen Kontexte nach dem „Oh“ einen Satz wie z. B. „Das wusste
hineinreicht. Ist man aber gezwungen, mit Menschen ich“ oder „Damit habe ich gerechnet“. Was kommt
zu kommunizieren und in ein Kooperationsmodell zu bei Ihrem Gegenüber tatsächlich an? Die Überra-
kommen, kann man diese heiklen Themen nur aus- schung! Denn die Interjektion „Oh“ hat Ihrem Ge-
sparen und nicht ansprechen – dennoch, die Passung sprächspartner die Überraschung kundgetan, der
bleibt gestört und das wirkt sich natürlich auf zwi- angeschlossene Satz kann diese Aussage nicht
schenmenschliche Verständigung aus. korrigieren.
Neben der verbalen und der nonverbalen Kom-
munikation gibt es noch die Ebene der paraverbalen Gerade im Umgang mit Patienten haben diese
Kommunikation. spontan geäußerten Interjektionen noch eine
weitere Dimension, wie nachfolgende Beispiele
verdeutlichen.
1.3 Paraverbale Kommunikation
Beispiel
Die paraverbale Kommunikation besteht aus para- Angenommen, Sie betreuen einen Patienten mit
linguistischen nebensprachlichen Merkmalen. einer chronischen Wunde und die Wunde hat sich
Wahrgenommen werden hier Stimmlage, Tonfall, in den letzten Tagen positiv entwickelt. Heute
Literatur
7 1
steht wieder ein Wechsel der Wundauflage an. Literatur
Sie entfernen die Wundauflage und stellen über-
Krämer G, Quappe S (2006) Interkulturelle Kommunikation mit
rascht fest, dass sich die Wunde möglicherweise
NLP: Einblick in fremde Welten. Uni-Edition, Berlin
entzündet hat. Was passiert kommunikativ? Durch Schulz von Thun F (2010) Miteinander reden. Rowohlt, Berlin
den Überraschungseffekt rutscht Ihnen spontan Watzlawick P, Beavin J, Jackson D (2011) Menschliche Kommu-
ein „Oh je“ oder Ähnliches heraus. Die Botschaft nikation: Formen, Störungen, Paradoxien. Huber, Bern
für den Patienten – und zwar egal, was dann als
zusätzlicher Satz kommt: Negative Veränderung!
Dramatik! Keine gute Botschaft! Wie dramatisch
der Patient die Situation erlebt, liegt in seiner
Auslegung.

Beispiel
Vielleicht haben Sie selbst ähnliche Situationen
einmal erlebt? So z. B. beim Zahnarzt, der die Zäh-
ne routinemäßig kontrolliert und plötzlich nur
„Oha“ zum Ausdruck bringt. Welche Botschaft ist
das für Sie? Es wird unangenehm und es wird mög-
licherweise teuer. Oder ein Orthopäde betrachtet
ein Röntgenbild eines Ihrer Körperteile und sen-
det spontan nur zwei Signale: Ein nonverbales
Kopfschütteln und ein paraverbales „Oh“. Sonst
nichts, Pause. Welche Botschaft für Sie? Das sieht
nicht gut aus!

Das bedeutet, durch das Senden dieser Empfin-


dungswörter lösen wir bei unseren Gesprächspart-
nern und Patienten Emotionen aus, deren Trag-
weite durch uns nicht zu steuern ist. Der Patient,
der Empfänger decodiert das Signal und misst
ihm seine ganz persönliche Bedeutung zu. Übri-
gens, gerade bei Menschen, denen hohe Kompe-
tenz zugeordnet wird und denen man vertraut,
bekommen diese Signale eine große Wichtigkeit.
Auf der anderen Seite sind diese Signale aber für
Sie auch die „ehrlichste“ Ausdrucksform über die
wahre Befindlichkeit Ihrer Patienten. Antwortet ein
Patient auf die Frage „Wie geht´s Ihnen heute?“ mit
„Och ja, gut!“ ist das „Och ja“ deutlich aussagestär-
ker als das „gut“.

> Die Beherrschung und Steuerung


paraverbaler Laute ist schwierig, da sie meist
spontan und unbewusst geäußert werden.
Im Dialog hilft hier z. B., nach einer Frage
oder einer Erwiderung eine kurze Pause
einzulegen.
9 2

Grundlagen der Beratung


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

2.1 Bedarfsbezogene Beratungsangebote – 10

2.2 Was bedeutet „Patientenorientierung“? – 12

2.3 Patientenorientierung in der Pflege – 13

2.4 Was bedeutet Patientenzentrierung? – 16

Literatur – 17

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_2
10 Kapitel 2 · Grundlagen der Beratung

Die Pflegeberufe zählen zu den Berufsgruppen, die Edukation wird von Abt-Zegelin (2003) durch fol-
den häufigsten Kontakt zu Patienten und Angehöri- gende Begriffe beschrieben und zusammengeführt:
gen haben, meist sogar als erste Ansprechperson für Einerseits die Information, welche eine direkte
2 die Betroffenen. Dieser Erstkontakt erfolgt zunächst Bereitstellung von Wissen in Form von beispielsweise
in einer Erstsituation der Erkrankung oder chroni- Broschüren ist, andererseits die Schulung, welche ein
schen Belastung, meist einer Phase, wo Patienten zielorientiertes, strukturiertes und geplantes Ver-
und Angehörige einen hohen Informations- und mitteln von Fertigkeiten beschreibt. Diese beiden
Klärungsbedarf aufweisen, sehr häufig auch beglei- Begriffe lassen sich als Beratung zusammenfassen
tet von hoher emotionaler Belastung. Die Kommuni- (Abt-Zegelin 2003).
kation stellt in dieser Beziehung eine tragende Säule Eine Beratung und Begleitung durch professio-
für eine Verbesserung der Situation dar. Dies bildet nell Pflegende im engeren Sinne ist dann gegeben,
die Basis für Beratung in der Pflege, die insbesondere wenn sich eine komplexe Problemstellung des Patien-
in komplexen Versorgungsituationen gefordert ist. ten abzeichnet. Im Rahmen von Case Management –
Bewusste, aktive Beratung gab es bereits in der im Sinne einer patientenorientierten Fallbegleitung
Antike. Ausgangspunkt waren seinerzeit Alltagspro- – wird gemeinsam mit dem Patienten an einer indivi-
bleme, für deren Lösung Hilfe in Anspruch genom- duellen Problemlösung für den Patienten gearbeitet.
men wurde. Diese Beratung war allerdings noch Dabei begleiten mehrere Leistungserbringer koor-
nicht an ein professionelles Vorgehen oder gar an diniert und immer wieder miteinander abgestimmt
ein Berufsbild gebunden. Dies folgte erst sehr viel den Patienten im Sinne des Patienten. Wichtig ist hier
später. In den frühen Tagen der Beratung wurde der die kontinuierliche Abstimmung, um aus Sicht des
Rat von Menschen gesucht, deren analytische Fähig- Patienten „mit einer Sprache zu sprechen“. In Bezug
keiten und objektiver Blick auf Situationen und Pro- auf den individuellen Versorgungsbedarf soll unmit-
blemstellungen sie befähigten, andere Menschen telbar im direkten Kontakt zum Hilfesuchenden und
zu beraten. Die Professionalisierung von Beratung zu dessen Umgebung der Bedarf ermittelt und abge-
begann wissenschaftlich eigentlich erst im 20. Jahr- deckt werden. Das Einbezogensein und die part-
hundert. Spricht man von der professionelle Bera- nerschaftliche Beteiligung des Patienten und seiner
tung in der Pflege, bedarf sie folgender Kompetenzen mittel- und unmittelbaren Umgebung und Bezugs-
und Voraussetzungen (Koch-Straube 2008, S. 66): personen sowie die Stärkung seiner Eigenressour-
1. Dialogische Kommunikation cen (Empowerment) in komplexen Versorgungs-
2. Achtung vor der Menschenwürde situationen sind dabei zentrale Anliegen des Case
3. Wahrnehmen der Kompetenz der Management.
Pflegebedürftigen
4. Förderung der Ressourcen
5. Respekt vor der Selbstbestimmung 2.1 Bedarfsbezogene
6. Wahl ermöglichen Beratungsangebote
7. Umweltbedingungen einbeziehen, vom
biografischen Geworden-Sein Den Anforderungen an die Beratung liegt bezüg-
8. und den Zukunftsperspektiven ausgehen. lich der personellen und beruflichen Anforderungen
idealerweise eine entsprechende fachliche Aus- und/
> Professionelle Beratung ist notwendig, „ … oder Weiterbildung zugrunde. Kriterien hierfür sind
wenn die individuelle Kompetenz oder das methodisches Vorgehen nach etablierten und akzep-
informelle Hilfenetz für die Lösung oder die tierten Standards, Interprofessionalität, N­ eutralität
Bewältigung einer krisenhaften Situation sowie Effektivität, Effizienz und Transparenz (siehe
nicht mehr ausreicht oder überfordert ist“ hierzu 7 Abschn. 5.2 mit P ­ raxisanleitung). Dies
(Koch-Straube 2008, S. 66). beinhaltet konkret die Vorrangigkeit einer professio-
nellen Beratung vor der Information mittels Gespräch
Ein weiterer Begriff im Kontext der Beratung ist die und Gesprächstechniken. Nachfolgend lassen sich
von Abt-Zegelin beschriebene Patientenedukation. neben den Leitprinzipien und der Grundhaltung
2.1 · Bedarfsbezogene Beratungsangebote
11 2

. Tab. 2.1  Grundhaltungen in der Beratung (nach von Reibnitz 2011)

Grundhaltungen Inhalt

Offenheit „Offenheit“ wird in der Pädagogik häufig im Sinne von Reversibilität verwendet, das bedeutet,
dass die beratende Pflegekraft ihre Patienten nicht anders behandelt, als sie selbst von ihnen
behandelt werden möchte. Reversibles Verhalten ist nicht nur das Verhältnis von Pflegekraft zu
Patienten, sondern kann als Element sozialen Verhaltens allgemein angesehen werden und es
lässt sich somit auf die Arbeit der beratenden Pflegekraft mit den Angehörigen übertragen.
Respekt „Respekt“ kennzeichnet eine Form der Achtung und Ehrerbietung gegenüber einer anderen
Person. Mit Blick auf die Patienten und deren Angehörige in komplexen Krankheitssituationen
erfolgt die Respekterweisung durch Achtung, Höflichkeit und Toleranz der anderen Person
gegenüber.
Toleranz „Toleranz“ beschreibt die Fähigkeit, Formen des Andersseins oder Andershandelns zu dulden und
somit nicht zu bekämpfen. In einer Beratungssituation von Patienten und deren Angehörigen
heißt das, die Wünsche und Lebensumstände der jeweiligen Patienten zu respektieren und
zu achten, auch wenn diese nicht den persönlichen Vorstellungen der beratenden Pflegekraft
entsprechen.
Empathie „Empathie“ ist die Fähigkeit eines Menschen, sich kognitiv in einen anderen Menschen
hineinzuversetzen, seine Gefühle zu teilen und sich damit über sein Verstehen und Handeln klar
zu werden.
Authentizität „Authentizität“ heißt in diesem Kontext, dass das Handeln eines Menschen nicht durch externe
Einflüsse bestimmt wird, sondern aus dem jeweiligen persönlichen Kontext. Gruppenzwang und
Manipulation unterwandern beispielsweise Authentizität. Eine als authentisch bezeichnete Person
wirkt echt, d. h. sie vermittelt ein Bild von sich, das beim Betrachter als real und ungekünstelt
wahrgenommen wird. Ziel ist es, dass die Mitarbeiter unter Berücksichtigung der anderen
beschriebenen Grundhaltungen von den Betroffenen möglichst als authentisch wahrgenommen
werden.

gegenüber dem Patienten zwei Beratungsansätze Selbstbestimmung und Autonomie im Leben der


ausführen, die im Rahmen komplexer Versorgungs- Menschen zu erhöhen und sie in die Lage zu ver-
situationen eingesetzt werden: die lösungsorientierte setzen, ihre Belange (wieder) selbstverantwortlich
Beratung nach Bamberger und die patientenzentrierte und selbstbestimmt zu vertreten (vgl. GKV-Spit-
Beratung nach Rogers. Leitprinzipien in beiden Bera- zenverband 2008, S. 11). Empowerment ist sowohl
tungsansätzen sind: als Prozess der Selbstbemächtigung zu verstehen
44Das Prinzip der Ganzheitlichkeit als auch als professionelle Unterstützung der Men-
44Selbstbestimmung und Selbstständigkeit schen, ihre Gestaltungsspielräume und Ressourcen
44Selbstpflegekompetenz wahrzunehmen und zu nutzen. Der Beratung liegt
44Datenschutz und Verschwiegenheit die Annahme zugrunde, dass die Betroffenen Partner
des selbstverantwortlichen Handelns sind. Daher
Zu den Eigenschaften bzw. Grundhaltungen des reicht es beileibe nicht, an dieser Stelle mit Ratschlä-
Beraters gegenüber Patienten und Angehörigen in gen zu arbeiten. Ratschläge führen in den wenigsten
Beratungssituationen gehören die in . Tab. 2.1 auf- Fällen zu einem nachhaltigen selbstverantwortlichen
geführten Einstellungen. Handeln. Es wird dann, mehr oder weniger motiviert,
Beratungen basieren neben den beschriebenen das umgesetzt, was erwartet wird. Das bedeutet, dass
Grundhaltungen auf dem Prinzip des Empower- der Schwerpunkt der Arbeit in der Förderung der
mentansatzes. Unter dem Begriff Empowerment Motivation zur Inanspruchnahme von Hilfeangebo-
(engl. Ermächtigung) sind Strategien und Maßnah- ten liegt. Priorität hat immer die Unterstützung der
men zu verstehen, die geeignet sind, das Maß an jeweiligen Patienten und deren Angehörigen.
12 Kapitel 2 · Grundlagen der Beratung

2.2 Was bedeutet an Orientierung aus und die Pflegekraft oder der Arzt
„Patientenorientierung“? handelt (Bleses 2005, S. 12).
Dies bedeutet, dass hier ein interaktiver und
2 Die pflegerische und medizinische Betreuung von kommunikativer Prozess zwischen Mitarbeiter und
Patienten hat sich in den letzten Jahren aufgrund Patient stattfindet. Darüber hinaus erfolgt die Orien-
von Qualitätsanforderungen und Erwartungen tierung am Patienten im Gesundheitswesen mit
der Patienten an ihre gesundheitliche Versorgung einem offiziellen Handlungsauftrag (Behandlungs-
­verändert. Patientenerwartungen an die Behand- vertrag mit dem Arzt oder der Pflegekraft mit Ein-
lungsprozesse, soziale Betreuung und Serviceleistun- willigung des Patienten), wobei sich alle Leistungen
gen haben sich insbesondere durch bessere gesund- des Behandlers oder der Pflegekraft am Bedarf des
heitliche Information, Beratung und Aufklärung Patienten orientieren sollen.
gewandelt. Die Mehrzahl der Patienten wünscht
mehr und andere Informationen, als sie von Pfle- > Patientenorientierung bedeutet daher, dass
gekräften und Ärzten erhalten. Viele Patienten sind Pflegende, Behandelnde und Patient eine
dazu bereit, eine aktivere Rolle im Umgang mit ihrer Beziehung aufbauen, die sich auf den Pflege-
Krankheit zu spielen. Dazu möchten sie stärker als und Behandlungsprozess richtet und in der
bisher an Entscheidungen beteiligt werden. jeder „Partner“ seine Rolle einnimmt.
Der Begriff „Patient“ lässt sich definieren als:
„(…) Kranker in ärztlicher Behandlung, Kunde Jeder Beteiligte/Partner im Prozess der Patien-
des Arztes … [zu lat. patiens: Gen. patientis ‚(er) tenorientierung bringt seine persönliche Kompe-
duldend, leidend‘; zu pati ‚(er) dulden, leiden‘]“ tenz in Bezug auf sich selbst ein. Dazu zählen unter
(Wahrig 2002, S. 961) „Orientieren/Orientierung“ anderem Bedürfnisse, allgemeine und spezielle
bedeutet: „orientieren, jmdn. ~ über etwas unter- Kenntnisse in Bezug auf Erkrankung und Behand-
richten; in Kenntnis setzen; (…)“ meist reflexiv im lung, Ängste, Erfahrungen, Erwartungen, Gefühle,
Sinne von „(…) jmdn. auf etwas hinlenken, ausrich- Vermutungen, Wünsche und Ziele (Bleses 2005,
ten, sich über etwas unterrichten, über etwas Aus- S. 16). Sowohl der Patient als auch der Mitarbeiter
künfte einholen (…)“ (Wahrig 2002, S. 946). Somit bringen also Einflussfaktoren mit, die den Betreu-
lässt sich der Begriff Patientenorientierung im Hin- ungsprozess prägen. Sowohl Patienten als auch Pfle-
blick auf zwei wesentliche Aspekte erklären: Zum gende erleben und verarbeiten vor ihrem persönli-
einen deutet er auf den Patienten, der sich – indem chen Hintergrund Maßnahmen, nehmen diese wahr
er sich orientiert – in bestimmter Weise auf etwas und bewerten sie. Wahrnehmung beinhaltet auch das
(bzw. jemanden) bezieht. Gleichzeitig bezeichnet Aufnehmen und Erfassen von Gehörtem, Gesehe-
der Begriff, dass der Patient – ebenfalls in bestimm- nem, Gefühltem usw. in das Bewusstsein, wo es einen
ter Weise – einem anderen Subjekt – das sich orien- Rang einnimmt. Dieses hängt vornehmlich mit den
tiert – gegenübertritt. Erfahrungen desjenigen zusammen, der wahrnimmt.
Der Begriff Patientenorientierung weist auf ein Das bedeutet, eine Pflegende, die die Worte eines
Kommunikations- und Interaktionsverhältnis zwi- Patienten hört, integriert sie mit den ihr zur Verfü-
schen (mindestens) zwei Subjekten: Als kranker gung stehenden Wahrnehmungsmöglichkeiten in
Mensch steht der Patient mit bestimmten Ansprü- ihr Bewusstsein und bewertet die Worte des Patien-
chen und Bedürfnissen Mitarbeitern wie Ärzten oder ten (Bleses 2005, S. 15). Entsprechend reagiert der
Pflegefachkräften gegenüber (Bleses 2005, S. 12). Für Patient auf das Angebot der Pflegenden, ist zufrie-
diese stellt Patientenorientierung einen Handlungs- den oder unzufrieden mit den Leistungen, wird die
rahmen dar, der sich an dem individuellen Bedarf des betroffene Person oder die Einrichtung loben oder
Patienten ausrichtet. Zugleich wird somit der Patient kritisieren (. Abb. 2.1).
zum Leistungsempfänger, der professionelle Leistun- Dieser Bewertungsprozess des Patienten ist
gen benötigt, während die Pflegenden/Ärzte zu Leis- grundsätzlich ergebnisoffen und wird entschei-
tungsanbietern werden, die die erforderlichen Leis- dend beeinflusst von der Qualität der vom Patien-
tungen erbringen. Folglich löst ein Patient den Bedarf ten ­wahrnehmbaren Leistungen und der Interaktion
2.3 · Patientenorientierung in der Pflege
13 2

Patient Pflegende

Selbstkompetenz Fachkompetenz

Ziele Ziele

Erfahrungen Theoretisches
Wissen
Vermutungen
Erfahrungswissen
Erwartungen
Annahmen
Betreuungs-
Bedürfnisse prozess Erwartungen
Gefühle Bedürfnisse

Ängste Gefühle

Wünsche Wünsche

Wahrnehmung und
Vom Patienten konstruierte Reaktion von Patient und
Bewertung der Ergebnisse
Wirklichkeit Mitarbeiter
der Betreuung

. Abb. 2.1  Einflussfaktoren auf den Betreuungsprozess: Patient und Pflegende

zwischen Patient und Mitarbeitern. Dabei handelt es und Kommunikation mit dem Patienten
sich um einen komplexen Prozess, in dem der Inter- Sachebene und Beziehungsebene. Gleichbe-
aktion zwischen Patient und Mitarbeitern zentrale rechtigte Kommunikation und Interaktion
Bedeutung zukommt. Hierzu ist eine Haltung der mit dem Patienten sind Grundbedingung für
Mitarbeiter erforderlich, die auf die notwendige Hilfe Orientierung am Patienten.
zur Erfüllung der Erfordernisse und auf die Errei-
chung der Ziele des Patienten eingeht.
2.3 Patientenorientierung
> Patientenorientierung ist die geistige in der Pflege
Einstellung von Mitarbeitern, die Ausrichtung
auf das Befinden, die Bedürfnisse und In der pflegewissenschaftlichen Literatur werden die
die Erwartungen des Patienten durch Begriffe „Patientenorientierung“ und „ganzheitliche
Wahrnehmung, Einschätzung, Bewertung Pflege/Ganzheitlichkeit“ vielfach in engem Zusam-
und Beachtung seines Zustands. Das menhang, teilweise sogar synonym verwandt. Es
daraus abgeleitete Verhalten und Handeln bestehen aber aus Sicht von Bleses (2005) deutliche
ist auf den Patienten als Individuum in Unterschiede zwischen beiden Begriffen, sowohl in
seiner Situation gerichtet und als solches Bezug auf die historische Entwicklung wie auch im
von ihm erkennbar. Hierfür setzen die Hinblick auf die sich ableitenden Implikationen in
Handelnden ihre berufliche sowie ihre Bezug auf Ausbildung und berufliche Praxis (Bleses
soziale Kompetenz, Empathie und Erfahrung 2005, S. 18). „Ganzheitlichkeit“ bezieht sich auf das
ein. Sie verbinden bei der Interaktion Aristotelische Verständnis, wonach das Ganze mehr
14 Kapitel 2 · Grundlagen der Beratung

sei als die Summe seiner Teile. Die Analyse der Ein- Professionelle Pflege fördert den Gesundheits-
zelteile könne damit niemals die Gesamtheit bzw. zustand und das Wohlbefinden der Patienten, gibt
die Gesamtwirkung einer Sache – in diesem Fall der Hilfe zur Selbsthilfe und erhält den Patienten dabei
2 Pflege – erklären, denn das Einzelne sei nur aus dem eine größtmögliche Lebensqualität sowie Selbststän-
Ganzen heraus zu verstehen (Schmidt 1991, S. 228). digkeit, Selbstbestimmung und Eigenständigkeit. Die
Entgegen der traditionellen Auffassung von Angehörigen und deren Bedürfnisse werden berück-
Gesundheit und Krankheit, welche die Krank- sichtigt und soweit möglich in die Versorgung mit
heitsbeseitigung in den Mittelpunkt stellt, rückt die einbezogen. Die Kommunikation spielt dabei eine
Nutzung und Förderung vorhandener Gesundheits- entscheidende Rolle.
ressourcen in den Vordergrund. Pflege orientiert sich Eine informative und wertschätzende Kommu-
in erster Linie an den individuellen Bedürfnissen des nikation mit dem Patienten beinhaltet auch die Inte­
Menschen. Es hat sich ein Paradigmenwechsel von gration der Angehörigen, denn diese bilden die wich-
einer krankheits- und defizitorientierten Haltung hin tigste Beziehungs- und Betreuungsgruppe für den
zu einem gesundheitsförderlichen und ressourcen- Kranken. Da Pflegekräfte in der Regel den engsten
orientierten Pflegeverständnis vollzogen. Den klas- Kontakt zu Patienten und deren Angehörigen haben,
sischen Aufgabengebieten sind neue Schwerpunkte ist es wichtig, diese Kommunikation nicht rein intui-
hinzugefügt worden. Pflegerisches Handeln wird tiv zu gestalten, sondern professionell zu steuern. Die
durch präventive und gesundheitsfördernde Auf- Bedeutung der Kommunikation lässt sich beispiel-
gabenfelder ergänzt. Wittneben entwickelte (1998) haft anhand der Informationssammlung in der Pfle-
das Modell der multidimensionalen Patienten- geanamnese darstellen. Im Erstgespräch mit dem
orientierung. Dieses Modell findet insbesondere Patienten werden pflegerische und individuelle
auch in der Pflegeausbildung und Praxisanleitung Probleme identifiziert und damit zusammenhän-
Anwendung (siehe hierzu 7 Abschn. 5.2). Ziel einer gende Aspekte und mögliche Ressourcen erkannt.
Patientenorientierung ist es, die bloße Ausrichtung Hier gewonnene Erkenntnisse bilden die Grundlage
der Pflege an einzelnen Verrichtungen, Symptomen der weiteren Pflegeprozessgestaltung. Die kommu-
und Krankheiten zu überwinden. Ablauforientie- nikativen Fähigkeiten der betreuenden Pflegekraft
rung bildet die unterste Stufe. Die jeweils folgenden sind ausschlaggebend für die Qualität der Informa-
Stufen in aufsteigender Richtung werden als Ver- tionen. Bei der Betreuung von Patienten, die über
richtungs-, Symptom-, Krankheits-, Verhaltens- und unzureichende oder keine Sprachkompetenz verfü-
Handlungsorientierung bezeichnet. Der Patient wird gen (z. B. Patienten nach einem Schlaganfall oder mit
als Partner aktiv in die Prozessgestaltung einbezogen demenzieller Erkrankung) werden nonverbale Kom-
und zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Autono- munikationsformen über Berühren und Bewegen
mie und Selbstverantwortung aus (Wittneben, zit. gezielt in die Pflege einbezogen. Konkret erfordert
nach Obex 1995, S. 29). Die Verständigung zwischen dies geschulte Fähigkeiten sowie die umfangrei-
Pflegekraft und Patient wird an den Möglichkeiten che Methodenkompetenz im Bereich der basalen
des Patienten individuell ausgerichtet. Die Anerken- Stimulation und der Kinästhetik in der Pflege. Die
nung kultureller Besonderheiten des Patienten bildet Erwartungen von Patienten und ihren Angehörigen
die Voraussetzungen kommunikativen Handelns. an Kommunikation und Beratung in der Gesund-
Der Grad der Patientenorientierung und die Pflege- heitsversorgung fokussieren besonders auf die empa-
qualität stehen im unmittelbaren Zusammenhang. thische Kompetenz der Mitarbeiter. Eine Pflege, die
Neben der Versorgung der akut erkrankten Patien- die Beziehung zum Patienten in den Mittelpunkt
ten leistet Pflege gerade zur Anpassung an das Leben des Pflegehandelns rückt, erfordert vom Pflegen-
bei chronischen Erkrankungen professionelle Unter- den, sich als persönliche Assistenz eines autonomen
stützung. Hilfestellung und Patientenorientierung und entscheidungsfähigen Menschen zu verstehen.
bedeuten Informations-, Kommunikations- und Das bedeutet, sich in die Situation des Patienten hin-
Gefühlsarbeit sowie eine verbesserte Abstimmung einzuversetzen, seine Ressourcen zu erkennen, mit
und Vernetzung der medizinischen und sozialpfle- ihm gemeinsame Ziele für die Pflege zu entwickeln
gerischen Versorgungsangebote. sowie seine persönliche Integrität, Autonomie und
2.3 · Patientenorientierung in der Pflege
15 2

Interne Kommunikation Externe Kommunikation

Patientenorientierung
Tools:
Informationsaustausch Gesundheits-
Pflegende/Arzt/
Abstimmung und einrichtung/
Therapeuten
Koordination Institution
Partizipation und
Kooperation

Pflegende Patient

. Abb. 2.2  Zusammenspiel interner und externer Kommunikation in der Patientenorientierung

Intimität zu achten. Nur so kann die optimale stell- Leistungserbringung. Indikatoren der Patienten-
vertretende Deutung der Pflegesituation innerhalb orientierung im Kontext von Qualitätsmanagement
einer patientenorientierten kooperativen Behand- sind nach Donabedian die Ergebnis- sowie die Pro-
lungsform gelingen. zessqualität. Qualität muss nicht nur bei der Leis-
Patientenorientierung bedeutet nicht nur, dass tungserbringung und gegenüber dem Leistungs-
alle Behandler die Bedürfnisse und Erwartungen der besteller (Krankenkassen) nachgewiesen werden,
Patienten kennen und sich bemühen, diese zu erfül- sondern auch gegenüber dem Leistungsempfänger,
len, sondern dass auch zwischen allen an der jewei- dem Patienten. Seine Erwartungen an Dienstleis-
ligen Versorgung beteiligten Akteuren eine Abstim- tung, soziale Betreuung und Serviceleistungen sind –
mung über die Bedürfnisse und Erwartungen der bedingt durch bessere gesundheitliche Information,
Patienten im Hinblick auf die Behandlung erfolgt Beratung und Aufklärung, aber auch durch höhere
(. Abb. 2.2). Eigenbeteiligung und hohe Vorsorgeaufwendungen
Patientenorientierung aus Sicht des Gesundheits- – gestiegen. Der Strukturwandel trifft auf das Bedürf-
systems bedeutet eine Ausrichtung gesundheitlicher nis von Patienten nach Sicherheit, Geborgenheit und
Versorgung neben dem medizinischen Bedarf auf die Kontinuität (Straub 1993, S. 376) und gleichzeitig auf
(individuellen) Interessen von Patienten, Versicher- ein verändertes Selbstbewusstsein und Informations-
ten oder anderen Nutzern des Gesundheitswesens. bedürfnis des Patienten als Kunde in der Gesund-
Die Perspektive der Patienten, Nutzer, Versicherten heitsversorgung. Das bedeutet für eine Patienten-
orientiert sich an dem subjektiven Bedarf, den Wün- orientierung, auch in der Beratung den mündigen
schen, Zielen und Erwartungen der Patienten an ihre Patienten als Gegenüber wahrzunehmen.
Versorgung im Hinblick auf die Auswahl von Leis- Vom mündigen Patienten wird erwartet, dass er
tungen, Einrichtungen, Behandlern. Gleichermaßen sein Wissen und seine Erfahrungen in den Versor-
fokussiert diese Perspektive auf die Art und Weise gungsprozess aktiv einbringt (Langediekhoff 1999,
der Leistungserbringung, d. h. den Leistungsprozess S. 1) und Verantwortung für den Dienstleistungspro-
(z. B. Kommunikation, Information, Interaktion). zess übernimmt. Nach Badura et al. (1999) werden
Patientenorientierung ist zusätzlich eine kon- Qualität und Produktivität moderner Gesundheits-
krete Forderung im Qualitätsmanagement, und der systeme nicht allein vom Handeln der Leistungs-
Erfüllungsgrad dient als Qualitätsmerkmal in der erbringer und dem Umgang mit dem Patienten
16 Kapitel 2 · Grundlagen der Beratung

bestimmt, sondern auch von der Motivation, Befä- Patienten sind zu respektieren. Der Patient hat ein
higung und Mitwirkungsmöglichkeit der Leistungs- Anrecht darauf, dass Ärzte oder Pflegekräfte ihr spe-
adressaten. Dabei kommt der Kommunikation und zifisches Fachwissen einbringen und Informationen
2 Interaktion zwischen Dienstleister und Leistungs- an den Patienten weitergeben und nicht abwarten,
nachfrager eine besondere Rolle zu. Bienstein (1989, ob der Patient wohl Fragen stellt. Im Rahmen der
S. 216) stellt heraus, das nur „personalorientierte patientenzentrierten Kommunikation hat der Arzt/
Pflege“ patientenorientierte Pflege ermöglicht. die Pflegekraft ein Anrecht darauf, dass der Patient
Bei der Orientierung am Patienten geht es wie für sich selbst Verantwortung übernimmt, wenn dies
bei Kundenorientierung und Kundenbeziehungen aus rechtlichen (im Sinne von „informed consent“)
um Dienstleistungen am Menschen und um deren oder pragmatischen Gründen (keine Therapie ohne
Bedürfnis- und Erwartungserfüllung (Bleses 2005, Adherence) notwendig ist. Aktives Zuhören ist ein
S. 24). In einem Unternehmen wie im Krankenhaus Kernstück der ärztlichen und pflegerischen Kommu-
oder einer stationärer Pflegeeinrichtung lässt sich nikation. Es geht darum, die Gespräche in geeigneter
die Dimension Kundenorientierte Struktur anhand Form zu strukturieren, sodass der Patient die für ihn
von Analysen unternehmensinterner Abläufe, von wichtigen Informationen aufnehmen und gegebe-
­Organisations- und Kommunikationsstrukturen, nenfalls auch Widerspruch äußern kann (Bas 2012,
Hierarchieaufbau und Kompetenzverteilung dar- S. 5). Patientenzentrierung basiert auf Kommunika-
stellen. In Gesundheitseinrichtungen gehören hierzu tion, damit es zu einer Annäherung der unterschied-
auch der Grad der interdisziplinären Zusammen- lichen subjektiven Wirklichkeiten von Patient und
arbeit zwischen den Berufsgruppen und Abteilun- Arzt kommen kann (Langewitz et al. 2002). Das setzt
gen/Bereichen, der Verwaltung sowie internen und zunächst voraus, das scheinbar Banale anzuerken-
externen Dienstleistern. nen, nämlich dass Arzt und Patient nicht dieselbe
Wirklichkeit teilen. Einer Definition von Stewart
(1995) zufolge ist patientenzentrierte Kommunika-
2.4 Was bedeutet tion gekennzeichnet durch (. Abb. 2.3):
Patientenzentrierung? 44Wahrnehmen und Berücksichtigen der physi-
schen und affektiv-emotionalen Verfassung,
Zwischen „patientenzentriert“ und Begriffen wie 44Berücksichtigen von Werten, Bedürfnissen und
„personalisierte“ oder „individualisierte Medizin“ Präferenzen,
werden oftmals wenig Unterscheidungen getroffen, 44Befähigung und Unterstützung des Patienten
und oft werden diese synonym verwendet. Verschie- zu Selbstbestimmung und Kontrolle.
dene Definitionen sind zu Termini wie „patienten-
zentrierte Medizin“, „patientenzentrierte Pflege“ und » Today, consumers are seeking a more
„patientenzentrierte Kommunikation“ zu finden. meaningful involvement in the decisions made
Sowohl patientenzentrierte Medizin als auch patien- about their care. They want a partnership of
tenzentrierte Pflege basieren auf der Annahme, dass shared responsibility with their health care
der Patient als „Stakeholder“ behandelt wird, der professionals. (Daniels u. Ramey 2005, S. 9)
nicht nur ausführt, was ihm Pflegende oder Ärzte
empfehlen, sondern sowohl an der Entscheidung Voraussetzung für die Gestaltung dieser Beziehung ist
über die Maßnahmen als auch an deren Umsetzung Kommunikation – womit im ursprünglichen Wort-
aktiv teilnimmt. sinn Aktivitäten gemeint sind, die ein „commune“,
Die patientenzentrierte Kommunikation folgt etwas Gemeinsames zwischen zwei Personen entste-
einer engeren Definition und umfasst sowohl die kli- hen lassen.
nische Kompetenz des Gesprächspartners als auch Pragmatisch lässt sich patientenzentrierte Inter-
den Einsatz patientenzentrierter Gesprächstech- aktion anhand folgender Komponenten bzw. Funk-
niken. Ausdrücklich sollen auch die Erwartungen, tionen beschreiben, die, empirisch bestätigt, auch
Gefühle und Krankheitsvorstellungen des Patien- von Patienten als bedeutsam angesehen werden
ten Berücksichtigung finden. Die Bedürfnisse des (Little et al. 2001):
Literatur
17 2

Betrachten und Verstehen des


Beziehungsaufbau und Finden
Patienten in seinen
gemeinsamer Grundlagen
Lebenszusammenhängen

Patientenzentrierung

Aktive Einbindung des Patienten


Orientierung an den Interessen in versorgungsrelevante
und Bedürfnissen des Patienten Entscheidungsprozesse

. Abb. 2.3  Patientenzentrierung

. Tab. 2.2  Abgrenzung von Patientenorientierung und -zentrierung

Patientenzentrierte bezeichnet ein kommunikatives Verhalten, das den Patienten in seiner aktuellen
Kommunikation körperlichen und emotionalen Verfassung wahrnimmt, seine persönlichen Werte,
Bedürfnisse und Präferenzen berücksichtigt und seine Selbstkompetenz, Handlungs- und
Entscheidungsfähigkeit fördert (Bensing 2000)
Patientenorientierte beinhaltet den ganzheitlichen Aspekt und bezieht sich auch auf Wünsche, Bedürfnisse,
Kommunikation Wertvorstellungen, Handlungsmöglichkeiten und Kognitionen des Patienten (vgl. Sander
1999, S. 28) und auf eine Ausrichtung von Prozessen und Organisationen auf den Patienten
im Sinne der Kundenorientierung

44Die Perspektive des Patienten, seine persön- Folgenden wird der Begriff der patientenorientier-
lichen Erfahrungen, Erwartungen und sein ten Kommunikation in diesem Sinne verwandt.
Informationsbedürfnis kennen lernen
44Ein eingehendes Verständnis für die subjektive
Wirklichkeit des Patienten entwickeln (subjek- Literatur
tives Krankheitserleben, Lebenskontext, Werte
und Bedürfnisse), Abt-Zegelin A (2003) Patienten- und Familienedukation in der
Pflege. In: Deutscher Verein für Pflegewissenschaft (Hrsg)
44Zu einer gemeinsamen Einschätzung der
Das Originäre der Pflege entdecken. Pflege beschreiben,
aktuell wichtigen Probleme und Anliegen erfassen, begrenzen. Sonderausgabe Pflege & Gesell-
kommen, schaft. Mabuse, Frankfurt, S 103–115
44Konsens zu einem den jeweils aktuellen Badura B, Hart D, Schellschmidt H (1999) Bürgerorientierung
Problemen und Anliegen angemessenen im Gesundheitswesen. Nomos, Baden-Baden
Bas H (2012) Was bedeutet eigentlich „patientenzentrierte
Vorgehen anstreben (z. B. Therapieentscheidung)
Medizin“? Hausarztmedizin (KHM): 4–5
Bensing J (2000) Bridging the gap. The separate worlds of evi-
. Tab. 2.2 zeigt mögliche Abgrenzungen der Begriffe dence-based medicine and patient-centered medicine.
Patientenorientierung und -zentrierung. Im Patient Educ Couns 39(1):17–25
18 Kapitel 2 · Grundlagen der Beratung

Bienstein C (1989) Inhalt und Zielsetzung der patientenorien-


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Lehrkraft. Über Voraussetzungen einer kritisch-konstruk-
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Lang: Frankfurt a. M.
19 3

Beratungsansätze
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

3.1 Lösungsorientierte Beratung nach Bamberger – 20

3.2 Patientenzentrierte Beratung nach Rogers – 20

3.3 Compliance und Adherence – Welche Rollen spielen diese


für eine patientenorientierte Beratung? – 22
3.3.1 Adherence statt Compliance – 22

Literatur – 24

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_3
20 Kapitel 3 · Beratungsansätze

Psychosoziale Vermittlungs- Verhaltens- Handlungs-


Systemisch
Begleitung orientiert orientiert orientiert

Unterstützung/ Mangel an Unterstützung eigene Gesamtes


Begleitung, Infos/Fähigkeiten von Menschen Wünsche und Netzwerk wird
z.B. im für ein mit erheblichen Ziele betrachtet
3 Sterbeprozess adäquates Veränderungen identifizieren, Ziel: konkrete
Ziel: Krankheits- der Lebens- und Maßnahmen Problemlösung,
Entlastung, management Alltagsgestaltung ableiten Ressourcen
Teilhabe Ziel: Ziel: Förderung Ziel: Klient soll nutzen
Problemlö- der selbstreflektiert
sung konkreter Selbstmanage- entscheiden
Wissens- oder mentkompetenz und handeln
Verhaltens- können
defizite

. Abb. 3.1  Beratungsansätze. (Eigene Darstellung nach Stratmeyer 2005)

Im Vordergrund der Beratungsgespräche stehen bei- nicht vorhersehbaren und möglicherweise einschnei-
spielsweise in einer komplexen Erkrankungssituation denden Veränderungen im Gesamtsystem führen.
die Akzeptanz der Krankheit sowie die Neu- bezie- Die lösungsorientierte Beratung bedient sich der in
hungsweise Umgestaltung des Lebens. Innerhalb eines . Tab. 3.1 dargestellten Prinzipien.
Beratungsprozesses haben sich verschiedene Bera- Für die Entstehung eines solchen lösungsorien-
tungsansätze etabliert, die auch durchaus parallel bzw. tierten Gesprächsklimas ist auch die Grundhaltung
versetzt eingesetzt werden können (. Abb. 3.1). der beratenden Pflegekraft von großer Bedeutung.
Unter Berücksichtigung der besonderen kom- Echtheit, Wertschätzung, einfühlendes Verste-
munikativen Situation und der übergeordneten The- hen und das Grundprinzip der Wertschätzung der
matik des Beratungsprozesses stellt die lösungsorien- Andersartigkeit bilden die unumgängliche Basis
tierte Beratung ein geeignetes Beratungskonzept dar eines jeden Beratungsgespräches, wie auch die
(Bamberger 2001). patientenzentrierte Gesprächsführung nach Carl R.
Rogers (1972) darstellt. Dieser wird als zweiter Bera-
tungsansatz im Anschluss vorgestellt.
3.1 Lösungsorientierte Beratung
nach Bamberger
3.2 Patientenzentrierte Beratung
In der lösungsorientierten Beratung steht nicht nach Rogers
die Problemanalyse im Vordergrund, sondern der
Prozess einer zielstrebigen Lösungsfindung (Bam- Hierbei handelt es sich um einen humanistischen
berger 2005). Dieser geht davon aus, dass der Patient Ansatz, bei dem der Mensch im Mittelpunkt der
bereits über lösungsrelevante Ressourcen verfügt, die Beratung steht und nicht sein Problem. Als zentra-
durch ein Beratungsgespräch aktiviert werden. Nach les Ziel der patientenzentrierten Gesprächsführung
dem Ansatz „Hilfe zur Selbsthilfe“ gibt die Pflege- kann die Unterstützung des Patienten bei der Entde-
kraft dem Patienten eine strukturierte Anleitung, ckung seiner Individualität und seiner persönlichen
um das Problem zu lösen. Wichtiger Grundsatz Ressourcen angesehen werden. Insbesondere, wenn
dieses konstruktivistisch geprägten Konzeptes ist die durch eine Störung/eine Erkrankung die Möglich-
Überzeugung des zirkulären Vorgehens: dass kleine keit des Betroffenen zur Selbstverwirklichung ein-
­Veränderungen in problemrelevanten Handlungs- geschränkt ist, sollen gerade dann seine Ressourcen
mustern einschneidende Prozesse bewirken, die zu reaktiviert werden.
3.2 · Patientenzentrierte Beratung nach Rogers
21 3

. Tab. 3.1  Prinzipien lösungsorientierter Beratung. (Eigene Darstellung nach von Reibnitz 2011)

Aktivierung von Bei diesem Ansatz der positiven Konnotation geht es nicht darum, Probleme zu
Ressourcen „beschönigen“, sondern es sollen positive Rückkopplungseffekte erzeugt werden.
Dies erfolgt dadurch, dass man den Patienten auf die positiven Dinge aufmerksam
macht, die er bereits tut. Für dieses Verhalten werden zugrunde liegende Kompetenzen
herausgestellt und dem Patient bewusst gemacht.
Generieren von Die Beratung konzentriert sich auf die Lösung und nicht auf eine Problemanalyse.
Lösungen Lösungen verändern Teilsysteme innerhalb eines Gesamtsystems und somit auch die
Handlungsweise des Patienten.
Lösen prioritärer In der lösungsorientierten Beratung werden nur die Probleme gelöst, die offensichtlich
Probleme und prioritär sind und die der Patient auch lösen möchte. Verdeckte oder potenzielle
Probleme bleiben außen vor.
Aktivierung alternativer Menschen neigen dazu, aus einem zur Verfügung stehenden Repertoire nur bestimmte
Verhaltensmöglich­ Verhaltensweisen zur Problemlösung zu nutzen. Die beratende Pflegekraft verfolgt
keiten das Ziel, dem Patienten alternative Verhaltensstrategien aufzuzeigen, um damit die
Handlungsoptionen zu erweitern.

Der Patient soll durch Auseinandersetzung Patienten auch wirklich wertschätzen und ihm
mit den eigenen Gefühlen (Selbstexploration) von empathisch gegenübertreten.
einem unfreien Umgang mit den eigenen Gefühlen
und Beziehungen zu einem offenen und unmittel- Neben diesen drei wesentlichen Bedingungen
baren Selbsterleben (Experiencing) im Sinne einer verfügt die Pflegekraft über weitere Kompetenzen
Bewältigung des Problems/der Erkrankung gelan- in Gesprächstechniken und -methoden, wie z. B.:
gen. Der Ansatz zielt auf die Förderung der Selbst- 1. Das aktive Zuhören: Aktives Zuhören sollte nicht
exploration des Patienten, auf seine Entwicklungs- auf das gesprochene Wort reduziert werden.
möglichkeiten und auf seine Unabhängigkeit von Kleine Gesten und die Körpersprache der
der beratenden Fachkraft. Die Unabhängigkeit Pflegekraft können das verständnisvolle Zuhören
drückt sich dadurch aus, dass der Beratende nicht unterstreichen. Verständnisfragen betonen
für fertige Lösungen zuständig ist, sondern „nur“ zusätzlich den dialogorientierten Prozess.
eine Hilfestellung und Begleitung in der Lösungsfin- 2. Das Paraphrasieren: Diese Methode dient
dung geben soll. Der Patient sollte im Beratungspro- dazu, zu kontrollieren, ob die Pflegekraft alle
zess immer das Gefühl vermittelt bekommen, dass Informationen verstanden hat. Durch das
er die Zeit während der Beratung für sich nutzen „Spiegeln“ bzw. Wiederholen des Gesagten
kann und damit den Verlauf selbst bestimmt. Dafür können Missverständnisse vermieden werden
müssen im Wesentlichen drei Bedingungen erfüllt und der Patient reflektiert durch das „Spiegeln“
sein (Schneider 2005, S. 374 ff.): das von ihm Gesagte.
1. Wertschätzung oder bedingungsfreies 3. Das Verbalisieren emotionaler Erlebnis-
Akzeptieren: Der Patient wird mit seinen inhalte: Diese Methode kann sinnvoll sein,
eigenen Werten respektiert und die Beziehung um versteckte Emotionen zuzulassen und zu
zwischen Patient und beratender Pflegekraft ist verdeutlichen und somit dem Patienten das
nicht an Bedingungen geknüpft. Gefühl zu geben, man versteht ihn auch auf der
2. Empathie (einfühlendes Verstehen): Die emotionalen Ebene.
beratende Fachkraft muss sich in die Erlebens-
und Gefühlswelt des Patienten hineinversetzen Patientenzentrierte Gesprächsführung charakteri-
können. siert sich durch Techniken wie positive Widerspie-
3. Echtheit oder Kongruenz: Nur wenn die gelungen oder Rückmeldungen, die möglicherweise
beratende Pflegekraft in ihrem Verhalten und inhaltlich einen kleinen Schritt weiterführen als die
ihren Äußerungen kongruent ist, kann sie den Aussagen des Klienten. Es werden hilfreiche Fragen
22 Kapitel 3 · Beratungsansätze

. Tab. 3.2  Compliance und Adherence

Compliance Adherence

Der Begriff „Compliance“ wird von Pflegefachkräften oft benutzt, Der Begriff „Adherence“ wird zunehmend
obgleich er in Verbindung mit Pflege nicht zutrifft. Denn häufiger verwendet und bezeichnet das
3 Compliance bedeutet Therapietreue, aber in Deutschland treffen Aushandeln und Einhalten eines gemeinsam
Pflegefachkräfte keine Therapieentscheidung. Beispiel: erstellten Maßnahmenplans. Hierbei
Frau X zeigt eine mangelnde Compliance, was bedeutet: Sie werden die individuellen Vorstellungen des
macht nicht, was man ihr vorschlägt. Diese Formulierung Patienten sowie seine Kompetenzen, die er
hat einen negativen Beigeschmack. Die Aufgabe von in den Versorgungsprozess einbringen kann,
Pflegefachkräften ist es, zu ermitteln, was der Patient wirklich mitberücksichtigt. Die Rolle und Kompetenz der
möchte, wie der Pflegeprozess mit seinen Wünschen, Fähigkeiten Pflegekraft wird dadurch nicht verändert oder
und Abneigungen und der Therapie des Arztes in Einklang beeinträchtigt.
gebracht werden kann.

gestellt, aber keine konkreten Ratschläge oder Emp- Modell bei chronischen Erkrankungen eingesetzt.
fehlungen gegeben (vgl. Bachmaier, Faber, Hennig, Das klassische Konzept der Compliance – die Bereit-
Kolb & Willig, 1989). schaft des Patienten, die therapeutischen Maßnah-
Die Methoden werden dem jeweiligen Bera- men und Anweisungen des Arztes oder der Pfle-
tungsverlauf angepasst. gekraft zu befolgen – hat sich zugunsten eines
gemeinschaftlichen, einvernehmlichen Prozesses
der Therapieplanung entwickelt.
3.3 Compliance und Adherence – In dieser Entwicklung hat sich die Rolle des
Welche Rollen spielen diese Patienten zu einem aktiven Partner im Beratungs-
für eine patientenorientierte und Entscheidungsprozess über seine Therapie
Beratung? bzw. Versorgung gewandelt. Die Einhaltung und
Umsetzung von Therapieempfehlungen beruht auf
Der „mündige Patient“ gilt als aufgeklärt und selbst- einer selbstbestimmten Entscheidung (Adherence,
bestimmt. Er ist informiert und mitverantwortlich Adhärenz) des Patienten und ist kein Akt des treuen
für die Behandlung seiner Erkrankung und ihm Gehorsams gegenüber der Autorität des Arztes oder
wird ein aktiver Part bei der Entscheidung für eine der Pflegekraft (Compliance) (. Tab. 3.2).
bestimmte Therapie und deren Umsetzung zuge- Das klassische Konzept der „Compliance“ beruht
sprochen. Dieses veränderte Rollenverständnis ent- auf einem paternalistischem Verständnis der Arzt-
spricht dem Menschenbild des Selbstmanagements, Patient-Beziehung. Nach dieser Sicht ist ein The-
das geprägt ist vom Streben nach Selbstbestimmung, rapieerfolg in erster Linie davon abhängig, dass die
Selbstverantwortung und Selbststeuerung, und ver- vom Arzt vorgegebenen Behandlungsempfehlungen
sucht, Menschen bei der Übernahme von Selbstver- eingehalten werden. Ein Therapieversagen beruht
antwortung behilflich zu sein. Übertragen auf die darauf, dass der Patient die Therapie nicht ordnungs-
Beratung bedeutet dies: Ziel der Beratung muss es gemäß umgesetzt hat. Damit wird dem Patienten
sein, die Betroffenen zu befähigen, in ihrem Behand- einseitig die Verantwortung zugeschrieben, ohne zu
lungsalltag eigenständig mit krankheitsspezifischen prüfen, ob der Patient überhaupt die Möglichkeiten
Anforderungen und Problemen umzugehen. hatte, diese Therapie umzusetzen, oder ob Behand-
lungsbarrieren bestanden.
Nach dem Konzept der „Adherence“ dürfen
3.3.1 Adherence statt Compliance die individuellen Möglichkeiten und Probleme des
Patienten nicht außer Acht gelassen werden. Für
In den letzten Jahren hat ein Wandel von einem rein eine erfolgreiche Therapie oder Versorgung müssen
medizinisch geprägten Krankheitsmodell bei Akuter- bei der Planung die individuellen Bedürfnisse des
krankungen hin zu einem verhaltensmedizinischen Patienten sowie persönliche, den Behandlungserfolg
3.3 · Compliance und Adherence – Welche Rollen spielen diese für eine patientenorientierte
23 3
beeinflussende Faktoren berücksichtigt werden. selbstständig grundlegende Gesundheitsinforma-
Adhärenz beschreibt die Einhaltung der von Arzt tionen zu finden, zu verarbeiten und zu verstehen
oder Pflegekraft und Patient gemeinsam vereinbar- und Gesundheitsdienstleistungen zu verwenden, um
ten Behandlungsschritte. Die Kommunikation, die angemessene gesundheitsrelevante Entscheidungen
darauf abzielt, zu einer von Arzt oder Pflegekraft treffen zu können (Healthy People 2010).
und Patient gemeinsam getroffenen Vereinbarung Health Literacy wurde in den vergangenen Jahren
für eine bestimmte Therapie zu gelangen, bezeichnet hauptsächlich im englischsprachigen Raum disku-
man als partizipative Entscheidungsfindung (Shared tiert und fand auch in verschiedensten Forschungs-
Decision Making). arbeiten Eingang (v. a. in den USA, in Kanada und
Die gleichberechtigte Beteiligung von Arzt bzw. Australien). Im deutschsprachigen Raum fand das
Pflegekraft und Patient führt nicht zu einer Verände- Konzept bislang unter seiner englischen Bezeich-
rung der Rollen, sondern diese werden für beide Seiten nung Anwendung oder wird als Gesundheitskompe-
bestimmt und eigenverantwortlich getragen. Der Arzt/ tenz mehr oder weniger breit definiert. Auch Begriffe
die Pflegekraft ist verantwortlich für die Wahl von The- wie Gesundheitserziehung, Gesundheitsmündigkeit,
rapieoptionen und der Patient ist verantwortlich für (Selbst-)Kompetenz, Patientenkompetenz, Hand-
die Therapieumsetzung im Alltag und kann in diesem lungskompetenz usw. werden im Zusammenhang
Prozess seine Präferenzen sowie Bedenken mit einbrin- mit Health Literacy verwendet.
gen. Dabei bezieht sich der Begriff Adherence nicht Gesundheitskompetenz wird mit Abel und
nur auf die Einnahme von Medikamenten, sondern Bruhin (2003) und Kickbusch et al. (2005) als umfas-
umfasst darüber hinaus alle weiteren für die Behand- sendes Konzept verstanden, das dem Individuum
lung oder Stabilisierung eines chronischen Krankheits- erlaubt, sich mithilfe seines sozialen Umfeldes im
zustandes relevanten Faktoren. Dazu gehören und außerhalb des Gesundheitssystems gesundheits-
44die Interaktion zwischen den Beteiligten, bewusst zu verhalten bzw. die gesellschaftliche und
44die Berücksichtigung des individuellen politische Umwelt so zu beeinflussen, dass gesund-
Wissensstandes, heitsbewusstes Verhalten möglich ist.
44die Einbeziehung des Lebenskontextes sowie Mangelnde Compliance findet sich vor allem bei
subjektiver Gefühle gegenüber der Behandlung chronischen Krankheiten wie Diabetes, Asthma oder
oder den Medikamenten. chronischen Wunden und Bluthochdruck (Cushing
u. Metcalf 2007). Hier ist der Beitrag des Patienten
Adherence beschreibt somit das Einverständnis des zum Therapieerfolg hoch. Ein Patient mit einem
Patienten, die mit dem Arzt gemeinsam vereinbarte Ulcus cruris beispielsweise besucht normalerweise
Therapieplanung nach besten Möglichkeiten mit nicht monatlich den Arzt; er muss jedoch täglich
Unterstützung und Beratung durch Pflegefachkräfte Medikamente zu sich nehmen, auf seinen Lebensstil
einzuhalten (. Tab. 3.1). achten, gemeinsam mit den Angehörigen oder einem
Folgende Faktoren beeinflussen die Adherence: Pflegedienst den Verbandwechsel vornehmen. Der
44Soziale und ökonomische Faktoren wesentliche Teil der Therapie erfolgt hier durch den
44Auf das Gesundheitssystem bezogene Faktoren Patienten selbst, ohne dass der Arzt oder die Pflege-
44Patientenbezogene Faktoren kraft zugegen ist (mit Ausnahme des Verbandwech-
44Therapiebezogene Faktoren sels). Diese Form von „Selbstmanagement“ verlangt
44Krankheitsbezogene Faktoren vom Patienten Kompetenzen und Fähigkeiten, man
spricht in diesem Zusammenhang von „krankheits-
Noncompliance bezeichnet demgegenüber ein Ver- oder therapiekompetent“ sein. Die Frage der Thera-
halten von Patienten, das den medizinischen und pietreue ist aber nur Teil eines größeren Ganzen: Es
gesundheitlichen Ratschlägen und Anordnungen geht nicht allein um den Bereich Krankheit, sondern
in unterschiedlichem Ausmaß widerspricht bzw. sie um den umfassenden Bereich, das bedeutet die Kom-
nicht einhält (Winkler 2000, S. 247). petenzen in Bezug auf Gesundheit und Gesundblei-
Adherence ist verknüpft mit dem Begriff Health ben und Prävention sowie den Eigenbeitrag des
Literacy oder auch Gesundheitskompetenz. Diese Patienten zu seiner Gesundheit. . Abb. 3.2 zeigt den
wird beschrieben als die Fähigkeit des Einzelnen, Zusammenhang.
24 Kapitel 3 · Beratungsansätze

Umgang mit
Unsicherheiten

Inhärente Respekt vor der


3 Asymmetrie
der Beziehung
Perspektive des
Patienten

Realisierung der
Unterstützung der
Krankheits-
evidenzbasierten
bewältigung des
Entscheidung
Patienten

Health Literacy
Kommunikative (Gesundheits-
Kompetenzen kompetenz)-
beidseitig

. Abb. 3.2  Der Patient im Kontext seiner Erkrankung

Literatur Rogers CR (1972) Die klientenbezogene Gesprächspsychothe-


rapie. Kindler, München
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Bamberger G (2005) Lösungsorientierte Beratung. Praxishand-
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Qualifizierte Begleitung von Sterbenden und Trauernden,
Bd 1, Abschn. 323: 1–27. Verlag Forum Gesundheitsme-
dien, Merching
25 4

Beratung als Form der


Kommunikation
Dirk Strackbein, Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

4.1 Das limbische System und seine Rolle im Lern-


und Kommunikationsprozess – 27

4.2 Extrinsische und intrinsische Motivation – 30

Literatur – 31

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_4
26 Kapitel 4 · Beratung als Form der Kommunikation

Während wir im Kontakt mit anderen Menschen – beziehen. (Grundlagenpapier Beratungsver-


bewusst oder unbewusst – ständig kommunizie- ständnis der DGfB; Deutsche Gesellschaft für
ren, ist die Beratung eine konkrete und zielge- Beratung 2016)
richtete Form der Kommunikation. Das Ziel einer
Beratung als strukturiertes Gespräch ist ganz all- Zusammenfassend kann man sagen:
gemein, eine Aufgabe oder ein Problem zu lösen 44Beratung setzt soziale und fachliche
oder einer Lösung zuzuführen oder einen Men- Kompetenz des Beratenden voraus.
schen qua Beratung zu einer Verhaltensänderung 44Sichtweisen und Erlebenszusammenhänge des
4 oder Übernahme bestimmter Handlungsmuster zu Beratenen werden reflektiert.
bringen. Folglich ist das Resultat einer Beratung oft 44Der Beratende besitzt kommunikative und
Veränderung. problemlösungsorientierte Kompetenzen.
Die Deutsche Gesellschaft für Beratung e. V. hat 44Der Beratende nutzt eigenes fachlich fundiertes
folgendes Ziel: „Der Förderung der professionellen Wissen und zieht wissenschaftlich fundiertes
und wissenschaftlich fundierten Beratung gehört das Wissen heran.
wesentliche Interesse der DGfB“. Dieser Verein wird 44Dieses Wissen ist interdisziplinär und kann
vornehmlich von Mitgliedsverbänden getragen, die sich auf unterschiedliche Bereiche der Lehre
aus dem sozialen, psychologischen oder theologi- und Wissenschaft beziehen.
schen Kontext heraus arbeiten.
Die DGfB hat in ihrer Veröffentlichung ihres Hiermit sind die Grundvoraussetzungen guter
Beratungsverständnisses mit dem Punkt Beratungs- Beratung umfassend beschrieben. Aber bedeutet
wissen den Begriff der Beratung sehr schön definiert das auch, dass ein Mensch, der alle diese Voraus-
und thematisiert: setzungen erfüllt, andere Menschen gut, nachhaltig
und zielführend beraten kann? Nicht zwingend. Es
» Beratung setzt persönliche, soziale und ist alles richtig, was in dieser Definition, in dieser
fachliche Identität und Handlungskompetenz Beschreibung geschrieben steht. Hier wird sehr viel
des/der Beratenden voraus. Je nach Wert auf die fachliche Kompetenz und den Umgang
Aufgabenstellung und Kontext, Anwendungs- mit wissenschaftlichen Informationen gelegt. Aber
oder Tätigkeitsfeld, werden persönliche nur einmal taucht das Wort „sozial“ auf. Beratung
Erfahrungen und subjektiv geprägte rein auf der Sachebene sorgt beim Empfänger nicht
Sichtweisen und Erlebenszusammenhänge für eine Änderung bzw. Veränderung, weil er emo-
der Beratenen auf der Grundlage theoretisch tional nicht angesprochen und involviert worden ist.
fundierten Beratungswissens reflektiert. Hierzu Der Empfänger hat die Botschaft vielleicht gehört
sind insbesondere auch kommunikative und und sogar verstanden, aber durch fehlende emo-
problemlösungsorientierte Kompetenzen tionale Einbindung kommt er nicht auf die eigene
erforderlich. Ergänzend wird bei Handlungsebene. Ähnlich ist es übrigens auch beim
entsprechenden Fragestellungen fachlich Lernen. Sind wir emotional nicht beteiligt oder ange-
fundiertes Wissen (Informationen) vermittelt sprochen, fällt es uns unglaublich schwer, Dinge zu
und wissenschaftlich fundierte Erklärungen behalten, zu verinnerlichen.
herangezogen. Auf diese Weise sollen
bestimmte Aufgaben und Anforderungen, > Ziel patientenzentrierter Beratung ist es, den
Probleme und Konflikte oder phasentypische Patienten und/oder die Angehörigen auf eine
Situationen besser beurteilt und bewertet Ebene des nachhaltigen und selbstverant-
werden können. Je nach Tätigkeitsfeld kann wortlichen Handelns zu bringen.
sich das Wissen auf Bereiche der Psychologie,
der Soziologie, der Erziehungswissenschaft Verständnis und Lernen dürfen nicht getrennt
und Pädagogik, der Sozialarbeit, Theologie, der werden. Nicht nur, weil Lernen ohne Verständnis
Pflege, des Rechts, der Ökonomie, der Betriebs- nicht geht, sondern auch, weil Handlung und Ver-
wirtschaft, der Medizin, der Psychiatrie etc. haltensänderung nur nachhaltig funktionieren,
4.1 · Das limbische System und seine Rolle im Lern- und Kommunikationsprozess
27 4
wenn gelerntes Verständnis und nicht einfach ein
Ratschlag, ein Vorschlag oder eine Vorgabe vorlie- Limbisches system
gen. Lernen meint hier nicht nur das Lernen, das
der Wissensvermehrung dient, sondern auch das
Lernen, im Kontext neue Dinge oder Muster sofort
umzusetzen. Hat ein Mensch etwas verstanden und
damit gelernt, hat er es auch verinnerlicht. Emotiona-
ler Zugang sorgt dann für den entscheidenden nach-
haltigen Lern- und Erinnerungseffekt.
An dieser Stelle ein Beispiel für diesen Effekt:
. Abb. 4.1  Das limbische System
Beispiel
Wenn Sie gefragt werden, wo Sie am 11. Septem-
ber 2001 waren, als die schreckliche Nachricht der 4.1 Das limbische System und
Terroranschläge auf das World-Trade-Center in seine Rolle im Lern- und
New York um die Welt ging, können Sie bestimmt Kommunikationsprozess
recht detailliert beschreiben, wo exakt Sie waren,
was Sie zu diesem Zeitpunkt gemacht haben und Seit einigen Jahren wird so viel über das limbische
wie dann der Abend dieses geschichtsträchtigen System (. Abb. 4.1) gesprochen und geschrieben,
Tages verlief. Fragen wir Sie, was Sie am Tag davor dass man erwarten könnte, seine Existenz sei in den
gemacht haben, werden Sie es nicht sagen können. letzten Jahren entdeckt worden. Tatsächlich wurde
Es sei denn, an diesem Tag ist auch etwas passiert, es 1952 zum ersten Mal vom US-amerikanischen
was Sie emotional aufgewühlt hat. Diese Langzeit- Gehirnforscher Paul D. MacLean beschrieben. Er
abspeicherung von Informationen und Ereignissen prägte diesen Begriff, der bis heute Bestand hat.
wird sowohl von negativ ausgelösten Emotionen Die moderne Hirnforschung leistet heute einen
als auch von sehr positiven Emotionen initiiert. So wichtigen Beitrag zur Wirkung von Kommunika-
wie wir uns an den Tag des 11.  September 2001 tion. Beschäftigt man sich mit der modernen Hirn-
erinnern können, so können wir uns auch an den forschung der letzten Jahre, stößt man immer wieder
ersten Kuss, den Tag der Geburt eines Kindes oder auf den Begriff der Neurokommunikation. Die
anderer emotional-positiv gebahnter Ereignisse Neurokommunikation beschäftigt sich intensiv mit
erinnern. der Wahrnehmung, Bewertung, Verarbeitung und
Speicherung von Informationen im menschlichen
> Erinnerung ist intensiv verbunden mit Gehirn. Unser limbisches System bewertet Informa-
Emotion. Je emotionaler wir erreicht werden, tionen immer emotional und entscheidet dadurch,
desto intensiver können wir uns erinnern. welche Wirksamkeit und welchen Erfolg Kommu-
Nachhaltige Verhaltensänderung setzt nikation z. B. in einem Beratungsgespräch letztend-
Verständnis aus der Erinnerung voraus. lich hat. Deshalb möchten wir uns hier mit diesem
emotionalen Bewertungssystem ein wenig näher
Da es gerade in der (Langzeit-)Pflege von Patienten beschäftigen.
wichtig ist, eine nachhaltige Verhaltensänderung und Das limbische oder limbisch-emotionale System
Compliance bzw. Adherence zu erreichen, ist es folg- besteht aus dem Hippocampus, dem Gyrus cinguli,
lich unerlässlich, den Patienten nicht nur sachlich- dem Gyrus parahippocampalis, dem Nucleus accum-
fachlich zu erreichen, sondern eben auch emotio- bens und der Amygdala.
nal-menschlich. Für das Erreichen eines Menschen Der Hippocampus ist unser explizites Gedächt-
eben auf dieser emotionalen Ebene ist das limbische nis, in dem Tatsachen, Ereignisse und Erlebnisse
System von zentraler Bedeutung, daher wird seine abgespeichert werden, die dann auch bewusst
Rolle im Kommunikationsprozess im Anschluss abgerufen und wiedergegeben werden können. Im
genauer beschrieben. Grunde genommen ist er somit die Schaltzentrale
28 Kapitel 4 · Beratung als Form der Kommunikation

unseres Langzeitgedächtnisses, der Wächter der gelangen sollen. Darüber hinaus ist er möglicher-
Erinnerung (Bertram u. Spitzer 2013). weise auch beteiligt am optisch-topographischen
Die Amygdala – auch Mandelkern genannt – ist Erkennen. Das heißt, er erkennt Orte, Landschaften
der Teil des limbischen System, der für die emotio- und Räume und hilft so bei der Orientierung. Kat-
nale Bewertung von Informationen, Reizen, Ereig- herine P. Rankin geht sogar davon aus, dass die Funk-
nissen oder Erlebnissen zuständig ist. Hier wird auch tion des Gyrus hippocampalis über die Torfunktion
über Emotion gesteuert, ob Informationen gelernt und das rein visuelle Erkennen hinausgeht. Sie hat
und verinnerlicht werden. Je stärker der emotio- Hinweise gefunden, dass dieser Bereich sowohl an
4 nale Reiz, desto intensiver wird die Erinnerung sein. der Erkennung von sozialen Zusammenhängen als
Ebenso bewertet die Amygdala Bedrohungen und auch von Sprachen beteiligt ist. So hat er nicht nur
Gefahren. Bevor uns die Gefahr bewusst gewor- eine optische Funktion, sondern vielleicht auch eine
den ist und wir tatsächlich Angst empfinden, löst sie assoziative.
Reaktionen aus, die der Flucht, dem Angriff oder der Der Geruchssinn des Menschen ist im Übrigen
Erstarrung dienen. Weiterhin steuert sie die vegeta- besonders eng mit dem limbischen System ver-
tiven Reaktionen wie beschleunigte Atmung, Adre- bunden. Daher reagiert das limbische System auf
nalinausstoß und Herzklopfen. Das ist übrigens Geruchsreize auch besonders sensibel. Man kennt
bei Freude genauso: Bevor wir Freude spüren, uns den Effekt, dass einem sprichwörtlich das Wasser
unsere Freude bewusst wird, steuert die Amygdala im Munde zusammenläuft, wenn man sein Lieb-
die Körperreaktionen für Freude und Begeisterung lingsgericht nur riecht, ohne es gesehen oder gar
an. Amygdala und Kleinhirn sind auch für unser geschmeckt haben. Oder die intensive Reaktion auf
implizites, prozedurales Gedächtnis verantwort- Brandgeruch. Hier funktioniert das Frühwarnsys-
lich, d. h. für alles an Handlungen und Bewegungen, tem: Alle Systeme werden durch Brandgeruch auf
zu denen unser Bewusstsein nicht eingeschaltet sein Alarm gestellt. Der Brandgeruch ist nicht so inten-
muss: Schwimmen, Radfahren, Gehen etc. (Bertram siv, dass er alle Gerüche – auch die unangenehmen
u. Spitzer 2013). – überlagert, sondern er wird von unserem limbi-
Der Nucleus accumbens ist der Sensor für posi- schen System so intensiv wahrgenommen, dass alle
tive, antreibende und motivierende Schlüsselreize. anderen in den Hintergrund treten.
Er ist dafür zuständig, körpereigene Opiate, Endor- Das limbische System ist also äußerst komplex.
phine, freizusetzen, wenn wir etwas Angenehmes, Ein Zitat von Manfred Spitzer bringt hervorragend
Reizvolles oder Anregendes sehen, schmecken, zum Ausdruck, welche Rolle das limbisches System
riechen oder anderweitig über unsere Sinne erfas- in unserem Leben spielt:
sen. Dieser Sensor reagiert natürlich sehr individu-
ell. Da, wo der eine Mensch beim Betrachten eines » Wir wissen heute, dass das limbische System,
Kunstwerks durch Endorphine angeregt ins Schwär- also jene „Funktionseinheit“ im Gehirn, die
men gerät, kann ein anderer Mensch diesem Kunst- die Gefühlswelt steuert, die erste und letzte
werk nichts, aber auch gar nichts abgewinnen. Hier Entscheidung trifft, und nicht etwa die
wird über die Sinne auch die Sympathie oder Anti- Großhirnrinde, der Sitz des Verstandes. Die hat
pathie gesteuert (Bertram u. Spitzer 2013). nur beratende Funktion. Das weiß jede Frau,
Der Gyrus cinguli ist der größte Teil des limbi- die schon einmal in einen Idioten verliebt war.
schen Systems und beeinflusst Konzentration, Auf- Ihre Großhirnrinde flüstert: „Schick ihn zum
merksamkeit und Schmerzverarbeitung und dient Teufel!“ Ihr limbisches System dagegen schreit:
zusätzlich der Steuerung unserer Affekte. Gemein- „Aber der ist doch so süß!“ (Bertram u. Spitzer
sam mit dem Hippocampus ist er auch für die Lang- 2013, S. 423)
zeitspeicherung von Informationen, Ereignissen und
Erlebnissen verantwortlich. Aber zurück zur Beratung und zur Kommunikation.
Der Gyrus parahippocampalis geht nahtlos Wie bereits geschrieben, hat das limbische System
in den Hippocampus über und ist das Tor für alle eine zentrale Bedeutung in Bezug auf die Wirkung
Signale und Informationen, die zum Hippocampus und Auswirkung von Beratung. In der Beratung
4.1 · Das limbische System und seine Rolle im Lern- und Kommunikationsprozess
29 4
von Patienten geht es darum, nicht nur Compliance, Da viele der Patienten in angespannter psychi-
sondern Adherence zu erreichen. Das gelingt aber nur, scher Verfassung sind, reagiert bei ihnen das lim-
wenn das limbische System des Patienten in diesem bische System noch sensibler. Es ist schlicht und
Kontext auf positiv gestellt ist. Trivial ausgedrückt ergreifend sehr schnell auf grün oder rot geschaltet.
ist das limbische System der Schalter (Funktionsein- Bestimmte Wörter, Sätze oder Phrasen erzeugen bei
heit, Bertram u. Spitzer 2013) in unserem Gehirn, ihnen sehr schnell die nicht gewollte Ablehnung.
der in einem kommunikativen Prozess entweder auf
„grün“ steht oder auf „rot“. Grün bedeutet Zuhören, Beispiel
Verständnis, Verinnerlichung und Zuwendung. Rot Beispiele sind: „Sie müssen … “, „Sie sollten mal … “,
bedeutet Abwehr, Zweifel, Unverständnis und Abwen- „Kümmern Sie sich mal … “, „Machen Sie mal eben
dung. Diese Abwehr kann bei Patienten sogar bis zur … “. Auch Verharmlosungen „mal eben“ oder Ab-
„echten“ Reaktanz führen. Jack W. Brehm beschreibt wertungen „das ist doch kein Problem“, „das ist doch
sie in seiner Theorie der Reaktanz wie folgt: „Reaktanz kein Aufwand“ führen zur inneren Abwehr. Schauen
ist ein Erregungs- und Motivationszustand, der darauf Sie einmal bei sich selbst nach! Wann haben Sie das
abzielt, die bedrohte, eingeengte oder blockierte Frei- letzte Mal gedacht: „Wie oder wann ich das mache,
heit (des Handelns und Verhaltens) wieder herzustel- muss der oder die mir schon selbst überlassen!“ Die-
len“ (Brehm u. Brehm 1981, S. 182). ser Gedankengang zeigt den Zustand Ihres limbi-
Das besonders Kritische an dieser Abwehr oder schen Systems auf eine Aufforderung: rot!
gar Reaktanz ist, dass – ist sie erst einmal erreicht –
es sehr schwierig und aufwendig ist, den Schalter, Es sind aber nicht nur verbale Signale, auf die das lim-
der jetzt auf „rot“ steht, wieder auf „grün“ zu stellen. bische System reagiert, sondern auch die nonverbalen
Eine real erlebte Situation beschreibt dieses oder paraverbalen Signale. Ein leicht kommandiertes
Phänomen: „Kommen Sie mal“, am besten noch verbunden mit
„mal eben“, verbunden mit einer abfälligen Kopfbe-
Beispiel wegung oder einer fordernden Handbewegung kann
Auf einer Hochzeit empfindet ein Hochzeitsgast, das System schon auf negativ stellen. Oder ein para-
der selbst kein Smartphone oder keinen Fotoappa- verbales Signal wie „Oh je“ oder „Ach je“ kann im
rat besitzt, dass es jetzt an der Zeit wäre, ein Foto limbischen System schon Ängste und Unsicherheiten
zu machen. So ruft er dem Vater des Bräutigams, mit den jeweiligen körperlichen Reaktionen auslösen.
der im Besitz eines Fotoapparates ist, zu: „Erwin, Du
musst jetzt unbedingt ein Foto machen!“ Was pas- > Das limbische System ist sehr sensibel.
siert? Erwin macht kein Foto! Nach über einer Vier- Bereits einzelne oder wenige Worte,
telstunde geht Erwin zum Hochzeitsgast und sagt: bestimmte Gesten und Mimiken können
„Wann ich hier Fotos mache, musst Du mir schon das System in sehr kurzer Zeit auf Abwehr
selbst überlassen!“ „stellen“. Es wieder auf positiv zu „stellen“,
dauert vergleichsweise deutlich länger.
Das heißt, mit wenigen Worten hat der Gast das
limbische System von Erwin auf tiefrot, auf Abwehr Im Rahmen der Kommunikation sollte auch klar
gestellt – und das auch noch nachhaltig. Unsere lim- sein, dass das Bildgedächtnis des Menschen deutlich
bischen Systeme reagieren sehr individuell. Bei dem ausgeprägter ist als das Sprachgedächtnis. Das liegt
einen Menschen ist das System sensibler, reagiert daran, dass man davon ausgeht, dass in frühmensch-
schneller, beim anderen ist es weniger sensibel und lichen Zeiten Kommunikation fast ausschließlich
reagiert nicht so empfindlich. Oder es gibt bestimmte non- und paraverbal, ohne Sprache, stattgefunden
Situationen, in denen das System schnell anspringt. hat. Daher sind die Hirnareale, die diese nonverba-
Auch bestimmte Personen, mit denen man entwe- len Signale entschlüsseln, deutlich besser ausgebildet.
der positive oder negative Erfahrungen gemacht Und das wiederum ist der Grund, warum b ­ ildhafte
hat, können das System sehr schnell in die eine oder Sprache und Metaphern so gut ankoppeln und in
andere Richtung bringen. Erinnerung bleiben.
30 Kapitel 4 · Beratung als Form der Kommunikation

Beratende Kommunikation ist tatsächlich sehr „Zeigefinger-Hochhalten“ erst einmal Reaktanz aus-
viel mehr als nur der Austausch von Wörtern. Macht gelöst, ist es sehr schwer, hier wieder in ein Koope-
man sich an dieser Stelle klar, welchen Anteil dabei rationsmodell zu kommen. Also geht es in der
der emotional-zwischenmenschliche Bereich hat, Beratung, in der Kommunikation darum, den sprich-
wird klar, warum die Wörter, der tatsächliche fakti- wörtlichen Schalter des limbischen Systems frühzei-
sche Inhalt, bei Vermittlung einer Botschaft nur 7% tig und nachhaltig auf positiv zu stellen.
ausmachen, wie zu Beginn von 7 Kap. 1 beschrieben. Neben dem Einsatz bestimmter Gesprächs-
Was im Beratungsprozess erreicht werden soll, techniken, z. B. WWSZ (Warten-Wiederholen-­
4 ist, den Menschen positiv anzusprechen, um eben Spiegeln-Zusammenfassen, 7 Abschn. 7.3) und dem
diese 7% faktischen Inhalt zu platzieren. Hier ist das NURSE-Modell (Naming-Understanding-Respec-
Ziel die Selbstverantwortung des Patienten, nämlich ting-Supporting-Exploring, 7 Abschn. 7.2), ist für die
durch intrinsische Motivation etwas zu tun, etwas zu Motivation und das emotionale Erreichen des Patien-
lassen oder bestimmte Verhaltensweisen zu verän- ten noch etwas wichtig, was in seiner Wirksamkeit
dern. Ein kleiner Exkurs in die Motivationstheorie oft unterschätzt wird. Auf diese Gesprächstechni-
soll dies verdeutlichen. ken wird in den nachfolgenden Kapiteln detailliert
eingegangen.
Im Rahmen der Fallbeispiele werden die Techni-
4.2 Extrinsische und intrinsische ken der Gesprächsführung konkretisiert. An dieser
Motivation Stelle soll jedoch noch der gezielte Einsatz von Lob,
Anerkennung und persönlicher Wertschätzung
In der Motivationstheorie wird von extrinsischer und als Bestandteile erfolgreicher Beratung dargestellt
intrinsischer Motivation gesprochen. Die extrinsi- werden. Fragt man Menschen in unterschiedlichen
sche ist diejenige Motivation, die durch Anreizmo- Kontexten, sei es im Beruf, in der Familie oder in
delle von außen oder Druck ausgelöst wird. Die ex­ anderen zwischenmenschlichen Strukturen, was
trinsische Motivation ist wenig nachhaltig und muss ihnen seitens anderer Menschen fehlt, hört man oft
ständig neu angestoßen werden, weil das grundsätz- „Lob und Anerkennung“. Woran liegt das? Loben
liche Verständnis und damit die wirkliche Selbstver- und anerkennen die Menschen wirklich zu wenig?
antwortung fehlt. Der Mensch, der Patient handelt, Manchmal kann man den Eindruck gewinnen,
weil er soll, nicht weil er will – er wird von außen viele Menschen agieren nach dem schwäbischen
motiviert. Sprichwort „Nicht geschimpft ist Lob genug“. Soll
Der intrinsisch motivierte Patient handelt und heißen, läuft alles nach Plan, werden Ziele erreicht,
ändert nicht, weil er soll, sondern weil er will! Er hat hält der Patient sich an therapeutische Empfehlungen
einen eigenen inneren Antrieb, eine innere Kraft und und Maßnahmen und ist auch darüber hinaus sehr
eine, soweit es geht, positive Einstellung – er ist moti- compliant, ist alles in Ordnung, dann ist das OK. Die
viert. Provokant ausgedrückt: Es geht nicht darum, Erwartungen der Ärzte und Pflegenden sind erfüllt,
dass der Patient etwas tut, von dem der Arzt oder so sind alle zufrieden. Und eben dann wird oft ver-
die Pflegekraft überzeugt sind, dass es ihm gut tut, gessen, das auch anzusprechen, denn die Erwartun-
sondern darum, dass der Patient etwas tut, von dem gen sind ja nur erfüllt und wurden nicht übertroffen.
er selbst überzeugt ist, dass es ihm gut tut! Gerade Menschen in persönlichen Krisensituationen
Wie erreicht man aber eben diesen selbstver- und Menschen, die durch ihre Erkrankung angstbe-
antwortlich handelnden, intrinsisch motivier- setzt und unsicher sind, brauchen die Bestätigung
ten Patienten? Man sollte den Patienten natürlich durch Lob und Anerkennung, dass ihnen (noch)
mit sachlichen und faktischen Argumenten errei- etwas gelingt, dass sie etwas gut machen.
chen. Entscheidend aber ist, ihn auch emotional Hier sollte man trennen zwischen Lob, Anerken-
zu erreichen. Und gerade hier spielt das limbische nung und persönlicher Wertschätzung. Kommt in
System wieder eine entscheidende Rolle. Haben unserer Gesellschaft Lob und Anerkennung oft zu
der Arzt oder die Pflegekraft durch zu viel Druck, kurz, dann erst recht die persönliche Wertschätzung.
durch zu viel „müssen“ und „sollen“, durch zu viel Lob und Anerkennung ist immer funktional, richtet
Literatur
31 4
sich also auf die Handlungsebene, also Dinge, die
getan worden sind, oder Verhaltensmuster, die ein
Patient eingehalten hat. Persönliche Wertschätzung
richtet sich immer direkt an die Person, ans Indivi-
duum. Das heißt, „Das ist Ihnen aber wirklich gut
gelungen“ ist Lob/Anerkennung; „Ich finde es schön,
dass Sie in unserer Einrichtung sind“ ist Wertschät-
zung der Person.
Leider ist es oft so, dass man mehr aus der defi-
zitären Sicht über Sachverhalte spricht. Das heißt, es
wird mehr darüber geredet, was nicht funktioniert.
Das, was funktioniert und gut läuft, wird wohlwol-
lend zur Kenntnis genommen. Redet der Berater in
der Beratung eines Patienten aus defizitärer Sicht nur
über das, was nicht gut ist, wird er ihn im Prozess ver-
lieren. Mehr dazu aber später bei der Schilderung
und Bearbeitung von Fallbeispielen (7 Sektion 3).
Gute patientenzentrierte Beratung mit emotio-
nalem Zugang stellt den Patienten und durchaus
auch die Angehörigen in den Fokus. Spürt das der
Patient, wird sein limbisches System positiv ange-
sprochen. Dadurch ist er nicht nur aufnahmefähig
und verständig, sondern er speichert ihm gegebene
Informationen intensiver und für das Bewusstsein
leichter abrufbar ab. Folglich ist das Ergebnis der
Beratung deutlich nachhaltiger.

Literatur

Bertram W, Spitzer M (2013) Hirnforschung für Neu(ro)gierige.


Schattauer, Stuttgart
Brehm JW, Brehm J (1981) Psychological reactance. A theory of
freedom and control. Academic Press, New York
Deutsche Gesellschaft für Beratung (2016) Beratungsver-
ständnis. Auszug aus der Homepage. Verfügbar unter
www.dachverband-beratung.de [23. 05. 2016]
33 5

Die Rolle der Beratung


in der Pflege
Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein

5.1 Die Bedeutung der Beratung in den nationalen


­Expertenstandards für die Pflege – 34

5.2 Gelungene Praxisanleitung als Voraussetzung für


eine gute Beratung – 40

5.3 Rechtliche Grundlagen zur Beratung – 47


5.3.1 Rechtsanspruch auf Pflegeberatung nach § 7 a, SGB XI – 47

Literatur – 49

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_5
34 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

5.1 Die Bedeutung der seit 2008 eine Aktualisierung erfahren haben. 2015
Beratung in den nationalen wurde außerdem die Entwicklung eines Standards
Expertenstandards für die zur Pflege von Menschen mit Demenz initiiert, die
Pflege Konsentierung ist für das Jahr 2017 geplant (DNQP
2015, S. 4). Eine Übersicht gibt . Tab. 5.1.
In den vergangenen Jahren wurden mehrere natio- Alle nationalen Expertenstandards des DNQP
nale Expertenstandards für die Pflege in Deutschland wurden entsprechend der gleichen Vorgehens-
entwickelt, die ein Qualitätsniveau festlegen, welches weise entwickelt und sind damit „evidenzbasierte,
wissenschaftlich begründet ist und den sog. State of monodisziplinäre Instrumente, die den spezifischen
the Art, den aktuellen wissenschaftlichen Stand in Beitrag der Pflege für die gesundheitliche Versor-
5 der Disziplin Pflege, beschreiben und nach außen hin gung von Patienten/Patientinnen bzw. Bewohnern/
dokumentieren (Elsbernd 2003, S. 5). Bewohnerinnen sowie ihren Angehörigen zu zent-
In Deutschland ist hier bislang die Hochschule ralen Qualitätsrisiken aufzeigen und Grundlage für
Osnabrück federführend, welche schon 1992 mit eine kontinuierliche Verbesserung der Pflegequali-
dem Aufbau eines entsprechenden Netzwerks tät in Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen bieten“
begonnen hat. Seit 1999 arbeitet sie gemeinsam mit (DNQP 2015, S. 5). Die Expertenstandards stellen
dem Deutschen Pflegerat (DPR) an der Entwick- ein professionell abgestimmtes Leistungsniveau dar,
lung und Einführung evidenzbasierter Experten- welches an den Bedarf und die Bedürfnisse der damit
standards, die für alle Aufgabenfelder der Pflege als angesprochenen Personengruppe angepasst ist sowie
richtungsweisend anzusehen sind, um die Pflege- Kriterien zur Erfolgskontrolle bei der Pflege dieses
qualität zu fördern (Ballsieper et al. 2012, S. 10). Das Personenkreises benennt. Die Zielsetzung bei kom-
so entstandene Deutsche Netzwerk für Qualitäts- plexen, interaktionsreichen pflegerischen Aufgaben
entwicklung in der Pflege (DNQP) wurde zwischen wird ebenso aufgezeigt wie Handlungsalternativen
1999 und 2009 finanziell in seiner Arbeit durch das und -spielräume in der direkten Bewohner- bzw.
Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geför- Patientenversorgung (DNQP 2015, S. 5).
dert. Anlass war der Beschluss der Gesundheitsmi-
nisterkonferenz 1999 über „Ziele einer einheitlichen > Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsent-
Qualitätsstrategie im Gesundheitswesen“ (DNQP wicklung in der Pflege (DNQP) hat seit 1999
2015, S. 3). insgesamt elf evidenzbasierte nationale
Ein Lenkungsausschuss, dessen Mitglieder in Expertenstandards für die Pflege entwickelt
unterschiedlichen Aufgabenbereichen der Pflege und teilweise schon aktualisiert. Die
tätig sind und sich mit Fragen rund um die Qualitäts- Expertenstandards stellen ein professionell
entwicklung befassen, sorgt für die inhaltliche Steue- abgestimmtes Leistungsniveau dar,
rung des DNQP. Mitglieder des Lenkungsausschus- dessen Einhaltung anhand von definierten
ses sind Vertreter aus der Pflegewissenschaft, dem Erfolgskriterien überprüft werden kann.
Pflegemanagement, der Pflegelehre sowie der Pfle-
gepraxis. Wissenschaftliche Mitarbeiter der Hoch- Als erster Schritt bei der Entwicklung eines neuen
schule Osnabrück unterstützen zudem Projekte und Expertenstandards wird eine Literaturstudie durch-
Veröffentlichungen. Das DNQP steht des Weiteren in geführt, um den Stand der vorliegenden Evidenz auf-
einem fortlaufenden fachlichen Austausch mit Part- zubereiten. Die Suchstrategie sowie die anhand fest-
nerorganisationen auf nationaler und internationa- gelegter Kriterien ein- und ausgeschlossenen Studien
ler Ebene. Neben der Entwicklung, Konsentierung werden dabei transparent dargestellt. Qualitativen
sowie Implementierung evidenzbasierter Experten- Studien kommt im Rahmen der Pflegewissenschaf-
standards ist die Forschung zu Methoden und Ins- ten eine besondere Bedeutung zu, da die zu unter-
trumenten rund um die Qualitätsentwicklung und suchenden pflegerischen Interventionen komplexe
-messung ein zentrales Aufgabenfeld des DNQPs. und umfassende Interaktionen darstellen, deren
Bislang wurden elf Expertenstandards durch das Effekte in quantitativen Studien kaum zu erfassen
DNQP entwickelt, von denen wiederum schon fünf sind (DNQP 2015, S. 8).
5.1 · Die Bedeutung der Beratung in den nationalen Expertenstandards für die Pflege
35 5

. Tab. 5.1  Expertenstandards des DNQP. (Quelle: DNQP 2015; eigene Darstellung)

Expertenstandards des DNQP Veröffentlichung Aktualisierung

Dekubitusprophylaxe in der Pflege 2004 2010


Entlassungsmanagement in der Pflege 2004 2009
Schmerzmanagement in der Pflege bei akuten oder 2005 2011
tumorbedingten chronischen Schmerzen
Sturzprophylaxe in der Pflege 2006 2013
Förderung der Harnkontinenz in der Pflege 2007 2014
Pflege von Menschen mit chronischen Wunden 2009 2015
Ernährungsmanagement zur Sicherstellung und Förderung der 2010 Voraussichtlich 2016
oralen Ernährung in der Pflege
Expertinnenstandard Hebammenwesen zur Förderung der 2014
physiologischen Geburt
Erhaltung und Förderung der Mobilität 2014
Schmerzmanagement in der Pflege bei chronischen Schmerzen 2015
Pflege von Menschen mit Demenz Voraussichtlich 2017

Bei der projektorientierten Arbeitsweise des der wissenschaftlichen Literatur, andererseits auf ein
DNQP erfolgt im Anschluss an die Literaturstudie fachliches und erfahrungsbezogenes Expertenurteil.
für jeden Expertenstandard die Bildung einer Exper- Die als Konsens aus der Arbeitsgruppe entwickel-
tenarbeitsgruppe, welche jeweils durch ein wissen- ten Kriterien und beigefügten Kommentierungen
schaftliches Team begleitet wird. stellen somit das beste verfügbare wissenschaftliche
und praktische Wissen zum Thema zum aktuellen
» „Neben der spezifischen Expertise zum Thema, Zeitpunkt dar (DNQP 2015, S. 12).
der Unabhängigkeit von institutionellen Das Konsertierungsverfahren beginnt, nachdem
oder ökonomischen Interessen und von der Expertengruppe ein Standardentwurf vorge-
dem ausgewogenen Verhältnis von legt wurde. Dieser Entwurf wird nun innerhalb einer
Pflegewissenschaft und -praxis werden breiten fachöffentlichen Diskussion erörtert. Dazu
bei der Zusammensetzung der Experten- findet entweder eine Konsensuskonferenz oder eine
arbeitsgruppe Wert auf eine Beteiligung Konsultationsphase über das Internet statt. Dabei
von Experten und Expertinnen aus den drei beteiligen sich in der Regel mehrere hundert Perso-
Settings Krankenhaus, stationäre Altenhilfe nen an der Auseinandersetzung und tragen zu einer
und ambulante Pflege gelegt sowie die Klarstellung der Empfehlungen eines Expertenstan-
unterschiedlichen Aufgabenfelder der dards bei. Die Ergebnisse dieses Diskurses fließen in
Pflege wie Gesundheits- und Krankenpflege, die endgültige Version des Expertenstandards ein,
Gesundheits- und Kinderkrankenpflege und welcher im Anschluss veröffentlicht wird (DNQP
Altenpflege berücksichtigt.“ (DNQP 2015, S. 9). 2015, S. 12 f.).
Jeder Expertenstandard wird im Anschluss an
Die derzeitige Studienlage liefert bei weitem nicht seine Konsertierung modellhaft in 25 Einrichtun-
für alle pflegerischen Fragestellungen aussagekräftige gen des Gesundheitswesens implementiert, um
Ergebnisse, so dass der eigenständigen Bewertung seine Praxistauglichkeit und Akzeptanz zu überprü-
der Sachlage durch die Expertenarbeitsgruppe eine fen. Zudem sollen Erkenntnisse gewonnen werden,
große Bedeutung zukommt. Die Aussagen der Exper- welche Kriterien eine nachhaltige Implementierung
ten beziehen sich daher einerseits auf die Bewertung des Standards ermöglichen. Zeigen die Ergebnisse
36 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

Literaturstudie

5 Modellhafte Entwicklung und


Experten-
Implemen- Aktualisierung eines
gruppe
tierung Expertenstandards

Konsertierung

. Abb. 5.1  Entwicklung und Aktualisierung Expertenstandard

der Implementierung einen Anpassungsbedarf, so Evidenznachweis, der Verständlichkeit, der Transpa-


wird der Expertenstandard noch einmal überarbei- renz ihres Zustandekommens sowie der Implemen-
tet, bevor er dann mitsamt den Ergebnissen zur tierbarkeit abhängen, werden hier durch das DNQP
modellhaften Implementierung veröffentlicht wird hohe Maßstäbe gesetzt. In Verbindung mit den vor-
(DNQP 2015, S. 13 ff.) Diese Veröffentlichung bleibt handenen ärztlichen Leitlinien sowie weiteren Qua-
bis zur Aktualisierung des Standards unverändert. litätsinstrumenten anderer Berufsgruppen bieten
Gerade dieser Wissenstransfer in die Praxis, bei dem die Expertenstandards eine gute Voraussetzung für
in der Implementierungsphase Anwendbarkeit und die interprofessionelle Kooperation in der Gesund-
Akzeptanz getestet werden, ist im internationalen heitsversorgung. Selbst wenn zu einem Schwerpunkt
Vergleich einmalig. sowohl ärztliche Leitlinien als auch evidenzbasierte
Da die Expertenstandards den Anspruch Pflegestandards vorhanden sind, konkurrieren diese
erheben, stets den aktuellen Stand der Pflegewissen- nicht miteinander, sondern ergänzen sich (DNQP
schaft widerzuspiegeln, ist eine regelmäßige Aktuali- 2015, S. 6).
sierung erforderlich (. Abb. 5.1). Die reguläre Aktua-
lisierung erfolgt dabei spätestens fünf Jahre nach der > Alle nationalen Expertenstandards des
abschließenden Veröffentlichung beziehungsweise DNQPs wurden entsprechend der gleichen
sieben Jahre nach einer erfolgten Aktualisierung. Der Vorgehensweise entwickelt. Auf der
Ablauf und der Aufwand entsprechen dabei in etwa Grundlage einer umfassenden Literaturstudie
dem der Erarbeitung eines neuen Expertenstandards erfolgt ein erster Standardentwurf durch
(DNQP 2015, S. 21 f.). eine Expertengruppe. Dieser Entwurf
Da die intra- und interprofessionelle Akzep- wird im Rahmen der Konsentierung und
tanz von Leitlinien und Standards weitgehend vom modellhaften Implementierung diskutiert
5.1 · Die Bedeutung der Beratung in den nationalen Expertenstandards für die Pflege
37 5
und auf seine Praxistauglichkeit getestet, durch einen anderen Partner erfolgen muss. So hat
bevor die endgültige Version des Experten- das DNQP zwar den Expertenstandard zur Förde-
standards veröffentlicht wird. Um den rung der Mobilität entwickelt, die Begleitung der
aktuellen Wissensstand abzubilden, modellhaften Implementierung erfolgt aber durch
erfolgt zudem eine regelmäßige, geplante die Universität Bremen (DNQP 2015, S. 5).
Aktualisierung aller Expertenstandards,
die so mit den Leitlinien und Instrumenten > Mit Inkrafttreten des Pflegeweiter-
anderer Berufsgruppen eine gute entwicklungsgesetzes zum 1. Juli 2008
Voraussetzung für die interprofessionelle wurden Expertenstandards zu gesetzlich
Kooperation in der Gesundheitsversorgung vorgeschriebenen Instrumenten im
bilden. Rahmen der Pflegeversicherung, welche
von allen Leistungserbringern erbracht
Schon im Jahr 1987 hat die WHO einen Pflegestan- und deren Einhaltung bei allen externen
dard als ein allgemein zu erreichendes Leistungs- Überprüfungen überwacht werden.
niveau definiert, welches durch ein oder mehrere
Kriterien umschrieben wird. Die nationalen Exper- In allen bislang entwickelten Expertenstandards
tenstandards, welche für alle Beteiligten gültig und nimmt das Thema Beratung eine bedeutende Rolle
transparent sind, machen die definierte Ergebnis- ein, um die Qualitätskriterien erreichen zu können
qualität messbar und vergleichbar (Hüper u. Hellige (Hüper u. Hellige 2015, S. 43 ff.). Eine Übersicht zu
2015, S. 43 f.). den Auszügen aus den Expertenstandards, welche
Durch das Inkrafttreten des Pflegeweiterent- sich auf die Beratung beziehen, liefert . Tab. 5.2.
wicklungsgesetzes (PfWG) zum 1. Juli 2008 wurden Erste Auswertungen zu den Expertenstandards
Expertenstandards zu gesetzlich vorgesehenen Ins- lassen jedoch erkennen, dass die systematische
trumenten zur Sicherung und Weiterentwicklung Beratung, Anleitung und Schulung von Patienten/
der Qualität in der Pflege im Rahmen der Pflege- Betroffenen und ihren Angehörigen noch wesent-
versicherung. Zugelassene Pflegeeinrichtungen lich deutlicher als pflegerischer Aufgabenbereich
sind nunmehr verpflichtet, Expertenstandards nach wahrgenommen werden muss (Hüper u. Hellige
§ 113 SGB XI anzuwenden. In der Zukunft haben 2015, S. 45 f.). Zu sehr sehen viele Pflegekräfte ihre
die Vertragspartner im SGB XI laut Gesetz die Ent- Kernaufgabe weiterhin in den traditionellen pfle-
wicklung und Aktualisierung wissenschaftlich fun- gerischen Leistungen, bei denen sie stellvertretend
dierter Expertenstandards sicherzustellen. Die für für den Patienten Aufgaben übernehmen (Petter-
diesen Zweck entwickelte Verfahrensordnung ist in Schwaiger 2011, S. 8).
weiten Teilen an das Vorgehen des DNQP angelehnt Studien zeigen, dass Pflegekräfte zurzeit zwar
und stellt damit auch zukünftig sicher, dass die Ent- Beratungen durchführen, dies aber häufig nicht
wicklung von Expertenstandards auf einem hohen professionell. Es fehlt ihnen dazu insbesondere an
wissenschaftlichen Niveau erfolgt sowie die Trans- den Fähigkeiten zur Reflexion des eigenen berufli-
parenz gegenüber der Fachöffentlichkeit gegeben chen Handelns und der eigenen Person. So setzen
ist. Gleichzeitig wurde der Implementierung und sie Verdrängungsmechanismen ein, um die schein-
Umsetzung ein noch höherer Stellenwert einge- bar unüberwindbare Lücke zwischen dem eigenen
räumt (DNQP 2015, S. 5). Kritisch gesehen wird Anspruch, Beratung leisten zu können, und der
im Rahmen des Pflegeweiterentwicklungsgesetzes gleichzeitig dadurch empfundenen Überforderung
die Trennung zwischen der Entwicklung und der überwinden zu können. Bei Befragungen gaben Pfle-
modellhaften Implementierung von Expertenstan- gekräfte an, dass sie sich durch ihre 3-jährige Erst-
dards nach § 113 SGB XI, da der Prozess der Imple- ausbildung nicht ausreichend qualifiziert fühlen,
mentierung zu einer Überprüfung und ggf. Anpas- um professionelle Beratung durchführen zu können
sung des Expertenstandards durch die Erfahrungen (Knelange u. Schieron 2000, S. 9 ff.).
aus der Praxis führen sollte. Dies ist nun nicht mehr Da eine gute Compliance aber nur durch eine pro-
aus einer Hand möglich, da die Begleitung zwingend fessionelle und umfassende Beratung erreicht werden
38 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

. Tab. 5.2  Übersicht zur Beratung in den Expertenstandards

Expertenstandard Strukturqualität Prozessqualität Ergebnisqualität

Dekubitusprophylaxe S4 – Die Pflegefachkraft P4 – Die Pflegefachkraft E4 – Der Patient/Bewohner


verfügt über Fähigkeiten erläutert die und seine Angehörigen
sowie über Informations- Dekubitusgefährdung kennen die Ursachen der
und Schulungsmaterial zur und die Notwendigkeit Dekubitusgefährdung
Anleitung und Beratung von prophylaktischen sowie die geplanten
des Patienten/Bewohners Maßnahmen und deren Maßnahmen und wirken
und seiner Angehörigen zur Evaluation und plant auf der Basis ihrer
Förderung der Bewegung diese individuell mit dem Möglichkeiten an deren
5 des Patienten/Bewohners, Patienten/Bewohner und Umsetzung mit.
zur Hautbeobachtung, seinen Angehörigen.
zu druckentlastenden
Maßnahmen und
zum Umgang mit
druckverteilenden
Hilfsmitteln.
Entlassungs­ S3 – Die Pflegefachkraft P3 – Die Pflegefachkraft E3 – Dem Patienten und
management verfügt über die Kompetenz, gewährleistet für seinen Angehörigen
den Patienten und seine den Patienten und sind bedarfsgerechte
Angehörigen sowohl seine Angehörigen Information, Beratung
über poststationäre eine bedarfsgerechte und Schulung
Versorgungsrisiken als Information, Beratung und angeboten worden,
auch über erwartbare Schulung. um Versorgungrisiken
Versorgungs- und erkennen und veränderte
Pflegeerfordernisse zu Versorgungs- und
informieren, zu beraten Pflegeerfordernisse
und entsprechende bewältigen zu können.
Schulungen anzubieten
bzw. zu veranlassen
sowie die Koordination
der weiteren daran
beteiligten Berufsgruppen
vorzunehmen.
Schmerzmanagement S5a – Die Pflegefachkraft P5 – Die Pflegefachkraft E5 – Der Patient/
bei akuten Schmerzen verfügt über die notwendigen gewährleistet eine Bewohner und ggf. seine
Schulungskompetenzen zielgruppenspezifische Angehörigen sind über
in Bezug auf Schmerz und Information, Anleitung die Bedeutung
schmerzbedingte Probleme und Schulung für den systematischer
für Patienten/Bewohner und Patienten/Bewohner und Schmerzeinschätzung
Angehörige. seine Angehörigen. informiert, können
S5b – Die Einrichtung Schmerzen mitteilen
stellt die erforderlichen und sind befähigt,
Informations-, Anleitungs- situationsgerechte
und Schulungsunterlagen zur Maßnahmen zu
Verfügung. ihrer Beeinflussung
anzuwenden.
5.1 · Die Bedeutung der Beratung in den nationalen Expertenstandards für die Pflege
39 5

. Tab. 5.2  Fortsetzung

Expertenstandard Strukturqualität Prozessqualität Ergebnisqualität

Schmerzmanagement S3a – Die Pflegefachkraft P3a – Die Pflegefachkraft E3 – Der Patient/


bei chronischen verfügt über notwendige informiert, schult und Bewohner und ggf.
Schmerzen Informations-, Schulungs- berät den Patienten/ seine Angehörigen
und Beratungskompetenzen. Bewohner und ggf. sind individuell über
S3b – Die Einrichtung stellt seine Angehörigen in seine Schmerzsituation
sicher, dass Information, enger Abstimmung mit informiert, geschult
Schulung und Beratung den an der Versorgung und beraten. Sein
unter Wahrung personeller beteiligten Berufsgruppen schmerzbezogenes
Kontinuität umgesetzt versorgungsbereichs­ Selbstmanagement ist
werden können, und stellt die spezifisch und auf unterstützt und gefördert.
notwendigen Materialien zur Basis individuell
Verfügung. ausgehandelter Ziele zu
seiner Schmerzsituation
und trägt zur Stärkung
seiner Selbstmanagement­
kompetenzen bei.
P3b – Die Pflegefachkraft
zieht bei speziellem
Beratungsbedarf
einen pflegerischen
Schmerzexperten hinzu.
Sturzprophylaxe S2 – Die Pflegefachkraft P2 – Die Pflegefachkraft E2 – Der Patient/
verfügt über informiert den Patienten/ Bewohner und ggf.
Beratungskompetenz Bewohner und seine seine Angehörigen
bezüglich des Sturzrisikos und Angehörigen über das kennen das individuelle
geeigneter Interventionen. festgestellte Sturzrisiko Sturzrisiko sowie
und bietet Beratung und geeignete Maßnahmen
ggf. Schulung zu den zur Sturzprophylaxe.
Interventionen an. Die Beratung und ggf.
die Schulungen sind
dokumentiert.
Förderung der S3a – Die Einrichtung hält die P3 – Die Pflegefachkraft E3 – Der Patient/
Harnkontinenz erforderlichen Materialien zur informiert den Patienten/ Bewohner und ggf. seine
Beratung bei Problemen mit Bewohner und ggf. seine Angehörigen kennen
der Harnkontinenz bereit. Angehörigen über das geeignete Maßnahmen zur
S3b – Die Pflegefachkraft Ergebnis der pflegerischen Kontinenzförderung und
verfügt über aktuelles Wissen Einschätzung und bietet zur Vermeidung von bzw.
und Beratungskompetenz in Absprache mit den zum Umgang mit einer
zur Vorbeugung, beteiligten Berufsgruppen Inkontinenz.
Beseitigung, Verringerung eine ausführliche Beratung
oder Kompensation von zur Kompetenzerhaltung
Harninkontinenz. oder -förderung und
ggf. Kompensation
einer Inkontinenz
an. Darüber hinaus
werden dem Patienten/
Bewohner weitere interne
Ansprechpartner benannt.
40 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

. Tab. 5.2  Fortsetzung

Expertenstandard Strukturqualität Prozessqualität Ergebnisqualität

Pflege von Menschen S4a – Die Pflegefachkraft P4 – Die Pflegefachkraft E4 – Der Patient/
mit chronischen verfügt über aktuelles schult zu Wundursachen Bewohner und seine
Wunden Wissen und Kompetenz und fördert die Fähigkeiten Angehörigen kennen
zu Information, Beratung, des Patienten/Bewohners die Ursache der Wunde
Schulung und Anleitung und seiner Angehörigen sowie die Bedeutung der
zum gesundheitsbezogenen zur Wundversorgung sowie vereinbarten Maßnahmen
Selbstmanagement. zum Umgang mit wund- und sind über weitere
S4b – Die Einrichtung stellt und therapiebedingten Unterstützungs­
5 zielgruppenspezifische Einschränkungen möglichkeiten informiert.
Materialien für Information, durch Maßnahmen der Ihr gesundheitsbezogenes
Beratung, Schulung und Patientenedukation. Selbstmanagement
Anleitung zur Verfügung. Sie unterstützt die ist entsprechend
Kontaktaufnahme ihrer individuellen
zu anderen Berufs-, Möglichkeiten gefördert.
Selbsthilfe- oder weiteren
Gesundheitsgruppen.
Ernährungs­ S5 – Die Pflegefachkraft P5 – Die Pflegefachkraft E5 – Der Patient/
management verfügt über Informations-, informiert und berät den Bewohner und seine
Beratungs- und Patienten/Bewohner Angehörigen sind über
Anleitungskompetenz und seine Angehörigen Risiken und Folgen
zur Sicherstellung einer über Gefahren einer einer Mangelernährung
bedürfnisorientierten und Mangelernährung und über mögliche
bedarfsgerechten Ernährung. und Möglichkeiten Interventionen informiert,
einer angemessenen beraten und ggf.
Ernährung (z. B. Art der angeleitet.
Unterstützung) und leitet
ggf. zur Umsetzung von
Maßnahmen an (z. B. im
Umgang mit Hilfsmitteln).

kann, muss dem Themenschwerpunkt der Beratung 5.2 Gelungene Praxisanleitung als
sowohl in der 3-jährigen Erstausbildung als auch in Voraussetzung für eine gute
den angebotenen Fort- und Weiterbildungen ein Beratung
großer Stellenwert eingeräumt werden. Wie schon im
Rahmen der Ausbildung die Praxisanleitung diesen Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte
Schwerpunkt qualitativ hochwertig umsetzen kann, man der Ansicht sein, dass Pflegekräfte immer
wird daher im Anschluss näher erläutert. schon unterstützungsbedürftige Personen beraten
haben. Schließlich bedeutet eine Unterstützung des
> Eine professionelle, umfassende Beratung Patienten oder älteren Menschen im Heilungs-
wird in allen bislang entwickelten Experten- prozess auch immer, ihm beratend zur Seite zu
standards als Qualitätskriterium genannt, um stehen. Beratung wird dann nicht als neue, zusätz-
die pflegerischen Ziele erreichen zu können. liche Aufgabe der Pflegenden verstanden, sondern
Pflegekräfte sind heutzutage allerdings als eine Tätigkeit, die alles Pflegehandeln durch-
häufig nicht ausreichend geschult, um eine dringt und kontinuierlich im jeweiligen Pflege-
solche Beratung für Betroffene und ihre kontext angeboten wird (Koch-Straube 2008,
Angehörigen anbieten zu können. S. 65). Eine Beratung umfasst aber mehr als die
5.2 · Gelungene Praxisanleitung als Voraussetzung für eine gute Beratung
41 5
Weitergabe von Informationen, Anleitungen und Die dazugehörigen Ausbildungs- und Prüfungsver-
aufmerksames Zuhören, auch wenn diese Anteile ordnungen (APrV) legen außerdem Beratung und
des Beratungsprozesses ausmachen. „Was fehlt, ist Anleitung als Prüfungsbestandteile (. Tab. 5.3) für
die explizite und geplante Einbettung des kogniti- die praktische sowie die mündliche Prüfung fest (Pet-
ven Verstehens von Krankheit und Behinderung ter-Schwaiger 2011, S. 36).
in ihre emotionalen und sozialen Dimensionen
und Entwicklungschancen“ (Koch-Straube 2008, > Eine umfassende Beratung, welche über die
S. 82). In einem Beratungsprozess können Ver- Information und Anleitung des unterstüt-
luste und Gewinne reflektiert werden und mögli- zungsbedürftigen Menschen hinausgeht,
che Widerstände gegen unvermeidbare oder sinn- wurde lange Zeit nicht durch die Pflege
volle Veränderungen überwunden werden. Dies angeboten, sondern den Aufgabengebieten
ist möglich, weil hier auch ungeahnte, bisher von anderer Berufsgruppen zugeordnet. Erst
den Turbulenzen der Erkrankung verdeckte Per- mit der Novellierung des Altenpflege- sowie
spektiven gemeinsam offengelegt werden (Koch- des Krankenpflegegesetzes im Jahre 2003
Straube 2008, S. 84). wurde die Beratung als ausdrückliches
Legt man diesen umfassenden Beratungsbegriff Ausbildungsziel für die Pflegeberufe
zu Grunde, der über die reine Information, Anlei- benannt.
tung und Schulung der Patienten hinausgeht, hat
die Pflege dieses Arbeitsfeld bislang kaum für sich Aktuell besteht noch ein großer Qualifizierungs-
in Anspruch genommen und anderen Berufsgrup- bedarf bei allen Pflegekräften, in deren Ausbildung
pen überlassen (Koch-Straube 2008, S. 87). Beratung noch nicht als pflegerische Kernaufgabe
Die zunehmende Forderung nach einer Quali- und als Ausbildungsziel vorgegeben war, welche
fizierung von Pflegekräften für Beratungsaufgaben aber dennoch eine qualifizierte Beratung z. B. im
hat zu Novellierungen im aktuellen Krankenpfle- Rahmen der nationalen Expertenstandards erbrin-
gegesetz (KrPflG 2003) sowie im Altenpflegegesetz gen sollen. Hier müssen gute Qualifizierungsan-
(APflG 2000) geführt. Die Beratung ist hier erstmalig gebote in Form von Fort- und Weiterbildungen
als eigenständige pflegerische Aufgabe und als Aus- angeboten werden, um diesen Personenkreis in die
bildungsziel benannt. Eine Vorbereitung der zukünf- aktuellen Entwicklungen einzubinden. Ziel dieser
tigen Pflegefachkräfte auf die gewachsenen Anfor- Weiterbildung für Pflegefachkräfte sollte sein, die
derungen im Bereich Beratung und Anleitung soll Beratung als neuen Aufgabenschwerpunkt in das
schon im Rahmen der 3-jährigen Erstausbildung berufliche Handeln zu integrieren, professionelle
erfolgen (Petter-Schwaiger 2011, S. 8). Beratung umsetzen zu können und Sicherheit bei
diesem Prozess zu erlangen. Unter der Berücksich-
» „Die in den § 3 ff formulierten Ausbildungsziele tigung der vorhandenen Kompetenzen bei den Pfle-
der Alten-, Kranken- und Kinderkran- gefachkräften sowie in Anlehnung an curriculare
kenpflege legen neben der theoriegeleiteten Vorgaben in der Pflegeausbildung wird zum Erwerb
Pflegeplanung, Pflegedurchführung und von Basiskompetenzen im Bereich der Beratung
Pflegeevaluation ausdrücklich auch die ein Schulungsumfang von ca. 40 Stunden empfoh-
Hilfestellung zum gesundheitsfördernden len, auf dem dann weitere Qualifizierungen auf-
Umgang mit Krankheit, Behinderung und bauen können. Zu beachten ist hier insbesondere,
Altersgebrechlichkeit fest. Dabei bezieht dass der Schwerpunkt nicht allein auf der Bera-
sich die Beratungs- und Anleitungstätigkeit tung von Pflegebedürftigen und ihren Angehöri-
nicht nur auf die Pflegebedürftigen selbst, gen liegt. Vielmehr haben nun auch Praxisanleiter
sondern auch auf ihre Angehörigen, die Aufgabe, an der Ausbildung zu Beratungsauf-
Bezugspersonen oder Pflegende, die keine gaben mitzuwirken, damit die Schüler dieses neue
ausgebildeten Pflegekräfte sind.“ (Hüper u. Ausbildungsziel erreichen können (Petter-Schwai-
Hellige 2015, S. 39). ger 2011, S. 32 f.).
42 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

. Tab. 5.3  Auszüge aus den Gesetzen zur Beratung als pflegerische Aufgabe. (Quelle: Bundesministerium der Justiz
und für Verbraucherschutz; eigene Darstellung)

Gesetz Auszug aus dem Gesetzestext


Altenpflegegesetz § 3
(APflG, 2003) (1)  Die Ausbildung in der Altenpflege soll die Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten
vermitteln, die zur selbständigen und eigenverantwortlichen Pflege einschließlich der
Beratung, Begleitung und Betreuung alter Menschen erforderlich sind. Dies umfasst
insbesondere:
1.  die sach- und fachkundige, den allgemein anerkannten pflegewissenschaftlichen,
insbesondere den medizinisch-pflegerischen Erkenntnissen entsprechende,
5 umfassende und geplante Pflege,
2.  die Mitwirkung bei der Behandlung kranker alter Menschen einschließlich der
Ausführung ärztlicher Verordnungen,
3.  die Erhaltung und Wiederherstellung individueller Fähigkeiten im Rahmen geriatrischer
und gerontopsychiatrischer Rehabilitationskonzepte,
4.  die Mitwirkung an qualitätssichernden Maßnahmen in der Pflege, der Betreuung und
der Behandlung,
5.  die Gesundheitsvorsorge einschließlich der Ernährungsberatung,
6.  die umfassende Begleitung Sterbender,
7.  die Anleitung, Beratung und Unterstützung von Pflegekräften, die nicht
Pflegefachkräfte sind,
8.  die Betreuung und Beratung alter Menschen in ihren persönlichen und sozialen
Angelegenheiten,
9.  die Hilfe zur Erhaltung und Aktivierung der eigenständigen Lebensführung
einschließlich der Förderung sozialer Kontakte und
10.  die Anregung und Begleitung von Familien- und Nachbarschaftshilfe und die Beratung
pflegender Angehöriger.
Krankenpflegegesetz § 3
(KrPflG 2003) (2)  Die Ausbildung für die Pflege nach Absatz 1 soll insbesondere dazu befähigen,
1.  die folgenden Aufgaben eigenverantwortlich auszuführen:
a)  Erhebung und Feststellung des Pflegebedarfs, Planung, Organisation, Durchführung
und Dokumentation der Pflege,
b)  Evaluation der Pflege, Sicherung und Entwicklung der Qualität der Pflege,
c)  Beratung, Anleitung und Unterstützung von zu pflegenden Menschen und ihrer
Bezugspersonen in der individuellen Auseinandersetzung mit Gesundheit und
Krankheit,
d)  Einleitung lebenserhaltender Sofortmaßnahmen bis zum Eintreffen der Ärztin oder
des Arztes.

> Derzeit besteht für viele Pflegefachkräfte Beratung als neuen Aufgabenschwerpunkt für die
ein Qualifizierungsbedarf im Bereich Pflege definiert, sondern auch die Rahmenbedin-
der Beratung, da diese ihre Ausbildung gungen für die praktische Pflegeausbildung neu fest-
abgeschlossen haben, bevor dieses gelegt. Eine kompetenzorientierte praktische Pfle-
Aufgabenfeld für die Pflegeberufe an geausbildung soll durch zwei zentrale Instrumente
Gewicht gewonnen hat. Insbesondere die initiiert und sichergestellt werden: zum einen die
Praxisanleiter müssen hier geschult werden, Praxisanleitung durch die Pflegenden der Pflegeein-
um Schüler bei der Erreichung dieses richtung, zum anderen die Praxisbegleitung durch
Lernziels unterstützen zu können. die Lehrenden der Schulen (Arens 2013, S. 127).
Welche Anforderungen dabei an die Praxisanlei-
Die Novellierung des Altenpflege- sowie des Kran- ter gestellt werden, ist in den Gesetzen unterschied-
kenpflegegesetzes im Jahr 2003 hat nicht nur die lich geregelt. Während in der Praxisausbildung der
5.2 · Gelungene Praxisanleitung als Voraussetzung für eine gute Beratung
43 5
Gesundheits- und Krankenpflege sowie der Gesund- zudem in erster Linie Beziehungspflege und lässt sich
heits- und Kinderkrankenpflege erstmals eine berufs- nicht über Routinehandlungen vermitteln, außer-
pädagogische Weiterbildung für Praxisanleiter mit dem beeinflussen immer wieder unvorhergesehene
einem Umfang von 200 Stunden vorgeschrieben ist, Situationen den Arbeits- und damit auch den Anlei-
existiert eine ähnliche Regelung für die Altenpflege tungsablauf (Mamerow 2013, S. 54 f.).
bislang noch nicht. Weiterbildungen in einem ähnli-
chen Umfang werden aber durchaus auch angeboten > Umfragen bei Auszubildenden der
(Mamerow 2013, S. 9). Gesundheitsberufe zeigen Mängel in der
Verknüpfung zwischen der theoretischen
> Während in der Gesundheits- und und praktischen Ausbildung auf. Zusätzlich
Krankenpflege sowie in der Gesundheits- erschwert wird die praktische Anleitung
und Kinderkrankenpflege eine durch schwierige Rahmenbedingungen
berufspädagogische Weiterbildung für sowie die zwangsläufige Integration
Praxisanleiter vorgeschrieben ist, existiert der Praxisanleitung in den normalen
eine entsprechende Verpflichtung in der Pflegealltag.
Altenpflege bislang noch nicht.
Trotz der teilweise schwierigen Rahmenbedingun-
Eine gelungene Ausbildung im Bereich der Gesund- gen bei der praktischen Ausbildung in den Pflegebe-
heits- und Krankenpflege sowie der Altenpflege muss rufen darf der Anspruch der Patientenorientierung
die theoretischen und praktischen Lerninhalte gut nicht in den Hintergrund treten. Die Pflegewissen-
inhaltlich aufeinander abstimmen, um den größt- schaftlerin Karin Wittneben hat in ihrem Modell
möglichen Lernerfolg zu ermöglichen. Genau hier der multidimensionalen Patientenorientierung
scheint es aber Mängel zu geben, wie Umfragen der (. Abb. 5.2) beschrieben, wie über mehrere Stufen
Gewerkschaft Verdi im Jahr 2011 ergeben haben. Patientenorientierung in der Pflege erreicht werden
Etwa ein Drittel der befragten Lernenden kritisierte kann. Auf der untersten Stufe bestimmen noch
die fehlende Abstimmung der Lernziele zwischen festgelegte Abläufe und Verrichtungen den Alltag,
Fachseminar und Pflegeeinrichtung, was zu einem während der Patient ignoriert wird. Über die Stufen
mangelnden Theorie-Praxis-Transfer führt. Fast hinweg steigt die Wahrnehmung des Patienten als
jeder fünfte Auszubildende wusste zudem nicht, ob Subjekt, wobei die Patientenorientierung in der
es Absprachen zwischen den Lehrkräften und den Pflege und somit auch die Pflegeberatung die Selbst-
Praxisanleitern gibt, was auf eine für die Lernenden befähigung des Patienten zum Ziel haben. Auf der
intransparente Kooperation und nicht ausreichende Basis einer symmetrischen Beziehung wird der
Einbindung in die Strukturen und Abläufe der Aus- Patient für selbstbestimmte Entscheidungen bei
bildung schließen lässt (Arens 2013, S. 131). der Reflexion unterstützt, so dass die Handlungs-
Häufig wird die Forderung formuliert, dass absichten der Pflegenden den Zielen und Motiven
jeder Arbeitstag für Schüler in der Pflege auch ein der Pflegebedürftigen entsprechen (Petter-Schwai-
Ausbildungstag sein soll, doch die praktische Reali- ger 2011, S. 70).
sierung ist zurzeit kaum möglich, da sowohl Praxis- Die Beziehungspflege steht also im Vorder-
anleiter als auch Schüler im Dienstplan als wichtige grund jeder Pflegeausbildung, nicht das Erlernen von
Arbeitskräfte eingeteilt sind und Ausbildungssitu- bestimmten Techniken, Abläufen oder Fachwissen.
ationen in der Praxis häufig eher als störend emp- Diese Erkenntnis sollte in erster Linie die Praxisaus-
funden werden. bildung prägen (Mamerow 2013, S. 63).
Die Praxisanleitung stößt in der Altenpflege Dennoch darf es nicht zu einer Überforderung
außerdem immer wieder an Grenzen, da die individu- der Auszubildenden kommen. Die Ausbildungsin-
ellen Pflegesituationen der unterstützungsbedürfti- halte sollten den Schülern gestaffelt nach Ausbil-
gen Menschen sich verändern sowie die Praxisausbil- dungsjahr sowie den individuellen Voraussetzun-
dung innerhalb des normalen Arbeitsprozesses, nicht gen der Schüler vermittelt werden. Zunächst bedarf
davon abgekoppelt erfolgt. Pflegerisches Handeln ist es hier des Erlernens grundlegender Abläufe und
44 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

Patientenorientierung

Ablauf- Symptom- Krankheits- Verhaltens- Handlungs-


orientierung orientierung orientierung orientierung orientierung

. Abb. 5.2  Modell der multidimensionalen Patientenorientierung nach Karin Wittneben

. Tab. 5.4  Modell der stufigen Pflegeausbildung, angelehnt an Mamerow (2013, S. 92)

Ausbildungsstufe Stufe Inhalte

Orientierungsphase Erste Stufe Überblickswissen und -können erlangen


Qualifikationsphase Zweite Stufe Zusammenhangswissen und -können erlangen
(z. B. grundlegende Techniken und Standards erlernen und üben)
Dritte Stufe Detailwissen und -können erlangen
(z. B. Lösung problemhafter, spezieller Aufgaben, Nutzung
erfahrungsbezogenen Wissens)
Vierte Stufe Vertiefungswissen und -können erlangen
(Bewältigung unvorhergesehener Probleme und Aufgaben)

Techniken, bevor ein individuell angepasstes und 1. In der Vorbereitungsphase klären der Praxisan-
reflektiertes Vorgehen möglich wird. Im Rahmen der leiter und der Auszubildende die Rahmenbedin-
­Praxiseinsätze der Schüler empfiehlt sich demnach gungen des Einsatzes ab. Es werden Lernziele
ein stufiges Vorgehen bei der Wissensvermittlung, miteinander besprochen und ausgehandelt,
wie dies in . Tab. 5.4 dargestellt ist: der Einsatz wird geplant. Dies sollte möglichst
Da die Praxiseinsätze in verschiedenen Settings schon vor Beginn des praktischen Einsatzes
stattfinden, unter anderem auf verschiedenen Sta- oder ansonsten direkt zu Beginn erfolgen.
tionen im Krankenhaus, einer vollstationären Pfle- 2. In der Eingewöhnungsphase werden die
geeinrichtung, einem ambulanten Pflegedienst oder Auszubildenden in die jeweilige Einsatz-
einer gerontopsychiatrischen Einrichtung, muss stelle eingeführt. Sie lernen die Bewohner
jeder Anleitungsprozess in den einzelnen Praxispha- oder Patienten und andere Bezugspersonen
sen grundsätzlich in fünf Phasen eingeteilt werden. kennen, werden mit dem Tagesablauf sowie
Dies gilt auch dann, wenn ein Auszubildender im dem Arbeitsalltag vertraut gemacht. Sie sollen
gleichen Setting schon einen Praxiseinsatz absolviert zudem erste Beziehungen zu den hilfebedürf-
hat, da sich die Klientel der Bewohner bzw. Patien- tigen Menschen aufbauen.
ten oder ihre Bedürfnisse und Wünsche häufig in der 3. In der Erprobungs-und Trainingsphase
Zwischenzeit geändert haben. steht das Ausprobieren und Trainieren von
5.2 · Gelungene Praxisanleitung als Voraussetzung für eine gute Beratung
45 5

. Tab. 5.5  Kompetenzen eines Praxisanleiters, angelehnt an Mamerow (2013, S. 6)

Pflegerische und pädagogische Personale Kompetenz Soziale Kompetenz


Fachkompetenz

–  Fähigkeit zur umfassenden, –  Fähigkeit zur Selbsteinschätzung –  Ethische Kompetenz


prozessorientierten Pflege und Selbstkritik –  Empathie
–  Organisationsfähigkeit –  Reflexionsvermögen –  Ausgewogenes Nähe-Distanz-
–  Fähigkeit zur Gestaltung von –  Selbstbewusstsein Verhältnis
Lernprozessen und Förderung –  (Rollen-)Flexibilität –  Toleranz
der Lernenden –  Entscheidungsfähigkeit –  Teamfähigkeit
–  Fähigkeit zur Planung und –  Zielstrebigkeit –  Konflikt- und Kritikfähigkeit
Durchführung von Lerneinheiten –  Sorgfalt –  Kommunikations- und
–  Fähigkeit zur Anwendung –  Verantwortungsgefühl Kooperationsfähigkeit
didaktischer Erkenntnisse –  Zuverlässigkeit
–  Motivation
–  Belastbarkeit

theoretisch Gelerntem, von Fähig- und Fertig- am Ende der Ausbildung erreicht werden
keiten im Mittelpunkt. Wichtig ist hier der kann, nachdem zunächst Grundlagenwissen
Bezug zu den vereinbarten Lernzielen sowie und Standards erlernt wurden. Jede
zum theoretischen Teil der Ausbildung. Praxisanleitung muss also an den
4. In der Etablierungsphase arbeiten Auszubil- Ausbildungsstand sowie an die individuellen
dende unter größtmöglicher Selbstständigkeit Fähigkeiten des Schülers angepasst werden.
im Pflegeteam mit. Sie werden dabei intensiv
durch die Praxisanleitung begleitet, die im Die Praxisanleiter in den Ausbildungsbetrieben
Hintergrund stets zur Verfügung stehen sollte tragen daher nicht nur eine hohe Verantwortung
und bei Bedarf einschreitet. innerhalb des Ausbildungsprozesses, sie genießen
5. In der Auswertungs- und Beurteilungsphase meist auch das Vertrauen vieler Pflegender, die sich
wird Rückschau gehalten auf das Erlebte und bei Praxisfragen Rat bei ihnen einholen. Die Erwar-
Erlernte. Die Reflexion des Praxiseinsatzes tungshaltung aller am Ausbildungsprozess Beteilig-
erfolgt gemeinsam, ein Ausblick für den ten ist dementsprechend hoch. Damit Praxisanleiter
weiteren Lernweg wird gegeben (Lummer ihre Tätigkeit gut ausführen können, müssen sie ver-
2014, S. 70). schiedene Rollen einnehmen. Zum einen sollen sie
Pflegespezialisten sein, die ihr Fachwissen stets auf
Kritisch zu beachten ist bei allen Fortschritten der dem neuesten Stand halten. Des Weiteren müssen sie
Schüler immer, dass ein überprüfbarer und nach- Pädagogen sein, die Lernprozesse planen und gestal-
haltiger Lernzuwachs erst dann besteht, wenn der ten können. Außerdem sind sie häufig Vertrauens-
Transfer des Gelernten in verschiedenste Situationen personen, die als Ansprechpartner für alle Belange
gelingt. Auszubildende können dann das Erlernte der praktischen Ausbildung gelten. Ein guter Praxis-
in anderen Situationen sowie bei anderen Bewoh- anleiter kann also auch als Coach bezeichnet werden,
nern/Patienten zielgerichtet und korrekt anwenden der Ziele nicht selbst vorgibt, sondern Auszubildende
(Mamerow 2013, S. 77). darin unterstützt, selbst gesteckte Ziele zu erreichen
(Mamerow 2013, S. 3 ff.).
> Bei der praktischen Ausbildung in der Eine Übersicht über die benötigten pflegeri-
Pflege darf nie außer Acht gelassen werden, schen, pädagogischen, personalen und sozialen
dass die Patientenorientierung und die Kompetenzen eines Praxisanleiters gibt . Tab. 5.5.
Beziehungspflege die oberste Zielsetzung Es lässt sich also durchaus als „Kunst“ bezeich-
allen pflegerischen Handelns sind. Dennoch nen, wenn Praxisanleiter erfolgreich Lernsituationen
muss bewusst sein, dass diese Stufe erst im täglichen Ablauf des Ausbildungsbereiches planen
46 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

und gestalten und es ihnen gleichzeitig gelingt, den Treten bei der Kommunikation Probleme auf, sei es
Ausbildungs- vom Arbeitsprozess zu trennen. zwischen Praxisanleiter und Schüler oder zwischen
Um in den konkreten Lern- und Anleitungssi- Schüler und unterstützungsbedürftiger Person, liegt
tuationen angemessene, lernfördernde Bedingun- dies häufig nicht allein an den geäußerten Sachver-
gen zu ermöglichen, muss der Zeitrahmen zunächst halten. Vielmehr beruhen die Konflikte häufig auf
möglichst genau festgelegt werden. Er sollte nicht den inneren Antrieben oder Ängsten der Kom-
länger als 60 Minuten betragen. Zudem müssen die munikationspartner, welche unausgesprochen im
individuelle physische und psychische Belastbarkeit Raum stehen. Deshalb erscheint es sinnvoll, diese
des Schülers ebenso beachtet werden wie der Inhalt bislang nicht geäußerten Hintergründe anzuspre-
der Anleitung, welcher eher kleinschrittig struktu- chen, ohne moralisierend einzugreifen (Matolycz
5 riert und nicht zu umfangreich sein sollte. Die nicht 2009, S. 126 ff.). Hier spielt die Beratungskompetenz
zu weit gefassten Lernziele müssen zur theoreti- des Praxisanleiters eine bedeutende Rolle, nicht nur
schen Ausbildung passen und gut erreichbar sein, bei auftretenden Problemen. Die Übungseinheiten
um die Motivation des Auszubildenden zu stärken zur Beratung, wie sie in Pflegeschulen durchgeführt
(Mamerow 2013, S. 59 ff.). werden, haben gewöhnlich wenig mit dem wirkli-
chen Leben zu tun. Es steht reichlich Zeit für Litera-
> Ein guter Praxisanleiter muss viele Rollen tursuche und Vorbereitung, für die eigentliche Bera-
einnehmen können und coacht seine tung sowie für Evaluation und Dokumentation zur
Auszubildenden, indem er sie unterstützt, Verfügung (London 2010, S. 67). Die Aufgabe in der
selbst gesteckte Ziele zu erreichen. praktischen Ausbildung besteht dann darin, Bera-
Erfolgreiche Lernsituationen müssen tungskompetenz unter realistischen, praxisnahen
individuell an den Schüler angepasst und Bedingungen zu vermitteln sowie die Rahmenbe-
genau geplant sein. dingungen entsprechend zu gestalten, dass profes-
sionelle Beratung möglich ist. Hierfür ist es ange-
Praxisanleiter werden im Rahmen ihrer Tätigkeit bracht, nicht nur in die Diskussion mit den Schülern
immer wieder Situationen erleben, in denen sie Auszu- zu treten, sondern folgende Fragen gemeinsam mit
bildende nicht nur anleiten und einarbeiten, sondern dem gesamten Pflegeteam des Ausbildungsbereiches
auch beraten müssen. Dies kann z. B. durch eine Über- zu beantworten (London 2010, S. 68):
forderung oder die Konfrontation mit herausfordern- 44Wann führen wir Patienten- und Angehörigen-
den Verhaltensweisen geschehen. Wichtig ist hier aber, beratungen durch?
ebenso wie bei der Beratung der unterstützungsbe- 44Wie können wir am besten herausfinden, ob
dürftigen Bewohner oder Patienten, nicht vorschnell der Adressat unseren Ausführungen folgen
in die Expertenrolle zu schlüpfen und dem anderen kann, sie versteht?
damit vorzugeben, was er zu tun oder zu lassen hat. 44Wie können wir Patienten/Bewohnern und
Vielmehr soll der Auszubildende nur die Unterstüt- ihren Bezugspersonen helfen, sachgerechte und
zung erhalten, die er benötigt, um eigenständig einen wohlüberlegte Entscheidungen zu treffen?
Lösungsweg zu finden (Lummer 2014, S. 97 ff.). 44Wie können wir Patienten/Bewohnern
Ein guter Praxisanleiter äußert des weiteren und ihren Bezugspersonen helfen, sich die
regelmäßig ein Feedback gegenüber den Schülern, lebensnotwendigen Selbstpflegekompetenzen
welches auf ein konkretes Verhalten bezogen und anzueignen?
klar formuliert sein muss. Zudem sollte das Feedback 44Wie können wir Patienten Bewohner und
beschreibend und nicht bewertend geäußert werden ihre Familien in die Lage versetzen, Probleme
sowie konstruktiv und zeitnah erfolgen, um eine rea- zu erkennen und entsprechend darauf zu
listischere Selbstwahrnehmung des Auszubildenden reagieren?
und damit auch einen Lernzuwachs zu ermöglichen 44Wie können wir Patienten/Bewohnern und
(Rogall-Adam 2012, S. 32 f.). ihren Angehörigen beibringen, Antworten auf
Im Rahmen der Praxisanleitung kann es dennoch ihre Fragen sowie Informationsquellen und
immer wieder zu schwierigen Situationen kommen. Ansprechpartner zu finden?
5.3 · Rechtliche Grundlagen zur Beratung
47 5
44Woher können wir Materialien beschaffen, Patienten, die bei einer Pflegekasse einen Antrag auf
die wir unseren Adressaten mitgeben, um den Leistungen stellen oder bereits Leistungen erhalten,
Erfolg unserer Beratungen, Schulungen und haben Anspruch auf eine kostenfreie individuelle
Anleitungen zu unterstützen? Pflegeberatung durch einen Pflegeberater. Die Pfle-
44Was sehen wir als unsere ganz persönlichen gekasse ist verpflichtet, vor der erstmaligen Beratung
Herausforderungen bei der Beratung von unverzüglich einen Pflegeberater zu benennen, mit
Patienten/Bewohnern und Angehörigen?. persönlicher Zuständigkeit für alle Anliegen. Weiter-
hin muss die Pflegekasse, bei Anträgen auf Leistun-
> Im Rahmen der praktischen Ausbildung gen (außer bei wiederkehrenden Anträgen auf Kos-
müssen Praxisanleiter nicht nur vermitteln, tenerstattung) von sich aus spätestens innerhalb von
wie unterstützungsbedürftige Menschen zwei Wochen nach Antragseingang einen Termin für
und ihre Angehörigen beraten werden. eine individuelle Pflegeberatung anbieten. Sie kann
Sie beraten vielmehr häufig auch die auch einen Gutschein für eine Pflegeberatung durch
Auszubildenden selbst, insbesondere bei eine unabhängige Beratungsstelle ausstellen. Die
auftretenden Problemen oder Konflikten. Pflegeberatung kann auf Wunsch auch im häuslichen
Sinnvoll erscheint es, mit dem gesamten Umfeld erfolgen. Pflegende Angehörige oder weitere
Pflegeteam das Thema Beratung zu Personen haben ebenfalls einen Anspruch auf eine
diskutieren und einen gemeinsamen Pflegeberatung, wenn der Patient einverstanden ist.
Handlungsweg zu erarbeiten. In der privaten Pflegepflichtversicherung gelten diese
Vorschriften ebenfalls.
Der Beratungsbedarf in allen Settings der
5.3 Rechtliche Grundlagen zur Gesundheitsversorgung steigt, z. B. bei chronisch
Beratung Kranken, in der Geriatrie und insbesondere im
Überleitungs- und Entlassungsprozess von Patienten
» Beratung, die im Kontext „Pflege“ steht, ist in die ambulante Versorgung. Aufgrund der demo-
immer eingebunden in das aktuelle Pflegever- graphischen Entwicklung ist von einem weiter stei-
ständnis und wird deshalb bestimmt von genden Beratungsbedarf auszugehen. Das macht
– der Sichtweise vom Menschen, die sich hinter auch die zunehmende Anzahl an Pflegestützpunk-
der Pflege verbirgt (Menschenbild), ten und Seniorenberatungsstellen deutlich. Insbe-
– dem Verständnis von Gesundheit und Krankheit, sondere besteht ihre Aufgabe in der systematischen
– dem Verständnis und Professionalisie- Erfassung und Analyse der Bedürfnisse und Bedarfs-
rungsgrad von Pflege sowie von lagen hilfe- und pflegebedürftiger Menschen und der
– den gesellschaftlichen Anforderungen und daraus abzuleitenden Erstellung, Umsetzung und
dem Umfeld von Pflege.“ (Petter-Schwaiger systematischen Evaluation eines Hilfs- und Versor-
2011, S. 67) gungsplans. Die Pflegeberatung nach § 7 SGB XI
ist eine individuelle Beratung und Hilfestellung bei
Patienten der gesetzlichen und privaten Pflege- Auswahl und Inanspruchnahme von bundes- oder
versicherung haben einen legitimen Anspruch auf landesrechtlich vorgesehenen Sozialleistungen sowie
Beratung. sonstigen Hilfsangeboten, die auf die Unterstüt-
zung von Menschen mit Pflege-, Versorgungs- oder
Betreuungsbedarf ausgerichtet sind. Die Beratung
5.3.1 Rechtsanspruch auf strukturiert sich wie folgt (Mückschel 2010, S. 183):
Pflegeberatung nach 44Sondierung der nötigen Hilfeleistung, telefo-
§ 7 a, SGB XI nisch oder persönlich
44Einzelinformationen (z. B. Adressen)
Seit 2009 besteht für Versicherte, die Leistungen 44Art der Basisberatung (zu verschieden
aus der Pflegeversicherung beziehen, ein gesetzli- Themengebieten)
cher Anspruch auf eine umfassende Pflegeberatung. 44Spezialberatung (z. B. zum Thema Demenz)
48 Kapitel 5 · Die Rolle der Beratung in der Pflege

55 Fallklärung und -steuerung (zur optimalen mit dem Betroffenen und mit allen an der
Versorgungssicherung des Ratsuchenden) Pflege Beteiligten,
44das Hinwirken auf die für die Durchführung
Die Pflegekassen werden verpflichtet, für ihre pfle- des Versorgungsplans erforderlichen
gebedürftigen Versicherten eine neutrale, trä- Maßnahmen einschließlich deren Geneh-
gerunabhängige Pflegeberatung im Sinne eines migung durch den jeweiligen Leistungsträger,
­Fallmanagements (Case Management) anzubieten. 44die Überwachung der Durchführung des
Die Pflegeberatung ist an den Pflegestützpunkten Versorgungsplans und dessen bedarfsgerechte
anzusiedeln. Sie kann auch in der häuslichen Umge- Anpassung,
bung oder in einer Einrichtung erfolgen. Zu den 44die Auswertung und Dokumentation des
5 Aufgaben der hierfür vorgesehenen Pflegeberater Hilfeprozesses bei besonders komplexen
gehören maßgeblich (Sonntag u. von Reibnitz 2013) Fallgestaltungen,
44die systematische Erfassung und Analyse 44die Hilfestellung bei Antragstellungen und
des Hilfebedarfs unter Berücksichtigung der Durchsetzung der Ansprüche nach SGB XI
Feststellungen des Medizinischer Dienstes der und SBG V.
Krankenkassen (MDK),
44die Erstellung eines individuellen Versorgungs- Die Pflegeberatung nach § 7 a SGB XI führen Pflege-
plans mit den im Einzelfall erforderlichen beraterinnen und Pflegeberater durch. Sie benötigen
Sozialleistungen und Hilfen im Einvernehmen dafür eine besondere Zusatzqualifikation.

Excurse

Patientenrechtegesetz und Beratung


Die Rolle der Patienten in der 55 Der Arzt oder Behandler Aufklärung. Dem Patienten
gesundheitlichen Versorgung muss den Patienten nach den sind die Unterlagen, die er im
hat sich gewandelt. Sie sind nicht Vorgaben des Patientenrechte- Rahmen der Aufklärung und
mehr nur vertrauende Kranke, gesetzes umfassend über die Einwilligung unterzeichnet hat,
sondern auch selbstbewusste Behandlung und alternative auszuhändigen.
und kritische Verbraucher. Mit Behandlungsoptionen 5 5 Grundsätzlich muss der
einem Patientenrechtegesetz informieren. Arzt nachweisen, dass
wird die Position der Patienten 55 Gibt es für eine Erkrankung er den Patienten nach
gegenüber Leistungserbringern mehrere Möglichkeiten den Bestimmungen des
und Krankenkassen weiter einer Behandlung (z. B. Patientenrechtegesetzes
gestärkt werden. Ein informierter medikamentös, chirurgisch oder aufgeklärt hat. Auf Nachfrage
und mit ausreichenden Rechten radiologisch), so muss über oder zur Abwendung
ausgestatteter Patient kann alle diese Behandlungsformen gesundheitlicher Gefahren
Arzt, Pflegekräften und anderen aufgeklärt werden, da sie muss der Arzt den Patienten
Leistungserbringern auf Augenhöhe mit unterschiedlichen informieren, wenn er einen
gegenübertreten. Er kann Heilungschancen und Risiken Behandlungsfehler vermutet,
Leistungsangebote hinterfragen, verbunden sind. selbst dann, wenn ihm der
Leistungen einfordern und 55 Auch über die Risiken und Fehler selbst unterlaufen sein
individuelle Rechtsansprüche eventuelle Kosten der sollte.
durchsetzen. Behandlung muss aufgeklärt
Die Rechte der Patienten sind und die Einwilligung des Die Aufklärung muss in einem
schon heute im deutschen Patienten dafür eingeholt persönlichen Gespräch erfolgen,
Gesundheitsrecht verankert, aber in werden. Dazu zählt die damit der Patient unmittelbar
unterschiedliche Gesetze verteilt und volle Aufklärung über nachfragen kann. Schriftlichen
wurden nun durch Gerichtsurteile mögliche Risiken vor jedem Unterlagen zur Information des
immer weiter ausdifferenziert. Eingriff in einer schriftlichen Patienten können hierbei mit
Literatur
49 5

eingesetzt werden; diese müssen für Zusammenhang mit der Aufklärung durch geeignete Rückfragen
den Patienten verständlich verfasst oder Einwilligung unterzeichnet, durch den Arzt zu überprüfen.
sein. Eine schriftliche Information müssen als Kopie oder Durchschrift Das Aufklärungsgespräch
ersetzt jedoch keinesfalls das ausgehändigt werden. erfolgt verpflichtend durch den
Gespräch. So reicht es nicht, wenn Das Gesetz schreibt ausdrücklich Behandelnden oder eine Person, die
der Arzt z. B. vor der Operation vor, dass die Aufklärung für dazu ausgebildet ist, die jeweilige
am Knie dem Patienten lediglich Patienten verständlich sein Behandlung durchzuführen. So
ein Informationsblatt oder einen muss (§ 630e Absatz 2 Satz 1 darf eine Pflegekraft beispielsweise
Aufklärungsbogen überreicht, Nummer 3 BGB). Der Arzt muss die Aufklärung zu einer Operation
ohne dies zusätzlich persönlich sich daher so ausdrücken, dass oder einer Untersuchung nicht
mit dem Patienten zu besprechen. der Patient seinen Erläuterungen stellvertretend für einen Arzt
Schriftstücke, die der Patient im auch folgen kann. Dies gilt es durchführen.

Literatur Rogall-Adam R (2012) 50 Tipps für die effektive Praxisanlei-


tung in der Pflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft,
Arens F (2013) Praxisbegleitung in der Pflegeausbildung – ein Hannover
blinder Fleck in der Berufsbildungsforschung? In: Faßhau- Sonntag K, Reibnitz C von (2013) Versorgungskonzepte für
er U, Fürstenau B, Wuttke E (Hrsg) Jahrbuch der berufs- Menschen mit Demenz. Praxishandbuch und Entschei-
und wirtschaftspädagogischen Forschung. Budrich, dungshilfe. Springer, Heidelberg
Opladen, S. 127–137
Ballsieper K, Lemm U, Reibnitz C von (2012) Überleitungsma-
nagement. Praxisleitfaden für stationäre Gesundheitsein-
richtungen. Springer, Heidelberg
Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege
(DNQP) (Hrsg) (2015) Methodisches Vorgehen zur Ent-
wicklung, Einführung und Aktualisierung von Experten-
standards in der Pflege und zur Entwicklung von Indika-
toren zur Pflegequalität auf Basis der Expertenstandards.
Hochschule Osnabrück, Osnabrück
Elsbernd A (2003) Entlassungsmanagement in der Pflege. Pfle-
gekompetenz, Ethik, Persönlichkeit (PEP) 31: 4–8
Hüper C, Hellige B (2015) Professionelle Pflegeberatung und
Gesundheitsförderung für chronisch Kranke. Mabuse,
Frankfurt
Knelange C, Schieron M (2000) Beratung in der Pflege – als
Aufgabe erkannt und professionell ausgeübt? Dar-
stellung zweier qualitativer Studien aus stationären
Bereichen der psychiatrischen und somatischen Kranken-
pflege. Pflege und Gesellschaft 5(1): 4–11
Koch-Straube U (2008) Beratung in der Pflege. Huber, Bern
London F (2010) Informieren, Schulen, Beraten. Praxishand-
buch zur pflegebezogenen Patientenedukation. Huber,
Bern
Lummer C (2014) Praxisanleitung und Einarbeitung in der
Altenpflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover
Mamerow R (2013) Praxisanleitung in der Pflege. Springer,
Heidelberg
Matolycz E (2009) Kommunikation in der Pflege. Springer,
Heidelberg
Petter-Schwaiger B (2011) Pflegiothek: Beratung in der Pflege
für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Cornelsen, Berlin
51 II

Beratung – ein
interaktiver Prozess
Kapitel 6 Der Beratungsprozess – 53
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

Kapitel 7 Gesprächstechniken in der Beratung – 61


Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

Kapitel 8 Beratungssettings – 73
Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein, Katja Sonntag

Kapitel 9 Haltung und Rollen in der Beratung – 77


Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein

Kapitel 10 Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche


Motive oder Handlungsmuster stecken
dahinter? – 83
Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein
53 6

Der Beratungsprozess
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

6.1 Ablauf der Beratung – 55

6.2 Der informierte Patient — Was heißt das für das


­Beratungsgespräch? – 56

Literatur – 59

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_6
54 Kapitel 6 · Der Beratungsprozess

Der Begriff Beratung wird vielfältig verwendet und Problemdefinitionen, Entscheidungen über Inter-
kontextabhängig unterschiedlich beschrieben. In ventionen, den Interventionen selbst mit erreich-
der Pflege kann Beratung nach Juchli „ als helfen- ten bzw. nicht errichten Ergebnissen transparent zu
des Gespräch" bezeichnet werden. Daneben lässt sich machen“ (von Reibnitz et al. 2001, S. 52). Man spricht
Beratung als Entscheidungshilfe, Entscheidungshilfe in diesem Kontext auch von Patientenpartizipation.
in einfacher Art (z. B. als Frage), einfacher Problem- Patientenpartizipation geht von Menschen aus, die
lösungsprozess oder als Problemlösungsprozess in hinsichtlich ihrer Persönlichkeit, der Handlungs-
systematischer oder prozessualer Form in Verbin- und Entscheidungsfähigkeit nicht oder nur gering
dung mit Vereinbarungen auffassen. beeinträchtigt sind. Im Vordergrund steht dabei der
rational handelnde Mensch, z. B. Patient oder Ange-
> „When the patient enters our gates, all hörige, „der kompetenter Akteur seiner Situation ist,
our encounters must begin with a single in seiner Autonomie nicht beschädigt und der willens
question: How can I help you? And all the und in der Lage ist, selbstbestimmt Entscheidungen
6 investments of our time, our energies, and zu treffen, über das dazu notwendige Wissen verfügt
our dollars must move ever in the direction oder es sich durch Aufklärung anzueignen vermag
of the answers to that question“. (Berwick (…)“ (von Reibnitz et al. 2001, S. 58 f.).
1997, S. 45) In Belastungssituationen haben es Pflegende
aber entgegen den Annahmen der Patientenparti-
Die kommunikativen Fähigkeiten des Beraters zipation vielfach mit kognitiv und körperlich ein-
spielen eine wesentliche Rolle, d. h. die Beratung setzt geschränkten Patienten und deren Angehörigen zu
entsprechende kommunikative Kompetenzen voraus tun, die darüber hinaus oft in ihrer Autonomie und
und erfordert dementsprechend eine große Profes- Souveränität eingeschränkt sind. Grundlage einer
sionalität, um Beratungssituationen zu erkennen und professionellen Beratung ist es daher, den Patienten
auszugestalten (von Reibnitz et al. 2001, S. 51). In und seine Bedürfnisse in dieser Situation zu erfassen.
einer Interaktion zwischen Pflegekraft und Patient, In einer Beratungssituation müssen alle Aspekte der
wie sie eine Beratung darstellt, geht es nicht mehr um Patientenrealitäten berücksichtigt werden, damit der
die Entscheidungsübernahme durch Pflegekräfte, individuelle Mensch in seiner momentanen Situa-
sondern um Aushandlung und Transparenz des Ver- tion erfasst wird und dann auch im Mittelpunkt
sorgungsprozesses. Pflege heißt dann, den Patienten steht.
„als Subjekt wahrzunehmen, die Autonomie seiner Pflegekräfte sind als Schlüsselprofession in vielen
Lebenspraxis zu respektieren und ihm eine tragende Bereichen der Patientenversorgung beteiligt. Von der
(…) Rolle im Behandlungsprozess zuzuweisen“ (von Aufnahme eines Patienten in eine Einrichtung bis
Reibnitz et al. 2001, S. 52). Mehrheitlich sind die Ent- zur Entlassung sind sie Ansprechpartner von Patient
scheidungskompetenz der Patienten, die Handlungs- und Angehörigen und direkt in alle Unterstützungs-,
fähigkeit und Persönlichkeit selbst nicht oder nur Betreuungs- und Beratungsbelange integriert (von
gering beeinträchtigt. Aufgrund einer oftmals kom- Reibnitz et al. 2001, S. 49). Als Mittler zwischen z. B.
plexen Diagnose, einer oft nicht mehr überschau- der Organisation Krankenhaus oder Pflegeheim und
baren Anzahl von Untersuchungs- und Behand- den Patienten nehmen Pflegekräfte eine bedeutende
lungsmöglichkeiten und einer Intransparenz der Rolle ein. Durch ausreichende und gut verständliche
Versorgungssituation gilt es, den Patienten dazu zu Informationen im Rahmen einer Beratung können
befähigen, die noch vorhandenen Ressourcen zu Patienten dabei unterstützt werden, ihre Entschei-
aktivieren und diese gezielt einzusetzen. dungs- und Handlungskompetenz auf dem Weg zum
Damit der Patient überhaupt als Akteur auf- mündigen Patienten auszubauen (von Reibnitz et al.
treten kann und es zu einer kontinuierlichen kom- 2001, S. 49).
munikativen Rückkopplung kommt, gilt es bei der „Die Ausrichtung von Strukturen, Prozessen
Beratung, „professionelles Handeln in seinen Zielen, und Ergebnissen des Systems der gesundheitlichen
6.1 · Ablauf der Beratung
55 6
Versorgung auf die Interessen, Bedürfnisse und der emotional-neuronalen Ebene, um so selbstver-
Wünsche des individuellen Patienten“ (Klemperer, antwortliches nachhaltiges Verständnis und Handeln
2000, S. 15) sollte daher das Ziel jedes Beratungs- zu erreichen.
prozesses sein.

6.1 Ablauf der Beratung


Aspekte patientenorientierter Beratung
Patientenorientierte Beratung sollte folgende Die Beratung ist immer ein dialogischer und zielge-
Aspekte beinhalten: richteter Prozess, der in einzelnen Phasen verläuft,
1. Respekt für die Patienten und die wie . Abb. 6.1 verdeutlicht (vgl. Hausmann 2005,
Entscheidungen, die sie treffen S. 191).
(partnerschaftliche Beziehung) Informationsweitergabe spielt im Beratungspro-
2. Patienten tragen die letzte Verantwortung zess eine wichtige Rolle und kann auf verschiedene
für therapeutische und pflegerische Arten erfolgen.
Entscheidungen (Autonomie des
Individuums)
3. Fokus auf Informationsweitergabe und Arten der Informationsgabe im
Kommunikation (maximale Transparenz ­Beratungsprozess
der Therapie) 55 Reaktive Informationsgabe: Pflegekraft
4. Patientenpartizipation in allen Aspekten reagiert auf Patientenfrage
der Dienstleistungserbringung 55 Initiative Informationsgabe: Pflegekraft
5. Flexibles therapeutisches Angebot, das gibt Information, ohne gefragt zu sein
individuell-spezifisch ist 55 Implizite Informationsgabe: Äußerungen
zwischen Pflegekraft und Patient
enthalten ohne gezielte Absprache
Der Beratungsprozess verläuft in seiner Grundstruk- Krankheitsinformationen
tur, unabhängig vom gewählten Beratungsansatz
und gewählter Beratungsart, in aufeinander folgen-
den Phasen, die in . Tab. 6.1 dargestellt werden (vgl. Der Beratungsprozess orientiert sich in der Regel
Schneider 2005, S. 395 f.). an den in . Abb. 6.2 dargestellten Aufgaben und
Die einzelnen Phasen des Beratungsprozesses Zielsetzungen.
geben der Beratung einen gewissen Rahmen, der Folgende Aufgaben erfüllen patientenorientierte
sowohl dem Berater als auch dem Beratenen Sicher- Beratungsgespräche:
heit verleiht, da zu jedem Zeitpunkt des Prozesses 44Reduktion von Furcht und Angst durch die
klar ist, in welcher Phase sich die Beratung gerade Entwicklung von Zuversicht und Vertrauen
befindet. Um dies zu erreichen, sollten die Phasen (Pflegekraft/Arzt-Patient-Beziehung)
mit dem Patienten vor dem Beratungsgespräch 44Hilfe bei der Einordnung komplexer
durchgesprochen werden. Informationen
Das Anliegen dieses Buches ist, „klassische“ 44Stärkung des Gefühls der Kontrolle, wenn
Beratungsansätze wie z. B. nach Bamberger oder Behandlungsoptionen und Alternativen
Rogers (7 Abschn. 3.1 und 7 Abschn. 3.2) mit den diskutiert werden
Erkenntnissen der Neurokommunikation und der 44Dem Patienten wird ermöglicht, Sorgen und
modernen Hirnforschung (7 Abschn. 4.1) zu verbin- Belange anzusprechen, die eine Barriere für die
den. In einer patientenorientierten Beratung geht es Behandlung darstellen könnten
primär darum, Patienten nicht nur auf der sachlich- 44Förderung der psychischen Anpassung
rationalen Ebene anzusprechen, sondern ebenso auf (Adaptation)
56 Kapitel 6 · Der Beratungsprozess

. Tab. 6.1  Phasen des Beratungsprozesses

Phasen Inhalte

(I) Erstgespräch In einem Erstgespräch werden die Vorstellungen und Erwartungen der Patienten und
der Pflegekraft geklärt. Festlegung des Themas und des Ziels der Beratung. Klärung,
welche Funktion die Pflegekraft im Beratungsverlauf einnimmt. Festlegung der
Rahmenbedingungen der Beratung (Ort, Zeitaufwand usw.).
(II) Orientierung Ziel dieses Beratungsabschnittes ist es, dass sich beide Seiten aufeinander einstellen. Die
Pflegekraft nimmt mit dem Patienten Kontakt auf und führt durch ihr Auftreten eine der
Beratung förderliche Atmosphäre herbei, um einen inhaltlichen Einstieg in die Beratung zu
ermöglichen. Definition des zu bearbeitenden Themas sowie des angestrebten realistischen
Ziels der Beratung.
(III) Klärung Hier wird dem Patienten Raum gegeben, sein Problem frei zu äußern, mit dem Ziel, die
6 Problemsituation möglichst konkret herauszustellen. Die Pflegekraft nimmt zunächst eine
passive Zuhörerrolle ein und lässt den Patienten die Problematik ausführen (vgl. Schneider
2005, S. 397). Wenn notwendig, hilft die Pflegekraft dem Patienten bei der Deutung der
Problemsituation. Folgende Methoden stehen den Pflegenden zur Verfügung:
–  Aktiv die Problemsituation zu explizieren
–  Fokussieren (konkrete „W-Fragen“)
–  Paraphrasieren/Strukturieren
–  Spiegeln von Gefühlen
–  Äußern von Gefühlen
(IV) Entwicklung von Nachdem in den vorangegangenen Gesprächsphasen die Problemsituation gänzlich
Lösungsmöglich­ erfasst wurde, liegt der Schwerpunkt nun darin, Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln. Die
keiten Veränderungsphase lässt sich in zwei Abschnitte unterteilen. Zuerst erfolgt die Sammlung
von Lösungsmöglichkeiten. Im Sinne der Selbstverantwortung finden die Patienten selbst
die Lösungsalternativen. Die beratende Pflegekraft unterstützt diesen Prozess ggf. durch
Hypothesen und Ideen für den Patienten (Expertenberatung). Daran schließt sich die
Bewertung der verschiedenen Lösungsmöglichkeiten an (König u. Volmer 2000, S. 83 f.).
Dieser Schritt muss aus der Perspektive des Patienten heraus erfolgen. Je nach Bedarfslage
der Patienten gestaltet sich die Unterstützung durch die Pflegenden mehr als Prozess- oder
Expertenberatung.
(V) Abschluss Der Beratungsprozess endet in der Abschlussphase. Das Ergebnis stellt eine angemessene
Lösung für das jeweilige Problem der Patienten dar. Unabhängig von der zeitlichen
Umsetzung des erarbeiteten Ergebnisses müssen dem Patienten bei Beendigung des
Beratungsprozesses der Konkretisierungsgrad sowie die Vorgehensweise bei der Lösung
der Problemlage klar sein. Sollte dies nicht der Fall sein, können weitere Beratungstermine
folgen.

6.2 Der informierte Patient — bezogen. Pflegekräfte und Ärzte in Beratungssitua-


Was heißt das für das tionen unterschätzen meist die Schwierigkeit, Infor-
Beratungsgespräch? mationen an eine Person zu übermitteln, die nur über
vage medizinische Kenntnisse verfügt. Selbst Grund-
Ziel der Informationsvermittlung ist der informierte kenntnisse über die Funktion des Herzens (pumpt das
Patient, der in der Lage ist, eine korrekte Einschät- Blut im Kreislauf herum) sind z. B. nicht immer vor-
zung abzugeben zu Diagnose, Art, Durchführung, handen (Schweizerische Akademie der Medizinischen
Ziel, Nutzen und Risiken einer Intervention. Zudem Wissenschaften 2013, S. 12). Daher ist es ­sinnvoll,
muss der Patient informiert sein über Art, Risiken während der Vermittlung immer wieder zu überprü-
und Nutzen von Alternativen sowie über die Option, fen, wie ein Patient mit Informationen umgeht, ob er
nichts zu tun, jeweils auf seine eigene Erkrankung sie in vorbestehende Konzepte einbetten kann oder
6.2 · Der informierte Patient — Was heißt das für das Beratungsgespräch?
57 6

Beschreibung Ist-Zustand
Erhebung von Problemen und
Phase 1 vorhandenen Ressourcen, Ordnen
Informations- dieser nach Priorität
sammlung

Bewertung des Phase 2 Beschreibung des


Ergebnisses Phase 6 Problems und der
und der Zufriedenheit, Problem- Fragestellung
Evaluation
Abklärung weiterer definition durch den
Verbesserungen Patienten

Patient und Berater

Phase 5
Durchführung Phase 3 Formulierung von
Praktische Umsetzung der Zieldefinition realistischen
des erarbeiteten Maßnahmen Zielen, die in
Lösungsweges Einzelschritten
Phase 3 erreichbar sind
Planung der
Maßnahmen

Motivation des Patienten Lösungs-


möglichkeiten zu erarbeiten,
Festlegung von Schritten
zur Zielerreichung ; Einbindung
vorhandener Ressourcen

. Abb. 6.1  Der Beratungsprozess

nicht. Je besser es gelingt, neues Wissen in vorhande- herauszufinden, welche Fragen ein Patient konkret
nes Wissen zu implantieren, desto größer ist die Wahr- hat, muss er die Möglichkeit erhalten, Informationen
scheinlichkeit, dass Neues verstanden und behalten erst einmal zu bedenken und zu verarbeiten. Sinnvoll
wird. Zudem müssen die neuen Informationen an ist es in diesem Kontext, nach zwei bis drei Informa-
schon Bekanntes anknüpfen können, um einen Lern- tionen Pausen einzufügen und abzuwarten, ob sich
prozess zu ermöglichen. Auch bei Patienten mit einem Fragen ergeben oder nicht.
gewissen Vorwissen (z. B. Patienten mit chronischem Der Prozess der Informationsvermittlung ist gut
Ulcus cruris) empfiehlt es sich, zunächst herauszu- zu strukturieren: Analog zu einem Vortrag sollte
finden, was sie bereits über ihre Erkrankung wissen, Information auch bei mündlicher Übermittlung in
um die neue Information passgenau in die Matrix des verschiedene Abschnitte gegliedert werden.
bereits Bekannten einzufügen.
Informationen führen beim Empfänger häufig Beispiel
zu Fragen, z. B. zur Konsequenz für die eigene Situ- „Ich möchte gerne mit Ihnen über den Eingriff
ation, zu den Folgen im Langzeitverlauf oder zu den morgen sprechen, der Ersatz Ihres Hüftgelenks
Risiken und zum Nutzen einer Intervention. Diese links.“ –Pause. – „Dabei gilt es folgende Punkte zu
Fragen zeigen im Idealfall, wie viele Informatio- besprechen:
nen in welcher Detailgenauigkeit ein Patient in der 1. Warum die Ärzte diesen Eingriff machen wollen.
individuellen Versorgungssituation benötigt. Um 2. Wie genau er ablaufen wird.
58 Kapitel 6 · Der Beratungsprozess

Psychosoziale Funktion:
Beziehungsgestaltung

Informationsfunktion:
Aufklärung des Patienten Diagnostische Funktion:
und Bereitstellung von Datensammlung
Informationen

Beratende Funktion:
Entscheidungsunter-
stützung,
Problembearbeitung und
Hilfe bei der
Versorgungsplanung

. Abb. 6.2  Ziele und Aufgaben eines patientenorientierten Gesprächs

3. Was die Risiken des Eingriffs sind. zu kombinieren sowie mehrere Sinne gleichzeitig
4. Wie es danach weitergehen wird.“ anzusprechen. Entsprechende Versuche waren zwar
nicht immer von Erfolg gekrönt, der Einsatz inter-
– Pause.
aktiver multimedialer Informationsmodule scheint
Wenn der Patient mit diesem Vorgehen einverstan-
aber das Behalten und Verstehen von Information
den ist, geht es zurück zum ersten Abschnitt:
zu verbessern.
„Also, zum ersten Punkt: Warum wir diesen Eingriff
Wenn es um die Verarbeitung von Informationen
machen wollen.“
geht, die bereits im Langzeitspeicher abgelegt sind,
Dann folgt der eigentliche Text.
unterliegt dagegen das Arbeitsgedächtnis praktisch
Selbst mit einer klaren Gliederung ist die Menge an keiner Mengenbeschränkung. Für die medizinische
neuen Informationen, die ein Mensch grundsätz- Praxis bedeutet dies, dass Patienten, die zum ersten
lich aufnehmen kann, begrenzt. Die „Cognitive Load Mal über eine Erkrankung oder einen Eingriff infor-
Theory“ geht davon aus, dass das Arbeitsgedächtnis miert werden, weitaus weniger aufnehmen können,
sieben (+/-2) Informationen gleichzeitig verarbeiten als ihnen in der Regel zugemutet wird (Schweizeri-
kann. Weiter kann ein Mensch bestenfalls zwei bis sche Akademie der Medizinischen Wissenschaften
vier Elemente gleichzeitig bearbeiten. Neue Infor- 2013, S. 29).
mationen gehen nach etwa 20 Sekunden wieder ver- Studien zeigen, dass Ärzte sehr selten überprüfen,
loren, wenn sie nicht in irgendeiner Form wieder was ihre Patienten verstanden haben. Nur 15 von 124
aktiviert werden. Die „Cognitive Load Theory“ neuen, einzelnen Informationen von Ärzten wurden
geht davon aus, dass die einzelnen Prozessoren des daraufhin überprüft, ob sie von Patienten auch wirk-
Arbeitsspeichers jeder für sich überlastet werden lich verstanden wurden. Acht von 15 Informationen
können. Dies führt zu der Empfehlung, Informa- waren korrekt verstanden worden, bei sieben hatten
tionen nicht nur auf einem Kanal zu vermitteln, Patienten nicht das verstanden, was die Ärzte ihnen
sondern mündliche und schriftliche Informationen übermitteln wollten (vgl. Schillinger et al. 2003).
Literatur
59 6
Eine Möglichkeit, das korrekte Verständnis von
Informationen zu überprüfen, besteht im „sich selbst
hinterfragen“, wie folgendes Beispiel beschreibt:

Beispiel
Pflegekraft: „Ich finde es ganz schön schwierig, die-
sen Eingriff gut zu erklären. Ich weiß nicht, ob ich
das gut hinkriegen werde. Deshalb wäre ich froh,
wenn Sie ab und zu mal sagen könnten, was Sie ver-
standen haben von meinen Erklärungen. Wenn das
dann nicht so ganz stimmt, muss ich versuchen, es
besser zu erklären.“

In der Beratung ist es äußerst wichtig, sich dieser


Kommunikationsgrundsätze bewusst zu werden, um
auch spezielle Gesprächstechniken in den Beratungs-
prozess integrieren zu können. In 7 Kap. 7 werden
konkrete Gesprächstechniken beschrieben.

Literatur

Berwick D (1997) The total customer relationship in health


care: broadening the bandwidth. Journal on Quality
Improvement 5(23): 245–250
Hausmann C (2005) Psychologie und Kommunikation für
Pflegeberufe. Ein Handbuch für Ausbildung und Praxis.
Facultas, Wien
Klemperer D (2000) Patientenorientierung im Gesundheitssys-
tem. Newsletter der GQMG, Themenschwerpunkt Quali-
tät in der Gesundheitsversorgung 1(7): 15–16
König E, Volmer G (2000) Systemische Organisationsberatung
(System und Organisation, 6. Aufl.). Beltz, Weinheim
Reibnitz C von, Schnabel PE, Hurrelmann K (Hrsg) (2001) Der
mündige Patient, Konzepte zur Patientenberatung und
Konsumentensouveränität im Gesundheitswesen. Juven-
ta, Weinheim
Schillinger D. Piette J, Grumbach K, Wang F, Wilson C, Daher C,
Leong-Grotz K, Castro C, Bindman AB (2003) Closing the
loop – physician communication with diabetic patients
who have low health literacy. Arch Intern Med 163(1):
83–90
Schneider K (2005) Patientenzentrierte Beratung. In: Poses M,
Schneider K (Hrsg) Leiten, Lehren und Beraten. Huber,
Bern, S 387–424
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
(Hrsg) (2013) Kommunikation im medizinischen Alltag.
Ein Leitfaden für die Praxis. Basel
61 7

Gesprächstechniken
in der Beratung
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag, Dirk Strackbein

7.1 Konkrete Gesprächstechniken – 62

7.2 Das NURSE-Modell – Umgang mit Emotionen im


­Beratungsgespräch – 62

7.3 WWSZ-Techniken – 63

7.4 EWE-Prinzip – 65

7.5 Kooperativ-vernetzte Beratung – 67

7.6 Der Realitäten- oder Ideenkellner – 68

7.7 Beratungsleitfaden – 70

Literatur – 71

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_7
62 Kapitel 7 · Gesprächstechniken in der Beratung

7.1 Konkrete Gesprächstechniken 7.2 Das NURSE-Modell –


Umgang mit Emotionen im
Im Beratungsprozess lassen sich kontextabhän- Beratungsgespräch
gig verschiedene Gesprächstechniken anwenden.
Zur Beratung in Problemsituationen lassen sich Hinter diesem Akronym verbergen sich fünf Tech-
verschiedene Techniken kombinieren. Grund- niken (. Tab. 7.2), die im Umgang mit emotiona-
sätzlich unterscheidet man direkte und indirekte len Äußerungen eines Patienten hilfreich sind (vgl.
Gesprächstechniken. Bei den direkten Gesprächs- Schweizerische Akademie der Medizinischen Wis-
techniken leitet der Berater (Pflegekraft) das senschaften 2013, S. 32 f.):
Gespräch, der Patient reagiert. Diese Gesprächs- 44Naming: Emotionen benennen
technik wird in Gesprächssituationen angewen- 44Understanding: Wenn möglich, Verständnis für
det, wenn ein Ziel schnell erreicht werden soll. die Emotionen ausdrücken
Dazu zählen Fragen stellen, Informationen ver- 44Respecting: Respekt oder Anerkennung für den
mitteln und konkretisieren (Engel 2011, S. 88 f.). Patienten artikulieren
Fragestellungen dienen der Informationssamm- 44Supporting: Dem Patienten Unterstützung
7 lung und Strukturierung der Gesprächsinhalte, anbieten
damit der Patient/Angehörige sich mit der jewei- 44Exploring: Weitere Aspekte zur Emotion
ligen Problemsituation auseinander setzt (Lang- herausfinden
ewitz 2011, S. 342). Der Berater kontrolliert den
Gesprächsinhalt. Das Benennen der Emotion (Naming) entspricht
Bei einem Erstgespräch ist es vornehmlich dem Spiegeln: Die wahrgenommene Stimmung
wichtig, in Erfahrung zu bringen, wer der Patient eines Patienten wird benannt. Dieser Schritt ist
ist, der Beratung sucht, und mit welchen Problemen nur dann sinnvoll, wenn der Patient nicht selbst
der Patient professionelle Hilfe sucht. Hierfür sollte schon gesagt hat, wie ihm zumute ist. Wenn er zum
mehr Zeit zur Verfügung stehen als für einen Folge- Beispiel mit dem Satz „Ich habe unglaublich Angst,
termin. Wichtig ist, dem Patienten zu erklären, mit dass etwas Schlimmes dabei rauskommt“ bereits
wem er es zu tun hat und in welcher Funktion. Bei sein Gefühl benennt, ist ein erneutes Benennen
einem bereits bekannten Patienten oder bei der Visite durch den Arzt oder die Pflegekraft überflüssig.
geht es schwerpunktmäßig darum zu klären, was jetzt Wenn die Emotion benannt ist, muss der Berater
besprochen werden soll (Langewitz 2011, S. 46). Am entscheiden, ob er sie tatsächlich auch verste-
Anfang eines Beratungsgespräches steht daher eine hen kann. Wenn ja, ist Understanding eine aus-
Klärung der Agenda und des zur Verfügung stehen- gesprochen wohltuende Intervention, in der sich
den Zeitrahmens: „Wir haben heute zehn Minuten die Wertschätzung für einen Patienten und sein
Zeit für unser Gespräch. Welche Punkte möchten Erleben prototypisch äußert. Gerade wenn Patien-
Sie heute ansprechen?“ „Ich würde gerne reden ten von schwierigen Lebenssituationen berich-
über xyz … “ Hinweise zum Gesprächsverhalten ten, ergibt sich immer wieder die Möglichkeit,
gibt . Tab. 7.1. ihre Bemühungen, um mit einer Belastung fertig
Die in 7 Kap. 8 (Beratungssetting) beschriebene zu werden, positiv zu konnotieren. Eine typi-
Bühnenmetapher zeigt, dass es für den Patienten hilf- sche Sequenz für das Zeigen von Respekt gegen-
reich ist, wenn er schon zu Beginn über den Ablauf über einem Patienten (Respecting) ist in . Tab. 7.3
des Gesprächs orientiert ist, wenn z. B. der Berater wiedergegeben.
dem Patienten sagt: „Ich bitte Sie, erstmal von sich Das Supporting, d. h. das Anbieten von Unter-
aus zu erzählen, wie Sie das Problem sehen. Ich werde stützung, stellt keine unmittelbare Kommunika-
dann später noch Fragen stellen, aber Ihnen erstmal tionstechnik dar. Es handelt sich um eine Hilfe-
gerne zuhören.“ stellung in Form eines Angebotes und wird nicht
Eine weitere Möglichkeit besteht in der Anwen- direkt in die Tat umgesetzt. Exploring beschreibt
dung des NURSE-Modells für emotional getragene die Situation, wenn für den Berater die emotio-
Beratungssituationen. nale Verfassung des Patienten im Moment nicht
7.3 · WWSZ-Techniken
63 7

. Tab. 7.1  Aktives und passives Gesprächsverhalten von Patienten in der Beratung

Aktiv Passiv

Sich vor dem Gespräch überlegen, was man genau wissen Abwarten, was der Berater (Pflegekraft) von einem
möchte möchte
Rückfragen stellen, wenn ein unverständlicher Begriff Hoffen, dass der Berater den Begriff doch noch
verwendet wird erklärt
Klar sagen, dass man z. B. den Sinn der Therapie nicht Die Therapie nicht mitmachen
versteht
Davon berichten, dass man Ängste bzgl. der Erkrankung hat Versuchen, ganz gelassen zu wirken (auch wenn man
es nicht ist)
Nachfragen, wenn man wegen der Das Medikament wegwerfen
Medikamentennebenwirkungen Bedenken hat
Sagen, wenn man mit der Versorgung unzufrieden ist Versuchen, den Pflegedienst zu wechseln oder die
Maßnahme abzubrechen

. Tab. 7.2  Das NURSE-Modell

Naming: die Emotionen benennen Ist es so, dass Sie doch sehr verzweifelt sind?
Haben Sie jetzt Angst?
Ich merke, dass Sie sehr aufgewühlt sind.
Understanding: Verständnis für die Ich kann verstehen, dass Sie Angst haben.
Emotionen ausdrücken Ich verstehe, dass Sie diese Nachricht erst einmal verarbeiten müssen.
Ich weiß, das wird eine schwere Zeit für Sie.
Respecting: Respekt gegenüber dem Ich finde, Sie gehen sehr gefasst damit um.
Patienten artikulieren
Supporting: dem Patienten Unterstützung Ich kann Ihnen anbieten, dass Sie jederzeit mit mir sprechen können.
anbieten Was würde Ihnen helfen, mit dieser Situation besser fertig zu werden?
Exploring: Herausfinden weiterer Aspekte Was beschäftigt Sie noch?
zu den Emotionen Gibt es noch etwas, was Sie sehr belastet?
Weiteres Vorgehen planen Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen erklären, wie wir weiter vorgehen
werden.
Gesprächsinhalte zusammenfassen, einen Wir haben heute ausführlich über Ihre Erkrankung gesprochen.
Folgetermin vereinbaren Ich schlage vor, dass wir morgen um 13 Uhr noch einmal miteinander
sprechen. Da haben Sie genügend Zeit, über unser heutiges Gespräch
nachzudenken.

offensichtlich ist. Er nimmt wahr, dass Unausge- 7.3 WWSZ-Techniken


sprochenes im Raum steht, kann aber aufgrund
zu weniger Informationen nicht mit dem Naming Mit den Buchstaben „WWSZ“ werden vier Techni-
(Spiegeln) fortfahren. ken für ein patientenorientiertes Gespräch beschrie-
Praxisbeispiele zu Gesprächen nach dem ben: Warten, Wiederholen, Spiegeln und Zusam-
NURSE-Modell sind in . Tab. 7.3 aufgeführt. menfassen ermöglichen es, dem Patienten und dem
64 Kapitel 7 · Gesprächstechniken in der Beratung

. Tab. 7.3  Gesprächsbeispiel für das NURSE-Modell

Naming – Benennen Während eines Gesprächs lassen sich Gefühle verbal und auch nonverbal erkennen.
Beispiel: „Frau Müller, ich habe das Gefühl, dass Sie die Diagnose „Inkontinenz“ bei
Ihrem Kind sehr wütend macht – ist das so?“
Understanding – Verstehen Verständnis zeigen für die Situation und Gefühle des Patienten.
Es sollte klar sein, was man versteht!
Beispiel: „Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie sich in diesem Moment hilflos fühlen.“
Respecting – Respektieren Jeder Mensch hat seine eigenen Entscheidungen für sein Leben getroffen.
Respektieren und anerkennen, was der Patient bisher geschafft hat.
Beispiel: „Frau Müller, in letzter Zeit hatten Sie mit vielen unangenehmen Situationen
zu kämpfen – dennoch haben Sie das Kontinenztraining mit Ihrem Kind bisher sehr
erfolgreich durchgehalten!“
Supporting – Unterstützen Hilfe anbieten, dem Patienten die Freiheit lassen, diese auch anzunehmen.
Beispiel: „Frau Müller, wenn Sie es möchten, kann ich Sie in dieser Situation gerne

7 unterstützen. Ich kann mir vorstellen, dass eine weitere Schulung zum Umgang mit den
Inkontinenzeinlagen die gewünschten Ergebnisse bringen wird.“
Exploring – Erweitern Viele Patienten erzählen nur von den momentan wichtigsten Beschwerden.
Wenn man das Gefühl hat, es wurde noch nicht alles gesagt – nachfragen!
Beispiel: „Frau Müller, ich bin mir nicht sicher, ob XY das einzige ist, was Sie zur Zeit
im Umgang mit Ihrem Kind belastet. Gibt es sonst noch etwas, worüber Sie reden
möchten und wobei wir Ihnen helfen können?“

Berater einen Gesprächsraum zu öffnen beziehungs- zu behindern. Weitere rhetorische Techniken sind
weise offenzuhalten. Das Zusammenfassen hat die Pausen und Wiederholen (Langewitz 2013, S. 462).
Aufgabe der Qualitätskontrolle des Beraters und es Pausen stufen Äußerungen hoch, indem sie entwe-
strukturiert den Gesprächsablauf. Das Warten stellt der vorangegangene oder nachfolgende Äußerungen
eine hohe Anforderung an die Kompetenz und bedeutsamer erscheinen lassen. So führt das Fehlen
Erfahrung des Beraters, der herausfinden muss, einer hochstufenden Pause im Anschluss an eine Äuße-
wie lange eine Pause dauern darf, ohne dass eine rung, mit der ein Berater sein Mitgefühl gezeigt hat –
bedrückende Stille entsteht (Langewitz 2011, S. 343). z. B. mit einem Satz wie „Ich kann gut verstehen, dass Sie
Erfahrungen zeigen, dass Pausen bis zu drei Sekunden das sehr beeinträchtigt“ –, zu einer Abwertung. Wenn
Länge nicht als unangenehm erlebt werden. Damit auf diese Äußerung ohne Pause die Überleitung zum
der Patient diese Pause und das Warten als Einladung nächsten Thema folgt („Jetzt wüsste ich gerne noch, wie
versteht, sollte der Berater seine Aufmerksamkeit auf Ihnen die neue Bewegungstherapie bekommt“), wird
den Patienten richten und Augenkontakt halten. die erste Äußerung entwertet und damit tiefer gestuft.
Gesprächspausen haben weitere rhetorische Funk- Beim Wiederholen werden Worte vom Berater
tionen, die sich auch in der Berater-Patienten-Kommu- wiederholt, die der Patient eben gesagt hat. Diese
nikation nutzen lassen. Die erste Funktion des Wartens Technik ist nur sinnvoll in stockenden Gesprächssi-
stellt die Einladung dar, in der es dem Patienten ermög- tuationen, die wieder in Gang kommen sollen:
licht wird, in Ruhe nachzudenken, ob er noch mehr sagen
kann oder wie er sein Problem formulieren möchte. Das
kann gleichermaßen vom Berater getan werden, wenn Beispiel
dieser nach einer Patientenäußerung eine Pause entste- Patient: „Na ja, und dann meinte meine Frau,
hen lässt, in der er das Gehörte verarbeiten möchte. ich solle doch mal mit Ihnen darüber reden,
Beim Formulieren muss darauf geachtet werden, ob das vielleicht von der Lunge her kommen
die eigene Betroffenheit nicht in den Vordergrund zu könnte.“ [Patient schaut die Pflegekraft an und
stellen, um den Patienten nicht in seinem Erzählduktus
7.4 · EWE-Prinzip
65 7
7.4 EWE-Prinzip
schweigt; offenkundig erwartet er jetzt eine
Reaktion des Gesprächspartners.] Die personenzentrierte Gesprächsführung hat
Pflegekraft: „Von der Lunge?“ ihren Ursprung in der personenzentrierten Psy-
Patient: „Na ja, weil es bei meiner Nachbarin mit chotherapie (auch personenzentrierte Gesprächs-
der Lunge ähnlich angefangen hat. Die hatte therapie), die von Carl R. Rogers und seinen Kolle-
auch immer so einen Druck in der Brust und gen in den 1940er Jahren entwickelt wurde. Rogers
konnte nicht richtig Luft holen und hinterher ging davon aus, dass Menschen bereits von sich aus
war’s dann ein richtiger, großer Herzinfarkt.“ die Fähigkeit haben, ihre Probleme zu lösen und in
Beim Spiegeln greift der Berater auf, was er ihrer Persönlichkeit zu wachsen, dass sie dafür aber
vom Patienten gehört hat: ein verständnisvolles, wertschätzendes Gegenüber
Pflegekraft: „Und jetzt machen Sie sich auch brauchen. Kernmerkmale der personenzentrierten
Sorgen, dass es bei Ihnen etwas Schlimmes Gesprächsführung sind Empathie, Wertschätzung
sein könnte … ?“ [Spiegeln der Emotion; und Echtheit – Eigenschaften, die eng zusammen-
Benennen der Emotion] hängen (EWE-Prinzip).
Patient: „Ja, es kommt noch dazu, dass meine Empathie bedeutet, die Empfindungen anderer
Schwester in einem ähnlichen Alter wie ich, wahrzunehmen und zu respektieren. Es ist die
so ungefähr Mitte 50, im Urlaub auf Mallorca Fähigkeit, sich in den anderen hineinzuverset-
plötzlich über Kurzatmigkeit klagte und dann zen und die Welt mit seinen Augen zu betrach-
eine Herzattacke hatte; da ist sie umgehend ten. Grundlage für Empathie sind Selbstwahrneh-
mit einem Flugtransport wieder nach Hause mung und Selbstakzeptanz, ist die Offenheit den
gekommen, und die Ärzte haben gesagt, dass eigenen Gefühlen gegenüber. Je offener der Berater
sie nochmal richtig Glück hatte.“ seinen eigenen Gefühlen gegenüber ist, umso
Pflegekraft: „Da kann ich gut nachvollziehen, mehr Respekt bringt er den Gefühlen des Patien-
dass Sie sich Sorgen machen.“ [Verständnis ten entgegen.
zeigen für Emotionen] Folgendes Beispiel zeigt, wie sich empathische
Wahrnehmung und Respekt auf eine Situation aus-
wirken können:
Ein Rollenwechsel im Rederecht erfolgt mit dem
Zusammenfassen dessen, was der Patient gesagt Beispiel
hat. Während das Warten die Rolle des Redens beim Pflegekraft A denkt über den Patienten, der die not-
Patienten belässt, das Wiederholen ermutigt, das wendige Mobilisation im Bett nicht ausführt: „Wie
Empfundene weiterhin wahrzunehmen und gelun- kann man nur seine Gesundheit so vernachlässigen?“
genes Spiegeln sich in den Redefluss des Patien- Pflegekraft B denkt: „Der Patient vernachlässigt sei-
ten einfügt, fordert der Berater den Patienten beim ne Gesundheit. Was mögen die Gründe dafür sein,
Zusammenfassen zum Zuhören auf. Sinnvoll ist, dass dass er die Mobilisationsübungen nicht macht?“
der Berater das Zusammenfassen ankündigt und
dann mit eigenen Worten wiedergibt, was er bisher Es ist daher anzunehmen, dass sich der Patient bei
verstanden hat (Langewitz 2011, 348). Pflegekraft A weniger angenommen fühlen wird als
Die Technik des Zusammenfassens entspricht bei Pflegekraft B.
nicht einer abschließenden, bewertenden Stellung- Empathie bedeutet, den anderen in den Mittel-
nahme, sondern ermöglicht dem Berater die Überprü- punkt zu stellen. Das zeigt sich neben der zugewand-
fung, ob er die Mitteilung des Patienten korrekt ver- ten Körperhaltung des Beraters auch in der verbalen
standen hat. Man kann dies mit dem Schließen einer Zugewandtheit, die sich darin zeigt, wie der Berater
Schleife vergleichen, nur in entgegengesetzter Rich- auf die Empfindungen eingeht und den Patienten
tung. Der Patient liefert Informationen und, indem ermutigt, seine Gefühle selbst zu reflektieren. Das
der Berater von sich aus dem Patienten mitteilt, was er kann durch vorsichtige Formulierungen und Fragen
verstanden hat, der Berater schließt die Schleife. unterstützt werden.
66 Kapitel 7 · Gesprächstechniken in der Beratung

Beispiel z Echtheit – sich selbst wahrnehmen


Patientin: „ … Ich bin es so leid, Schmerzen zu ha- und ehrlich zeigen
ben. Ich dachte, das gehört nun endlich nach mei- Die personenzentrierte Sichtweise beinhaltet neben
ner Hüft-OP der Vergangenheit an, aber jetzt sind sie Empathie und Wertschätzung auch Echtheit in der
wieder da.“ [Die Patientin hat Tränen in den Augen.] Beratungssituation mit dem Patienten. Das erfor-
Pflegekraft: „Das macht Sie jetzt sehr traurig, nicht dert zunächst, dass man sich selbst gut wahrnehmen
wahr?“ kann, den eigenen Gefühlen gegenüber offen ist und
ihnen wertschätzend begegnet.
Unempathisches Verhalten zeigt sich in verbalen Echtheit bedeutet auch die Fähigkeit, die eigenen
Äußerungen wie Belehren („Sie müssen … “), Bewer- Empfindungen dem anderen ehrlich zu zeigen und
ten oder Moralisieren („Machen Sie sich denn keine dem Gegenüber nichts vorzumachen. Für die Bera-
Gedanken über Ihre Gesundheit?“), Kritisieren („Sie tung gilt die Einschränkung, dass dies aber der Situ-
haben mir nicht zugehört“), Bagatellisieren („Es wird ation angemessen sein sollte, wenn der Patient den
schon nicht so schlimm sein“), Rationalisieren oder Berater direkt danach fragt:
Fachsimpeln (nur sachlich über die Krankheit und
7 Behandlung reden). Beispiel
Wenn der Berater sich diese Verhaltenswei- Patientin [ihre Tränen fließen, als die Schwester im
sen bewusst macht, kann sich die Gesprächsbezie- Zuge des Verbandwechsels das Bein berührt]: „Oh,
hung zwischen Berater und dem Patienten angst- Sie schauen mich so an, als könnten Sie das nicht
frei entwickeln und der Patient kann sich in den aushalten, wenn ich weine?“
Beratungsprozess einbringen. Das folgende Bei- Pflegekraft: „Habe ich Ihnen das Gefühl gegeben,
spiel fasst zusammen, worauf es in einer empathi- dass ich Ihre Tränen nicht aushalte? Nein, nein, das
schen Beratungssituation ankommt (Gespräch nach ist nicht der Fall. Ich habe nur keine Tränen erwartet
EWE-Prinzip): bei Ihnen und deshalb kurz innegehalten. Sie wir-
ken sonst immer so fröhlich. Es macht mich vielmehr
Beispiel betroffen, dass Sie etwas zum Weinen bringt. Ich fra-
Patient: „Schwester A., ich habe letzte Woche schon ge mich, was es ist, dass Sie heute an Ihrem Bein so
wieder nicht die Mobilisationsübungen gemacht, empfindlich sind?.“
ich habe es nicht geschafft, dafür Zeit aufzubringen.“
Schwester A.: „Das klingt, als wären Sie wütend auf Echtheit bedeutet nicht, dass die Pflegekraft grund-
sich.“ los über ihre Gefühle oder gar über ihr Leben
Patient: „Ja, stimmt, ich bin richtig wütend auf mich, spricht. In der Beratung steht immer der Patient
wo ich doch sonst so diszipliniert bin.“ im Vordergrund. Bei der Echtheit geht es viel-
Schwester A.: „Den meisten fällt es schwer, Disziplin mehr darum, dass auch die Gefühle des Beraters
für Mobilisationsübungen aufzubringen. Ich habe eine Rolle spielen. Unangemessene Selbstoffenba-
den Eindruck, Sie sind da sehr streng mit sich.“ rungen gehören dagegen nicht in ein Beratungs-
Patient: „Hm, Sie haben Recht, ich neige dazu, streng gespräch. So zwingt sich z. B. die Pflegekraft nicht
zu sein. Bei allem. Meine Schwäche.“ zu einem betont freundlichen Verhalten, wenn
Schwester A.: „Wahrscheinlich bauen Sie sich mit der sie sich in Wirklichkeit über den Patienten ärgert.
eigenen Strenge so viel Druck auf, dass es Ihnen Es soll keine Widersprüche geben zwischen dem
umso mehr schwerfällt, die Übungen auszuführen.“ Erleben und dem Verhalten. Der Patient würde
Patient: „Den Druck spüre ich deutlich.“ dies spüren und sich nicht mehr wohlfühlen, weil
Schwester A.: „Könnten Sie sich vorstellen, einmal er dem Berater nicht trauen kann. Die Berater-Pa-
anders an die Umsetzung der Mobilisation heran- tienten-Beziehung wäre gestört. Vielmehr kann es
zugehen? Die Übungen nicht als Pflichterfüllung zu weiterhelfen, wenn die Pflegekraft sachlich äußert,
sehen, sondern als eine Aktivität, die Ihnen gut tut dass sie sich fragt, warum der Patient etwas nicht
und für die Sie sich deshalb gern die Zeit nehmen?“ gemacht hat.
7.5 · Kooperativ-vernetzte Beratung
67 7
Praxistipp 7.5 Kooperativ-vernetzte Beratung

  1. Setzen Sie sich mit Ihren eigenen Gefühlen Die kooperative Beratung ist eine Methode zur
auseinander: Gibt es Emotionen, die Gesprächsführung und Gestaltung von Beratung
Sie kaum kennen, und solche, die Sie (vgl. Mutzeck 2008, S. 7). Sie ist menschenbild- und
ablehnen? Fragen Sie sich kritisch, ob handlungsorientiert und beinhaltet ein problem-
Sie Gefühle Ihrer Patienten deshalb auch verstehendes, zielgerichtetes, ressourcennutzen-
ablehnen könnten. des sowie lösungs- und transferbezogenes Vorge-
  2. Wie gut können Sie andere Menschen hen, welches sich auch im pflegerischen Kontext
wahrnehmen und sich in sie hineinversetzen? anwenden lässt. Die klare, systematische Struktur
  3. Erleben Sie Empfindungen bei Ihren der kooperativen Beratung ermöglicht und unter-
Patienten, denen gegenüber Sie stützt ein logisches und flexibles Arbeiten, auch in
teilnahmslos sind oder gar ablehnend? schwierigen Situationen der patientenorientierten
  4. Bringen Sie Ihren Patienten gegenüber Beratung.
zum Ausdruck, welche Gefühle Sie bei Kooperative Beratung ist eine besondere pädago-
Ihnen wahrnehmen. gisch-psychologische Form von Beratung. Sie basiert
  5. Zeigen Sie Empathie auch in Ihrer auf einem humanistischen, wissenschaftstheoreti-
Körperhaltung: Seien Sie zugewandt und schen Ansatz, der die zugrunde gelegten Menschen-
schauen Sie den Patienten an. bildannahmen, ein konkretes, alltagsorientiertes
  6. Verzichten Sie auf Belehrungen, Handlungsmodell und die kooperative, symmetri-
Moralisierungen, unangemessenes sche Beratungskonzeption beinhaltet (vgl. Mutzeck,
Kritisieren, Bagatellisieren und Rationalisieren. 2002, S. 53f.). Die kooperative, auf Gleichwertigkeit
  7. Machen Sie sich bewusst, dass Ihr Patient und Symmetrie achtende Vorgehensweise der bera-
eine Würde und einen Wert als Person hat. tenden Pflegekraft führt zu einer vertrauensvollen,
Er kann Fehler machen, aber er ist deshalb wertschätzenden und Potenziale nutzenden Bezie-
kein schlechter Mensch. hung zum Patienten. Kooperative Beratung verläuft
  8. Uneingeschränktes Akzeptieren hilft dem in folgenden Phasen:
Gegenüber, auch sich selbst anzunehmen, 1. Das Problem (Anlass der Beratungssituation)
seine Versorgungssituation zu akzeptieren des Patienten verstehen und klären
und angstfrei über alles zu reden. 2. Ressourcen und Potenziale ermitteln,
  9. Seien Sie echt in der Berater-Patienten- aktivieren und auf die Versorgungssituation
Beziehung. Spielen Sie Ihren Patienten übertragen
nichts vor. Echtheit bedeutet nicht, dass Sie 3. Grundlegende, übergeordnete Ziele der
alle Ihre Gefühle preisgeben. Versorgung (z. B. Therapie) bewusst machen
10. Echtheit des Beraters ist Voraussetzung und konkrete, kleinschrittige alltags- und
dafür, dass Patienten Vertrauen gewinnen. situationsorientierte Teilziele erarbeiten
11. Vertrauen ist die Basis für eine gelungene (Zielklarheit)
Beratungsbeziehung. 4. Problemlösungen gemeinsam mit Patient
und Angehörigen erarbeiten und sie ziel- und
handlungsbezogen für die individuelle
Fazit Versorgungssituation vorbereiten
Mit der personenzentrierten Gesprächsführung in der 5. Entscheidungsalternativen aufzeigen,
Beratung wird dem Patienten geholfen, selbst auf die deren Chancen und Risiken antizipieren
Lösung für sein Problem zu kommen. Dazu ist es not- und gemeinsam eine Entscheidung
wendig, dass der Berater dem Patienten empathisch, herbeiführen
wertschätzend und echt begegnet. Das setzt voraus, 6. Den Transferprozess von Lösungen, Entschei-
dass sich der Berater seiner eigenen Gefühle bewusst ist. dungen, Veränderungen begleiten
68 Kapitel 7 · Gesprächstechniken in der Beratung

Bei diesem gemeinsamen Beratungsprozess vermit- arbeitet. Er sieht das Modell des Realitätenkellners als
telt die Pflegekraft durch ihr Handeln dem Patien- „hypnosystemisches Konzept in Beratung, Coaching
ten, dass sie trotz des strukturierten und kompe- und Supervision“. Im Kern dieses Konzeptes geht es
tenten Vorgehens die Beziehung zum Patienten als darum, dem Klienten (Wording G. Schmidt) eigene
gleichwertig sieht. Dieser selbst ist Experte seiner Ideen (keine Ratschläge) anzubieten, aus denen der
Gesundheit. Die Pflegekraft versucht, die Sichtwei- Klient dann diejenigen aussucht, die zu ihm passen.
sen zu verstehen und die Erfahrungen, Ressourcen, Ziel dieser Beratungsstrategie ist, die Selbstverantwor-
Potenziale und die Autonomie des Patienten wert- tung zu wecken und damit nachhaltiges, reflektiertes,
zuschätzen und bezieht dessen jeweiliges Wissen um selbstverantwortliches Handeln zu erreichen. Dieser
sich und seine gesundheitliche Situation in ihr Vor- Ansatz kann sich sowohl an Patienten, aber auch an
gehen ein. Dabei orientiert sie sich an der Lebenswelt deren Angehörige richten. Diese Ideen, Anregungen
und dem sozialen Kontext des Patienten und fördert und Empfehlungen des Beratenden sollten als Ich-Bot-
durch die kooperative Arbeitsweise die Adherence schaften formuliert sein und als Hypothesen kenntlich
des Patienten. Die Pflegekraft bemüht sich um eine gemacht werden (z. B. „Ich könnte mir vorstellen … “).
weitestgehende Wiedererlangung von Kompeten- Weiterhin sollte bei allen Ideen und Hypothesen auch
7 zen und unter Umständen der Selbstpflegefähigkeit die Auswirkung des Handelns oder Nichthandelns mit
(Empowerment) ihres Patienten. Die klare Struktur dem Klienten besprochen werden (z. B. „Welche Aus-
der kooperativen Beratung und die offene Arbeits- wirkung hat es, wenn Sie es tun bzw. nicht tun?“). Ziel
weise machen den Beratungsprozess transparent. Die ist hier sehr klar die Selbstreflexion und nicht das Vor-
Kompetenz sowie die Einschätzung und die gemein- geben und Drohen mit Folgen. Für Schmidt sind in
same Reflexion des Beratungsprozesses stärken die diesem Beratungsansatz zwei Dinge wichtig:
aktiv handelnde Rolle des Patienten.
Die so gestaltete kooperative Beratung fördert » Besonders sollte danach gefragt werden:
die Adherence des Patienten bezüglich seiner Krank- a) danach, wie sich die Angebote anfühlen
heits- und Versorgungssituation. Die kooperative (stimmig/unstimmig) … und b) nach
Beratung unterstützt hierbei die Patienten und ihre Auswirkung auf die in der Beratung
Bezugspersonen in der Bewältigung der Pflege- und angestrebten Ziele. Dadurch, dass der
Versorgungsbedürftigkeit. Inhalte der Pflegebera- Klient oder Patient aktiv in diesem Entschei-
tung leiten sich aus dem Beratungsbedarf ab, der auf dungsprozess agiert, hat er kompetente
der Basis der Pflege- und Krankheitsverlaufskurve Autorität im Beratungsprozess. Im Grunde
erhoben wird (vgl. Hüper u. Hellige 2007, S. 25). berät er sich selbst und wird dabei nur durch
Diese partizipative Entscheidungsfindung scheint Ideen und Anregungen begleitet (Leeb et al.
besonders bei Patienten mit chronischen Krankhei- 2011, S. 18 ff.).
ten sinnvoll zu sein. Die Patienten haben über längere
Zeit Kontakt mit Ärzten, Therapeuten und der Pflege Wichtig für die Entscheidungsfindung ist, dass immer
und entwickeln sich mehr und mehr zu Experten: mehrere Angebote (Multiple-Choice-Angebote) im
Sie wissen über ihre Krankheit und ihren Körper Raume stehen. Aus diesen wählt der Patient dann
oft bestens Bescheid. Dadurch entwickeln sie häufig seine Favoriten aus. Natürlich kann es sein, dass der
ein starkes Bedürfnis, die Therapieentscheidung zu Klient auf keine der vorgeschlagenen Ideen, Anregun-
beeinflussen. Genau dies ist Bestandteil der koope- gen, Empfehlungen positiv anspricht. Dazu schreibt
rativen Beratung (vgl. Geuter 2009, S. 15). Schmidt: „Zentral dafür ist, dass ein Berater diese
Multiple-Choice-Angebote tätigt mit der Haltung,
den Klienten völlig kongruent die freie Wahl zu über-
7.6 Der Realitäten- oder lassen, wie sie mit den Angeboten umgehen wollen
Ideenkellner (auch wenn sie alle ablehnen wollten), und diese Wahl
zu respektieren“ (Schmidt 2011, S. 12).
Dieses Beratungskonzept geht zurück auf Gunther Durch ein solches Vorgehen in der Beratung von
Schmidt, der als Psychotherapeut und Arzt in der mündigen Patienten erreicht man ein selbstverant-
von ihm gegründeten SysTelios-Klinik wirkt und wortliches Handeln auf der einen und intrinsische
7.6 · Der Realitäten- oder Ideenkellner
69 7
Motivation, ein eigenständiges Handeln, auf der Möglichkeiten, um den Patienten und die Angehö-
anderen Seite. Was nachhaltig verhindert wird, ist rigen auf die Ebene des selbstverantwortlichen Han-
mangelnde Identifikation mit der Therapieumset- delns zu bringen.
zung, die durch Sätze wie „Sie haben ja gesagt, ich
solle das so machen – es hat aber nicht funktioniert!“ Beispiel
offenbart werden. Stellen Sie sich eine solche Situation einmal bild-
Allgemeiner gesprochen: Ist ein Mensch auf haft vor. Sie als Berater möchten bei einem Patien-
seinem Weg zum Ziel, ist er bereit, bei Problemen ten eine nachhaltige Änderung seines Ernährungs-
aktiv selber tätig zu werden und das Problem zu verhaltens erreichen. Da wir wissen, dass Verbote
lösen. Ist ein Mensch auf einem Weg zu einem Ziel, Widerstand und Reaktanz auslösen, versuchen wir
das ihm vorgegeben worden ist, wird er bei Proble- es mit Ideen. Sie sind der Kellner, der auf dem Tab-
men nicht selber aktiv, sondern geht zum Berater und lett, das er dem Patienten reicht, Ideen und Ansätze
bittet ihn, sein Problem zu lösen. einer neuen, guten und physiologisch richtigen Er-
nährung aufbaut. Nicht Sie geben dem Patienten
> Ratschläge sind nicht motivierend, sie sind die Ideen und Ansätze, sondern der Patient nimmt
verantwortungsverschiebend. Der selbstver- sie im übertragenen Sinne selbst vom Tablett. Mit
antwortlich handelnde Patient ist bereit, diesem aktiven Schritt übernimmt er die Verantwor-
seine Probleme, soweit es eben geht, selbst tung für sein Handeln.
zu lösen oder bei Schwierigkeiten erst einmal
selbst zu handeln. Wer selbst mit dem Modell des Realitäten- oder
Ideenkellners gearbeitet hat, wird feststellen, dass
Wichtig ist in diesem Kontext noch, dass die Ziele, dieses Modell auch die innere Haltung des Beraters
die es zu erreichen gilt, die man dann auch gemein- verändert. In der Kommunikation mit den Patien-
sam mit dem Patienten vereinbart hat, tatsächlich ten wird man achtsamer, man reagiert deutlich sen-
realistisch sind. Denn nur realistische Ziele führen sibler und empathischer auf Gedanken und Ideen
zum Erfolg und sind somit motivierend. Läuft man der Patienten. Grund hierfür ist, dass man sich selbst
nur hinter unrealistischen, zu hoch gesteckten stärker zurücknimmt, weil man eben nicht nur aktiv
Zielen hinterher, führt das unweigerlich zu Frus- beraten möchte, sondern eigentlich erreichen will,
tration und Enttäuschung. Ein solches Ziel ist aber dass der Patient im optimalen Fall sich selbst berät.
auch niemals „in Stein gemeißelt“, sondern jedes Ziel
kann während der Zielerreichung korrigiert werden
– und das nach oben und nach unten! Vielleicht hier Praxistipp
noch eine spezifische Anmerkung: Wenn mit einem
Patienten z. B. ein Therapieziel vereinbaren wird, ist An dieser Stelle soll noch kurz auf die
es die Aufgabe des Professionellen zu überprüfen, ob technische Anwendung offener Fragen
dieses Ziel wirklich realistisch ist. Der Patient alleine eingegangen werden. Möchten Sie als
kann dies nicht einschätzen. Folglich sind die Pfle- Berater, dass Ihr Patient eigene Ideen und
genden hier ein ganz wesentliches Regulativ! Lösungsansätze entwickelt, gelingt das am
Schön an der Gesprächsstrategie des Ideenkell- besten natürlich mit offenen Fragen. Ein „Was
ners ist, dass sie im Prinzip immer und überall ein- möchten Sie an Ihrer Ernährung ändern?“ ist
setzbar ist. Natürlich ist es mitunter schwierig, wenn ergebnisoffener als „Was halten Sie davon,
in einem Beratungskontext der Patient und/oder die abends auf Kohlehydrate zu verzichten?“. Da
Angehörigen keine eigenen Ideen und Lösungsan- wir oft unter Zeitdruck stehen und das natürlich
sätze entwickeln können, weil ihnen vielleicht auf der Kommunikationsabläufe beeinflusst, passiert
einen Seite die Kompetenzen fehlen oder sie auf der Folgendes: Wir beginnen mit einer schönen,
anderen Seite psychisch so belastet sind, dass die Ent- offenen Frage wie „Wie geht es Ihnen?“ und
wicklung eigener Gedanken einfach nicht möglich machen sie selbst sofort wieder zu einer
ist. Aber selbst in solch schwierigen Situationen bietet geschlossenen Frage, indem wir ein „Gut?“
der Realitätenkellner, wie er auch genannt wird,
70 Kapitel 7 · Gesprächstechniken in der Beratung

Der Leitfaden soll Pflegekräften in Beratungs-


sofort anschließen. Auf die Frage „Wie geht situationen unterstützen, einen „roten Faden” für
es Ihnen, gut?“ werden wir möglicherweise inhaltliche Beratungsschwerpunkte im Gesprächs-
sogar eine gebahnte, falschpositive Antwort verlauf zu finden. Ein Leitfaden kann niemals ein
bekommen, nämlich „Ja“. Kochbuch für eine Beratung darstellen, denn diese
ist stets individuell auf den Bedarf von Patienten
und deren Angehörigen abzustimmen. Ein Leitfa-
Fragende Kommunikation braucht Zeit! Durch „die den sollte immer modular aufgebaut sein, da je nach
Macht der Stille“ kann kommunikative Beratung ent- Krankheitsbild und Versorgungssituation das Bera-
schleunigt werden. Es passiert sehr schnell, wenn tungssetting unterschiedlich sein kann und in ver-
eine schöne, offene Frage gestellt wurde und der schiedenen Situationen einzusetzen ist.
Gesprächspartner nicht sofort antwortet, dass dann Kriterien für die Erstellung eines Beratungsleit-
die Frage zugemacht wird und sie in die Richtung fadens konnten in der Literatur nicht identifiziert
vorgefasster, erwarteter Gedanken gelenkt wird: „Was werden. Abt-Zegelin (2003) definierte jedoch Kri-
möchten Sie an Ihrer Ernährung ändern? Haben Sie terien für die Patientenedukation, die auch für die
7 schon mal daran gedacht, abends auf Kohlehydrate Beratung und Erstellung des Leitfadens adaptiert
zu verzichten?“ Um das zu verhindern, sollte der werden können (vgl. Bienstein u. Bartholomeyczik
Berater nach dem Stellen einer offenen Frage einfach 2006, S. 62). Die Übersicht zeigt die relevanten Kri-
ein paar Sekunden (drei bis vier Sekunden genügen terien für einen Beratungsleitfaden:
hier) nichts sagen (7 Abschn. 7.3). Der Gesprächs-
partner hält dieses Schweigen genauso wenig aus wie
der Berater und oft entwickeln sich durch die Stille Kriterien für einen Beratungsleitfaden
dann doch eine Antwort, eine Idee, ein Gedanken 55 Alle drei Anteile (Informieren, Schulen,
oder eine Frage. Beraten) sollen aufgrund der komplexen
Einschränkend muss natürlich zugestanden Situation Anwendung finden
werden, dass das Konzept des Realitäten- bzw. Ideen- 55 Die Angehörigen sollen einbezogen
kellners nur dann funktioniert, wenn auf dem Tablett werden
mehrere Lösungsansätze, aus denen der Patient 55 Beratung soll in Form eines Prozesses
wählen kann, aufgebaut sind. Kann ein Problem geschehen
nur durch die eine Lösung angegangen werden, ist 55 Gesamtmenge von Wissen und
diese Strategie nicht die richtige, weil sie nicht ein- Fertigkeiten muss definiert und
dimensional anwendbar ist. Allerdings genügen evidenzbasiert sein
zwei Alternativen! 55 Alltagsrelevanz steht im Vordergrund statt
Vermittlung eines kleinen Expertenwissens
55 Gemeinsame Zielsetzung soll angestrebt
7.7 Beratungsleitfaden werden, standardisierte Vorgehensweisen
müssen individuell angepasst werden
„Ein Leitfaden ist eine kurzgefasste Einführung in 55 Bezug zur Lebenswelt des Patienten, zum
ein Wissensgebiet” (Strauch u. Rehm 2007, S. 277). Alltag sowie zum optimalen Handeln
Der Begriff wurde aus der griechischen Mythologie herstellen
abgeleitet und bezieht sich auf den Ariadnefaden, der 55 Fachlich-inhaltliche und beratungsspe-
Theseus in Knossos den Weg aus dem Labyrinth wies zifische Kompetenzen der Pflegeperson
(vgl. Strauch u. Rehm 2007, S. 277). Synonym ver- sind Voraussetzung
wendet werden häufig Begriffe wie Abriss, Führer, 55 Ziel ist niederschwelliger Zugang
Grundriss, Handweiser, Ratgeber, Übersicht, Zusam- 55 Qualitätssicherung und Evaluation der
menfassung, (bildungssprachlich) Exzerpt, Kompen- gesetzten Maßnahme sind notwendig
dium, Vademekum (vgl. www.duden.de).
Literatur
71 7
Literatur

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73 8

Beratungssettings
Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein, Katja Sonntag

8.1 Innere und äußere Einflussfaktoren


im Beratungsprozess – 75

Literatur – 76

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_8
74 Kapitel 8 · Beratungssettings

Mit Setting sind allgemein die äußere Umgebung, Bewertung von Gesundheit und Krankheit durch
Räumlichkeiten und die Atmosphäre gemeint, in den Patienten auf der einen und die professionelle
der eine Beratung stattfindet. Ein positiv gestalte- Bewertung durch die Pflegefachkraft auf der anderen
tes Setting hat einen entscheidenden Einfluss auf Seite. Dies gilt es zu berücksichtigen, aber auch zu
den Verlauf der Beratung. Zum Beratungssetting respektieren.
gehört das aufmerksame, wertschätzende und aktive Wichtig ist auch, dass alle Gesprächspartner im
Zuhören des Beraters, aber auch der ungestörte Raum die gleichen Bedingungen vorfinden. Natür-
Gesprächsverlauf in einer möglichst angenehmen liches oder künstliches Licht sollte nicht blenden.
Umgebung. Ein gutes Beratungssetting kann den Temperatur und Belüftung sollten für alle angenehm
Prozess der Vertrauensbildung zum Berater positiv sein und natürlich darf dieses Gespräch in sehr ver-
beeinflussen. trauter Atmosphäre niemals gestört werden. Inso-
Natürlich sollte man sich vor jedem Beratungsge- fern ist es auch wichtig, das gewählte Zeitfenster so
spräch überlegen, wo optimalerweise dieses Gespräch zu wählen, dass das Gespräch nicht aus Zeitman-
stattfinden soll. Im Pflegealltag ist die Auswahl des gel abgebrochen werden muss. Gleichzeitig dürfen
richtigen Ortes in realitas allerdings eingeschränkt. Telefon oder Handy nicht klingeln oder andere Per-
Je weniger mobil der Patient ist, desto mehr bestimmt sonen zur Tür hereinkommen.
seine Immobilität den Raum des Gesprächs. Wo auch Zum Setting gehört auch die zeitliche Rahmung.
8 immer ein solches Gespräch stattfindet – Ziel ist ein
Gespräch auf gleicher Augenhöhe!
Wichtig ist es daher, vor dem eigentlichen Gespräch
den Zeitrahmen zu benennen, den die Pflegekraft
Wünschenswert wäre, dass das Beratungsge- für dieses Gespräch eingeräumt hat. Das verhindert,
spräch in einem psychologisch neutralen Raum dass der Patient bzw. die Angehörigen meinen, alles
stattfindet. Psychologisch neutral bedeutet hier, der möglichst schnell hinter sich bringen zu müssen, weil
Raum an sich lässt durch z. B. die Bestuhlung keine die Pflegekraft nur wenig Zeit hat. Hektik behindert
psychologische Über- oder Unterordnung zu. Dies Kommunikation! Aber auch ein „Ausufern“ des
bedeutet, dass, sofern es der Zustand des Patienten Gesprächs kann verhindert werden, indem vorweg
zulässt, alle beteiligten Gesprächspartner auf den klar der zur Verfügung stehende Zeitraum benannt
gleichen Sitzgelegenheiten sitzen. Ist der Patient roll- wird. Um nonverbale Signale des empfundenen
stuhlmobil, wird er in den Kreis integriert. Da es sich Zeitdrucks, den Blick auf die Armbanduhr, zu ver-
barrierefrei deutlich besser und offener kommunizie- hindern, kann es geschickt sein, den Platz im Raum
ren lässt, sollten zwischen den am Gespräch Betei- so zu wählen, dass die Pflegekraft unauffällig auf
ligten keine Tische stehen. Findet das Gespräch auf die Wanduhr schauen kann, ohne dass andere dies
bilateraler Ebene, also unter vier Augen statt, ist ein bemerken.
Sitzwinkel von 90–120 Grad, also niemals konfron- Ist der Patient bettlägerig und das Gespräch
tativ gegenüber, der richtige. Sind mehr Menschen findet im Zimmer des Patienten oder bei ihm
beteiligt, ist ein kleiner Stuhlkreis die richtige Wahl. zuhause statt, gelten im Prinzip die gleichen Regeln.
Beistelltische können hier zur Ablage von Unterlagen Hier bekommt die Augenhöhe eine ganz besondere
oder zum Abstellen von Getränken genutzt werden. Bedeutung. Gerade hier ist das sitzende Setting am
Apropos: Auch der Versorgungsstatus sollte der Krankenbett förderlich für eine patientenzentrierte
gleiche sein. Hat der Berater ein Getränk zur Hand, Beratung. Der Blick im Stehen von oben herab ver-
dann sollte das für den Patienten und ggf. den Ange- deutlicht dem Patienten noch einmal zusätzlich seine
hörigen ebenso gelten. Lage. Deshalb wären hier eine sitzliegende Posi-
Im Gespräch zwischen einer Pflegekraft oder tion des Patienten und sitzende Positionen der am
einem Arzt und einem Patienten spielen biologische, Gespräch Beteiligten die richtige Wahl.
psychologische und soziale Bedingungen eine Rolle. Bestandteil des Setting ist ebenso die richtige
Biologische, psychische Faktoren und die sozialen innere Haltung des Beratenden, mit der er dem
Bedingungen, in denen der Patient lebt, tragen zu Patienten nicht gegenüber tritt, sondern ihm begeg-
subjektivem Leiden und subjektivem Wohlbefin- net. Wertschätzung können wir nicht nur durch
den bei. Eng verknüpft damit ist die individuelle Worte ausdrücken, sondern eben auch durch die
8.1 · Innere und äußere Einflussfaktoren im Beratungsprozess
75 8

. Tab. 8.1  Ziele und Ergebnisse verschiedener Settings

Setting Ziel/Ergebnis

Gleiche Augenhöhe Keine psychologische Über-/Unterordnung


Innere Haltung Wertschätzend offen
Zeitlicher Rahmen Zeitrahmen abstimmen, ausreichend Zeit einplanen
Raumbedingungen Neutraler Raum, nicht konfrontativ, barrierefrei, gleiche Sitzgelegenheiten, Patient wird
in Kreis integriert
Biologische, physische und Licht, Temperatur, Belüftung auf die Bedürfnisse aller abstimmen, Situation des
soziale Bedingungen Patienten und der Angehörigen wird nicht nur berücksichtigt, sondern respektiert
Gesprächsatmosphäre Offen konstruktiv durch aktives Zuhören

Auswahl des richtigen Zeitpunkts, des richtigen 44Pflegekraft–Patient: Die Pflegekraft fungiert
Raums und des richtigen Arrangements im Raum, als Berater und lenkt den Prozess in Richtung
in dem das Beratungsgespräch stattfindet (. Tab. 8.1). einer gemeinsam vereinbarten Problem-
lösung. Der Patient beteiligt sich durch eigene
Beispiel Mitarbeit und eigene Vorschläge aktiv an der
Ein schönes Beispiel für ein bewusstes Setting ist Problemlösung.
die Bühnenmetapher. Die Bühnenmetapher eines 44Pflegekraft–Patient–Angehöriger: Auch hier
Berater-Patient-Gesprächs beschreibt, wie ein Be- ist die Pflegekraft in der Rolle des Beraters.
ratungsraum geschaffen werden kann, in dem die Patient und Angehöriger sind gemeinsam aktiv
Bühne für einen offenen Raum steht, den der Patient durch Ideen, Vorschläge und Mitarbeit in die
nach eigenem Wunsch für die Darstellung seines Pro- Problemlösung eingebunden.
blems oder seines Beratungsanliegens nutzen kann. 44Pflegekraft–Angehöriger: In dieser Beratungs-
In der Bühnenmetapher ist auch eine Regieanwei- situation übernimmt der Angehörige soweit
sung für den Berater enthalten: Wenn dem Patienten es geht die Rolle des Patienten. Er ist bestrebt,
die ganze Bühne zur Verfügung gestellt wird, sollte gemeinsam mit dem Berater (Pflegekraft) eine
der Berater nicht gleichzeitig selber auf der Bühne Problemlösung im Sinne des Patienten zu
stehen, sondern sich vom Patienten distanziert posi- erreichen. Auch hier arbeiten beide aktiv an der
tionieren. So wird dieser in seinen Entfaltungs- und Lösung (vgl. Engel 2006, S. 35 f.).
Darstellungsmöglichkeiten nicht behindert.
Entscheidend für die Wahl des richtigen räumli-
Dieses Verständnis der eher passiven Zuhörer- chen, aber auch personellen Settings sind natürlich
rolle des Beraters steht einer anderen typischen, oft der Zustand des Patienten und seine Fähigkeit zur
genutzten Gesprächssituation gegenüber, in der der Partizipation am Gespräch.
Berater die Gesprächsführung früh übernimmt.
Häufig findet sich diese Form der Beratung in Arzt-
Patienten-Gesprächen (Marvel et al. 1999, S. 286). 8.1 Innere und äußere
Das Beratungssetting beschreibt nicht nur die Einflussfaktoren im
räumlich atmosphärische Situation, sondern auch die Beratungsprozess
Konstellation der beteiligten Personen in eben dieser
Beratungssituation. Bevor das Beratungsgespräch Verschiedene innere und äußere Faktoren beein-
beginnt, sollte das geeignete Setting gewählt und die flussen jede Kommunikation und damit auch den
teilnehmenden Personen zu einem Gesprächstermin Beratungsprozess. So bestimmt der Kontext eine
koordiniert werden. Drei Arrangements des Settings Kommunikation maßgeblich, z. B. ob es sich um ein
können hier gewählt werden: geplantes Gespräch oder eines „zwischen Tür und
76 Kapitel 8 · Beratungssettings

. Tab. 8.2  Einflussfaktoren auf die Kommunikation (Eigene Darstellung, angelehnt an Tewes 2010, S. 15)

Äußere Faktoren Innere Faktoren

–  Kontext (Ort, Zeit, Gesamtsituation) –  Persönliche Erfahrungen (Biographie, Vorerfahrung zum Thema oder
–  Anwesenheit weiterer Personen Gesprächspartner)
–  Horizontale (gleiche Ebene) –  Gesprächsziel
oder vertikale (verschiedene –  Selbstwertgefühl
Hierarchiestufen) Kommunikation –  Rollenklarheit
–  Unbewusste Abwehrmechanismen

Angel“ handelt. Auch der Gesprächsanlass sowie sowie die Krankheitserfahrung mit all ihren Impli-
die mögliche Anwesenheit weiterer Personen haben kationen in sein Leben zu integrieren (London 2010,
großen Einfluss auf den Gesprächsverlauf, ebenso S. 28).
mögliche vorhandene Hierarchien der Gesprächs-
partner. Auf der individuellen Ebene beeinflussen > Da viele innere und äußere Faktoren den
unter anderem die persönlichen Erfahrungen sowie Beratungsprozess beeinflussen, müssen

8 die Beziehung der Gesprächspartner zueinander


die Kommunikation, ebenso wie das Gesprächs-
diese Berücksichtigung finden. Der Berater
übernimmt die Rolle eines Coaches, welcher
ziel sowie das Selbstwertgefühl. Aber auch weitere dem Klienten hilft, die Krankheit oder
personale Bedingungen wie das individuelle Tem- Behinderung zu interpretieren und in sein
perament, das vorhandene Interesse, die Motiva- Leben zu integrieren.
tion sowie die aktuelle Befindlichkeit beeinflussen
die Beratung. Ein geringes Selbstwertgefühl führt
zu geringen Erwartungshaltungen gegenüber dem Literatur
Gespräch und geht eher mit Angst und Misstrauen
Engel R (2006) Gesundheitsberatung in der Pflege: einführen-
einher. Weitere Einflussfaktoren sind eventuell vor- de Konzepte und integriertes Ausbildungscurriculum.
handene unbewusste Abwehrmechanismen sowie Facultas, Wien
das Bewusstsein über die soziale Rolle im Kom- Engel R (2011) Gesundheitsberatung in der professionellen
munikationsprozess. Kontextbedingungen wie die Gesundheits- und Krankenpflege. Einführende Elemente,
Unterstützung und Anregung durch das soziale Methoden und Beispiele. Facultas, Wien
London F (2010) Informieren, Schulen, Beraten. Praxishand-
Umfeld sowie Werte und Normen der Gesellschaft buch zur pflegebezogenen Patientenedukation. Huber,
haben ebenfalls Auswirkungen auf die Kommuni- Bern
kation (Tewes 2010, S. 14 ff., Schweizerische Akade- Marvel, MK, Epstein RM, Flowers K, Beckman HB (1999) Soli-
mie der Medizinischen Wissenschaften 2013, S. 8). citing the patient's agenda: have we improved? JAMA
Eine Übersicht über die verschiedenen Faktoren gibt 281(3): 283–287
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
. Tab. 8.2. (Hrsg) (2013) Kommunikation im medizinischen Alltag.
Diese unterschiedlichen Einflussfaktoren ver- Ein Leitfaden für die Praxis. Basel
deutlichen, dass es im Beratungsprozess weit mehr Tewes R (2010) „Wie bitte?“ Kommunikation in Gesundheits-
bedarf, als dem Klienten lediglich die nötigen Infor- berufen. Springer, Heidelberg
mationen zu geben, um ein Wissensdefizit auszuglei-
chen. Dies würde ja z. B. bedeuten, dass auf Grund
der Warnhinweise auf den Zigarettenpackungen
niemand mehr raucht. Patienten- und Angehöri-
genberatung umfasst also weit mehr als das bloße
Anbieten von Informationen. Der Berater über-
nimmt die Rolle eines Lehrers oder Trainers, welcher
dem Klienten hilft, seine Krankheit zu interpretieren
77 9

Haltung und Rollen


in der Beratung
Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein

9.1 Paradigmenwechsel hin zu Selbstbestimmung


und Autonomie – 78

9.2 Merkmale einer professionellen Beratungsbeziehung – 79

9.3 Ganzheitliche Beratung – 79

9.4 Symmetrische versus asymmetrische Beziehung – 80

9.5 Haltung des Beraters – 81

Literatur – 82

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_9
78 Kapitel 9 · Haltung und Rollen in der Beratung

9.1 Paradigmenwechsel hin oder pflegerisch geboten erscheint. Kommen mehrere


zu Selbstbestimmung und gleichwertige medizinische Behandlungen oder
Autonomie Behandlungsmethoden in Betracht, muss der Arzt
über Chancen und Risiken umfassend aufklären. Der
In den vergangenen Jahren fand im Gesundheitswe- Patient kann die anzuwendende Behandlung wählen,
sen ein Paradigmenwechsel im Bereich der Behand- denn alle medizinischen Maßnahmen setzen eine
lung und Beratung statt. Bislang war es so, dass die wirksame Einwilligung des Patienten voraus. Eine
medizinische, therapeutische und pflegerische Ver- solche Einwilligung bedarf der rechtzeitigen Aufklä-
sorgung nicht nur hier in Deutschland, sondern rung vor Behandlungsbeginn sowie der notwendigen
allgemein allzu oft über die Köpfe der Betroffenen Einsichtsfähigkeit. Dies bedeutet, dass die Beratung an
hinweg erfolgte. Die im Gesundheitswesen Tätigen die persönlichen Fähigkeiten des Patienten angepasst
trafen Entscheidungen, ohne den Patienten Alter- sein muss, damit dieser in die Lage versetzt wird, Art,
nativen aufzuzeigen oder individuelle Ressourcen, Umfang und Tragweite der Maßnahme und der damit
Werte und Bedürfnisse oder das Erfahrungswissen verbundenen gesundheitlichen Risiken zu erfassen
des Betroffenen zu berücksichtigen. Als Folge daraus und ohne psychischen Druck eine Entscheidung zu
entstanden Missverständnisse und die Interaktion treffen. Die individuelle Bedeutung des geplanten Ein-
zwischen Ärzten, Therapeuten und Pflegenden griffes für das eigene Leben und den Gesundheitszu-
misslang. In letzter Konsequenz führte dies immer stand müssen erfasst werden können, wobei die im
wieder zu folgenschweren therapeutischen Fehlent- Gesundheitswesen Tätigen wahrheitsgemäß, vollstän-
scheidungen und mündete in eine Unter-, Über- oder dig und verständlich auf Fragen des Betroffenen zu
9 Fehlversorgung (Geuter 2009, S. 14). antworten haben. Die Aufklärung des Patienten über
Der eingeläutete Paradigmenwechsel weg von der Art und Umfang der geplanten Maßnahmen sowie
paternalistischen hin zur partnerschaftlichen Bezie- der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken
hungsgestaltung der Akteure im Gesundheitswesen muss in einem persönlichen Gespräch erfolgen und
folgt dem ethischen Grundgedanken der Autono- kann nicht durch Formulare oder Aufklärungsbögen
mie und Verantwortung. Behandlung, Rehabilita- ersetzt werden (Bundesministerium für Gesundheit
tion und Pflege haben die Würde und Integrität des 2007, S. 8 ff.).
Patienten zu achten sowie sein Recht auf Selbstbe- Alle hier geschilderten Faktoren treffen auch
stimmung und Privatheit zu respektieren, immer mit oder gerade bei der Behandlung Sterbender zu. Ärzte
dem gemeinsamen Ziel, Krankheiten vorzubeugen, haben das Selbstbestimmungsrecht und die Würde
zu heilen oder zu lindern. Eine solche angestrebte Sterbender zu berücksichtigen. Sterbende können
Selbstbestimmung der Klienten bedarf allerdings über das Ausmaß diagnostischer und therapeuti-
ausreichender Kenntnisse und Kompetenzen, so dass scher Maßnahmen selbst entscheiden sowie auch
hier eine gelungene Information und Aufklärung die einen Behandlungsabbruch oder das Unterlassen
Voraussetzung für die Ausübung der Patientenrechte lebensverlängernder Maßnahmen verlangen. Eine
sein muss (Hüper u. Hellige 2015, S. 26). schriftlich verfasste Patientenverfügung als Wil-
Ziel der Informationsvermittlung und Beratung lensausdruck des Sterbenden ist dabei zwingend zu
ist daher der informierte Patient, der in der Lage ist, beachten, falls der Patient in der Situation selbst nicht
eine korrekte Einschätzung abzugeben zu Diagnose, mehr in der Lage ist, sich zu äußern (Bundesminis-
Art, Durchführung, Ziel, Nutzen und Risiken einer terium für Gesundheit 2007, S. 9).
Intervention. Zudem muss der Patient informiert sein
über Art, Risiken und Nutzen von Alternativen sowie > In den vergangenen Jahren hat das
über die Option, nichts zu tun (Schweizerische Aka- Selbstbestimmungsrecht des Patienten
demie der Medizinischen Wissenschaften 2013, S. 26). im Gesundheitswesen einen deutlich
Der Patient hat das Recht, Art und Umfang der medi- größeren Stellenwert eingenommen. Der gut
zinischen Behandlung selbst zu bestimmen. Er kann informierte Betroffene soll individuell über
eine medizinische Versorgung also grundsätzlich Art und Umfang der von ihm gewünschten
auch dann ablehnen, wenn sie ärztlich, therapeutisch Behandlungen entscheiden, diese werden
9.3 · Ganzheitliche Beratung
79 9
nicht mehr von Ärzten, Therapeuten oder » „Das echte Gespräch bedeutet, aus dem Ich
Pflegenden vorgegeben. Voraussetzung herauszutreten und an die Tür des Du zu
für die Ausübung des Selbstbestim- klopfen.“ (Albert Camus)
mungsrechtes ist eine umfassende
Beratung und Aufklärung über mögliche Professionelles Handeln respektiert die Autono-
Behandlungen, Risiken, Alternativen sowie mie des Patienten und hilft gegebenenfalls bei ihrer
deren Auswirkungen auf das eigene Leben, Wiederherstellung, während eine bevormundende
wobei die individuellen Fähigkeiten des Anwendung des vorhandenen Fachwissens nicht
Betroffenen zu berücksichtigen sind. zum Tragen kommt. Natürlich müssen Pflegende in
ihrer Beraterfunktion ihr Handeln durch ihr theo-
retisches Wissen lenken lassen, aber dennoch die
9.2 Merkmale einer professionellen konkrete Lebenspraxis des Klienten mit den vor-
Beratungsbeziehung handenen Stärken und Schwächen verstehen und
berücksichtigen. Die Beratung kann nur dann vom
Ein informierter Klient, der sein Selbstbestimmungs- Betroffenen als hilfreich erlebt werden, wenn das
recht in Bezug auf seine Gesundheit sicher und gut individuelle Körpererleben, das Krankheits- und
ausüben kann, muss vorab professionell und indivi- Selbstkonzept sowie die vorhandenen Bewältigungs-
duell beraten werden. Die zentrale Aufgabe von Pfle- strategien einbezogen werden (Hüper u. Hellige
genden in einer professionellen Beratungsbeziehung 2015, S. 138 f.).
ist es daher, den Betroffenen und ihrem sozialen Eine individualisierte Beratung beinhaltet
Umfeld dabei zu helfen, die Krankheit in das Leben demnach auch, den Blickwinkel des Betroffenen ein-
zu integrieren und somit den Alltag neu zu definieren zunehmen und die Beratung entsprechend anzupas-
und zu gestalten. Dabei fördern sie die individuellen sen, um eine größtmögliche Effektivität zu erreichen.
Stärken, unterstützen den selbstbestimmten Umgang Die Patienten sehen die Dinge häufig ganz anders
mit der Erkrankung und den im Gesundheitswe- oder mit anderen Schwerpunkten als die behandeln-
sen Tätigen und verhelfen ihnen auf diese Weise den Ärzte, Therapeuten oder Pflegekräfte. Selbst
dazu, Experten ihrer Krankheit zu werden. Hand- wenn die gleichen Worte verwendet werden, kann
lungsgrundlage für dieses kooperative Vorgehen ist der Klient darunter etwas völlig anderes verstehen
ein ausgewogenes Nähe-Distanz-Verhältnis. Diese als die professionell Tätigen (London 2010, S. 219).
Balance ermöglicht den Pflegenden, ihr berufliches
Experten- und Erfahrungswissen ins Verhältnis zum > Eine Beratung kann nur dann als hilfreich
Alltags- und Erfahrungswissen der Betroffenen und empfunden werden, wenn sie die individuelle
ihrer Angehörigen zu setzen. Der Beratungsprozess Situation, das Krankheits- und Selbstkonzept
wird also individuell und personenorientiert gestal- sowie die vorhandenen Bewältigungs-
tet (Hüper u. Hellige 2015, S. 137). strategien des Betroffenen und seines
sozialen Umfeldes mit einbezieht. Berater
müssen daher den Blickwinkel des Klienten
Professionelle Beratung einnehmen und die Beratung entsprechend
Professionelles Handeln im Beratungsprozess anpassen.
zeigt sich durch folgende Kennzeichen:
55 Zusammenhänge von Regelwissen und
Fallverstehen werden erkannt und gedeutet 9.3 Ganzheitliche Beratung
55 Autonomie der Lebenspraxis des Klienten
wird respektiert » „Gib einem Mann einen Fisch, und er wird
55 Analytische Distanz der professionell Tätigen einen Tag lang satt sein. Lehre einen Mann
55 Keine vollständigen Handlungsstandards, das Fischen, und er wird sein Leben lang satt.“
welche vorgegeben werden (Konfuzius)
80 Kapitel 9 · Haltung und Rollen in der Beratung

Die Zielgruppe für Beratung in der Pflege sind Men- Ansprechpartner zu finden. Die im Beratungsprozess
schen mit gesundheitlichen Problemen und deren festgelegten Ziele sollen gemeinsam mit dem Betrof-
Bezugspersonen. Beratung wird dabei im professio- fenen entwickelt werden, damit er aktiv in den Ent-
nellen Zusammenhang als Hilfeangebot im Sinne scheidungsprozess eingebunden ist und ein gemein-
der „Hilfe zur Selbsthilfe“ verstanden und hat die samer Behandlungsplan weiterverfolgt werden kann
Zielsetzung, kranke oder altersgebrechliche Men- (London 2010 30 ff.).
schen durch Kompetenzförderung beim Selbstma-
nagement und der Alltagsbewältigung zu unterstüt-
zen, um ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität Beratung in der Pflege
(wieder) zu erlangen (Petter-Schwaiger 2011, S. 66). Beratung in der Pflege bezieht sich in der
Für die Beratung in der Pflege heißt das vor Regel auf komplexe Situationen, welche
allem, den zu Beratenden respektvoll zu begegnen, einen individuellen Aushandlungsprozess
die Patientenperspektive und die Selbstbestimmung erforderlich machen. Sie soll den Betroffenen
in den Mittelpunkt zu stellen und den Betroffenen in die Lage versetzen,
Kompetenzen sowie die Fähigkeit zur Selbstsorge 1. sachgerechte und wohlüberlegte
zuzugestehen (Petter-Schwaiger 2011, S. 97). Entscheidungen treffen zu können,
Die pflegerische Beratung bezieht sich dabei 2. lebensnotwendige Selbstpflegekom-
in der Regel auf komplexe Situationen oder Pro­ petenzen zu entwickeln,
blemlagen, weshalb sie sich nicht auf ein einzelnes 3. Probleme zu erkennen und angemessen
Erklärungs- oder Handlungsschema reduzieren darauf zu reagieren,
9 lässt, sondern stets fallbezogen, lösungsorientiert 4. die Krankheit oder Behinderung in das
und nachhaltig sein muss (Petter-Schwaiger 2011, eigene Leben zu integrieren,
S. 121). Pflegekräfte in ihrer Funktion als Berater 5. größtmögliche Lebensqualität (wieder) zu
dürfen weder gleichgültig auftreten noch Manipu- erlangen,
lationen versuchen. Beratung ist vielmehr ein Aus- 6. die gemeinsam ausgehandelten Ziele
handlungsprozess und die Entdeckung der viel- für den weiteren Behandlungsplan
fältigen Möglichkeiten, wie das Leben individuell einzuhalten.
auch mit Krankheiten und Behinderungen gestaltet
werden kann, also ein Lernprozess für alle Beteilig-
ten (Koch-Straube 2008, S. 80). Es soll keine Kon-
zentration auf die Behandlung von Krankheiten oder 9.4 Symmetrische versus
Behinderungen oder deren unmittelbare körperbe- asymmetrische Beziehung
zogene Auswirkungen erfolgen, sondern die Begeg-
nung mit Menschen im Mittelpunkt stehen. Diese Obgleich die Beratungsbeziehung symmetrisch
Menschen, die mit einem für ihr Leben bedeuten- sein sollte, beinhaltet diese immer auch noch asym-
den Ereignis konfrontiert sind, z. B. einer unerwar- metrische Aspekte. Dies geschieht unter anderem
teten oder chronischen Krankheit, Behinderung oder daher, weil die Betroffenen und ihre Angehörigen
Altersgebrechen, können durch eine gute Beratung die Beratung häufig einfordern und somit der Pfle-
im Prozess der Auseinandersetzung und Integra- gekraft quasi einen Expertenauftrag erteilen. Zudem
tion in das eigene Leben unterstützt werden (Koch- unterscheiden sich die kommunikativen Möglichkei-
Straube 2008, S. 116). ten, da die Pflegekräfte über einen Informationsvor-
Die Beratung soll dem Adressaten ermöglichen, sprung verfügen. Außerdem wird die Pflegekraft in
sachgerechte und wohlüberlegte Entscheidungen der Regel für eine bestimmte Zeit für eine begrenzte
zu treffen und die lebensnotwendigen Selbstpfle- Leistung bezahlt, auch in ihrer Funktion als Berater.
gekompetenzen zu entwickeln. Gleichzeitig soll er Sie beginnt oder beendet daher meist die Gesprä-
in die Lage versetzt werden, Probleme zu erkennen che und kann unter Bezug auf institutionelle Zwänge
und angemessen darauf zu reagieren sowie Antwor- bestimmte Zuwendungen gewähren oder auch ent-
ten auf seine Fragen zu bekommen und die richtigen ziehen. Die Asymmetrie dieser Interaktion zeigt
9.5 · Haltung des Beraters
81 9
sich auch darin, dass Pflegende oft körperlich und und Mut aufkommen, um neue Perspektiven zu
geistig handlungsfähiger sind als ihre Klienten, sowie erproben und auch Veränderungen zuzulassen. Dies
in Körperhaltung, -position und Bekleidung (Hüper erfordert vom Berater die Fähigkeit, fremde Werte
u. Hellige 2015, S. 140 f; Matolycz 2009, S. 173). und das zunächst fremde Verhalten zu akzeptie-
Diese Asymmetrie der Möglichkeiten muss im ren und zu respektieren, auch wenn dies mit den
kommunikativen Handeln berücksichtigt werden. eigenen Erwartungen und der eigenen Einstellung
Bei der Interaktion sollen der Arzt, der Therapeut nicht übereinstimmt.
oder die Pflegekraft evidenzbasierte fachliche Infor- Ein Schlagwort für die benötigte Haltung des
mationen einfließen lassen, der Patient dafür seine Beraters ist die Empathie. Empathie wird dabei ver-
Werte, Einstellungen, Wünsche und Ressourcen. Die standen als bewusster und willentlicher Akt des
subjektive Meinung des Klienten sollte unbedingt Wahrnehmens und Verstehens aller Patienten, unab-
Teil der Entscheidungsfindung sein, um zu einer hängig von eventuell vorhandener Abneigung oder
Lösung zu gelangen, die individuell an ihn angepasst Zuneigung. Der innere Gesamtzustand des Betrof-
ist und von ihm akzeptiert wird (Geuter 2009, S. 14). fenen soll erfasst werden, was sowohl die Gedanken
Diese Gegenseitigkeit hilft, die Machtverteilung und Motive als auch seine Gefühle zur Problemlage
auszubalancieren, schafft gegenseitigen Respekt und umfassen kann. Sensibilität für die Wahrnehmung
ermöglicht eine produktive Kommunikation zwi- eines anderen Menschen und eine große Aufmerk-
schen Anbieter und Klient. Ein partnerschaftlicher samkeit aller Sinne sind dabei die Voraussetzung für
Interaktionsstil, der auf Symmetrie abzielt, bewirkt das empathische Verstehen (Petter-Schwaiger 2011,
außerdem anhaltende gesundheitliche Verbesserun- S. 98 f.).
gen beim Klienten (London 2010, S. 57). Die Haltung des Beraters sollte sich des Weiteren
durch Echtheit oder Kongruenz auszeichnen. Echt-
> Im Rahmen der Beratung sollte eine heit oder Kongruenz in einer Beratung meint dabei
symmetrische Interaktion angestrebt das authentische, unverfälschte Verhalten des Bera-
werden, was durch die vorgegebenen ters gegenüber seinem Klienten. Die Gefühle und
asymmetrischen Rahmenbedingungen das Erleben des Beraters sollen mit dem überein-
erschwert wird. Umso bedeutsamer ist es, die stimmen, was er äußerlich redet oder tut. Denken,
Sichtweise des Klienten aktiv in den Prozess Fühlen und Handeln müssen zusammenpassen. Dies
der Entscheidungsfindung einzubeziehen, bedeutet, sich nicht hinter einer Fassade zu verste-
um gemeinschaftliche Lösungsansätze zu cken und im Beratungsprozess achtsam gegenüber
erzielen. den eigenen Gefühlen zu bleiben (Petter-Schwaiger
2011, S. 99). Die Prinzipien der Empathie, Wertschät-
zung und Echtheit werden zusammengefasst EWE-
9.5 Haltung des Beraters Prinzip genannt und wurden schon ausführlicher in
7 Abschn. 7.4 beschrieben.
» „Eine erfolgreiche Beratung gelingt nur auf Im Beratungsprozess sollte man sich zudem auf
der Basis von Vertrauen und hierfür sind das die vorhandenen Fähigkeiten und Ressourcen kon-
Gefühl von Sicherheit sowie ein gewisses Maß zentrieren und den Blick auf das richten, was den
an Nähe und Wertschätzung nötig. Nimmt Klienten oder sein soziales Umfeld stärkt. Von Inte-
der Berater eine positive und akzeptierende resse sind weniger die Defizite und Einschränkun-
Haltung dem Patienten gegenüber ein, kann gen, sondern Kompetenzen und Entwicklungspoten-
dieser sich sicher fühlen, ohne Bedenken zu ziale. Dies kann unter dem Stichwort Empowerment
haben, auf Ablehnung oder Zweifel von Seiten zusammengefasst werden (Petter-Schwaiger 2011,
des Beraters zu stoßen.“ (Petter-Schwaiger S. 101). Diese Beratungshaltung wird auch koopera-
2011, S. 97) tiv-vernetzte Beratungshaltung genannt und wurde
detailliert in 7 Abschn. 7.5 dargestellt.
Die zu Beratenden sollen erfahren, dass sie so respek- Zu guter Letzt muss darauf geachtet werden, dass
tiert werden, wie sie sind. Nur so können Offenheit es Unterschiede zwischen dem von den Pflegenden
82 Kapitel 9 · Haltung und Rollen in der Beratung

vermuteten oder festgestellten Beratungsbedarf und


dem subjektiven Beratungsbedürfnis von Seiten des
Patienten oder seiner Bezugspersonen geben kann.
Dies gilt es zu erkennen und in Übereinstimmung zu
bringen, damit eine Beratung überhaupt stattfinden
kann (Petter-Schwaiger 2011, S. 104).

Praxistipp

Die Haltung des Beraters sollte gekennzeichnet


sein durch:
55 Wertschätzung, Offenheit
55 Empathie
55 Echtheit
55 Kongruenz
55 Empowerment

Literatur
9 Bundesministerium für Gesundheit und Bundesministerium
für Justiz (Hrsg) (2007) Patientenrechte in Deutschland.
Leitfaden für Patientinnen/Patienten und Ärztinnen/
Ärzte. Berlin
Geuter G (2009) Partizipative Entscheidungsfindung. Informa-
tionen teilen, gemeinsam entscheiden. In: Abt-Zegelin
A (Hrsg) Patientenorientierung und -autonomie fördern.
Der Informierte Patient. Lerneinheit 11. Certified Nursing
Education (CNE). Stuttgart, Thieme, S 14–15
Hüper C, Hellige B (2015) Professionelle Pflegeberatung und
Gesundheitsförderung für chronisch Kranke. Mabuse,
Frankfurt
Koch-Straube U (2008) Beratung in der Pflege. Huber, Bern
London F (2010) Informieren, Schulen, Beraten. Praxishand-
buch zur pflegebezogenen Patientenedukation. Huber,
Bern
Petter-Schwaiger B (2011) Pflegiothek: Beratung in der Pflege
für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Cornelsen, Berlin
Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
(Hrsg) (2013) Kommunikation im medizinischen Alltag.
Ein Leitfaden für die Praxis. Basel
83 10

Der „schwierige“ Patient in


der Beratung – welche Motive
oder Handlungsmuster
stecken dahinter?
Katja Sonntag, Christine von Reibnitz, Dirk Strackbein

10.1 Schattenseiten des Individualismus und der Autonomie – 84

10.2 Informationsflut – 85

10.3 Mögliche Probleme bei der Kommunikation – 85

10.4 Non-Compliance und ihre Ursachen – 89

10.5 Hilfreiches im Beratungsgespräch – 90

10.6 Einbezug des Umfelds in die Beratung – 92

Literatur – 92

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_10
84 Kapitel 10 · Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder Handlungsmuster stecken dahinter?

Alle bislang durchgeführten Studien zum Erfolg daher das Ziel im Beratungsprozess sein (Hüper u.
von Beratung kamen zu dem Ergebnis, dass Bera- Hellige 2012, S. 47). Der Begriff des Selbstmanage-
tung weniger kostet als sie an anderer Stelle einspart. ments verführt leicht dazu, die Schattenseiten
Im Durchschnitt brachte jeder in die Patientenbera- des Krankseins auszublenden und nur von einem
tung investierte Dollar eine Ersparnis von drei bis aktiven, umfassend informierten und gut gebilde-
vier Dollar (London 2010, S. 30). Obschon also nicht ten Patienten auszugehen. Viele Betroffene fühlen
nur der individuelle, sondern auch der wirtschaftli- sich aber überfordert, leiden unter Schmerzen oder
che Nutzen einer professionellen Beratung zweifels- anderen Symptomen und Nebenwirkungen. Sie
frei nachgewiesen ist, stößt die Beratung in der Praxis sind, zumindest zeitweise, nicht in der Lage, im
immer wieder an Grenzen. Im folgenden Kapitel soll Sinne des Selbstmanagements den Umgang mit ihrer
erläutert werden, welche Motive und Handlungs- Krankheit oder Behinderung zu planen, zu organi-
muster des Patienten dazu führen können, dass es sieren und zu kontrollieren (Hüper u. Hellige 2012,
zu Komplikationen im Kommunikations- und Bera- S. 60). Auch die Lernfähigkeit sowie der Bildungs-
tungsprozess kommt. stand können die Fähigkeiten zum Selbstmanage-
ment einschränken.
Eine weitere Folge der Individualisierung ist, dass
10.1 Schattenseiten des Patienten nunmehr zu Kunden und Konsumenten
Individualismus und der von Gesundheitsprodukten umdefiniert werden.
Autonomie Einher geht damit ein schleichender Prozess von
Regulierungstechniken und Denkweisen, in der
Immer mehr Patienten beklagen, dass sie sich in den die eigene Wahrnehmung und Beurteilung durch
Einrichtungen des Gesundheitswesens alleingelassen ein rationales, zweckorientiertes Wissen dominiert
10 fühlen, dass sie nicht mehr die Sicherheit und Gebor- wird. Selbstmanagement dient dann der Selbststeue-
genheit erfahren, die sie früher im Krankenhaus oder rung zur Erreichung der geltenden, also normier-
im Pflegeheim erlebten oder erwarteten. Sie fühlen ten, gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen. Leit-
sich auch allein gelassen mit dem im Verlauf ihrer linien, Standards und Richtwerte sind einzuhalten
Krankheit, des Älterwerdens oder Behindertseins beziehungsweise zu erreichen. Dem Patienten wird
auftauchenden Ängsten und deren Bewältigung die Verantwortung übertragen, durch eine geeig-
(Koch-Straube 2008, S. 50). Worauf beruhen diese nete Lebensweise für seine individuelle Gesundheit
Empfindungen? oder Gesundung Sorge zu tragen. Beratung wird zum
Unsere Gesellschaft wird zunehmend von Gesundheitsprodukt, mit dem sich Bedürfnisse nach
Werten wie Individualismus und Autonomie geprägt. Gesundheit und Pflege steuern lassen. Krankheit
Der einzelne Mensch in der Gesellschaft muss nun wird zum Gegenstand wirtschaftlicher Interessen
selbst die Entscheidungen zur eigenen Biografie und so zum Produktivitätsfaktor (Hüper u. Hellige
treffen und gleichzeitig auch die Verantwortung für 2012, S. 75).
seine Wahl tragen (Koch-Straube 2008, S. 50).
Zu Grunde gelegt wird immer ein Konzept eines > Die in unserer Gesellschaft dominierenden
Selbstmanagements, das zum Ziel hat, die krank- Werte Autonomie und Individualismus
heitsspezifischen Kompetenzen des Betroffenen führen dazu, dass der Einzelne selbst die
zu fördern und somit die Gesundheit zu stärken. Verantwortung für die Entscheidungen
Selbstmanagementkonzepte folgen dabei einem bezüglich seines Lebens trägt. Dieses
Idealbild von Betroffenen, die als aktiv Handelnde Konzept des Selbstmanagements geht
eigene Bewältigungsstrategien selbstverantwort- aber vom Idealbild eines gut informierten,
lich entwickeln und dann professionelle Unterstüt- gebildeten und aktiven Klienten aus, welcher
zung suchen, wenn das eigene Handeln an Grenzen in der Lage ist, selbstbestimmt zu handeln.
stößt. Eine Förderung dieser Kompetenzen, die vor Die negativen Aspekte des Krankseins sowie
allem den Erkrankten und seine Mitleidenden und individuelle Einschränkungen werden dabei
weniger die Krankheit in den Mittelpunkt rückt, soll schnell verdrängt.
10.3 · Mögliche Probleme bei der Kommunikation
85 10
10.2 Informationsflut Informationsquellen werden gemieden, weil profit-
orientierte, fehlerhafte oder interessengesteuerte
Mit Hilfe der modernen Medien haben alle Men- Informationen vermutet werden.
schen Zugang zu zahlreichen unterschiedlichen Trotz zahlreicher Informationsquellen schät-
Informationsquellen, welche eine Fülle von Gesund- zen Patienten offenbar weiterhin nichts mehr als
heitsthemen bereithalten. Als Beispiele seien hier das persönliche Beratungsgespräch – besonders
neben dem Internet kostenlose Zeitschriften wie im Krankenhaus. Außerdem folgen Patienten wei-
die Apothekenumschau erwähnt, auch in Fernseh- terhin dem Rat ihres Arztes, folgen Hinweisen von
sendungen sowie Zeitschriften werden fast immer Angehörigen oder Freunden und Bekannten, wenn
Fragen rund um Krankheit und Gesundheit auf- sie gesundheitsrelevante Entscheidungen zu treffen
gegriffen. „Es klingt paradox: Wie niemals zuvor haben (Schwenke 2009, S. 2 ff.). Dies hebt die Bedeu-
können sich Menschen über Gesundheitsfragen auf tung des Beratungsprozesses hervor.
allen medialen Kanälen informieren, und trotzdem
finden sie selten adäquate Ratschläge und Hilfe“ > Die dem Betroffenen zur Verfügung
(Schwenke 2009, S. 2). stehenden Informationen zu
In Umfragen geben Patienten dagegen weiterhin Gesundheitsfragen werden in ihrer
an, dass sie mehr über das gesundheitliche Versor- Bedeutung häufig überschätzt, denn Studien
gungssystem, vor allem über Kliniken und behan- haben ergeben, dass Patienten immer noch
delnde Ärzte wissen möchten. Sie empfinden das ver- das persönliche Beratungsgespräch suchen
fügbare Angebot keineswegs als ausreichend, obwohl sowie Ratschlägen aus dem persönlichen
aktuelle Gesetze gleichzeitig die Krankenhäuser dazu Umfeld folgen.
zwingen, transparenter und patientenorientierter zu
werden. So ist z. B. seit 2005 vorgeschrieben, dass
jede Klinik alle zwei Jahre einen Qualitätsbericht 10.3 Mögliche Probleme bei der
im Internet veröffentlichen muss. Er enthält Leis- Kommunikation
tungsdaten – z. B. Fallzahlen von Hauptdiagnosen –
und seit 2007 auch unabhängige Vergleichsdaten » „Das Missverständnis ist die häufigste Form
(Schwenke 2009, S. 2 f.). menschlicher Kommunikation.“ (Peter Benary)
Das Medium Internet wird dabei häufig über-
schätzt, denn es erreicht vor allem die jüngeren, Bei der Kommunikation und insbesondere im Bera-
eher gebildeten Menschen, welche aber normaler- tungsprozess können zahlreiche Probleme auftreten.
weise ohnehin mit einem besseren Gesundheitszu- Zunächst einmal wird häufig der verbale Anteil der
stand ausgestattet sind. Bevölkerungsgruppen, für Kommunikation überschätzt, obwohl in der Über-
die Informationen zur Gesundheit viel wichtiger mittlung der Botschaft die nonverbalen Elemente
wären, etwa alte Menschen, Migranten, Angehörige meist dominieren. Deswegen spielt die Beziehung zwi-
niedriger sozialer Schichten und chronisch Kranke schen den Kommunikationspartnern eine sehr große
werden durch das Internet kaum erreicht. Selbst die Rolle für den Erfolg der Kommunikation. Professio-
Personengruppen, die das Internet nutzen, tun sich nelle Kommunikation muss also in erster Linie Bezie-
schwer, aus der Flut von Informationen die für sie hungsarbeit sein und erst in zweiter Linie dem Über-
relevanten Informationen herauszufiltern. Die Fülle mitteln von Nachrichten dienen (Tewes 2010, S. 3).
an Informationen, Daten und Variablen überfor- Um Missverständnisse bei der Übermittlung von
dert die Nutzer und führt eher zu Frustrations- und Botschaften zu vermeiden, eignen sich Rückfragen.
Lähmungserscheinungen, anstatt dass die wichtigen Statt sich auf die eigene Interpretation zu verlassen,
Informationen herausgefiltert und genutzt werden. bittet der Berater den Gesprächspartner, ihm beim
Dennoch haben Umfragen gezeigt, dass Patienten Verstehen der Nachricht behilflich zu sein (Tewes
gesundheitsbezogene Informationsquellen durch- 2010, S. 21).
aus danach bewerten, ob sie ihnen vertrauenswür- „Störungen“ im Interaktions- oder Beratungs-
dig erscheinen oder nicht. Wenig vertrauenswürdige prozess sollten niemals ignoriert werden, denn sie
86 Kapitel 10 · Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder Handlungsmuster stecken dahinter?

werden in der Regel durch ein aktuelles Problem Pflegenden oder Betroffenen aufsteigen können. Die
hervorgerufen. Die aktive Beteiligung am Interak- Frage darf und soll dabei nicht sein, wie Anspan-
tionsprozess ist in diesem Moment nicht möglich, nung, Wut oder Ärger unterdrückt werden können,
vielmehr muss die Ursache der Störung direkt ange- da davon auszugehen ist, dass sie sich dann auf unter-
sprochen werden. Das Bedürfnis, diesen Störfaktor schwellige Weise ihren Weg nach außen bahnen und
zu bearbeiten, ist dem Klienten zunächst am dring- damit noch weniger kontrollierbar sind. Zudem leidet
lichsten. Erfahrungsgemäß lassen sich aktuelle Pro- auf diese Weise die Kongruenz des Beraters. Affektivi-
bleme häufig zügig lösen oder aber es kann auf ein tät und auch Gefühle des Unmuts gegenüber Situatio-
geeignetes Setting oder eine geeignete Person ver- nen, Umständen, auch Klienten oder Beratern dürfen
wiesen werden, die zur Problemlösung beitragen also bleiben, sollen aber in eine „verträgliche“, für alle
können (Matolycz 2009, S. 161). Seiten akzeptierbare Form gebracht werden. Das Aus-
Aggressionen (7 Der aggressive Patient) haben sprechen dieser Gefühle führt schon zu einer Ent-
mit Affekten und Empfindungen zu tun, die in lastung für alle Beteiligten (Matolycz 2009, S. 184).

Exkurs

Der aggressive Patient


Aggressive Patienten lösen in wollen Sie mir den Grund dafür Bei vielen nachvollziehbaren
uns häufig Mechanismen wie erklären?“). Gründen (z. B. lange Wartezeiten,
Gegenaggression, Verteidigung Aggressionen lassen sich im Rahmen Missverständnisse, Fehler des
oder Vermeidung von Kontakt aus. psychischer Störungen wahrnehmen Personals) können auch angemessene
Bei Pflegenden sollten alle drei (z. B. im Rahmen von Psychosen und ehrliche Entschuldigungen die
10 Verhaltensweisen unterbleiben, was oder Persönlichkeitsstörungen), Situation entschärfen.
manchmal viel Selbstbeherrschung und sie können bei psychisch Allerdings gibt es Grenzen im
und Reflexion erfordert. Wichtig gesunden Personen Ausdruck Umgang mit aggressiven Patienten:
ist es, in der jeweiligen Situation einer gegenwärtigen Auch als Pflegekraft kann man
die Perspektive des Patienten Überforderungssituation sachlich und freundlich zum Ausdruck
einzunehmen bzw. zu verstehen, oder von ausgesprochener bringen, dass man sich bestimmte
was ihn aufbringt. Auch das offene Hilflosigkeit sein. Durch Verhaltensweisen verbittet. Beispiele
Ansprechen der aggressiven Anerkennung der entsprechenden für verbale Interventionen im
Verhaltensweisen des Patienten Rahmenbedingungen und Umgang mit aggressiven Patientinnen
kann hilfreich sein („Ich merke, auslösenden Faktoren lassen sich zeigt . Tab. 10.1.
dass Sie sehr gereizt sind. Vielleicht die meisten Aggressionen klären.

Auch eine unerwartete oder ausbleibende Reaktion und notwendigerweise auch mit ständigen Korrektur-
kann den Kommunikationsprozess stören. Stellt sich versuchen zu tun. Das gilt z. B. im Zusammenhang
in einer kommunikativen Situation beim Gegen- mit Nähe- und Distanzstufen, Blicken, Worten, Gesten
über ein Verhalten, das in unserem Kulturkreis quasi und Mimik (Matolycz 2009, S. 198).
„erwartet“ wird, nicht ein oder tritt an seine Stelle ein Der Umgang mit Beschwerden stellt die im
völlig anderes, kann das negative Empfindungen bei Gesundheitswesen Tätigen vor besondere Heraus-
uns auslösen. Im ungünstigsten Fall ist das der Beginn forderungen, denn viel zu häufig werden diese als
einer Spirale gegenseitiger Missverständnisse, die auch persönlicher Angriff oder Missachtung der geleis-
das Erreichen außerkommunikativer Ziele scheitern teten Arbeit gesehen. Der Beschwerdeführer drückt
lassen können. Besonders häufig tritt dieses Phäno- mit seiner Beschwerde eine Form von Unzufrieden-
men auf, wenn im Interaktionsprozess Vertreter unter- heit aus und hat meist eine bestimmte Forderung an
schiedlicher Kulturen in Aktion treten. Interkulturelle die Institution, es geht seltener um konkrete Perso-
Kommunikation hat daher immer mit Beobachtung, nen. Wichtig ist, dass, wer Beschwerden entgegen-
Interpretationsversuchen, mit Ausprobieren, Deuten nimmt, in der Lage ist, sie sowohl von seiner Arbeit als
10.3 · Mögliche Probleme bei der Kommunikation
87 10

. Tab. 10.1  Verbale Interventionen im Umgang mit aggressiven Patienten

Ratsames Verhalten Beispiele/Folgen

Frühzeitiges Reagieren auf aggressive Tendenzen „Sie wirken sehr unzufrieden, stört Sie etwas konkret?“
wie Gereiztheit, häufige Unmutsäußerungen; mit Patient kann Beweggründe erläutern, angestauter Ärger wird
dem Patienten darüber sprechen abgebaut.
Stets auf angemessene Information der Patienten „Möchten Sie noch irgendetwas zu der Behandlung wissen?“
achten Unwissenheit oder das Gefühl, dass etwas verheimlicht wird,
schürt Aggressionen.
Einverständnis des Patienten vor jeder Maßnahme „Ich würde Ihre Wunde jetzt gerne nochmals anschauen, geht
einholen das?“ oder „Sollen wir nicht zu Ihrem eigenen Schutz, damit
Sie diese Nacht nicht noch einmal aus dem Bett fallen, einen
Bettrahmen anbringen?“
Nicht gegen den Willen/Widerstand des Patienten „Ich verstehe, dass Sie Angst vor der Untersuchung haben, aber
handeln, sondern von der Notwendigkeit es ist für die Behandlungsplanung sehr wichtig.“
bestimmter Maßnahmen überzeugen Bei Nichtgelingen das weitere Vorgehen mit Angehörigen, Team
und Leitung absprechen.
Dem Patienten zuhören und versuchen zu „Ich würde gerne verstehen, was Sie so stark belastet. Ich
verstehen, was ihn innerlich unter Druck setzt überlege, wie ich Ihnen helfen kann, damit Sie damit besser klar
kommen.“
„Ja-aber-Gespräche“ und Debatten mit dem „OK, ich sehe, dass Sie sich sehr aufregen, ich will versuchen zu
Patienten vermeiden, vor allem wenn dieser verstehen, worum es überhaupt geht. Was ist passiert, wer oder
bereits erregt oder verärgert ist. Möglichkeiten was ärgert Sie derart?.“
schaffen, dass der Patient dem Ärger verbal Luft Den Patienten in seinen Äußerungen nicht sofort unterbrechen
machen kann. oder die eigene Stimme erheben.

auch seiner Person zu trennen. Dies gilt besonders für oder vollkommen andersartig, entsteht in diesem
den Bereich der Pflege, da sich hier sowohl Klienten Moment ein realer Konflikt im Patienten, welcher
als auch deren Angehörige in Ausnahmesituationen den Gesprächsverlauf maßgeblich beeinflussen kann
befinden können, die wieder Gefühle der Ohnmacht (Schweizerische Akademie der Medizinischen Wis-
und Verzweiflung bedingen – was sich (mitunter) senschaften 2013, S. 14). In anderen Fällen sind die
in einer bestimmten und sehr emotionalen Art der Informationen, die der Gesundheitsexperte für nötig
Beschwerdeführung bemerkbar machen kann. Dem hält, möglicherweise nicht dieselben, die der Patient
Beschwerdeführer muss von Beginn an vermittelt für nötig hält, so dass hier zunächst ein Abgleich
werden, dass sein Anliegen angekommen ist und erfolgen muss (London 2010, S. 223).
bearbeitet wird. Wird ihm dieses Gefühl nicht vermit-
telt, wird er seine Aufmerksamkeit vermutlich wei- > Kommunikations- und Beratungs-
teren Unmutsäußerungen widmen und an anderer prozesse werden durch vielerlei Faktoren
Stelle erneut versuchen, seine Anliegen anzubringen. negativ beeinflusst, unter anderem durch
Eine negative Spirale wird in Gang gesetzt, welche die vorhandene Erwartungen und die Beziehung
Fronten zunehmend verhärten lässt, ohne der Lösung der Interaktionspartner. Der nonverbale
näher zu kommen (Matolycz 2009, S. 246). Anteil am Kommunikationsprozess wird
Manchmal entstehen Konflikte im Gespräch dabei häufig unterschätzt.
auch auf Grund von Divergenzen zwischen Erwar-
tungen und Realität. Hat z. B. ein Patient die Erwar- Eine erfolgreiche Kommunikation bedeutet mehr
tung, vom Arzt eine bestimmte positive Diagnose zu als nur ein sachliches Verstehen. Menschen können
erhalten, die tatsächliche Diagnose ist aber negativ kommunikative Situationen erleben, in denen sie
88 Kapitel 10 · Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder Handlungsmuster stecken dahinter?

Der Situation

entsprechend nicht entsprechend

stimmig daneben
gemäß

Mir selbst Stimmige


Kommunikation

Nicht
gemäß angepasst verquer

. Abb. 10.1  Vier-Felder-Schema stimmiger Kommunikation nach Schulz von Thun

zwar sachlich verstanden werden, sich aber trotzdem Erkrankung als ein ganzheitliches Geschehen einzu-
hochgradig unwohl oder missverstanden fühlen. ordnen und sehen diese eher als reparaturbedürftigen
Diese Unstimmigkeit kann eintreten, wenn man zwar Defekt an. Es kann auch sein, dass der Patient Gedan-
in einer Situation „funktionieren“, sich aber gefühls- ken und Gefühle nicht mit fremden Personen austau-
mäßig verstellen muss. Schulz von Thun (2010) ver- schen möchte oder versucht, die Krankheit mit ihren
fasste in Kombination mit seinem berühmten Kom- Folgen zu verdrängen. In jedem Falle ist die Ableh-
10 munikationsquadratmodell auch das Konzept der nung für den Augenblick zu akzeptieren, ohne den
Stimmigkeit. Dieses Konzept misst eine gelingende Beratungsprozess ganz aufzugeben. Vielleicht bedarf
und erfolgreiche Kommunikation nicht als bloßes es nur eines passenderen Moments oder zunächst
Funktionieren auf der Sachebene, sondern bezieht eines Vertrauensaufbaus, bis die Kommunikation
verschiedene Ebenen von Kommunikation ebenfalls doch zugelassen wird (Koch-Straube 2008, S. 185).
mit ein. Das Konzept besagt, dass eine Kommunika- Der Beratungsprozess bedeutet immer ein Lernen
tion dann stimmig ist, wenn sie personell und situa- für die Betroffenen. Während Kinder erwarten, dass
tiv angemessen ist. Die Gesprächspartner müssen das die Erwachsenen ihnen vorgeben, was sie lernen
Gefühl haben, der Situation entsprechend zu handeln sollen, weil sie den späteren Nutzen des Gelernten
und trotzdem „sie selbst“ bleiben zu können. Ein noch nicht einordnen können, verhält sich dies bei
Zusammenhang zur geforderten Kongruenz bei der Erwachsenen anders. Erwachsene wissen im Gegen-
Kommunikation ist hier ersichtlich. Diese beiden satz zu Kindern genug, um ihr Leben eigenständig
Dimensionen stellt Schulz von Thun in einer Matrix zu führen. Nur wenn sie zu der Auffassung gelangen,
dar, welche die vier Varianten von erfolgreicher oder dass die betreffenden Informationen relevant für sie
weniger erfolgreicher Kommunikation abbildet sind, werden sie das Bedürfnis entwickeln, sich die
(. Abb. 10.1) (Schweizerische Akademie der Medi- neuen Kenntnisse anzueignen. Erwachsene wollen
zinischen Wissenschaften 2013, S. 15). daher von Anfang an wissen, warum die Inhalte der
Pflegekräfte werden in ihrer Beraterfunktion Beratung von Bedeutung für sie sind. Widerspre-
immer wieder auf Klienten treffen, welche aus unter- chen sie dem, was die Klienten wissen und glauben,
schiedlichsten Gründen eine Beratung durch Pfle- wird es noch schwerer, sie von der Notwendigkeit des
gende oder andere professionell im Gesundheits- Lernens zu überzeugen. Erwachsene brauchen also
wesen Tätige ablehnen. Sie sind nicht bereit oder in eine individualisierte Beratung, deren Sinn sie von
der Lage, auf die Angebote einzugehen. Eine akute, Beginn an überzeugt (London 2010, S. 77).
lebensbedrohliche Situation bindet vielleicht alle für . Abb. 10.2 zeigt mögliche Hindernisse beim
das Überleben des Organismus notwendigen Kräfte Klienten, die einem in der Beratung begegnen
oder Patienten sind nicht gewohnt oder willens, ihre können.
10.4 · Non-Compliance und ihre Ursachen
89 10

Angst
Sprach- Hilf-
probleme losigkeit
Medikamenten-
Schmerzen nebenwirkungen

Hoffnungs-
losigkeit Mögliche
Sorgen
Hindernisse
beim
Situation
Klienten leugnend
Lern-
unwillig
Einsamkeit
Ablenkung

Des-
orientierung
Einschränkungen beim
Sehen oder Hören Aufregung
Wut

. Abb. 10.2  Hindernisse in der Beratung aus Sicht des Patienten (London 2010, S. 75)

> Eine erfolgreiche Kommunikation ist auch also, dass der Patient mit der Therapie oder der Ver-
in sich stimmig. Dies beinhaltet nicht sorgung nicht einverstanden ist. Dieses Nichteinver-
nur das Verstehen auf der Sachebene, standensein wird allerdings oft nicht verbal geäußert,
sondern ebenso die Echtheit der sondern zeigt sich in der Verweigerung der geplan-
Gesprächspartner während der Interaktion. ten Maßnahmen. Eine besonders hohe Non-Com-
Auch eine Ablehnung der Beratung aus pliance zeigt sich im Umgang mit Arzneimitteln.
unterschiedlichen Gründen ist zu akzeptieren, So spricht man vom „Parkplatzeffekt“, wenn die
wobei insbesondere Erwachsene vom Medikamente direkt nach Erhalt entsorgt werden,
persönlichen Gewinn durch den Lernprozess von „drug holiday“, wenn Patienten sich zwischen-
von Beginn an überzeugt sein müssen. durch eine Arzneimittelpause gönnen, oder vom
„Zahnputzeffekt“, wenn die Medikamente kurz vor
einem Arztbesuch wieder regelmäßig genommen
10.4 Non-Compliance und ihre werden. Bei chronisch Kranken in den Industrie-
Ursachen nationen liegt die Compliance-Rate bei lediglich
50%. Interessanterweise gibt es selbst bei aufgeklär-
Mit Compliance ist die Einwilligung des Patienten ten Patientengruppen wie Ärzten oder Pflegefach-
in den Behandlungsablauf gemeint, dessen Einhal- kräften eine Non-Compliance von 20%. Die Folgen
tung er aktiv unterstützt. Non-Compliance bedeutet der Non-Compliance sind nicht nur medizinisch
90 Kapitel 10 · Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder Handlungsmuster stecken dahinter?

relevant, sondern haben auch enorme gesundheits- Des Weiteren müssen der Patient und sein sozia-
ökonomische Auswirkungen. Es kommt zu schlech- les Umfeld in den Entscheidungs- und Behand-
ten Behandlungsergebnissen, Unter-, Fehl- oder lungsprozess einbezogen werden. Die Betroffenen
Überversorgungen sowie zu steigenden Kosten im müssen gut und verständlich über alle geplanten
Gesundheitswesen (Tewes 2010, S. 62). Maßnahmen informiert werden, Wahlmöglichkei-
Eventuell hängt diese große Ablehnung gegen- ten und Alternativen müssen aufgezeigt werden.
über der vereinbarten Behandlung unter anderem Schriftliche Patientenleitlinien, welche die geplan-
mit dem erlebten Verlust der Selbstkontrolle zusam- ten Maßnahmen einfach, aber ausdrücklich erklä-
men. Das Erleben, Dinge, die den eigenen Körper ren, unterstützen dabei die Nachhaltigkeit des
oder das eigene Leben betreffen, nicht selbst steuern Beratungsgesprächs. Ausgehandelte Therapiepläne
zu können, ruft oftmals Gefühle von Hilflosigkeit sollten wie ein Vertrag angesehen und von allen
oder Abhängigkeit wach. Solche Emotionen sind Vertragspartnern unterzeichnet werden, um ihre
nicht nur wenig hilfreich im Gesundungs- oder Bedeutung klarzustellen. Auch einfache Maßnah-
Genesungsprozess, sondern äußerst kontraproduk- men wie die Verordnung von Kombinations- an
tiv. Sie können zu Ablehnung oder Verweigerung Stelle von mehreren Einzelpräparaten fördern die
führen (Tewes 2010, S. 61). Compliance, da sie geringere Auswirkungen auf das
Natürlich führen auch eine würdevolle Behand- Leben des Betroffenen haben. Zu guter Letzt unter-
lung sowie der Miteinbezug des Klienten in die Ent- stützen auch Versorgungsformen wie Case Manage-
scheidungsfindung zu einer gestiegenen Compliance, ment oder Disease Management die Compliance,
wie mehrere Untersuchungen gezeigt haben (Tewes da der Betroffene hier intensiv über einen länge-
2010, S. 46). ren Zeitpunkt hinweg durch feste Ansprechpartner
Das Konzept der Adherence fasst zusammen, betreut wird (Tewes 2010, S. 63).
10 wie komplex der Patient betrachtet werden muss, um
eine größtmögliche Compliance zu erzielen. Es geht > Die Compliance gerade bei chronisch
von einem mündigen Patienten aus, mitsamt seinen Erkrankten liegt Studien zufolge bei gerade
Ambivalenzen, seiner Biografie und seinem indivi- einmal 50%, während das Nichteinhalten
duellen Konzept von Gesundheit und Krankheit. der Behandlungspläne sowohl zu individuell
Unterschieden werden die folgenden fünf Dimen- schlechten Behandlungsergebnissen als auch
sionen (Schulz 2009, S. 10 ff.): zu Fehlversorgungen und steigenden Kosten
1. Sozioökonomische Dimension (Bildungsstand, im Gesundheitssystem führt. Der Betroffene
wirtschaftliche Situation, sozialer Status, Alter) muss als komplexes Individuum inmitten
2. Dimension Behandlungsteam und seines sozialen Umfelds betrachtet werden
Gesundheitssystem (Verfügbarkeit, und bestmöglich einbezogen und informiert
Beziehungsqualität) werden, um eine gute Compliance und
3. Patientenbezogene Faktoren (Krankheits- damit gute Behandlungserfolge erreichen zu
wissen, Vertrauen in eigene Fähigkeiten, können.
Glaube an Therapieerfolg)
4. Krankheitsbedingte Verfassung des Patienten
(Gesundheitszustand) 10.5 Hilfreiches im
5. Therapiebezogene Faktoren (Nebenwirkungen, Beratungsgespräch
Auswirkungen im Alltag)
Im Beratungsgespräch eignen sich einige Gesprächs-
Im Gesundheitswesen Tätige können also einige techniken besonders gut für die Kommunikation mit
Maßnahmen ergreifen, um den Grad der Ein- dem Ratsuchenden.
willigung ihrer Klienten in die therapeutischen Paraphrasen sind kurze Wiedergaben dessen,
Maßnahmen zu erhöhen. Unter anderem muss was der Gesprächspartner gesagt hat. Sie helfen,
dem Betroffenen mit Respekt begegnet werden zeitgerecht Missverständnisse zu vermeiden, können
und seine Bedürfnisse müssen ausgelotet werden. das Gesagte strukturieren und sind somit für alle
10.5 · Hilfreiches im Beratungsgespräch
91 10
Gesprächsteilnehmer eine Orientierungshilfe. Sie Über die verschiedenen Gesprächstechniken
zeigen außerdem, dass man aufmerksam zuhört. hinaus ist der Zeitpunkt der Beratung mitentschei-
Des Weiteren empfiehlt es sich, das eigene Verstehen dend für deren Erfolg. Der ideale Moment zur Bera-
durch die Verbalisierung der (vermuteten) Gefühle tung liegt dann vor, wenn sich die Lernbereitschaft
des Gegenübers zum Ausdruck zu bringen. Dazu des Klienten auf dem Höhepunkt befindet. Wird
bedarf es aber der Empathie, des einfühlsamen Ver- die Beratung auf die Bereitschaft des Klienten abge-
stehens des anderen, wozu man sich auf den Interak- stimmt, ist der Lerneffekt am größten. In einem päd-
tionspartner einlassen muss. Eine weitere Gesprächs- agogisch günstigen Moment ist der Klient aufnah-
technik ist das Wiederholen. Hier geht es aber nicht mefähig, bereit zur Veränderung und in der Lage zu
allein um eine bloße Wiedergabe der Wörter des handeln. In solchen Momenten verspüren Patienten
anderen. Vielmehr soll versucht werden, den Sinn- oder Angehörige ein bestimmtes Bedürfnis und sind
gehalt, das, was ihn beschäftigt, was hinter seinen daher motiviert, etwas zu ändern, um dieses Bedürf-
Äußerungen, Gesten oder seinem Verhalten steht, zu nis zu befriedigen. Motivation beginnt mit einem
erspüren und auszusprechen. Dieses In-den-Raum- kognitiv-affektiven Stadium. Das Gefühl, keine Kon-
Stellen entlastet gleichzeitig, weil die Gefühle nun trolle zu haben, erzeugt das Bedürfnis, sich mit der
offengelegt sind (Matolycz 2009, S. 94). Ergänzend Frage „Warum passiert das gerade mir?“ auseinander
dazu soll die Methode des Spiegelns dem Gegenüber zu setzen. Der erste Schritt zur Wiedererlangung der
dazu verhelfen, sich verstanden und angenommen zu Kontrolle und zur Befriedigung des entsprechenden
fühlen, indem seine (auch negativen) Gefühle quasi Bedürfnisses besteht im Verstehen: „Was geschieht
bestätigt werden (Matolycz 2009, S. 100). Zusam- mit mir?“ Das Bedürfnis, die eigene Lage zu begrei-
mengefasst werden diese Gesprächstechniken auch fen, motiviert den Betroffenen zum Lernen (London
WWSZ-Techniken genannt, welche in 7 Abschn. 7.3 2010, S. 78 ff.).
ausführlich erläutert werden. Eine interaktive Edukation zeichnet sich dabei
An dieser Stelle sei auch ein Hinweis auf die hohe dadurch aus, dass der Berater, während er Patien-
Bedeutung der Kongruenz und Echtheit des Bera- ten und ihren Familien Informationen vermittelt,
ters gegeben, wie schon in 7 Abschn. 9.5 beschrie- kontinuierlich Rückmeldung einholt, um sicherzu-
ben wurde. Ein Berater ist nur dann in sinnvoller stellen, dass die Informationen verstanden werden,
Weise kongruent, wenn er sich seinen Gefühlen und korrekt sind und sich praktisch anwenden lassen. Es
Affekten nicht unkontrolliert überlässt, sondern sie müssen zudem Verbindungen zwischen den neuen
in „verträglicher Form“ lebt. Dabei ist die Ich-Bot- Gedankengängen und bereits Bekanntem hergestellt
schaft eine Hilfe: Indem die eigenen Gefühle an- und werden, wenn Lernfortschritte erzielt werden sollen.
ausgesprochen bzw. auch gezeigt werden, wird nicht Außerdem sollten die neuen Erkenntnisse möglichst
die Person des Gegenübers zum Gegenstand dessen, sofort zur Anwendung kommen, um das Gelernte
was ausgesendet wird, sondern das, was ihr Verhal- zu bekräftigen und das Selbstvertrauen des Klien-
ten in einem selbst auslöst. Kongruenz, also Echt- ten zu festigen (London 2010, S. 100 ff.). Dies ist in
heit, kann Pflegenden helfen, innerlich am Interak- der ­Cognitive Load Theory begründet, welche in
tionsgeschehen beteiligt zu bleiben; sie kann zugleich 7 Abschn. 6.2 näher erläutert wurde.
Verständnis ermöglichen und dient auch der eigenen
Entlastung. Sich in einem Gespräch auf Jemanden > Verschiedene Gesprächstechniken sind
einzulassen bedeutet nämlich auch immer, sich mit hilfreich für ein erfolgreiches Beratungs-
ihm in gewisser Weise zu identifizieren und die Welt gespräch. Des Weiteren muss aber auch
ein Stück weit mit seinen Augen zu sehen (Matolycz der richtige Zeitpunkt für eine Beratung
2009, S. 108, 122). gefunden werden, da Patienten in einem
Neben dem EWE-Prinzip (7 Abschn. 7.4) und den „pädagogisch günstigen Moment“ selbst ein
WWSZ-Techniken (7 Abschn. 7.3) ist besonders beim Bedürfnis verspüren, welches sie zum Lernen
Umgang mit emotionalen Äußerungen von Patien- motiviert. Des Weiteren ist es entsprechend
ten das in 7 Abschn. 7.2 beschriebene NURSE-Modell der Cognitive Load Theory günstig, nicht
von Bedeutung. zu viele Informationen gleichzeitig zu
92 Kapitel 10 · Der „schwierige“ Patient in der Beratung – welche Motive oder Handlungsmuster stecken dahinter?

vermitteln, welche an schon Bekanntes Literatur


anknüpfen und möglichst sofort zur
Hüper C, Hellige B (2012) Kooperative Pflegeberatung und
Anwendung kommen sollten.
Beratungsqualität. Mabuse, Frankfurt
Koch-Straube U (2008) Beratung in der Pflege. Huber, Bern
London F (2010) Informieren, Schulen, Beraten. Praxishand-
10.6 Einbezug des Umfelds in die buch zur pflegebezogenen Patientenedukation. Huber,
Beratung Bern
Matolycz E (2009) Kommunikation in der Pflege. Springer,
Heidelberg
Patienten oder Pflegebedürftige können nicht autark Schulz von Thun F (2010) Miteinander reden. Rowohlt, Berlin
betrachtet werden, vielmehr sind sie Teil eines sozia- Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften
len Umfeldes, welches in den Beratungsprozess ein- (Hrsg) (2013) Kommunikation im medizinischen Alltag.
bezogen werden muss. Angehörige von Klienten der Ein Leitfaden für die Praxis. Basel
Schwenke S (2009) Was wollen Patienten wissen? In: Abt-Ze-
Pflege sind gerade im Bereich der (geriatrischen)
gelin A. (Hrsg) Patientenorientierung und -autonomie
Langzeitpflege wichtige Interaktionspartner, weshalb fördern. Der Informierte Patient. Lerneinheit 11. Certified
es von Bedeutung ist, sie von Anfang an nicht als Nursing Education (CNE). Thieme, Stuttgart, S 2–5
„Anhängsel“, sondern als Personen wahrzunehmen, Tewes R (2010) „Wie bitte?“ Kommunikation in Gesundheits-
mit denen es ebenso in einen Beziehungsprozess ein- berufen. Springer, Heidelberg
zusteigen gilt wie mit dem Klienten selbst. Das ist
vor allem dann der Fall, wenn es sich um sehr nahe
Angehörige handelt, die häufig zu Besuch kommen.

» „Der Beginn einer solchen Interaktion ist


10 so wichtig wie häufig auch problematisch.
Angehörige, die ihre Partner oder ihr Elternteil
ins Pflegeheim „begleiten“, können eine Menge
unterschiedlicher Empfindungen zur gleichen
Zeit haben: Erleichterung, Schuldgefühle,
Angst allein zu sein und viele mehr.“ (Matolycz
2009, S. 236)

Die Kooperation und Einbeziehung pflegender


Angehöriger, Information, Aufklärung und Anlei-
tung setzt eine Veränderung des Blickwinkes voraus:
Es erfordert, sich nicht allein auf den Patienten zu
konzentrieren, sondern ihn als Teil seines sozialen
Umfeldes und ganzheitlich zu begreifen. Angehörige
als Mitbetroffene sind ebenso in einer Ausnahmesi-
tuation und ihr Verhalten ist vielleicht unverständ-
lich und manchmal völlig unvernünftig.

> Betroffene können niemals allein betrachtet


werden, sondern immer als Bestandteil
ihres sozialen Umfeldes, welches in den
Beratungsprozess eingebunden werden muss.
93 III

Erfolgreiche, patienten-
orientierte Beratung
in verschiedenen
Fallbeispielen
Kapitel 11 Beratung von Menschen mit Demenz und ihren
Angehörigen – 95
Katja Sonntag

Kapitel 12 Beratung von Menschen mit chronischen


Wunden – 107
Anette Skowronsky, Christine von Reibnitz

Kapitel 13 Beratung von Menschen mit Diabetes


mellitus – 123
Katja Sonntag

Kapitel 14 Beratung von Patienten mit chronischen


Schmerzen – 135
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

Kapitel 15 Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung –


Vermittlung von Fähigkeiten an die
Auszubildenden – 147
Katja Sonntag
Nachdem in den vorangegangenen Kapiteln auf die Grundlagen für eine gute Kommunikation sowie
eine patientenorientierte Beratung eingegangen wurde, werden nun verschiedene Fallbeispiele vor-
gestellt. Diese sollen die vorher beschriebenen Prinzipien und Tipps in realistischen Praxissituationen
zeigen, um dem Leser den Theorie-Praxis-Transfer zu erleichtern. Die Praxisbeispiele umfassen unter-
schiedliche Settings und Klienten, damit ein breites Spektrum abgebildet wird. Konkret beziehen
sich die Beispiele auf die Krankheiten Demenz und Diabetes, des Weiteren wurden ein Patient mit
chronischen Schmerzen sowie drei Personen mit komplexer Wundversorgung ausgewählt. Im letz-
ten Beispiel wird eine Praxisanleitung im Rahmen der Ausbildung geschildert. In den Kapiteln wird
immer zunächst das erforderliche Hintergrundwissen zur jeweiligen Krankheit beschrieben, bevor
auf die Besonderheiten bei der Beratung in diesem Kontext eingegangen wird. Es folgt ein konkret
beschriebenes Fallbeispiel, welches mit einer Checkliste für die Beratung im jeweiligen Fall endet.
95 11

Beratung von Menschen


mit Demenz und ihren
Angehörigen
Katja Sonntag

11.1 Hintergrundwissen zur Demenz – 96

11.2 Beratung für Menschen mit Demenz und ihre


Angehörigen – 99

11.3 Fallbeispiel Beratung bei Demenz – 101

Literatur – 106

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_11
96 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

11.1 Hintergrundwissen zur Demenz 3. Chorea Huntington


4. Morbus Parkinson
In Deutschland leben heute ca. 1,4 Millionen Men-
schen mit einer Demenz (Bundesministerium Mit rund zwei Dritteln aller Fälle ist die Alzhei-
des Inneren 2013, S. 29). Während gleichzeitig die mer-Krankheit die häufigste Form der Demenz.
Gesamtbevölkerungszahl sinken wird, ist bis zum An zweiter Stelle folgen die vaskuläre Demenz
Jahr 2050 mehr als eine Verdoppelung der Erkrank- sowie Mischformen. Bei der vaskulären Demenz
ten zu erwarten, wenn es keinen Durchbruch bei sind Durchblutungsstörungen im Gehirn für die
Symptome verantwortlich. Bei vielen Betroffenen
der Therapie geben wird (Berlin-Institut 2011, S. 6).
Exakte Zahlen liegen für viele Länder, unter anderemerfolgt in der Praxis keine Differenzialdiagnostik,
Deutschland, nicht vor, da Demenzerkrankungen um den genauen Typ der demenziellen Erkrankung
nicht meldepflichtig sind und nicht in bestimmten festzustellen.
Statistiken erfasst werden. Dennoch nehmen die Bei den sekundären Demenzen, insgesamt ca.
Auswirkungen dieser Erkrankung für das Gesund- 10% aller Demenzfälle, steht der geistige Verfall in
heitssystem und für die gesamte Gesellschaft fort- Folge einer primär anderen organischen Erkrankung
laufend zu. im Vordergrund, wie z. B. einer Hirnverletzung oder
Mit dem Begriff der Demenz wird ein ganzes einem Hirntumor. Auch Medikamente und Gifte sowie
Bündel von Erkrankungen mit verschiedenen Ursa- starke Mangelerscheinungen können zu einer sekun-
chen und teilweise unterschiedlichem Erscheinungs- dären Demenz führen. Im Gegensatz zu einer primä-
bild bezeichnet. Für die meisten Formen existieren ren Demenz kann eine sekundäre Demenz je nach zu
bislang keinerlei Heilungs- sowie nur begrenzte Grunde liegender Ursache eventuell geheilt werden
Behandlungsmöglichkeiten (Ballsieper et al. 2012, (D’Arrigo 2011, S. 23 ff.; Sonntag et al. 2015, S. 5).
S. 92). Die Wahrscheinlichkeit, an einer Demenz zu
erkranken, steigt nach dem 65. Lebensjahr steil
11 » „Der Begriff „Demenz“ leitet sich vom an, sie verdoppelt sich ungefähr alle fünf Jahre.
lateinischen Wort „dementia“ ab und bedeutet Auf Grund der höheren Lebenserwartung erkran-
wörtlich „ohne Geist/Verstand“. Er steht für ken daher mehr Frauen als Männer (Berlin-Insti-
Beeinträchtigungen des Gedächtnisses tut 2011, S. 6, 13). Somit steht die Demenz an erster
und anderer höherer Hirnfunktionen wie Stelle der altersabhängigen Erkrankungen und wird
Orientierung, Sprache und Lernfähigkeit, die mit zunehmender Lebenserwartung immer mehr
so schwerwiegend sind, dass den Betroffenen Menschen treffen (Füsgen 2008, S. 11).
die Bewältigung alltäglicher Angelegenheiten In der International Statistical Classification of
nicht mehr möglich ist und sie somit hilfe- Deseases, 10th revision (ICD-10) wurde die Demenz
und pflegebedürftig werden.“ (Sonntag et al. einheitlich mit folgenden Kriterien definiert (Deut-
2015, S. 5) sches Institut für Medizinische Dokumentation und
Information 2016):
Das Bewusstsein ist dabei nicht getrübt (Berlin-­ 1. Abnahme des Gedächtnisses und anderer
Institut 2011, S. 9). kognitiver Fähigkeiten, charakterisiert durch
Man unterscheidet zwischen primären und Verminderung der Urteilsfähigkeit und des
sekundären Formen der Demenz. Bei mehr als 90% Denkvermögens
aller Demenzen handelt es sich um primäre Demen- 2. Keine Bewusstseinstrübung
zen, welche sich in neurodegenerative und vaskuläre 3. Verminderte Affektkontrolle mit mindestens
Demenzen sowie Mischformen unterteilen lassen. einem der folgenden Merkmale:
Hier gibt es keine anderen organischen Erkrankun- 44Emotionale Labilität
gen, die die Symptome der Demenz hervorrufen. Zu 44Reizbarkeit
den degenerativen Demenzen zählen: 44Apathie
1. Morbus Alzheimer 44Vergröberung des sozialen Verhaltens
2. Frontotemporale Demenz 4. Dauer mindestens sechs Monate
11.1 · Hintergrundwissen zur Demenz
97 11
> Unter einer Demenz versteht man eine zeitintensiver und belastender als die Pflege von kör-
Abnahme des Gedächtnisses sowie anderer perlich beeinträchtigten Menschen ohne Demenz
kognitiver Fähigkeiten, welche so stark (Schäufele et al. 2008, S. 12). Im Vordergrund steht
sind, dass sie sich im Alltag auswirken. Des dabei eher die psychische als die physische Belastung
Weiteren liegt keine Bewusstseinstrübung der Pflegenden.
vor und die Symptome müssen mindestens
über einen Zeitraum von sechs Monaten > Eine Demenz schreitet in der Regel
anhalten. Bei 90% aller Demenzen handelt progredient über Jahre voran, wobei
es sich um primäre Demenzen, welche noch die Belastung für die Pflegepersonen
nicht geheilt werden können. Die sekundären kontinuierlich zunimmt und größer als bei
Demenzen, bei denen die Symptome der Pflege von kognitiv gesunden Personen
auf Grund einer anderen organischen ist. Erste Abbauprozesse im Gehirn finden
Erkrankung auftreten, sind dagegen teilweise wahrscheinlich schon Jahre vor dem
heilbar. Auftreten der ersten Symptome statt.

Eine Demenz ist eine progredient verlaufende Bislang gibt es noch keinerlei Erkenntnisse darüber,
Erkrankung, bei der sich die Verschlechterung der wie man sich vor einer Demenz des Alzheimer-Typs
Symptome in der Regel über Jahre hinzieht. So liegen schützen kann. Für einige wenige Fälle, welche häufig
zwischen der Diagnosestellung und dem Versterben schon vor dem 65. Lebensjahr auftreten, ist ein gene-
häufig bis zu sieben oder sogar zehn Jahre. Bei einer tischer Defekt verantwortlich, welcher auch vererbt
vaskulären Demenz ist die Überlebenszeit nach der wird.
Diagnosestellung in der Regel kürzer als bei einer Zumindest dem Auftreten einer vaskulären
Demenz vom Alzheimer-Typ (Schäufele et al. 2008, Demenz kann aber jeder vorbeugen, indem er alles
S. 14). Zudem scheinen schon vor der Diagnosestel- versucht, um seine Blutgefäße zu schützen. Hier
lung die letztlich zu einer Demenz führenden Krank- gelten die gleichen Empfehlungen, mit denen man
heitsmechanismen langsam fortzuschreiten und sich auch einem Herzinfarkt oder Schlaganfall vorbeugen
nicht in Form von Symptomen erkennen zu geben. kann: gesunde Ernährung, ausreichend Bewegung,
Erst wenn ein hohes Maß an Gewebeveränderun- nicht rauchen sowie normale Blutdruck- und Blut-
gen die Kompensationsfähigkeit des Gehirns über- fettwerte. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass
steigt, entstehen die ersten klinischen Krankheits- das Gehirn von geistig und sozial sehr aktiven Men-
zeichen in Form von Leistungseinschränkungen schen über eine gewisse „Reserve“ verfügt, welche
und Verhaltensveränderungen (Kurz 2012, S. 81 f.). die kognitiven Ausfälle längere Zeit ohne gezeigte
Welche Symptome ein Mensch mit Demenz im Symptomatik kompensieren kann (Berlin-Institut
Verlauf seiner Erkrankung dabei zeigt, ist individu- 2011, S. 12). So kann zwar nicht die Erkrankung an
ell sehr unterschiedlich. Bei einigen Erkrankten ver- sich verhindert werden, aber immerhin die Manifes-
ändert sich auch die Persönlichkeit, unter anderem tation der Symptome.
bei der frontotemporalen Demenz (Berlin-Institut Die Diagnose der Demenz ist eine Ausschluss-
2011, S. 9). diagnostik, welche eine ausgiebige Anamneseerhe-
Die Einschränkungen im Alltag nehmen bei bung unter Einbezug der Angehörigen umfassen
einer Demenz mit zunehmendem Schweregrad deut- sollte. Sie sollte neben Laboruntersuchungen appa-
lich zu und liegen schon bei einer leichten Demenz rative Untersuchungen wie eine Computertomogra-
deutlich über denen kognitiv gesunder Menschen. phie sowie psychometrische Testverfahren wie den
Das zeigt sich unter anderem darin, dass man nur Mini Mental Status umfassen (D’Arrigo 2011, S. 29 f.).
60% der leicht erkrankten, knapp 30% der mittel- Der endgültige Nachweis einer degenerativen Verän-
schwer erkrankten und 12% der schwer erkrank- derung des Gehirns kann erst postmortal bei einer
ten Menschen mit Demenz für mehrere Stunden Autopsie erfolgen (. Abb. 11.1).
alleine lassen kann. Die Pflege und Betreuung von Viele Betroffene wenden sich zunächst an ihren
Menschen mit Demenz ist daher aufwändiger, Hausarzt, welcher die Beschwerden ernst nehmen
98 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

sich bestimmte Ablagerungen im Gehirn bilden und


warum diese zu Lebzeiten nicht bei allen Betroffenen
Ausschluss zu Demenzsymptomen in Relation zu den Gehirn-
CT / MRT organischer schädigungen führen (Berlin-Institut 2011, S. 5 ff.).
Ursachen Meldungen zu Durchbrüchen in der Therapie und
Vorbeugung, z. B. durch einen Impfstoff, bestätigten
Eigen- und sich in der Praxis bislang nicht.
Fremdan-
amnese
Eine frühzeitige Diagnose bringt dennoch viele
Vorteile mit sich. Zum einem bleibt dem Betroffenen
Demenztests ausreichend Zeit, selbstbestimmt seine Angelegenhei-
ten zu regeln sowie seine weitere Lebenssituation zu
planen. Mit einem Fortschreiten der Symptomatik ist
dies immer schwieriger möglich. Außerdem verbes-
sert eine frühe Diagnose die Aussichten, den Rück-
gang der kognitiven Fähigkeiten durch Medikamente,
Ausschlussdiagnose Demenz kognitives Training und Rehabilitationsmaßnahmen
hinauszuzögern. Die zur Behandlung zur Verfügung
stehenden Medikamente können den kognitiven
. Abb. 11.1  Ausschlussdiagnose Demenz
Verfall um sechs bis höchstens 18 Monate hinauszö-
gern und wirken umso besser, je eher sie angewen-
und erste Tests durchführen sollte, bevor er die det werden (Berlin-Institut 2011, S. 11 ff.). Allerdings
Betroffenen bei einem begründeten Demenzver- werden bislang nur ca. 10–20% aller Demenzpatien-
dacht an einen Facharzt oder eine entsprechende ten in der ambulanten Betreuung mit Antidementiva
Klinik überweisen sollte. Hier wird dann die weitere behandelt, auch bei Bewohnern in der vollstationären
Differenzialdiagnostik durchgeführt. Leider erfolgt Pflege ist die Quote kaum höher (Füsgen 2008, S. 14).
11 in der Praxis häufig keine entsprechende Diagnos- Neben einer möglichen pharmakologischen
tik, so dass teilweise auch behandelbare sekundäre Behandlung stehen heute eine Reihe nichtmedika-
Demenzformen nicht erkannt werden. Dies mag mit mentöser Behandlungs- und Therapiemöglichkeiten
dem Alter der Patienten sowie einer häufig vorliegen- zur Verfügung, die zwar keine Heilung bringen, aber
den Multimorbidität zusammenhängen. zumindest ein Fortschreiten des kognitiven Abbaus
sowie den Verlust alltagspraktischer Fähigkeiten hin-
> Die Diagnose der Demenz ist eine auszögern können. Empirisch abgesicherte Untersu-
Ausschlussdiagnostik, welche in der Praxis chungsergebnisse zur Wirksamkeit der verschiede-
häufig nicht erfolgt. Welche Faktoren eine nen Verfahren und Therapien liegen aber noch nicht
Demenz des Alzheimer-Typs beeinflussen, vor, auch wenn diese in der Praxis teilweise schon
ist noch nicht bekannt, während die sehr weit verbreitet sind. Beispielhaft seien hier
Risikofaktoren für eine vaskuläre Demenz Gedächtnistrainings, Bewegungs- und Musikange-
denen eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls bote sowie speziell angepasste Milieus in der Pflege
entsprechen. und Betreuung genannt (D’Arrigo 2011, S. 31 f.).
Die optimale Versorgung für Demenzpatienten
Primäre Demenzerkrankungen sind zum heutigen sieht dabei für jeden Betroffenen individuell anders
Zeitpunkt nicht heilbar. Während die Medizin bei der aus und hängt vom Schweregrad der Erkrankung
Bekämpfung von Seuchen oder Krebs große Fort- sowie von der persönlichen Lebenssituation ab. Der
schritte gemacht hat, kann sie typische Alterserkran- progrediente Krankheitsverlauf erfordert dabei eine
kungen wie Arthrose, Altersblindheit, insbeson- fortlaufende Anpassung und eine stadiengerechte
dere aber demenzielle Erkrankungen bislang nicht Nutzung der Angebote, wobei auch die Belastbar-
verhindern oder aufhalten. Bislang konnten nicht keit der Pflegepersonen immer mit im Fokus stehen
einmal die Mechanismen gefunden werden, warum muss (Durwen 2008, S. 29).
11.2 · Beratung für Menschen mit Demenz und ihre Angehörigen
99 11
> Primäre Demenzen sind zum jetzigen Verfall und die zunehmende Abhängigkeit von
Zeitpunkt nicht heilbar, die zur Verfügung Dritten stellt in der Wahrnehmung der Menschen
stehenden Medikamente können den eine der größten gesundheitlichen Bedrohungen dar
Krankheitsverlauf aber um einige Monate und ist mit vielen Ängsten verbunden.
hinauszögern. Nichtmedikamentöse
Therapien und Angebote sind in der > Die Diagnose Demenz bedeutet für den
Praxis weit verbreitet, ein empirischer Betroffenen und seine Angehörigen einen
Nachweis zum konkreten Nutzen Schock und löst eine Krisensituation aus.
einzelner Verfahren liegt aber nicht Reale Sorgen und Befürchtungen sowie
vor. Alle Behandlungsoptionen müssen Ängste machen die Situation zu einer großen
individuell an den Erkrankten und sein Belastung.
soziales Umfeld angepasst werden und
sich dem progredienten Krankheitsverlauf Aufgrund dieser vielschichtigen Problematik wird
entsprechend anpassen. die Notwendigkeit von Beratung zum Zeitpunkt der
Diagnosestellung, aber auch im weiteren Krankheits-
verlauf deutlich. Damit aber die Beratung als hilf-
11.2 Beratung für Menschen mit reich und anwendbar für den Ratsuchenden empfun-
Demenz und ihre Angehörigen den wird, müssen Konzepte genutzt werden, die den
unterschiedlichen Beratungssituationen angemessen
Die Konfrontation mit der Diagnose Demenz bedeu- sind. Eine gute Beratung für Menschen mit Demenz
tet einen Schock für den erkrankten Menschen. Die muss nicht nur die entsprechenden Informationen
kognitive Leistungsfähigkeit ist die Grundvoraus- passgenau und sensibel vermitteln, sondern auch die
setzung, um selbstbestimmt und eigenverantwort- Situation der Betroffenen sowie ihrer Angehörigen
lich sein Leben zu gestalten. Die in unserer Gesell- berücksichtigen. Dies bedeutet, sich zum einen in die
schaft so wichtige Autonomie des Einzelnen kann Lage des an Demenz Erkrankten hineinzuversetzen,
nur dann gelebt werden, wenn der Mensch die Kon- aber auch die Rollenverschiebungen im Familiensys-
sequenzen seines Handelns absehen und zielgerich- tem zu beachten.
tet Entscheidungen für sich und sein Leben treffen Viele Jahre lang wurde die eigentliche Hauptper-
kann. Im Laufe der Demenzerkrankung ist dies son, der Mensch mit Demenz, sowohl bei der Bera-
immer weniger möglich und der Erkrankte benö- tung als auch bei der Versorgungsplanung kaum
tigt zunehmend Hilfestellungen, um die Anforde- berücksichtigt. Der Schwerpunkt wurde vielmehr auf
rungen des Alltags bewältigen zu können (Sonntag die (pflegenden) Angehörigen gelegt. Dabei erleben
et al. 2015, S. 110). nicht nur die Angehörigen, sondern auch die Betrof-
Für das soziale Umfeld ist die Diagnose Demenz fenen selbst die Erkrankung als soziales Schick-
ebenfalls ein Schock. Die Angehörigen und Freunde sal. Erst in den letzten Jahren wird in der Fachwelt
sehen sich mit einer Erkrankung konfrontiert, die zunehmend diskutiert, wie die Betroffenen selbst in
den Erkrankten so verändert, dass er von einem die Versorgungsplanung einbezogen und wie sie gut
selbstständig agierenden zu einem hilfebedürftigen beraten werden können (Zimmermann 2009, S. 71).
Menschen wird. Auch Rollen- und Persönlichkeits- Analog zum langen Ausblenden des Erkrankten
veränderungen prägen das zukünftige Miteinander. selbst in der Beratung gehört es immer noch zu den
Für den Erkrankten und die Angehörigen bedeu- schlimmen Erfahrungen der an Demenz Erkrankten,
tet die Diagnosestellung daher eine Krisensituation. wenn das medizinische Personal nach der Diagnose-
Hinzu kommt noch die Stigmatisierung der Demenz stellung nicht selten dazu übergeht, sie nur noch als
durch die Gesellschaft. Der Umgang mit Demenz- Objekt zu behandeln. Oft wird auch in ihrer Gegen-
kranken konfrontiert die Menschen mit ihren wart das Gespräch allein mit den Angehörigen und
eigenen Ängsten und Unsicherheiten, die durch über die Köpfe der Betroffenen hinweg geführt (Merz
das Beobachten und Erleben des geistigen und kör- 2012). Dies liegt daran, dass die Gesellschaft häufig
perlichen Verfalls anderer ausgelöst werden. Dieser kognitive Abbauprozesse schon im Frühstadium mit
100 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

der Unfähigkeit zur Selbstreflexion und Verhaltens- der Verarbeitung der ersten persönlichen Befürch-
steuerung gleichsetzt. So ist heute wesentlich mehr tungen über das langsame Gewahrwerden von
über das subjektive Belastungserleben der Angehö- Symptomen sowie der Entscheidung zur ärztli-
rigen bekannt als über das Erleben der Demenzkran- chen Abklärung bis zur Verarbeitung der Diag-
ken selbst (Stechl et al. 2006, S. 223). Wer also zu nose als eine sehr schwierige Lebensphase geschil-
seiner Demenz steht, wird häufig nicht mehr ernst dert. Die Angst davor, anderen zukünftig zur Last
genommen (Berlin-Institut 2011, S. 56). zu fallen und von ihnen abhängig zu sein, aber
Studienergebnisse weisen darauf hin, dass alle an auch die Angst vor einer möglichen Bevormun-
Demenz erkrankten Menschen kognitive und funk- dung stehen dabei im Vordergrund (Deutscher
tionelle Defizite bei sich wahrnehmen, doch nicht ­Ethikrat 2012, S. 17). Dies alles muss eine gute
alle führen diese auf die Demenz zurück, sondern Beratung berücksichtigen.
zunächst eher auf normale Alterungsprozesse. Das
Bild der Demenz in der Gesellschaft ist von Symp­ » „Wer an einer Demenz erkrankt ist, will nichts
tomen eines fortgeschrittenen Stadiums geprägt, anderes als alle anderen auch: Die Autonomie
sodass sich hier Betroffene im Frühstadium nicht bewahren soweit es geht, ein weitgehend
wiederfinden können (Stechl et al. 2006, S. 225 f.). normales Leben führen und dazugehören“
Zudem versucht der Betroffene, zunächst andere, (Berlin-Institut 2011, S. 56).
weniger erschreckende Erklärungen für die bei sich
beobachteten Defizite zu finden. Menschen mit Demenz wollen also für sich selbst
Der Beginn einer Demenz zeichnet sich meist sprechen, solange dies noch möglich ist, und ernst
durch zunehmende Vergesslichkeit, Konzentra- genommen werden. Sie sollten daher im Mittelpunkt
tionsstörungen, Gedächtnis- und Wortfindungsstö- jedes Beratungsprozesses stehen.
rungen sowie Fehleinschätzungen aus. Diese Symp­ Erst mit fortschreitendem Abbauprozess lässt
tome erleben die Betroffenen sehr bewusst und auch das Vermögen nach, die eigenen Fähigkei-
schämen sich für ihr Verhalten. Unsicherheit und ten richtig einzuschätzen, und das Risiko für eine
11 Verwirrung bestimmen den Alltag der Erkrank- Selbst- oder Fremdgefährdung steigt. Neuere wissen-
ten, manche Betroffenen berichten auch von Ver- schaftliche Erkenntnisse zeigen aber, dass selbst an
suchen des Herunterspielens, Ignorierens, Verleug- fortgeschrittener Demenz erkrankte Menschen zu
nens oder Bagatellisierens der Vorfälle. Betroffene individuellem Erleben und sensibler sozialer Wahr-
versuchen, unangenehmen Situationen oder Gesprä- nehmung fähig sind und persönliche Wünsche
chen aus dem Weg zu gehen. Es kommt schließlich zu haben. Sie können daher sehr wohl noch als em­
einem Abbruch von sozialen Kontakten und einem pfindsame Subjekte handeln und von anderen auch
Rückzug in die gewohnte Umgebung. All dies löst so wahrgenommen werden. Je nach den Möglich-
Angst beim Betroffenen aus. Angst, die eigene Kont- keiten, die der Krankheitsverlauf dem Betroffenen
rolle zu verlieren, und auch Angst, mit dem Verhalten lässt, kann er sein Leben weiterleben und Freude
aufzufallen (Zimmermann 2009, S. 73 f; Deutscher empfinden. Der Balanceakt besteht darin, den Men-
Ethikrat 2012, S. 27). schen mit Demenz nicht zu bevormunden oder ihm
Die vorliegenden Selbstzeugnisse zeigen, wie in bester Absicht alles abnehmen zu wollen, ihm aber
es sehr vielen äußerst schwer fällt, sich eingeste- gleichzeitig vor eventuellem Schaden zu bewahren
hen zu müssen, dass eine ärztliche Untersuchung (Berlin-Institut 2011, S. 58).
notwendig ist. Schwer ist dann auch die Zeit des Für eine einfühlsame professionelle Beratung
Wartens auf die endgültige Diagnose. Noch belas- heißt dies, dass der Betroffene direkt angesprochen
tender wird aber häufig der Moment der Diagno- werden muss und die Äußerungen seinen Fähig-
semitteilung erlebt, wenn die Befürchtung zur keiten angepasst werden müssen, um so lange wie
Gewissheit wird, beziehungsweise das für unwahr- möglich Selbstbestimmung zu ermöglichen und
scheinlich Gehaltene plötzlich eintritt. Typische Bevormundung zu vermeiden.
Reaktionen sind Schock und Erstarrung, aber Gleichzeitig muss das soziale Umfeld in die
auch Trauer und Verzweiflung (Deutscher Ethik- Beratung einbezogen werden, da Menschen mit
rat 2012, S. 28). Insgesamt wird die Phase zwischen Demenz zunehmend auf die Unterstützung Dritter
11.3 · Fallbeispiel Beratung bei Demenz
101 11

. Tab. 11.1  Checkliste zur Beratung bei Demenz

–  Im Mittelpunkt des Beratungsprozesses steht immer der Mensch mit Demenz selbst, nicht seine Angehörigen.
–  Das soziale Umfeld muss in den Beratungsprozess integriert werden.
–  Die Diagnose Demenz stellt ein Schockereignis für den Erkrankten selbst sowie sein soziales Umfeld dar. Dies muss
dem Berater bewusst sein.
–  Da die Symptome der Erkrankung sich in der Regel über einen längeren Zeitraum fortwährend verschlechtern, muss
eine kontinuierliche Beratung mit festen Ansprechpartnern während des gesamten Krankheitsverlaufs erfolgen.
–  Die in der Beratung vermittelten Informationen müssen nicht nur zum jeweiligen Krankheitsstadium, sondern auch
zur individuellen Lebenssituation passen.
–  Rollenverschiebungen innerhalb der Familie müssen für den Beratungsprozess beachtet werden.
–  Die Beratung muss an die kognitiven Fähigkeiten des an Demenz erkrankten Menschen angepasst werden.
–  Trotz aller krankheitsbedingten Abbauprozesse muss die größtmögliche Autonomie und Selbstbestimmung das Ziel
der Beratung sein.
–  Die Diagnose Demenz ist mit großen Ängsten besetzt, dies muss berücksichtigt werden.
–  Betroffenen und Angehörigen hilft häufig der Austausch mit anderen Betroffenen, dieser sollte angeregt werden.

angewiesen sind. Hier muss fortlaufend eruiert entworfenen Haus am Rande einer Großstadt, in
werden, wie belastet die Pflegenden sind und welche der sich auch sein vor knapp 20 Jahren gegründetes
passgenauen Unterstützungs- und Entlastungsan- Architekturbüro mit 14 Angestellten befindet. Ihm
gebote im Rahmen der Beratung angeboten werden bedeutet sein Beruf sehr viel, es ist vielmehr eine
können. Die Beratung ist dabei immer als Prozess Berufung für ihn. Auch die Verantwortung für seine
zu sehen, da sie sich dem progredienten Krankheits- Angestellten ist ihm sehr bewusst, bei ihnen erfreut
verlauf mit den sich wandelnden Wünschen und er sich großer Beliebtheit. Den Erfolg seines Büros
Bedürfnissen anpassen muss. konnte er durch seine Kreativität, gepaart mit finan-
zier- und realisierbaren Umsetzungsmöglichkeiten,
> Der Mensch mit Demenz wurde bei der sicherstellen. Herr K. hat dabei im Laufe seiner Tätig-
Beratung und Versorgungsplanung lange keit insbesondere viele Einkaufszentren und Mehr-
Zeit nicht involviert, da ihm seine Fähigkeiten familienhäuser entworfen.
mit der Diagnosestellung abgeschrieben Die Ehe mit seiner Frau bezeichnet Herr K. auf
wurden. Die Beratung muss aber den Nachfrage als stets große Bereicherung, seine Frau
Betroffenen selbst mit seinen Wünschen und sei immer sein Ruhepol für ihn gewesen. Frau K.
Bedürfnissen in den Mittelpunkt stellen, um hat sich als Hausfrau und Mutter hauptsächlich um
so lange wie möglich eine größtmögliche die Erziehung der beiden Töchter sowie um den
Selbstbestimmung zu ermöglichen. Haushalt gekümmert, gleichzeitig ist sie ehrenamt-
lich in der Betreuung von Kleinkindern aktiv, unter
. Tab. 11.1 zeigt eine Checkliste für die demenzorien- anderem leitet sie zwei Krabbelgruppen und begleitet
tierte Beratung. eine Turnstunde für Kindergartenkinder. Die beiden
Töchter des Ehepaares sind vor einigen Jahren aus-
gezogen, sie wohnen aus beruflichen Gründen 150
11.3 Fallbeispiel Beratung bei beziehungsweise 400 km von ihren Eltern entfernt.
Demenz Herr K. bedauert, dass er bisher noch keine Enkel
hat, da seine Töchter sich zunächst auf ihre berufli-
Herr K., ein 63-jähriger erfolgreicher Architekt, che Laufbahn konzentriert haben. Umso stolzer ist er
ist seit 35 Jahren mit seiner Frau verheiratet und aber, dass seine ältere Tochter scheinbar sein Talent
Vater von zwei Töchtern. Er lebt in einem selbst geerbt hat und als Architektin arbeitet, während
102 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

die Jüngere zurzeit noch die Ausbildung zur Ärztin Gedanken in seinem Kopf einfach immer entwi-
abschließen muss. schen, wenn er sie zu greifen versucht. Vieles dringt
In seiner Freizeit legt Herr K. stets großen Wert kurzzeitig in sein Bewusstsein, doch er kann es nicht
auf Bewegung, ein Ausgleich zu seinem sitzenden richtig fassen und zuordnen. Damit andere möglichst
Beruf war ihm immer wichtig. So spielt er schon viele nichts davon bemerken, schränkt er den Kontakt zu
Jahre zweimal in der Woche Tennis und fährt mit seinen Beschäftigten ein und verbringt die meiste
seinem Mountainbike durch die Wälder im Umkreis. Zeit allein in seinem Büro. Dort ringt er verzweifelt
Auch eine gesunde Ernährung und eine schlanke um klare Gedanken und bemüht sich um Ordnung
Figur waren Herrn K. immer wichtig, seine Frau mit all seinen Unterlagen und Notizen. Meist stei-
kochte daher entsprechend für die Familie. gert sich so aber nur seine Wut, weil er nicht weiter-
Herr K. bemerkt seit einiger Zeit Veränderungen kommt und sich mit der Situation überfordert fühlt.
an sich, welche ihn sehr belasten. Bislang zeichneten Wut und Ärger bekommen seine Mitarbeiter auch
sich seine beruflichen Entwürfe immer durch ihre häufig von ihm zu spüren, wenn sie ihn dann doch
Detailtreue und Passgenauigkeit aus. In der letzten wegen Unterlagen oder Anrufen stören, die er eben-
Zeit ist es aber nur der Sorgfalt seiner Angestellten falls nicht genau einordnen kann.
zu verdanken, dass die Aufträge korrekt und frist- Die Verzweiflung von Herrn K. nimmt weiter zu,
gerecht bearbeitet werden. Ihm selbst fällt es enorm weil die Symptome nicht nach einiger Zeit wieder
schwer, den Überblick zu behalten, was wann erledigt verschwinden. Eigentlich hatte er gehofft, dass er
werden muss und welche Details und Kundenabspra- einfach nur überarbeitet ist und ihm der dreiwöchige
chen berücksichtigt werden müssen. Um wieder Urlaub mit seiner Frau gut tun würde. Gemeinsam
Ordnung in das ganze Durcheinander zu bringen, ging es an die spanische Küste, in ein Hotel, welches
bemüht sich Herr K. darum, alles schriftlich fest- sie schon dreimal gebucht hatten, weil es ihnen dort
zuhalten. So füllt er verschiedene Notizbücher und so gut gefallen hatte. Leider brachte der Urlaub nicht
nutzt Post-its, doch ohne die Situation zu verbessern. den erwünschten Effekt. Vielmehr kam es noch zu
Vielmehr findet sich Herr K. in den ganzen Büchern einem Streit mit seiner Frau, weil er beim Kofferpa-
11 nicht zurecht, die Spickzettel liegen unsortiert und cken zwar vieles eingepackt hatte, aber Hosen zum
in großer Anzahl auf seinem Schreibtisch, die benö- Wechseln sowie seine Badesachen vergessen hatte.
tigten Informationen zur richtigen Zeit kann er so Zudem meinte sie, ihr Mann wolle sie ärgern, weil
auch nicht finden. Herr K. ist zunehmend gereizt er angeblich den Weg zum Strand sowie zum Res-
und angespannt, was auch seinen Angestellten auf- taurant nicht kenne, obwohl sie doch schon mehr-
fällt. Ihr sonst so offener und aufgeschlossener Chef fach dort Urlaub gemacht hatten. Anders als gewöhn-
verbringt immer mehr Zeit allein in seinem Büro lich war die Stimmung zwischen dem Ehepaar K. in
und möchte nicht gestört werden. Die Mitarbei- diesen Tagen also angespannt. Herr K. grübelte viel
ter bemerken auch, dass sie Herrn K. zunehmend und sprach wenig. Er dachte auch immer wieder
an Termine, Fristen und Aufträge erinnern müssen. darüber nach, ob er seiner Frau von seinen Ängsten
Es gab schon zwei Auseinandersetzungen mit auf- und Sorgen erzählen sollte, schaffte es dann aber
gebrachten Kunden, weil Termine nicht eingehal- doch nicht, das Thema anzusprechen.
ten wurden oder die mit Herrn K. abgesprochenen Einen knappen Monat nach dem Urlaub
Änderungswünsche nicht in den Auftrag eingeflos- beschließt Herr K., dass er sich einmal ärztlich
sen sind. Stillschweigend bemühen sich die Beschäf- untersuchen lassen muss. Seine Konzentrations-
tigten daher darum, die Wünsche der Kunden selbst und Gedächtnisprobleme bestehen weiter fort, die
zu berücksichtigen und ihren Chef zu entlasten. Sie Überforderung im Büro und das Vertuschen und
sind sehr besorgt um Herrn K. und können sich die Überspielen seiner Probleme belasten ihn äußerst
beobachteten Veränderungen nicht erklären. stark. Er vereinbart also einen Termin bei seinem
Herr K. selbst schämt sich für die Defizite, die langjährigen Hausarzt, von dem er niemandem
er an sich beobachtet. Schließlich war er immer etwas sagt. Dr. S. nimmt die Sorgen und Ängste von
ein erfolgreich agierender Architekt und guter Fir- Herrn K. sehr ernst, als dieser ihm von den Proble-
menchef. Nun scheint es ihm so, als würden die men schildert. Er gibt Herrn K. ausreichend Raum
11.3 · Fallbeispiel Beratung bei Demenz
103 11
zum Sprechen, lässt auch Gesprächspausen zu und Stress in den letzten Jahren einfach zu viel und das
ermuntert ihn durch Nachfragen zum Weiterre- Ganze rächt sich nun. Er ist nun auch nicht mehr der
den. Nachdem Herr K. sich so alles „von der Seele Jüngste und sollte wahrscheinlich nur etwas kürzer
reden“ konnte, fasst der Hausarzt die geschilderten treten.
Gefühle des Patienten wertschätzend zusammen. Als Herr K. an diesem späten Nachmittag nach
Er könne die Ängste und Besorgnis angesichts der Hause fährt, empfängt ihn seine Frau dort sehr aufge-
geschilderten Beobachtungen sehr gut verstehen und löst. Die neurologische Praxis Dr. L. habe angerufen
würde wohl an seiner Stelle ähnlich empfinden. Er und sich erkundigt, warum Herr K. seinen Termin
erklärt, dass er diverse Untersuchungen durchführen dort nicht wahrgenommen habe. Warum Herr K.
möchte, um die Ursache für die Symptome heraus- einen Termin beim Neurologen habe? Frau K. weint
zufinden. So werden diverse Organe mittels Ultra- und wirft ihrem Mann vor, dass er in letzter Zeit
schall untersucht und ein großes Blutbild gemacht, völlig verschlossen gegenüber ihr sei und sie das
ebenso erste Screenings mit Fragen zu einer mög- Gefühl habe, dass er sie nicht mehr an seinem Leben
lichen Depression oder Demenz. Dr. S. fragt, ob teilhaben lasse. Überhaupt habe er sich in letzter
Herr K. verstanden habe, wie das weitere Vorgehen Zeit stark verändert. Warum fahre er zum Beispiel
aussehen könne, und bittet um seine Zustimmung nicht mehr regelmäßig zum Tennis, so wie früher?
(WWSZ-Technik 7  Abschn. 7.3). Der Patient bejaht Sie sei schon von seinen Tenniskameraden darauf
beides. Herr K. wird von widersprüchlichen Gefüh- angesprochen worden, was wohl mit ihm los sei,
len geplagt. Zum einen ist er froh, dass nun jemand aber sie habe sich nicht getraut, ihn darauf anzuspre-
der Ursache seiner Probleme auf den Grund geht. Er chen. Herr K. reagiert zunächst abweisend, es ginge
fürchtet sich aber auch vor dem möglichen Ergebnis schließlich um seine Gesundheit. Ob er einen Termin
der Untersuchungen. bei einem Arzt wahrnehme oder nicht, sei schließ-
Da die ersten Untersuchungen bei Dr. S. keine lich ganz allein seine Entscheidung. Doch da seine
organische Ursache für die Beschwerden finden, wird Frau sich sehr besorgt äußert, beschließt Herr K.,
Herr K. an einen Neurologen überwiesen, welcher die Gelegenheit zu nutzen und von seinen Beobach-
weitere Tests und Untersuchungen durchführen soll. tungen zu berichten. Nun endlich mit jemand Ver-
Dr. S. bedauert, dass er seinem Patienten noch nicht trautem über seine Ängste und Befürchtungen spre-
mitteilen kann, was die Ursache für seine Beschwer- chen zu können, entlastet ihn sehr. Frau K. dagegen
den ist, rät ihm aber dringend zu einer weiteren ist sehr beunruhigt und bedauert es, dass Herr K. sie
Abklärung. In einem persönlichen Gespräch fasst er nicht eher ins Vertrauen gezogen hat. Sie drängt ihn
zunächst noch einmal zusammen, warum der Patient darauf, zeitnah einen neuen Termin beim Neurolo-
zu ihm gekommen ist und welche Untersuchungen gen zu vereinbaren, um den Dingen auf den Grund
deswegen durchgeführt wurden. Er bemüht sich um zu gehen. Man höre ja tagtäglich und überall, wie
eine einfache Sprache ohne zahlreiche medizinische viele Menschen mittlerweile unter einem Burn-out
Fachbegriffe, als er die Ergebnisse erläutert. Er geht leiden. Sie ist froh, dass Herr K. sich schon gründlich
auch auf die von Herrn K. geäußerten Gefühle ein, von Dr. S. habe untersuchen lassen und somit vieles
welche er seiner Gestik und Mimik sowie den kleinen schon ausgeschlossen werden konnte.
Zwischenäußerungen wie einem langgezogenen Zwei Wochen später hat Herr K. erneut einen
„Oh“ entnimmt. Dieser schwankt zwischen Erleich- Termin in der neurologischen Praxis, den er dieses
terung, weil nichts gefunden wurde, und Enttäu- Mal auch wahrnimmt. Dr. L. erkundigt sich freund-
schung, weil es keine Erklärung für seine Probleme lich nach dem Anliegen seines Besuches. Herr K.
gibt, hin und her. schildert die von ihm beobachteten Symptome und
Herr K. ringt im Anschluss an das Arztgespräch legt die Untersuchungsergebnisse von Dr. S. vor.
mit sich, ob er diesen Termin beim Facharzt wahr- Dr. L. ermutigt Herrn K. durch viele kleine Nachfra-
nehmen soll und entschließt sich dann, nicht dorthin gen zum Erzählen. Er erfragt auch die familiäre Situ-
zu fahren. Schließlich haben die Ergebnisse bei Dr. S. ation und erfährt so, dass nur die Ehefrau von seinen
ja gezeigt, dass ihm soweit nichts fehle. Es muss also Beschwerden und Ängsten erfahren hat. Dr. L. erläu-
doch sein, dass er überarbeitet ist. Vielleicht war der tert dem Patienten, wie er zur weiteren Abklärung der
104 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

Symptome vorgehen möchte, dem stimmt Herr K. in einem Pflegeheim, dessen Leben von den Struk-
zu. Es werden diverse Tests mit ihm durchgeführt, turen des Heims sowie dem Pflegepersonal abhän-
um sein Gedächtnis zu testen. Gleichzeitig steht in gen. Seine Frau dagegen reagiert völlig aufgebracht
den nächsten Tagen ein MRT an, bevor Herr K. zu gegenüber Dr. L. Dieser könne seine Arbeit nicht
einem ausführlichen Gespräch gebeten wird. Dr. L. ordentlich gemacht haben. Was falle ihm eigentlich
hat Herrn K. vorher über den Nutzen der diversen ein, ihr Mann sei schließlich noch viel zu jung und
Untersuchungen aufgeklärt. Diese sollen zeigen, fit für eine Demenz, das sehe er doch selbst. Er sei
ob Veränderungen in seinem Gehirn für die Symp­ ein erfolgreicher Architekt, noch mitten im Berufs-
tome verantwortlich sind, sowie welche Behand- leben, kein 90-jähriger Tattergreis! Dr. L. bemüht
lungsmöglichkeiten es gibt. Herrn K. selbst führen sich darum, Frau K. zu beruhigen. Er erklärt, dass
einige der Tests seine Defizite deutlich vor Augen. die Untersuchungsergebnisse leider eindeutig seien
Er ist sich bewusst, dass er bis vor einigen Monaten und es immer wieder auch Menschen gebe, die recht
alle Fragen locker beantwortet hätte, doch nun fallen früh an einer Demenz erkranken. Er wisse, dass diese
ihm manche Antworten einfach nicht mehr ein. Die Diagnose das Ehepaar K. wie ein Schock treffe. Für
Zeit zwischen den Tests und dem Arztgespräch erlebt ihn selbst würde wahrscheinlich auch eine Welt
Herr K. daher als besonders belastend. Er erwartet zusammenbrechen, wenn er betroffen wäre (EWE-
mittlerweile eine äußerst ernste Diagnose, vielleicht Prinzip, 7Abschn. 7.4). Dr. L. gibt Herrn K. Infor-
einen Hirntumor. Herr K. schläft sehr schlecht und mationsmaterial zum Thema Demenz mit, welches
isst kaum, im Büro meldet er sich krank. nicht nur allgemeine Fakten wiedergibt, sondern teil-
Als das Gespräch mit Dr. L. endlich ansteht, weise auch speziell das Thema Erkrankung in relativ
begleitet Frau K. ihren Mann. Dieser ist sehr nervös jungen Jahren behandelt. Er bittet die beiden zu
und fahrig, ohne ihre Hilfe hätte er den Weg nicht einem weiteren Beratungsgespräch in einer Woche,
gefunden. Herr L. bittet das Ehepaar K. ins Arztzim- um dann das weitere Vorgehen gemeinsam mit ihnen
mer und nimmt sich viel Zeit für das Beratungsge- abzusprechen. Er wolle ihnen Zeit geben, sich mit
spräch. Er richtet sich im Rahmen des Gesprächs der Diagnose auseinander zu setzen. Falls vorher
11 hauptsächlich an Herrn K. selbst, da die Erkrankung Fragen oder Beratungsbedarf entstehen würden,
ihn betrifft. Herr K. wünscht auf Nachfrage, dass wäre er telefonisch erreichbar. Durch diese Vorge-
seine Frau bei dem Gespräch anwesend sein solle, hensweise vermittelt er nicht zu viele Informationen
diesem Wunsch wird entsprochen. Dr. L. äußert, auf einmal und gibt dem Ehepaar ausreichend Zeit
er habe die Befürchtungen von Herrn K. bemerkt, zum Verarbeiten.
dass eine ernsthafte Erkrankung hinter den von ihm Herr K. und seine Frau gehen vollkommen unter-
beobachteten Symptomen stehe. Herr K. bestätigt schiedlich mit der nun vorliegenden Diagnose um.
dies und ergänzt, dass manche Testfragen ihn richtig Während Frau K. weiterhin verleugnet, dass ihr
wütend gemacht hätten, weil er genau wisse, dass er Mann an einer Demenz erkrankt ist, bedeutet diese
die Antwort mal gekannt habe, sie ihm aber einfach Gewissheit eine kleine Entlastung für ihren Mann.
nicht einfallen wolle. Dr. L. sagt, die Untersuchungen Er weiß nun, was die Ursache für seine Symptome
bei Dr. S. und bei ihm hätten gezeigt, dass keinerlei ist und möchte nun alles Menschenmögliche dafür
organische Ursachen die Beschwerden hervorrufen, tun, die Krankheit aufzuhalten und noch möglichst
zum Beispiel eine Mangelerscheinung oder Entzün- viel zu regeln. Er beschäftigt sich daher auch inten-
dung. Vielmehr liege die Ursache hierfür direkt im siv mit den Informationsbroschüren, welche Dr. L.
Gehirn von Herrn K., dies hätten das MRT sowie ihm mitgegeben hat. Hier entdeckt er, dass das Bild
die diversen Gedächtnistests bestätigt. Leider habe der Demenz in der Gesellschaft sehr einseitig ist und
sich bestätigt, dass Herr K. an einer Demenz des nicht der Realität entspricht. In den Selbstzeugnissen
Alzheimer-Typs leide, zurzeit noch in einem frühen von anderen Erkrankten im frühen Krankheitssta-
Krankheitsstadium. Herr K. sitzt wie versteinert bei dium kann Herr K. sich wiederfinden. Gleichzeitig
Dr. L., als er diese Diagnose erfährt. Seine schlimms- versucht er seine Frau immer wieder davon zu über-
ten Befürchtungen sind nun zur Gewissheit gewor- zeugen, dass Dr. L. mit seiner Diagnose richtig liege.
den. Er sieht sich selbst schon als willenlosen Mann Er selbst habe viel zu lange zu viele Beschwerden
11.3 · Fallbeispiel Beratung bei Demenz
105 11

. Tab. 11.2  Beratungs- und Behandlungsabsprachen mit Herrn K.

1.  In einem gemeinsamen Gespräch in zwei Wochen werden Herr K. und Dr. L. Frau K. über die Diagnose Demenz
informieren und ihr Beratung und Unterstützung anbieten.
2.  Herr K. wird auf eigenen Wunsch hin in den nächsten Tagen seine beiden Töchter über seine Alzheimer-Demenz
informieren, wenn diese am Wochenende zu Besuch kommen. Dr. L. bietet an, dass auch seine Töchter zu einem
persönlichen Gespräch zu ihm kommen können.
3.  Herr K. erhält weiteres Informationsmaterial zum Thema Demenz sowie Kontaktdaten für eine Selbsthilfegruppe
für jüngere Demenzerkrankte.
4.  Herr K. nimmt Kontakt zur Selbsthilfegruppe für Demenzerkrankte auf und erhält so Kontakt zu anderen
Betroffenen und ihren Familien sowie zur regionalen Alzheimer-Gesellschaft.
5.  Herr K. erhält ab sofort Antidementiva, welche er täglich mit zunächst steigender Dosis einnimmt. Die Wirksamkeit
sowie mögliche Nebenwirkungen werden in regelmäßigen Arztterminen in der Praxis von Dr. L. überprüft.
6.  Der Verlauf der Demenz wird alle drei Monaten durch die Durchführung verschiedener Demenztests überwacht.
7.  Frau K. wird auf Wunsch der Kontakt zu einer Selbsthilfegruppe für Angehörige sowie zur Alzheimer-Gesellschaft
vermittelt.
8.  Herr K. informiert innerhalb der nächsten Wochen seine Angestellten in einem persönlichen Termin über seine
Diagnose. Er bereitet dafür eine kurze Ansprache schriftlich vor, bei deren Erstellung ihn Dr. L. unterstützt.
9.  Herr K. regelt die Übertragung seines Architekturbüros an seinen langjährigen Mitarbeiter gemeinsam mit seinem
Anwalt innerhalb der nächsten drei Monate.
10.  Herr K. formuliert gemeinsam mit dem Anwalt der Familie eine Vorsorgevollmacht sowie sein Testament, damit
seine Wünsche auch dann berücksichtigt werden können, wenn er diese nicht mehr selbst äußern kann.
11.  Bei der Feier anlässlich seines 64. Geburtstages informiert Herr K. die Gäste über seine Demenzerkrankung. Seine kurze
Ansprache dazu hat er gemeinsam mit seiner Ehefrau vorbereitet, welche ihm auch beim Vortrag zur Seite steht.
12.  Bei der Pflegeversicherung werden Leistungen beantragt. Das zugesprochene Pflegegeld kann zur Finanzierung
der ausländischen Haushaltshilfe mitgenutzt werden.

gehabt, als dass er nur überarbeitet sein könne. Sie von anderen Erkrankten und wie diese teilweise ihr
müsse den Tatsachen ins Gesicht sehen und gemein- Leben in die Hand genommen hätten, trotz ihrer
sam mit ihm die nächste Zeit gestalten. Seine Frau Diagnose. Dies habe ihn auch ermutigt, jetzt die
weigert sich aber weiterhin, die Diagnose anzuneh- nächsten Schritte zu planen und den Kopf nicht in
men und bittet ihren Mann darum, auch ihren Töch- den Sand zu stecken. Schließlich habe er in seinem
tern zunächst einmal nichts zu sagen. Leben schon so manche Krise überwunden, und
Zum zweiten Beratungsgespräch mit Dr. L. zwar durch tatkräftiges Anpacken. Dr. L. freut sich
erscheint Herr K. allein, er hatte sich ein Taxi gerufen. über die Entschlusskraft von Herrn K. und fragt ihn,
Er berichtet dem Arzt von der Reaktion seiner Frau wie er ihn jetzt und zukünftig unterstützen könne.
und dass diese sich nicht in der Lage fühle, ihn heute Das gemeinsame Vorgehen wird abgestimmt, um die
zu begleiten. Herr L. lässt Herrn K. viel Raum für größtmögliche Akzeptanz bei Herrn K. zu erreichen.
seine Erzählungen und erkundigt sich auch aus- Dr. L. bietet Herrn K. dabei die unterschiedlichsten
führlich nach dem Befinden von Herrn K. selbst. Möglichkeiten wertfrei an, aus denen dieser die für
Dieser schildert, dass die Diagnose natürlich ein ihn passenden auswählt. Die einzelnen Schritte,
Schock sei, doch die endgültige Gewissheit darüber, welche gemeinsam vereinbart wurden, werden in
was mit ihm los sei, auch eine gewisse Entlastung . Tab. 11.2 dargestellt.
bedeute. Er schwebe nun nicht mehr im Unsiche- In den nachfolgenden Wochen und Monaten
ren. Das Informationsmaterial habe ihm auch sehr erfolgt die Behandlung und Beratung von Herrn K.
weitergeholfen, insbesondere die Schilderungen entsprechend den getroffenen Absprachen. Frau K.
106 Kapitel 11 · Beratung von Menschen mit Demenz und ihren Angehörigen

und die beiden Töchter haben mittlerweile akzep- unter https://www.dimdi.de/static/de/klassi/icd-10-gm/


kodesuche/onlinefassungen/htmlgm2016/block-f00-f09.
tiert, dass Herr K. an einer Alzheimer-Demenz
htm#F00.0 [16. 05. 2016]
leidet. Auch wenn es ihnen nicht immer leicht fällt, Durwen HF (2008) Stadienabhängige Versorgungsnetze.
bemühen sie sich darum, ihn so weit es geht zu unter- Individuellen Bedarf gewährleisten. In: Füsgen I, Höfert
stützen sowie ihm die größtmögliche Eigenständig- R (Hrsg) Strukturierte Versorgungskonzepte. Bd 25: Per-
keit zu bewahren. Der Austausch mit Angehörigen spektiven und Beispiele zur Demenz, S 29–34. Medical
Tribune, Wiesbaden
anderer Erkrankter hilft Frau K. hier sehr.
Füsgen I (2008) Perspektiven und Beispiele zur Demenz-
Im Laufe der Monate nehmen die gezeigten Sym- erkrankung. In: Füsgen I, Höfert R (Hrsg) Strukturierte Ver-
ptome der Demenz immer weiter zu. Auf Grund sorgungskonzepte. Bd 25: Perspektiven und Beispiele zur
der intensiven Beratung und des Austauschs mit Demenz, S 11–16. Medical Tribune, Wiesbaden
anderen Betroffenen sind Frau K. ihre Grenzen der Kurz A (2012) Aktuelles zur Diagnostik und Therapie von
Demenzerkrankungen. In: Deutsche Alzheimer Gesell-
Belastbarkeit bewusst. Die Inhalte des Beratungs-
schaft e.V. (Hrsg) Zusammen leben – voneinander lernen.
prozesses werden dabei immer dem Krankheits- Referate auf dem 7. Kongress der Deutschen Alzheimer
verlauf angepasst. Sie organisiert sich eine auslän- Gesellschaft. Eigenverlag, Berlin, S 81–87
dische Pflegekraft, welche mit im Haus wohnt und Merz (Hrsg) (2012) Wie erleben Betroffene die Demenz-Er-
sich um Herrn K. kümmert sowie im Haushalt unter- krankung? Verfügbar unter http://www.alzheimerinfo.
de/aktuelles/monatsspecial/archiv/ms_06_12/pflegen-
stützend tätig wird. So gelingt es Frau K, trotz der
de_angehorige/ [16. 05. 2016]
zunehmend intensiveren Pflegebedürftigkeit ihres Schäufele M, Teufel S, Hendlmeier I, Köhler L, Weyerer S (2008)
Mannes gewisse Freiräume für sich zu behalten und Demenzkranke in der stationären Altenhilfe. Aktuelle
auch ihren eigenen Interessen nachzugehen. Beson- Inanspruchnahme, Versorgungskonzepte und Trends am
ders ihre jüngere Tochter, mittlerweile Medizine- Beispiel Baden-Württembergs. Kohlhammer, Stuttgart
Sonntag K, Reibnitz C von (2015) Versorgungskonzepte für
rin, bestärkt sie hier sehr. Herr K. kann so noch viele
Menschen mit Demenz. Praxishandbuch und Entschei-
Monate in seiner vertrauten Umgebung möglichst dungshilfe. Springer, Heidelberg
selbstbestimmt leben, auch wenn die Symptome der Stechl E, Lämmler G, Steinhagen-Thiessen E, Flick U (2006)
Demenz sich bei ihm relativ rasch verstärken und
11 sein Hilfebedarf kontinuierlich zunimmt.
Subjektive Wahrnehmung und Bewältigung der Demenz
im Frühstadium – SUWADEM. In: Tagungsreihe der Deut-
schen Alzheimergesellschaft e.V.: Demenz – eine Heraus-
forderung für das 21. Jahrhundert. Eigenverlag, Berlin, S
223–229
Literatur Zimmermann J (2009) Leben mit Demenz. Spezielle Wohn-
formen für dementiell erkrankte Menschen. Diplomica,
Ballsieper K, Lemm U, Reibnitz C von (2012) Überleitungsma- Hamburg
nagement. Praxisleitfaden für stationäre Gesundheitsein-
richtungen. Springer, Heidelberg
Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg)
(2011) Demenz-Report. Verfügbar unter http://www.
berlin-­institut.org/fileadmin/user_upload/Demenz/
Demenz_online.pdf
Bundesministerium des Inneren (Hrsg) (2013) Jedes Alter
zählt. Zweiter Demografiegipfel der Bundesregierung am
14. Mai 2013. Verfügbar unter https://www.demografie-
portal.de/SharedDocs/Arbeitsgruppen/DE/2012/
Ergebnisse/Ergebnisbericht_Arbeitsgruppen.pdf?__
blob=publicationFile&v=4 [16. 05. 2016]
D’Arrigo F (2011) Sinneswelten für Menschen mit Demenz in
der stationären Altenhilfe – eine Lokalstudie. Dissertation,
Universität Siegen. Verfügbar unter http://www. d-nb.
info/1020745932/34 [16. 05. 2016]
Deutscher Ethikrat (2012) Demenz und Selbstbestimmung.
Berlin
Deutsches Institut für Medizinische Dokumentation und Infor-
mation (Hrsg) (2016) ICD-10-GM-Version 2016. Verfügbar
107 12

Beratung von Menschen


mit chronischen Wunden
Anette Skowronsky, Christine von Reibnitz

12.1 Hintergrundwissen zu chronischen Wunden – 108

12.2 Dekubitusprophylaxe – 108


12.2.1 Grundwissen zur Dekubitusentstehung – 108
12.2.2 Fallbeispiel Beratung bei Dekubitus – 109

12.3 Ulcus cruris venosum – 111


12.3.1 Hintergrundwissen zu Ulcus cruris venosum – 111
12.3.2 Fallbeispiel Beratung bei Ulcus cruris venosum durch eine
Auszubildende – 112

12.4 Diabetisches Fußsyndrom – 116


12.4.1 Hintergrundwissen zum diabetischen Fußsyndrom – 116
12.4.2 Fallbeispiel Beratung bei diabetischem Fußsyndrom – 118

Literatur – 121

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_12
108 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

12.1 Hintergrundwissen zu In diesem Kapitel wird das Thema Wundver-


chronischen Wunden sorgung im Sinne von Auswahl von Wundauflagen,
Desinfektion, Wechselintervalle etc. nicht bespro-
In Deutschland leiden etwa 2 Millionen Menschen an chen. Diese Therapieentscheidungen liegen in der
chronischen Wunden (Bundesverband Medizintech- Verantwortung des Arztes. Hier soll das Augenmerk
nologie 2015, S. 3). Verschiedenen Berechnungen auf der Beratungssituation zwischen Patient bzw.
zufolge liegt die Prävalenzrate bei 2,5–3%. Experten Angehörigen und Pflegekräften liegen, und darauf,
gehen davon aus, dass ihre Zahl entsprechend dem wie im Alltag mit der chronischen Wunde umge-
demografischen Wandel und dem Anstieg an Zivi- gangen wird.
lisationskrankheiten wie Diabetes mellitus zukünf- Medizinisch steht langfristig die Prophylaxe bzw.
tig stark zunehmen wird. Die zumeist langwierige die Reduktion von Rezidiven im Vordergrund. Bei
Behandlung dieser Patienten stellt sowohl aus the- bettlägerigen, gelähmten oder dementen Patienten
rapeutischer als auch aus wirtschaftlicher Sicht eine sollte die Dekubitusprophylaxe besonders beachtet
große Herausforderung dar. werden.
Chronische Wunden entstehen ursächlich durch Die Wundheilung verbessert sich nachweisbar,
eine oder mehrere Grundkrankheiten: wenn es einen „Kümmerer“ gibt (vgl. Imkamp 2015).
44Periphere arterielle Verschlusskrankheit Diese Rolle übernehmen derzeit unterschiedliche
44Chronisch-venöse Insuffizienz Akteure der verschiedensten Fachrichtungen, dies
44Diabetes mellitus können Ärzte, Pflegekräfte, Apotheker oder Angehö-
44Immobilität unterschiedlicher Genese rige sein. Generell sollten das Rollenverständnis unter-
stützt und die fachliche und persönliche Kompetenz
Diese Grundkrankheiten betreffen häufig – aber gestärkt werden. Ziel des Kümmerers im Versorgungs-
nicht nur – ältere Menschen, die zusätzliche Krank- prozess ist der informierte Patient bzw. der informierte
heitsbilder aufweisen. Chronische Wunden können Angehörige oder gesetzliche Betreuer. Hierzu gehören
auch nach Drogenmissbrauch und als Folge von Schulung und Begleitung des Patienten zur Verbesse-
Tumorerkrankungen (z. B. Mammakarzinom) ent- rung seiner Adherence. Der Patient bzw. Angehörige
stehen. Ist die Diagnose gestellt, erfolgt eine kausale, wird als Teil des therapeutischen Teams angesehen.
12 lokale und systemische Therapie. Die Anwendung unterschiedlicher Beratungs-
Fehlendes Heilen der Wunde wird von Patien- techniken wird anhand von Fallbeispielen zur Deku-
ten und Angehörigen oft noch als schicksalshaft bitusprophylaxe, zum Ulcus cruris venosum und
angesehen. Im Gespräch mit Betroffenen begegnet zum diabetischen Fußsyndrom vorgestellt.
einem häufig die Einstellung: „Die Wunde ist von
selbst gekommen, die geht auch von selbst“. Dem ist
aber nicht so. 12.2 Dekubitusprophylaxe
Die Therapie chronischer Wunden ist ein lang-
wieriger Prozess, der, neben der reinen Wundver- 12.2.1 Grundwissen zur
sorgung, ein aufwendiges Management der Versor- Dekubitusentstehung
gungsabläufe erfordert. An der Wunde hängt ein
Mensch und auf diesen und das gesamte Umfeld des Gemäß den aktuellen Dekubitusdefinitionen von
Betroffenen sollte in der Beratungssituation geach- NPUAP (National Pressure Ulcer Advisory Panel)
tet werden. Die Auswahl einer geeigneten Wund- und EPUAP (European Pressure Ulcer Advisory
auflage ist ein guter, richtiger Anfang, reicht aber Panel) sind Druck- und Scherkräfte auslösende Fak-
nicht aus. toren bei der Entstehung eines Dekubitus. Andere
Der Hausarzt als Verordner und Therapiever- Begriffe wie „Liegegeschwür“ und „Durchliegen“
antwortlicher auf der einen Seite, der Patient, seine sind Patienten und Angehörigen geläufig und werden
Angehörigen und eventuell die Pflegekräfte auf der im Alltag benutzt. Im englischen Sprachgebrauch
anderen Seite stellen die entscheidenden Elemente wird der Begriff „pressure ulcer“ verwendet (Schrö-
zum Gelingen des Behandlungsprozesses dar. der u. Kottner 2012, Kap. 1).
12.2 · Dekubitusprophylaxe
109 12
Aktuell werden unterschiedliche Modelle zur vor, die medikamentös gut eingestellt ist. Wie bei
Dekubitusentstehung diskutiert: vielen älteren Menschen führte ein nächtlicher Sturz
1. Entstehung durch Druck von innen nach außen: beim Gang zur Toilette zu einem Oberschenkelhals-
Knochenvorsprünge üben einen pathologischen bruch. Nach der stationären Versorgung in einem
Druck auf darunterliegende Gewebeschichten Akutkrankenhaus wurde sie zur Rehabilitation in
aus. Das Gewebe kann nicht ausweichen, da die eine geriatrische Fachklinik verlegt. Dort wurde
Person auf einer Kontaktfläche sitzt oder liegt. Je eine demenzielle Erkrankung diagnostiziert. Seitens
härter diese Fläche ist, desto kleiner das druck- der Fachklinik wurde den Angehörigen em­pfohlen,
belastete Areal und desto höher der Druck dort. Frau G. in ein Alten- und Pflegeheim umzusiedeln.
Bei der Druckentlastung wird entsprechend eine Dies führte innerhalb der Familie zu lebhaften Dis-
weiche Unterlage gewählt, damit mehr Körper- kussionen. Die Angehörigen bestanden zu diesem
oberfläche aufliegen und den Druck im Gewebe Zeitpunkt aus zwei Neffen (einer davon berufstätig)
verteilen kann. und zwei Nichten (eine im Erziehungsurlaub, eine
2. Entstehung durch Druck von außen nach als Unternehmerin selbstständig). Den Wünschen
innen: Schaden erzeugen z. B. Falten von Laken von Frau G. entsprechend, beschloss die Familie,
und Kleidung, Fremdkörper wie Katheter, Frau G. zu Hause mit Unterstützung eines ambulan-
Essenskrümel oder andere Dinge, die punktu- ten Pflegedienstes selbst zu versorgen. Dieser kommt
ellen Druck auf das Gewebe erzeugen. täglich morgens zur Grundpflege. Der Wohnraum
wurde entsprechend umgestaltet, ein Pflegebett und
Eine Person, die in ihrer Mobilität eingeschränkt ist, ein Rollstuhl aus dem Sanitätshaus besorgt. Frau G
hat ein Dekubitusrisiko. Davon sind alle betroffen, wurde zunächst in die Pflegestufe 1 eingestuft, da sie
die sich nicht selbst umlagern können, unabhängig noch gut körperlich aktivierbar war und ihr Hörver-
davon, ob sie sitzen oder liegen. Dekubitusprophy- mögen noch im akzeptablen Bereich lag.
laxe soll die Entstehung eines Dekubitus möglichst Zwei Jahre lang konnte Frau G. mit Hilfe eines
verhindern. Toilettenstuhls und den Angehörigen kontrolliert
abführen und benötigte nur nachts Inkontinenz-
produkte wie z. B. eine Windelhose. Zu dieser Zeit
12.2.2 Fallbeispiel Beratung bei lagen keine Hautprobleme im Sinne eines Dekubitus
Dekubitus vor. Sowohl geistig als auch körperlich baute Frau G.
weiter ab, bewahrte aber ihr ausgeglichenes Gemüt.
Geboren nach dem 1. Weltkrieg hat Frau G., heute Die Nahrungsaufnahme erfolgte weiterhin selbst-
96 Jahre alt, den typischen Lebensverlauf wie viele ständig, sie isst gerne und alles, was man ihr anbie-
Frauen aus dieser Generation: Aufgewachsen im tet. Die Inanspruchnahme des Hausarztes findet nur
ländlichen Bereich innerhalb einer kinderreichen bei akuten Problemen und selten statt.
Familie, war sie das jüngste Kind. Die Mutter starb Es fiel Frau G. immer schwerer, rechtzeitig auf die
früh. In jungen Jahren absolvierte sie eine Ausbil- Nutzung des Toilettenstuhls hinzuweisen, so dass, in
dung zur Köchin und war bis zum Eintritt in die Absprache mit dem Pflegedienst, auf das dauerhafte
Rente immer berufstätig. Frau G. ist ledig und hat Tragen von Windelhosen (geschlossenes Inkonti-
keine Kinder, lebt aber mit ihren Nichten und Neffen nenzsystem) umgestellt wurde. Parallel dazu nahm
im selben Haus. Regelmäßige Auftritte mit dem Kir- auch die Mobilität rapide ab. Selbstständiges Aufste-
chenchor, Nachmittage im Seniorenverein sowie Ein- hen oder Ins-Bett-Legen waren nicht mehr möglich.
käufe mit dem Fahrrad erledigte Frau G. bis ins hohe Frau G. nahm die Pflege ohne Probleme an, aller-
Alter hinein selbstständig. Die Großfamilie war ihr dings konnte sie nicht mehr aktiv zu ihrem Pflege-
immer wichtig und so hat sie die ganze Familie regel- plan beitragen. Nun begannen erste Probleme mit
mäßig mit Mittagessen versorgt. Ihren Haushalt erle- der Hautbeschaffenheit im Sakralbereich. Der Pfle-
digte sie weitgehend selbstständig. gedienst stellte beim morgendlichen Waschen eine
Als Grundkrankheit lag bei ihr zum Zeitpunkt zunehmende Rötung und zwei kleine, ca. 1 cm große
der Pflegebedürftigkeit eine Herzrhythmusstörung Dekubituswunden Stufe 2 fest. Zusätzlich klagte
110 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

. Tab. 12.1  Beispiel zur Beratung nach dem NURSE-Modell

Herr G, wie geht es Ihnen jetzt? Sie wirken unzufrieden. Benennen


Das ist verständlich, Sie übernehmen ein großes Stück Verantwortung für Ihre Tante. Verstehen
Bisher konnte eine Verschlimmerung der Situation auch dadurch verhindert werden, Respektieren
dass Sie sich so toll engagiert haben.
Wie kann ich Ihnen helfen, soll ich mit Ihrer Schwägerin sprechen? Unterstützen
Gibt es sonst noch etwas, was Sie gern besprechen möchten? Erweitern

Frau G. vehement über Juckreiz im Intimbereich und deswegen Antibiotika nehmen muss bzw. bei Kom-
kratzte sich nachts die Haut auf, bis es blutete. Sie plikationen ins Krankenhaus kommt.
schwitzte stark in der undurchlässigen Windelhose Die Bedenken der Angehörigen werden ange-
und versuchte nachts, diese abzureißen. Die Inkonti- hört und die Ziele der Maßnahmen erläutert: das
nenzauflage im Bett war morgens durchfeuchtet und Abheilen der Dekubituswunden, die Minderung
Frau G. war den Tag über unzufrieden, konnte dies des Juckreizes sowie die Erhöhung der allgemeinen
aber nicht mehr formulieren. Zufriedenheit von Frau G. Man kommt zu folgen-
der Vereinbarung: Die professionelle Wundversor-
z Erste Beratung der Angehörigen durch den gung wird durch den Pflegedienst durchgeführt, die
Pflegedienst Angehörigen beschaffen die entsprechenden Ver-
Der Pflegedienst schlägt den Angehörigen ein bandmaterialien. Zusätzlich werden die Angehöri-
Beratungsgespräch vor. In diesem fragt der Pfle- gen geschult, Frau G. vor dem Zubettgehen an den
gedienst aktiv: „Sie sehen, dass sich die Situation betroffenen Hautstellen einzucremen. Bedingt durch
Ihrer Tante verschlechtert hat. Wie wollen Sie damit die neue Situation wird Frau G. in Pflegestufe 2 ein-
umgehen?“ gruppiert, da sie nur noch selbstständig essen und
Angehörige: „Wir wussten nicht detailliert, wie trinken kann. Auf die Positionierung eines Kathe-
12 es um die Tante steht. Was können wir tun?“ ters wird wegen Bedenken der Angehörigen verzich-
Es stellt sich heraus, dass die Verantwortlich- tet. Es wird vereinbart, dass durch den Pflegedienst
keiten der Angehörigen untereinander noch nicht morgens bei der Grundpflege kontrolliert medika-
geklärt sind. Jeder denkt vom anderen, dass dieser mentös abgeführt wird. Frau G. nimmt diese Maß-
es schon richten wird. Die Angehörigen vereinbaren nahme an und kann sie umsetzen.
untereinander, wer z. B. für Anrufe bei Ärzten und Von den formulierten Zielen kann das Schließen
Apotheke zuständig ist, wer mit der Krankenkasse der Dekubituswunden innerhalb eines kurzen Zeit-
und dem Pflegedienst Kontakt hält, wer einkauft etc. raumes erreicht werden. Der Juckreiz und die geschä-
Dem Pflegedienst wird die Verständigung mitgeteilt. digte Umgebungshaut bleiben bestehen.
Zur weiteren medizinischen Versorgung der
Patientin schlägt der Pflegedienst folgende Maß- z Zweite Beratung der Angehörigen durch den
nahmen vor: Pflegedienst
44Professionelle Wundversorgung Der Pflegedienst schildert nochmals die Vorteile für
44Geeignete Hautpflege Frau G., wenn ein Dauerkatheter gelegt wird. Ziel
44Legen eines Dauerkatheters der Maßnahme ist weiterhin das Verschwinden des
Juckreizes, die Milderung der Rötung der Umge-
Der Pfleger fragt die Angehörigen, ob diese mit den bungshaut sowie die allgemeine Verbesserung des
Maßnahmen einverstanden sind. Befindens von Frau G. Diesmal spricht der Pflege-
Diese haben Bedenken beim Katheterlegen dienst mit den beiden Hauptverantwortlichen im
wegen der erhöhten Gefahr von Blasenentzün- Einzelgespräch und verwendet das NURSE-Modell
dungen. Sie möchten vermeiden, dass ihre Tante (. Tab. 12.1).
12.3 · Ulcus cruris venosum
111 12
Es stellt sich heraus, dass Herr G, der die Haupt- 44Hilfsmitteleinsatz im Rollstuhl, z. B. durch ein
pflege übernommen hat, mehr Zeit für sich selbst Gelkissen
benötigt. Da er auch die Wäsche der Tante pflegt, soll 44Vermeidung von Druck- und Scherkräften bei
sich die Schwägerin um die Anschaffung von Nacht- der nächtlichen Lagerung
und Unterwäsche kümmern, damit er nicht mehr so 44Mikrolagerung im Bett
häufig waschen muss. Das Gespräch nach NURSE
deckt außerdem die unterschiedlichen Positionen Beim Auskleiden wird der Rollstuhl von Frau G. so
der Angehörigen zum Katheterlegen auf. Während es gestellt, dass sie sich beim Hinstellen am Bettgit-
der Schwägerin vor allem um die Infektionsprophy- ter aktiv festhalten und hochziehen kann. Dadurch
laxe ging, formuliert der Neffe die tägliche Zufrie- wird das Ausziehen der Tageskleidung und Anzie-
denheit der Tante als sein Ziel. hen des Nachthemdes wesentlich erleichtert und
Nun stimmen die Angehörigen dieser Empfeh- das Nachthemd kann glatt über das Gesäß gezogen
lung zu. Ein Termin beim urologischen Facharzt wird werden. So entstehen keine kleidungsbedingten
vereinbart, um zu überprüfen, ob die Maßnahme so Druckstellen während des Liegens. Die gelern-
umgesetzt werden kann. Der Katheter wird gelegt und ten Techniken führten zu einer Verbesserung der
regelmäßig kontrolliert. Die von den Angehörigen Pflegesituation sowohl für Frau G. als auch für ihre
befürchteten Blaseninfektionen bleiben aus. Die Umge- Angehörigen.
bungshaut verbessert sich zusehends und der Juckreiz Da sich insgesamt mehrere Personen inkl. wech-
verschwindet. Zur Sicherheit trägt Frau G. dauerhaft selndes Pflegepersonal um Frau G. kümmern, wird
eine kleinere, wesentlich durchlässigere Pants. die Kommunikation untereinander verbessert.
Zur Sicherung des Beinbeutels und zur Scho- Dadurch kann auch die tagesaktuelle Stimmung von
nung der Unterschenkelhaut wird eine Strickstulpe Frau G. besser eingeschätzt werden. Obwohl Frau G.
angezogen und der Beinbeutel darüber mit Klett- kaum noch spricht, sind sowohl Pflegedienst als auch
verschlüssen befestigt. Dadurch wird sicherge- Angehörige sicher, dass die Tante im Rahmen ihrer
stellt, dass Frau G. im Tagesverlauf im Rollstuhl am körperlichen und geistigen Fähigkeiten gut versorgt
Familiengeschehen in der Küche teilnehmen kann. ist. . Tab. 12.2 zeigt eine entsprechende Checkliste.
Auch gelegentliche Spaziergänge mit dem Roll-
stuhl sind möglich. Durch den Beinbeutel ist zudem
eine bessere Kontrolle über das Trinkverhalten von 12.3 Ulcus cruris venosum
Frau G. möglich, so dass darauf besser geachtet
werden kann. Als Konsequenz bieten die Angehöri- 12.3.1 Hintergrundwissen zu Ulcus
gen Frau G. gezielt an, etwas zu trinken. cruris venosum

z Dritte Beratung der Angehörigen durch den Die schwerste Komplikation der chronisch-venö-
Pflegedienst sen Insuffizienz (CVI) ist das Ulcus cruris venosum.
Um die positiven Ergebnisse der ersten Maßnah- Erste Zeichen dafür sind Unterschenkelödeme. Auf
men zu sichern und die Dekubitusprophylaxe zu der Haut manifestieren sich Hyperpigmentierungen
unterstützen, weist der Pflegedienst die Angehöri- und Stauungsekzeme, im fortgeschrittenen Stadium
gen darauf hin, dass Krankenkassen die Kosten einer beobachtet man den narbigen Umbau des Gewebes,
häuslichen Pflegeschulung übernehmen. Die Ange- z. B. mit Atrophie blanche. 80% der Wunden finden
hörigen nehmen dieses Angebot wahr und lernen sich im Knöchelbereich des Unterschenkels. Ulcus
zusätzliche Maßnahmen kennen. cruris venosum geht häufig mit Schmerzen einher
Diese Maßnahmen sind unter anderem: (vgl. Stücker 2014, S. 10).
44Neue Technik des Transfers ins Bett und Als Auslöser konnten 3 Mechanismen identifi-
Positionierung dort, z. B. durch die Zuhilfe- ziert werden, die nicht mehr oder nur rudimentär
nahme eines Transferlakens funktionieren:
44Aktivierung des Patienten am Bett und beim 1. Aktive Beweglichkeit im Sprunggelenk
Auskleiden (Muskelpumpe)
112 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

. Tab. 12.2  Checkliste Dekubitusprophylaxe

–  Aufklärung der Angehörigen: Da die Patientin zunehmend dement wird, werden die Angehörigen intensiver durch die
Pflege geschult. Sie lernen die Äußerungen von Frau G. zu Wohlbefinden oder Schmerzhaftigkeit besser einzuordnen.
–  Die noch vorhandene Mobilität der Patientin wird trainiert, in dem z. B. tagsüber die Beine öfter aktiv gestreckt und
gehoben werden oder die Patientin sich aktiv aus dem Rollstuhl am Bettgitter hochzieht.
–  Für den Tagesrollstuhl sollten Sitzhilfen geprüft werden, die die Belastung auf den Sitzhöckern verringern.
–  Rechtzeitig mit dem Hausarzt die Verordnung von Wechseldruckmatratzen besprechen.
–  Für die Hautpflege werden ph-neutrale Flüssigseifen und Hautlotionen ohne Duftstoffe beschafft. Wenn Juckreiz im
Intimbereich auftritt, wird abends nochmals lauwarm gewaschen und mit einer neutralen Barrierecreme gepflegt.
–  Die Ernährung wird auf ausreichende Eiweißzufuhr überprüft (Gerber 2014, S. 276). Da die Patientin gern und
selbstständig isst, lassen sich Quark und Joghurt gut in die tägliche Ernährung einbauen.
–  Um die Flüssigkeitsaufnahme zu erleichtern, wird kleingeschnittenes Obst in den Quark püriert bzw. es werden
Smoothies angeboten.
–  Um Zink- und Eisenmangel vorzubeugen, werden zusätzlich schmelzende Haferflocken bzw. Kakao gereicht.

2. Venendurchgängigkeit 12.3.2 Fallbeispiel Beratung bei Ulcus


3. Funktion der Taschenklappen cruris venosum durch eine
Auszubildende
Neben chirurgischen Maßnahmen bei Ursache 2 und
3 kann körperliche Aktivität zur Prävention und The- Die Verzahnung von Theorie und Praxis ist sehr
rapie des Ulcus cruris einen wichtigen Beitrag leisten. wichtig bei der Alten- und Krankenpflegeausbil-
Physikalische Therapieverfahren, Muskeltraining dung. Dennoch kann die gelernte Theorie manch-
und die Steigerung der Beweglichkeit spielen eine mal nicht eins zu eins in die Praxis umgesetzt werden,
zunehmende Rolle (vgl. Klyscz 2000, S. 20). Zur Stär- denn jeder Patient ist anders und bedarf einer indi-
12 kung der Muskelpumpe, besonders wenn irreparable viduellen Fürsorge. Auch können gegenseitige Vor-
Störungen der Klappenfunktion oder der Durchgän- behalte zwischen Auszubildenden und den zum Teil
gigkeit der Leitvenen vorliegen, kommen mehrere wesentlich älteren Patienten das Beratungsverhältnis
Ansätze zum Einsatz: erschweren. Um zu sehen, wie dies ablaufen kann,
a. Kompressionstherapie begleiten wir die Auszubildende Sarah bei ihrem
b. Maßnahmen zur Steigerung der Beweglichkeit Einsatz im Seniorenheim.
im Sprunggelenk Es ist Dienstagmorgen und Sarah trifft sich mit
c. Übungen zur Stärkung der Wadenmuskulatur ihrem Praxisanleiter Bernd zur Besprechung des
d. Prophylaktische Schmerztherapie heutigen Tagesablaufes. Auf dem Lehrplan steht
diese Woche Kompressionstherapie, und Bernd stellt
Patienten, die unter Schmerzen leiden, sind sehr ein- den ersten Patienten des Tages vor. „Hallo Sarah,
geschränkt in ihrer Mitarbeit. Konzentration und wir besuchen gleich Herrn W. in Zimmer 109. Er
Merkfähigkeit sind beeinträchtigt. Zudem liegt die ist Ulcus-cruris-Patient und hat schon länger mit
Priorität nicht im Bereich der Wundheilung, sondern seinem offenen Bein zu kämpfen. Was weißt du über
in der Schmerzminderung. Häufig sind Aussagen offene Beine?“ „Ulcus cruris bedeutet Unterschen-
wie diese zu hören: „Wenn ich nur diesen Schmerz kelgeschwür und es gibt 3 Arten: venosum, arterio-
los wäre“ oder „So kann ich nicht weiterleben“ (vgl. sum und mixtum. Die häufigste Art ist das Ulcus
Gerber 2015, S. 213). cruris venosum. Dabei arbeiten die Venen im Bein
Neben der Schmerzlinderung verbessert eine nicht mehr richtig, aber warum weiß ich nicht mehr
der Kompressionstherapie angepasste Hautpflege genau“, antwortet Sarah. „Das war schon einmal sehr
das Wohlbefinden des Patienten einerseits und die gut, Sarah. Du hast Recht, die häufigste Art ist das
Heilung offener Wunden andererseits. Ulcus cruris venosum, das hat auch Herr W. Was
12.3 · Ulcus cruris venosum
113 12
bei ihm genau der Fall ist, erkläre ich kurz“, erwi- ist aber fit, sodass wir die Kompression anwickeln
dert Bernd. können. Wenn du einen Patienten mit Ulcus cruris
Der 74-jährige Herr W. wohnt seit einigen arteriosum hast, dann musst du besonders auf den
Monaten im Seniorenheim und lebt mit einem Knöchel-Arm-Druck-Index, kurz KADI, achten.
offenen Bein seit knapp 2 Jahren. Er erzählt gerne, Dies ist besonders bei Patienten mit einer periphe-
dass er bei der Arbeit den schönsten Ausblick der ren arteriellen Verschlusskrankheit der Fall. Auch bei
Welt hatte, denn er war Pilot und ist jahrelang zwi- lokalen Infektionen wird der Kompressionsverband
schen den Kontinenten hin und her geflogen. Durch nicht angelegt, weil sonst Keime in den Blutkreislauf
die ständigen Druckänderungen erlitt Herr W. eine einschwemmen können. Zudem muss die Wunde
tiefe Venenthrombose. Zudem saß er die meiste Zeit vorher fachgerecht versorgt und mit dem passenden
während der Arbeit und hat sich nach dem Berufs- Verbandmaterial abgedeckt werden. Kompression
ausstieg, wie er selbst sagt, „reichlich Vorrat für die wird nie auf offene, unverbundene Wunden ange-
Winterzeit“ angelegt. Die ersten kleinen offenen wandt. Ach, und einen Kompressionsverband sollte
Stellen schlossen sich dank guter Pflege recht bald man immer morgens anlegen, da Beine im Laufe
wieder. Doch das momentane ca. 7 cm große Ulcus des Tages dicker werden. Und dieses „dick werden“
ist schmerzhaft und bedarf einer Therapie mit Kom- wollen wir ja gerade vermeiden“, beantwortet Bernd
pression. Gestern war Herr W. zur Wundversorgung ihr diese Frage. Mittlerweile sind Sarah und Bernd
beim Facharzt und bekam Kompressionsverbände vor der Zimmertür von Herrn W. angekommen.
verordnet. Diese sollen nun angelegt werden. Bevor „Was macht die Kompression eigentlich genau?“,
Sarah und Bernd zu Herrn W. ins Zimmer gehen, fragt Sarah, bevor sie anklopfen. Bernd lächelt: „Das
holen sie die entsprechenden Verbandsmittel aus erkläre ich dir und Herrn W. am besten gemeinsam,
dem Verbandsraum. Bernd erklärt Sarah, welche dann muss ich es nicht wiederholen.“
Materialien sie benötigt. „Man benötigt immer Auf ihr Klopfen hin kommt ein „Herein!“ aus
2 Kompressionsverbände. Diese gibt es in unter- dem hell eingerichteten Zimmer. Herr W. sitzt in
schiedlichen Breiten und sie müssen entsprechend einem Sessel vor dem Fernseher und schaut eine
der Fußbreite ausgewählt werden. Der Facharzt hat Sendung über Zootiere. „Ach, Sie sind das. Bei dem,
dies schon gemacht und passend auf das Rezept was Sie alles dabeihaben, wollen Sie mich wohl in
geschrieben, in diesem Fall sind es 8 cm. Zur Fixie- eine Mumie verwandeln, was?“, scherzt Herr W., als
rung der Verbände außerdem noch Klebestreifen von er die Verbände in Sarahs Händen sieht. „Und nachts
der Rolle. Wenn der Patient eine dünne, sehr brü- wandern Sie dann hier über die Flure und erschre-
chige und empfindliche Haut hat, dann benötigen cken alle andere in ihren Betten. Die Idee gefällt mir!“,
wir noch Polstermaterial. Das gibt es teilweise schon geht Bernd auf den Scherz von Herrn W. ein. „Aber
in Sets zusammengestellt, die einen Schlauchverband leider ist unser Anliegen medizinisch begründet und
und Polsterwatte beinhalten sowie Schaumgummi, nicht karnevalistisch. Zur Behandlung Ihres offenen
um den Knöchel auszupolstern. Die Schaumgummi- Beines hat Ihnen der Arzt eine Kompressionstherapie
polster für den Knöchel gibt es fertig zu kaufen, sie verschrieben. Mit dieser wollen wir heute beginnen.
können aber auch selbst zugeschnitten werden. Der Ich habe unsere Auszubildende Sarah mitgebracht,
Fachbegriff für die passenden Schaumgummipolster die muss das nämlich noch lernen und kann dann in
ist Pelotten. Und natürlich Handschuhe für uns“, fügt ein paar Tagen schon selbst einen neuen Kompres-
Bernd zwinkernd hinzu. sionsverband anlegen.“ Herr W. brummt: „Na dann
Auf dem Weg zu Herrn W. stellt Sarah Fragen machen Sie mal, begeistert bin ich davon nicht. Aber
zu Dingen, die ihr noch unklar sind: „Kann ich den vorher müssen Sie mir nochmal erklären, warum ich
Kompressionsverband einfach anwickeln oder muss jetzt diese Verbände bekomme und was die genau
ich noch etwas beachten?“ „Nein, du kannst nicht machen.“
einfach wickeln, ohne vorher zu überprüfen, ob bei „Aber gerne. Sarah hatte die gleiche Frage“, ant-
dem Patienten zum Beispiel eine Herzinsuffizienz wortet Bernd und setzt sich an den Tisch. „Ihre
vorliegt. Die Kompression verlagert die Flüssigkeit Thrombose hat zu einer chronisch-venösen Insuf-
aus den Beinen zurück in den Gesamtkreislauf und fizienz geführt, dies ist eine Venenschwäche, die
kann das Herz überfordern. Das Herz von Herrn W. erschwert, dass das Blut aus Ihren Beinen zurück
114 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

zum Herzen fließt. In jeder Vene befinden sich mich von dem Verband?“ Bernd hatte diese Frage
Venenklappen, die das Blut aus den Beinen nach befürchtet. „Idealerweise soll der Kompressions-
oben drücken. Die untere Venenklappe schließt sich, verband bis zum nächsten Verbandswechsel der
die obere öffnet sich und transportiert das Blut so Wundauflagen erhalten bleiben. So können sich Ihre
zurück zum Herzen. Bei einer chronisch-venösen Venen etwas erholen, aber gleichzeitig auch bei einer
Insuffizienz schließen sich die Venenklappen nicht erfolgreichen Behandlung mithelfen. Was halten Sie
mehr richtig, so dass das Blut in Teilen auch wieder davon, wenn Sie den Kompressionsverband heute
in die Gegenrichtung nach unten fließt. Etwas salopp den Tag lang tragen und Sarah schaut in regelmäßi-
gesprochen kann man sagen, dass die Venenklappen gen Abständen, wie Sie sich fühlen? Der Kompres-
ausgeleiert sind. Und daraus folgen dann Ödeme, die sionsverband sollte aber so lange wie möglich getra-
zu Ulcus cruris venosum führen können. Die Kom- gen werden“, klärt Bernd Herrn W. auf. „Na gut, dann
pressionsverbände unterstützen die Venen, indem probiere ich das mit dem Kompressionsverband mal
Druck von außen auf den Schenkel angewandt aus. Aber sobald ich mich unwohl fühle, kommt der
wird. Dadurch kann das Blut besser zum Herzen ab“, erwidert Herr W. „So machen wir das, Herr W.“,
fließen, die Beine werden dünner, da nicht so viel antwortet Bernd. „Die Kompressionsleistung erhöht
Blut zurückfließt, und die offenen Stellen heilen ab. sich, wenn Sie sich bewegen und so die Muskelpumpe
Alles verstanden? Herr W. und Sarah nicken. Dann im Bein aktivieren. Jeder kleine Gang trägt dazu bei.
fangen wir mal an!“ Besuchen Sie doch mal Frau S., die war früher Flug-
begleiterin. Mit der können Sie sich bestimmt gut
z Anlegen eines Kompressionsverbandes austauschen. Oder gehen Sie heute Nachmittag zur
Das Sprunggelenk des Patienten wird in einen 90°- Kniffelrunde. Lassen Sie sich von dem Kompressions-
Winkel gebracht und es wird mit dem ersten Verband verband nicht einschränken, sondern integrieren sie
an den Zehengrundgelenken angefangen. Wichtig ihn, so gut es halt geht. Sarah kommt dann in einer
ist, dass man in den Verband „reinschaut“, das heißt, Stunde vorbei und schaut, wie es bei Ihnen aussieht.“
dass die Rolle nach oben zu einem hinzeigt. Die Ver- Wie besprochen erscheint Sarah zur Kontrolle
bände werden unter kontinuierlichem Zug nach des Verbands. Herr W. hat den Verband bereits abge-
oben gewickelt. Dabei entsteht immer Kontakt mit wickelt und sieht unzufrieden aus. Sarah denkt: „Was
12 der Haut und der Druck nimmt von distal nach proxi- soll das denn? Jetzt haben wir uns so viel Mühe damit
mal (von unten nach oben) ab. Wenn mit Unterpols- gegeben und er wickelt den wieder ab.“ Sie schaut
terung gearbeitet wird, wird zunächst der Schlauch- Herrn W. streng an und sagt: „So kann das ja nichts
verband in doppelter Unterschenkel- und Fußlänge werden mit der Wundheilung, haben Sie uns vorhin
abgemessen und über das Bein des Patienten gestülpt. nicht zugehört?“. Damit reagiert sie unempathisch
Am Knie sowie am Fuß lässt man ein Stück Verband und Herr W. fühlt sich nicht angenommen.
überstehen. Als nächstes wird die Watte ohne Über- Am nächsten Tag erklärt ihr Bernd das EWE-
lappung um Fuß und Wade gewickelt. Wenn der erste, Prinzip (7 Abschn. 7.4). Sarah sollte sich bemühen,
normale Kompressionsverband an der Ferse ange- die Empfindungen von Herrn W. wahrzunehmen
kommen ist, dann werden die zugeschnittenen Pols- und zu respektieren. Herr W. möchte das Problem
terungen für die Ferse mit verbunden und so fixiert. mit dem offenen Bein gern lösen, ihm fehlt nur der
Nach beiden Wickelvorgängen kann der überschüs- richtige Weg dorthin.
sige Schlauchverband über den Kompressionsver- So kann sie z. B. fragen, warum der Verband
band gestülpt und gegebenenfalls mit Klebestreifen ohne Rücksprache abgewickelt wurde. Es stellt sich
fixiert werden. Zudem muss darauf geachtet werden, im Gespräch heraus, dass Herr W. mehr Schmerzen
dass am Fußspann nicht zu stark gewickelt wurde, um als vorher verspürt hat, außerdem sorgt er sich, dass
zu verhindern, dass die Zehen nicht mit genug Blut seine Kleidung, der gemütliche Sessel und sein Bett
versorgt werden. Herr W.s Verband ist nun fertig und nass werden, wenn der Verband „das Wundwasser
er wird gebeten, im Zimmer herumzugehen. herausdrückt“.
„Ganz nett, aber es drückt schon“, kommentiert er. Sarah: „Schauen Sie, Herr W., die Schmerzen
„Und wann kommen Sie heute wieder und befreien werden durch die Schwellungen in Fuß und Wade
12.3 · Ulcus cruris venosum
115 12
verursacht und die Feuchtigkeit durch die sich in Während Bernd und Sarah die Bindensysteme
der Wundumgebung befindliche Flüssigkeit. Dafür bevorzugen, sucht sich Herr W. ein Strumpfsystem
wurde die Wunde mit einem gut aufsaugenden mit Reißverschluss aus. Dieses findet er technisch
Wundverband abgedeckt. Die Kompression kann interessant, außerdem passt er dann wieder in seine
sowohl die Schmerzen als auch die Feuchtigkeit durch Schuhe. Und gutes Aussehen ist ihm wichtig.
Verhinderung der Wassereinlagerung lindern. Sollen Nach ihrem Urlaub erkundigt sich Sarah bei
wir versuchen, die Kompression ganz langsam auf- Bernd nach der Wundheilung an den Beinen von
zubauen, so dass Sie sich daran gewöhnen können?“ Herrn W. Bernd ist einigermaßen zufrieden, doch
Herr W. ist einverstanden und einige Tage lang klappt die Selbstständigkeit beim Auftragen der Haut-
es ganz gut mit dem Anlegen der Kurzzugbinden. Die pflege lässt zu wünschen übrig. Sarah, die sich jeden
Schwellungen im Bein klingen ein wenig ab. Morgen gern nach dem Duschen mit gut riechenden
Doch nach einer Woche weigert sich Herr W, Pflegeprodukten eincremt, kann das nicht verstehen.
den Verband anwickeln zu lassen. „Diese Dinger „Herr W, das ist doch toll, sich jeden Tag ein-
sind so dick, da komme ich nicht mehr in meine zucremen. Man fühlt sich dann so frisch und gut
guten Schuhe hinein. Ich bin mittags auswärts mit gepflegt.“ Nach EWE-Prinzip reagiert sie ehrlich
alten Bekannten verabredet, da kann ich nicht mit und authentisch, sie sieht Herrn W. aufmunternd
Puschen hingehen.“ Er schaut böse zu Sarah. Diese an. Dieser fühlt sich nicht kritisiert, sondern erklärt
denkt: „Nun waren wir doch erfolgreich, warum stellt ihr, dass er das Gefühl fettiger Finger nach dem Auf-
er sich so an?“ Sie denkt wieder an das EWE-Prin- tragen von Salben und Cremes nicht leiden kann
zip und antwortet: „Könnten Sie sich vorstellen, eine und deswegen die Beine nicht selbst pflegt. Außer-
andere Form der Kompressionstherapie auszuprobie- dem wäre Eincremen unmännlich.
ren?“ Dieser bejaht und sie verabreden, dass Herr W. Sarah befragt Bernd, ob es auch hier Alternativen
zu seiner Verabredung ohne Kompressionsverband zu den üblichen Arzneimitteln oder Pflegeprodukten
mit seinen eleganten Schnürschuhen gehen kann. aus Tuben oder Tiegeln gibt. Gemeinsam mit dem
Bernd hatte ihr erzählt, dass es Alternativen zu Apotheker sucht sie (Ideenkellner, 7 Abschn. 7.6)
den Kurzzugbinden, der Unterpolsterung und den nach Alternativen, diese sollten parfüm- und farb-
Schlauchverbänden gibt. Im Sinne des Ideenkellners stofffrei und leicht aufzutragen sein und schnell
(7 Abschn. 7.6) recherchiert Sarah mit Hilfe der heim- einziehen. Der Apotheker schlägt 3 unterschiedli-
beliefernden Apotheke nach Alternativen und findet che Produkte vor, eines wird gesprüht, die anderen
diese in Bindensystemen und Strumpfsystemen. Die beiden lassen sich wie beim Rasierschaum entneh-
Apotheke kann Muster zur Verfügung stellen, die men. Herr W. ist begeistert, er hat sich jahrelang nass
dann gemeinsam mit Herrn W. begutachtet werden. rasiert und kann mit dem Produkt gut umgehen.
Strumpfsysteme bestehen in der Regel aus Einige Wochen später freuen sich Sarah und
2 Komponenten: ein Kompressionsunterziehstrumpf Bernd gemeinsam mit Herrn W., dass die offene
mit definiertem Druck und ein Oberstrumpf mit Wunde am Bein gut verheilt ist.
definiertem Druck. Übereinander gezogen addieren „Jetzt können Sie auf Kompressionstrümpfe
sich die Drücke. Herstellerabhängig sind die Über- wechseln. Die sind bequemer und schränken Ihre
strümpfe mit einem Reißverschluss versehen oder Bewegung nicht so sehr ein.“ Herr W. stutzt: „Kom-
werden mit einer Anziehhilfe ausgeliefert. Ebenfalls pressionstrümpfe? Die hat meine Frau früher
herstellerabhängig kann der Unterstrumpf über immer getragen. Ich trag doch keine Kompres-
Nacht getragen werden. Bindensysteme gibt es von sionsstrümpfe! Das sind doch diese hautfarbenden
2- bis 4-lagig mit polsternden und komprimieren- Dinger.“ Sarah spürt, dass Herr K. extreme Vorbe-
den Komponenten. Herstellerabhängig können diese halte hat und dem Thema ablehnend gegenüber-
über die versorgte Wunde angewickelt und bis zu steht. Da sie das Thema Kompressionsstrümpfe
einer Woche am betroffenen Bein belassen werden. letzte Woche im Unterricht hatte, klärt sie ihn auf:
Beide Varianten sind vom Arzt verordnungsfähig „Herr W, ich merke, dass Sie das Thema beschäftigt.
und können über die Apotheke oder das Sanitäts- Für Sie sind Kompressionsstrümpfe nicht mit guten
haus beschafft werden. Erinnerungen verknüpft. Kompressionsstrümpfe
116 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

. Tab. 12.3  Gegenüberstellung der Ziele von Ausbilder und Auszubildenden und der Wünsche der Patientin

Ziele von Ausbilder und Auszubildende Wünsche und Bedürfnisse von Herrn W.

Die Ödeme sollen ausgeschwemmt werden, die offene Will endlich keine Verbände und Pflaster mehr tragen.
Wunde soll heilen.
Die Kompression soll korrekt angelegt werden, um die Hat Angst vor den Schmerzen bei der Kompression.
bestmögliche Entlastung zu erreichen. Denkt, dass die Kleidung, das Bett etc. nass werden und
alles übel riecht, wenn vermehrt Wasser „aus der Wunde
gedrückt wird”.
Hat Sorge, dass durch den Kompressionsverband das
Tragen des normalen Schuhwerks nicht möglich ist.
Etablierung von Hautpflege zwischen den Mag es nicht, wenn er selbst fettige Salbe oder Creme an
Verbandwechseln zur Verminderung von Juckreiz und den Fingern hat.
trockener Haut. Patient soll in seiner Selbstständigkeit
gefördert werden und dies selbst tun.
Nach Abheilung der Wunde soll auf Bestrumpfung Lehnt Kompressionsstrümpfe generell ab, diese sehen
gewechselt werden. hässlich aus, machen alt und zeigen jedem an, dass man
krank ist.

sind mittlerweile viel moderner und schicker als Sarah ist sich sicher, dass sie anhand der erlern-
früher. Sie gibt es in vielen Farben und auch extra ten Beratungstechniken Herrn W. das Thema Kom-
Modelle für Männer. Die sehen nicht mehr so aus pressionsstrumpf im Laufe der nächsten Wochen
wie früher. Keiner wird es merken, dass Sie einen näher bringen kann. . Tab. 12.3 zeigt eine Gegen-
Kompressionsstrumpf tragen.“ „Davon müssen Sie überstellung der Ziele von Ausbilder und Azubi und
mich aber erstmal überzeugen“, sagt Herr W. Sarah der Wünsche der Patientin.
und Bernd verabschieden sich und gehen zurück ins Eine Checkliste zur Behandlung eines Ulcus
12 Stationszimmer. cruris venosum zeigt . Tab. 12.4.
„Bernd, die Kompressionsstrümpfe bekommt
man doch in der Apotheke oder?“, fragt Sarah auf
dem Weg zurück. „Das stimmt. Wenn der Arzt fest- 12.4 Diabetisches Fußsyndrom
stellt, dass die Wundheilung so weit fortgeschrit-
ten ist, dass keine Verbandsmaterialien angewendet 12.4.1 Hintergrundwissen zum
werden müssen, verschreibt er auf Rezept passende diabetischen Fußsyndrom
Kompressionsstrümpfe. In der Apotheke wird das
Bein des Patienten vermessen und der Kompressions- Diabetische Fußläsionen (diabetisches Fußsyndrom;
trumpf angepasst. Es gibt sogar kleine Hilfen, um das DFS) führen aufgrund ihrer Chronizität und Rezi-
Anziehen des Strumpfes zu erleichtern. Sicher ist für divfreudigkeit häufig zu Amputationen, Invalidität
Herrn W. wichtig: Kompressionsstrümpfe sind nicht und Behinderung. Wiederkehrende Krankenhaus-
nur etwas, was ältere Menschen tragen. Viele Sportler aufenthalte, Rehabilitationsmaßnahmen und externe
tragen Kompressionsstümpfe zur Regeneration oder häusliche Betreuung belasten den Betroffenen.
zur Unterstützung der Heilung bei Muskelverletzun- Die Entstehung des DFS ist multifaktoriell. Für
gen in der Wade. Auch Menschen, die viel reisen oder die meist ausgedehnten Verletzungen ist in ca. 2/3
fliegen, tragen regelmäßig Kompressionsstrümpfe. aller Fälle die Neuropathie verantwortlich. Eine peri-
Da siehst du, wie vielfältig die Wirkung von Kom- phere arterielle Verschlusskrankheit ist zu 20% die
pression sein kann. Und das alles ohne Medikamente, Ursache. Die Polyneuropathie mit Sensibilitätsver-
ein Aspekt, der vielen Betroffenen sehr wichtig ist“, lust wird erst dann zur Wunde, wenn andere äußer-
beantwortet Bernd die Frage von Sarah. liche Verletzungen oder Verbrennungen durch
12.4 · Diabetisches Fußsyndrom
117 12

. Tab. 12.4  Checkliste Ulcus cruris venosum

–  Mehrfach täglich Lagerung der Beine im Bett, auf das nicht benötigte Deckbett, sodass die Beine über Herzniveau
gelagert werden. Der Patient soll nicht versuchen, im Sitzen die Beine hochzulegen.
–  Krankengymnastische Einzeltherapie zur Steigerung der Beweglichkeit des Sprunggelenks.
–  Übungsprogramme zur Stärkung der Wadenmuskulatur zusammenstellen. Selbst Übungsprogramme von 8 Tagen
können die Muskelpumpenfunktion verbessern (Klyscz et al. 1997, S. 3386).
–  Tragen der Kompressionsversorgung, wie mit dem Therapeuten vereinbart.
–  Dem Patienten erklären, dass ein gut sitzender Kompressionsverband Zeit benötigt (Panfil 2003).
–  Hautpflege immer dann, wenn das Kompressionsprodukt gewechselt oder neu angelegt wird.
–  Männer bevorzugen bei der Hautpflege leicht verteilbare Cremeschäume in Dosen. Die Apotheke kann bei der
Recherche nach dem geeigneten Produkt behilflich sein.
–  Vor der Kompression muss ärztlicherseits die Herzfunktion überprüft werden.
–  Entzündliche Geschehen wie Dermatitis sind auszuschließen.
–  Der Patient wird mittels einer Schmerzskala gebeten, seine Schmerzen rund um die Wunde einzuschätzen.
–  Die Anlage eines Kompressionsverbandes wird vom Patienten zunächst als schmerzhaft empfunden. Hier kann ein
langsames Erhöhen des Anwickeldrucks über mehrere Tage die Akzeptanz verbessern. Wenn Kurzzugbinden nicht
akzeptiert werden, können Strumpfsystem oder Bindensysteme eine Alternative sein.
–  Bei Bestrumpfung addieren sich die Kompressionsklassen beim Übereinanderziehen; z. B. ergeben 2 Strümpfe
mit Kompressionsklasse 2 übereinander gezogen Kompressionsklasse 4. Diese sind in der Regel für Patienten und
Angehörige einfacher anzuziehen (Protz 2007, S. 252).
–  Apparative intermittierende Kompression kann für immobile oder multimorbide Patienten eine gute Alternative
darstellen. Dieses System verbessert die Blutzirkulation ohne Einsatz der Muskelpumpe, sorgt für Druckentlastung in
den Ruhephasen und ist über Wundverbände anwendbar (Deutsche Gesellschaft für Phlebologie 2005, Leitlinie).
–  Damit Strümpfe nicht beschädigt werden, ist der Patient auf das Schneiden und Feilen seiner Zehennägel und
regelmäßige Hornhautentfernung hinzuweisen.
–  Für die Beratung empfiehlt sich die 3S-3 L-Regel: Schlecht sind Sitzen oder Stehen. Lieber Laufen oder Liegen.

Wärmflaschen dazu kommen. Ein weiterer Haupt- Patienten und Therapeuten begegnen sich im
grund für DFS ist nicht mehr passendes oder falsches Gespräch über die Empfindungen rund um die Füße
Schuhwerk oder Fußdeformationen (vgl. Boulton auf verschiedenen Niveaus, hier sind Missverständ-
1996, S. 12 ff., Tooke u. Brash 1996, S. 26 ff., Schel- nisse und damit einhergehende frustrierende Behand-
lenberg et al. 2013, S. 543 ff.). lungen vorprogrammiert. Dies führt im Verhältnis
Immer wieder werden Therapeuten damit kon- Therapeut–Betroffener zu folgenden Situationen:
frontiert, dass der Patient zu lange wartet, bis er mit 44Ärzte reagieren zu spät mit relevanten Therapien.
der Wunde den Arzt aufsucht. Dies ist für Nichtbe- 44Die Fassungslosigkeit des Arztes ist groß. „Das
troffene schlecht nachvollziehbar, da die Wunde teil- kann doch nicht wahr sein.“
weise große Ausmaße annimmt (vgl. Risse u. Groß- 44Dem Patienten gegenüber wird aggressiv
kopf 2013, S. 275). reagiert. „Sie machen nicht richtig mit.“
Im Alltag wird beobachtet: 44Dem Patienten wird unbewusst signalisiert,
44Die Patienten kaufen sich zu enge Schuhe. dass er die Therapie nicht versteht, Mitarbeit
44Sie suchen den Arzt zu spät auf. verweigert und eine Teilschuld an der
44Hilfsmittel zur Druckentlastung werden nicht Verschlechterung trägt.
oder falsch verwendet.
44Patienten belasten die offene Wunde. Für den Patienten führt die sensible Polyneuro-
44Die Rezidive häufen sich. pathie zur Änderung aller Empfindungen jenseits
118 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

des Kniegelenks bis hin zur Anästhesie. Damit ver- z Empfehlungen aus dem Krankenhaus
ändert sie den Menschen im Ganzen. Menschen Die Empfehlungen wurde mittels eines Patientenfly-
mit Polyneuropathie können nicht mehr auf ihre ers übergeben, Zeit für ein ausführliches Gespräch
Füße aufpassen, sie gehen ihnen gefühlsmäßig ver- mit dem Arzt oder Pflegekräften gab es nicht.
loren. Füße werden zu Umgebungsbestandteilen, Im Patientenflyer wurde Herrn M. empfohlen,
sie sind dem eigenen Körper nicht mehr zugehö- seine Füße regelmäßig zu inspizieren, die verord-
rig. Als Folgeerscheinung haben Betroffene das neten Schuhe zu tragen, sich mehr zu bewegen und
Gefühl, nicht mehr „mit beiden Beinen im Leben“ professionelle Fußpflege in Anspruch zu nehmen.
zu stehen. Der Kauf von zu engen Schuhen scheint Herr M. fühlte sich nicht ernst genommen, denn
nun eine gewisse Logik zu haben, spürt der Patient diese Maßnahmen kennt er bereits und beherzigt sie.
doch endlich einen gewissen Druck in den Füßen Herr M. ist frustriert. Die Maßnahmen aus dem
bzw. an den Beinen und damit wieder einen Teil Krankenhaus zeigen keine Wirkung und der Früh-
von sich selbst. ling kommt immer näher. Auf Grund der schlep-
Fehlendes Schmerzempfinden macht erklärlich, penden Heilung ist er im Alltag sehr eingeschränkt
warum als lästige empfundene Schuhe und Hilfsmit- und isoliert sich immer mehr von seiner Familie.
tel nicht mehr verwendet werden. Subjektiv helfen Frau M. ist um ihren Mann besorgt und hofft, dass
sie nicht und die neu entstandenen Wunden werden der nächste Termin bei ihrem langjährigen Haus-
nicht erspürt. Patienten signalisieren dem Arzt, alles arzt etwas Besserung in die momentane Situation
sei in Ordnung, weil für sie tatsächlich gefühlsmäßig bringt.
alles in Ordnung ist. Der Hausarzt kennt Familie M. schon lange
Eine gelingende Beratung sollte diese psycho- und hat ein gutes Verhältnis zu Herrn M. Bei
logischen Hintergründe berücksichtigen und dem diesem Gespräch ist Herr M allein. Der Arzt bittet
Patienten und seinem Umfeld erklären. Herrn M. um die Unterlagen aus dem Krankenhaus
und fragt nach seinem Empfinden. Herr M. hält mit
seiner Meinung nicht hinter dem Berg und äußert
12.4.2 Fallbeispiel Beratung bei seine Frustration. Der Hausarzt nutzt zunächst das
diabetischem Fußsyndrom NURSE-Modell und fragt nach: Sind Sie sehr ent-
12 täuscht, Herr M.? Als dieser bejaht, ergänzt der Arzt:
Im Frühling mal wieder mit dem Hund in den Wald Das kann ich gut verstehen. Herr M. nennt noch-
gehen und die Vögel beobachten, das ist einer der mals sein Ziel, im Frühling mit dem Hund unter-
größten Wünsche und Ziele von Herrn M. Diabe- wegs zu sein. Der Arzt unterstützt ihn und fragt, was
tes mellitus begleitet ihn schon seit 25 Jahren. Er ist Herrn M. helfen würde, mit dieser Situation besser
65 Jahre alt, 1,80 Meter groß und wiegt 103 Kilo- fertig zu werden. Herr M. antwortet: Wenn die
gramm. Als Folge leidet Herr M. an diabetischer Wunde schneller heilt. Er hätte gelesen, dass es so ein
Nephropathie, peripherer arterieller Verschlusskrank- Spray gebe. Der Arzt hört sich den Wunsch an, fragt
heit, Polyneuropathie, einem Druckulkus am rechten nach, was Herrn M. zusätzlich belastet. Da platzt es
Fuß und einer ausgeprägten Gangataxie. Schon seit aus Herrn M. heraus: Meine Frau guckt immer so
Jahren trägt er orthopädische Schuhe und spezielle traurig, weil die Wunde nicht heilt und wir nicht
Socken, die regelmäßig angepasst werden. Seine Frau mehr so viel gemeinsam unternehmen können. Sie
hilft ihm außerdem dabei, sich zweimal täglich ein- denkt, wenn ich nur wieder abnehme, dann klappt
zucremen. Besonders das Druckulkus am Fuß macht es mit der Wundheilung.
ihm in letzter Zeit schwer zu schaffen, sodass er ein Der Hausarzt nickt und stellt für sich fest:
paar Tage stationär im Krankenhaus verbringen 44Zunächst muss der Wunsch von Herrn M.
musste. Im Krankenhaus wurden ihm Empfehlun- überprüft werden, ob der rechte Fuß jemals
gen für das weitere Vorgehen und die Versorgung zu soweit heilen wird, dass er wieder längere
Hause mitgegeben. Spaziergänge unternehmen kann.
12.4 · Diabetisches Fußsyndrom
119 12

. Tab. 12.5  Beratung nach dem NURSE-Modell

Frau M., Sie machen sich große Sorgen um Ihren Mann. Benennen


Ich kann gut nachvollziehen, dass Sie sich hilflos fühlen. Verstehen
Bisher konnte eine Verschlimmerung der Situation auch dadurch verhindert werden, Respektieren
dass Sie sich so toll engagiert haben.
Was halten Sie davon, wenn meine Mitarbeiter Sie speziell zum Thema fortgeschrittener Unterstützen
Diabetes schulen? Die Krankenkasse übernimmt die Kosten dafür.
Gibt sonst noch etwas, was Sie gern besprechen möchten? Erweitern

44Danach wird der Arzt mit Frau M. sprechen. Realitäten- oder Ideenkellners (7 Abschn. 7.6) will
Diese war immer so optimistisch, dass die der Arzt die Ziele von Herrn M. auf Realisierungs-
Wunde schon wieder heilt und alles so wird wie fähigkeit überprüfen. Er macht den beiden klar,
vorher. dass es zurzeit keine langen Spaziergänge mit dem
Hund geben wird. Die Druckentlastung hat oberste
Der Hausarzt untersucht den betroffenen Fuß und Priorität, selbst die Alltagsbelastung sollte auf ein
stellt eine leichte Infektion fest, die im Krankenhaus Minimum reduziert werden. Frau M. hat bei der
bereits abgeklungen war. Schulung erfahren, dass sich die körperliche Situa-
Nun fragt er nach, was sich seit dem Kranken- tion ihres Mannes nicht wesentlich verbessern wird
haus bei Herrn M. verändert hat. Verwendet Herr M. und dass dies nicht an ihr oder einer eventuell fehlen-
noch die Fußpflegeprodukte? Wie sieht es mit der den Unterstützung liegt. Dadurch fühlt sich Frau M.
Wundreinigung aus? sehr entlastet. Die Stimmung des Ehepaares unterei-
Es stellt sich heraus, dass Herr M. den Fuß zu nander ist wesentlich friedlicher geworden, obwohl
Hause mit Leitungswasser spült. Das wäre im Kran- das große Ziel nicht erreicht wurde.
kenhaus auch so passiert. Ein Abstrich bestätigt, dass Um die Abheilung zu beschleunigen, könnte
sich im häuslichen Leitungssystem Pseudomonas- alternativ versucht werden, das Gewicht von
aeruginosa-Erreger finden, die zur Wundinfektion Herrn M. zu reduzieren. Der Arzt fragt Herrn M, ob
geführt haben. Ein gezielt verordnetes Antibiotikum er sich vorstellen könne, die Ernährung umzustellen.
lässt die Infektion relativ schnell abheilen. Herrn M. Frau M. ist begeistert, und Herr M. schließt es nicht
wird Ringer-Lösung zur Wundspülung verordnet, aus. Die vom Arzt empfohlene Ernährungsberaterin
das ist durch die Krankenkasse verordnungsfähig. kommt zu M.s nach Hause und schlägt im Sinne des
Nach Abklingen der Infektion spricht der Haus- Ideenkellners (7 Abschn. 2.7) mehrere Ernährungs-
arzt mit Frau M. Diese macht sich Sorgen um ihren formen vor, z. B. Paleo-Diät, 5:2-Diät oder Eiweiß-
Mann. Er ziehe sich zurück und bewege sich noch shakes als Mahlzeitenersatz. Herr M. will auf keinen
weniger als sonst und würde am liebsten Kekse Fall zum „Kaninchen“ mutieren und zu viel Grün-
essen. Und die wären doch so schädlich. Der Haus- zeug essen. Als Mann brauche er Fleisch! Vom Tablett
arzt agiert zunächst nach dem NURSE-Modell des Ideenkellners nimmt sich Herr M. die Paleo-Diät
(. Tab. 12.5) herunter, und gemeinsam mit Frau M. wird in den
Frau M. zeigt sich sehr erleichtert, dass der Arzt nächsten Wochen versucht, danach zu leben.
sich extra für sie Zeit nimmt. Dadurch ermuntert, Die Abnehmziele werden niedrig angesetzt
traut sie sich nun zu fragen, wie lange es noch mit der und die BZ-Werte mit dem Arzt abgeglichen. Nach
Heilung dauert. Es wird vereinbart, darüber genauer einem Monat wiegt sich Herr M und hat 1 kg abge-
zu sprechen, wenn die Schulung besucht wurde. nommen. Er freut sich sehr und berichtet seinem
Der Arzt lädt das Ehepaar einige Wochen nach Arzt stolz davon. Auch die Fußwunde beginnt
der Schulung zum Gespräch. Im Rahmen des schneller zu heilen. Die Ernährungsumstellung
120 Kapitel 12 · Beratung von Menschen mit chronischen Wunden

. Tab. 12.6  Checkliste Wundversorgung bei diabetischem Fußsyndrom

–  Konsequente Druckentlastung durch Verband oder Verbandsschuh (ggf. mit Spezialeinlage) ist für die Erreichung
eines vollständigen Wundverschlusses notwendig.
–  Fußbäder sind wegen der Gefahr von Hautmazerationen bzw. Verbrühungsgefahr durch mangelndes
Temperaturempfinden kontraindiziert.
–  Wundspülungen mit Leitungswasser sind wegen der Gefahr von Feuchtkeimen in Leitungen und Duschköpfen zu
unterlassen.
–  Fußpflege sollte durch Podologen vorgenommen werden. U. U. ist die ärztliche Überweisung möglich, daher zu
Lasten der Krankenkassen abrechenbar.
–  Körperliche Aktivitäten sollten auf die Risikogruppe des Patienten abgestimmt sein. Je nach Stadium der
Polyneuropathie bzw. der Fußläsionen können die Aktivitäten nur schrittweise umgesetzt werden (Zink 2014, S. 117).
–  Falls die Betroffenen noch im Arbeitsleben stehen, sollte überprüft werden, ob ein Teil der Arbeit nicht im Sitzen
erledigt werden kann.
–  Rechtzeitig mit dem Arzt die Verordnung von Hilfsmitteln wie Gehhilfen, Orthesen, Rollstuhl etc. besprechen.
–  Den Patienten regelmäßig nach Schmerzempfindungen befragen. Diese äußern sich anders, z. B. als brennende oder
stechende Schmerzen, Parästhesien (Kellerer u. Gallwitz 2015, S. 175).
–  BZ-Werte sollten normglykämisch oder normnah sein.
–  Monatliche Gewichtskontrolle.
–  Eine realistische Gewichtsreduktion ist anzustreben.
–  Tägliche Fußinspektion (Spiegel auf den Boden legen und dann die Füße darüber gekippt stellen. So ist eine
Eigeninspektion selbstständig möglich).
–  Hornhautschwielen sind professionell zu begutachten. Darunter können sich Druckstellen bilden.
–  Schuhinnenseiten abtasten und Fremdkörper wie kleine Steinchen entfernen.
–  Ein orthopädischer Schuhmacher sollte die Füße und das Schuhwerk des Patienten alle drei Monate auf Druckstellen
oder Feuchtigkeit kontrollieren.
12 –  Dem Patienten sollte vermittelt werden, wie er Infektionen und Druckstellen erkennt.
–  Regelmäßiges Waschen der Füße und sorgfältiges Trocknen besonders der Zehenzwischenräume.
–  Auch Wollflusen in Kombination mit Hautabschilferungen können kleine Läsionen zwischen den Zehen hervorrufen.
–  Bei Veränderungen der Zehennägel sollte sofort der Arzt aufgesucht werden, es besteht dann Gefahr einer
Nagelmykose.
–  Saubere, gut sitzende Strümpfe tragen (täglich wechseln, Nähte an den Außenseiten, besser sind nahtfreie
Strümpfe)
–  Nicht barfuß laufen.
–  Abschlussbretter am Bett entfernen. Wenn nachts der Patient Richtung Fuß rutscht, werden die Füße nicht
reflektorisch zurückgezogen. Dadurch bleibt der Fuß mit vollem Gewicht und in unveränderter Position vor den
Brettern liegen. Die Gefahr einer okklusiven Mikroangiopathie steigt enorm an.
–  Die Angehörigen in die Beratung miteinbeziehen. Diese können oft nicht nachvollziehen, warum die „kleine“ Wunde
nicht schnell heilt.
–  Regelmäßige Nachschulung von Patient und Betreuern.
–  Als Berater sollte man sich davor hüten zu versprechen, dass alles wieder wird wie vorher, auch wenn alle
Empfehlungen eingehalten werden.
Literatur
121 12
wird gut angenommen und nicht als Einschrän- Schröder G, Kottner J (2012) Dekubitus und Dekubitusprophy-
laxe. Huber, Bern
kung empfunden.
Stücker M (2014) Ulcus cruris venosum und körperliche Aktivi-
Vielleicht kann sich Herr M in einigen Monaten tät. Wund Management 8(3): 110, 1864–1121
ein neues Ziel setzen. Bis dahin wird er die Spazier- Tooke JE, Brash PD (1996) Microvascular aspects of diabetic
gänge mit dem Rollstuhl unternehmen und nur die foot disease. Diabetis Med 13: 26–29
häuslichen Aktivitäten vorsichtig auf seinen eigenen ZinkK (2014) Diabetisches Fußsyndrom und körperliche Akti-
vitäten. Wund Management 8 (3): 116, 1864–1121
Füßen durchführen.
Eine Checkliste zur Wundversorgung bei diabe-
tischem Fußsyndrom zeigt . Tab. 12.6.

Literatur

Boulton AJM (1996) The pathogenesis of diabetic foot prob-


lems: an overview. Diabetis Med 13: 12–16
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ment 8(6): 276–281
Gerber V (2015) Was hindert den Patienten daran, unsere
Behandlung zu akzeptieren? Wund Management 9(5):
199–203
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neue Wege, Herausforderungen/Risiken, Erfolge? Rechts-
depesche für das Gesundheitswesen 12(S2): 32–33
Kellerer M, Gallwitz B (Hrsg) (2015) Diabetologie und Stoff-
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Klyscz T (2000) Stellenwert physikalischer Therapieverfahren
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Klyscz T, Junger M, Junger I, Hahn M, Steins A, Zuder D et al
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Durchblutungsstörungen der Beine: Diagnostische,
therapeutische und prognostische Aspekte. Hautarzt 48:
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for type 2 diabetes: a systemic review and meta-analysis.
Ann Intern Med 159(8): 543–551
123 13

Beratung von Menschen


mit Diabetes mellitus
Katja Sonntag

13.1 Hintergrundwissen zum Diabetes mellitus – 124

13.2 Beratung von Patienten mit Diabetes mellitus Typ 2 – 126

13.3 Fallbeispiel Beratung bei Diabetes mellitus – 127

Literatur – 133

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_13
124 Kapitel 13 · Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus

13.1 Hintergrundwissen zum Lebensalter an, so dass im Zuge der weiter steigen-
Diabetes mellitus den Lebenserwartung auch mit einer Zunahme der
an Diabetes Erkrankten gerechnet werden muss. Laut
Der Diabetes mellitus, umgangssprachlich auch WHO ist die Zahl der Diabetiker in den letzten 20
Zuckerkrankheit genannt, ist eine Stoffwechseler- Jahren um das Siebenfache gestiegen, vor allem in
krankung, bei der die Blutzuckerwerte dauerhaft den Industrie- und Schwellenländern. Aktuell (Stand
zu hoch sind. Sie ist eine der am längsten bekann- 2015) geht man in Deutschland von 7,6 Millionen
ten Krankheiten und wurde schon im alten Ägypten Menschen mit Diabetes mellitus aus, inklusive ca.
beschrieben. Weil der Urin der Kranken durch den 2 Millionen Menschen mit noch nicht erkannter
ausgeschiedenen Zucker süßlich schmeckte, wurde Krankheit. Dies entspricht 7–8% der erwachsenen
sie als „honigsüßer Durchfluss“ (Diabetes mellitus) Bevölkerung (http://www.diabetesde.org).
bezeichnet. Die Ursachen für die Entstehung eines Diabetes
Die Ursachen dafür sind je nach Diabetesform unterscheiden sich stark. Während der Typ-2-Dia-
verschieden. Beim Typ-1-Diabetes stehen dem betes meist in fortgeschrittenem Alter entsteht und
Körper keine insulinproduzierenden Zellen mehr seine Hauptursachen die genetische Veranlagung,
zur Verfügung, so dass kein körpereigenes Insulin Bewegungsmangel und Übergewicht sind, liegt beim
mehr produziert werden kann und das Hormon Typ-1-Diabetes in der Regel eine Autoimmunreak-
von außen zugeführt werden muss. Es handelt sich tion vor. Die genauen Hintergründe dieser Auto-
um eine Autoimmunkrankheit, da das Abwehrsys- immunreaktion sind nicht bekannt, auch wenn die
tem des Körpers die insulinproduzierenden Zellen Erbanlagen eine gewisse Rolle spielen. Es wird ver-
in der Bauchspeicheldrüse zerstört. Oft erkranken mutet, dass gewisse Umweltfaktoren wie der frühe
schon Kinder am Typ-1-Diabetes, das durchschnitt- Kontakt mit Kuhmilch und bestimmte Virusinfek-
liche Erkrankungsalter beträgt 8 Jahre. tionen einen Typ-1-Diabetes begünstigen.
Beim Typ-2-Diabetes produziert der Körper, Während das Erkrankungsrisiko für Typ-2-Dia-
zumindest in der Anfangsphase, noch viel Insulin. betes mit dem Lebensalter ansteigt, erkranken die
Die Empfindlichkeit der Körperzellen auf das meisten Betroffenen schon vor dem 40. Lebens-
Hormon ist allerdings herabgesetzt, so dass die jahr an Typ-1-Diabetes, häufig schon im Kindes-
Zellen nicht mehr ausreichend auf das Insulin reagie- und Jugendalter. Die Autoimmunreaktion verläuft
ren und schließlich resistent werden. Das körper- zunächst dennoch häufig unentdeckt und ohne Sym-
13 eigene Insulin reicht dann nicht mehr aus, um den ptome, lässt sich aber mittels Blutuntersuchung nach-
gewünschten Effekt zu erzielen und den Zucker in weisen. Auf Grund des immer häufiger auftretenden
die Zellen zu schleusen. Übergewichts und Bewegungsmangels erkranken
Neben diesen beiden Formen gibt es noch aber auch immer jüngere Personen in den Industrie-
weitere Varianten, z. B. beim Vorliegen eines Gen- nationen an Typ-2-Diabetes. In den USA haben heute
defektes oder bei Erkrankungen der Bauchspeichel- ein Viertel aller Jugendlichen Typ-2-Diabetes oder
drüse. Auch Medikamente, insbesondere Kortison, eine Vorstufe davon (http://www.diabetesde.org).
können an der Entstehung eines Diabetes beteiligt
sein (Leitlinien 2015 der Bundesärztekammer, http:// > Die Zahl der weltweit sowie in Deutschland
www.bundesaerztekammer.de/richtlinien/leitlinien/). an Diabetes mellitus Erkrankten ist in den
Die Internationale Diabetes-Föderation (IDF) vergangenen Jahren stark gestiegen, was mit
hat zuletzt im Jahr 2007 aktuelle Zahlen zur welt- der gestiegenen Lebenserwartung, aber auch
weiten Verbreitung des Diabetes vorgelegt. Danach mit dem zunehmenden Bewegungsmangel
haben aktuell schätzungsweise 246 Millionen Men- und Übergewicht in den Industrie- und
schen auf der Welt einen Diabetes. Davon leben 39 Schwellenländern zusammenhängt. Diese
Millionen in China, 30 Millionen in Indien und 21 sind neben der genetischen Disposition
Millionen in den USA. In Europa gibt es schätzungs- die Hauptursachen für das Auftreten eines
weise knapp 50 Millionen Menschen mit Diabetes. Diabetes mellitus Typ 2. Ein Diabetes mellitus
Die Prävalenz des Diabetes steigt dabei mit dem Typ 1 manifestiert sich dagegen häufig schon
13.1 · Hintergrundwissen zum Diabetes mellitus
125 13
im Kindes- oder Jugendalter und ist die Folge zur diabetischen Neuropathie (Leitlinien 2015 der
einer Autoimmunreaktion. Bundesärztekammer, http://www.bundesaerztekam-
mer.de/richtlinien/leitlinien/).
Beim Typ-1-Diabetes treten die Symptome innerhalb
von Tagen bis Wochen auf, wenn ca. 80% der Beta- > Ein Diabetes mellitus wird häufig über
zellen in der Bauchspeicheldrüse zerstört sind. Benö- lange Zeit nicht erkannt, da die Symptome
tigt der Körper allerdings auf Grund einer Operation, in der Regel schleichend auftreten und
Fieber, der Einnahme von Medikamenten wie Kor- eher unspezifisch sind. Teilweise wird er
tison oder Dauerstress mehr Insulin, können diese erst entdeckt, wenn schon Folgeschäden
Symptome auch schon früher auftreten. Ein Diabetes aufgetreten sind wie z. B. eine Neuropathie
Typ 2 zeigt oft über einen langen Zeitraum keiner- oder Netzhautschädigungen. Die
lei Symptome und bleibt daher häufig unentdeckt, Diagnostik erfolgt über die Bestimmung des
bis vielleicht schon Folgeschäden entstanden sind. Zuckerwertes im Blut zu 2 unterschiedlichen
Folgende Symptome weisen auf einen Diabetes mel- Zeitpunkten.
litus hin:
44Häufiger Harndrang Zur Therapie des Diabetes mellitus stehen verschie-
44Häufige Infektionen dene Möglichkeiten zur Verfügung, je nach Diabetes-
44Starker Durst form und individuellem Gesundheitszustand.
44Müdigkeit und Abgeschlagenheit Während bei einem Diabetes Typ 1 dem Körper
44Trockene, juckende Haut immer Insulin von außen zugeführt werden muss,
44Gewichtsverlust ist dies beim Diabetes Typ 2 nicht immer erforder-
44Schlecht heilende Wunden lich. Hier kann eine Änderung des Lebensstils mit
44Azetongeruch der Atemluft gesunder Ernährung, ausreichend Bewegung und
44Übelkeit, Erbrechen oder Bauchschmerzen Gewichtsreduktion sich positiv auf den Blutzucker-
spiegel auswirken. So sind vielleicht über einen län-
Zur Diagnostik wird die Zuckerkonzentration im geren Zeitraum keine weiteren medikamentösen
Blut bestimmt, ein Zuckertest im Urin kann erste Maßnahmen erforderlich. Außerdem helfen Tablet-
Hinweise auf einen Diabetes mellitus bestätigen. ten, welche die Insulinwirkung verbessern und die
Die Diagnose gilt als bestätigt, wenn der Bluttest an Insulinausschüttung anregen. Im Laufe der Erkran-
2 verschiedenen Tagen zu hohe Werte ergeben hat. kung müssen jedoch auch viele Patienten mit Diabe-
Patienten mit einem diagnostizierten Diabetes tes Typ 2 Insulin spritzen.
mellitus müssen sowohl eine Unter- als auch eine Beim Typ-1-Diabetes muss dem Körper das
Überzuckerung vermeiden. Ein vorzeitiges Gegen- fehlende Insulin von außen lebenslang zugeführt
steuern, z. B. durch die Aufnahme von Traubenzu- werden, ebenso bei schwereren Formen des Typ-2-
cker oder die Gabe von Insulin, kann weitere Kom- Diabetes. In der Regel injizieren sich die Patienten
plikationen bis hin zum Koma verhindern. das Insulin selbst mit Hilfe eines Pens, wenn sie den
Da der Diabetes mellitus zu diversen Spätschä- Umgang damit erlernt haben. Die passende Insulin-
den führen kann, wenn er nicht korrekt behandelt therapie wird dabei mit dem Arzt abgesprochen. Bei
wird, ist eine gut abgestimmte Therapie von enormer der früher weit verbreiteten konventionellen Insu-
Bedeutung. Fortlaufende Beratungen und Schulun- lintherapie wurden 1- oder 2-mal am Tag ein schnell
gen für die Patienten spielen eine große Rolle für die sowie ein langsam wirkendes Insulin zugeführt. Die
Compliance. Mögliche Schäden sind unter anderem Essenszeiten und -mengen sind dann von der fest-
Arteriosklerose, Schädigungen der Netzhaut im gelegten Insulingabe abhängig und der Patient muss
Auge sowie diabetische Nephropathie. Durch die seinen Tagesablauf danach ausrichten. Häufige Blut-
Gefäßverkalkungen steigt das Risiko für Herzin- zuckerkontrollen entfallen dagegen bei der konven-
farkte, Schlaganfälle sowie das diabetische Fuß- tionellen Therapie.
syndrom. Auch das Nervensystem wird auf Dauer Bei der intensivierten Insulintherapie wird
durch zu hohe Zuckerwerte geschädigt, es kommt der körpereigene Mechanismus imitiert, zu den
126 Kapitel 13 · Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus

Mahlzeiten größere Mengen an Insulin ins Blut werden. Bei schwereren Formen sowie beim
abzugeben als sonst. Die intensivierte Insulinthe- Diabetes mellitus Typ 1 ist die Gabe von
rapie verlangt dabei aber eine größere Mitwirkung Insulin zur Behandlung erforderlich. Hier
des Patienten. Dieser muss vor und nach den Mahl- stehen verschiedene Therapiekonzepte
zeiten seine Blutzuckerwerte messen sowie anhand zur Verfügung, welche unterschiedliche
eines vorher festgelegten Schemas Insulin sprit- Anforderungen an den Patienten stellen.
zen. Die intensivierte Insulintherapie erfordert also Gemeinsam mit dem Patienten muss daher
ein entsprechendes Wissen beim Patienten und die passende Insulintherapie gewählt
setzt voraus, dass dieser Verantwortung für seine werden, deren Erfolg regelmäßig überprüft
Gesundheit übernimmt. Bei Kindern oder Men- werden muss und die bei Bedarf an die
schen mit einer Demenz muss eine Unterstützung veränderte Situation angepasst werden
durch andere Personen erfolgen. Wenn allerdings muss.
die intensivierte Insulintherapie erfolgreich umge-
setzt wird, bedeutet diese deutlich mehr Freiheiten
für den Diabetiker. Dieser kann Essenszeiten und 13.2 Beratung von Patienten mit
-mengen wesentlich freier wählen als bei der kon- Diabetes mellitus Typ 2
ventionellen Therapie.
Es besteht des Weiteren die Möglichkeit, dem Auf Grund der großen Anzahl der Erkrankten sowie
Körper fortlaufend kleine Mengen Insulin über eine einer notwendigen langfristigen Beratung und Schu-
Insulinpumpe zuzuführen, die der Patient perma- lung der Betroffenen haben sich einige Arztpraxen
nent am Körper trägt. Zusätzlich kann der Patient und Kliniken auf die Beratung und Schulung von
selbst per Knopfdruck eine größere Insulinabgabe Patienten mit Diabetes spezialisiert. Es haben sich
veranlassen. Der Umgang mit der Insulinpumpe sogar ganze Berufsbilder und Spezialisierungen
erfordert allerdings eine umfassende Schulung, die rund um den Diabetes mellitus gebildet. So gab es in
Kosten werden häufig nicht von den Krankenkassen Deutschland 2015 ca. 4000 Diabetologen, ca. 3500
übernommen. Diabetesberater, 7300 Diabetesassistenten sowie
Insulinpflichtige Diabetiker sollten in jedem 2400 Wundassistenten (http://www.diabetesde.org).
Fall ihre Blutzuckerwerte regelmäßig überprüfen. Die Diagnose Diabetes mellitus bedeutet einen
Die Intervalle dazu sollten mit dem Arzt individuell Einschnitt in das Leben des Patienten, der diese chro-
13 abgesprochen werden und sich nach der Lebenssitua- nische Erkrankung mit all ihren Auswirkungen nun
tion und dem aktuellen Gesundheitszustand richten. in sein Leben integrieren muss. In der Regel benö-
So erfordern manche Situationen wie eine Schwan- tigt er dabei Hilfe und Unterstützung durch medi-
gerschaft oder ein vorliegender Infekt eine engma- zinisches Fachpersonal, und zwar nicht nur zum
schigere Kontrolle als sonst. Zeitpunkt der Diagnosestellung, sondern kontinu-
Zur Überprüfung des Behandlungserfolges ierlich während seines weiteren Lebens. Gleichblei-
werden nicht nur die vom Patienten ermittelten bende Ansprechpartner sorgen hier für Kontinuität,
Blutzuckerwerte betrachtet, sondern auch mögli- sichern das nötige Vertrauen und fördern die Com-
cherweise aufgetretene Komplikationen sowie der pliance des Patienten.
Langzeitzuckerwert im Blut. In Rücksprache mit dem Arzt und Patient sollten stets individuelle
Patienten wird dann die weitere Therapie abgespro- mittel- und langfristige Therapieziele vereinbaren,
chen, deren Evaluation ebenfalls nach einem gewis- wobei nicht nur die Blutzuckerwerte berücksich-
sen zeitlichen Abstand erfolgt. tigt werden sowie akute Komplikationen vermieden
werden sollen, sondern vor allem die Lebensquali-
> Je nach Schweregrad des Diabetes mellitus tät des Betroffenen. So müssen die Zielwerte für den
Typ 2 kann eine Lebensstiländerung als Blutzucker realistisch sein, das Alter und die Lebens-
alleinige Maßnahme zunächst ausreichen, umstände müssen ebenso berücksichtigt werden wie
des Weiteren kann die Insulinausschüttung die Möglichkeit des Patienten, die Therapie im Alltag
und -wirkung durch Medikamente verbessert zu meistern.
13.3 · Fallbeispiel Beratung bei Diabetes mellitus
127 13
Bei der Beratung und Schulung des Patienten gesunden Lebensstil werden aber von vielen, ob an
sollten die Symptome einer Über- sowie Unterzucke- Diabetes erkrankt oder nicht, trotz aller nachgewie-
rung intensiv behandelt werden, denn so kann der senen positiven Effekte nicht eingehalten. Sie erfor-
Patient ihnen frühzeitig entgegenwirken. Beispielhaft dern häufig umfangreiche Änderungen des Lebens-
sei hier genannt, dass der Konsum von Alkohol die stils und verlangen vom einzelnen, Verantwortung
Blutzuckerwerte mehrere Stunden senken kann, da für seine Gesundheit zu übernehmen. Dies gelingt
die Leber weniger Zucker ins Blut abgibt. Die Insulin- vielen Betroffenen nur durch eine langfristige und
gabe muss also entsprechend angepasst oder kohlen- intensive Betreuung und Begleitung, welche auch
hydratreiche Nahrung zusätzlich gegessen werden, eine Erfolgskontrolle mit einschließt. Der Berater
um eine Unterzuckerung zu vermeiden. Zusätzlich muss sich bewusst sein, welche großen Anforde-
verkennen Diabetiker im Laufe ihrer Erkrankung rungen er an den Patienten stellt. Gleichzeitig muss
schneller die Anzeichen einer Unterzuckerung und er mit dem Patienten individuelle Therapie- und
müssen erneut dafür sensibilisiert werden. Behandlungsziele aushandeln, welche den Patien-
Die Patienten sollten auf jeden Fall dazu angehal- ten nicht überfordern und so sein aktives Mitwir-
ten werden, die von ihnen ermittelten Blutzucker- ken beinträchtigen.
werte in einem Tagebuch schriftlich festzuhalten und . Tab. 13.1 zeigt mögliche Maßnahmen, um die
dieses zu den Arztbesuchen mitzubringen. So kann Nachhaltigkeit der Behandlung zu sichern und die
nicht nur der Langzeitwert berücksichtigt werden, Compliance des Patienten zu erhalten. Eine geeig-
sondern auch einzelne zu hohe oder niedrige Werte nete Checkliste ist in . Tab. 13.2 zu sehen.
besprochen werden.
Eine große Herausforderung in der Beratung > So wie der Diabetes mellitus die Patienten
von Patienten mit Diabetes Typ 2 besteht darin, den ein Leben lang begleitet, müssen diese
Patienten davon zu überzeugen, zukünftig einen kontinuierlich betreut und beraten werden.
gesünderen Lebensstil zu führen und dieses Vorha- Die Behandlungs- und Therapieziele müssen
ben auch langfristig in die Tat umzusetzen. Dies ist dabei nicht nur die Blutzuckerwerte, sondern
umso schwerer, da eine Umstellung besonders dann ebenso die Lebenssituation des Betroffenen
vom größten Erfolg gekrönt ist, wenn noch wenige sowie seine Fähigkeiten zur Mitwirkung
Folgeschäden aufgetreten sind. Einmal aufgetretene berücksichtigen. Auch inwieweit der Patient
Neuropathien, Netzhaut- oder Gefäßschäden sind bereit ist, bei der Therapie mitzuwirken, muss
nicht reversibel. Studien zeigen, dass sich eine indi- Beachtung finden. Der Berater darf dabei
viduelle, langfristige Ernährungsberatung, gekop- nie außer Acht lassen, dass eine Änderung
pelt mit eventueller Metformingabe, positiv auf den des Lebensstils immer enorme Verhaltens-
weiteren Krankheitsverlauf auswirkt (Schwarz 2016, änderungen verlangt, die nicht jeder Patient
S. 3 ff.). Ohne eine kontinuierliche Betreuung und mittragen möchte oder kann, erst recht nicht
Schulung kann der Behandlungserfolg aber nicht für den Rest seines Lebens.
langfristig gesichert werden, da auch zunächst teil-
weise hochmotivierte Patienten in alte Verhaltens-
muster zurückfallen können, wenn insbesondere 13.3 Fallbeispiel Beratung bei
hohe Erwartungen nicht erfüllt werden können Diabetes mellitus
oder andere belastende Faktoren auftreten (Natio-
nales Aktionsforum Diabetes mellitus 2015, S. 16). Frau D. ist 70 Jahre alt und hat ihr ganzes Leben
Idealerweise führt eine erfolgreiche Beratung lang allein in einer Kleinstadt gelebt. Sie beschreibt
dazu, dass der Patient sein Körpergewicht innerhalb sich selbst als lebenslustige, aber auch etwas eigen-
von 12 Monaten um 5–7% reduziert, wöchentlich willige Person. So hat sie einen großen Freundes-
mindestens 150 Minuten körperlich aktiv ist, ballast- und Bekanntenkreis, aber keine eigene Familie.
stoffreicher sowie fettärmer isst (Nationales Aktions- Ihre 5 Jahre ältere Schwester ist die einzige Fami-
forum Diabetes mellitus 2015, S. 14 f.). Diese auch lienangehörige, zu der sie hin und wieder Kontakt
sicher allgemein gültigen Empfehlungen für einen hat. Frau D. hat bis zu ihrer Rente vor 5 Jahren als
128 Kapitel 13 · Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus

. Tab. 13.1  Maßnahmen zur Sicherstellung des langfristigen Therapieerfolges bei Diabetes mellitus Typ 2. (Eigene
Darstellung, angelehnt an Nationales Aktionsforum Diabetes mellitus 2015, S. 18)

Zielsetzung Maßnahmen

Stabilisierung neuer Regelmäßige Protokollierung erreichter Veränderungen


Lebensgewohnheiten
Erlernen von Problemlösungsstrategien im Zusammenhang mit Risikosituationen
bezüglich der Lebensstiländerung
Entwicklung eines Planes zum Umgang mit möglichen Rückfällen
Aufbau hilfreicher sozialer Unterstützungsmaßnahmen (z. B. Telefonhotline, Erinnerungen
via Apps)
Strategien zur besseren Stressbewältigung erlernen
Erhalt der neuen Langzeitziele mit den neuen Gewohnheiten entwickeln
Lebensgewohnheiten
Auftretende Schwierigkeiten bei der Beibehaltung der neuen Lebensgewohnheiten
analysieren und bearbeiten
Regelmäßige Erinnerungen per Email, App etc.
Nutzung technischer Hilfsmittel, welche gesunde Verhaltensweisen mit Punkten
„belohnen“ und bewerten
Qualitätskontrolle Regelmäßige Überprüfung bestimmter Messwerte wie Gewicht, Taillenumfang oder
Langzeitblutzucker

. Tab. 13.2  Checkliste für eine erfolgreiche Beratung bei Diabetes mellitus

– Menschen mit Diabetes mellitus benötigen eine langfristige, kontinuierliche Beratung durch feste Bezugspersonen,
da diese chronische Erkrankung in das weitere Leben integriert werden muss.
– Die Therapieziele sollten sich nicht rein nach den angestrebten Blutzuckerwerten richten, sondern die Wünsche und
13 Bedürfnisse des Patienten berücksichtigen, um die Compliance zu erhöhen.
– Die individuellen Lebensumstände sowie die Fähig- und Fertigkeiten des Patienten müssen bei der Zielfindung sowie
bei der Therapieplanung berücksichtigt werden.
– Bei der Beratung des Patienten müssen die Symptome einer möglichen Über- und Unterzuckerung sowie deren
Vermeidung ausführlich und wiederholt besprochen werden.
– An Diabetes Erkrankte sollten möglichst ein Tagebuch führen, in das sie ihre Blutzuckerwerte regelmäßig eintragen,
um so die Therapie besser abstimmen zu können.
– Da bei der Therapie des Diabetes die Patienten dazu ermutigt werden sollen, einen aktiveren und gesünderen
Lebensstil zu fördern, bedarf es einer motivierenden, sensiblen, fortlaufenden Beratung und Schulung.
– Der regelmäßige Austausch mit anderen Betroffenen bei Schulungen oder Sportgruppen kann die Motivation
aufrecht erhalten.
– Der Berater muss sich bewusst sein, welche großen Veränderungen er verlangt und darf dabei nicht aus den Augen
verlieren, die Beratungsziele individuell mit dem Betroffenen hzu vereinbaren.
– Eine Überforderung des Patienten muss vermieden werden, da dieser sonst nicht mehr aktiv bei der Therapie
mitwirkt.
13.3 · Fallbeispiel Beratung bei Diabetes mellitus
129 13
Metzgereifachverkäuferin gearbeitet, mit ihren frü- „eigentlich“ bedeute. Er hat schon beim Hinein-
heren Arbeitskolleginnen trifft sie sich regelmäßig kommen ins Sprechzimmer bemerkt, dass Frau D.
zum Kegeln und Unterhalten. Frau D. ist außerdem humpelt und anhand ihrer Mimik geschlussfolgert,
Mitglied des örtlichen Karnevalsvereins und organi- dass sie unter Schmerzen beim Gehen zu leiden
siert dort die diversen Veranstaltungen und Auftritte scheint. Die Wortwahl von Frau D. lässt ihn ver-
der Kindergarde. muten, dass sie recht große Beschwerden plagen.
Bis vor kurzem erfreute sich Frau D. nach eigener Frau D. äußert zögernd, dass das Gehen ihr in der
Auskunft bester Gesundheit, ein Krankenhaus habe letzten Zeit Probleme bereite. Dr. K. erwidert ver-
sie zuletzt bei ihrer Geburt von innen gesehen. Doch ständnisvoll, dass Frau D. ja quasi im wahrsten Sinne
in den letzten Wochen fällt ihr das Laufen zuneh- des Wortes ihr ganzes Leben lang auf den Beinen
mend schwerer, sie stolpert vermehrt und ist auch gewesen sei. Da sei es sicher besorgniserregend,
schon 3-mal gestürzt. Glücklicherweise ist bei den wenn die Füße einen nicht mehr so tragen wollten. Er
Stürzen nichts weiter passiert, es war für die überge- erkundigt sich, welche Beschwerden sie denn genau
wichtige Frau D. nur teilweise recht schwer, wieder habe. Er habe die Vermutung, dass sie Schmerzen
auf die Beine zu kommen. Zunächst denkt sie sich beim Laufen habe, weil sie humpele (EWE-Prinzip,
nichts weiter dabei, schließlich ist sie ja nicht aus 7 Abschn. 7.4). Frau D. fühlt sich in diesem Moment
Zucker. Es ärgert sie nur schon etwas, dass sie nun von Dr. K. ernst genommen und verstanden. Daher
so schlecht zu Fuß ist. Schließlich war sie immer bestätigt sie, dass sie beim Laufen Schmerzen habe,
stolz darauf, so gut auf den Beinen zu sein. Sie hat obwohl sie schon die unterschiedlichsten Schuhe
schließlich ihr ganzes Berufsleben lang hinter der ausprobiert habe. Außerdem sei sie in letzter Zeit so
Theke gestanden, das hätte sicher nicht jeder so lange tollpatschig gewesen und mehrfach gestolpert, zum
durchgehalten. Die Schmerzen beim Laufen werden Beispiel auch über ihren Wohnzimmerteppich, der
aber nicht besser, sondern nehmen weiter zu. Frau D. schon seit Jahren an der gleichen Stelle liege. Dr. K.
weiß nicht mehr, welche Schuhe sie überhaupt noch bittet Frau D., ihre Füße einmal ansehen zu dürfen.
anziehen soll, in allen humpelt sie nur noch langsam Als Frau D. Schuhe und Strümpfe ausgezogen hat
vorwärts. und Dr. K. beide Füße seiner Patientin sieht, ent-
So beschließt sie, doch einmal ihren Hausarzt fährt ihm unwillkürlich ein „Oha!“. Frau D. zuckt
aufzusuchen. Dieser hat bislang kaum Geld mit ihr zusammen. Insgeheim hatte sie geahnt, dass sie ein
verdienen können, wie sie immer stolz betont hat. ernsthaftes gesundheitliches Problem hat, dieses
Auch in ihrem gesamten Berufsleben war Frau D. Gefühl aber verdrängt. Sie fragt Dr. K., ob es wirk-
kaum je einmal ernsthaft krank. Eine Woche später lich so schlimm sei. Er verheimlicht seine Gefühle
hat Frau D. einen Termin bei Dr. K., ihrem Haus- nicht, sondern meint, dass Frau D. ja in der letzten
arzt und Internisten. Während sie im Wartezimmer Zeit höllische Schmerzen gehabt haben muss, denn
darauf wartet, aufgerufen zu werden, bereut sie es, sie habe an beiden Füßen großflächige Wunden, die
den Termin vereinbart zu haben. Ihre Beschwerden auch recht tief seien. Es werde sicher eine ganze Weile
kommen ihr geradezu lächerlich gering vor. Was dauern und ihre Geduld erfordern, bis diese mit der
erwartet sie auch mit 70 Jahren, wenn ihre Füße sie richtigen Behandlung wieder vollständig verheilt
schon ihr Leben lang getragen haben? Andere Men- wären. Dr. K. bittet darum, auch eine Blutuntersu-
schen in ihrem Alter haben mit ganz anderen Sorgen chung bei Frau D. vornehmen zu dürfen, um mögli-
zu kämpfen. Als Frau D. gerade überlegt, den Termin che Ursachen für die Wunden herauszufinden. Frau
abzusagen und wieder nach Hause zu gehen, wird D. stimmt zu. Nach der Blutabnahme werden die
sie ins Sprechzimmer gerufen. Dr. K. empfängt sie Wunden von der Arzthelferin verbunden und Frau
freundlich und scheint sich ehrlich zu freuen, sie D. soll in 3 Tagen erneut in die Praxis kommen.
nach fast 3 Jahren wieder in seiner Praxis zu sehen. Frau D. ist vor dem zweiten Arzttermin sehr
Er fragt, was Frau D. zu ihm geführt habe. Frau D. beunruhigt und nervös. Andererseits vertraut sie
meint, dass sie den Termin eigentlich wieder absagen ihrem Hausarzt und fühlt sich bei ihm in guten
wollte, weil es ihr doch eigentlich gut ginge. Dr. K. Händen. In der Praxis muss sie zunächst noch
lächelt und fragt nach, was denn die Einschränkung Urin abgeben, bevor sie nach kurzer Wartezeit zu
130 Kapitel 13 · Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus

Dr. K gerufen wird. Dieser begrüßt sie freundlich erklärt ihr, dass er ihr gern ein Medikament ver-
und erkundigt sich nach ihrem Befinden. Frau D. schreiben möchte, welches die Insulinausschüttung
meint: „Och ja, es geht schon.“ Dr. K. sagt, dass er anregt. Dieses solle sie 1-mal täglich einnehmen.
die Blutergebnisse von Frau D. nun vorliegen habe. Frau D. ist damit einverstanden. Zusätzlich solle sie
Diese haben ergeben, dass Frau D. an Diabetes mel- Insulin spritzen, hier gebe es verschiedene Möglich-
litus Typ 2 erkrankt sei, umgangssprachlich nenne keiten der Therapie. Frau D. hat Angst, sich regel-
man dies auch Alterszucker. Auch im Urin wurden mäßig Insulin zu injizieren, daher möchte sie dies
erhöhte Zuckerwerte gemessen. Frau D. habe sicher so selten wie möglich tun. Dr. K. verordnet ihr daher
schon einmal von Diabetes gehört oder kenne andere ein Langzeitinsulin, bei dem sie sich eine von ihm
Betroffene, denn diese Erkrankung treffe viele ältere festgelegte Menge an Einheiten jeden Abend um 18
Menschen. Frau D. bejaht dies zögernd. Dr. K. erklärt Uhr spritzen soll. Zusätzlich solle sie in der nächs-
ihr, dass bei dieser Diabetesform die Zellen immer ten Zeit 2-mal täglich sowie bei Beschwerden ihren
schlechter auf das vom Körper produzierte Insulin Blutzucker messen und die Werte in einem Tage-
ansprechen und quasi immer höhere Dosen verlan- buch notieren. Dr. K. und eine Arzthelferin erklären
gen, um den Zucker aufzunehmen. Er erklärt bild- Frau D. den Umgang mit dem Insulin-Pen sowie dem
haft, dass der Zucker so in höherer Konzentration Blutzuckermessgerät. Ein entsprechendes Tagebuch
im Blut bleibe und dort die Gefäße regelrecht ver- wird ihr ebenfalls mitgegeben. Die Wundversorgung
klebe. Dies führe zu unterschiedlichen Schäden, durch eine Pflegekraft lehnt Frau D. ab, obwohl ihr
wenn man den Diabetes nicht gut behandele. Dr. K. Hausarzt ihr ein entsprechendes Rezept verordnen
bittet Frau D., ihm einige Fragen zu beantworten. So würde. Sie möchte die Verbände selbst wechseln. So
bejaht sie sowohl ein vermehrtes Durstgefühl in der verschreibt Dr. K. ihr das entsprechende Verband-
letzten Zeit als auch eine verstärkte Anfälligkeit für material. Frau D. soll in einer Woche wieder in die
Erkältungen, wie sie es gar nicht von sich kenne. Sie Praxis kommen, dann werden die Blutzuckerwerte
kann sich aber gar nicht vorstellen, was das mit dem sowie die Wundheilung kontrolliert.
Zucker zu tun hat, ebenso wie die Wunden an ihren Frau D. sagt den nächsten Arzttermin kurzfris-
Füßen. Dr. K. erklärt ihr, dass durch den Zucker die tig ab, er wird um 3 Tage verschoben. Als Dr. K. sie
kleinen Blutgefäße und Nerven geschädigt werden, dann darauf anspricht, wie sie in den letzten Tagen
unter anderem auch in den Füßen. So habe Frau D. zurechtgekommen sei, weicht Frau D. ihm aus. Das
die Druckstellen und Schmerzen nicht so intensiv Blutzuckertagebuch habe sie zu Hause vergessen.
13 empfunden wie normal, so dass unbemerkt Wunden Die Blutuntersuchung ergibt, dass der Langzeitzu-
entstehen konnten. Diese heilen zudem durch den cker unverändert hoch ist. Dr. K. kann auch keine
Diabetes schlechter. Dass die Erkrankung so kom- Verbesserung der Wunden feststellen. Er äußert in
pliziert sei, habe sie nicht gewusst, meint Frau D. der Ich-Form die Vermutung, dass Frau D. vielleicht
Dr. K. bietet ihr daraufhin an, an einer Schulung mit dem Spritzen, den Messungen und der Wund-
für Diabetiker teilzunehmen. Diese findet regelmä- versorgung überfordert gewesen sei, da sie vorher
ßig in den Räumen seiner Praxis statt und wird von damit ja noch nie zu tun hatte und es gar nicht kenne,
einer Diabetesberaterin gehalten. Dr. K. erklärt, dass krank zu sein. Frau D. gibt zögernd zu, dass sie nur
man den Diabetes heutzutage gut behandeln könne, die verordneten Tabletten genommen habe und die
aber leider nicht heilen. In der Schulung könne Frau Wunden so gut es ginge versorgt habe, aber weder
D. viel Wissenswertes erfahren und auch andere Insulin gespritzt noch Blutzucker gemessen habe.
Betroffene kennen lernen. Frau D. ist erst einmal Dr. K. erklärt Frau D. noch einmal ausführlich die
skeptisch, weil sie befürchtet, in der Schulung zum Anwendung des Pens und des Messgerätes und bittet
Kalorienzählen aufgefordert zu werden und zukünf- sie, diese auch zu benutzen. Er hofft, dass Frau D.
tig auf alles Leckere verzichten zu müssen, dennoch an der Schulung teilnehmen wird, da sie dort noch
stimmt sie zu, an der nächsten Schulung in 2 Wochen einmal ausführlich aufgeklärt wird. Zudem könne
teilzunehmen. sie sich bei Fragen jederzeit an ihn und sein Praxis-
In der Zwischenzeit möchte Dr. K. gemeinsam team wenden. Frau D. soll in 10 Tagen wieder in die
mit Frau D. die weitere Behandlung festlegen. Er Praxis kommen.
13.3 · Fallbeispiel Beratung bei Diabetes mellitus
131 13
Frau D. nimmt 2 Tage später an der mehrstün- die unterschiedlichen Möglichkeiten, wie dies umge-
digen Schulung in der Praxis teil. Zunächst hat sie setzt werden kann. Zum einen könne eine Pflegekraft
Vorbehalte, doch die etwas übergewichtige Diabetes- regelmäßig zu Frau D. kommen, um die Verbände
beraterin ist ihr auf Anhieb sympathisch. Während zu erneuern. Es bestehe aber auch die Möglichkeit,
der Schulung werden Frau D. und den anderen Kurs- eine spezielle diabetische Fußambulanz aufzusuchen.
teilnehmern nicht nur der Umgang mit dem Insu- Die Kosten würden in beiden Fällen von der Kran-
lin-Pen und den Blutzuckermessgeräten erklärt, sie kenkasse getragen. Dr. K. nutzt hier die Methode des
erproben diese auch mehrfach gemeinsam. Nun Ideenkellners (7 Abschn. 7.6), indem Frau D. zwi-
endlich fühlt sich Frau D. sicher genug, dies auch schen insgesamt 3 Möglichkeiten für die Wundver-
allein durchzuführen. Des Weiteren werden nicht sorgung wählen kann, ohne dass er eine Wertung
nur die Ursachen des Diabetes besprochen, sondern vornimmt. Frau D. findet es angenehmer, eine Fuß-
auch ausführlich die Symptome einer Über- und ambulanz aufzusuchen, als immer Pflegekräfte in
Unterzuckerung und wie diesen vorgebeugt werden ihre Wohnung zu lassen, daher entscheidet sie sich
kann. Zu guter Letzt werden auch die unterschied- für den regelmäßigen Besuch der Fußambulanz. Dr.
lichen Behandlungsmöglichkeiten mit ihren jewei- K. stellt die entsprechende Verordnung aus und gibt
ligen Vor- und Nachteilen besprochen. Auch die ihr die Adresse mit, seine Arzthelferin vereinbart
möglichen Spätschäden durch den Diabetes werden direkt den ersten Termin für die Patientin.
thematisiert. Frau D. war vorher gar nicht bewusst, Frau D. besucht in der Folgezeit regelmäßig die
welche schlimmen Folgen durch ihre Wunden am diabetische Fußambulanz, zunächst wird sie dort
Fuß entstehen können und wie langwierig dies alles alle 3 Tage vorstellig, später 1-mal wöchentlich. Die
ist. Sie beschließt, die Wunden nun sorgfältiger zu Wunden werden in der Ambulanz durch ausgebil-
versorgen. Nach der mehrstündigen Schulung ist dete Wundmanager versorgt und verbunden, das
Frau D. erfreut zu hören, dass regelmäßige, kürzere Verbandmaterial wird an die jeweilige Wundhei-
Treffen für die Teilnehmer vorgesehen sind, um neu lungsphase angepasst. Frau D. nimmt die Termine
aufgetretene Fragen zu beantworten und das Erlernte in der Ambulanz gern wahr, da sie dort immer auf die
aufzufrischen. Die ersten Treffen finden im Abstand gleichen Patienten und Pflegekräfte trifft, zu denen
von 14 Tagen statt, später sind monatliche Zusam- sie mit ihrer offenen und direkten Art schnell Kon-
menkünfte geplant. takte knüpft. Auch wenn der Wundheilungsprozess
Zu ihrem nächsten Arzttermin bringt Frau D. sich über mehrere Monate hinzieht, ist Frau D. über
ihr Blutzuckertagebuch mit, das in den letzten Tagen die Fortschritte erfreut, vor allem weil das Laufen ihr
auch von ihr geführt wurde. Wie vereinbart hatte sie mit der Zeit wieder deutlich leichter fällt.
sich seit der Schulung 1-mal täglich das Insulin ver- Frau D. nimmt an den weiteren Schulungstref-
abreicht, zusätzlich das Medikament genommen und fen teil. Die Blutzuckermessungen sowie das Insu-
2-mal täglich ihren Blutzucker gemessen. Die Werte linspritzen fallen ihr mittlerweile leicht und sind
sind immer noch zu hoch, vor allem am Abend. Der zur Routine geworden. In den Schulungen lernt sie,
Langzeitzuckerwert ist aber gesunken. Dr. K. lobt achtsam auf ihren Körper zu hören, um Unter- und
Frau D. ausführlich dafür, dass sie an der Schulung Überzuckerungen zu vermeiden. Außerdem kennt
teilgenommen habe und nun Insulin-Pen und Mess- Frau D. die einzelnen Lebensmittel und ihre Auswir-
gerät regelmäßig nutze. Er erhöht die Insulineinhei- kungen auf den Zuckerspiegel immer besser. Trotz-
ten, welche Frau D. sich abends spritzen soll. Die dem genießt Frau D. gern ihr Leben, was auch ein
Wunden an den Füßen sind laut Dr. K. unverändert. Bier am Abend und Torte oder Schokolade umfasst.
Als dieser ihr neues Verbandmaterial verschreibt, Dr. K. kontrolliert regelmäßig die Therapie-
spricht Frau D. ihn von sich aus darauf an, ob die erfolge bei Frau D. und spricht nach 5 Monaten
Füße nicht durch einen Profi verbunden werden offen an, dass die Blutzuckerwerte mit der bisheri-
sollten. Ihr sind die Ausführungen aus der Schu- gen Therapie zwar gesunken sind, aber leider immer
lung noch in Erinnerung, insbesondere die mögli- noch zu hoch sind, so dass Folgeschäden entstehen
chen Folgen bis hin zu notwendigen Amputationen. können. Er könne aber die Insulinmenge, die sie sich
Der Arzt freut sich, dies zu hören, und nennt Frau D. zurzeit 1-mal täglich spritze, nicht weiter erhöhen, da
132 Kapitel 13 · Beratung von Menschen mit Diabetes mellitus

Einnahme von Metformin


Insulingabe und Blutzuckermessung werden angeordnet, aber nicht durchgeführt
Wundversorgung nur sporadisch
1.

Teilnahme an regelmäßiger Diabetes-Schulung


Einnahme von Metformin
Tägliche Insulingabe, zweimal tägliche Blutzuckermessung
2. Wundversorgung in diabetischer Fußambulanz

Teilnahme an regelmäßiger Diabetes-Schulung


Wundversorgung in diabetischer Fußambulanz
Professionelle Fußpflege
Intensivierte Insulintherapie (mehrmals tägliche Blutzuckermessung und Insulingabe
3. nach Schema)

. Abb. 13.1  Therapieverlauf von Frau D. mit Diabetes Typ 2

sonst eine nächtliche Unterzuckerung drohe. Es gebe Erfahrungen mit der intensivierten Therapie gehört.
mehrere Optionen, wie man die Werte noch verbes- Da sie sich mittlerweile auch in der Lage fühlt, mit
sern könne. Zum einen könne man die Werte durch dieser Therapie umzugehen, möchte sie diese aus-
13 eine Diät beeinflussen, indem man mehr auf seine probieren. Dr. K. erstellt ihr ein individuelles Spritz-
Ernährung achte. Er selbst könne sich dies aber für schema. Zusätzlich zum schnell wirkenden Insulin
sich nicht vorstellen, zumal die modernen Behand- verordnet er weiterhin 1-mal täglich abends eine fest-
lungsmöglichkeiten dies auch nicht mehr erforder- gelegte Einheitenanzahl eines Langzeitinsulins. Um
lich machten. Dann bestehe die Möglichkeit, nicht Frau D. die Umstellung zu erleichtern, erhält sie von
1-mal täglich, sondern morgens und abends eine der Arzthelferin noch eine kurze Schulung zur neuen
festgelegte Menge Insulin zu spritzen. Allerdings Therapie (. Abb. 13.1).
sei man hier immer noch recht festgelegt, was die Frau D. beginnt die neue Insulintherapie hoch-
Essenszeiten und -mengen angehe. Die intensi- motiviert und engagiert. Ihre Motivation bleibt hoch,
vierte Insulintherapie bedeute dagegen wesentlich da die von ihr gemessenen Werte deutlich niedriger
mehr Freiheit für den Diabetiker, gleichzeitig müsse sind und sie sich insgesamt fitter fühlt. Dr. K. ist bei
er aber auch mehr Verantwortung für sich überneh- den weiteren Kontrollen ebenfalls sehr zufrieden mit
men. Er müsse vor den Mahlzeiten seinen Blutzu- seiner Patientin.
cker messen und dann je nach geplanter Nahrungs- Frau D. lernt im Laufe der Zeit, den Diabetes in
aufnahme unterschiedliche Dosen Insulin spritzen. ihr Leben und ihren Alltag zu integrieren. Spritzen
So könne man zu flexiblen Zeiten essen und „kleine und Messen werden zu alltäglichen Handlungen, so
Sünden“ durch eine höhere Insulindosis ausgleichen. wie das Zähneputzen oder Kaffeekochen. Sie ent-
Frau D. hört sich die unterschiedlichen Optionen wickelt ein Gefühl dafür, wie viele Insulineinheiten
an, von anderen Diabetikern hat sie schon positive sie sich wann spritzen muss. Komplikationen gab es
Literatur
133 13
nur, als Frau D. auf Grund eines grippalen Infektes
erkrankt war. Die Wunden an ihren Füßen sind nach
knapp einem Jahr verheilt. Frau D. besucht inzwi-
schen regelmäßig eine Podologin für die Fußpflege,
um weiteren Verletzungen vorzubeugen und Prob-
leme frühzeitig zu erkennen.

Literatur

Nationales Aktionsforum Diabetes mellitus (2015) Leitfaden


Prävention Diabetes mellitus Typ 2. Verfügbar unter
http://www.bvpraevention.de/bvpg/images/downloads/
nafdmleitfadenneu.pdf [06. 06. 2016]
Schwarz FJ (2016) Strategies for primary care. Diabetic care
39(1): 1–3
135 14

Beratung von Patienten


mit chronischen Schmerzen
Christine von Reibnitz, Katja Sonntag

14.1 Hintergrundwissen zu chronischen Schmerzen – 136

14.2 Die Stadieneinteilung des Schmerzes – 137

14.3 Zusammenarbeit von Arzt und Patient – 139

14.4 Wie können Pflegekräfte hier patientenorientiert


beraten? – 140

14.5 Fallbeispiel Beratung bei chronischem Schmerz – 140

Literatur – 145

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_14
136 Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

14.1 Hintergrundwissen zu Akute und chronische Schmerzen unterscheiden


chronischen Schmerzen sich insbesondere hinsichtlich der Dauer und dem
Ausmaß der Beeinträchtigung. . Tab. 14.1 zeigt die
Verschiedenen Schätzungen zufolge leiden mindes- Unterschiede auf.
tens 4 Millionen Menschen in Deutschland an chro- Die Versorgungssituation von Schmerzpatienten
nischen Schmerzen. Die Zahl der Menschen, die zeit- lässt sich in Deutschland als überwiegend mangelhaft
weise an Schmerzen leiden, liegt um ein Vielfaches bezeichnen. Der aktuelle Arzt Report der Barmer
höher. Chronische Schmerzzustände gehören somit GEK 2016 (Grobe et al. 2016) zeigt auf, dass etwa
zu den häufigsten und zu den sozioökonomisch 3,25 Millionen Menschen in Deutschland unter chro-
bedeutenden Krankheiten in Deutschland. Die Prä- nischen Schmerzen leiden. Von 2005 bis 2014 hat
valenzrate von chronischen Schmerzpatienten liegt sich ihre Zahl mehr als verdoppelt. Geschlechtsspe-
in Deutschland zwischen 15 und 25% (Wolff et al. zifische Unterschiede in der Prävalenz von Schmerz
2011, S. 27). sind auffällig. So war 2014 bei etwa 14,8 Millionen
Chronischer Schmerz bedeutet, dass ein Patient Männern (37,3%) und 22,6 Millionen Frauen (54,8%)
länger als 6 Monate lang „dauernd oder wiederkeh- mindestens 1 Schmerzdiagnose erstellt worden. Die
rend“ unter Schmerzen leidet (Bundesministerium Häufigkeit chronischer Schmerzen, die nicht auf ein
für Bildung und Forschung 2001, S. 2). Eine allge- organisches Leiden zurückzuführen sind, steigt ab
mein festgelegte zeitliche Grenze, ab der von chro- dem 65. Lebensjahr deutlich. Unter den über 80-Jäh-
nischen Schmerzen gesprochen wird, existiert nicht. rigen waren im Jahr 2014 etwa 13,2% betroffen (vgl.
Besteht eine Schmerzproblematik über einen Zeit- Grobe et al. 2016, S. 15).
raum von mehr als 6 Monaten, wird diese von Ärzten Durchschnittlich haben Patienten einen Leidens-
bzw. Therapeuten als chronisch angesehen. weg von 8–10 Jahren hinter sich, bevor sie adäquat
behandelt werden. Dieses zeigt sehr deutlich, wie
ungenügend diesen Patienten geholfen wird. Sind
es doch immerhin ca. 8 Millionen Menschen in der
Merkmale des chronischen Schmerzes Bundesrepublik, die unter verschiedenen Arten von
55 Mehrere erfolglose, insbesondere kausale Schmerzen (sowohl chronische als auch immer wie-
Behandlungsversuche derkehrende) leiden. Dieser großen Anzahl von
55 Nachhaltige Beeinträchtigung auf Patienten stehen 400 schmerztherapeutische Ein-
verschiedenen Ebenen des Verhaltens und richtungen und Praxen gegenüber. Um eine ausrei-
des Erlebens: chende und flächendeckende Versorgung zu gewähr-
–– kognitiv-emotional, wie z. B. leisten fehlen insgesamt ca. 600 Schwerpunktpraxen,
14 Befindlichkeit, Denken, Stimmung Schmerzambulanzen und Spezialabteilungen in Kli-
–– behavorial, wie z. B. verstärktes niken (vgl. Portzky 2010).
schmerzbezogenes Verhalten, An der Entwicklung von akuten zu chronischen
Reduktion von Alternativverhalten Schmerzen sind physiologische, psychologische und
–– sozial, wie z. B. Arbeitsunfähigkeit, soziale Faktoren beteiligt (Hasenbring 1999, S. 164).
Beeinträchtigung der Interaktion mit Chronische Schmerzen werden als ein multidimen-
Familie, Freunden und Bekannten sionales Phänomen angesehen, bei dem neben rein
–– physiologisch-organisch, wie z. B. somatischen auch psychosoziale Aspekte eine aus-
Mobilitätsverlust etc. schlaggebende Rolle spielen (Turk u. Rudy 1992,
55 Tendenz zur Schmerzausbreitung auf S. 420). Schmerzen sind durch die Lokalisation, die
verschiedenste Körperareale Intensität, Veränderungen der Beschwerden im zeitli-
55 Entwicklung zur Dauerschmerzbelastung chen Verlauf sowie die Art der Empfindungen einzu-
ohne Linderungsphasen ordnen. Auch viele Vorgänge im Körper ohne sicht-
55 Tendenz zur Schmerzintensivierung bare äußere Ursache können zu Schmerzen führen.
Es gibt viele unterschiedliche Krankheitsursachen,
14.2 · Die Stadieneinteilung des Schmerzes
137 14

. Tab. 14.1  Abgrenzung akuter von chronischen Schmerzen (nach Portzky 2010)

Akuter Schmerz Chronischer Schmerz

Dauer Stunden bis Tage Monate bis Jahre


Bedeutung Positiv: Warnfunktion Negativ: keine sinnvolle Funktion
Lokalisation Meist lokalisiert Häufig diffus
Ursache Meist peripher Häufig zentrale, psychogene
Mitbeteiligung
Verlauf Schnelle Besserung Häufig progrediente
Verschlechterung
Typische Vegetative Zeichen wie: Schlafstörungen, Depression,
Begleiterscheinungen –  Schwitzen, Tachykardie, Tachypnoe, Libidostörungen, Anorexie,
–  Vasokonstriktion, Obstipation, soziale Isolation,
–  Schlafstörungen, Qual, gestörte Persönlichkeitsveränderung,
Darmfunktion Arbeitslosigkeit, Suizidgefahr,
Verlust an Lebensqualität

die einem chronischen Schmerz zugrunde liegen In den letzten Jahren hat sich zunehmend eine Sta-
können, was eine einheitliche Definition erschwert. dieneinteilung des chronischen Schmerzes bewährt.
Nach übereinstimmender Meinung der Fachgesell-
schaften wird chronischer Schmerz als eine eigen-
ständige Krankheit betrachtet. Ihre Entstehung 14.2 Die Stadieneinteilung des
und ihr Verlauf hängen nicht nur von körperlichen, Schmerzes
sondern auch von seelischen und sozialen Faktoren
ab. Eine solche scheinbar „grundlose“ Erkrankung Unter Berücksichtigung der genannten Warnzei-
belastet die Patienten und ihre Angehörigen beson- chen und Risikofaktoren haben Therapeuten am
ders schwer. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass Schmerzzentrum des Deutschen Roten Kreuzes
das soziale Umfeld auf die unerklärbaren Schmer- (DRK) in Mainz vor Jahren ein Stadienmodell ent-
zen oft mit Unverständnis reagiert; rasch werden die wickelt, das den Ablauf und den Grad der Chroni-
Patienten mit Sätzen wie „Der simuliert doch nur“ fizierung charakterisiert und es ermöglicht, eine
oder „Das ist doch reine Einbildung“ belegt. Ähnlich mögliche Verschlimmerung besser als bisher vor-
reagieren leider auch manche Ärzte, meist mangels herzusagen (Portzky 2010). Dazu hat man 3 Stadien
besseren Wissens, wenn sie mit Schmerzpatien- definiert (. Tab. 14.2). Die Bewertungsfaktoren für
ten konfrontiert sind. Dass so viele Menschen lang die 3 Schmerzstadien zeigen, dass eine rein medi-
anhaltende oder häufig wiederkehrende Schmerzen zinische Diagnose nicht ausreicht, um dem einzel-
erleiden müssen, hat zwei Ursachen: nen Patienten gerecht zu werden. Denn psychische,
1. Eine Vielzahl von chronischen Erkrankungen soziale und berufliche Faktoren spielen darin ebenso
ist mit Schmerzen für die Betroffenen eine Rolle wie Persönlichkeitsmerkmale und Ver-
verbunden, z. B. rheumatische Leiden, Diabetes haltensweisen des Patienten. Das Schmerzstadien-
oder Tumorerkrankungen. modell, das ursprünglich für Kopfschmerzpatien-
2. Schmerz kann selbst zu einer Erkrankung ten entwickelt worden war, wird in allen deutschen
werden, auch wenn eine körperliche Schmerzzentren, Schmerzambulanzen, Rehabilita-
(somatische) Ursache nicht oder nicht mehr tionskliniken und von den Medizinischen Diens-
vorhanden ist. ten der Krankenkassen (MDK) sowie Gutachtern
14
138

. Tab. 14.2  Stadieneinteilung des Schmerzes (nach Gerbershagen o.J.)

Dimension/Achse Stadium 1 Stadium 2 Stadium 3

Zeitliche Aspekte (Schmerzverlauf) Zeitweiliger, zeitlich begrenzter Lang anhaltender, fast kontinuierlicher Dauerschmerz ohne oder mit seltenem
Schmerz mit wechselnden Schmerz mit seltenem Stärkewechsel Intensitätswechsel
Intensitäten
Räumliche Aspekte Umschriebene, zumeist Ausdehnung des Schmerzes auf Schmerzausbreitung auf entfernt
(Schmerzlokalisation) zuzuordnende Schmerzlokalisation; benachbarte Körpergebiete; multilokuläres liegende Areale, oft Schmerzortwechsel;
Schmerz auf eine Körperregion Schmerzsyndrom (70%) mit 2 oder mehr monolokuläres Schmerzbild über 70%
begrenzt (monolokulär), differenzierbaren Lokalisationen mit der Körperoberfläche, multilokuläres
multilokuläres Syndrom fast nur verschiedenen Schmerzqualitäten und Bild mit 3 oder mehr separaten
posttraumatisch -intensitäten oder ein Bild mit über 40% Schmerzrepräsentationen mit gleicher
Körperoberfläche Schmerzqualität und fast gleicher
Schmerzintensität
Medikamenteneinnahmeverhalten Zumeist angemessene 1–2 Medikamentenmissbrauchsepisoden; Langjähriger Medikamentenmissbrauch;
Selbstmedikation oder Einnahme 1–2 Medikamentenentzugsbehandlungen; oft 3 oder mehr
nach ärztlicher Verordnung derzeit unangemessene Medikation (80%) Medikamentenentzugsbehandlungen,
besonders Narkotika
Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

Beanspruchung der Einrichtungen Aufsuchen des persönlichen 2- bis 3-maliger Wechsel des persönlichen Mehr als 3-maliger Wechsel des
des Gesundheitswesens Arztes, Konsultation empfohlener Arztes, ziellose Konsultationen von persönlichen Arztes, zielloser Arzt- und
Spezialisten; 1 schmerzbedingter Spezialisten, insbesondere gleicher Heilpraktikerbesuch („doctor hopping”);
Krankenhausaufenthalt; Disziplinen; 2–3 schmerzbedingte mehr als 3 Krankenhausaufenthalte
evtl. 1 Aufenthalt in Krankenhausaufenthalte; 1–2 Aufenthalte wegen der geklagten Schmerzen;
einem Schmerzzentrum; in Rehabilitations- oder Schmerzzentren; mehr als 2 Rehabilitationsmaßnahmen;
1 schmerzbedingte Operation 2–3 schmerzbezogene operative Eingriffe mehr als 3 schmerzbezogene operative
Maßnahmen
Psychosoziale Belastungsfaktoren Übliche familiäre, berufliche Konsequenzen der Schmerzen für die Versagen in der Familie, im
und psychologische Probleme; familiäre, berufliche, psychophysiologische Beruf und in der Gesellschaft;
Bewältigungsmöglichkeiten Stabilität; Bewältigungsstrategien noch Bewältigungsmechanismen nicht
werden voll eingesetzt („akute vorhanden, aber fehleingesetzt („beginnende analysierbar, nicht nachweisbar
Krankenkontrolle“) Invalidenrolle“)
14.3 · Zusammenarbeit von Arzt und Patient
139 14
genutzt. Ein Patient, für den das Schmerzstadium 1 zu dokumentieren. Zu diesem Zweck führen die
diagnostiziert wird, braucht kein Schmerzzentrum Betroffenen ein Schmerztagebuch, in dem Schmerz-
aufzusuchen: Der akute Schmerz ist bei ambulanter empfindungen und dazugehörende Beobachtungen
oder stationärer medizinischer Versorgung gut zu täglich eingetragen werden. Auf diese Weise berei-
beherrschen. Ein Patient im Stadium 3 kann selbst tet der Patient seine Krankengeschichte so auf, dass
bei Zusammenarbeit mehrerer Fachärzte ambulant sein Arzt daraus die notwendigen Schlüsse ziehen
nicht effektiv behandelt werden, sondern bedarf kann. Dies ist dann der Ausgangspunkt für ein aus-
einer stationären Behandlung. führliches Gespräch zwischen dem Patienten und
dem therapeutischen Team. In den Schmerzzentren
nimmt an diesem Gespräch neben dem Schmerzthe-
14.3 Zusammenarbeit von Arzt rapeuten auch ein medizinischer Psychologe teil. Die
und Patient Befragung des Patienten und – sofern notwendig –
weitere Untersuchungen verschaffen den Ärzten die
Um den Chronifizierungsgrad eines Patienten zu notwendige Grundlage für einen „multidimensiona-
ermitteln, sind entsprechende Assessmentinstru- len“ Therapieplan. Dieser legt fest, wie das Behand-
mente mittels persönlicher Befragung des Patienten lungsteam vorgehen wird. Dazu gehört die medizi-
einzusetzen. Hierbei analysieren die Patienten vorab nische, d. h. „somatische“ Behandlung, ebenso aber
mit einem Fragebogen ihre eigene Schmerzerkran- auch die Betreuung durch Psychologen, Kranken-
kung. Hierbei werden die Symptome durch gezielte gymnasten oder Verhaltenstherapeuten. Diese ver-
Fragen eingegrenzt und charakterisiert: mitteln dem Patienten z. B. Methoden zur Stressbe-
44Wo tut es weh? Empfindet der Patient den wältigung oder zur Entspannung.
Schmerz tief im Körperinneren oder eher an Der Behandlungserfolg bei chronischen Krank-
der Hautoberfläche? Tritt der Schmerz in einer heiten kann auch von einer gelungenen Arzt-Patient-
begrenzten Körperregion auf (Kopfschmerz, Kommunikation abhängen (Dibbelt et al. 2010, Bredart
Bauchschmerz, Gelenkschmerz, Brustschmerz) et al. 2005). Häufig endet jedoch die Arzt-Patient-Inter-
oder gleichzeitig an mehreren? aktion im Fall von nichtspezifischen, funktionellen
44Stellen? Strahlt er von einer besonders schmer- oder somatoformen Körperbeschwerden in einem
zenden Region in andere Körperteile aus? Sind negativen Teufelskreis aus Hoffnung, Enttäuschung
unter Umständen größere Partien des Körpers und dem Gefühl, nicht verstanden zu werden, auf-
(Quadranten, linke oder rechte Körperhälfte) seiten des Patienten sowie den daraus resultierenden
betroffen? Wie wird der Schmerz charakteri- negativen Konsequenzen („sich ausgesaugt fühlen“,
siert? Ist er dumpf oder stechend, pulsierend Druck durch große Erwartungen, Stress und nega-
oder drückend, ziehend oder stechend? Wie oft tive Gefühle) für den Behandler (Sauer u. Eich 2007).
tritt der Schmerz auf und wie lange dauert er Nicht selten führt die zunehmende emotionale Distanz
an? Tritt er gelegentlich auf, kehrt er regelmäßig schließlich zum Abbruch der Behandlungsbeziehung
wieder, gibt es länger dauernde Schmerzepi- und dem Wechsel des Behandlers („doctor hopping“).
soden oder ist er dauerhaft vorhanden? Wertschätzung und Empathie sind die Grund-
44Welche Ereignisse oder Handlungen lösen den lagen der Beziehung zwischen Patient und Exper-
Schmerz aus, welche verstärken oder lindern ihn? ten im Behandlungsprozess. Die Art der Darstellung
des Problems durch den Patienten kann sehr emo-
Ein sorgfältig ausgefüllter Fragebogen reicht in tional und extrem erfolgen und so Widerstand beim
vielen Fällen bereits aus, um eine erste Diagnose zu Gegenüber auslösen. Gründe für das Verhalten des
treffen: In welchem Chronifizierungsstadium befin- Patienten in der akuten Schmerzsituation können in
det sich der Patient? Leidet er unter Depressionen den Erfahrungen aus früheren Behandlungssituatio-
oder Angststörungen? Ist seine Lebensqualität einge- nen liegen, wie nicht gehört, verstanden und wahr-
schränkt? In vielen Fällen ist es für eine sichere Diag- genommen zu werden (S-3-Leitlinie). Die Psyche
nose sinnvoll und nützlich, die Schmerzempfindun- spielt bei chronischem Schmerz eine entscheidende
gen eines Patienten über einen längeren Zeitraum Rolle (Sonnenmoser 2007, S. 127 f.). Daher sind auch
140 Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

psychologische und psychotherapeutische Inter- und die Art seiner Schmerzen ist, da nur er den
ventionen in der Behandlung von Schmerzpatien- Schmerz wahrnimmt, erlebt, fühlt und ihn beurtei-
ten wesentliche Aufgabe. Therapieverweigerungen len kann. Pflegende und Therapeuten müssen offen
und hohe Abbruchquoten weisen aber auch auf das sein für die Möglichkeiten, den Schmerz zu kontrol-
Nichtbefolgen der Therapieempfehlungen hin und lieren, und die Meinung des Patienten berücksich-
verdeutlichen, dass die Adherence für den Erfolg tigen, was für ihn sinnvoll erscheint. Pflegekräfte
und die Akzeptanz von therapeutischen Maßnah- können Schmerzpatienten beraten, ihnen wertvolle
men bedeutsam ist. Ideen anbieten (s. hierzu den Realitätenkellner in
Die mangelnde Compliance von Schmerzpatien- 7 Abschn. 7.6), sie bei der Therapie partnerschaftlich
ten kann verschiedene Gründe haben. Hierzu zählen unterstützen und begleiten. Die wichtigsten Aufga-
beispielsweise Unkenntnis über oder Zweifel an der ben in der Beratung sind in der 7 Übersicht und in
Wirkung psychotherapeutischer Interventionen. . Abb. 14.1 dargestellt.
Manche Patienten halten Schmerzen für ein rein kör-
perliches Phänomen, das ausschließlich mit medika-
mentösen oder chirurgischen Maßnahmen behandelt
werden sollte (Sonnemoser 2007, S. 128). Andere wie- Aufgaben der Beratung bei Patienten mit
derum glauben nicht daran, dass sie selbst etwas gegen chronischen Erkrankungen (nach http://
ihre Schmerzen tun können. Die Anspruchshaltung des www.thevo.info/index.php/de/component/
Patienten, dass es die Aufgabe der medizinischen Ver- docman/doc_download/26-pflegeinfo-3)
sorgung sei, die Schmerzen zu beseitigen, trägt hierzu 55 Eine gründliche Schmerzanamnese
bei. Auch hier zeigt sich eine mangelhafte Adherence. durchführen
Die erfolgreiche Behandlung chronischer 55 Den Patienten genau beobachten
Schmerzen setzt voraus, dass Arzt und Patient 55 Die Wirkung von Medikamenten exakt
gemeinsam die Therapieziele festlegen und sich beobachten
bei der Kommunikation auf gleicher Augenhöhe 55 Schmerzzustände registrieren und
bewegen. Doch gerade diese Möglichkeiten werden dokumentieren (Schmerzskalen)
in der täglichen Praxis nicht ausreichend genutzt 55 Den Schmerz der Patienten ernst nehmen
– und hierin sehen Experten eine entscheidende und es ihm signalisieren
Ursache, warum viele Schmerzpatienten derzeit 55 Den Patienten beim Führen eines
nicht optimal behandelt werden. Gelungene Kom- Schmerztagebuches unterstützen
munikation zwischen allen an der Schmerzthera-
pie Beteiligten trägt dazu bei, die Eigenverantwor-
14 tung der Patienten zu stärken. Dies fällt vor allem
bei multimodalen Behandlungsansätzen mit medi- 14.5 Fallbeispiel Beratung bei
kamentöser Therapie und nichtpharmakologischen chronischem Schmerz
Behandlungsoptionen wie Verhaltenstherapie und
Bewegungstraining ins Gewicht, bei denen Patien- Herr B. ist 67 Jahre alt, verheiratet und Vater von
ten selbst viel zur Verbesserung der Schmerzsymp- 2 erwachsenen Söhnen. Er ist gelernter Fliesenle-
tomatik beitragen können (vgl. http://praxisprofalon. ger und war immer selbstständig, wie auch schon
schmerzkonsilium.ch/gems/SerieSchmerzII511Art.pdf). sein Vater. Seine Familie gut zu versorgen war ihm
stets äußerst wichtig, Krankheiten und Ausfallzei-
ten waren daher nicht erwünscht. Leider bereitete
14.4 Wie können Pflegekräfte hier Herrn B. schon seit seinem 42. Lebensjahr seine Wir-
patientenorientiert beraten? belsäule zunehmend Probleme, hervorgerufen unter
anderem durch die schwere körperliche Arbeit und
Wesentliche Voraussetzung für eine gute Beratung ist die für den Rücken ungünstige Haltung während des
die Berücksichtigung der Tatsache, dass der Schmerz- Fliesenlegens. Herr B. hatte die immer häufiger auf-
patient der Spezialist in Bezug auf das Vorhandensein tretenden Rückenschmerzen mit der Einnahme von
14.5 · Fallbeispiel Beratung bei chronischem Schmerz
141 14

Adäquaterer Umgang mit den Schmerzen


Verhindern des sozialen Rückzugs
Verändern der Schonhaltung
Schmerzfreiheit ist kein Ziel
Zielvereinbarung Ggf. Akzeptanz eines neuen, niedrigeren Leistungsniveaus

Welche Probleme hat der Patient außer dem Schmerz?


Familiäre und berufliche Situation berücksichtigen
Verständigung auf ein gemeinsames Therapieziel - Adherence
Multimodale Therapie - es gibt keinen Königsweg
Schmerz als Interdisziplinär denken ( Case Management“)

Krankheit begreifen Patienten aktivieren

Aktivitäten-Tagebuch
Schmerz-Tagebuch
Einbezug der Angehörigen
Psychoedukation
Re-Konditionierung
Aktivierung Psychische Stabilisierung

. Abb. 14.1  Inhalte einer Beratung zwischen Pflegexperte und Patient

Ibuprofen oder anderen frei verkäuflichen Schmerz- seiner Frau weist er zurück. Eines Morgens bei der
mitteln behandelt, ohne einen Arzt aufzusuchen. Arbeit, als Herr B. gerade die Pakete mit Fliesen zu
Auch die berufliche Tätigkeit hatte er fortgeführt und einer Baustelle trägt, verspürt er plötzlich einen ste-
laut eigener Aussage dabei „die Zähne halt zusam- chenden Schmerz im Lendenwirbelbereich, gleich-
mengebissen“. Bis zu seinem 64. Lebensjahr war er zeitig knickt sein rechtes Bein unter ihm weg, welches
so verfahren und hatte die Dosis der Schmerztab- er nicht mehr bewegen kann und in dem er ein Taub-
letten immer weiter erhöht, da die schmerzredu- heitsgefühl spürt. Ein anderer Handwerker, welcher
zierende Wirkung fortlaufend nachgelassen hatte. auch gerade auf der Baustelle arbeitet, bemerkt den
Die mit der Zeit auftretenden Magenprobleme wie Vorfall und ruft einen Krankenwagen für Herrn B.,
Übelkeit, Sodbrennen und Magenschleimhautent- welcher sich vor Schmerzen am Boden windet.
zündungen behandelte Herr B. ebenfalls eigenmäch- Herr B. wird im Krankenhaus einer umfangreichen
tig mit frei verkäuflichen Magenmedikamenten aus Diagnostik unterzogen, welche diverse Veränderun-
der Apotheke. gen am Rücken ergibt. So werden mehrere Band-
Seine Frau kritisiert ihren Mann dafür, dass er nie scheibenvorfälle ebenso festgestellt wie eine Facet-
einen Arzt aufsucht, obwohl es ihm sichtlich immer tengelenkarthrose, also der Verschleiß der kleinen
schlechter geht. Er reagiert zunehmend gereizt und Gelenke zwischen den Wirbelkörpern. Eine Spinal-
zieht sich nach der Arbeit mit seinem Bier vor den kanalstenose, hervorgerufen durch die Bandschei-
Fernseher zurück, die gut gemeinten Ratschläge benvorfälle und den Verschleiß der Wirbelkörper,
142 Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

(zunehmende)
Schmerzen

Abnahme der
körperlichen
Schonhaltung
Belastbarkeit

Abnahme der Einnahme von


Muskelkraft Medikamenten

. Abb. 14.2  Teufelskreislauf Schmerz

scheint Ursache für die Lähmungserscheinungen obwohl er eigentlich weiterhin Ärzte und Kranken-
zu sein. In einer aufwändigen Operation werden häuser weitestgehend meiden möchte. Den Teufels-
die Bandscheibenvorfälle behandelt, es folgt eine kreislauf Schmerz zeigt . Abb. 14.2.
langwierige Rehabilitation. Herr B. ist gezwungen, In der Fachklinik erfolgt zunächst ein ausführli-
seine Berufstätigkeit auf Grund der gesundheitli- ches Anamnesegespräch zwischen dem behandeln-
14 chen Einschränkungen aufzugeben. Die Lähmungs- den Schmerzmediziner Dr. U. und Herrn B.; alle bis-
erscheinungen sind zwar nach der Operation nicht herigen Untersuchungsergebnisse sowie Therapien
mehr aufgetreten, er hat aber weiterhin sehr häufig haben die behandelnden Ärzte an Dr. U. weitergege-
Rückenschmerzen und seine körperliche Belastbar- ben. Herr B. hat zudem im Vorfeld einen Fragebogen
keit ist stark eingeschränkt. So hat seine Muskel- zu seinen Schmerzen ausgefüllt und zum Gespräch
kraft in den Beinen deutlich nachgelassen und schon mitgebracht. Hieraus geht hervor, dass Herr B.
nach kürzeren Gehstrecken plagen ihn zunehmende durchgängig Schmerzen empfindet, deren Intensi-
Schmerzen. tät jedoch im Tagesverlauf zu schwanken scheint.
Da der behandelnde Hausarzt sowie der Ortho- Die Schmerzen beschränken sich dabei nicht nur
päde von Herrn B. schon diverse Schmerzmedika- auf seinen Rücken, sondern strahlen auch in beide
mente verschrieben haben, Herr B. aber weiterhin Beine aus. Dr. U. begrüßt Herrn B. freundlich in
über chronische Rückenschmerzen klagt, soll er seinem Sprechzimmer und erklärt ihm, dass er nun
im Rahmen einer Schmerztherapie im Kranken- ca. 30 Minuten Zeit für ihn habe. Er freut sich, dass
haus behandelt werden. Da der Leidensdruck für Herr B. einer Schmerztherapie zugestimmt hat und
ihn mittlerweile sehr groß ist, stimmt Herr B. dem erklärt ihm, dass das Ziel dieser Schmerztherapie
Krankenhausaufenthalt in einer Fachklinik sofort zu, sei, die Schmerzen von Herrn B. zu mindern und so
14.5 · Fallbeispiel Beratung bei chronischem Schmerz
143 14
seine Lebensqualität zu erhöhen. Herr B. solle Hilfe Magen-Darm-Trakt gesorgt, wie er der Kranken-
bekommen, besser mit seinen Schmerzen umzuge- akte entnehmen könne. Er möchte die Wirkung von
hen, und Strategien an die Hand bekommen, wie er Tilidin in Kombination mit Naloxan testen, einem
selbst Schmerzen reduzieren können. Um dies zu schwachen Opioid, ergänzt durch Schmerztropfen
schaffen, sei es aber sehr wichtig, dass Herr B. eng mit dem Wirkstoff Diclofenac sowie Omeprazol,
mit ihm zusammenarbeite und ihm immer kurz- einem Medikament zum Schutz der Magenschleim-
fristig eine Rückmeldung gebe, wie es ihm gehe und haut. Herr B. wird die Medikamente entsprechend
ob die angeordneten Therapien eine Erleichterung der von Dr. U. empfohlenen Dosierung jeweils von
gebracht hätten. Nur so könne eine passende Thera- den Schwestern erhalten. Dr. U. bittet ihn außerdem,
pie für ihn gefunden werden. Er erkundigt sich bei ein Schmerztagebuch zu führen. Hier soll Herr B.
Herrn B., ob er mit diesem Vorgehen einverstanden mehrmals täglich mit Hilfe der numerischen Rating-
ist, was dieser durch ein Nicken bejaht. skala die Stärke seines Schmerzes bestimmen. Beson-
Dr. U. äußert nun, dass er sich die Kranken- ders Schmerzspitzen, aber auch Zeiten mit beson-
akte von Herrn B. vor diesem Gespräch angesehen ders wenig Schmerzen solle er hier dokumentieren,
habe, um sich einen Überblick über die vorliegen- ebenso wie Aktivitäten, die die Schmerzen verstärkt
den Diagnosen und die bisherigen Behandlungs- oder gelindert haben. Dies sei ein wichtiger Hinweis
methoden zu verschaffen. Herr B. sei sicher immer für Dr. U., um die Medikamente weiter optimieren zu
„ein Arbeitstier“ gewesen, dies könne er gut nach- können und Herrn B. zu helfen. Dr. U. fragt Herrn B.,
vollziehen, weil er selbst auch selten krank bei der ob dieser noch Fragen habe, was er mit einem Kopf-
Arbeit fehle, sondern immer für seine Patienten schütteln verneint.
da sein wolle. Es sei schon bewundernswert, dass Dr. U. fasst noch einmal zusammen, dass er die
Herr B. trotz so vieler Probleme mit seinem Rücken Schmerzmedikation von Herrn B. ab sofort geän-
so lange in seinem Beruf als Fliesenleger durchge- dert hat und Herr B. die Medikamente zur jeweili-
halten habe, der einem schließlich körperlich viel gen Zeit von den Schwestern auf der Station erhal-
abverlange. Da könne er als Arzt sicher nicht mitre- ten wird. Herr B. solle bitte ein Schmerztagebuch
den (EWE-Prinzip, 7 Abschn. 7.4). Herr B. fühlt sich führen, in dem er besonders schmerzarme, aber auch
als Person durch die Äußerungen von Dr. U. wert- schmerzintensive Zeiten sowie die jeweiligen Akti-
geschätzt und antwortet geschmeichelt, dass die vitäten festhält. Diese Aufzeichnungen solle er bitte
Familie schließlich ernährt werden musste und er zum nächsten Gespräch übermorgen um 14 Uhr mit-
eben die Zähne zusammengebissen habe, wenn der bringen. Dann würden sie gemeinsam schauen, ob es
Rücken mal wieder zwickte. Die körperliche Arbeit schon eine Verbesserung gibt und wie die Medika-
fehle ihm heute und er komme sich schon nutzlos tion weiter optimiert werden kann. Dr. U. erkundigt
vor, weil er nicht mehr so könne, wie er wolle. Er sich, ob Herr B. dies verstanden habe und entlässt ihn
hoffe, dass Dr. U. ihm helfen könne, dass es ihm nach seiner Zustimmung.
wieder besser gehe. Sein Hausarzt sowie sein Ortho- Herr B. erscheint wie vereinbart zum Folgeter-
päde seien wohl „mit ihrem Latein am Ende“, dies min, wirkt aber missmutig und abweisend, als Dr. U.
seien auch nicht die ersten Ärzte, die ihn seit seiner ihn freundlich begrüßt. Er erklärt den Sinn dieses
Rückenoperation betreuten. Dr. U. wiederholt, dass Treffens, nämlich durch den Austausch und die
es das Ziel seines Krankenhausaufenthaltes sei, mit Rückmeldung von Herrn B. eine optimale Schmerz-
Hilfe der Schmerztherapie seine Schmerzen zu ver- medikation für ihn zu erhalten und so seine Lebens-
ringern und seine Lebensqualität zu erhöhen. Am qualität zu erhöhen. Herr B. unterbricht Dr. U. an
Zustand der Wirbelsäule selbst mit ihren Schäden dieser Stelle mit dem Ausruf: „Lebensqualität?
könne er nichts ändern. Welche Lebensqualität? Die habe ich schon lange
Dr. U. erläutert Herrn B., dass er als ersten Schritt nicht mehr. Und ihr Ärzte könnt mir da auch nicht
seine Schmerzmedikation mit seiner Zustimmung weiterhelfen!“ Dr. U. signalisiert Verständnis für die
ändern möchte. Die lange Einnahme von Ibuprofen gezeigten Emotionen von Herrn B. und benennt
in Tablettenform zeige mittlerweile wohl nicht mehr diese. Er könne sehr gut nachvollziehen, dass Herr B.
ausreichend Wirkung und habe für Beschwerden im wütend und ärgerlich sei, da ihn schließlich starke
144 Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

Schmerzen schon lange quälen. In den letzten In der Erinnerung verschwimmen sonst häufig die
Jahren habe er sicher häufig einen Arzt aufsuchen Erinnerungen. So berichteten Patienten zum Bei-
müssen oder sogar in die Klinik gemusst, ohne dass spiel, ihnen gehe es deutlich besser, wenn sie zum
es ihm nachher viel besser gegangen sei. Da könne Gesprächszeitpunkt kaum Schmerzen haben, diese
man sicherlich ärgerlich werden und das Vertrauen in der Zwischenzeit aber durchaus stärker waren.
in das Können der Ärzte verlieren. Andere Patien- Andersherum erzählen Patienten, die während des
ten hätten sich vielleicht schon ganz aufgegeben, Gesprächs akute Schmerzen haben, nichts habe
doch er schätze Herrn B. als eine „Kämpfernatur“ ihnen geholfen, obwohl es vielleicht Phasen gegeben
ein, die nicht so schnell aufgebe (NURSE-Modell, habe, in denen der Schmerz erträglicher war. Außer-
7 Abschn. 7.2). dem habe der Patient mit den Jahren sicher selbst
Herr B. wirkt nun etwas zugänglicher und sagt einige Strategien entwickelt, um mit seinen Schmer-
leise, dass jeder neue Arzt ihm die tollsten Sachen zen besser fertig zu werden. Herr B. kenne sich und
versprochen habe, aber nichts davon sich bewahr- seine Schmerzen schließlich am besten. Dr. U. fragt
heitet hätte. Auch jetzt habe er gehofft, endlich diese nach dieser Erklärung, ob Herr B. für die nächs-
unerträglichen Schmerzen loszuwerden, doch er ten Tage bereit sei, ein Schmerztagebuch zu führen.
quäle sich immer noch damit herum. Dr. U. sei bei Alternativ könne er auch die Schwestern bitten, ihn
ihm sicher auch mit seinem Latein am Ende, weil mehrmals täglich zu seinen Schmerzen zu befragen,
eben sein ganzer Rücken „nur noch Schrott“ sei. er könne sich eine Variante aussuchen (Ideenkellner,
Der Arzt erwidert, dass er Herrn B. gern helfen 7 Abschn. 7.6). Herr B. überlegt einen Moment und
möchte und ihn weiter unterstützen möchte. Es sei entscheidet dann, dass die Schwestern ihn regelmä-
aber gerade bei chronischen Schmerzen, die einen ßig ansprechen sollen. Er habe es mit dem regelmä-
Patienten schon lange plagen, nicht immer einfach, ßigen Aufschreiben nicht so. Dr. U. sagt, er werde die
die passende Medikation zu finden. Hier müsse man Schwestern darüber informieren, dass sie Herrn B.
schon einmal mehrere Substanzen und Dosierungen nun mehrmals täglich zu seinen Schmerzen befra-
testen, die Wirkung gemeinsam mit dem Patienten gen sollen. Er fasst zusammen, dass die Medika-
besprechen und so die richtigen Mittel finden. Wenn tion zunächst wie in den vergangenen beiden Tagen
Herr B. dies weiterhin möchte, würde er die Thera- bleiben soll, Herr B. die Tabletten von den Schwes-
pie gern fortsetzen. Herr B. fragt den Arzt, ob dieser tern erhält und diese ihn regelmäßig zu seinen
denn überhaupt Hoffnung für ihn habe, er solle ihm Schmerzen befragen werden. In 2 Tagen bittet Dr. U.
dies ehrlich sagen. Dr. U. erwidert, dass er sogar den Patienten erneut zum Gespräch und hofft, dann
überzeugt davon sei, die Schmerzen von Herrn B. schon erste Erfolge bezüglich der Schmerzintensität
deutlich lindern zu können, wenn er sie auch even- erreichen zu können. Herr B. erklärt sich mit dem
14 tuell nicht völlig nehmen könne. Vorgehen einverstanden und sagt, er habe zurzeit
Herr B. fragt erneut nach, ob Dr. U. dies wirk- keine Fragen mehr an den Arzt.
lich ernst meint, was dieser aus voller Überzeugung Beim 3. Beratungsgespräch wirkt Herr B. deut-
bejaht. Herr B. wirkt erleichtert und erkundigt sich, lich freundlicher und gelöster als bei den vorange-
wie es denn nun weiter gehe. Die Tabletten der letzten gangenen Gesprächen. Dr. U. begrüßt seinen Patien-
beiden Tage habe er genommen, wenn die Schwes- ten und berichtet, dass er die von den Schwestern
ter sie ihm gegeben habe. Er habe aber keine wirk- erhobenen Daten hier vorliegen habe. Diese verstehe
liche Schmerzminderung bemerkt. Dr. U. erkun- er so, dass Herr B. bis zum Nachmittag zwar Schmer-
digt sich, ob Herr B. das Schmerztagebuch geführt zen spüre, diese aber eine relativ geringe Intensität
habe, was dieser aber verneint. Er habe nicht verstan- hätten. Ab dem Nachmittag und vor allem in den
den, was diese „Kreuzchen alle paar Stunden“ helfen Nachtstunden plagten ihn anscheinend aber wei-
sollten, seine Probleme zu lösen. Der Arzt erklärt terhin starke Schmerzen. Er fragt, ob dies mit den
dem Patienten daraufhin noch einmal ausführlich Empfindungen von Herrn B. übereinstimmt, was
den Sinn des Schmerztagebuches. Nur durch eine dieser bejaht. Vor allem in den Nächten würden ihn
genaue Rückmeldung könne er herausfinden, welche schon lange die stärksten Schmerzen quälen, so dass
Medikamente Herrn B. in welcher Dosierung helfen. er kaum schlafen könne. Das würde ihn zusätzlich
Literatur
145 14
belasten, weil er sich immer „wie gerädert“ fühle. zur Stressbewältigung. Herr B. bedankt sich für
Tagsüber schaffe er es besser, sich abzulenken, zum das Angebot, lehnt dieses aber ab. Er möchte nun
Beispiel durch Lesen oder Kreuzworträtsellösen. Er zunächst zu seiner Frau nach Hause. Dr. U. erwidert,
mache auch immer mal wieder kurze Spaziergänge dass er dies durchaus verstehen könne. Es gebe aber
oder Besorgungen, doch abends und nachts fühle er auch die Möglichkeit, dass Herr B. ambulant einige
sich dazu nach dem für ihn anstrengenden Tag nicht Therapien fortführe. So könne er 1- bis 2-mal pro
mehr in der Lage. Dr. U. erklärt, dass sie nun schon Woche an einer Gruppentherapie teilnehmen, bei
einen großen Schritt weiter seien. Es scheine so, als der Entspannungsübungen erlernt werden, außer-
wenn das Tilidin Herrn B. durchaus die Schmer- dem solle er möglichst 2-mal wöchentlich Kranken-
zen nehme, doch dass die Dosierung für die Abend- gymnastik machen. Dieses Angebot passt Herrn B.
und Nachtstunden noch nicht ausreichend sei. Man schon besser, er möchte sich dies durch den Kopf
könne auch überlegen, zusätzlich ein Medikament gehen lassen und sich dann im Laufe der kommen-
zum Schlafen zu testen, damit Herr B. besser schla- den Woche bei Dr. U. melden. Dieser fasst zusam-
fen könne. Viele Patienten hätten schon Angst, weil men, dass Herr B. dann morgen nach Hause entlas-
sie wüssten, dass jede Nacht starke Schmerzen auf- sen werde. Die aktuelle Medikation wird ihm für
treten, und hätten dadurch verständlicherweise einen 3 Tage mitgegeben. Sein Hausarzt sowie sein Ortho-
gestörten Schlaf. Dr. U. schlägt also vor, die Schmerz- päde erhalten die Unterlagen vom Krankenhaus und
medikation ab abends zu erhöhen und gegen 22 Uhr müssen die Rezepte für die Medikamente sowie die
zusätzlich eine Schlaftablette anzuordnen. Herr B. Krankengymnastik dann weiter ausstellen. Herr B.
müsse sich danach aber recht zügig ins Bett legen, muss sich also zeitnah nach seiner Entlassung um
da sonst durch die Benommenheit die Sturzgefahr die Rezepte bemühen. Des Weiteren meldet sich
recht groß sei. Herr B. stimmt der weiteren Thera- Herr B. im Laufe der nächsten Woche bei Dr. U, ob
pie zu, die Schmerzintensität soll bis zum nächsten er an einer nichtmedikamentösen Gruppentherapie
Gespräch in 3 Tagen weiterhin durch die Schwestern teilnehmen möchte, um zusätzliche Methoden zum
erfragt werden. Umgang mit Schmerzen zu erlernen. Herr B. stimmt
Zum 4. Gespräch begrüßt Herr B. Dr. U. mit dem zu und fragt nach, wer seinen Ärzten die Infor-
einem Strahlen im Gesicht und bedankt sich für seine mationen aus dem Krankenhaus weitergebe. Der
Arbeit. Endlich, nach quälenden Monaten, habe er Arzt wiederholt, dass er dies tun werde, Herr B. sich
wieder gut schlafen können und die Schmerzen seien nur seine Rezepte dort abholen möchte. Da Herr B.
zwar noch vorhanden, aber gut auszuhalten. Dies keine weiteren Fragen hat, verabschieden sich die
bestätigt auch die Schmerzdokumentation durch beiden voneinander.
die Schwestern. Dr. U. freut sich mit seinem Patien- Herr B. wird am nächsten Tag nach Hause ent-
ten und wird die Medikation zunächst beibehalten. lassen und entschließt sich nach einigen Tagen,
Er wird auch den behandelnden Hausarzt sowie 1-mal pro Woche an einer Gruppentherapie teil-
den Orthopäden über die Medikation informie- zunehmen, bei der Entspannungstechniken ver-
ren, damit diese sie weiter verordnen können. Sollte mittelt werden. Die verordnete Physiotherapie hilft
Herr B. wieder stärkere Schmerzen haben, solle er durch die Stärkung der Muskulatur bei der Entlas-
nicht zögern, erneut die Schmerzklinik aufzusuchen. tung der Wirbelsäule, gleichzeitig gewinnt Herr B.
Der Arzt möchte Herrn B. aber noch nicht an körperlicher Belastbarkeit zurück. Er hat so
sofort entlassen, sondern ihm noch weitere Mög- wieder sichtbar an Lebensqualität gewonnen und
lichkeiten der Schmerztherapie vorstellen, falls empfindet deutlich weniger Schmerzen als vor dem
dieser zustimmt. Diese umfasse nämlich weit Krankenhausaufenthalt.
mehr als die richtigen Medikamente. Es gäbe auch
Gesprächskreise sowie Gruppen- und Einzelthe-
rapien, in denen die Schmerzpatienten nichtme- Literatur
dikamentöse Methoden zur Schmerzbekämpfung
Grobe TG, Steinmann S, Szecsenyi J (2016) Barmer GEK Arzt-
erlernen können, zum Beispiel Atem- und Entspan- report 2016. Asgaard, Siegburg. Verfügbar unter http://
nungsübungen, Krankengymnastik und Techniken presse.barmer-gek.de/barmer/web/Portale/Presseportal/
146 Kapitel 14 · Beratung von Patienten mit chronischen Schmerzen

Subportal/Presseinformationen/Archiv/2016/160223-
Arztreport-2016/PDF-Arztreport-2016,property=Data.pdf
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Bredart A, Bouleuc C, Dolbeault, S (2005) Doctor-patient-com-
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Dibbelt S, Schaidhammer M, Fleischer C et al. (2010) Patient-
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Zusammenhang zwischen wahrgenommener Interak-
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Rehabilitation 49(5): 315–325
Gerbershagen U (o.J.) Stadieneinteilung des Schmerzes.
Verfügbar unter http://www.drk-schmerz-Zentrum.de/
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147 15

Das Beratungsgespräch in der


Praxisanleitung – Vermittlung
von Fähigkeiten an die
Auszubildenden
Katja Sonntag

15.1 Tipps für eine erfolgreiche Praxisanleitung – 148

15.2 Fallbeispiel Praxisanleitung – 150

Literatur – 155

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3_15
148 Kapitel 15 · Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung – Vermittlung von Fähigkeiten an die Auszubildenden

15.1 Tipps für eine erfolgreiche Beratungsprinzipien, welche von den pflegerischen
Praxisanleitung Leitgedanken abgeleitet wurden, zeigt . Tab. 15.1.
Praxisanleiter haben die Aufgabe, ihre Auszu-
Seit dem Jahr 2003 gehört das Themenfeld der bildenden auch im Bereich der personalen Kompe-
Beratung zu den Prüfinhalten in der Gesundheits- tenz zu fördern. So ist die Fähigkeit zur Reflexion der
und Krankenpflege sowie der Altenpflegeausbil- eigenen Einstellungen, Erfahrungen und Werte ent-
dung. Die Praxisanleiter in den Einrichtungen des scheidend, da die Beratungssituation immer durch
Gesundheitswesens haben daher die Aufgabe, den die individuelle Prioritätensetzung sowie die Erfah-
Auszubildenden praxisnah und patientenorien- rungen des Beraters beeinflusst wird. Nur wer sich
tiert die Bausteine einer guten Beratung beizu- dessen bewusst ist, kann das Leitprinzip der Selbstbe-
bringen. Welche Kompetenzen die Praxisanleiter stimmung im Rahmen der Beratung verfolgen (Pet-
dafür besitzen müssen und wie der Praxisanteil der ter-Schwaiger 2011, S. 26).
Ausbildung aufgebaut sein sollte, wurde schon in
7 Abschn. 5.2 beschrieben. An dieser Stelle geht es > Bevor Praxisanleiter mit ihren Schülern
nun darum, konkrete Bausteine zu beschreiben, Beratungssituationen in der Praxis üben
die eine gute Praxisanleitung ausmachen, bevor und durchführen können, müssen sie sich
im Anschluss daran ein Fallbeispiel für eine gelun- erst vergewissern, dass die notwendigen
gene Praxisanleitung in der Altenpflege dargestellt Voraussetzungen beim Auszubildenden
wird. dafür gegeben sind. Dazu zählen unter
Der Praxisanleiter befindet sich dabei in der anderem ein ausreichendes Fachwissen
schwierigen Situation, dass er nicht nur die in den zum Beratungsthema, ein professionelles
Kapiteln des 2. Buchteils beschriebenen Regeln für Selbstverständnis sowie die Fähigkeit zur
eine erfolgreiche Beratung gegenüber dem Patien- Reflexion.
ten beachten, sondern gleichzeitig ebenso die Fähig-
keiten und Bedürfnisse des Auszubildenden berück- Nach Petter-Schwaiger (2011, S. 96) ergeben sich
sichtigen muss. Alle 3 Personen müssen in der Lage folgende 6 Bausteine, welche in der Aus-, Fort- und
und willens sein, sich auf die Beratungssituation ein- Weiterbildung behandelt werden müssen, um eine
zulassen, was eine große Koordinierungsaufgabe Beratungskompetenz zu entwickeln:
darstellen kann. 1. Eine professionelle Beratungshaltung muss
Das Themenfeld der Beratung wird zu Recht im 3. entwickelt werden.
und letzten Ausbildungsjahr behandelt. Praxisanlei- 2. Der Lernende orientiert sich mit seinen
ter müssen den Auszubildenden nahe bringen, dass Beratungsprinzipien an den pflegerischen
fundiertes Fachwissen, welches im Laufe der Ausbil- Leitgedanken.
dung erworben wurde, die Grundlage jeder Beratung 3. Mit Hilfe von Assessments, Beobachtungen
15 sein muss. Eine hohe Fachexpertise gemeinsam mit und im Dialog wird der Beratungsbedarf
beruflicher Erfahrung ermöglichen erst ein individu- eingeschätzt und erfasst.
elles, situationsangepasstes Vorgehen in der jeweili- 4. Die Beratungsangebote werden dem individu-
gen Beratung (Petter-Schwaiger 2011, S. 23). Ob das ellen Bedarf angepasst.
entsprechende Fachwissen zum angedachten Bera- 5. Der Schüler kann den Beratungsprozess
tungsthema vorhanden ist, muss der Praxisanleiter lösungsorientiert gestalten.
im Vorfeld eruieren. 6. Anleitungen werden als gezielte Lehr- und
Zur fachlichen Kompetenz der angehenden Lernprozesse gestaltet.
Pflegekräfte muss auch ein professionelles Selbst-
verständnis zählen, denn nur so können im Bera- Werden alle 6 Bausteine erfolgreich eingesetzt, wird
tungsprozess pflegerische Leitgedanken wie Patien- den Auszubildenden deutlich, dass sie nicht nur
tenorientierung, Gesundheitsförderung oder den Beratungsbedarf aus fachlicher Sicht ermitteln
Lebensweltorientierung im Mittelpunkt stehen müssen. Dieser muss für eine erfolgreiche Beratung
(Petter-Schwaiger 2011, S. 23). Eine Übersicht der vielmehr auch mit den Wünschen und Bedürfnissen
15.1 · Tipps für eine erfolgreiche Praxisanleitung
149 15

. Tab. 15.1  Beratungsprinzipien, abgeleitet von den pflegerischen Leitgedanken

Pflegerischer Leitgedanke Hauptmerkmal Zeigt sich in der Beratung durch …

Humanistisches Menschenbild Mensch als eigenverantwortliches … personenzentrierte


Wesen Beratungshaltung
Patienten- und Subjektorientierung Dialog auf Augenhöhe … gemeinsamen
Aushandlungsprozess
Salutogenese Das Augenmerk auf das richten, was … gesundheitsfördernde Aspekte
gesund macht der Beratung
Alltags- und Lebensweltorientierung Patient als Experte seines Alltags … Biografieorientierung
Ressourcenorientierung Blick auf die Ressourcen, mit der … Unterstützung individueller
Krankheit leben lernen Lernprozesse
Biografieorientierung Einzigartigkeit des Lebens … Achtsamkeit gegenüber den
individuellen Lebenserfahrungen
Fallverstehen Perspektive des Hilfesuchenden … Erhaltung der autonomen
einnehmen Lebenspraxis
Leiborientierung Einheit von Körper, Geist und Seele … mehrdimensionale
Wahrnehmung des Menschen

der Betroffenen in Einklang gebracht werden. Das Hilfsmittel auswählen, konkreten Ablauf
reine Vermitteln von Fachwissen stellt keine Hilfe auswählen)
beim Umgang mit der Krankheit dar und führt nach- 3. Durchführung der Anleitung anhand von 6
weislich nicht zu nachhaltigen Veränderungen beim aufeinander aufbauenden Stufen:
Patienten. Eine Beratung soll vielmehr immer ein 44Informieren, Handlung erklären, Fragen
Dialog sein (Petter-Schwaiger 2011, S. 108 f.). beantworten
44Handlung demonstrieren und erklären
> Eine erfolgreiche Beratung ist wesentlich (Dabeisein, Abgucken, Miterleben)
mehr als eine Vermittlung von Fachwissen, 44Bei der Handlung assistieren lassen
vielmehr muss der Beratungsbedarf mit den (Mitarbeit an der Seite eines Fachmanns)
Wünschen und Bedürfnissen der Betroffenen 44Handlung nachmachen und erklären lassen
in Einklang gebracht werden. 44Handlung unter Beobachtung selbstständig
üben lassen
Die einzelnen Anleitungssituationen des Auszubil- 44Teilhabe an der Gesamtverantwortung mit
denden können in unterschiedliche Phasen eingeteilt Spielraum zum Experimentieren
werden, welche auch für das Lernziel der Beratung 4. Reflexion und Bewertung der Lernfortschritte
gelten (Petter-Schwaiger 2011, S. 128 ff; Lummer
2014, S. 45; Rogall-Adam 2012, S. 41 f.). Die Ausbildungsinhalte, gerade komplexe und sen-
1. Vorbereitung der Anleitung (Was soll vermittelt sible Themen wie eine Beratung, sollten vorab unter
werden? Wozu ist dieses Thema wichtig? Simulationsbedingungen und im Rollenspiel erprobt
Womit kann das übergeordnete Ziel erreicht und geübt werden, bevor sie am Patienten oder Pfle-
werden? Wer wird angeleitet? Wo und wann gebedürftigen durchgeführt werden (Mamerow
soll die Anleitung stattfinden?) 2013, S. 59). Der Praxisanleiter übernimmt dabei den
2. Anleitung planen (individuelle Anleitungsziele Schutz des Pflegebedürftigen und sorgt dafür, dass
festlegen, konkrete Inhalte und Verhaltens- dieser nicht zu einem „Fall“ gemacht oder zum Ver-
weisen bestimmen, geeignete Methoden und suchsobjekt wird, sondern selbst bestimmen kann,
150 Kapitel 15 · Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung – Vermittlung von Fähigkeiten an die Auszubildenden

worüber geredet und was durch wen gemacht wird gelungenes Feedback berücksichtigt dabei die in der
(Mamerow 2013, S. 117). nachfolgenden 7 Übersicht aufgeführten Regeln
Grundsätzlich ist immer der Praxisanleiter für (angelehnt an Lummer 2014, S. 49):
die Auswahl und Absprache sowie das Festlegen wei-
terer Rahmenbedingungen einer Anleitung verant-
wortlich. Wenn sich der Praxisanleiter nicht vollstän- Hilfreiche Feedbackregeln
dig sicher ist, wie angemessen Schüler Vorplanungen   1. Geben Sie immer dann Feedback, wenn
und -gespräche erledigen, sollten sie diese Aufgaben der andere es auch hören kann.
nicht delegieren. Auch hier gilt wieder, dass der Pra-   2. Das Feedback soll so ausführlich und
xisanleiter für den Schutz der Patienten verantwort- konkret wie möglich sein.
lich ist (Mamerow 2013, S. 61).   3. Seien Sie authentisch: Wahrnehmungen
sollen als Wahrnehmungen dargestellt
> Die einzelnen Anleitungssituationen können werden, Vermutungen als Vermutungen
in verschiedene Phasen unterteilt werden, und Gefühle als Gefühle.
von der Information über die geplante   4. Ein Feedback ist keine Analyse des
Anleitung bis hin zur selbstständigen Gegenübers.
Ausübung durch den Auszubildenden   5. Ein Feedback soll auch positive Gefühle
selbst. Grundsätzlich ist der Praxisanleiter und Wahrnehmungen beinhalten.
dabei für den Schutz der Pflegebedürftigen   6. Feedback soll umkehrbar sein.
verantwortlich.   7. Die Informationskapazität des Gegenübers
muss berücksichtigt werden.
Der Praxisanleiter sollte bei der Festlegung der Aus-   8. Feedback soll sich auf ein konkretes,
bildungsziele beachten, dass die Ziele sich an den begrenztes Verhalten beziehen.
individuellen Lernvoraussetzungen und -bedarfen   9. Feedback sollte möglichst unmittelbar
des Lernenden orientieren, die Ziele erreichbar sowie erfolgen.
positiv formuliert und überprüfbar sind. Hierzu 10. Das Feedback wird dann am besten
eignet sich die SMART-Methode zur Zielformulie- angenommen, wenn der andere es auch
rung (Mamerow 2013, S. 74): wünscht.
44S = „specific“ (konkret) 11. Sie sollten ein Feedback nur dann
44M = „measurable“ (messbar) annehmen und einfordern, wenn Sie dazu
44A = „attractiv“ (attraktiv) auch in der Lage sind.
44R = „realistic“ (realistisch) 12. Wenn Sie ein Feedback erhalten, hören Sie
44T = „time bound“ (terminiert) zunächst nur ruhig zu.
13. Ein Feedback geben bedeutet eine
15 Lernerfolge sind immer dann am größten, wenn man Informationsweitergabe, keine
Schüler vor ein Problem stellt, ihnen die selbststän- Veränderung des Gegenübers.
dige Problemlösung zumutet und Erfolgserlebnisse
ermöglicht (Mamerow 2013, S. 118).
Im Rahmen der Praxisanleitung muss auch eine > Eine erfolgreiche Praxisanleitung umfasst
Beurteilung der Lernfortschritte erfolgen, dies kann immer auch eine exakte Zielformulierung sowie
nur durch regelmäßige Beobachtungen und Zwi- eine regelmäßige Reflektion (. Tab. 15.2).
schengespräche erfolgen. Die Beurteilung sollte nicht
nur eine Bewertung darstellen, sondern auch eine
Beschreibung der Beobachtungen enthalten und mit 15.2 Fallbeispiel Praxisanleitung
dem Schüler besprochen werden. Der Praxisanlei-
ter sollte sich dabei immer bewusst sein, dass er sich Die Auszubildende Sandra L. befindet sich im 3. Aus-
nicht rein objektiv verhalten kann, und daher seine bildungsjahr zur Altenpflegerin bei einem ambulan-
Beurteilung reflektieren (Lummer 2014, S. 47 ff.). Ein ten Pflegedienst. Dort ist sie weitgehend gemeinsam
15.2 · Fallbeispiel Praxisanleitung
151 15

. Tab. 15.2  Checkliste für eine erfolgreiche Praxisanleitung zum Themenfeld Beratung

–  Der Praxisanleiter ist für den ausreichenden Schutz des Patienten/Klienten/Bewohners verantwortlich, damit dieser
nicht zum „Lernobjekt“ wird.
–  Das Fachwissen des Schülers zum Beratungsthema muss vorher in Erfahrung gebracht werden, da dieses die
Grundlage für eine erfolgreiche Beratung bildet.
–  Das Fachwissen zu den Beratungsprinzipien selbst muss vorher getestet werden.
–  Der Auszubildende muss für einen erfolgreichen Beratungsprozess in der Lage sein, sein eigenes Handeln und seine
Einstellungen zu reflektieren.
–  Der Praxisanleiter vergewissert sich vor der eigentlichen Beratung, dass der Schüler den Beratungsbedarf anhand
von Assessments, Beobachtungen und im Dialog erfassen kann.
–  Das Beratungsgespräch sollte vorher im Rollenspiel erprobt werden.
–  Praxisanleiter und Auszubildender bereiten die Anleitungssituation intensiv vor, indem Thema, Ziele, handelnde
Personen, Ort und Zeit vorher festgelegt werden.
–  Die Anleitungssituation muss zu den im theoretischen Teil der Ausbildung vermittelten Inhalten und den
Anforderungen des Fachseminars passen.
–  Der Praxisanleiter trägt die Verantwortung dafür, dass alle erforderlichen Vor- und Nachbereitungen durch den
Schüler erledigt worden sind und muss dies dokumentieren.
–  Die formulierten Ausbildungsziele sollten erreichbar, messbar, spezifisch, zeitlich begrenzt, realistisch und
motivierend sein (SMART-Methode)
–  In der eigentlichen Beratungssituation hält sich der Praxisanleiter beobachtend im Hintergrund und greift nur ein,
wenn dies zum Schutz des Patienten erforderlich ist.
–  Der Praxisanleiter beobachtet die Beratung genau und gibt dem Auszubildenden zeitnah ein umfassendes Feedback
sowie ermöglicht eine gemeinsame Reflektion der Situation.
–  Der Praxisanleiter bewertet regelmäßig den Lernfortschritt des Schülers nach mit dem Fachseminar abgestimmten,
festgelegten Kriterien.

mit ihrer Praxisanleiterin Monika T. eingesetzt. zur Reflektion und abschließenden Beurteilung.
Wenn keine gemeinsamen Einsätze für die beiden Sandra L. ist so im Rahmen ihrer Ausbildung mit
laut Dienstplan möglich sind, koordiniert Frau T. die der Begleitung durch Monika T. sehr zufrieden. Sie
Einsätze und Aufgaben der ihr anvertrauten Schü- erhält ausreichend Zeit und Raum für Fragen und
lerin. Monika T. steht in einem regelmäßigen Aus- die Bearbeitung ihrer Ausbildungsinhalte, außerdem
tausch mit dem Fachseminar von Sandra L., so dass befürwortet sie die enge Zusammenarbeit zwischen
sie über Noten, Fehlzeiten sowie theoretische Lernin- ihrem Fachseminar und dem ambulanten Pflege-
halte stets informiert ist. Das Fachseminar informiert dienst. Insgesamt fühlt sie sich so, im Gegensatz zu
zudem Auszubildende und Praxiseinrichtungen vielen ihrer Klassenkameraden, gut auf die Prüfun-
immer über die jeweiligen Lernziele in den Praxis- gen vorbereitet.
einsätzen. Dieser enge Austausch zwischen allen an Für ihren aktuellen Praxiseinsatz hat Sandra L.
der Ausbildung Beteiligten sichert den größtmög- die Aufgabenstellung erhalten, Patienten im Rahmen
lichen Lernerfolg. Des Weiteren stehen der Praxis- der Expertenstandards zu beraten. Sowohl die Exper-
anleiterin und der Auszubildenden während der tenstandards, welche in 7 Abschn. 5.1 näher beschrie-
Praxisblöcke gemeinsame Dienstzeiten außerhalb ben wurden, als auch die Grundsätze einer guten,
der normalen Tourenplanung zu. Diese Stunden patientenorientierten Beratung wurden im Fach-
nutzen Sandra L. und Monika T. zum Austausch, seminar vorab besprochen. Die Thematik einer
zur Vor- und Nachbereitung der Anleitungen sowie erfolgreichen Beratung wurde dabei unter anderem
152 Kapitel 15 · Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung – Vermittlung von Fähigkeiten an die Auszubildenden

in diversen Rollenspielen in der Klasse erprobt. das Thema Beratung nicht so ausführlich behandelt.
Gemeinsam mit ihrer Praxisanleiterin Monika T. Sandra L. kann dadurch ihre Position im Team fes-
ist die Auszubildende laut Dienstplan für eine Tour tigen, zumal sie hofft, nach erfolgreicher Prüfung
eingesetzt worden, deren Patienten sie größtenteils übernommen zu werden. Monika T. ist sehr zufrie-
schon aus ihren vorherigen Praxiseinsätzen kennt. den mit den Ausführungen der Schülerin und lobt
So verkürzt sich die Einarbeitung und Sandra kann diese nach der Präsentation vor den anderen Team-
schon nach 3 Tagen die Versorgung einzelner Patien- mitgliedern. Dies steigert das Selbstwertgefühl von
ten übernehmen, während die examinierte Alten- Sandra L. sehr.
pflegerin Monika T. ihr Handeln beobachtet und Zur weiteren Vorbereitung erhält die Auszubil-
die Auszubildende anleitet. Der Wissensstand von dende den Auftrag, sich die Patientenakte von Frau J.
Sandra L. entspricht den Anforderungen im 3. Aus- ausführlich anzusehen und einen Entwurf für das
bildungsjahr, sodass Monika T. es ihr zutraut, Bera- geplante Beratungsgespräch zu entwickeln. Außer-
tungen für die Patienten gut durchzuführen. Dazu dem erhält sie von ihrer Praxisanleiterin ein Formu-
muss Sandra L. nicht nur das erforderliche Fachwis- lar, auf dem sie die Unterschrift von Frau J. einholen
sen haben und weitergeben können, sondern gleich- soll, wenn diese einer Anleitungssituation zustimmt.
zeitig auch die individuellen Bedarfe und Bedürf- Beides soll die Schülerin bei ihrem nächsten Refle-
nisse des Betroffenen korrekt einschätzen und ihre xionsgespräch mit Monika T. vorlegen.
Beratung daran anpassen. Frau J. hat keinerlei Einwände, als Sandra L. ihr
Die Praxisanleiterin plant nun eine Praxisan- Anliegen am nächsten Morgen vorträgt, und unter-
leitung für ein Beratungsgespräch im Rahmen des schreibt das Formular. Die Auszubildende entwickelt
Expertenstandards Sturzprophylaxe mit ihrer Aus- zudem Ziele für das geplante Beratungsgespräch und
zubildenden und der Kundin Frau J. Frau J. ist schon legt alles ihrer Praxisanleiterin vor. Diese kann auf
seit 1,5 Jahren Kundin des ambulanten Pflegediens- Grund der schriftlich vorliegenden Informationen
tes. Sie ist 89 Jahre alt und lebt allein in ihrer 2,5-Zim- nachvollziehbar überprüfen, dass ihre Schülerin alle
mer-Altbauwohnung in der 1. Etage, seit ihr Mann Aufgabenstellungen bearbeitet hat. Nun soll gemein-
vor 5 Jahren verstorben ist. Frau J. ist an Morbus Par- sam das Beratungsgespräch mit Frau J. geplant
kinson erkrankt, ansonsten geistig rüstig. Neben dem werden. Sandra L. hat gemäß dem Expertenstandard
ambulanten Pflegedienst, welcher sie morgens und Sturzprophylaxe das Ziel gewählt, dass weitere Stürze
abends besucht, wird sie unterstützt durch ihre im von Frau J. möglichst vermieden werden. Die junge
Ort lebende Tochter sowie eine Nachbarin. Trotz Frau hat mehrere Faktoren identifiziert, welche die
der Medikamente, welche Frau J. entsprechend der Sturzgefahr erhöhen. Sie ist der Meinung, dass einige
ärztlichen Verordnung einnimmt, hat ihre Erkran- davon minimiert werden können. So trägt Frau J. zu
kung erhebliche Auswirkungen auf ihre Mobilität. Hause immer abgetragene, offene Hausschuhe an
So musste Frau J. schon 2-mal nach einem Sturz im Stelle von festem Schuhwerk. Nachts, wenn Frau J.
15 Krankenhaus behandelt werden, weil Platzwunden die Toilette aufsucht, geht sie meist barfuß. Zumin-
am Kopf genäht werden mussten. Eine Fraktur hat sie dest gab sie bei einem Krankenhausaufenthalt nach
sich bislang dabei glücklicherweise noch nicht zuge- einem Sturz an, barfuß gegangen zu sein. Hier
zogen, obwohl sie wie viele ältere Frauen an Osteo- möchte die Auszubildende ihr Anti-Rutsch-Socken
porose leidet. nahelegen oder das Tragen von Pantoffeln. Auch die
Zunächst bereitet die Praxisanleiterin die Teppiche in der Wohnung sind Stolperfallen. Frau J.
Anleitungssituation intensiv vor. Sie überprüft das sollte außerdem möglichst immer einen Rollator
Fachwissen ihrer Auszubildenden Sandra L. zum nutzen. Sandra L. möchte ihr zudem die Anschaffung
Expertenstandard Sturzprophylaxe und zur Pflegebe- eines Hausnotrufgerätes nahe legen. Im Falle eines
ratung, indem sie die junge Frau darum bittet, beides Sturzes kann Frau J. dann zügiger geholfen werden.
in der nächsten Teamsitzung den Kollegen vorzustel- Bislang schien es eher Glück gewesen zu sein, dass
len. So kann das Fachwissen der anderen Mitarbei- die Tochter sie recht schnell nach den Sturzereignis-
ter aufgefrischt werden; zudem hatten die Kollegen, sen gefunden hat. Monika T. ist sehr zufrieden mit
die ihr Examen vor dem Jahr 2003 gemacht haben, den entwickelten Zielen. Die Auszubildende hat den
15.2 · Fallbeispiel Praxisanleitung
153 15
Bedarf von Frau J. zur Sturzprophylaxe gut darge- nehme regelmäßig ihre Tabletten, genauso, wie es
stellt. Sie führt der Auszubildenden aber noch einmal der Neurologe anordne, doch trotzdem würde alles
explizit ihre Rolle in der Beratung vor Augen. Dazu immer nur schlimmer.
weist sie auf die Bühnenmetapher hin, welche besagt, Sandra L. kann die Gefühle von Frau J. nachvoll-
dass die Patientin ausreichend Raum innerhalb des ziehen und äußert daher ihre Empathie, indem sie
Beratungsprozesses benötigt, um ihre Wünsche und die Äußerungen wiederholt und zusammenfasst.
Bedürfnisse äußern zu können. Auch die verschie- Sie könne sehr gut nachvollziehen, dass Frau J. nach
denen Beratungstechniken sprechen die beiden den Stürzen große Angst habe, wieder zu fallen und
noch einmal durch, unter anderem die WWSZ- sich eventuell noch schwerere Verletzungen dabei
Technik (7 Abschn. 7.3) sowie das NURSE-Modell zuzuziehen. Der Morbus Parkinson sei leider trotz
(7 Abschn. 7.2). der medikamentösen Therapie eine chronische
Im Beratungsgespräch, bei dem neben der Aus- Erkrankung, deren Symptome sich immer weiter
zubildenden und Frau J. auch die Praxisanleitung verschlechtern, wie ihr der Neurologe sicher auch
anwesend ist, hält sich die Praxisanleitung im Hin- mitgeteilt habe. Dennoch gebe es einige Fakto-
tergrund. Sie ist für den ausreichenden Schutz der ren, welche die Gefahr eines Sturzes minimieren
Patientin verantwortlich und würde bei Bedarf in können. Die Schülerin habe hier einige Ideen, was
den Gesprächsverlauf eingreifen, wenn sie dies für Frau J. ändern könne. An dieser Stelle des Gesprächs
erforderlich hält. Ansonsten überlässt sie die Bera- zählt die Schülerin stolz alle Faktoren auf, welche sie
tung der Schülerin und macht sich Notizen, die sie vorher ausgearbeitet hatte. Zunächst einmal müsse
bei der anschließenden Reflektion nutzt. Sandra L. sich Frau J. einen Hausnotruf anschaffen. So brauche
beginnt das Gespräch damit, dass sie Frau J. noch sie nach einem Sturz nur den Notruf zu aktivieren,
einmal auf den Anlass des Gesprächs hinweist, damit schnell Hilfe eintreffe, wenn sie den Notruf-
nämlich eine Beratung zur Sturzprophylaxe. Sie knopf immer am Handgelenk trage. Des Weiteren
bedankt sich bei ihr, dass sie diese Beratung im müssten die vielen Teppiche und der Badvorleger
Rahmen ihrer Ausbildung bei ihr durchführen darf. aus der Wohnung entfernt werden, da sie nur Stol-
Sie weiß, dass die Patientin in der näheren Vergan- perfallen darstellten. Überhaupt solle Frau J. sich
genheit schon mehrfach gestürzt ist und möchte mit einen Rollator von ihrem Hausarzt verordnen lassen,
ihr gemeinsam überlegen, wie weitere Stürze oder dieser stehe ihr zu und würde ihr innerhalb kürzester
zumindest schwerere Sturzfolgen zukünftig mög- Zeit von ihrer Krankenkasse zur Verfügung gestellt
lichst vermieden werden können. Sie ergänzt, dass werden. Auch andere Hausschuhe sollte sie sich
den beiden für das Gespräch ungefähr 30 Minuten kaufen, möglichst keine offenen, ihre Tochter könne
zur Verfügung stehen. gemeinsam mit ihr zum Einkaufen fahren. Dabei
Nach diesen einleitenden Worten möchte die könnten sie auch direkt Anti-Rutsch-Socken für die
Schülerin Frau J. dazu animieren, etwas über die Nacht besorgen, damit Frau J. nicht mehr barfuß aus-
Stürze in den letzten Wochen zu erzählen. Sie sagt, rutschen könne.
dass die Stürze mit den anschließenden Kranken- Die Praxisanleiterin sieht sich an dieser Stelle
hausaufenthalten sicher ein Schock für Frau J. gezwungen, in das Beratungsgespräch einzugreifen,
gewesen seien. Die Patientin seufzt und bejaht dies. da sie bemerkt, dass Frau J. mit der Fülle an Infor-
Sie beschreibt, wie hilflos sie sich am Boden liegend mationen überfordert ist und zunehmend abwei-
gefühlt habe und nicht mehr selbst auf die Beine sender wirkt. Monika T. bremst die Schülerin mit
kommen konnte. Da war jedes Mal die Erleichte- einem Lächeln und dankt ihr für diese vielen tollen
rung groß, wenn ihre Tochter oder ihre Nachbarin Ideen, wendet sich dann aber direkt an die Patien-
sie gefunden habe. Natürlich habe sie den Wunsch, tin und spricht diese direkt an, ob sie die Ausfüh-
dass ihr dies zukünftig nicht wieder zustoße, doch rungen von Sandra L. verstanden habe. Die Patien-
durch ihren Parkinson habe sie manchmal einfach tin schüttelt den Kopf, dies sei ihr alles viel zu schnell
nicht mehr die Kontrolle über ihre Füße. Wenn sie gegangen, sie sei schließlich eine alte Frau und kein
nun stolpere, setze ihr Herz direkt vor Schreck aus, junger Hüpfer mehr. So bittet die Praxisanleite-
weil sie sich wieder auf dem Boden liegen sehe. Sie rin ihre Auszubildende, ihre Ideen noch einmal
154 Kapitel 15 · Das Beratungsgespräch in der Praxisanleitung – Vermittlung von Fähigkeiten an die Auszubildenden

. Tab. 15.3  Gegenüberstellung der Ziele der Auszubildenden und der Wünsche der Patientin

Ziele der Auszubildenden Sandra L. Wünsche und Bedürfnisse der Patientin Frau J.

Stürze zukünftig vermeiden oder Sturzfolgen Stürze zukünftig vermeiden oder Sturzfolgen zumindest
minimieren minimieren
Anschaffung eines Hausnotrufgerätes Schnelle Hilfe nach einem Sturz, daher Test eines
Hausnotrufgerätes
Abschaffung von Stolperfallen in der Wohnung, daher Wohnlichkeit erhalten sowie das Gefühl warmer Füße,
Entfernung aller Teppiche und Badvorleger daher sollen Teppiche bis auf denjenigen im Flur in der
Wohnung verbleiben, aber eventuell mit Antirutschhilfen
versehen werden
Anschaffung neuer, fester Hausschuhe Anschaffung neuer, aber offener Hausschuhe, da sie diese
sonst nicht alleine an- und ausziehen kann
Anschaffung und Nutzung eines Rollators für eine Rollator wird auf Grund der Enge der Wohnung abgelehnt
erhöhte Gangsicherheit und da er nicht von Frau J. die Treppen rauf und runter
getragen werden kann
Tragen von Anti-Rutsch-Socken in der Nacht, um die Tragen von Anti-Rutsch-Socken in der Nacht wird
Rutschgefahr zu minimieren ausprobiert

vorzutragen und auch den jeweiligen Nutzen detail- Gesprächsverlauf noch ihre anderen Ideen vor und
lierter zu beschreiben, womit die junge Frau auch erkundigt sich nach jeder einzelnen, ob Frau J. sie
beginnt. Nach der ersten Idee, der Anschaffung verstanden habe und diese eventuell ausprobieren
eines Hausnotrufgerätes, erkundigt sich Monika T., möchte. So möchte die Patientin keinen Rollator, weil
ob Frau J. ein solches Gerät vielleicht schon einmal dieser in der engen Wohnung immer im Weg stehe
gesehen habe und sie sich vorstellen könne, es auch und sie ihn die Treppen nicht hinauf- und hinunter-
zu nutzen. Frau J. ist etwas skeptisch, was techni- bekomme, um ihn draußen zu nutzen. Hausschuhe
sche Geräte angeht, schließlich kenne man in ihrer wollte sie sowieso neue kaufen gehen, allerdings
Generation vieles nicht, aber nachdem die beiden keine geschlossenen, da sie feste Schuhe nur mit ganz
Frauen ihr die einfache Bedienung erklärt haben, ist viel Mühe und an schlechten Tagen gar nicht alleine
sie bereit, ein solches Gerät einmal auszuprobieren. anziehen könne. Aber auf eine rutschfeste Sohle und
Die Auszubildende erhält den Auftrag, den Kontakt einen guten Sitz werde sie beim Kauf achten. Auch
zu einem Hausnotrufanbieter herzustellen und bei Anti-Rutsch-Socken hält sie für eine gute Idee. Sie
15 der Installation anwesend zu sein. Als nächsten kenne solche Strümpfe zwar noch nicht, ist aber gern
Punkt spricht Sandra L. die Teppiche und den Bad- bereit, sie zu testen.
vorleger an, welche Stolperfallen darstellen. Sie fragt Sandra L. fasst die gemeinsamen Beschlüsse
nun von sich aus, ob Frau J. dazu bereit wäre, diese zum Ende des Gesprächs noch einmal zusammen
aus der Wohnung zu entfernen. Dies lehnt Frau J. und bittet Frau J. um eine Rückmeldung, ob sie ihre
ab, schließlich solle es in ihrer Wohnung gemütlich Entscheidungen richtig wiedergegeben habe. Als die
sein, außerdem bekomme sie so schnell kalte Füße, Patientin dem zustimmt, beendet sie das Gespräch
so auf den Fliesen und dem Linoleum. Höchstens und weist noch darauf hin, dass sie die Ergebnisse in
den Teppich im Flur könnte ihre Tochter ja in den der Akte von Frau J. dokumentieren werde. Dies sei
Keller räumen. Monika T. weist noch darauf hin, im Rahmen der Beratung eine gesetzliche Anforde-
dass es Antirutschvorrichtungen für Teppiche gebe. rung an den ambulanten Pflegedienst. Danach ver-
Vielleicht könnte Frau J. diese für die anderen Tep- abschieden sich die Auszubildende und die Praxisan-
piche nutzen, damit die Sturzgefahr nicht mehr ganz leiterin von Frau J. Die Gegenüberstellung der Ziele
so groß sei. Die Auszubildende stellt im weiteren und Bedürfnisse der Auszubildenden Sandra L. und
Literatur
155 15
der Patientin Frau J. im Beratungsgespräch zeigt
. Tab. 15.3.
Direkt im Anschluss an das Beratungsgespräch
setzen sich Monika T. und Sandra L. zusammen,
um alles zu reflektieren. Die Auszubildende verfügt
über eine gute Selbsteinschätzung und bemerkt,
dass sie Frau J. mit ihren vielen Anregungen über-
fordert habe. Durch das Einschreiten ihrer Praxis-
anleiterin sei ihr dies bewusst geworden. Monika T.
bestätigt diese Einschätzung und lobt ihre Schülerin
dafür, dass sie ihr Verhalten direkt angepasst und im
Anschluss Frau J. viel stärker einbezogen habe. Die
Praxisanleiterin hat aber auch bemerkt, dass ihre
Schülerin etwas enttäuscht wirkte, weil Frau J. nicht
alle Anregungen umsetzen möchte. Hier erklärt sie
ihr noch einmal das Prinzip des Beratungsprozesses,
welcher beinhaltet, dass letztlich der Patient selbst die
Entscheidung trifft, welche Vorschläge und Anregun-
gen er umsetzen möchte und welche nicht. Manch-
mal habe man als professionelle Pflegekraft viele tolle
Ideen, von denen man ganz sicher der Meinung ist,
dass diese dem Patienten helfen würden, aber dieser
entscheidet sich dagegen. Dies müsse man so akzep-
tieren, da jeder für sich selbst verantwortlich sei.
Im Laufe des weiteren Praxiseinsatzes von
Sandra L. überprüft ihre Praxisanleiterin, ob diese
die Beratung korrekt in der Dokumentation von
Frau J. eingetragen hat und sich um die ihr übertra-
gene Aufgabe im Zuge der Anschaffung eines Haus-
notrufgerätes gekümmert hat. Zudem betreut sie
ihre Auszubildende bei der Vor- und Nachbereitung
sowie der Durchführung weiterer Beratungsgesprä-
che. Zum Ende des Praxisblocks reflektiert sie diesen
gemeinsam mit ihrer Schülerin und bewertet diese.
Die Bewertung gibt sie an das Fachseminar weiter.

Literatur

Lummer C (2014) Praxisanleitung und Einarbeitung in der


Altenpflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft, Hannover
Mamerow R (2013) Praxisanleitung in der Pflege. Springer,
Heidelberg
Petter-Schwaiger B (2011) Pflegiothek: Beratung in der Pflege
für die Aus-, Fort- und Weiterbildung. Cornelsen, Berlin
Rogall-Adam R (2012) 50 Tipps für die effektive Praxisanlei-
tung in der Pflege. Schlütersche Verlagsgesellschaft,
Hannover
157

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 158

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2017


C. von Reibnitz, K. Sonntag, D. Strackbein (Hrsg.), Patientenorientierte Beratung in der Pflege,
DOI 10.1007/978-3-662-53028-3
158

Stichwortverzeichnis

A Cognitive Load Theory  58


Compliance  22, 29, 89–90, 140 F
Adherence  22–23, 29, 90, 140 Fallmanagement siehe Case
Altenpflegegesetz (APflG 2000)  41
Alzheimer-Krankheit  96, 104 D Management
Feedback  46, 150
Anleitungsprozess  44 Fußambulanz, diabetische  131
Dauerkatheter  110
Assessmentinstrumente  139 Fußsyndrom, diabetisches (DFS)  116
Dekubitus  108
Aufklärung  48 –– Wundversorgung  120
–– Entstehung  109
Aufklärungsgespräch  49
–– Prophylaxe  111
Ausbildungs- und
Prüfungsverordnungen (APrV)  41
Autonomie  78
Demenz  96
–– Behandlungs- und G
Therapiemöglichkeiten  98 Gesprächsführung,
–– Definition  96 patientenzentrierte  20
B –– Diagnose  97
–– Krisensituation
Gesprächstechniken  30, 62
Gesundheitskompetenz  23
Beratung  11 Diagnosestellung  99
–– als Ausbildungsziel  41 –– Progression  97
–– als pflegerische Aufgabe  41
–– demenzorientierte  101
–– sekundäre  96
–– vaskuläre  96
H
–– Expertenstandards  38 Deutsches Netzwerk für Hautpflege  115
–– für Menschen mit Demenz  99 Qualitätsentwicklung in der Pflege Health Literacy  23
–– für Patienten und Angehörige  76 (DNQP)  34 Hilfe zur Selbsthilfe  80
–– individualisierte  79 Diabetes mellitus Hippocampus  27
–– kooperative  67 –– Diagnostik  125 Hirnforschung  27
–– lösungsorientierte  11, 20 –– Entstehung  124
–– patientenorientierte  55 –– Folgeschäden  127
–– patientenzentrierte  11, 26, 31 –– Patientenberatung und
-schulung  126–127, 130
I
–– professionelle  10
–– Qualifizierung von Pflegekräften  41 –– Symptome  125 Ideenkellner  69, 131, 144
–– Setting  74 –– Therapie  125 Individualisierung  84
–– systematische in der Pflege  37 –– Ursachen  124 Infektion, lokale  113
Beratung zur Sturzprophylaxe  153 Informationsquellen  85
Informationsvermittlung  57
E
Beratungs- und
Behandlungsabsprachen  105 Inkontinenzprodukte  109
Beratungsansätze  20 Interaktion, symmetrische  81
Echtheit  66 Internet  85
Beratungsbedarf  47
Empathie  21, 81, 91
Beratungsgespräch  74–75
Empowerment  10–11
Beratungskompetenz, Entwicklung
von  148
Entscheidung,
selbstbestimmte  22
J
Beratungsleitfaden  70
Ernährung  112 Juckreiz  110
Beratungsprinzipien  148
EWE-Prinzip  65, 104, 129, 143
Beratungsprozess  55, 75, 85, 88
Expertenstandards,
Beratungsverständnis  26
Beratungswissen  26
evidenzbasierte  34
–– Aktualisierung  36
K
Bindensysteme  115 Knöchel-Arm-Druck-Index (KADI)  113
–– Expertengruppe  35
Blutzuckertagebuch  131 Kommunikation  10, 14, 26, 87
–– Implementierung  35
Bühnenmetapher  75, 153 –– nonverbale  29
–– Konsensuskonferenz  35
–– Konsertierungsverfahren  35 –– paraverbale  29

C –– Literaturstudie  34 –– patientenzentrierte  16
Expertenstandards für die Pflege, Kommunikationsprozess  86
nationale  34 kommunikativen Fähigkeiten  54
Case Management  10, 48
Stichwortverzeichnis
159 A– W

Kompressionstherapie  112 Polyneuropathie, sensible  116 Umgebungshaut  110


Kompressionstrümpfe  115 Praxisanleiter  148 Unterschenkelödem  111
Kompressionsverband  114 –– Anforderungen  42
–– Anlegen  114 –– Beratungskompetenz  46
Kongruenz  21, 81
Krankenpflegegesetz (KrPflG 2003)  41
–– Kompetenzen  45
–– Rollen  45
V
Kurzzugbinden  115 Praxisanleitung  43 Versorgungsplan, individueller  48
–– Anleitungssituationen  149
–– Beratung nach
L Expertenstandards  151 W
–– Beratungsgespräch  153
Lebensqualität  139, 143 –– Beurteilung der Wertschätzung  30
limbisches System  27–28 Lernfortschritte  150 Wittneben, Modell von  14, 43
–– Lernziel der Beratung  149 Wunden, chronische
–– Themenfeld Beratung  151 –– Alltag  108
M –– Therapie  108
WWSZ-Techniken  63, 91, 103, 153
Macht der Stille  70
Mobilität  109, 112
Q
Motivation Qualifizierungsbedarf  41
–– extrinsische  30
–– intrinsische  30
Motivationstheorie  30
R
Realitätenkellner  68
N
Nähe-Distanz-Verhältnis  79
Neurokommunikation  27
S
Non-Compliance  89 Schlüsselprofession  54
NURSE-Modell  63, 118–119, 144, 153 Schmerzen  114
–– chronische  136
–– wiederkehrende  137
P Schmerzmedikation  143
Schmerzstadien  137
Patient Schmerztagebuch  143–144
–– informierter  56 Schmerztherapie  112, 145
–– mündiger  15, 22 Selbstbestimmungsrecht  78
Patientenedukation  10 Signale, verbale, nonverbale und
Patientenorientierung  12–13, 15 paraverbale  29
–– multidimensionale  14, 43 SMART-Methode  150
Patientenpartizipation  54 Spiegeln  65
Patientenrechte  48 Strumpfsysteme  115
Patientenrechtegesetz  48
Patientenverfügung  78
Pelotten  113
Pflegeausbildung
T
–– stufige  44 Theorie-Praxis-Transfer  43
Pflegeausbildung, praktische Therapietreue  23
–– Rahmenbedingungen  42 Trinkverhalten  111
Pflegebedürftigkeit  109 Typ-1-Diabetes  124
Pflegeberater  47 Typ-2-Diabetes  124
Pflegeberatung –– Erkrankungsrisiko  124
–– gesetzlicher Anspruch  47
–– nach § 7 SGB XI  47
Pflegestandard  37
Pflegeweiterentwicklungsgesetz
U
(PfWG)  37 Ulcus cruris venosum  111

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