You are on page 1of 4

66 ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" 67

gekettete Bögen streng zu binden, kehrt hier jedes mus verstanden wird, kann vorerst nur eine vorhan­ her gesehen, bereits eine Minderung seines objektiven
Kämpfermotiv spiegelgleich , zweimal wieder (Abh. dene oder angenommene Verwandtschaft der Ge­ Totatitätscharakters. Sachlichkeit kann also als ideale
S. 65 unten). Die Kämpferpaare werden, trotzdem sie sinnung bezeichnet werden und nicht mehr. Die Zielsetzung, niemals als Voraussetzung eines Kunst­
durch den Pfeiler getrennt sind, alsEinheit aufgefaßt. Analyse einer Gesinnung ist Aufgabe einer Wert­ schaffens verstanden werden.
In den Seitenschiffen ruhen die Gewölberippen psychologie, dieAnalyse einer in Raum-, Form- und Die Sachlichkeit der nachexpressionisLischen Ma­
auf Pfeilerkapitellen, die die gleiche Handschrift ver­ Farbwerten sich aussprechenden Gesinnung, Auf­ lerei drückt demnach ein Wollen aus. Es verfestigt
raten wie zuvor (Abh. S. 65 unten). Die Kapitelle gabe einer Formenpsychologie. Eine solche Formen• sich zur Form und damit zum Sein in Bildkompo­
der Schiffs- und Chorpfeiler (Abh. S. 63) hingegen psychologie wendet sich jedoch nicht an das i n d i ­ sition , Farbwahl und Zeichnung. Jedem Teilgebiet
sind zurückhaltender gestaltet , desgleichen zeigen v i d u e l l e Gesicht des Kunstwerkes, sondern d a es haften die Gruppenmerkmale der Manier an, die das
auch die Hauptgewölbe schlichte gratige Kreuz­ sich um Analyse eines wirklichen oder vielleicht Wollen zum Sein umschmelzen. Diese Merkmale auf
gewölbe, was zu den schlanken Pfeilerschäften wenig nur fiktiven Gruppengebildes handelt , an das f o r ­ dem Gebiet der Bildkomposition sollen hier festge­
passen will. Dieser Unterschied läßt die Vermutung m a l G e m e i n s a m e solcher Gebilde. Das Gemein­ stellt und gedeutet werden. (Eine vorbildli'che Unter­
aufkommen , die Wiederherstellung zwei Meistern same einer Gruppe kann entweder durchAnalyse der suchung auf diesem Gebiete besitzen wir inW. Fraeu­
zuzuschreiben. Die Emporen sollen von einem Bau­ Einzelgebilde gefunden werden oder es kann einer gers Aufsatz in dem Sammelwerk über Max Beck­
meister Johannes Freund stammen. solchen Gruppe schon als Titel überschrieben sein. mann, Piper Verlag , 1924.- Etwas flüchtig , aber
Kronstadt. Schwarze Kirche. Kämpferkonsole BeimVertiefen in die vortrefflichen Leistungen des In diesem Falle wäre festzustellen, inwieweit das ein­ voll kluger Bemerkungen: Franz Roh, Nachexpressi­
letzteren möchte man unwillkürlich Vergleiche mit zelne Werk den zielsetzenden Sammelbegriff recht­ onismus, Klinkhardt & Biermann, 1924.)
gotisierendes Gesims. Damit der vorhin beschriebene neuzeitlichen Wiederherstellungen ziehen und die fertigt und deckt.
Formenaufbau sich deutlich Geltung verschaffe, wurde *
Fragen aufwerfen, ob man hier dieErgänzungen stil­ Die Kunst des Nachexpressionismus nennt sich
dieEmporenbrüstung inForm eines nur aus gekreuz­ gerecht ausführen, also sich so zu geben suchen soll Kunst der Sachlichkeit. Sachlich heißt die dem ge­ Die abendländische Kunst steht seit dem Barock
ten Stäben bestehendenEisengitters ausgeführt. Weil wie die Schöpfer des vorhandenen Alten, oder ob man gebenen Objekt gemäße Untersuchungs- und Schil­ unter dem Zeichen einer steigenden Subjektivierung
ein Überschneiden zwischen Kreuzblume und Eisen­ sich in neuzeitlichenFormen bewegen darf. Zwischen des Raumerlebnisses. Nachdem die von Alberti be­
derungsweise.
gitter unschön wirken würde, hat die erstere eine einem Umbau eines alten Bauwerkes und einem Das Streben nach wertungsloser Aufnahme und gründete zentralperspektivische Lehre den folgenden
Rückenstütze inForm eines vierkantigen Steinpfeilers völligen Neubau ist ein großerUnterschied. Bei einer Wiedergabe der Erscheinungswelt dürfte tatsächlich Künstlergenerationen eine vom Menschen als Zen­
erhalten, auf den das eherne Spinngewebe zunächst Wiederherstellung wird der Künstler immer sich e i n Agens der nachexpressionistischen Kunst ge­ trum her orientierteWissenschaft vom objektiv meß­
anläuft und dann sich baldachinartig in die Höhe dem Alten unterordnen müssen. Es kommt nur baren Raum an die Hand gegeben hatte, erfolgt der
wesen sein. Eine solche wertungsfreie Sachlichkeit
schwingt. DasWechselspiel zwischen Stein undEisen darauf an, wie weit diesesUnterwerfen zu geschehen findet jedoch da seine natürliche Grenze, wo es sich Gegenschlag einerseits von Michelangelo und Rubens
und die gelungene Rollenverteilung im starken oder hat. Der Kronstädter Meister zeigt uns zur Lösung um Aufnahme oder Schilderung psychischer Gebilde ( als Repräsentanten und nicht als die alleinigen Ge­
geringenVorspringen derEinzelheiten gehen ein reiz­ dieser Frage einen sehr beachtenswerten Weg. Man handelt, die, selber werthaft, nur wertend verstanden stalter des neuen Stiles verstanden), andererseits von
volles Bild. Die hier erreichteLebendigkeit lebt auch kann ihn mit einem Reisenden vergleichen , der in der niederländischen Landschaftmalerei. Michel­
werden können. Darum verkörpert der Verismus
an den andern Emporenbögen weiter, ja wird dort fremdem Lande zur Mahlzeit geladen ist, der sich angelo undRuhens bilden ihren Raum nicht so sehr
eines Groß und Dix selbstverständlich eine wertende
noch durch die Wahl immer neuer Motive in den wohl den dort bei Tische üblichen Sitten anpaßt, im durch ein sichtbar gemachtes Netz von Tiefenlinien,
Haltung. U n - s a c h l i c h ist dabei schon die vor­
Einzelheiten gesteigert. Nur um je zwei aneinander- übrigen aber seine Muttersprache spricht. künstlerische Handlung der StoffauswahL Denn denen die Gestalt eingeordnet wird, als sie ein System
was sich dem Künstler als Gegenstand sachlicher raumphantasieanregender Verkürzungen durch das
Schilderung anbietet , ist selber schon Resultat he­ Geschiebe volumenerfüllter Körper hervorbringen.
wertender Auswahl. DieseVerkürzungen verleihen der Fläche den Charak­

ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" Endlich wäre vollendete sachliche Aufnahme und ter des Räumlich-Tiefenhaften. Subjektiv imVerhält­
Wiedergabe diejenige, welche das Gegebene in seiner nis zur Kunst der Renaissance ist dies V erfahren des­
VON ALFRED NEUMEYER T o t a l i t ä t zu erfassen und zu schildern vermöchte. halb, weil die Raumwirkung nicht durch n a c h m e ß ­
Ob wir jedoch ein Gebilde als organisch oder mecha­ b a r e , r u h e n d eDistanzen, sondern durch n a c h f ü h l­
mpressionismus", "Expressionismus", "neue Sach­
I
marschierenden Künstlergruppen eint nicht Struktur­ nisch, als statisch oder als dynamisch verstehen, ist bar e , b e w e g t e Verkürzungen hervorgerufen wird.
lichkeit" sind Reklameworte. Indem sie den in verwandtschaft, sondern Gesinnungsverwandtschaft, selber von Organismus und Gesinnung des auf­ Von einer andern Seite her subjektiviert die nieder­
stilbarer Zeit unendlichen Kreis der Ausdrucksmög­ d. h. ähnliche Ausgangspunkte und verwandte Ziel­ nehmenden \Vesens bestimmt. Dürers Aquarell der ländische Landschaftskunst dieWiedergabe des Rau­
lichkeiten auf eine fiktive Stilbezeichnung reduzieren, setzungen. Verwandtschaft der Struktur schafft Stil, Feldblumen verkündigt Sachlichkeit, die das Gebilde mes. Ist die Raumtiefe eines Bildes ursprünglich ab­
schaffen sie dem bindungslosen Produzieren der iso­ betonte Verwandtschaft der Gesinnung o h n e struk­ als Organismus begreift, nicht anders als Beckmann hänaia
oo
von derDistanz des Betrachtenden zu seinem
liertArbeitendenRückenstärkung und geben der ver­ turelle Gemeinsamkelt beschwört nur Mode und die mechanistisch gedeutete Sachlichkeit der gegebe­ Gegenstande, so ist jetzt die Distanz von einem ma-
wirrten Menge der Betrachtenden ein Geleitwort in Manier herauf. Diese Feststellung steht hier unge­ nen Außenwelt darlegt. Das heißt also: die unver­ thematischen zu einem optischen Phänomen umge­
die Konventikel und Brüderschaften der Künstler.Die wertet. Mit dem Schlagwort "neue Sachlichkeit", unter meidliche Einreihung eines Gegenstandes unter die wandelt. Der Maler hat erkannt, daßRaum demAuge
unter dem Banner einer fiktiven Stilbezeichnung heute dem seit einiger Zeit die Kunst des Nachexpressionis- Kategorie der "Qualität" bedeutet, vom Gegenstand primär kein durch Distanzen meßbares, sondern ein
9*
ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" ALFRED NEUMEYER: ZUR H.AUMPSYCIIOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" 69
68

die Einengung und gegen die Entdinglichung derAuf­ momentane Ruhelage oder von der
fassung von der Natur. Entdinglicht war die Natur, Ruhelage in die Bewegung wieder­
weil das Einzelne im Ganzen , in der willkürlichen zugeben vermag, fingiert die schlechte
Unendlichkeit des Raumes zerfloß, eingeengt war sie, Aufnahme, wie man sie bei Vorstadt­
weil sie nicht mehr das Ganze von innerer u n d äuße­ photographen mit einem Gemisch
rer Erfahrungswirklichkeit darstellte , sondern vor­ von Grauen und Lächeln sieht, eine
wiegend nur die sichtbareWelt als Interpret innerer Unbewegtheit in der Zeit und damit
oder äußerer Eindrücke benutzte. Und so erfolgte die Zeitlosigkeit selber. Körper und
auch von zwei Seiten her die Form- und Raumzer­ Gesicht - wie unter einer hypnoti­
trümmerung des Expressionismus. Die Vorherrschaft schen Wirkung des Objektivs - sind
des atmosphärischen Raumes , der das Einzelwesen in Erstarrung gefallen. Das Eigen­
um seine Existenz betrog, sollte einmal durch Über­ tümliche dieser Erstarrung, d. h. ihrer
steigerung des räumlichen Eindruckes gebrochen Unbewegtheit in der Zeit, ist jedoch,
und dieser dem Ausdruckswillen des Einzelobjektes daß e i n bestimmter Moment i n der
wieder untertan gemacht werden. Dies geschah etwa Zeit zum Gefrieren gebracht wird,
in Van Goghs Bild "Mein Stuhl mit Pfeife" oder in wodurch das Zeitmoment gewisser­
Pablo Picasso Schnitterpaar Zeichnung 1919
Munchs Holzschnitt "Die Angst". In anderen Fällen maßen auf Flaschen gezogen er­
wurde der Raum von vornherein negiert, indem die scheint. Da unserem seelischen Be-
vVirklichkeitssehnsucht der vom Impressionismus wußtsein jedoch Ahnungen von absoluter Ruhe im Ganz allgemein bejaht die nachexpressionistische
enttäuschten Künstler dem Visionären als höhere absolut Bewegten gegeben sind, kann ein solcher Malerei- wie alle nicht ausschließlich aufs Visionäre
Wirklichkeitszone sich zuwendete. Unter Vision ver­ Anblick in uns Empfindungen des Grauens aus­ gestellte Erlebnisschilderun g - den Raum, d. h. sie
stehen wir die Gestaltwerdung eines nur geistig und lösen , wo eine obere Bewußtseinsschicht nur mit empfindet die dargestellten Dinge als räumlich be­
nicht sinnlich Erfahrbaren. Damit ein rein Geistiges Lächeln reagiert. dingt und versucht sie mit dem Streben nach räum­
Henri Rousseau Kinderbildnis sinnlich werde, bedarf es einer Durchbrechung der Um ein Ähnliches handelt es sich in der Darstel­ licher Wirkung wiederzugeben. Deutlich unterschei­
Kausalkette, an die das Sinnliche gebunden ist. lungsmanier der neuesten Malerei. Der Drang nach den sich zwei Gruppen: dort b i l d e n die Dinge selber
durch atmosphärische Erfülltheit sich stetig wandeln­ Diesem im Seelischen sich vollziehenden Akt der Isolation, dem Wunsch nach dichtester Einkreisung den Raum , hier sind die Dinge i m Raum. In der
des und nur fühlbares Phänomen darstellt. Weder gnadenvollen Durchbrechung der Kausalkette ver­ des Gegenstandes entspringend, sucht auch das Mo­ ersten ist nur so weitRaum, als Dinge dargestellt sind,
ist Raum identisch mit Maß wie bei Dürer, noch mit sinnbildlichten die Meister des Expressioniomus - ment des Zeitlichen auszuschalten. Was wir ganz in der zweiten wird ein unendlicher, gegebener Raum
Volumen wie bei Michelangelo; Raum ist vielmehr Kokoschka etwa und Nolde- durch die Negierung allgemein an solchen Bildern als überwirklich, als vom Bildrahmen wie von einem Fenster umzäumt.
optischer Eindruck der licht- und lufterfülltenAtmo­ des Räumlichen. So hat der Expressionismus durch "surrealisme", als gefroreneWirklichkeit empfinden, Das eine i s t die Realität zum Bild geworden, das an­
sphäre. Der Impressionismus ist nur die letzte Kon­ Ü b e r s t e i g e r u n g und durch N e g i e r u n g des Rau­ das ist die Konservierung des Zeitmomentes in den dere gibt einen B!lck hinaus in dieRealität. Die mehr­
sequenz dieser im 16. Jahrhundert begonnenen Ent­ mes seine Bildformen geschaffen. Dennoch mußten Gesichtern derDargestellten oder in den Gruppierun­ fache Umschreibung des nämlichen Bestandes wird
wicklung. War eine Kunst des Messens aber identisch die Impulse neuer Innigkeit bei dem Mangel binden­ gen der Stilleben. Franz Roh hat seinem Buch über der Vorstellung schon verlebendigt haben, um welche
mit einer größtmöglichen Nähe und Sachlichkeit ge­ der Kulturwerte in krassen Phantasie-Subjektivismus den Nachexpressionismus den Untertitel "Magischer Gruppen es sich handelt: einmal um den vorwiegend
genüber dem Objekte, so führte eine Kunst , in der entarten, der demAugen-Subjektivismus der befehde­ Healismus" gegeben. Die Bezeichnung ist treffend, romanischen Konstruktivismus, das andere Mal um
die Atmosphäre die Dinge umfloß und verfärbte, zu ten Impressionisten in nichts nachgab. Dies war die jedoch vonRoh nicht völlig geklärt. Wenn von Magie den vorwiegend germanischen Naturalismus.
einer steigenden Entdinglichung des Einzelobjektes. Situation der Malerei zwischen 1910 und 1920. in derWirkung dieser Bilder-undMagie ist ja notwen­ Der romanische Konstruktivismus hat seine phan­
Diese Entwicklung sah sich in denWerken eines Ma­ Das allgemeinste Kennzeichen des seit etwa 1922 dig eine wir k e n d e Qualität - geredet werden darf, tasie- und ideenbetonte Periode im Kubismus über­
uet undLiebermann einem Endpunkt meisterlich be­ eingetretenen Umschwunges ist eine neue Zuwen­ wenn der Dinglichkeit dieser gemalten Gegenstände wunden und präsentiert sich im neuen Gewande un­
ruhigt gegenüber , in den Werken eines Signac und dung zu dem in der sichtbaren Welt gegebenen Ge­ eine Haut von Über-dinglichem sich anschmiegt, so ter dem Namen der "valori plastici". "Valori plasti­
Corinth klang sie in einem beängstigenden, vieldeutig genstand, oder noch bestimmter eine Zuwendung zu ist es dieses parodistisch oder religiös gemeinte Er­ ci", auf unser Problem angewendet , heißt Rückge­
schillernden Furioso aus. (Gegenbewegungen auf die dem isoliert gesehenen Gegenstand. Isoliert nämlich starrtsein des zeitlich Bedingten im Flusse der Zeit. winnung der Räumlichkeit. Hat Picasso in seiner
hier geschilderte Entwicklung stellen im 19. Jahr­ einmal von den zufälligen Bedingungen des Atmo­ Die Dinglichkeit der neuen Malerei, der im Maler das kubistischen Periode zu Zwecken experimentierenden
hundert die Kunst der Frühromantik, die Malerei sphärischen, scheinbar isoliert aber auch von derDeu­ Moment des Sachlichen entspricht, hat also eine drei­ Bildaufbaues die Erscheinung mit Schnittflächen
Feuerbachs, Böcklins und Marees dar.) tung und Bewertung durch den Maler selber. Eine fache Abstraktion zur Voraussetzung: schichtenartig gegliedert, und diese Schichten im freien
Der von den Mitgliedern des "BlauenReiters" und weitere Isolation, richtiger eine Abstraktion, ist das Phantasiespiel zu neuer flächenbetonterWirklichkeit
die bewußte Abstraktion vom Atmosphärischen
der "Brücke" bewußt geführte Gegenschlag richtete ( unbewußt vorgenommene) Absehen vom Zeitmo­ zusammengeordnet , so sprengt er jetzt erneut die
sich vorwiegend gegen zwei Erscheinungen in der ment. Während jede gute Lichtbildaufnahme das die unbewußte Abstraktion vom Transitorischen Fläche und rehabilitiert die Erscheinung als plasti­
Kunst des Impressionismus undNaturalismus-gegen Transitorische, den Übergang von Bewegung in eine die fiktive Abstraktion von der Wertung. sches und damit als räumliches Gebilde. Man könnte
70 ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT" 71

strakte der gegenwärtigen Körperunbewegtheit hin­ kehrt finden sich auf Bildern HenriRousseaus, einem
wegzutäuschen. Stammvater der gegenwärtigen Strömung, tiefein­
Von einer ganz andern Seite her muß das Raum­ wärts im Bildgrund Personen, die im kleinsten Maß­
problem in der Kunst der neuen Sachlichkeit kritisch stabe dennoch mit einer Deutlichkeit verzeichnet
bewältigt werden. Diesem als vorwiegend germanisch sind, wie sie dasAuge nie liefern kann. Dies erinnert
bezeichneten Typus eignet eine scheinbar so willkür­ an Bilder, die das Auge mit dem umgekehrt ange­
liche, so individuell verfärbte Art der Raumwieder­ setzten Opernglas erhält und deren Besonderes eine
gabe, daß etwa eineAnalyse desRaumes bei Dix noch Streckung des Tiefenzuges weit über das Wirkliche
nichts für das Raumproblem bei Beckmann ergeben hinaus ist, während andrerseits die S c h ä r f e des Seh­
würde. Und dennoch sind ihnen gewisse grundsätz­ bilds nicht im gleichen Maße abnimmt wie die Bild­
liche Einstellungen gemeinsam. tiefe wächst. Mit einer s o l c h e n a u ß e r wi r k­
Der a l l g e m e i n e Eindruck beim Durchwandern l i c h e n , t r a u m n a h e n S e h f o r m d e s u mge k e h r ­
einer Bilderschau gegenwärtiger Kunst ist ein zuerst ten Opernglases arbeitet die neue Sachlich­
nicht zu erklärendes Gefühl, einer minutiös wieder­ k e i t g l e i c h e r m a ß e n w i e m i t d e m m ik r o s k o p i ­
gegebenen Wirklichkeit gegenüberzustehen, der den­ s c h e n N abb i l d .
noch kein Realitätscharakter innewohnt. Es muß Das besondere Kennzeichen des Fern-Bildes im
eigentlich auf den Beschauer höchst verwirrend wir­ Sinne des umgekehrtenOpernglases ist die verhältnis­
ken, eine peinlich getreu abgemalte "Sache" vorzu­ mäßig gleichbleibende Schärfe des Gegenstandes trotz
finden, die sich dennoch auf zunächst nicht erkund­ übermäßiger Tiefenstreckung.
baren Schleichwegen dem Eindruck Wirklichkeit zu Das besondere Kennzeichen des mikroskopischen
sein, wieder entzieht. Daß die Zimmer, in denen ein Nah-Bildes im Sinne der neuesten Malerei ist die
Davringhausen , ein Dix oder Mense seine Porträts Aufnahme desEinzelteiles aus nächster Distanz unter
aufnimmt, häufig über Eck gestellt sind, daß sie eine Beibehaltung einer normalen Augendistanz für das
Kar! Mense Doppelbildnis rein stereometrische und darum schon unwirkliche Bildganze oder andere Bildteile. DerAusdruck "nor­
Form besitzen , und dann noch heftige Verjüngung maleAugendistanz" bedarf weiterer Klärung, um da­
sagen, er sei vom Kubus zur Kugel zurückgekehrt. erleiden (Fraenger erinnert einmal bei Beckmann an durch zugleich das Besondere heutiger Kunstübung
Weiterhin aber beschäftigen ihn und seineRichtungs­ den Meister vonFlemalle), sind nur Ä ußerlichkeiten zu veranschaulichen. Je d e r G e g e n s t a n d i n s e i n e r
gefährten nur der Körper in seiner Ruhelage, d. h. in einer Kunstübung, der der Hang zur Übertreibung Ruhelage besitzt eine n or m a l e Distanz, unter
einer für den Bildbau idealen Fixierung. Da dem­ und Übersteigerung im Blute liegt. ÜberEck gesehene d e r e r a n g es e h e n w e r d e n k a n n - es ist diejenige
nach Atmosphäre und Bewegung tunliehst gemieden Körper und schräg gestellte Räume wirken leichter Ansicht, welche für den Beschauer (der sich in gleicher
Henri Rousseau Landschaft
werden , so baut sich auch der Raum weder durch als absonderlich akzentuiert oder dienen dazu, die Höhe wie der Gegenstand befindet) die größtmögliche
Licht , noch durch motorische Illusionen auf. Der Suche nach dem wieder so wichtig gewordenen Bild­ Deutlichkeit des gegenständlichen Charakters liefert.
Körper selber, die Kugel ist es, die den Raum schafft. fluchtpunkt für den Beschauer interessanter, für den Erst Cezanne und van Gogh haben die n a h eAufsicht barkeit, d. h. also normale Distanz, als kunstfeindlich
Picassos Zeichnung des schlafenden Schnitterpaares, Maler reizvoller zu gestalten. Es sind das wenigstens zur Gewinnung noch deutlicherer Gegenstandsbilder empfinden. Die gewalttätige Perspektive der San
Derains Stilleben , Kanoldts Städtebilder , Chiricos unter der heutigen Kunstsituation technischeAußen­ eingeführt, allerdings mit dem Resultat einer Ver­ Rocco-Bilder Tintorettos ist ebenso Ausdruck eines
Porträts postulieren keinen Raum, sondern Raum ist fragen, in denen allerdings zutage tritt, wie stark der Stiles, der auf die normale Distanz verzichtet, wie die
lagerung desAugenpunktes und damit einer allmäh�
hier eine F u n k t i o n des Volumens, und zwar des Vo­ Raum vorwiegend als konstruktiveWirklichkeit erlebt liehen Auflösung der zentralperspektivischen Kon­ plastischen Nahbilder eines Aertsen oder Rubens,
lumens in seiner idealen Ruhelage. Berührt sich also wird oder zumindesten erlebt werden soll. Dennoch währe�d andrerseitsRaphaelsMadonnen die beruhigte
struktion. (Cezanne wird dabei von anderen Beweg­
einerseits die Kunst der "valori plastici'· darin mit sind das mehr Angelegenheiten des Geschmackes. gründen getrieben als van Gogh: Cezanne wählt die Sicherheit eines objektiv gegebenen Distanzverhält­
dem Barock, daß Raum eine Qualität am Körper ist, Tief aber in das innere Gefüge des Bildaufbaues nisses zwischen Subjekt und betrachtetem Gegenstand
naheAufsicht, um dadurch denRaum gewissermaßen
unterscheidet sie sich doch andrerseits grundsätzlich führt die Einsicht, daß den Werken der neuen Sach­ in die Fläche zu klappen, während van Gogh umge­ besitzen. Ganz allgemein kann also gesagt werden: je
dadurch, daß diese Qualität am ruhenden und nicht lichkeit eine K o n s t r u k t i o n a us v e r s c h ie d e n e n spiritualistischer ein Stil, desto weniger herrscht die
kehrt durch die Heftigkeit der so gewonnenen Flucht­
am bewegten Volumen erkannt wird. M e s s e n kann S e h d i s t a n z en zugrunde liegt. S o sind etwa in linien dieEnergien desRaumes zu betonen wünscht.) "normale", vom Gegenstand her diktierte Distanz.
man weder den bewegten Körperraum des Barock Schrimpfs Gemälden die Einzelteile in mikroskopi­ Es muß also nahe liegen, daß Zeiten, denen- nach In der augenblicklich herrschenden Kunstströmung
noch den ruhenden Körperraum der "valori plastici". scher Nahsicht aufgenommen, um dann zusammen­ der Entdeckung der Zentralperspektive - das Ziel findet sich nun ein Spiel der Tendenzen, das darauf
Der eine wird motorisch , der andere tastend gebaut in normaler Augendistanz dargeboten zu ihres Kunst-Wollens Gegenstandstreue, Realismus ausgeht,Fernbild undNahbild durcheinander zu wür­
nacherlebt , beide aber mit allen Kennzeichen werden. DerEindruck auf den Beschauer bleibt ver­ feln. - Dem Drange nach dichtesterEinkreisung des
gewesen ist, sich der normalen Distanz als sicherster
einer sensualistisch betonten Kunstübung versehen. wirrend, weil eine in dem Bilde selbst nicht zu be­ Grundlage bedienten. Umgekehrt mußten expressive, Gegenstandes entsprang die dreifache Abstraktion
Darüber vermag auch nicht das scheinbar Ab- gründende Überdeutlichkeit das Resultat ist. Umge- vomAtmosphärischen, vom Transitorischen und von
antinaturalistischeEpochen Deutlichkeit, Überschau-
72 ALFRED NEUMEYER: ZUR RAUMPSYCHOLOGIE DER "NEUEN SACHLICHKEIT"

der akzentuierendenWertung. Für alle drei Momente bewegte, war fundiert durch einen Realitätsglauben,
erfolgt der formale Ausdruck dieser Stimmung durch der es ermöglichte, den einzelnen Objekten einen
die mikroskopische Nahsicht; d. h. aus nächster Nähe festenPlatz im umgebenden Raume anzuweisen. (Eine
besehen treten die Verfärbungen eines Gegenstandes Widerspiegelung der so häufig in der Romantik irrig
durch Licht und Luft gegenüber seinen plastischen gedeuteten Kautischen Lehre vom "Ding an sich" in
Qualitäten und den anhaftenden Lokalfarben zurück, der romantischen Malerei kann im Sinne einer
es verschwindet seine Bezogenheit auf andere Gegen­ Lockerung des Realitäts g l a u b e n s nirgends fest­
stände und damit seine Verflechtung in die Welt des gestellt werden, denn die Durchdringung der Reali­
Transitorischen, und es verschwindet endlich auch tät mit subjektiverEmpfindung bedeutet ja in keiner
die Überordnung beherrschender Formzentren zu­ Weise ein Schwinden derRealitätsgläubigkeit.) Wenn
gunsten eines gleichmäßigen, gleichwertigen Neben­ heute dem einzelnen Gegenstand, dem ein ähnlicher
einander. (So löst dasMikroskop einen Schriftzug, eine Drang wie im Zeitalter um 1800-1830 sich entgegen­
Blüte usw. in eine gleichbetonte Reihung von Klein­ sehnt, seine Beziehungspunkte imRaume nicht gefun­
wesen auf und zerstört den Gegenstandscharakter den werden können oder wenn sie bewußt gestört
des Objektes, der gerade in e i n e m Ganzen von über­ werden, so hat offenbar der Glaube an die Realität
u n d untergeordneten Teilen besteht. Das mikrosko­ dieser gegenständlichen Welt selber eine Erschütte­
pische Bild ist also durch seine Atomisierung für die rung erfahren. Di e p a r a d o x e S i t u a t i o n i s t e i n­
Erkenntnis aufbauend, für seinen optisch gegen­ getreten, daß dieMalerei einem Gegenstands­
ständlichen Charakter aber zerstörend.) k u l t s ich h i n gi b t o h n e e i n e W i r k l i c h k e i t , e i n
Diesen Tendenzen aber scheinen offenkundig an­ B e w u ß t s e i n v o n \Vi r k l i c h k e i t z u b e s i t z e n.
dere gegenüberzutreten, die darauf ausgehen, die iso­ Manchem Künstler freilich ist seine Lage ver­
lierende Nahsicht wieder einem Fernraum einzu­ zweifelt klar, und die Raum- und Liniendissonanzen
ordnen oder einen Widerspruch der Distanzen im eines Beckmann beruhen offenbar in dem Schrecken
Bildganzen hervorzurufen.Etwa baut Sehrimpf durch vor einer fordernden Gegenstandsnähe, der keine
die Mittel eines nur schwer zu entdeckenden Augen­ bannendeWirklichkeit mehr entspricht. Gefährlicher
betruges seine Körper aus verschiedenen Distanzen aber für die Existenz dieser Kunst ist ihre Neigung,
zusammen. So gliedert Davringhausen das Nahbild dieWelt durch phänomenale Beschreibung ausschließ­
seiner Porträts einem Raum ein, dessen exaltierte lich begreifen und aufbauen zu wollen. Berlin, Staatsbesitz
Michelangelo da Caravaggio Der ungläubige Thomas

Perspektive nur aus weitester Sehdistanz gewonnen Muß für diese Behauptung, die den psychischen
werden kann, so liefert Rousseau endlich deutlichste Kern imRaumproblem der neuen Malerei erschlossen
hat, ein Beweis angetreten werden? Muß es an un­
AUSSTELLUNG ITALIENISCHER MALEREI
Gegenstandsbilder auch noch in der Ferne. Immer
aber ist diese Gegenständlichkeit und "Sachlichkeit" serer Kultur bewiesen werden, daß dem Sachkult DES XVII. UND XVIII. JAHRHUNDERTS IN BERLIN
entwirklicht und persifliert. kein Wirklichkeitsbewußtsein entspricht? Un s e r e
VON FR IE DR IC H W IN KLER
Gerade hier liegt der Unterschied zur Malerei der Aufgabe ist es nur, die Verwobenheit aller kultu­
Romantik und des Biedermeiers, mit der man die rellen Phänomene aufzuzeigen und für eine Psycho­
Florenz gebracht, dem deutschen Barock ist plötz­
s ist gewiß ein unvergängliches Verdienst unserer
E
Gegenwartskunst zu vergleichen pflegt und von der logie und vertiefte Analyse der H.aumphänomene zu
lich eine übergroße Literatur geworden. Unsere
sie wohl auch Anregung empfing. werben. Doch kann jede klare Selbstschau einer Zeit Altvorderen , die Herrschaft der Virtuosen und
Kenntnisse sind trotzdem noch recht bescheidene.
Der Drang nach Gegenständlichkeit, der auch die zum Anbeginn einer ernstlich gewollten "Sachlich­ Akademiker , der "Meister der Hand", die sich wäh­
Nun hat nach Florenz und London , wo vor zwei
Romantik in ihrem Gegensatz zur Kunst des Barock keit" werden. rend anderthalb Jahrhunderten in immer steigendem
Jahren eine wenig umfangreiche, gewählte Ausstellung
Maße die abendländische Kunst unterjocht hatten,
von Malern des Seicento vom Burlington Club ver­
beseitigt und als Vorbild die ursprüngliche Kunst­
anstaltet worden war, auch Berlin seine Barockaus­
übung des 15. und 16. Jahrhunderts statuiert zu
stellung. Hermann Voss , der beste Kenner dieses
haben. Aber es ist durch nichts gerechtfertigt, daß
Gebietes neben A. Longhi , hat sie , unterstützt von
die damals aufblühende Kunstgeschichte bis heute
I. Kunze, zusammengebracht. Der italienische Bot­
die überwundene Barockmalerei beiseite liegen ließ.
schafter und W. v. Bode liehen ihre Namen, um die
Die letzten beiden Jahrzehnte sahen eineReihe junger
Sammler zur Hergabe ihrer Bilder zu ermuntern.
Gelehrter , von denen mehrere gefallen sind, an der
Das Ergebnis sind ungefähr 170 Gemälde, die in den
Arbeit , die Barockkunst zu erforschen. Die Nach­
schönenRäumen des Antiquitätenhauses A.Wertheim
kriegszeit hat uns die große Barockausstellung in
Als Herausgeber verantwortlich: Prof. Dr. RICHARD GRAUL, Leipzig-Gohlis, Wilhelmstr. 51- Verlag vou E. A. SEEMANN, Leipzig, Hospitalstr. 11 a
Druck von Ernst Redrieb Nachf., G. m. b. H., Leipzig - Netzätzungen von Kirstein & Co., Leipzig 10
Z. f. b. K. 61, 4

You might also like