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JIPQTOI EYPETAI - Gotter, Heroen, Menschen? Leonid Zhmud (St. Petersburg) Das, was ich heute vortragen méchte, stellt eine Erweiterung eines Themas aus meinem zukiinfiigen Buch dar, das der antiken Wissenschaftsgeschichte gewidmet ist Es ist wohl bekannt, daB in Griechenland nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Geschichte der Wissenschaft entstanden ist, die in erster Linie durch die Werke von Aristotelesschiilern repriisentiert Eudemos, Theophrast, Aristoxenos und Menon. Leider ist es $0, da man zwar das wissenschafishistorische Material dieser Werke be- nutzt, dies aber nur als Quelle flir die weitere Rekonstruktion der griechischen Wissen- schaft und nicht als Gegenstand spezieller Untersuchungen. Ubrigens ist die ganze fr0- here Historiographie der Wissenschaft, d. h. die wissenschafishistorischen Werke der Antike, des Mittelalters und der Neuzeit bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, noch nicht zum Thema zusammenfassender Studien gemacht geworden.' Obwohl meine eigenen Interessen sich in erster Linic auf die antike Wissenschafisgeschichte bezichen, mubte ich mangels umfassender Arbeiten iiber die sptiteren Perioden auch die Quellen des 16.-18. Jahrhunderts zumindest fliichtig anschauen. Was beim Lesen der wissenschaftshistorischen Literatur dieser Zeit auffllt, ist die bemerkenswerte Kontinuitit von Themen, Ideen und Ansatzen, die bis in die Antike zuriickreicht. Es ist sicher nicht tibertrieben 2u sagen, dal die antike Wissenschaft die vormodernen Historiker beinahe mehr interessiert hat als die zeitgenéssische. In der Rogel seizen sie an dem Punkt an, an dem Celsus, Pappos oder Proklos geendet haben, indem sie von ihren griechischen und rémischen Lehrem sowohl das wissenschafishi- storische Material als auch die Hauptproblematik dieses Genres tibernehmen. Noch wichtiger als diese konkreten Entlehnungen war die Gesamtperspektive, in der die an- tike Wissenschaft weiterhin als ein Integralbestandteil der Wissenschaft als solcher galt. In diesem Sinne wird die antike Wissenschaft mindestens bis zum Ende des 18. Jahrhunderts als modern und zeitgemib betrachtet. Die Universalgeschichte einer bestimmten Wissenschaft, z.B. der Mathematik, wird zu dieser Zeit normalerweise in folgende Perioden unterteilt: Mathematik bei den Hebriiern, angefangen von vorsintflutlichen Zeiten, Mathematik der Agypter und Babylonier, die sie von den Hebritern entiehnt haben, Mathematik der Griechen, die sie bei den Agyptern und Babyloniem gelernt haben, usw. Diese Perspektive hat ihren Ur- sprung bei den frithchristlichen Apologeten, wie Clemens von Alexandria und Eusebi- 0s, welche die antike Philosophie und den Pentateuch zu vereinbaren versuchten, in- 1 Nur die Medizingeschichte stellt eine der wenigen Ausnahmen dar. S. z.B.: E. Heischkel, Die Medizinhistoriographie im XVIIL. Jh., Janus 35, 1931, 67-105, 125-151; eadem, Die Medizinge- sehichtsschreibung von ihren An®ingen bis zum Beginn des 16. Jh.s. Berlin 1938; eadem, Die Geschichte der Medizingeschichtsschreibung, in: Einfuhrung in die Medizinl Hrsg. von W. Arieli, Stuttgart 1949, 202-237: Ancient Histories of Medicine. Essays in Medical Doxogra- phy and Historiography in Classical Antiquity. Hrsg. von Ph. J. van der Eijk, Leiden 1999. 10 Leonid Zhmud dem sie den hebriischen Autoren wie Aristobulos, Philon und besonders Josephus Fla- vius folgten.* Nachdem sie tiber die fabelhaften Entdeckungen von Kain, Abraham und Moses berichtet hatten, gingen die Wissenschaftshistoriker der Neuzeit zu Thales und zur griechischen Uberlieferung tiber, wo sie sich auf verlaBlichere Quellen zu stiitzen vermochten und nicht nur ihre Gelehrsamkeit, sondern auch ihre kritische Urteilskraft demonstricren Konnten. Aber auch in Bezug auf die Antike blieb die Grenze zwischen der mythologisierten und der wirklichen Geschichte noch lange Zeit dort, wo sie die Spatantike gesetzt hat- te, Der Begriinder der modernen Medizingeschichte, Daniel Le Clere, der solchen Au- torittiten wie Celsus und Galen folgte, hat seine Geschichte nicht mit Hippokrates, son- dem mit Asklepios angefangen.* In dem soliden "Historischen Worterbuch der antiken und modernen Medizin" kann man neben den Biographien hervorragender Arzte auch Artikel iiber die legendaren Begriinder der Medizin finden, tber Asklepios und den Kentauren Chiron.* G. Matthias fingt seinen Conspectus historiae medicorum chrono- Jogicus mit den folgenden Namen an: Adam, Seth, Cham, Zoroaster, Hermes, Osiris, Moses, Vulkanus, Apollon, usw.’ Nicht wenige durchaus gelehrte Werke dieser Zeit haben die Geschichte der griechischen Astronomie mit Atlas, Uranos und ahnlichen Gestalten begonnen.* So laBt sich feststellen, daB in der wissenschafishistorischen Literatur bis zum An- fang des 19. Jahrhunderts ein Charakteristikum fortbesteht, das auch die Mehrheit der antiken Geschichtswerke kennzeichnet, und zwar das Feblen einer klaren Grenze zwi- schen legendirer und faBbarer Geschichte. Das bedeutet iibrigens nicht, da cin solcher Ansatz fir alle historischen bzw. wissenschaftshistorischen Werke der Antike charak- teristisch ist. Gerade beim Begriinder der Wissenschaftsgeschichte Eudemos von Rho- dos finden wir keine mythologischen oder legendaren Namen. Seine Geschichte der Geometrie, der Astronomic und der Arithmetik fangt mit Thales, Anaximander und Pythagoras an, als Vorliufer hat er durchaus historische Volker erwiihnt, namlich Agypter und Babylonier. Dabei hat er sich gerade flir die Anfiinge der Wissenschaft und flir die xpéscor ebperctt interessiert, seine Historien sind eigentlich ihren Entdek- kungen gewidmet.’ Im Unterschied aber zur sogenannten Heurematographie, einem 2S: F. J. Worstbrock, Translatio artium, Uber Herkunft und Entwicklung einer kulturhistorischen ‘Theorie, Archiy flir Kulturgeschichte 47, 1965, 1-22. Aristobulos behauptete, da Platon und Ari- stoteles sich auf Mosaisches Recht stiitzten: R. Goulet, Aristoboulos, Dictionnaire des philoso- phes Grees I, 1994, 379-380, D. Le Clerc, Histoire de la médicine, Genéve 1696 (Amsterdam 21702, °1729) 1-4, Lidge 1755. G. Matthias, Conspectus historiae medicorum chronologicus, Gottingen 1761 N.F, J, Eloy, Dictionnaire historique de la médicine ancienne et moderne, 1 6 S.zB.: P. Esteve, Histoire générale et particulitre de l'astronomie, V. |-3, Paris 1775; M. Nor- berg, De origine astronomiae apud Orientales, Lund 1790. 7 L, Zhmud, Eudemus’ History of Mathematics, in: Rutgers University Series in the Classical Hu- manities, Bd. 11, Hrsg. von W. W, Fortenbaugh, |. Bodnar, New Brunswick 2001 (im Druck), TIPOTOL EYPETAI - Gitter, Heroen, Menschen MW Genre, das in katalogartigem Stil ganz verschiedene Entdeckungen kurz beschreibt, hat eudemische Wissenschaftsgeschichte nur die historischen Personen und ihre Entdek- kungen behandelt. Nichtsdestoweniger ist der Einflu der Heurematographie auf die eudemische Wis senschaftsgeschichte nicht 2u Uibersehen, vor allem in einem sich stets wiederholenden Ausdruck "dieser hat als erster das und das entdeckt", einem Ausdruck, der den Cha- rakter einer Formel gewinnt. Von neun Fragmenten der eudemischen "Geschichte der Geometrie" enthalten sieben solche Wérter wie mp@tog oder edipruia (eipnors, ebpioKe) bzw. ihre Kombinationen." Klare Spuren hat diese Terminologie auch im be- rihmten "Katalog der Geometer" bei Proklos hinterlassen, der auf Eudemos zuriick- geht’ Auch in filnf von sicben Fragmenten der “Geschichte der Astronomie” finden wir mpastog ebpeme (fr. 144-148 Wehrli), withrend ein Exzerpt aus dieser Geschichte wie folgt benannt ist: tic 11 ebpev év paBnwactKois.”” Heurematographie als ein Genre, das eigentlich viel popularer als die Wissen- schaftsgeschichte war, ist am Anfang des 4. Jahrhunderts entstanden, und die Ge- schichte der Wissenschaft am Ende desselben Jahrhunderts. Aber die Suche nach pdror ebperat, die beide Genres verbindet, reicht bis in eine viel friihere Zeit zuriick und hat sich in vielen Genres der griechischen Literatur ausgedriickt. Da ich diese fri- he Heurematographie als einen wichtigen Vorltiufer der Wissenschaftsgeschichte be- trachte, habe ich unter anderem auch die folgenden Fragen gestellt. 1) Wie sind hier das Legendéire und das Historische, das Géittliche und das Menschliche vertreten? 2) Laft sich in der Heurematographie irgendeine Entwicklungstendenz feststellen, z.B., daB zuerst die Gétter und Heroen unter mp@zot ebpetat tiberwiegen, und daB dann die Zahi von Menschen zunimmt, oder fehlt eine solche Tendenz? Ausgehend von den zahireichen Studien, die der antiken Heurematographie ge- widmet sind," kann man zum Ergebnis kommen, daB die Zahl der Gotter-Entdecker 8 t0d10 1 Vedpra ebprpEvov bxd Ocdod npetov (fr. 135), ebipnorg (fr. 136), erp wOv TuBayopeiov (fr. 137), OivoriSov edpnua (fr. 138), ‘TrroKpérng Kai ‘Avtpav Snefoavtes... cbpiixaciy (i. 139), be’ Trnoxpdtovg éypdignsay ap&rov (fr. 140), ‘Apyotov abpnors (fr. 141). 9 nparov ebpFobe ~ Uber die Entdeckung der Geometrie bei den Agyptern (Procl. In Eucl,, p. 64.18 Friedlein), npitog und ebpev - tber Thales (p. 65.7f), cvedpe - uber Pythagoras (p. 65.21), edjpav und npétog — ber Hippokrates von Chios (p. 66.4f.), patog ~ Uber Eudoxos (p. 67.26), avedpe — tiber Hermotimos (p. 67.208) 10 Ps.-Heron. Deff. IV, p. 167.9 Heiberg = Eud, fr. 145 Wehrli. Indem ich mich auf das hiufige Vorkommen dieser Formel bei Eudemos stiitze, selbstverstandlich in Verbindung mit den anderen sprachlichen und sachlichen Charakteristiken, versuche ich als seine Fragmente auch solche Zeugnisse zu identifizieren, in denen sein Name fehlt. S. 2.B.: Procl. In Eucl., p. 250.20f. (xparog und eXSpnotc); Schol. in Eucl., p. 273.3-13, bis (eSpnpic); Procl. In Eucl., p. 283.76. (npiz0g), p. 213.7F. (pBrog und eBpev); Eutoc. In Archim, De sphaer. 3, p. 88.18-23 (patos), Archim. 2, p. 430.5%. (mpér0s) s DL. 8,83 (npatos); Achim. 2, p. 430.16 (EEnopnKev mpez05). 11. J.C. Brusskem, De rerum inventarum scriptoribus graecis, Bonn 1864; P. Eichholtz, De scripto-

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