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Der Erste Mord - Der Tod Des Apsyrtos
Der Erste Mord - Der Tod Des Apsyrtos
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Der erste Mord
Mira Shah
Murderous Medea: following Euripides' seminal tragedy countless authors and artists
have depicted Medea as child-slaughtering outlaw and avenger. But the Medea myth is
much more diverse and holds more depth than this. Medea's career path as princess,
magician, wife, mother and avenger opens with another abominable death: that of her
brother Apsyrtos. This article focuses on how and why the death of Medea's brother
Apsyrtos has been examined and instrumentalised in modern adaptions of the myth by
Hans Henny Jahnn, Pier Paolo Pasolini, Christa Wolf and Dea Loher. Whether Medea
is guilty as charged but with sensible intentions to gain self-rule and show herself trust
worthy, or innocent of crime or murder but stricken with guilt and alienation, her
involvement in her brother's death seems to hold the key to modern interpretations o
antiquity's different strands of the Medea myth and its adaptability to modern concerns
of subjectivity and emancipation.
Stirb! Denn jetzt werde ich weise, damals war ich's nicht.
Als aus der Heimat, aus Barbarenländern ich
Dich Fluch nach Hellas führte, dich Verräterin
Des Vaters und des Landes, das dich auferzog.
Dich bösen Daimon warfen mir die Götter zu,
Dich, die den Bruder erst erschlug am Vaterherd
Und dann der Argo schöngebautes Schiff bestieg.
In solcher Art begannst Du [...].
Euripides, Medea1
Medea - das ist das Paradigma der mörderischen Mutter, der Furie, die ihre
Kinder aus Rache am Mann hinschlachtet. Dass dieses Bild der mythischen
Figur nicht ungebrochen bleiben kann, haben etliche Beschäftigungen mi
dem Mythos Medea gezeigt. Dennoch bleibt der Kindermord das Kernmo
ment eben jener Erzählung, wie sie seit Euripides' Tragödie aus dem Jahr 431
v. Chr. den Mythos in relativ fester Form repräsentierte und über Jahrhun
derte bewahrte. Der Mythos selbst ist vielschichtiger; es scheinen mehrer
1 Euripides, Medea. In: Ders., Sämtliche Tragödien in zwei Bänden. Nach der Übers,
v. ]. J. Donner. Bearb. v. Richard Kannicht. Anmerkungen v. Bolko Haben. Einl. v. Walte
Jens. Stuttgart 1958, Bd. 2., S. 185-233; hier S. 230 (Verse 1330-1335).
KulturPoetik Bd. 14,1 (2014), S. 43-69, ISSN (Printausgabe): 1616-1203, ISSN (online): 2196-7970
© Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen 2014
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44 Mira Shah
Erzählungen
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1998, S. 1-12; h
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Der erste Mord 45
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(Anm. 2), S. 62-68.
6 Vgl. James J. Cla
Apollonius' Redefini
on Medea in Myth,
nese der mythische
(Anm. 2), S. 62-70.
7 Vgl. Inge Stephan,
Weimar, Wien 2006,
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46 Mira Shah
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Der erste Mord 47
8 Apollonius von Rhodos, Das Argonautenepos. Hg., übers, u. erl. v. Reinhold Glei u.
Stephanie Natzel-Glei. Darmstadt 1996, Bd. 2, S. 105 (4. Buch 459).
9 Der Brudermord wird meist dort ausgespart, wo ein hohes zeitgenössisches Aktua
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48 Mira Shah
derMord an
fürden >Fall
Opfer {wer?)
2.1 Wer? - D
Wär ein G
und auch
wenn diesen ich umarmt. Wenn aber Mutter
Vater schläft, schon im Ort der Toten beide,
steht's nicht als wüchs ein anderer Bruder wieder.
Sophokles, Antigone10
Apsyrtos ist kein beliebiges Opfer. Er ist ein Verwandter, mehr noch, der
nächste Blutsverwandte Medeas: ihr Bruder, Kind des gleichen Vaters Aietes.
Dies macht das Verbrechen in den Augen und Ohren des antiken Zuschauers
so abscheulich - denn ein gewalttätiger Mord gilt im klassischen Griechen
land zwar als verwerflich, die Erinnerung an die archaische Periode, in der
Morde an (politischen oder ökonomischen) Gegnern kaum geahndet wur
den, ist jedoch noch lebhaft vorhanden."
Das Entsetzen am Mord am eigenen Bruder - wohlgemerkt durch eine
Frau - lässt sich nur vor dem Hintergrund antiker bzw. klassisch-atheni
scher Familienstrukturen erklären. Denn an ein klassisches griechisches
Publikum richtet sich die Darstellung bzw. Erwähnung dieses Mordes - der
Fratrizid der Medea taucht erstmals bei Pherekydes im 5. Jahrhundert auf.
Geschwisterbeziehungen wurden in der griechischen Antike durch die El
tern sehr gefördert. Anders als unter Schwestern und unter Brüdern beruh
te die Beziehung zwischen Schwester und Bruder nicht auf einem gleich
berechtigten Vertrauensverhältnis, sondern spiegelte das geschlechterspezi
fische Machtverhältnis des antiken Staates auf intimer Ebene wider. In
einer Gesellschaft, in der Frauen keine Bürger waren und sich einer restrik
tiven Rolle zu unterwerfen hatten, die sie verstärkt auf im wörtlichen Sinn
Heim und Herd verwies,12 waren Frauen auf ein ihnen wohl gesonnenes
lisierungspotenzial verwirklicht wird wie z. B. in Max Zweigs Drama Medea in Prag oder
Helga M. Novaks Hörspiel Stadtgespräch Nr. 1. Kenkel spricht daher von einer Entmy
thologisierung: einer Reduzierung der Mythologeme auf einen Kern, die Neuzusammen
stellung und die Anreicherung mit eigenen Motiven; vgl. Konrad Kenkel, Medea-Dra
men. Entmythisierung und Remythisierung. Euripides, Klinger, Grillparzer, Jahnn,
Anouilh. Bonn 1979, S. 3.
10 Sophokles, Antigone. Übers, v. Friedrich Hölderlin, bearb. v. Martin Walser u. Edgar
Selge. Frankfurt/M., Leipzig 1989, S. 62 f.
11 Vgl. Jan N. Bremmer, Why Did Medea Kill Her Brother Apsyrtus? In: James J.
Clauss/Sarah lies Johnston (Hg.), Medea. Essays on Medea in Myth, Literature, Philoso
phy, and Art. Princeton 1997, S. 83-100; hier S. 84.
12 Zur religiösen Bedeutung des Herdes für das Heim und die Rolle der Frau als dessen
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Der erste Mord 49
männliches Famil
und - im Falle de
as their sister's ky
or taking them i
sen gesellschaftli
Schwestern mit f
mythische und h
aufopferungsvoll
lyneikes.
Die ideale geschwisterliche Beziehung ist die der bedingungslosen Solidarität
zwischen Bruder und Schwester: Durch Geschlecht und Alter vielleicht getrennt,
bedeuten sie einander doch in durchaus materiellem Sinn die Welt, wie Brem
mer schreibt: »Brothers and sisters were imagined to be especially close [...], but
their closeness arose in part from the fact, that the brother was responsible for the
sister, and she was dependent upon him«.14 Die Aufgabe des Bruders war es, seine
Schwester zu beschützen, zu verteidigen und gegebenenfalls auch zu disziplinie
ren; die Schwester hatte Sorge dafür zu tragen, die Ehre des Bruders durch ihr
Verhalten nicht zu kompromittieren und sich für ihn einzusetzen. Bremmer
zeigt auf, dass griechische Mythen kaum Streitigkeiten zwischen Bruder und
Schwester thematisieren. Ganz im Gegenteil zeigen sie, wie gefährlich die Kraft
dieses Geschwisterbundes werden kann, zum einen durch die Inzestimplikation,
die sich wohl auch in historischen Anklagen hielt,15 zum anderen durch die
Tragweite, die unbedingte Solidarität und Loyalität bedeuten konnte: z. B. dem
Orest eine Elektra zu sein. War der Bruder das Ideal des Beschützers, so zeichnet
sich das Schwesternideal darin ab, das Leben des Bruders als höchstes Gut zu
halten, es vor allen anderen Familienangehörigen zu bevorzugen: »the motif of
the sister who privileges her brother's life over those of her husband and child
ren«16 lässt sich nicht nur in der europäischen Antike finden.17
Antigone und Iphigenie sind Paradigmen dieses antiken Bruder-Schwester
Verhältnisses, sie lassen sich hochhalten als Ideale der angestrebten innerfami
liären Bindungen. Indem die klassischen Autoren, im Gegensatz zu den älteren
Quellen des geometrischen und archaischen Griechenlands, Medea auch noch
zur Brudermörderin werden lassen und diesen Mord zudem in schillernden
Hüterin vgl. u. a.: Margaret Visser, Medea. Daughter, Sister, Wife and Mother. Natal Fam
ily Versus Conjugal Family in Greek and Roman Myths About Women. In: Martin
Cropp/Elaine Fantham/S. E. Scully (Hg.), Greek Tragedy and its Legacy. Essays Presented
to D.J. Gronacher. Calgary, Alberta 1986, S. 149-167.
13 Mark Golden, Children and Childhood in Classical Athens. Baltimore, London
1990, S. 129.
14 Bremmer (Anm. 11), S. 100.
15 Vgl. ebd., S. 95 f.
16 Ebd., S. 97.
17 Vgl. ebd., S. 97 f.
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50 Mira Shah
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18 Vgl. bei Ap
te der Sohn de
245).
19 Alain Moreau, Le Mythe de Jason et Médée. La va-nu-pied et la sorcière. Paris 1994,
S. 128.
20 Ebd.
21 Heiner Müller, Medeamaterial Landschaft mit Argonauten. In: Ders., Werke 5. Die
Stücke. Hg. v. Frank Hörnigk. Frankfurt/M. 2002, S. 74-80; hier S. 76.
22 Steskal (Anm. 2), S. 66.
23 Sophokles, Werke in zwei Bänden. Übers, u. hg. v. Dietrich Ebener. Berlin 1995,
Bd. 2, S. 213 (Vers 262).
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Der erste Mord 51_
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52 Mira Shah
29 Eine Fragm
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und den Fichte
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30 Vgl. Claudia
strukturen in
(1994), S. 63-8
31 Hans Henny
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Der erste Mord 53
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Wolf den Tod des Bruders zumindest seiner Form nach in einen kulturellen
und kultischen Zusammenhang ein und versucht so, die Abnormität in die
Normalität zu überfuhren.
Loher dagegen zeichnet den Bruder derart negativ und bedrohlich, dass
sein Tod sich zwangsläufig dramaturgisch ergibt. Zudem geht diesem Tot
schlag bei Loher schon ein Matrizid Jasons voraus - als zweiter Tod ist seine
Wirkung somit per se bereits abgeschwächt. Den Mord am eigenen Fleisch
(die fehlende Interpunktion und Strukturierung der Passage legt immer wie
der nahe: »Mein Fleisch Mein Bruder«) schwächt Loher dadurch ab, dass hier
neues Fleisch entsteht, welches auch Jason »Mein Fleisch« zu nennen vermag.
In dem Moment, in dem der Bruder sich als »Ein Fremder« bekennt, wird er
von »Mein Bruder« zu »der Mann«, fleischliche Bindungen sind aufgelöst
bzw. durch andere, wichtigere abgelöst. Die Wiederherstellung von Normali
tät heißt hier: Töten, um nicht töten zu müssen, d. h. es wird ein kompliziertes
Geflecht um einen Ethos gebaut: »Ich habe ein Leben für ein anderes genom
men. Mein Bruder, der wie mein zweites Leben war. Um eines Mannes willen,
der kein Messer wert war. Jetzt zählt nur noch das Kind. Und dieses Leben,
für das ich getötet habe, wirst Du mir nicht nehmen«.36
Das Motiv der Zerstückelung wird somit von Wolf und Loher zugunsten
einer bestimmten Interpretation des Mordes verdrängt, während Jahnn und
Pasolini es hervorheben und damit wiederum andere Interpretationen dieses
Gewaltaktes anstreben und umsetzen. Dass die Auseinandersetzung mit die
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Der erste Mord 55
Wie schon angesprochen, stellt der erste Mord, den Medea begeht, vor allem
hinsichtlich seines Motivs ein Problem für moderne Autoren dar. Der Mord
an Pelias lässt sich als Tyrannenmord darstellen und erhält so politischen
Gehalt für die Argonautensage bzw. im Mythos von Medea und Jason. Die
Tötung der Königstochter respektive Kreons ist leicht als Rache Medeas ver
ständlich und auch der Kindermord fügt sich in die Darstellung einer allum
fassenden Rache der betrogenen, verlassenen Frau an ihrem Mann. Doch der
Tod Apsyrtos' bleibt vage und uneinheitlich. Erstens werden die Partikel die
ser Episode in ihrer antiken Darstellung unterschiedlich variiert. Zusammen
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56 Mira Shah
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des Apsyrtos
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39 Siehe Fered
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Der erste Mord 57
Er [überraschte] sie mit einer weitschweifigen Erzählung des alten Brauchs, nach
dem ein König nur zweimal sieben Jahre herrschen durfte, und mit der großspu
rigen Erklärung, daß er sich diesem Brauch beugen werde; mehr noch, er werde
genau das tun, was seine Vorväter getan hätten: Er werde für einen Tag seine Würde
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58 Mira Shah
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tun; denn sow
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Medea trifft
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Tod und Wie
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als schuldig
klebt kein Blut an ihren Händen. Interessanterweise kontrastiert Wolf die li
terarische Freisprechung Medeas mit dem Trauma der Schuld, das Medea
dennoch erfahrt, weil sie den Bruder ihrem Vater preisgab. Gegen die psychi
sche Schuld gibt es, anders als gegen die juristische, kein Mittel: Ein anderes
Ritual, das Reinigungsritual der Kirke, kann nicht wirken, da Medea den
Mord nicht begangen hat. Es gibt keine Reinigung der Zeugen.
Alain Moreau sieht jedoch gerade im Tod des Apsyrtos als diasparagmos
ein Reinigungsopfer. Apsyrtos wird mit auf die Argo genommen als königli
ches Opfer, das in jenem Moment zum Einsatz kommt, in dem das Schiff und
seine Argonauten sich in höchster Gefahr befinden. Dies kann die Verfolgung
durch die Kolcher ebenso sein wie - eine Passage der Argonautensage - der
Aufenthalt in der Unterwelt. Dabei ist die Zerstückelung fester Teil des Ritus,
der im Moment des Grenzübertritts, des >ffanchissement du passages eine
gute Fahrt gewähren soll: »Nous sommes bien dans un contexte de passage
d'un monde à l'autre, passage dangereux qui impose un rite exceptionnel: on
ne peut échapper à la mort et à ce monde de mort qu'en provoquant la mort
et en accompagnant cette mort d'un rituel sanglant et magique«.47 Die He
rausforderung und gleichzeitige Besänftigung des Todes durch ein blutiges
Ritual trifft auf den diasparagmos als Bestandteil der Bitte um gute Fahrt, wie
sie zum Beispiel das Defilée der Truppen Xerxes' zwischen den beiden Kör
perhälften des Pythios-Sohnes illustriert.48
Gute Fahrt, das bedeutet für Medea jedoch auch den Aufbruch in ein an
deres Leben - das Leben mit Jason als ihrem Mann. Die gemeinsame Flucht
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Der erste Mord 59
49 Ebd., S. 126.
50 Vgl. dazu das Batailles Konzept des Mordes als erotische Erfahrung besprechende
Kapitel Murder as (carnal) Knowledge in: Joel Black, The Aesthetics of Murder. A Study
in Romantic Literature and Contemporary Culture. Baltimore, London 1991, S. 104-131.
51 Delcourt (Anm. 42), S. 18.
52 Moreau (Anm. 19), S. 126.
53 Jahnn (Anm. 31), S. 58 f.
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60 Mira Shah
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Bei Jahnn ist
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55 Moreau (An
56 Vgl. auch Yix
traud Mierhofe
Kreutzer zum 6
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Der erste Mord 61
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62 Mira Shah
Götter. Diese
den. Wir alle,
cher wurde in
61 Wolf (Anm.
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Der erste Mord 63
Jason und Medea sind da schon längst seltsam verblasst vor den Geschehnissen,
die ihr Leben bestimmen, und der gesellschaftlichen Entwicklung, die sich voll
zogen hat: Von Kolchis, der Gesellschaft der offenen politischen Diskussion und
gleichzeitig kraftvollen Rituale, in der die Gleichberechtigung von Männern und
Frauen so stark in Erinnerung ist, dass das Verhältnis ausgewogen scheint - hin
zu Korinth, in dem sich die Männer als Schmerzens- und die Frauen als Scham
gemeinschaft in einer eindeutigen Hierarchie gegenüberstehen.
Die Opposition Frau/Mann wird im Medea-Mythos ergänzt und umfasst
von derjenigen von Zivilisation/Barbarei bzw. des Eigenen/Fremden. Medeas
Fremdheit in der griechischen Kultur wird Jason immer wieder als Argument
für seine Entscheidung zur neuen Ehe in den Mund gelegt. Gleichzeitig sieht
er sich meist als Kulturbringer für die Barbarin, denn er schreibt sich das
Verdienst zu, dass Medea nun »in Hellas statt in traurigen / Barbarenlän
dern«63 wohne und Recht und Sitte gelernt habe, um »dem Gesetz [zu] ge
horchen, nicht der rohen Kraft«.64 Fremdheit wird dabei für die Autoren des
mehr oder minder postkolonialen Europas zu einem Fixpunkt, um den sich
der Medea-Mythos legen kann. So besteht Jahnn 1926 mit Vehemenz darauf,
»die Barbarin Medea kann auf der heutigen europäischen Bühne nur Negerin
oder Chinesin sein«,63 Pasolini kreiert eine insgesamt archaisch fremd anmu
tende Welt, in der Medea eher spirituell fremd ist als durch Aussehen und
Kleidung, und Dea Loher macht aus Medea und Jason illegale Emigranten
einer Kriegsregion.66
Kolchis an der Schwarzmeerküste scheint jenes wohlige Maß an Fremdheit
auszustrahlen, welches den antiken Autoren gerade recht kam: eine Kultur,
62 Ebd., S. 196.
63 Euripides (Anm. 1), S. 204 (Verse 536-537).
64 Ebd. (Vers 538).
65 Hans Henny Jahnn, Es wird ein Stück von mir in meiner Vaterstadt gespielt. In:
Ders., Werke in Einzelbänden. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Ulrich Schweikert. Dramen I
1917-1929. Dramen, Dramatische Versuche, Fragmente. Hg. v. Ulrich Bitz. Hamburg
1988, S. 941-943; hier S. 941.
66 Weitere Bearbeitungen sehen Medea als Vagabundin im >Zigeunerwagen< (Jean
Anouilhs Medea), >Mulattin< (Paul Heyses Medea Novelle), Jüdin (Gertrud Kolmars Die
Jüdische Mutter), Malayin (Maxwell Andersons The Wingless Victory) oder Araberin (Max
Zweigs Medea in Prag).
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64 Mira Shah
den Griechen
dass man sich von ihr abheben und auf sie hinab blicken konnte. Es ist im
attischen Griechenland die Sicht der Kolonialmacht auf die domestizierten
>Eingeborenen<, die ihr jenes unheimliche Potenzial repräsentieren, welches
sie zur Selbstbestätigung heranziehen kann, ohne dass es ihr faktisch gefähr
lich werden könnte. Dabei funktioniert Fremdheit anscheinend weniger über
unterschiedliche Bräuche und Riten (denn diese lassen sich metaphorisch
einordnen) als über das unabänderliche Äußere. Bei Pindar und Apollonius
finden sich Verweise darauf, bei Medea habe es sich um eine dunkelhäutige
Frau gehandelt, die dem schönen blonden Helden verfallen sei. Diese
hell/dunkel-Komponente des Fremdheitsdiskurses ist hinlänglich untersucht
worden, doch die Fremdheit, die der Mythos thematisiert, ist nicht nur die
einer kulturell oder ethnisch fremden Frau in der griechischen Kultur. Es ist
auch die der Frau als Fremder schlechthin.
Euripides lässt Medea das allgemeine Leid der Frauen beklagen,67 und stellt
dabei heraus, wie fremd sich die Ehegattin ihrem unbekannten Gatten fühlt.
Im attischen Griechenland ist die Frau unbeweglich, festgeschrieben auf die
innersten Gemächer des oikos, während der Mann als mobiler Teil der Gesell
schaft funktioniert. Indem er sich aber eine Frau sucht, fuhrt er eine Fremde
an den heiligen Herd als dessen Hüterin, die zuvor beschränkt war auf das
Haus ihres Vaters. Diese geschlechterspezifische Form der Fremdheit bringt
Visser folgendermaßen auf den Punkt: »Men are foreigners before marriage,
coming to take the bride away; women are foreigners afterwards«.68 Gleich ob
man nun die Fremdheit im Mikrokosmos der Geschlechter oder im Makro
kosmos der Kulturen sucht - und in der Medea als »the outsider par excel
lence«69 wird beides vereint -, auch hier kann der Mord an Apsyrtos wegwei
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Der erste Mord 65
Zauberin und göttliches Wesen: »[S]he evokes familiar fears of a subtle, alien menace at
the very heart of man's life«; ebd.
70 Loher (Anm. 34), S. 22.
71 Jahnn (Anm. 31), S. 57.
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66 Mira Shah
Schwester Isis
wird.72 Medea
haft pränatale
körperlichen
negiert werde
hier beides: D
von dem naiv
streben, durc
betreiben, in d
syrtos, um ihr
dies jedoch so,
Sein Bild kann fortan nur noch in ihr bestehen - sie hat ihn für die Welt
ausgelöscht und zugleich in sich selbst verschlossen. Der Mord an Apsyrtos
übernimmt damit bei Jahnn zwei erotische Momente zugleich: Einerseits
dient er der Einverleibung des Anderen durch seine Auslöschung, andererseits
der gemeinsamen Erfahrung der Dissolution mit ihrem neuen Geliebten Ja
son. Emanzipation und Entgrenzung gehen hier Hand in Hand.
Hans Henny Jahnn, Pier Paolo Pasolini, Christa Wolf und Dea Loher gestalten
in ihren Texten jeweils eigene Interpretationen und Inszenierungen des My
thos. Ihnen geht eine lange Tradition der Beschäftigung mit diesem und an
deren antiken Mythen voraus, in denen die Figur der Medea, ihre Beziehung
zu Jason und ihr Morden vielfach unterschiedlich thematisiert wurden. Diese
vier Bearbeitungen des 20. Jahrhunderts rücken jedoch den ersten Mord, den
Medea begeht, auf jeweils eigene Weise ins Licht, um mit diesem die Figur
Medea zu erhellen. Aufgrund der fragmentarischen und uneinheitlichen
Überlieferung zum Mord an Apsyrtos als Teil des Mythos bietet er viel Raum
72 Vgl. Hans Henny Jahnn, Die Sagen um Medea und ihr Leben. In: Ders., Werke in
Einzelbänden. Hamburger Ausgabe. Hg. v. Ulrich Schweikert. Dramen 1 1917-1929. Dra
men, Dramatische Versuche, Fragmente. Hg. v. Ulrich Bitz. Hamburg 1988, S. 934-940.
73 W. H. Auden, The Guilty Vicarage. Notes on the Detective Story. By an Addict. In:
Harper's Magazine 5 (1948); auch: http://harpers.org/archive/1948/05/the-guilty-vicara
ge/1/ (13.07.2013).
74 Ivana Sajko, Archetype: Medea. Monologue For A Woman That Sometimes Speaks.
Manuskript, S. 7 f.
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Der erste Mord 67
75 Jahnns Auseinande
erstmals erschienenem
logie des dichterischen Sc
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68 Mira Shah
Körperbild de
Jugend, die
greifen, ford
die Intensität
in diesem pes
hier sic über
gemacht«.76 D
selbst zu opf
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Christa Wolf
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76 Jahnn (Anm
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Der erste Mord 69
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Medea weiter mord
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den. Die Medea, die
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Potenzial und ihr g
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