Professional Documents
Culture Documents
1 Aus dem Englischen übersetzt von Jen Theodor, Fatima El-Tayeb und Jin Hari-
taworn
und arbeitete trotz der Hindernisse um sie herum (Bacchetta 2009). 2009
wurde in Paris die Gruppe Lesbiennes of Color gegründet. Eines der lang-
fristigen Ziele der LOCs ist die Dekolonisierung feministischer und lesbi-
scher Bewegungen (Al Rassace 2012). 2010 sprachen in Berlin QPoC und
Verbündete mit Judith Butler über den Stand queerer Politik. Daraufhin
lehnte Butler in einer weit zirkulierten Rede aufgrund der »Komplizen-
schaft« der Organisator_innen mit antimuslimischem Rassismus den Zi-
vilcourage-Preis des CSD ab (Petzen 2011). QPoC Statements zum CSD-
Rassismus-Skandal wurden dagegen weitgehend ignoriert. Die Erklärung
der Berliner Gruppe SUSPECT (2010) bot eine der ersten Analysen von
Homonationalismus und queerer Gentrifizierung im deutschen Kontext
(s.a. Haritaworn 2009).
Um dieselbe Zeit fand eine zunehmende Transnationalisierung euro-
päischen QPoC-Widerstandes statt. So schrieben die LOCs im Zuge des
CSD-Rassismus-Skandals eine Solidaritäts-Erklärung mit SUSPECT und
allen queeren Menschen of Color in Deutschland und gegen LSBTQ-Ras-
sismus (LOCs 2010). Zwei Jahre später schrieb SUSPECT für die queeren
muslimischen Organisationen Safra und Imaan in London eine ähnliche
Erklärung (SUSPECT 2011). Diese mobilisierten gegen die dortige East
End Gay Pride (EEGP), eine Pinkwashing2-Demonstration, die von der
neofaschistischen English Defense League organisiert wurde. Ähnlich
den von SUSPECT und drei Jahre später im nachfolgend beschriebenen
Khalass!!!We’re vex!-Manifest kritisierten Mobilisierungen in Kreuzberg
und Neukölln propagierte der Aufruf zur EEGP islamophobe Ansichten
über den Stadtteil als gefährlich und homophob (Decolonize Queer 2011,
Imaan 2011, Safra 2011).
Das QPoC-Manifest »Khalass!!! We‘re vex! [Genug!!! Wir sind
sauer!]« (2013) verdient mit seiner antirassistischen und antikolonialen
Raum-Analyse detailliertere Betrachtung. Die Gruppe anonymer Au-
tor_innen, die sich als »queer_trans*_inter*_Black_Muslim*_Arab_
Rromni*ja_mixedrace_Mizrahi_Refugee_Native_Kurdish_Armenian«
identifizierten, beschrieben diese so:
»Uns geht es jetzt darum, unsere Strukturen zu stärken und wir wollen von
Euch dabei nicht gestört werden. Kommt nicht in unsere Communitys, um die
Communitys kaputt zu machen! Unsere Realitäten sind nicht Eure Realität!
Zu unseren Strukturen gehören unsere Bezirke, unsere Viertel, in denen wir uns
vor rassistischen Übergriffen geschützt fühlen. Ihr denkt nicht daran, dass Ihr
für uns eine Gefahr darstellt oder dass Ihr Teil des Problems sein könntet [ ].
Ihr bezeichnet Euch mit Euren bourgeoisen Hausprojekten als ›Pioniere‹
und bemerkt noch nicht mal Eure koloniale Sprache, Eure Zivilisationsmis-
sion und dass Ihr Räume für andere weiße Siedler*innen vorbereitet. Was
meint Ihr, wie Kreuzberg vor dreißig Jahren aussah? Arm, heruntergekommen,
am Rand von Westberlin. Genau deswegen haben Vermieter*innen zugelas-
sen, dass Schwarze und PoC dort wohnen. Euer Gedächtnis ist erstaunlich
schlecht. Fällt Euch gar nicht auf, dass in Euren Bioläden und queeren Bars
keine Schwarzen Nachbarn und Nachbarn of Color sind? Oder ist es Euch
sogar lieber?
Hört auf, Geld in Anti-Homophobieprojekte in Wedding, Schöneberg und
Neukölln zu investieren, kümmert Euch um die Homophobie und Transpho-
bie in der weißen Gesellschaft!«
Ironischerweise war das Ziel dieser Kritik nicht der kommerzielle Christo-
pher Street Day, sondern die alternative Demonstration des trans*genialen
CSD (TCSD), der sich 1997 aus politischen Gründen vom Mainstream-
CSD getrennt hat. Die Veranstaltung identifiziert sich als antifaschistisch,
antirassistisch und ›alternativ‹, erscheint aber vielen Queers of Color als
nicht weniger weiß. So stand auf dem Banner, das den Flyer-Wurf mit dem
Khalass!!!We’re vex!-Manifest begleitete: »CSD: (erhobener Mittelfinger)
– T*CSD: SPOT THE DIFFERENCE [Suche den Unterschied]«.
Zwei Jahre zuvor hatte in Frankreich die Gruppe Inter-LGBT ein
Werbeplakat für die Homo-Parade von 2011 vorgeschlagen, das sich na-
tionalistischer und rassistischer Symbolik bediente. Es enthielt zudem
die Worte »I vote« und machte so queere Menschen in Frankreich ohne
Staatsbürgerschaft und besonders postkoloniale Immigrierte unsichtbar.
Als Reaktion veröffentlichte die Gruppe Lesbiennes of Color (LOCs) eine
Erklärung, die Inter-LGBT direkt wegen ihres Rassismus und ihrer rechten
Politik zur Rede stellte (LOCs 2011; Bacchetta 2012). Queers of Color
in Europa haben also auf verschiedenen geografischen Skalen und in ver-
schiedenen Maßen in weiße Vorherrschaft interveniert – von der Nachbar-
schaft und der Nation bis hin zu Europa und dem ›Westen‹.
Wir möchten hier den Aktivismus von QPoC in Europa als eine entste-
hende politische Formierung erkunden, die vielfache Formen des Ausschlus-
ses, der Verdrängung und der Unterdrückung untersucht. Welche Modi der
Raumschaffung und des Welt-Machens, welche transformativen Horizonte
kommen in den Blick, wenn wir QPoC in Europa und anderswo als geo-
grafische Subjekte ernst nehmen? Was verspricht eine Zentrierung von ge-
schlechtlich und sexuell nonkonformen Subjekten in der Erforschung von
Rassismus und Kolonialismus angesichts der Zentralität von vergeschlecht-
lichter und sexualisierter Gewalt in rassistischen und kolonialen Projekten?
Und was müsste passieren, damit diese Subjekte wieder in antirassistischen
und antikolonialen Projekten heimisch werden können? Wir schlagen
QPoC nicht als einzige, sondern als eine mögliche Modalität vor, die neue
translokale Sichtweisen auf Raum und Rassifizierung sowie Widerstands-
modi gegen rassistische und koloniale Kontrolle eröffnen könnte.
Wir verstehen ›translokal‹ als einen konzeptuellen Rahmen, der die
komplexe Beziehung von queeren Menschen of Color zu Raum (und zu
Zeit) anerkennt, wie auch ihre Prägung durch intersektionale Machtvek-
toren um Rassifizierung, Klasse, Religion, Sexualität, Geschlecht, Ko-
lonialismus und Nation. Wie es auch für Europäer_innen of Color im
Allgemeinen der Fall ist, überschreiten die Zugehörigkeiten von QPoC
den Nationalstaat und wurzeln in lokalen Gefügen (der Stadt, der Nach-
barschaft, etc.). Diese Verhandlung von Zugehörigkeit auf mehreren Ebe-
nen ist jedoch zentral von der Erfahrung geprägt, nicht dazuzugehören.
QPoC finden keine Strukturen vor, die sie bewohnen können, sondern
müssen sie erst schaffen oder sich wieder aneignen. Die Erfahrung, immer
fehl am Platz zu sein – in der Nation, der Community, der Familie, dem
Club oder Klassenzimmer – produziert lokal begründete Raumschaffung
als notwendige Überlebensstrategie; sei es durch die vorübergehende
Besetzung und Beanspruchung feindseliger oder gleichgültiger Räume
oder durch das Ausgraben einer lokalen Genealogie des Aktivismus von
QPoC, die weiterhin aus den Archiven ausgeschlossen wird – sogar aus
jenen, die sich der Wiederaneignung unterdrückter Geschichten widmen.
Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit der Amsterdamer feministischen und
queeren Aktivist_innen in den Gruppen ZAMI und Strange Fruit in den
1980er und 1990er Jahren, die den interventionistischen Staatsdiskursen
über muslimische Misogynie und Homophobie weit voraus waren, aber
in den hegemonialen Rettungserzählungen ausgeblendet bleiben, die die
Handlungsfähigkeit queerer und feministischer Muslim_innen diskursiv
löschen (El-Tayeb 2011, 2012, 2015).
Themen
Wie kann städtischer Raum vom Standpunkt queerer Menschen of Color
neu konzeptualisiert werden? Was würde es bedeuten, QPoC als geogra-
fische Subjekte ernst zu nehmen? Wir laden unsere Unterstützer_innen,
Geschwister und Genoss_innen dazu ein, sich mit Themen wie den fol-
genden zu beschäftigen:
diesem Raum seine politische Möglichkeit. Dies sollten Orte des Empower-
ment für uns bleiben, Ihr habt schon genug weiße Räume!
Unsere Körper sind keine Projektionsfläche für Euren Orientalismus, Eure
Exotisierung und Sexualisierung.
Wir wollen kein Spektakel sein und nicht für die weißen auf der Gayhane tan-
zen, und uns dazu noch anhören müssen, wie die Musik von PoC und Schwar-
zen pauschal als homophob, transphob und sexistisch repräsentiert wird. Ich
glaub es hackt!«
Wir laden euch ein, der Kunst, dem Aktivismus und den alltäglichen Ak-
ten der Konvivialität und Gemeinschaftsbildung queerer Menschen of
Color in Europa Aufmerksamkeit zu schenken – und mit uns den diskur-
siven und materiellen Raum dafür zu schaffen. Diese Handlungen werden
massiv unterschätzt und entwertet. Aber sie haben das wichtige Potenzial,
Räume und Welten zu schaffen, die über die mörderischen Logiken der
Versicherheitlichung, Privatisierung und Territorialisierung hinausgehen,
die unseren gegenwärtigen Kontext des rassifizierten und kolonialen Ka-
pitalismus charakterisieren.
Bibliografie
Al Rassace, Sabreen. 2012. »De la necessité de decoloniser la lutte feministoles-
bienne.« Passages de Paris, 7 (2012) 65–69. [http://www.apebfr.org/pas-
sagesdeparis/editione2012/articles/pdf/PP7_artigo5.pdf ] letzter Zugriff:
11.02.2017.
Amos, Valerie/ Parmar, Pratibha. 1984. »Challenging imperial feminism.« Fe-
minist Review 17.
Bacchetta, Paola. 2002. Re-Scaling Trans/national ›Queerdom‹: 1980s Lesbian
and ›Lesbian‹ IdentitaryPositionalities in Delhi. Special Issue: Queer Patriar-
chies, Queer Racisms, International. Antipode 34: 947–97.
Bacchetta, Paola. 2009. »Co-Formations: des spatialités de résistance décolonia-
les chez les lesbiennes ›of color‹ en France.« Genre, Sexualité et Société 1/1.
[http://gss.revues.org/810] letzter Zugriff: 11.02.2017.
Bachetta, Paola und Jules Falquet 2011. Introduction au »Théories féministes et
queers décoloniales : interventions Chicanas et Latinas états-uniennes.« Les
Cahier du CEDREF 18, 7-40.
Bacchetta, Paola. 2012. »Gay Poster-Posturing: Queer Racialized Disjunctions
in the (French) Hom(m)o-Republic.« Center for Race and Gender, Univer-
sity of California, Berkeley. [http://crg.berkeley.edu/content/visualconstruc-
tions] letzter Zugriff: 11.02.2017.