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Paola Bacchetta, Fatima El-Tayeb, Jin Haritaworn


Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa1

Unsere gemeinsame Intervention erkundet die Positionalitäten von quee-


ren People of Color (QPoC) als wichtige Linse für ein Neudenken der
rassifizierten und kolonialen Vorstellungswelten über Subjekte und Raum
in Europa. Diese Perspektive bringt Rassifizierung, Vergeschlechtlichung,
Kapitalismus, Kolonialismus und Sexualität untrennbar in einer gemeinsa-
men Analytik zusammen. Sie hinterfragt Auslassungen von Rassifizierung
aus Diskussionen über queeren Raum und von europäischen QPoC so-
wohl aus Diskussionen über Rassifizierung und Raum in Europa als auch
aus der US-amerikanisch zentrierten QPoC-Forschung. In diesen Diskus-
sionen wird Europa im Allgemeinen für weiß und homogen gehalten und
rassifizierte Subjekte für heterosexuell und geschlechterkonform. Raum
wird nur selten als ein Gefüge verstanden, das gemeinsam mit anderen
Machtverhältnissen auch durch Sexualitäten konstituiert wird. Unsere
Intervention denkt urbane Umgebungen in ihrer Beziehung zu Rassifizie-
rung, Subjekten und Handlungsfähigkeiten radikal neu. Ferner holt sie
queere Menschen of Color in Europa ins allgemeine Bewusstsein.
Wir erkennen an, dass die Kategorien ›queer‹ und ›of Color‹ situa-
tiv, umstritten und unfertig sind. Sie neigen zudem dazu, US-Zentrik zu
verstärken und Unterschiede innerhalb und zwischen geschlechtlich und
sexuell nonkonformen, rassifizierten und kolonisierten Kollektivitäten im
Globalen Norden wie im Süden zu übergehen. Bereits der Begriff ›of Co-
lor‹ erreicht Europa oft in Diskursen, die Europa als weiß und die USA
als hegemonial belassen. Hiesige antirassistische und anti-imperialistische
Kämpfe werden infolge dessen häufig als unauthentisch und abgeleitet
herabgesetzt. Ähnlich kursiert ›queer‹ oft auf Weisen, die weiße koloniale
Geschlechter und Sexualitäten universalisieren, während sie alle anderen
tilgen. So war ›queer‹ etwa für die von Gloria Anzaldúa (1991) beschriebe-
nen Arbeiterklasse-Lesben of Color in den USA eine wichtige Alternative
zu homonormativen Bezeichnungen (Bacchetta/Falquet 2011; Bacchetta
2002). Die Aneignung von ›queer‹ in weiß-dominierten Gemeinschaften
und Institutionen in Europa stellt nicht infrage, wie rassifizierte Menschen

1 Aus dem Englischen übersetzt von Jen Theodor, Fatima El-Tayeb und Jin Hari-
taworn

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aufgrund ihrer ›gescheiterten‹ Männlichkeiten, Weiblichkeiten und He-


terosexualitäten als unzulänglich und minderwertig eingestuft werden und
somit Anspruch auf Lebensmöglichkeiten verlieren (El-Tayeb 2003, Hari-
taworn 2005). Stattdessen ging die Zirkulation weißer queerer Identitäten,
Theorien und Raumschaffung unproblematisiert mit der zunehmenden
Kriminalisierung, Pathologisierung, Verdrängung und/oder räumlichen
Einschränkung rassifizierter Bevölkerungen einher. Heute werden Pro-
zesse, die allen Menschen of Color Gewalt antun, im Namen des Schutzes
von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Trans-Menschen (LSBT) vor Ge-
walt, der queeren Raumschaffung und anderer Formen der »mörderischen
Inklusion« gerechtfertigt (Haritaworn/Kuntsman/Posocco 2013; 2014).
Indes kommen die lautesten Anfechtungen dieser neuen Ausdrucks-
formen von Rassismus und Kolonialismus schon lange von selbst-identi-
fizierten QPoC (z.B. SUSPECT 2010, Khalass!!! We’re vex! 2013, Deco-
lonize Queer 2011; LOCs 2012). Viele dieser Interventionen praktizieren
eine spezifisch räumliche Analyse. Schon 1989 nutzten Gruppen wie das
Amsterdamer QPoC-Kollektiv Strange Fruit Performances, Partys, Poe-
sie und ihre eigene Radiosendung, um Themen von HIV-Prävention für
Communitys of Color bis zu Einwanderungsgesetzen und Abschiebungen,
Racial Profiling, Transphobie in queeren Gemeinschaften und Rassismus
in weißen linken Organisationen zu konfrontieren. Zusätzlich zur Schaf-
fung eigener Räume fokussierten diese Aktivist_innen ihre Interventionen
auf Orte, wo QPoC sich aufhielten, aber nur selten heimisch fühlten –
etwa weiß-dominierte Schwulen-Clubs oder ethnisierte Festivals wie das
Bejlmerfeest, Amsterdams größte Zelebrierung karibischer Kultur. Sie for-
derten somit erfolgreich hetero- und homonormative Identitätsmodelle
heraus (El-Tayeb 2011, 2012). In Paris gründete sich 1999 die Groupe du
6 novembre: lesbiennes issues du colonialisme, de l’esclavage et de l’immi-
gration (Gruppe des 6. November: Lesben aus Kolonialismus, Versklavung
und Immigration) ausdrücklich, um alternative Räume für Lesben of Co-
lor zu schaffen. Sie dienten somit auch dem Aufbau eines eigenen Archiv
zur Lesben-of-Color-Analyse von vielfachen gleichzeitigen Machtverhält-
nissen und der Förderung ihrer Ausdrucksformen(in Kunst, Medien, De-
monstrationen, etc.) – aber bei Bedarf auch ihrer wohl-berechneten Stille.
Zudem leistete die Gruppe direkten Widerstand gegen Rassismus, Kolo-
nialismus und weißen Nationalismus innerhalb von feministischen und
LSBTQ-Bewegungen in Frankreich. Manchmal ignorierte sie diese auch

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und arbeitete trotz der Hindernisse um sie herum (Bacchetta 2009). 2009
wurde in Paris die Gruppe Lesbiennes of Color gegründet. Eines der lang-
fristigen Ziele der LOCs ist die Dekolonisierung feministischer und lesbi-
scher Bewegungen (Al Rassace 2012). 2010 sprachen in Berlin QPoC und
Verbündete mit Judith Butler über den Stand queerer Politik. Daraufhin
lehnte Butler in einer weit zirkulierten Rede aufgrund der »Komplizen-
schaft« der Organisator_innen mit antimuslimischem Rassismus den Zi-
vilcourage-Preis des CSD ab (Petzen 2011). QPoC Statements zum CSD-
Rassismus-Skandal wurden dagegen weitgehend ignoriert. Die Erklärung
der Berliner Gruppe SUSPECT (2010) bot eine der ersten Analysen von
Homonationalismus und queerer Gentrifizierung im deutschen Kontext
(s.a. Haritaworn 2009).
Um dieselbe Zeit fand eine zunehmende Transnationalisierung euro-
päischen QPoC-Widerstandes statt. So schrieben die LOCs im Zuge des
CSD-Rassismus-Skandals eine Solidaritäts-Erklärung mit SUSPECT und
allen queeren Menschen of Color in Deutschland und gegen LSBTQ-Ras-
sismus (LOCs 2010). Zwei Jahre später schrieb SUSPECT für die queeren
muslimischen Organisationen Safra und Imaan in London eine ähnliche
Erklärung (SUSPECT 2011). Diese mobilisierten gegen die dortige East
End Gay Pride (EEGP), eine Pinkwashing2-Demonstration, die von der
neofaschistischen English Defense League organisiert wurde. Ähnlich
den von SUSPECT und drei Jahre später im nachfolgend beschriebenen
Khalass!!!We’re vex!-Manifest kritisierten Mobilisierungen in Kreuzberg
und Neukölln propagierte der Aufruf zur EEGP islamophobe Ansichten
über den Stadtteil als gefährlich und homophob (Decolonize Queer 2011,
Imaan 2011, Safra 2011).
Das QPoC-Manifest »Khalass!!! We‘re vex! [Genug!!! Wir sind
sauer!]« (2013) verdient mit seiner antirassistischen und antikolonialen
Raum-Analyse detailliertere Betrachtung. Die Gruppe anonymer Au-
tor_innen, die sich als »queer_trans*_inter*_Black_Muslim*_Arab_
Rromni*ja_mixedrace_Mizrahi_Refugee_Native_Kurdish_Armenian«
identifizierten, beschrieben diese so:

2 Pinkwashing bezeichnet die öffentlichkeitswirksame Nutzung von Queer-


Freundlichkeit zur Ablenkung und Verdeckung von problematischen Aspekten
der jeweiligen politischen oder kommerziellen Entität, wie Rassismus, Kolonia-
lismus und Kapitalismus.

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»Uns geht es jetzt darum, unsere Strukturen zu stärken und wir wollen von
Euch dabei nicht gestört werden. Kommt nicht in unsere Communitys, um die
Communitys kaputt zu machen! Unsere Realitäten sind nicht Eure Realität!
Zu unseren Strukturen gehören unsere Bezirke, unsere Viertel, in denen wir uns
vor rassistischen Übergriffen geschützt fühlen. Ihr denkt nicht daran, dass Ihr
für uns eine Gefahr darstellt oder dass Ihr Teil des Problems sein könntet [ ].
Ihr bezeichnet Euch mit Euren bourgeoisen Hausprojekten als ›Pioniere‹
und bemerkt noch nicht mal Eure koloniale Sprache, Eure Zivilisationsmis-
sion und dass Ihr Räume für andere weiße Siedler*innen vorbereitet. Was
meint Ihr, wie Kreuzberg vor dreißig Jahren aussah? Arm, heruntergekommen,
am Rand von Westberlin. Genau deswegen haben Vermieter*innen zugelas-
sen, dass Schwarze und PoC dort wohnen. Euer Gedächtnis ist erstaunlich
schlecht. Fällt Euch gar nicht auf, dass in Euren Bioläden und queeren Bars
keine Schwarzen Nachbarn und Nachbarn of Color sind? Oder ist es Euch
sogar lieber?
Hört auf, Geld in Anti-Homophobieprojekte in Wedding, Schöneberg und
Neukölln zu investieren, kümmert Euch um die Homophobie und Transpho-
bie in der weißen Gesellschaft!«

Ironischerweise war das Ziel dieser Kritik nicht der kommerzielle Christo-
pher Street Day, sondern die alternative Demonstration des trans*genialen
CSD (TCSD), der sich 1997 aus politischen Gründen vom Mainstream-
CSD getrennt hat. Die Veranstaltung identifiziert sich als antifaschistisch,
antirassistisch und ›alternativ‹, erscheint aber vielen Queers of Color als
nicht weniger weiß. So stand auf dem Banner, das den Flyer-Wurf mit dem
Khalass!!!We’re vex!-Manifest begleitete: »CSD: (erhobener Mittelfinger)
– T*CSD: SPOT THE DIFFERENCE [Suche den Unterschied]«.
Zwei Jahre zuvor hatte in Frankreich die Gruppe Inter-LGBT ein
Werbeplakat für die Homo-Parade von 2011 vorgeschlagen, das sich na-
tionalistischer und rassistischer Symbolik bediente. Es enthielt zudem
die Worte »I vote« und machte so queere Menschen in Frankreich ohne
Staatsbürgerschaft und besonders postkoloniale Immigrierte unsichtbar.
Als Reaktion veröffentlichte die Gruppe Lesbiennes of Color (LOCs) eine
Erklärung, die Inter-LGBT direkt wegen ihres Rassismus und ihrer rechten
Politik zur Rede stellte (LOCs 2011; Bacchetta 2012). Queers of Color
in Europa haben also auf verschiedenen geografischen Skalen und in ver-
schiedenen Maßen in weiße Vorherrschaft interveniert – von der Nachbar-
schaft und der Nation bis hin zu Europa und dem ›Westen‹.
Wir möchten hier den Aktivismus von QPoC in Europa als eine entste-
hende politische Formierung erkunden, die vielfache Formen des Ausschlus-

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ses, der Verdrängung und der Unterdrückung untersucht. Welche Modi der
Raumschaffung und des Welt-Machens, welche transformativen Horizonte
kommen in den Blick, wenn wir QPoC in Europa und anderswo als geo-
grafische Subjekte ernst nehmen? Was verspricht eine Zentrierung von ge-
schlechtlich und sexuell nonkonformen Subjekten in der Erforschung von
Rassismus und Kolonialismus angesichts der Zentralität von vergeschlecht-
lichter und sexualisierter Gewalt in rassistischen und kolonialen Projekten?
Und was müsste passieren, damit diese Subjekte wieder in antirassistischen
und antikolonialen Projekten heimisch werden können? Wir schlagen
QPoC nicht als einzige, sondern als eine mögliche Modalität vor, die neue
translokale Sichtweisen auf Raum und Rassifizierung sowie Widerstands-
modi gegen rassistische und koloniale Kontrolle eröffnen könnte.
Wir verstehen ›translokal‹ als einen konzeptuellen Rahmen, der die
komplexe Beziehung von queeren Menschen of Color zu Raum (und zu
Zeit) anerkennt, wie auch ihre Prägung durch intersektionale Machtvek-
toren um Rassifizierung, Klasse, Religion, Sexualität, Geschlecht, Ko-
lonialismus und Nation. Wie es auch für Europäer_innen of Color im
Allgemeinen der Fall ist, überschreiten die Zugehörigkeiten von QPoC
den Nationalstaat und wurzeln in lokalen Gefügen (der Stadt, der Nach-
barschaft, etc.). Diese Verhandlung von Zugehörigkeit auf mehreren Ebe-
nen ist jedoch zentral von der Erfahrung geprägt, nicht dazuzugehören.
QPoC finden keine Strukturen vor, die sie bewohnen können, sondern
müssen sie erst schaffen oder sich wieder aneignen. Die Erfahrung, immer
fehl am Platz zu sein – in der Nation, der Community, der Familie, dem
Club oder Klassenzimmer – produziert lokal begründete Raumschaffung
als notwendige Überlebensstrategie; sei es durch die vorübergehende
Besetzung und Beanspruchung feindseliger oder gleichgültiger Räume
oder durch das Ausgraben einer lokalen Genealogie des Aktivismus von
QPoC, die weiterhin aus den Archiven ausgeschlossen wird – sogar aus
jenen, die sich der Wiederaneignung unterdrückter Geschichten widmen.
Ein Beispiel hierfür ist die Arbeit der Amsterdamer feministischen und
queeren Aktivist_innen in den Gruppen ZAMI und Strange Fruit in den
1980er und 1990er Jahren, die den interventionistischen Staatsdiskursen
über muslimische Misogynie und Homophobie weit voraus waren, aber
in den hegemonialen Rettungserzählungen ausgeblendet bleiben, die die
Handlungsfähigkeit queerer und feministischer Muslim_innen diskursiv
löschen (El-Tayeb 2011, 2012, 2015).

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Zugleich werden diese situierten Widerstandsstrategien durch translo-


kale Bündnisse und bewegliche Koalitionen gestützt. Aufbauend auf der
Dezentrierung der Nation in transnationaler feministischer Forschung,
verschiebt ›translokal‹ den Fokus auf die konkreten Bedingungen, unter
denen Bündnispolitiken zwischen Gruppen geschaffen werden, deren Be-
ziehung zu Staat und Nation belastet ist. Das Lokale, und besonders die
Stadt, kommen hier nicht unbedingt deshalb als zentrales Konzept hervor,
weil wir urbane Räume privilegieren, sondern weil die Muster der Arbeits-
und postkolonialen Migrationen Städte zu den Orten einer kritischen
Masse rassifizierter Körper machen (El-Tayeb 2011). Urbane Räume, ein-
schließlich der (rassifizierten) Vorstädte, sind somit sowohl Orte der Kon-
trolle als auch der Transformation von Begrenzungen.
Unsere Intervention überdenkt die derzeit im Globalen Norden vor-
herrschenden Konzepte von urbanem Raum aus der Perspektive der Kunst,
des Aktivismus und anderer Praktiken von queeren Menschen of Color.
Wie einige kritische Kulturgeograf_innen herausgestellt haben, nimmt
die Forschung im Globalen Norden meist eine dreifache Konzeptualisie-
rung von Raum vor: abstrakter Raum; relativer Raum und Raum als Pro-
duktion ( Johnston et al. 1994). Kurz erläutert, nimmt das Konzept des
abstrakten Raums Raum als etwas Gegebenes an und ist mit essentialisti-
schem Denken verknüpft. Dies ist der vorausgesetzte Raum der kolonialen
Begegnungen und der Ziehung von Grenzen. Relativer Raum wiederum
ist ein strukturalistisches Konzept, das Raum in Beziehung zu Subjekten
setzt. Es bleibt insofern ein problematisches Konzept, als dass Raum hier
wieder als vorab bestehende Entität essentialisiert wird, auch wenn er jetzt
in Beziehung zu Subjekten steht. Das poststrukturalistische Konzept vom
Raum als einer Produktion, wie es von Lefèbvre vorgeschlagen und von
anderen ausgearbeitet wurde, denkt Raum hingegen als Konstruktion, die
keine inhärente Existenz hat (Lefèbvre 1994; Massey 1994; Gilmore 2002;
McKittrick 2006).
Doch sind wir äußerst aufmerksam für andere mögliche Arten, Raum
zu denken; insbesondere in seiner Beziehung zu anderen Zeitlichkeiten
und Machtbeziehungen. Wir fragen danach, was geschieht, wenn wir
QPoC als geografische Subjekte behandeln, deren kognitive Landkarten
»alternative geografische Formulierungen« eröffnen, die »neue, oder an-
dere, und vielleicht gerechtere geografische Geschichten anregen« können
(McKittrick 2006, xix). Wir befassen uns auch mit der Störung, die queere

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Menschen of Color für die dominante Zeitlichkeit der Nation darstellen.


In hegemonialen Diskursen wird nationale Zeit innerhalb eines Rahmens
von Vergangenheit-Gegenwart-Zukunft konzeptualisiert, der die Aufklä-
rungslogik einer historischen linearen Bewegung in Richtung ›Zivilisa-
tion‹ wiederholt. Hierin wird der weiße Westen und insbesondere Europa
unveränderlich im Zentrum des Fortschritts positioniert und der Globale
Süden als ewig zurückgeblieben (Fabian 1983). Rassifizierte Bevölkerun-
gen mit Wurzeln im Süden werden somit innerhalb eines räumlichen und
zeitlichen Paradoxes positioniert. Sie sind dauerhaft im Moment der An-
kunft im Westen eingefroren, als ewige Migrant_innen – und je weiter der
tatsächliche Moment bzw. die tatsächliche Bewegung der Migration ent-
fernt liegt, desto deutlicher wird das Paradox, d.h. die Fehlplatzierung in
Raum und Zeit. In der Schaffung von translokalen, rhizomatischen und
oft flüchtigen Netzwerken, verwehren sich QPoC dieser Logik von Zeit
und Raum und eröffnen das Potenzial alternativer Subjektbildung und
zeitlich-räumlicher Formierungen.
Diese lokal begründeten Zusammenschlüsse überschreiten die zuneh-
mend befestigten Grenzen Europas und betonen so gemeinsame Kämpfe
gegen neoliberale Raumpolitiken, die mit zunehmender Entfernung von
der nordwesteuropäischen Metropole oft gewaltvoller werden. Bündnisse
wie Lambda Istanbul, das sich aus türkischen und migrantischen/geflüch-
teten LSBT-Aktivist_innen aus Nahost zusammensetzt, kombinieren
Aktionen, die auf den unmittelbaren und spezifischen Bedürfnissen von
mehrfach marginalisierten Gemeinschaften basieren (bspw. Spenden-
sammlungen für Gesundheitsversorgung), mit Interventionen in größere
politische Auseinandersetzungen (Ghandehari, im Erscheinen). Queere
Aktivist_innen waren eine sichtbare Präsenz im Kampf um den Taksim-
Platz, einem der letzten Zufluchtsorte für Queers, illegalisierte Immig-
rierte und andere Außenseiter in der neoliberalen, islamistischen Türkei.
Eine Trans-Aktivistin erinnert sich an eine Iftar-Feier, die von den Antika-
pitalistischen Muslim_innen während der Proteste organisiert wurde:
»Es war wunderschön. Leute weinten. Alle brachen gemeinsam das Fasten,
all die Menschen, die zusammen für einen radikalen demokratischen Wandel
in der Türkei gearbeitet hatten: die Queers aus dem Gezi Park, die Antikapi-
talistischen Muslim_innen, die Anarchist_innen, Kommunist_innen, Arbei-
terklasse, Mittelschicht, ja, wahrscheinlich waren sogar Kemalist_innen unter
uns. Wir waren auch eingeladen. Und wir saßen gemeinsam auf der Straße.
Wir aßen zusammen. Es regnete.« (Ghandehari, im Erscheinen)

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Die fortwährende Verdrängung verschiedener »überflüssiger Bevölkerun-


gen« (Mbembe 2003) im Globalen Norden und darüber hinaus, bringt
ein zunehmend verfeinertes und brutales globales System der Kontrolle
hervor. Doch sie produziert auch stets neue Bündnispolitiken, in denen
queere Menschen of Color oft eine zentrale Rolle spielen.

Themen
Wie kann städtischer Raum vom Standpunkt queerer Menschen of Color
neu konzeptualisiert werden? Was würde es bedeuten, QPoC als geogra-
fische Subjekte ernst zu nehmen? Wir laden unsere Unterstützer_innen,
Geschwister und Genoss_innen dazu ein, sich mit Themen wie den fol-
genden zu beschäftigen:

Queere Regenerierung und degenerierte Räume


Was haben Gegenden wie Kreuzberg oder Neukölln in Berlin, St.Georg
oder Wilhelmsburg in Hamburg, Bejlmer oder Slotervaart in Amsterdam,
Grønland in Oslo, das East End in London und die Banlieues in Paris
gemeinsam? Alle sind lange als ›degenerierte‹ und heruntergekommene
Räume konstruiert worden, deren Bevölkerung zu einem hohen Anteil
rassifiziert ist (siehe Razack 2002). Des Weiteren sind sie alle als Orte mar-
kiert worden, die für queere Menschen gefährlich sind. In den Innenstäd-
ten – oft Orte queerer Gentrifizierung – hat dies in moralischen Paniken
über ›homophobe‹ Bevölkerungen Ausdruck gefunden. Hiermit sind
nicht zufällig jene gemeint, die durch steigende Mieten, Polizeikontrollen
und Kürzungen von Sozialleistungen am stärksten von Verdrängung be-
droht sind. Diese Paniken haben die Grenzen von homo und hetero sowie
von links und rechts überschritten. Ein Beispiel einer rechten rassistischen
Mobilisierung, die zum vermeintlichen Schutz gefährdeter Queers in ras-
sifizierten Stadtteilen stattfand, war die East End Gay Pride in London
im Jahr 2011. Die Parade wurde von queeren Muslim_innen und Unter-
stützer_innen aufgrund ihrer Überlappungen mit der neo-faschistischen
English Defense League abgewendet. Daraufhin wurde sie jedoch von wei-
ßen linken Queers wiederbelebt, die schlicht die Behauptung wiederhol-
ten, dass die Gegend homophob sei. In Paris haben sowohl homo- als auch
heterosexuelle Meinungsmacher_innen weiße Vorherrschaftsdiskurse
verbreitet, die behaupten, dass Bevölkerungen of Color in den Banlieues

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queerphober seien als weiße Bevölkerungen anderer Stadtteile. Ein jüngs-


ter Fall ist die Konstruktion von Houria Bouteldja, Sprecherin der dekolo-
nialen Partei der Indigenen der Republik als »sogar noch homophober als
Frigide Barjot«, nachdem Bouteldja unter Bezug auf einige aktivistische
und akademische QPoC-Debatten schlicht angemerkt hatte, dass die Ban-
lieues viele dringendere Probleme haben als die Homo-Ehe und dass ho-
mosexuelle Identität – im Gegensatz zu homosexuellen Praktiken – nicht
universell ist (Bacchetta im Erscheinen; Bouteldja 2013).3 Frigide Barjot
ist die weiße französische Sprecherin und Symbol der Bewegung gegen
die gleichgeschlechtliche Ehe in Frankreich sowie eine der Hauptorgani-
sator_innen der entsprechenden Pariser Demonstration, die 140.000 –
hauptsächlich weiße – Menschen auf die Straße brachte. Während Barjots
Kampagne nahmen die Gewalttaten gegen queere Menschen rasant zu. In
allen Fällen waren die Täter weiß.
Dies hat Parallelen zu der Situation in Berlin, wo sowohl in der queeren
Linken als auch in der schwulen Rechten zur ›Rückeroberung‹ rassifizier-
ter Gegenden (zu deren Gentrifizier_innen auch Queers gehören) von den
dort lebenden vermeintlichen Homophoben und Transphoben aufgerufen
worden ist. Als Opfer-Subjekte sind neben weißen schwulen Cis-Männern
auch Dragkings und Trans-Sexarbeiter_innen of Color mobilisiert wor-
den (Haritaworn 2009, 2015, Snorton/ Haritaworn 2013). Die morali-
sche Panik geht hier also über die Dichotomie zwischen queeren grenz-
überschreitenden und assimilierten ›homonormativen‹ Räumen hinaus,
die Debatten über queeren Raum ansonsten oft prägen. Ferner geht sie
über die Dichotomie zwischen dem ›Homo-Kiez‹ und der ›gemischten
Gegend‹ hinaus. So gelangen die seit den 1990er Jahren unternommenen
Versuche, den Homo-Kiez Schöneberg als gefährdetes schwules Territo-
rium zu deklarieren, das besonderer Formen des ›Regenbogen‹-Schutzes
und der Überwachung bedarf, erst, nachdem Ende der 2000er Jahre die
ehemaligen ›Gastarbeiter‹-Bezirke Kreuzberg und Neukölln als beson-
ders fruchtbare Terrains für Panikmache entdeckt worden waren. In Sa-
chen Rassismus sind Unterscheidungen zwischen homo/rechts/normativ
und queer/links/transgressiv also problematisch. Tatsächlich sind queere
und linke Szenen, auch wenn sie selten direkt nach Polizeischutz rufen,

3 Zu Kritiken an der Homo-Ehe und an der Universalität sexueller Identitäten vgl.


Bailey/ Richardson/ Kandaswamy 2004; Massad/ Pagano 2009; Maikey 2012.

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wichtige Orte der Konsensschaffung für die Kriminalisierung von Men-


schen of Color – dieses Mal als Täter homophober Hassgewalt.
Rassifizierte und kolonisierte Räume werden schon lange als degene-
riert, heruntergekommen, gefährlich und kontrollbedürftig gekennzeich-
net (Fanon 1963, Amos/ Pamar 1984, Razack 2002). Zum ersten Mal
geschieht dies jedoch durch und im Namen von Queers, die neuerdings
als unschuldige, schutzbedürftige Opfer auftreten (Bacchetta/ Haritaworn
2011, El-Tayeb 2012). Dies wirft Fragen auf, die derzeit in Diskussionen zu
urbaner Gerechtigkeit und queerem Raum nicht behandelt werden; etwa
wie queere Einschlüsse verräumlicht sind, wie queerer Raum rassifiziert ist
und wie rassifizierte Körper aller Geschlechter und Sexualitäten von Gen-
trifizierung betroffen sind (Haritaworn 2015). Diskussionen zu queerem
Raum beispielsweise haben sich auf schwule Kieze und deren Einschrei-
bung in die kreative Klasse, ins Branding von Bezirken und in andere neo-
liberale Paradigmen der Weltstadt konzentriert. Forscher_innen haben
jedoch selten untersucht, wie queere Modalitäten rassifizierte Räume wie
die Innenstadt oder das Banlieue neu kartiert haben.
Unsere Intervention verschiebt den Blick darauf, wie queere Subjekte
mit rassistischen und kapitalistischen Privilegien in Gegenden, die gerade
Gentrifizierung, Touristifizierung und rassifizierte Verdrängung und Ent-
eignung durchmachen, zunehmend als unschuldige, schutzbedürftige Op-
fer konstruiert werden. Diese Prozesse gehen Hand in Hand mit einem
neuen Ansturm an Repräsentationen von ›gefährlichen‹ rassifizierten
Körpern und Räumen sowie mit neuen Techniken der Kontrolle durch
oder im Namen von (weißen) Queers (Bacchetta/ Haritaworn 2011, El-
Tayeb 2012, Haritaworn 2015). Die folgenden Fragen bleiben offen und
zu behandeln: Wie ist queerer Raum rassifiziert? Welche Formen der Re-
generierung und Degenerierungen durchziehen Prozesse der queeren Sub-
jektivierung und Territorialisierung? Wie markieren queere Lebensweisen
die rassifizierten Gegenden, in denen sie entstehen? Wie wirken queere
Subjekte mit rassistischen und kapitalistischen Privilegien als Erste-Welle-
Gentrifizierer in vormals degenerierten Gegenden, deren Regenerierung
auf sozialem Tod beruht? Was hat die ›soziale Mischung‹ in diesen Ge-
genden mit Prozessen der (queeren) Gentrifizierung und Touristifizierung
auf der einen Seite und der rassistischen Verdrängung und kapitalistischen
Enteignung auf der anderen Seite zu tun? Welche queer-feindlichen und
queer-freundlichen Logiken sind in der fortwährenden Pathologisierung

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der Banlieues, Innenstädte und anderer degenerierter Räume im Spiel


(Bacchetta 2013)? Für welche Methoden des Rassismus und Kolonialis-
mus wird in diesem Prozess Konsens geschaffen? Welche Formen der Kon-
trolle – durch den Staat, den Markt und die Gemeinschaft – geschehen
im Namen des Schutzes queeren Lebens und welche Auswirkungen haben
sie für queere und transgender Menschen of Color, für die queere Terri-
torialisierung womöglich sichere und gesunde Umgebungen zum Leben,
Arbeiten und Spielen verkleinert statt erweitert?4

Bewegung und Übersetzung


Bewegung – von Menschen, Ideen, Praktiken, Objekten – ist zentral für
die Erfahrung von Communitys of Color im Globalen Norden. Während
neoliberale Ökonomien die mobile Arbeitskraft fetischisieren, dämonisie-
ren zugleich eurozentrische Migrationsdiskurse die Bewegung rassifizierter
Körper und rechtfertigen deren ständige Kontrolle und Beschränkung. In
Europa werden rassifizierte Gemeinschaften zunehmend so gekennzeich-
net, um ihre Immobilisierung in Gefängnissen und segregierten städtischen
Räumen zu legitimieren. So gehen ständige Mobilitätsbeschränkungen
einher mit einem hypermobilen, entwurzelten Status von Nicht-Weißen,
was wiederum die kontinuierliche Hervorbringung bestimmter Gruppen
als vermeintlich außerhalb der legitimen, verwurzelten Gemeinschaft ste-
hend ermöglicht. Die Gleichsetzung von – unkontrollierter – Bewegung
mit der Kontaminierung des ›reinen‹ nationalen (und anderen) Raums
durch Außenseiter hat besondere Auswirkungen auf queere Menschen of
Color. Deren Mobilität – zwischen Städten, Ländern, normativ hetero
gedachten ethnischen Gemeinschaften und normativ weiß gedachten
queeren Gemeinschaften – wird oft als ziellos, exzessiv und bedrohlich, als
Vergiftung authentischer Gefüge oder als Ablenkung von den ›wirklichen
Problemen‹ wahrgenommen. Daher interessiert uns, wie queere Men-
schen of Color ihre unfreiwillige und freiwillige (Im)Mobilität, ihr Reisen
und ihre Übersetzungen nutzen, um Gemeinschaften und (deren) Räume
zu komplizieren, destabilisieren und neu zu schaffen.

4 Für eine Auswahl an – sehr unterschiedlicher – Literatur zu queerem Raum


siehe Bell/Binnie (2004), Castells (1983), Hanhardt (2013), Manalansan (2005),
Schulman (2012). Zu einer Kritik am Konzept der sozialen Mischung siehe Holm
(2009).

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Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa 47

Dieser Fokus führt zu einer Reihe miteinander verknüpfter Fragen, die


einen Dialog über regionale Spezialisierungen und disziplinäre Gefüge
hinweg erfordern:
Wie erschaffen queere Menschen of Color durch materielle und virtu-
elle Räume eine translokale Gemeinschaft? Wer hat zu diesen Räumen Zu-
gang? Wie können Begriffe wie ›Queer People of Color‹ eine gemeinsame
Grundlage der Identifikation und Kommunikation schaffen, die dann in
kollektives Handeln umgesetzt werden kann? Wie lassen sich diese Kol-
lektivbegriffe in lokale Kontexte zurück übersetzen? Wer wird ausgelassen
in diesen translokalen Gemeinschaften, die auf übersetzbaren Identitäten
aufbauen?
Wie stört die Bewegung rassifizierter Körper eurozentrische Konzepte
von historischer Zeit und nationaler Geschlossenheit – was ist beispiels-
weise die Wechselwirkung von in rassifizierten Subjekten verkörperter,
lebendiger Erinnerung an Kolonialismus und dem verdrängten/weißge-
waschenen Wissen der Kolonisator_innen (das wiederum die Metropo-
lenstruktur bestimmt)? Wie reisen koloniale Technologien der (räumli-
chen) Kontrolle und Unterdrückung von Europa in kolonisierte Räume
und nach Europa zurück, um rassifizierte Körper zu kontrollieren, wo im-
mer sie auftauchen? Wie reisen Widerstandsstrategien aus den ehemaligen
Kolonien nach Europa (wir weisen zum Beispiel darauf hin, dass die spani-
sche Indignados-Bewegung ihre Inspiration aus dem Arabischen Frühling
zog oder niederländische QPoC surinamesische Winti-Praktiken anwen-
deten, um alternative queere Gemeinschaften zu schaffen)? Wie fordert
ein verkörpertes Verständnis von Kolonialismus als einer gegenwärtigen
Praxis eurozentrische Konzepte von Fortschritt heraus; etwa, wenn QPoC
Pinkwashing infrage stellen?
Können Methodologien und Konzepte wie Intersektionalität, Queer-
of-Color-Kritik oder Siedlungskolonialismus übersetzt werden, ohne
dass dabei universalistische Konzepte reproduziert werden? Wenn ja, was
ermöglichen oder verhindern diese Übersetzungen? Gibt es Alternati-
ven zur Verallgemeinerung von Konzepten durch Übersetzung? Können
übersetzte translokale Zusammenschlüsse queerer Menschen of Color die
Möglichkeit von Bündnissen ohne Einheitlichkeit eröffnen?

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Queere Menschen of Color schaffen Räume


Uns interessiert die Stadt als Archiv von Rassismus, Sexismus, Zweige-
schlechtigkeit und Kolonialismus, in die manche Subjekte, Objekte,
Strategien, Ereignisse, Geschichten gewichtig eingeschrieben sind und
erinnert werden, während andere völlig vergessen, getilgt oder verleug-
net werden. Queere Menschen of Color werden entweder als gar nicht
anwesend oder als Neuankömmlinge in den Räumen imaginiert, die sie
schon lange beleben. Was sind die Auswirkungen rassifizierter Phäno-
mene wie räumlicher Segregation, Whitewashing und Pinkwashing von
urbanem Raum für queere Subjekte of Color? Welche Arten von Hand-
lungsfähigkeit entwickeln QPoC angesichts dieser Phänomene? Welche
heimsuchenden Überbleibsel der Präsenz von QPoC verbleiben nach den
dominanten und subalternen Tilgungen vielfacher Zeit-Räumlichkeiten
im Stadtraum?
Wir erachten die Raumschaffung queerer Menschen of Color als
Neukonzeptualisierung und widerständige Neueinschreibung von städ-
tischem Raum.
›Raumschaffung‹ bezieht sich auf konkrete Strategien des Widerstands
und der Störung, die – zumindest vorübergehend – die ausschließende
Geschlossenheit von Räumen stört, die für weiß und/oder hetero gehalten
werden. Mit Raumschaffung meinen wir die tatsächliche Neukonzeptua-
lisierung und materialisierte Herstellung von Räumen als Orte für QPoC
durch queere Subjekte of Color. Beispiele sind etwa der nachhaltige Ak-
tivismus des QPoC-Kollektivs Strange Fruit in Amsterdam, die situatio-
nistische Performance-Kunst der Berliner genderqueeren Gruppe Salon
Oriental, die Online-Zines von MissTer Raju Rage aus Britannien oder die
Küchentische von QPoC in Paris oder Berlin, die zu wichtigen Orten des
radikalen Aktivismus in Reaktion auf Rassismus und Gentrifizierung ge-
worden sind. Beide – Rassismus und Gentrifizierung – haben einerseits zu
einer Verringerung von Räumen geführt, in denen es Zugang zu Ressour-
cen und Lebensmöglichkeiten gab, und andererseits zu einer steigenden
Nachfrage nach orientalisierten queeren Räumen, die schnell für weißen
Konsum rekolonisiert werden. Die Autor_innen des Khalass!!!We‘re vex!-
Manifests schreiben:
»Einige von uns denken: Orte wie die Gayhane haben eine politische Bedeu-
tung, die ständig von euch überdeckt und in Frage gestellt wird. Die Nutzung
dieser Orte durch eine weiße, uns exotisierende und begaffende Masse nimmt

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Queer-of-Color-Politik und translokale Räume in Europa 49

diesem Raum seine politische Möglichkeit. Dies sollten Orte des Empower-
ment für uns bleiben, Ihr habt schon genug weiße Räume!
Unsere Körper sind keine Projektionsfläche für Euren Orientalismus, Eure
Exotisierung und Sexualisierung.
Wir wollen kein Spektakel sein und nicht für die weißen auf der Gayhane tan-
zen, und uns dazu noch anhören müssen, wie die Musik von PoC und Schwar-
zen pauschal als homophob, transphob und sexistisch repräsentiert wird. Ich
glaub es hackt!«
Wir laden euch ein, der Kunst, dem Aktivismus und den alltäglichen Ak-
ten der Konvivialität und Gemeinschaftsbildung queerer Menschen of
Color in Europa Aufmerksamkeit zu schenken – und mit uns den diskur-
siven und materiellen Raum dafür zu schaffen. Diese Handlungen werden
massiv unterschätzt und entwertet. Aber sie haben das wichtige Potenzial,
Räume und Welten zu schaffen, die über die mörderischen Logiken der
Versicherheitlichung, Privatisierung und Territorialisierung hinausgehen,
die unseren gegenwärtigen Kontext des rassifizierten und kolonialen Ka-
pitalismus charakterisieren.

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