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v SpaBamtesen Verlag swivnspassamlesenverage Diese AusgabelteineBesrbeitung des Buches, Labyrinth der arte" von Marie-Sabine Roger. Die Originalausgabeerscien 2008 unter dem Titel Latte en fiche bei ions du Rouergue, Copyright ©2010 Hoffmann une Camp Verse Hamburs Copyright cer Originalausgabe ©2008 Eons du Rouergue ‘le Rechte vorbehaleen ‘ext orginolossung Marie Sabine Roger Oersetzung deutsche Orginlfassung-Caucia alscheuer ‘ert ininfacer Sprache: Marin ober. Redaition rgeaCenunel, AnnereseCenuneit ‘Coverund Gestaltung: jurian Wiese LUmschlagmoti shutterstock ruclEay to-read Publications Luzenzausgabe mit Genebmigung der Hoffmann und Compe Veriag ‘mb ©2024 Spat araLave Verlag, Munster Alle Rechtean dieser ‘Ausgabe vorbealten, ‘le Rechte vorbehalten, Nihts us dleser Ausgabe darfohnevorherige schriiche Gerebmigungvervefig, meinem automatseren Datenbestand gspechert oder versfentcht werden nitgendenes clektronechen oder mechanischen Frm oder in FaemvenFotkopie, sufnahmen der aufirgendeine andere rund Weis ISBN 978-3 944868-34 Marie-Sabine Roger Das Labyrinth der Worter In Einfacher Sprache ‘Schwierige Wérter oder Ausdriicke sind unterstrichen, Die Ereldrungen stehen in der Wérter-Liste am Ende des Buches. Inhalt Die Enescheidung |7 Daserste Mal|12 Worter 24 Landremont | 28 Der Trottel|30 Annette 34 InderSehule 37 Einfach nurleben | 42 as 2weite Treffen mit Marguerite | 48 Nachdenken | 51 Das dritee Treffen mit, Marguertte| 55 Die Pests) Daserste Buch | 64 Inder Kneipe | 67 Der Gemiisegarten | 69 Gardini|72 DerAuszug| 80 Fridhes Versprechen | 83, Die mutter| 87 Der Verlust| 90 Die Katze | 95, Das Messer |100 Dergrtine Daumen | 102 Citen imHals | 108 Durch den Wing 122 Indianer |aa4 8c 7 Alewerden [219 ' DerFieck| 224 Die Bicherl | 332 Beivouss 334 Nurein Buch |337 Die Welle [242 Sorgen | 246 Die Uberraschung|248 Derstock| 53 Derneue Germain 357 Das schwarze Kid | 362 Das Erbe 364 Farle 168 ‘Uber Marie-Sabine Roger|371 Wérter-Lste [373 Die Entscheidung Ich habe eine Entscheidung getroffen. Ich werde Margueritte adoptieren. Ich muss mich beeilen. i Denn Margueritte wird bald 86. Ich kann also nicht mehr lange warten. Alte Leute sterben ja so schnell. Wenn ich Margueritte adoptiert habe, dann kann ich mich richtig um sie kimmern. Wenn sie hinfallt auf der StraBe. Oder wenn man ihr die Handtasche klaut. Dann bin ich sofort da. Diese ‘Typen, die Taschen klauen, die kenne ich nur zu gut. Haut ab!" sage ich dann.,Verzieht euch! Das hier ist meine Gro&mutter:* Die Typen kénnen ja nicht sehen, dass Margueritte nur meine adoptierte GroBmutter st. Wenn ich Margueritte adoptiert habe, dann kann ich fur sie die Zeitung kaufen. Und ihre geliebten Pfefferminz-Bonbons. Ich kann mit ihr gemeinsam zu den Tauben in den Park gehen. Und sonntags kann ich sie im Altersheim besuchen. Ich kann mit ihrzusammen Mittag essen, wenn ich will klar, das kann ich natiirlich jetzt auch schon alles machen. Auch ohne Adoption. Aber ohne Adoption ist das was anderes. ich komme dann zu ihrwie ein Bekannter, der nur zu Besuch kommt. Ich will aber mehr sein fur Margueritte. Ich will fiir Margueritte Familie sein. ich will mich um sie kammern, weil ich Lust dazu habe. Aber auch, weil ich mich verpflichtet fihlen will. Wiein einer echten Familie. So was wiirde mir gut gefallen. Das spiireich. Margueritte hat mein ganzes Leben verandert. Seitdem wir uns im Park getroffen haben, hat sich auch in mirso viel verindert. Bevor ich Margueritte begegnet bin, hatte ich keine Familie, Vorher habe ich nie gerne an andere ‘Menschen gedacht. AuSer an mich selbst. Aber an ‘Margueritte denke ich gerne. Naja. Ich habe natirlich eine Mutter. Gent ja nicht ohne, Neun Monate war ich in hr drin. Danach kamen nurschlechte Zeiten. An was Schénes mit, meiner Mutter kann ich mich nicht erinnern. Ich habe natiirlich auch einen Vater. Aber der hat meine Mutter nur gevégelt. Dann warer weg. Trotzdem ist aus mir ein ganzerKerl geworden. Mein Name: Germain Chazes. Grée: 1 Meter 89. Gewicht: 120 Kilo. Alles Muskeln, kein Gramm Fett. Eigentlich Kénnen meine Eltern stolz auf mich sein Aber sie haben mich einfach nicht gewollt. Bevor ich Marguerite kannte, habe ich Uberhaupt niemanden geliebt. Ich meine natirlich nicht Sex. ‘Von wegen, ich stehe auf Omas oder so! Wenn das jemand sagt, have ich ihm sofort eins in die Fresse. Nein, ich spreche von anstandigen Gefiihlen: von Zuneigung, Zértlichkeit, Vertrauen. So was habe ich erst durch Margueritte kennen gelernt. Vorher habe ich solche Worte nie in den Mund genommen, Vorher kannte ich so was iberhaupt nicht, ‘Schade, dass ich Margueritte noch nicht hatte, als ich klein war. Als ich immer nur Blédsinn im Kopf hatte, Da hatte ich sie dringend gebraucht. Aber soist das Leben: Vorbel ist vorbei. Da gibt es nichts 2u bedauern. Ist eben so gewesen. Ich habe mich also alleine versorgt. Was dabei herausgekommen ist, entspricht nicht ganz den allgemeinen Vorstellungen. Aber es kann sich sehen lassen. Ich bin groB und stark. Margueritte dagegen wird immerkleiner. Sie ist so zerbrechlich. Ganz nach vorne gebeugt ist sie. Sie hat Knochen wie ein \Vogelchen. Ich kénnte sie ohne Miihe zwischen zwei Fingern zerdriicken. Das wirde ich natirlich nie tun. ‘Marguerittes Knochen sind so zart wie die kleinen Glas-Figuren im Schaufenster vom Schreibwaren-Laden. So zart wie das Reh aus Glas, das dortsteht. Das Reh hat Beine, die sind sofein wie Wimpern. ‘Am liebsten wiirde ich mir das Reh kaufen. Drei Euro? Was st das schon?! Aber ich wei8 genau: In meiner Tasche wirde das Reh zerbrechen. Und wohin soll ich es berhaupt stellen? In meinem Wohnwagen gibtes keine Regale fiir olches Zeug. ‘Am Anfang gab es auch fiir Marguerite keinen Platz. In mir rin, meine ich. Ich musste erst Platz schaffen fulrsie. Und ich musste Platz schaffen fur ‘meine Gefihhle, Deshalb habe ich in mirselber erst einmal aufgerdumt. Ich habe mich entriimpelt Ich habe mich frei gemacht von dem ganzen Quatsch, der mich bisher ausgefillthat: von den Spiel-Showsim Fernsehen, von den Witzen im Radio, von dem Gequatsche mit Jojo in unserer ‘Stamm-Kneipe Chez 20 Ich habe mich auch frei gemacht vom Karten-Spielen mit Marco, Julien und Landremont. Ich habe mich von all dem entriimpelt. Um besser denken zu kénnen, Auch von den Abenden mit Annette habe ich mich, befreit, Ich bin ja immer nur hingegangen, weil ich mit ihr végeln wollte. Vogeln ist natirlich gar nicht so schlecht, Denn mit Druck aufden Eiern kann man nicht gut denken. ‘Aber von Annette erziihle ich spater. Zwischen uns istes auch nicht mehr so, wie es fridher mal war. Die Begegnung mit Margueritte hat eben alles verandert. Das erste Mal Es istein warmer Sonnentag, als ich Margueritte zum ersten Mal sehe. Es st gegen drei Uhr nachmittags, an einem Montag, Da weiBich natirlich noch nicht, dass die alte Dame da auf der Bank Margueritte heiGt. Und ich wei in dem Moment auch noch nicht, dass wir Freunde werden. Das kann man ja beim ersten Mal auch gar nicht wissen. Vielleicht passiert es, vielleicht auch nicht. Die alte Dame sitzt also in dem Park auf der Bank und guckt Lcher in die Luft. Sie tragt ein Kleid, das mit ila und grauen Blumen bedrucktist. In denselben Farben wie ihr Haar. thre graue Strickjacke hat sie bis oben zugekndpft. Sie trgt dunkle Striimpfe und schwarze Schuhe. Ihre schwarze Handtasche hat sie neben sich gestellt. Wie unvorsichtig! Die kénnte ich total leicht klauen, Ich wiirde so was natirlich nicht tun, aberes gibt so ‘Typen. Du kannst so eine alte Dame ganzlleicht mit der flachen Hand wegstoBen. Dann fallt sie mit einem kleinen Schrei hin. Und bricht sich den Oberschenkel Durennst dann einfach weg. Also, nicht du oder ich, sondern diese Typen. Die rennen dann einfach weg. Und lassen die Alte halb tot liegen. Fragen Sie mich nicht, woher ich das alles wei8. Egal! Die Alte ist jedenfalls unvorsichtig, 4 Eigentlich ist es Zufall, dass ich ausgerechnet heute hier im Park bin. ich habe ja auch noch andere Sachen zu tun. Zum Beispiel messe ich mit meinen Handen den Umfang von Béumen. Von den Baumen, die sie bei unserer Umgehungs-StraRe gepfianzt haben, Ich messe, ob die Baume wachsen oder eingehen. Ich kontrolliere das Baum-Sterben. Wegen der ‘Abgase. Ich wette, die Halfte von den Bdumen wird eingehen, Ich habe immer was zu tun. Wenn ich nicht die Baume abmesse, trainiere ich. Ich trainiere, so lange wie méglich zu laufen. Und auBerdem ibe ich, mit der Schrot-Flinte aufleere Dosen zu schieBen. Das mache ich vor meinem Wohnwagen. Ich trainiere durch das Laufen meine Ausdauer. Und durch das Schieen trainiere ich meine Reflexe, Beides ist wichtig, wenn ich mal einem Attentat entkommen muss. B (Oder wenn ich mal Leute retten muss. Besser ist es dann, dass man darauf vorbereitet ist. Ich mache aber auch noch andere Sachen. Ich schnitze mit meinem Taschenmesser Tiere. Kleine Figuren, aus Holz. Ich schnitze alles, was ich so sehe: Katzen, Hunde, Leute von der Strate. (Oder ich gehe in den Park und zahle die Tauben. Dabei komme ich immer an dem Denkmal fur gefallene Soldaten vorbei. jedes Mal schreibe ich meinen Namen dazu. Und zwar in Gro8-Buchstaben auf die Marmor-Platte. Natirlich wischt jedes Mal ein Kerl von der \Verwaltung meinen Namen wieder weg, Dabei scheiSt er mich auch noch zusammen: Germain, hdr endlich mal auf mit dem Blédsinn! Ich habe die Schnauze voll. Naichstes Mal machst du das selber sauber:* Der Kerl wischt einfach immer wieder meinen. Namen weg. Dabei steht auf meinen Filz-Stiften: wisch- und wasserfest! ich werde denen im Schreibwaren-Laden sagen, dasssie einen verarschen, Augerdem sind die Stifte auch noch sauteuer. Jedenfalls werde ich meinen Namen so lange da hinschreiben, bis erirgendwann da stehen bleibt. Wen soll das denn auch stdren? Ich schreibe meinen Namen doch nur ganz unten hin, unter alle anderen Namen. Das habe ich auch zu jacques Devallée gesagt. Der” istein hohes Tierim Rathaus. Ich habe mich bei ihm beschwert, well mein Name immer wieder weggewischt wird. Es ist doch eine Namens-Liste. Da kann ich doch auch meinen Namen draufsetzen, Devallée nickt und sagt: . Germain, es st eine Namens-Liste. Aber es gibt da etwas zu beriicksichtigen.” .Was?’sfrage ich ihn. Nun‘ versucht er mir2u erklaren, ,alle Leute, die mitihrem Namen auf dem Denkmal stehen, haben eins gemeinsam: Sie sind tot." Aha", sage ich. ,Ich habe kapiert: Um draufstehen zu diirfen, muss man erst ins Gras gebissen haben? Dann miisstihr also meinen Namen draufsetzen, wenn ich tot bin." Warum?’ fragt Devallée erstaunt, »\Neil ich das in mein Testament aufnehmen werde. Den letzten Willen von einem Verstorbenen muss 5 Nicht unbedingt’s sagt Devallée, ,nicht unbedingt.” ‘Trotzdem. ich wei, was ich sage. Nach meinem Tod will ich, dass sie meinen Namen draufschreiben. Und zwar nicht ans Ende, sondern an die fiinfte Stelle. Da gehdrt mein Name namlich eigentlich hin. Wenn man nach dem Alphabet geht. Ich lass mich doch nicht iibers Ohr haven. Der Lack-Affe Devallée muss meinen Namen persénlich eingravieren. Das werdeich so festlegen. In meinem Testament. Nur um ihn zu rgern! ‘An diesem Montag aber st mir das Denkmal egal. An diesem Montag habe ich Blumen-Samen gekauft. Und auf dem Riickweg gehe ich durch den Park. Um mal wieder die Tauben zu zéhlen. Ich z8hle namlich jeden Tag die Tauben im Park. Dazu muss ich mich den Tauben ganz langsam nhern.Sonstflattern sie aut. Und dann kann man nicht mehr richtig zahlen. Vielleicht sollte ich sowieso lieber die Schwane zahlen. Die sind ruhiger als die Tauben. Und es sind nicht soviele. Es sind nur drei Alsich zu der Bank komme, wo ich sonst zihle, sitzt da diese alte Dame. 6 Mist, denke ich, Die fittert natirlich die Tauben. Dann kann ich die Tiere nicht zahlen. Weil sie dann zuunruhig sind. Aber die Tauben sind gar nicht unruhig. Obwohl die alte Frau da sitzt, bleiben die Tauben zusammen, Ganz ruhig. Sie fittert sie auch gar nicht. Und sie ruft auch nicht putt-putt-putt. Sie guckt mich auch nicht an, als ich anfange, die Tauben zu zahlen. 19" sagt sie aufeinmal. ,29 Tauben.” »Reden Sie mit mir?’ frage ich die Dame. 1" sagt sie und redet einfach weiter: .»Sehen Sie die Kleine mit der schwarzen Feder am Fllgel? Die ist neu hier. Die ist erst seit Samstag da." Uberrascht sehe ich die alte Frau an: {Sle zahlen also auch die Tauben?” Sie halt die Hand an ihr Ohr und fragt: Was sagen Sie?" Ich brille sie an: »Sie-28h-len-al-so-auch-die-Tau-ben?" latiirlich zahle ich die Tauben, junger Mann.” Ich muss lachen, weil sie mich junger Mann nent. Passt doch gar nicht zu mir. Obwohl: Die Dame ist. alt. Fur sie bin ich jung. y Man kann mich also alt oder jung finden. Je nachdem, in welcher Beziehung man sich trifft. Im Leben isteben alles relativ. Ich setze mich zu der Alten auf die Bank. Jetzt erst sehe ich, dass sie eine ganz kleine Oma ist. Ihre Fie reichen nicht einmal bis aufden Boden. Ich Frage sie héflich: kommen Sie oft hi gesehen.” Sie nickt, .Gewdhnlich komme ich etwas friiher. Ich habe ie schon &fter hier gesehen. Sie haben die Tauben sicher auch gerne?* .-.Vor allem zahle ich sie gerne" .Ja.ja, dasist eine fesselnde Beschaftigung’ sagt die alte Dame. , Man muss unablissig wieder von vorne beginnen.* her? Ich habe Sienoch nie Sie redet irgendwie umstiindlich. So wie feine Leute. Aberalte Leute sind sowieso héflicher. Und reden ganz anders als wir in der Kneipe. Alte Leute reden so geschliffen. So glatt und rund wie alte Kiesel-Steine im Bach. Die Kiesel-Steine sind ja auch alt und geschliffen. 38 waif Komisch. Es gibt ein Wort fr ganz verschiedene Sachen. Alte Kiesel sind geschliffen. Und die Dame spricht so, wie ein geschliffener Kiesel aussieht. Glatt und fein, Ich sage ihr, dass ich die neue Taube auch schon. bemerkt hatte. «Ich habe sie Schwarze Feder genannt." 1Sie geben den Tauben Namen?’ fragt sie mich interessiert. 1 Genau in dem Augen-Blick, genau in diesem Moment, da fithle ich etwas ganz Besonderes. Ich file, wie das ist, wenn ein Mensch sich fir einen interessiert. klar, ich rede auch mit anderen. Aber die sagen dann nur: ,Nee, ist nicht wahr' Oder: ,Was fir eine Geschichte! Donnerwetter!* Ich erzahle ihnen naturlich auch nichts von mir. Jedenfalls nichts Persénliches. ich erzahle ihnen nur so Sachen wie von dem Auto, das in der Nacht aus der Kurve geflogen ist. Den Hang runter. Ein Toter. Drei Verletzte. Immer bin ich es, der die Feuerwehr rufen muss. ch wohne ja direkt gegeniiber von der Unfall-Kurve. 19 Einmal musste ich der Feuerwehr sogar helfen. Einen Mann haben wirin seinen Einzelteilen in einen Sack gesteckt. Das war vielleicht ein ScheitJob. Wenn ich so was erzahle, sagen meine Kumpels immer: Nee, ist nicht wahr!" Oder: Was fur eine Geschichte! Donnerwetter! ‘Aber, was ich so mache, also ich selber. Dafir interessieren die sich nicht. Dafiirinteressiert sich kein Mensch. ‘Aber diese alte Dame hier. Es ist das erste Mal, dass jemand tatschlich wissen will, was ich mache. Mannomann! Das schniirt mir echt die Kehle zu. Ich kénnte heulen wie ein kleines Kind. Aber Weinen ist mir peinlich ‘Zum Glick passiert mir das nur ganz selten. ‘Zum Beispie! musste ich heulen, alsich mit Landremont bei einem Umzug eine Kommode ‘getragen habe. Der Kerl ésst einfach die Kommode fallen. Angeblich hatte er feuchte Hinde. Das Ding knallt mir auf den Fu. Das tat sauweh. Da muss doch wohl jeder heulen, oder? 20 Ich musste auch heulen, als ich Landes-Meister im Gelnde-Lauf wurde. ich bin vor diesem Vollidioten ‘aus meiner Klasse ins Ziel gelaufen. Der Typ hat mir in der Schule das Leben zur Hélle gemacht. Ich habe geheult vor Freude. Weil ich diesmal, dieses eine Mal, besser war als er. Ich habe geheyft vor Freude, weil ich mich dadurch endlich rchen konnte. Ein anderes Mal musste ich auch heulen. Es war an einem Abend mit Annette. Wir waren schon iiber drei Monate miteinander ins Bett gegangen. Aber an diesem einen Abend habe ich mich in sie verliebt. Es war so schén, mit ihr zusammen zu kommen. ‘So schén, dass ich weinen musste. Weinen ist mir verdammt peinlich. Aber ich bin total nah am Wassergebaut. Wenn ich heulen muss, dann laufen mir die Augen ber. Wie bei einem Spring-Brunnen. ‘Auch wenn man mirdas nicht so ansieht. Alles ist ro® an mir. Ubergrof. Natirlich auch zur Freude der Frauen. Aber genauso libergroB wie alles an mir—ist auch mein Kummer. Wenn ich welchen habe. a Jetzt, hierim Park mit der alten Dame, kinnte ich auch heulen, Nicht vor Kummer, Nein. Im Gegenteil, Vielleicht, weil die alte Dame so freundlich zu mir ist. Vielleicht, weil sie es so ehrlich meint mitihrer Frage: ,Sie geben ihnen also Namen?* Vielleicht, weil die alte Dame selber ganz geriihrt ist. Vielleicht ist mir aber auch nur zum Heulen, weil wir gestern den Geburtstag von einem Kumpel zu stark begossen haben. Vielleicht, vielleicht. Im Leben gibt es so viele Vielleichts. Ich reiGe mich zusammen und sage: sla, ich gebe den Tauben Namen. Dann kann ich sie besser zihlen.* Sie ziehtihre Augen-Brauen hoch und meint: “Entschuldigung, wenn ich indiskret bin. Aberich muss zugeben. Sie machen mich neugierig. Wie schaffen Sie es, die Tauben auseinander zu halten?* Ach, dasistwie mit Kindern’, sage ich. ,Haben Sie Kinder?" Nein’, sagt die Dame.,,Sie denn?" Nein’ sage ich. ,Aber wenn man die Tauben ganz genau beobachtet, dann sieht man: Keine ist wie die andere. ede hat einen anderen Charakter. 2 Jede fliegt anders, Deshalb sage ich, wie bei Kindern. Wenn Sie Kinder hatten, wirden Sie die auch nicht vverwechseln. Die alte Dame lacht. .Oh, wenn ich 39 Kinder hatte. Dann kénnte das schon passieren."Jetzt mussichy auch lachen. Ich lache nicht oft mit Frauen. Und schon gar nicht mit alten. Es ist seltsam. ich habe das Gefithl, dass wir Freunde sind, Die alte Dame und ich. So was ‘hnliches wie Freunde auf jeden Fall. jetzt ist mir das Wort wieder eingefallen. Wirsind wie Vertraute. 23 Worter ‘An manchen Tagen wilrde ich am liebsten auf ales, und jeden einschlagen. Tue ich natirlich nicht. ‘Aber ich laufe an solchen Tagen mit einem miesen Gesicht rum, Und jeder denkt, ich bin krank oder uungliicklich. Ich kénnte ja auch sagen: ,Heute ist nicht mein Tag. Geht mir blo nicht auf den Sack!" Dann ware es fir die anderen klar, dass ich nicht krank bin. Reden vermeidet Miss-Verstindnisse. Aberich habe nicht viele Worter in mir. Ich rede nur das Notigste. Ich weil’ auch nicht, wie ich die Wérter richtig verpacken soll. Zum Beispiel, wenn mirein Madchen den Kopf verdreht Wenn ein Madchen klasse aussieht und mit mir flirtet. Dann, puh, dann rutscht mir das Gehirn in den Schwanz. In einer solchen Situation sind Wérter echt nitzlich. Denn, wenn ich ihr sage: ,Du, ich bin total verliebt in dich." Dann kann das vieles leichter machen. Dann kommt man der Sache naher. 24 Wérter sind wie Schachteln, in die man seine Gedanken verpackt. Es gibt wunderschéne Verpackungen, in denen aber nur Dreck ist. Zum Beispiel, wenn ich dem Madchen sage: ,Ich liebe dich." Aberin echt will ch nur an sie ran. ‘ Und es gibt weniger schéne Verpackungen, in denen aber echte Schatze sein kénnen. Ich traue den Wértern nicht wirklich. Deshalb habe ich auch immer nur das Notigste gesagt. Dann kann man nichts falsch machen. Und vor allem: Man muss nicht so viel denken. Seit Margueritte ist das anders geworden. Esist schon nitalich, die richtigen Worter zu kennen. Dann kann man sich ganz anders ausdriicken. Das Wort Vertraute zum Beispiel, Das trift genau mein Gefiihi, das ich an dem Montag mit deralten Dame erlebt habe. ‘An dem Montag im Park sage ich alsoder alten Dame alle Namen auf, die ich den Tauben gegeben habe. Zusammen sind es 26 Tauben. Jede Einzelne kenne ich mit ihrem Namen. »Die da hei8t Dick-Kopf’ erklare ich ihr. Diese hier heiGt Fliege. Da vorne, das ist Réiuber. Die steht direkt neben Hiihnchen. Da hinten, die eit Prinzessin, und diese hier hei&t Margueritte." 25 Oh, sowie ich!" sagt die alte Dame. Was?" frage ich iberrascht. alch heiBe auch Margueritte’ sagt sie. Witzig, Da rede ich miteiner Margueritte, wahrend eine andere Margueritte als Taube zu meinen FiiBen Kérner pickt. Was fir ein Zufall, sage ich zu mir selbst. Viele Wérter habe ich friiher nicht richtig verstanden. Wenn mein Kumpel Landremontin die Kneipe kommt und mich am Tresen sieht, sagt er immer: ,Na so was! Germain in der Kneipe? Was fir ein Zufall!” Ich dachte immer, das heiBt so viel wie: ,Hallo, sch6n dich hierzu treffen." Aber mein Kumpel Jojo hat mir erklart, dass Landremont damit nur sagen will: klar, die Schnaps-Nase Germain ist natirlich wieder in der kneipe. Es ware also eher ein Zufall, wenn ich mal nichtin der Kneipe ware. Mit seinen Wértern sagt Landremont also was anderes, als er in Wirklichkeit meint. Dem Typ kann man dberhaupt nicht trauen. Eigentlich ist Landremont auch gar kein echter Kumpel. 26 unser Kumpel Marco sagt: ,Landremontist wie eine Wetterfahne. Mal weht erin diese Richtung, mal in eine andere." as stimmt. Mal spielt Landremont eine Woche lang mit dir Karten und behandelt dich wie seineq Bruder. Und dann haut er dir platzlich bei einem Fest eine rein. Wenn er 2u viel trinkt, ist er nicht mehrer selbst. Marco nennt das wie eine Wetterfahne. Im Wérterbuch heiBt so was: schwankenden Launen unterworfen; flatterhaft; wankelmitig. ‘Trotzdem: Bevor ich Marguerite kannte, habe ich viel von Landremont gelernt. Erhat eine Menge gelesen. Bei ihm zu Hause istalles voll mit Blichern. Nicht nur auf dem Klo, Und er liest nicht nur Zeitschriften. 7 Landremont Unser Kumpel Landremont ist ein nervéser Typ. Klein und sehnigister. Erhat eine Stim-Glatze und dichte Haare an den Armen. So sieht eraus. Seine Frau ist an Krebs draufgegangen. Schei@-Krankheit, Landremontertrankt seitdem seinen Kummer. Seine Leber geht dabei kaputt. ig scheinheilig. Mituns trinkt erimmer nur ein Bier, ein Glaschen Weifwein oder einen Pastis. Ganz normal. Aber jeder wei8, dass er heimlich séuft. Marco wollte sich einmal bei Landremont das Auto ausleihen. Er klingelte und klingelte an der Tur, bis Landremont endlich mal aufgemacht hat. Mannomann', erzihite uns Marco am nachsten Tag. ,Landremont sah gestern Abend aus wie ein Zombie, Der war villig besoffen. ich habe ihn ‘gefragt, ob er mir seinen Wagen leint, weil meiner plétzlich nicht mehr lief, Landremont hat den Kopf geschiittelt und mir gesagt: Geh doch zu einem ‘Auto-Mechanitker.* a haben wir alle auch mit dem Kopf geschilttelt. Denn Landremont ist der einzige Auto-Mechaniker inder ganzen Gegend hier. 28 -Wartet! Ich bin noch nicht fertig’, sagt Marco. »Landremont hat noch gesagt: ch muss pissen. Ich habe geantwortet: Okay, dann warte ich so lange. Aber stellt euch vor. Der bleibt in der Tir stehen. Und pisst sich voll in die Hosen. Steht da steif wie ein Stock und pisst.Tja, ich bin dann wieder nach Hause gegangen: Seit dem Tag wissen wir: Landremont hat schwierige Momente in seinem Leben. An diese ganzen Sachen muss ich denken, wabrend ich neben Margueritte auf der Bank sitze. SchlieBlich verabschiede ich mich von ihr. Auf Wiedersehen’, sage ich. .Margueritte ist ein wirklich hibscher Name." Sie lichelt und antwortet: ,Jedenfalls fur eine Taube. Und wie heiBen Sie, wenn ich fragen darf?" jermain Chazes Daraufhin spricht sie so zu mir, wie zu einem Burgermeister oder wie zu einem anderen hohen Tier: ,Nun, Monsieur Chazes, es war mireine Freude, Ihre Bekanntschaft zu machen." Dann zeigt sie auf die Tauben und sagt noch: ,Danke sehr, dass Sie mir thre vielképfige Familie vorgestellt haben." Witzig, diese Margueritte. 29 Der Trottel ‘Manchmal verstehe ich die Dinge nicht richtig. Besser gesagt, die Wérter. Und weil ich die Wérter nicht richtig verstehe, verstehe ich nicht, um was es geht. Ich dachte zum Beispiel immer, dass Jojo mit Nachnamen Zekouc (gesprochen Sekuk) hei. Davon hatte ich an dem Montag auch Margueritte erzahit. Marguerite sagte: ,Ach, dann ist ihr Freund wohl Koch. Denn The cook (Sekuk) ist Englisch und hei&t Der Koch:* Ich bin also abends in unsere Kneipe, wo Jojo tatsichlich als Koch arbeitet und sage ganz stol2: kein Wunder, dass du als Koch arbeitest. Bei deinem Nachnamen.* ‘Aber Jojo sagt nur: ,Wieso? Ich heie Pelletier. Was hat das miteinem Koch zu tun?" Ich sage noch immer ganz stolz: ,Du heifst doch Zekouc. Und das st Englisch und heiGt Ubersetzt Der Koch." indem Moment fangen alle laut an zu lachen. 30 Und ich merke: ich habe irgendetwas nicht richtig, kapiert. ‘Am liebsten wiirde ich Landremont eins in die Fresse geben. Weil er am lautesten lacht und dann. auch noch zu mir sagt: ,Mannomann! Nixim. ‘Schidel und keine Chance, dass es mal besser wid.” »HOr auf’, sagt Jojo zu Landremont. Jojo nimmt mich immer in Schutz. Dann erklért mir jojo wie einem kleinen Kind: ,Alle sagen zu mir Jojo, The cook. Aber das ist nur ein Spitzname. Dasist nicht mein richtiger Nachname." Ich ertrage es nicht, wenn man mit mir spricht wie mit einem Kind. Und es nervt mich, wenn ich was nicht kapiere. Ais ich klein war, sagte meine Mutter oftzu mir: Ou gliicklicher Schwach-Kopf. Aber ich war als Kind gar nicht gliicklich. Ein Schwach-Kopf, von mir aus, ja. Das war ich vielleicht. Aber nicht gliicklich. Meine Mutter nannte mich auch idiot oder Esel. Alsich gréer war, nannte sie mich Groer Trottel Es gab zwar immer was zu essen bei uns zu Hause. Aber wenn meine Mutter den Teller vor mich hinstelite, kam mirder Teller vor wie ein Blechnapf. a Meine Mutter hatte keine Ader dafir, eine Mutter zu sein. Auch die ganzen Ohrfeigen, die ich von ihr bekam, haben nichts besser gemacht. Ohrfeigen ‘tun einfach nurweh. ‘Am schlimmsten aber war, dass ich mich immer zusammenreien musste. Sonst hatte ich zuriickgeschlagen. Ich war ja zwei Képfe gréRer als meine Mutter. Ich hatte sie mit einem kleinen Sto zum Schweigen bringen kénnen. Ich hatte sie einfach gegen die Wand knallen kénnen, ‘Abend fir Abend hat meine Mutter Bilder ausgeschnitten und in Fotobiicher eingeklebt. Sie hatte einfach kein Interesse an mir. [Aber ich muss sagen: Verlogen war meine Mutter nicht. Sie hat immer ehrlich gesagt, was sie von mir halt. Doch ich konnte mich nicht daran gewahnen und bin schlieBlich abgehauen. Wenn andere Uber mich lachen, istes genau so wie fridher: ich versuche, dahinter zu kommen, warum sie lachen. Aber so sehr ich es will, ch komme oft nicht dahinter. Meine Freundin Annette hat dasselbe. Aber mit Zahlen. 32 . ‘Man splirt, dass man was falsch gemacht hat, aber ingendwie hat man kein Ubersetzungs-Programm. Man blickt einfach nicht durch. Auch wenn man sich noch so sehr anstrengt. Es macht einen auf Dauer echt fertig, das Leben ohne Decoder zu leben. Mein Kumpel Marco nennt das so. Wenn intelligent sein eine Frage des Willens ware, dann ware ich ein Genie. Aber ich komme mir vor, wie einer, dereinen Graben mit einem Loffel graben muss. Alle anderen um mich herum haben Schaufel-Bagger zum Graben. Nurich stehe da wie ein Trottel, 3B Annette Annette habe ich damals auf dem Fest am. Mai kennen gelernt. Da haben wir zusammen getanzt. Nach dem Fest ist dann ein Gewitter losgegangen. Es hat gegossen wie aus Kubeln, Der Wind wurde richtig stirmisch. Ganz platzlich wurde es kalt. Annette hat mir und meinen Kumpeln angeboten, uns nach Hause zu fahren. Ein Taxi hatten wir bestimmt nicht bekommen. Und Marco war sternhagelvoll. Der konnte uns nicht mehr fahren, Also sind wir alle in Annettes Auto. Sie hat einen nach dem anderen nach Hause gebracht. Und zum. Schluss war nur noch ich iibrig. ‘Annette ging mit in meinen Wohnwagen. Regnet es hier nie rein bei so einem Wetter?", fragte sie. Nein’, sagte ich, ,aber heute Nacht werde ich mir einen abfrieren. Die Heizung hat ihren Geist aufgegeben." Da fragte mich Annette doch tatsachlich: Willst du bei mirschlafen?" Dabei hatte sie schon, ihre Hand auf meinen Schenkel gelegt. 34 Und das Tanzen mitihr hatte mich auch schon ganz hei gemacht. Ganz eng hatten wir getanzt. Annettes Wohnung gefiel mir. Aber ich warja nicht zur Besichtigung hier. »Wie soll ich das nur gleich am besten anstellen?%, fragte ich mich, Aber schon fing Annette an. Ich finde es nicht sehr weiblich, wenn die Frauen den ‘Anfang machen, Aber praktisch ist das schon. Heute denke ich Uber Sex ganz anders als damals mit Annette, Heute ist mein Gehim hier oben, mein Schwanz da unten. Und die beiden Etagen verwechsele ich nicht mehr. Aber dazu spater. ‘An dem ersten Abend jedenfalls hatte ich Angst, ‘Annette weh zu tun. Sie ist nmlich klein und ganz zierlich. ch hatte Angst, sie zu erdriicken, wenn ich mich auf sie lege, Denn ich bin ja ganz schén gro und kraftig. Vielleicht hat sie gar nicht genug Platz fiir mich in sich drin. Hoffentlich zerrei8e ich sie nicht. So ein Quatsch ging mirdamals durch den Kopf. ‘Annette ist 36. Aber sie sieht jiinger aus. Sie ist witzig gebaut. Eine ganz diinne Taille hatsie. Die kann ich mit einer Hand umfassen, 35 Ihre festen, runden Briiste fuhlen sich gut an und alten viel aus. Lange Beine hat sie, obwohl sie ja, eigentlich klein ist. Und ihr Hintern ist klein, wie ein Kohikopf. Annette ist nicht wirklich hiibsch, Sie hat ‘Augenringe, ein mageres Gesicht und manchmal einen todtraurigen Blick. Aber sie hat was. Landremont sagt immer, sie hat einen Hintern aus, Gold und ein Gesicht zum Weglaufen. Der muss gerade was sagen! Seine Frau sah aus wie ein Pferd. Na ja,sieruhe in Frieden. Sie war wirklich eine nette Frau. Ich habe Annette natiirlich nicht erstickt. Und es ist an diesem ersten Abend auch nichts Ahnliches wie ein Unfall passiert. In Annette drin fihite es sich an wie lauter Watte, Seide und Federn. Alles so warm und weich und anschmiegsam. Am liebsten wiirde ich mein ganzes Leben da drinbleiben. ‘Annette sagte:,,ich habe schon lange von dir getréiumt.” Das fihit sich komisch an, wenn eine Frau so was sagt. Wenn sie dabei feuchte Augen hat und mit ihrer Hand sanft an dir rummacht. Das war mir fast peinlich, aber auch sehr angenehm. 36 In der Schule Seitdem ich Margueritte kenne, denke ich Uber das Leben nach. Ich arbeite mit meinem Verstand Ich denke ber Wérter nach und versuche, sie zu begreifen. ' Zwei neue Worter beschaiftigen mich sehr: angeboren und erworben. Ganz genau kann ich die Wérter nicht erklaren, Dann miisste ich erst wieder ins Wérterbuch gucken. ‘Aber klar ist: angeboren ist alles das, was man schon bei der Geburt hat. Und erworben ist alles das, wofiir man sich den Rest von seinem Leben abrackert. Gefithle sind jedenfalls nicht angeboren. Du kannst sogar ganz ohne Gefuble leben. Ich wei8, wovon ich rede. In normalen Familien wird manchmal geheult und auch geschrien. Aber es gibt auch Zrtlichkeit, Man wihlt dir durch die Haare und sagt dabei was Schénes. Weil die Eltern stolz sind, dass es dich gibt als Kind. 7 Ich aber komme nirgendwo her. Ich bin aus ein paar Eiern gekommen und aus der Muschi einer Frau. Gehtja nicht anders. Aber in dem Moment, als ich auf die Welt kam, war auch schon alles Gute vorbei. Alles musste ich selber rausfinden. Ich hatte keine Vorbilder. Auch nicht beim Sprechen. Meine Sprache habe ich auf Baustellen und in Kneipen gelernt. Deshalb driicke ich mich so schlecht aus. Ich beschmutze die Dinge des Lebens mitgroben Wértern. Ich kann nicht reden wie die Gebildeten. Die packen ‘einen Gedanken fest an einem Ende und rollen ihn auf wie eine Angel-Schnur. Bis sie am anderen Ende angekommen sind. Die verlieren nie den Faden. ‘Aberiich. Ich gerate immer durcheinander. Ich fange miteiner Sache an, dann fallt mirwas Neues ein und wieder was Neues. Und am Schluss wei ich nicht mehr, was ich eigentlich sagen wollte. Friherwarich fast Analphabet. Im Wérterbuch steht dazu: wer nicht lesen und schreiben kann; Unkundiger. Aber ich schime mich nicht dafii. Lesen ist was Erworbenes. Und in der Schule konnte ich es nicht erwerben. 38 ‘Mein Lehrer, Monsieur Bayle, warein Gnse-Stopfer. Bei ihm hie@ es: Friss oder stirb! Er hat unsere Képfe mit Wissen vollgestopft, ohne zu iberpriifen, ob esim Kopf bleibt. Erhat mir immer eine Heiden-Angst eingejagt. Ap manchen Tagen hatte ich mirin die Hose machen kénnen. Allein, wie er mich immer aufgerufen hat! Wie er meinen Namen bedrohlich in die Linge gezogen hat: ,Chaaazes, los an die Tafel!" Nattirlich istein dummer Schiler ganz schén nervig fir einen Lehrer, Er konnte mich nicht leiden: Deshalb hat er mich jeden Tag an die Tafel gerufen, Ich sollte an der Tafel das Gelernte wiederholen, Und das vor den ganzen Schleimern, die mich hinter ihrer Hand auslachten, Und vor den ganzen Niet die froh waren, dass ich noch schlechter war als sie selbst. Monsieur Bayle half mir kein bisschen. Er wippte ungeduldig mit dem Fu. Ersagte: Nun, Chaaazes, stehst du wieder auf der Leitung?" Nun, Chaaazes, da fehlen wohl die Grundlagen?” «Tia, unser Freund Chaaazes ist heute Morgen woh! nicht ganz da." 39 Ich hérte nur noch das Ticken der Uhr an der Wand: tick-tack, tick-tack. Und mein Herz fihlte ich bis den Kopf schlagen. Nun, Chaaazes? Ich warte. Wir warten. Ihre Mitschiler warten.* Manchmal lie er mich so lange an der Tafel stehen, bis alle anderen vbllig till waren. Dann schickte er mich mit einer Handbewegung wieder auf meinen Platz zuriick: Ihnen ist nicht zu helfen, Chaaazes. Bei thnen, da ist Hopfen und Malz verloren.* Die anderen fingen laut an zu lachen. Ich wollte am, liebsten sterben. Oder noch lieber, Monsieur Bayle umbringen. hn zertreten wie eine Kakerlake. Wie eine Kakerlake, die mit Kreide voll gefressen war. Abendsim Bett dachte ich dariiber nach, wie ich ihn umbringen kénnte. Das war der einzige Moment ‘am Tag, an dem ich mich wohl fihite. Ich war nie sehr gewalttatig. Jedenfalls nicht mehr alserlaubt ist. Sonst hatte ich ihn umgebracht. ‘Manchmal sage ich mir, die Irren sind so, weil ‘man sie mit vielen Gemeinheiten dazu gemacht hat. Wenn Sie wollen, dass ein Hund bise wird, brauchen Sie ihn nur sinntos zu priigein. 40 Bei einem Menschen ist das genauso. Den braucht man nicht einmal zu schlagen. €s reicht schon, wenn man sich ber ihn lustig macht. Die Stimme von Monsieur Bayle hat sich bei mirfest ins Ohr gebohrt. Bis heute kann ich sie noch immer héren. Vielleicht hatte mir ein anderer Lehrer mehr geholfen? Ich sage nicht: Ich bin wegen Monsieur Bayle ein Dummkopf geworden, Das war ich wahrscheinlich vorher schon. Aber warum hater die Schwachen mit FaBen getreten? Warum hater sich nicht daran gefreut, uns was beizubringen? Wir, die Schwachen und die Schlechten, wir hatten ihn doch am meisten gebraucht, Einfach nurleben Esist eine groSe Luge, wenn man sagt: Kinder gehen gerne zur Schule. Quatsch! Kinder wollen ganz andere Sachen machen: Fische angeln oder von hohen Mauern springen. Sie wollen Zige entgleisen lassen, heimlich Feuer machen, an Téren Klopfen und dann schnell wegrennen. Als Kind will man nur eins: ein Held sein, Sonst nichts. Wenn die Eltern nicht stindig aufpassen, dass man zur Schule geht, geht man nicht hin. Ich jedenfalls nicht. Zumindest so wenig wie méglich. Meiner Mutter war das egal. Sie hat mich mit dem Besen geschlagen, wenn ich mit Dreckan den ‘Schuhen ins Haus gekommen bin. Aber es war ihrvollkommen egal, dass ich nicht Lesen und Schreiben lernte, Wenn ich um fiinf Uhr nachmittags nach Hause kam, fragte sie nur: Hast du das Brot mitgebracht?" Und dann sagte sie noch: ,Lass dein Zeug nicht im Weg liegen! R8um deine Tasche weg!" Das musste sie mir nicht zweimal sagen. Ich warf die Schultasche in die Ecke. Und weg war ich. a PY i Hausaufgaben? Egal! Nichts wie raus und spielen! Je alterich wurde, desto mehr schwanzte ich die Schule. Natirlich fragte mich der Lehrer, warum ich nicht inderSchule war. Ich konnte Monsieur Bayle 9 mitten in die Augen sehen und ihn dabei anliigen. Das hatte ich lange gebt. Und mit zehn Jahren konnte ich ihn schon richtig gut beliigen: »Meine Mutter war krank. ch musste ihr helfen.” »Meine GroBmutter ist gestorben. Ich musste zur Beerdigung." Ich habe mir auf dem Weg zur Schule den Knéchel verstaucht." Gin Hund hat mich gebissen. Ich musste zum Arzt.' Bayle war froh, wenn ich nicht zur Schule kam. ‘So kam keine Unruhe in die Klasse. Am Ende der Grundschul-Zeit war ich dfter beim Angein gewesen alsin der Schule. Alsich dann spater zur Armee sollte, wurde ich als Analphabet eingestuft. Das Wort sagt héflich aus, was man wirklich Uber mich dachte: namlich, dass ich dof war, Egal. Ich lebte einfach vor mich hin. Mich stérte das alles nicht. a Im Bett kam ich auf meine Kosten. Auferdem spielte ich Karten, betrank mich jeden Samstag, und im Laufe der Woche wurde ich wieder niichtern. Wenn ich Kohle brauchte, habe ich auf Baustellen gearbeitet. Den Unterschied zwischen leben und das Leben verstehen kannte ich damals noch nicht. Wer Auto fahrt, wei8 ja auch nicht unbedingt, wie es funktioniert. Aberer fahrt trotzdem. Sowar das auch mit meinem Leben. Ich hatte nicht das Wie oder Warum kapiert. Erst durch die Begegnung mit Margueritte fing ich an, wirklich zu lernen, Das war anstrengend am Anfang, Dann wurde es aber immer interessanter, Margueritte hat einen Schul-Abschluss. Nicht nur so einen popeligen Abschluss wie die Mittlere Reife. Den hat ja fast jeder auBer mir. Nein, Margueritte hatstudiert, Und sie hat einen Doktor-Titel Sieist keine Arztin, aber sie hat einen Doktor-Titel fr Sachen, die sie wissenschaftlich untersucht hat. ‘Trauben-Kerne hat sie erforscht. Ich finde so einen ‘Trauben-Kern ja sehr ibersichtlich. Was soll man da lange untersuchen? Aber ich will nicht berheblich sein. 4 Wenn Marguerite von Kultur spricht, meint sie ‘ganz was anderes als ch. Ich kenne Boden-Kultur: Dabei grabst du die Erde mit dem Spaten um. Dann ziehst du eine Furche, also eine gerade, tiefe Linie in die Erde. Und dann legst du die Samen da rein, Samen fir Blumen oder fir Gemiise. Wenn Margueritte von Kultur spricht, dann meint sie Bucher. Uber Biicher, da kann ich thnen was erzahlen. Ich habe namlich welche gelesen. Das ist verdammt schwer, wenn man nicht gebildet ist, wie ich. Man liest ein Wort. Gut, man versteht es. Das nichste Wort auch. Und mit ein bisschen Gliick sogar das dritte Wort. Man geht immer weiter mit der Fingerspitze. Acht, neun, zehn Wérter. Punkt. Und dann? Dann hat man nichts verstanden. Die Worter bleiben so durcheinander wie die Schrauben in einer Dose. Wer sich damit auskennt, der schraubt einfach die Wérter zusammen. 15 oder 20 Wérter schraubt der einfach so zusammen. Das ist dann ein genzer Satz. ‘Aber wersich nicht damit auskennt, fiirden ist. ein Satz aus vielen Wértern wie eine Rattenfalle. Man denkt: Das sieht doch harmlos aus. Auch ein Buch. Aber dann schnapptes zu. Und man scheitert daran, 45 klar, kann ich Buchstaben und Wérter lesen. Aber das Ganze dann zusammenbringen? Den Sinn verstehen? Das ist verdammt schwer. Jedes Buch ist fiir mich eine Mauer. Eine Mauer, an derich mirden Kopfeinrenne. Ich komme da nicht durch. Deshalb habe ich nie eingesehen, wozu Lesen gut sein soll. ch lese erst, wenn ich dazu gezwungen werde. Wie bei der Steuer oder bei der Einzahlung in die Krankenkasse. So dachte ich jedenfalls vor der Begegnung mit Marguerite. Immer wenn ich Margueritte ansehe, sehe ich eine ‘winzige Alte. 40 Kilo leicht. Faltigist sie, wie eine Klatschmohn-Bliite. Krummer Riicken, zittrige Hande. Aber: In ihrem Kopf, da sind mehr als 2000 Biicher aufgestelit. Alle schén sortiert. Man sieht ihr nicht an, dass sie intelligent ist. Sie istes, aber sie spricht ganz normal mit mir. Sie geht im Park spazieren. Sie zahlt die Tauben. Sie macht alles, was gewohnliche Leute auch machen. Sie macht sich kein bisschen wichtig. Aber sie hat schon Sachen erforscht, als Frauen noch gar nicht forschen durften, 46 Ich habe das nicht ganz verstanden, aberich bewundere sie. Wegen der ganzen Biicher, die sie liest. Jetzt muss ich mich berichtigen: Wegen der ganzen Blicher, die sie las 7 Das zweite Treffen mit Margueritte Alsich in den Park komme, sitzt Marguerite auf derselben Bank wie beim ersten Mal. Ich sehe sie schon von Weitem und denke: Ach ja, die Oma mit den Tauben. Diesmal freue ich mich aber, sie zu sehen, Sie sitzt da und hat die Augen geschlossen. Bei alten Leuten sieht das immer aus wie denken oder sterben oder Mittags-Schlaf machen. »Guten Tag’, sage ich zu ihr. Sie schaut auf: ,Ach, guten Tag, Monsieur Chazes.* Das tut vielleicht gut! Monsieur Chazes. Wer nennt rich hier schon so? Alle sagen nur immer: ,Hallo Germain!" oder ,He, Chazes!" Keiner sagt mal Monsieur 2u mit Ich sehe auf das Buch, das auf ihrem SchoB liegt. Sie fragt mich: ,Lesen Sie gerne?" Oh, neint’, antworte ich, wie aus der Pistole sgeschossen, Und dann sageich noch schnell: ,Keine Zeit." Ja, ja" sagt Margueritte. ,Sie miissen Tauben zAhlen und das Denkmal beschreiben. Ich habe mal nachgesehen. Verzeihen Sie mir. ch warneugierig. 48 Sie haben Germain Chazes auf das Krieger-Denkmal geschrieben. Wahrscheinlich der Name von Ihrem Vater, nicht wahr? Wahrscheinlich ist Ihr armer Vater im Krieg in Algerien gefallen?* ch will Margueritte nicht enttduschen. Mein Alteg ist natirlich nicht im Krieg gefallen. Meine Mutter hat sich von diesem Kerl bei einer Tanz-Veranstaltung die Welt erklaren lassen. In einem Gebiisch. Dabei ist ein halb schwachsinniger Sohn entstanden, wie meine Mutter von mir meint. Der Alte ist natirlich abgehauen. Meine Mutter ist mitihrem dicken Bauch ledig geblieben. Und spater mit mir auf dem Arm, Mit miram Hals, wie meine Mutterimmersagt. Soll ch so was etwa Margueritte erzhlen? Nein, das passt nichtin ihre Welt. Also sage ich einfach ja. Margueritte seufzt leise. Sie ist traurig, weil ich ein jegs-Waisenkind bin. Was hatte ich ihr denn sonst sagen sollen? Dass mein Alter meine Mutter hat sitzen lassen? Dass ernicht im Krieg, sondern bei einem Bus-Unfall in Spanien umgekommen ist? Da warich ungefshr vier oder fing. 49 Margueritte merkt, wie ich nachdenke, und sagt: ‘Es tut mirleid, Monsieur Chazes. Ich wollte nicht indiskret sein. Ich wollte Sie nicht in Verlegenheit bringen.” lst nicht schlimm*, antworte ich. Und es ist wirklich nicht schlimm, denn mein Vater ist mir vollig egal. Erist einfach nur mein Erzeuger. Sonst nichts. 50 Nachdenken Nach dem zweiten Treffen mit Margueritte stelle ich mir die Frage: Warum ist es mir eigentlich so wichtig, auf diese verdammte Namens-Liste am Denkmal zu kommen? ' Ich wei doch, dass man im Krieg gefallen sein muss, um dort zu stehen. Ich habe mich doch nur bléd gestellt. Aber warum st mir das so wichtig? Weil ich dazu gehdren will? Weil ich das Gefthl haben will: Es gibt mich? Mit den anderen kann ich Uber so was nicht reden, Nicht mit Landremont, nicht mit Marco, nicht mit Jojo und Youss. Aber mit Annette? Ja, vielleicht mit Annette. Die Weiber kapieren zwar nichts und lassen sich total leicht verarschen. Aber fir bestimmte Sachen haben sie die richtige Antenne. Und dann erkléren sie dir einfach mal ‘eben so, was du eigentlich fir ein Typ bist. Meist liegen sie damit sogar richtig. ‘Am Abend sitze ich vor meinem Wohnwagen. ich grille mirein Steak und schnippele Tommaten und ‘Zwiebeln fir einen Salat. Dabei erinnere ich mich, ich zum ersten Mal eine Tasche gestohlen habe. 51 Naja, da war ich noch klein. Tasche klauen, das macht doch jedes kind mal, Dann erinnere ich mich an die Armee. Eigentlich erinnere ich mich am meisten an Besaufnisse und Schligereien in den Bars. An Karten-Spiele und Affaren. Und an al die Typen, die mich verarscht haben und die dachten, ich merke das nicht. Und noch etwas geht mir durch den Kopf. Wie ich als Kind immer in die Kirche gegangen bin. Nicht ‘zum Beten. Oh, nein, der Herr mége mir verzeihen! Ich bin in die Kirche gegangen, weil ich das gro8e, bunte Fenster dort ansehen wollte, Eshatte so wunderschéne Farben und Muster. Und deshalb war damals fir mich klar: Ich wollte von Beruf Kirchenfenster-Macher werden. Das habe ich auch damals bei der Berufs-Beratung gesagt. Aber die haben nur gesagt: .Kirchenfenster-Macher ist kein Berufl" Aber das ist doch der schénste Beruf der Welt, dachte ich nur. Die haben mir dann vorgeschlagen, eine Lehre zum Glaser zu machen. Glaser herstellen, das interessiert mich nicht die Bohne!" habe ich den Leuten von der Berufs-Beratung gesagt. Bin raus und habe die Tir zugeschlagen. 2 Es war nurein einziges Wort, das sie mirhatten erkléren miissen. Nurein einziges Wort. Aber die haben mir nicht erklért, was ein Glaserist. Die haben mir nicht gesagt, dass man erst Glaser lernen muss und danach dann Kirchenfenster machen kann. : ' Die ganzen Jahre ziehen beim Gemiise-Schnippein ‘an mirvorbel. Ich sehe mich wie von auen. ich sehe vor mir den kleinen jungen, derich einmal war. Die ganzen Jahre sind so schnell vergangen, Landremont sagte einmal 2u mir:,Statistisch gesehen bist du dem Lebens-Ende jetzt naherals dem Lebens-Anfang." Und wahrend ich hier Tomaten schneide, merke ich pldtzlich: Ich denke. ich denke nach. Ich frage mich ‘zum ersten Mal in meinem Leben: Warum? und Weshalb? Ich frage mich zum ersten Mal: Weshalb mache ich eigentlich die ganzen Sachen? Wozu Ubeich Laufen nd Dosen-SchieBen? Warum spiele ich Karten? Weshalb zahle ich Tauben und schnitze Figuren? Ich stelle mir diese Fragen. Aber so, als ware ich jemand anderes. Wie die Stimme des Herrn zum Beispiel. ,Germain’, frage ich mich, ,wozu machst du eigentlich die ganzen Sachen?" 53 Das kommtalles daher, dass ich Margueritte kennen gelernt habe, Margueritte hat eine verdammte Lust zum Nachdenken in mir geweckt. So was wie einen Stnderim Gehirn. Ich glaube, heute Abend —hier vor meinem ‘Wohnwagen—habe ich so was wie einen Intelligenz-Anfall Vielleicht hatte ich friher auch schon so was. Aber da wurde mir immernur gesagt: eh spielen! Geh raus! Nerv uns nicht mit deinen Fragen! Tja, so kann man natillich nichts werden. 54. w Das dritte Treffen mit Margueritte Ich bin als erster im Park. Ich setze mich aufdie Bank und warte, Dabei mache ich ein finsteres Gesicht. Das soll die Leute davon abschrecken, sich neben mich zu setzen. Diese Bank gehdrt nur, Margueritte und mir, Ich kann es kaum erwarten, dass meine kleine Tauben-Oma kommt. ‘Am Ende vom Weg tauchtsie dann auf. Mitihren diinnen Beinchen und mit ihrem geblimten Kileid. Wie immer trgt sie ihre Strickjacke und ihre Handtasche am Arm. Sie winkt mir mit den Fingerspitzen zu. Da wird mir richtig warm ums Herz. »Monsieur Chazes" sagtsie, wahrend sie sich auf die Bank setzt.,Was flr eine nette Uberraschung!" Sie kénnen ruhig Germain zu mir sagen’, schlage ich ihrvor, Margueritte lichelt. ,Das werde ich mit gréBtem Vergnigen tun, Germain, ‘Aber ich werde es mir aber nur erlauben, wenn Sie Ihrerseits bereit sind, mich Margueritte zu nennen Warum eigentlich nicht? Ich bin einverstanden. 55 Erst zihlen wir wieder die Tauben. jeder fir sich, damit wir nicht durcheinander kommen. Beide kommen wir auf 16 Tauben. ich stelle Margueritte die Tauben mit Namen vor, die sie noch nicht kent. Davorne, das ist Filz-Lauser: Bitte wie? fragt Marguerite. .Filz-Lauser’ wiederhole ich, ,50 wie Filz-Lause.” Sie meinen, hm, die Lause im Schamhaar-Bereich?", fragt Magueritte etwas verlegen. sa, genau", sage ich. ,Kinder nennt man doch auch so: Lause-Junge, Filz-Lauser. Weil sie sich an einen festklammern und nerven. Wussten Sie das nicht?" Gitiger Gott, nein’, antwortet Margueritte. ,Sehen Sie, Germain, ich bin schon so alt und habe immer noch nicht ausgelernt:* Dann holt sie ein Buch aus ihrer Tasche. ,Gestern habe ich in diesem Roman gelesen. Und da musste ich an einer Stelle an Sie denken, Germain, Da kam ein Satz vor, den ich thnen gerne schenken méchte.* as haut mich fast um. Jemand denkt an mich beim Romanlesen. Das erlebe ich nicht alle Tage. Dann liest sie vor: Wie soll man auch das Bild einer Stadt ohne Tauben, ohne Biiume und Garten vermittein, wo einem weder Flugel-Schlagen noch Blitter-Rauschen begegnen, ‘mit einem Wort, einen neutralen Ort?" ‘Margueritte sieht mich stolz an. So als hatte sie mir gerade ein wunderbares Geschenk gemacht. Jetzt bin ich ganz schiichtern, Ich bekomme ndmlich nicht oft einen Satz geschenkt. _KOnnten Sie das bitte noch einmal lesen?’ frage ich Margueritte. Und bitte nicht zu schnell, wenn Margueritte liest noch einmal: Wie soll man auch das Bild einer Stadt ohne Tauben, ‘ohne Béiume und Garten vermitteln .." Steht das da so in dem Buch?" unterbreche ich sie, asa" Eine Stadt ohne Tauben und Baume... Wie hei8t denn das Buch?" frage ich sie. Die Pest. Es ist von Albert Camus. Haben Sie schon ‘mal etwas von ihm gelesen?" Margueritte sieht mich fragend an, Ach, wissen Sie... Lesen ist nicht so mein Ding." »Méchten Sie vielleicht noch mehr aus diesem Buch héren? Ich kénnte uns daraus vorlesen, 7 Ich lese namlich sehr gerne vor. Wirde Ihnen das ‘Spa machen?* Naja, SpaB ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort, denke ich. Aber vielleicht eine neue Méglichkeit, etwas zu erfahren, eine neue Aussicht. Eine neue Perspektive. Ich sage: ,Ja, gerne." Manchmal hére ich mir beim Schnitzen Geschichten im Radio an. Hérspiele. Das halt die Ohren richtig in Trab. Ich werde Margueritte wieder treffen. Aufjeden Fall! 58 Die Pest Bei unserem nachsten Treffen liest mir Marguerite weiter aus dem Buch von Albert Camus vor. Aus dem Buch Die Pest. Das kommt mir alles gar nicht so fremd vor. SchlieBlich habe ich einen Onkel, der auch Albert hei8t. Und dann kommen in dem Buch die ganze Zeit Ratten vor, Und Ratten kenne ich schlieSlich auch. Aber nicht so viele wie in dem Buch. Ekeligist das, und spannend. Mirist noch nicht ganz klar, ob das Buch ein Krimi ist oder eine Horror-Geschichte. Aber ich sehe vor mir die Ratten. Wie sie auf der StraBe krepieren. Wie sie immer naheran die Menschen rankommen. Wie die Menschen krank werden. Indem Buch milssen die Menschen die Viecher sogar totschlagen. Verdammt, was fur eine Seuche, diese Pest! Die Leute in unserer Stadt-Verwaltung wiirden jedenfalls die Ratten-Plage nichtin den Griff kriegen. Die wiirden hier mit dieser Schei8e nicht fertig. Das weil ich 59 Als Margueritte mit Vorlesen fertigist, will ch am liebsten, dass sie weiterliest. Fir mich ist das wie Kino im Kopf. Nur ohne die ganzen anderen Leute imkino. Sie fragt mich, ob ich an einem anderen Tag mehr héren will, Lieber jetzt sofort, denke ich. Aber wir kennen uns noch nicht lange genug. Deshalb antworte ich héflich: Warum nicht? Ich habe nichts dagegen. Bei Gelegenheit." Ich will ja auch nicht mein Leben auf einer Bankim, Park verbringen. Und Vorlese-Stunden wie Kinder will ich auch nicht haben. Aber Kinderbiicher sind nicht voll mit Ratten. Das hier ist was anderes. Was total anderes! ‘Auf dem Heimweg denke ich an die Geschichte, die mir Margueritte vorgelesen hat. Die Ratten haben mir gut gefallen, Nichtin echt als Ratten. Aber die Geschichte darum herum. Und eine Stelle fand ich auch total klasse: Ein Nachbar will sich umbringen und schreibt mit kreide an seine Tur: Herein, ich habe mich aufgehdngt. 60 Das muss man sich mal vorstellen. Schreibt einer an seine Tur: Herein, ch habe mich aufgehdingt. Das ist doch der Hammer, oder? Was der wohl in seinem Hirn haben musste, dieser Schrift-Steller Camus. Wie kann man sich so einen Wahnsinn ausdenken? Obwohl: Muss man sich sowasausdenken? As ich klein war, gab es einen Nachbarn bei uns. Der hie Lombard. Erhat auch einen Zettel an die Haustir gehangt: Bin einkaufen. Seinen Hund hat er mit sich zusammen eingeschlossen, damit er nicht weglauft. Der Hund war eine Mischung aus Schaferhund und Deutscher Dogge. Ein braun-grauer, biser Kater. Und dann hat der Nachbar sich mit dem Gewehr in den Kopf -geschossen. Seine Kinder kamen von der Schule nach Hause. Sie lasen an der Tir: Bin einkaufen. Sie hdrten den Kéter von innen an der Tui kratzen. Der Junge sagte zu seiner kleinen Schwester: Warte hier. Ich guck mal Er ging ums Haus und kletterte von hinten in ein Fenster. Der Junge ist nicht wieder rausgekommen. Die Mutter von den beiden Kindern kam dann von der Arbeit. Sie sah die Kleine. 6. . A Aber nicht den Bruder. Dann sah sie den Zettel an Wenn der Nachbar doch nur—wie bei Albert der Tur. Hier stimmt was nicht, sagte sie sich. Sie | Camus-geschrieben hatte: Herein, ich habe mich brachte die kleine zu uns riber. erschossen. Dann ware dem Kleinen wenigstens die miese Uberraschung erspart geblieben Bitte passen Sie auf die Kleine auf" Ich erinnere mich so gut daran, weil die Kleine uns nur genervt, A hat. Die ganze Zeit hat sie nur geheult. Erst haben wir gar nichts von nebenan gehért. Aber dann. Das Schreien der Nachbarin, Dann die Sirene der Feuerwehr. Danach die Polizei. Ich ging raus. Sah aber nichts. Nurein paar Leute auf dem Rasen. Die standen um eine zugedeckte Trage. pater hat Madame Lombard erzahit: Ich komme in das Haus. Mein Sohn steht in der Kiiche. Stock-steif. Wie angefroren steht er vor der Leiche seines Vaters. Der Hund hat eine blutige Schnauze. Er hat brav das ganze Blut abgeleckt. Von seinem Herrchen. Auch vom Kopf. Kein Knochen-Splitter war zu sehen, kein Hirn-Spritzer. Alles aufgeleckt. Blitz-blank"* Der Hund musste eingeschlafert werden. Danach ist die Alte durchgeknallt, 62 6 Das erste Buch Margueritte hat mir ie Pest innerhalb von ein paar Tagen vorgelesen. Natirlich nicht alles. Nur Auszige daraus. ch fand das richtig toll. Die ganzen schragen Typen, Wo hat der Camus die nur aufgegabelt? Eines Tages sagt Marguerite zu mir: ,Sie sind ein echter Leser, Germain, Denn Lesen beginnt mit dem Zuhdren. Und deshalb sind Sie ein echter Leser!" Erst lache ich. Denn ich dachte immer: Lesen beginnt mit dem Lesen! ‘Aber Marguerite sagt: ,Kinder werden siichtig ‘nach Biichern, wenn man ihnen vorliest. Wenn dann gro sind, brauchen sie Bucher.” ‘Wenn man mir vorgelesen hatte als Kind, hatte ich meine Nase wahrscheinlich auch in Buicher gesteckt, Anstatt nur Blédsinn zu machen. Platzlich reicht mir Margueritte das Buch riber. sich méchte es hnen gerne schenken, Germain." Einfach so. Eigentlich waren wir gerade dabei zu gehen. Margueritte sagt: ,Ich habe alles angestrichen, was wir zusammen vorgelesen haben. Zur Erinnerung.” 64 Ich bedanke mich bei ihr. Und ich sage, dass ich mich freue. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite, Germain. Bucher muss man mit anderen tellen. Wir ind nur aufrden, um Dinge weiterzugeben. im Ubrigen Méchte ich mic in, Sie bei Gelegenheit mit ein paar anderen Texten bekannt zu machen, die miram Herzen liegen.* Sie sieht mich an, mit ihrem faltigen Gesicht. Mit ihren kleinen, freundlichen, zufriedenen Augen. Sie hat bestimmt friher vielen Kerlen den Kopf verdreht. Wenn sie so fragt: ,Méchten Sie?" Dann kann ich doch gar nicht nei sagen. Ich fihle mich glicklich und dumm. Das geht bei mir oft zusammen. Ich bleibe auf der Bank sitzen Ich habe das Buch in meinen Handen. Mein erstes Buch. Das erste Buch, das ch jemals geschenkt bekommen habe. Zu Hause lege ich das Buch erst einmal aufden Fernseher. ‘Aber als ich ins Bett gehen will, schaue ich es noch, malan, Das Buch sieht aus, als wiirde es auf mich warten. In meinem Kopf sagt eine Stimme: 65 .Werdammt, Germain, rei dich zusammen! Es ist doch nur ein Buch!" Da nehme ich es und schlage es auf. Ich suche eine von den Stellen, die Margueritte unterstrichen hat. Alsich sie lese, ist sie fast einfach zu lesen. Ich kenne den Inhaltja schon. Dann suche ich weiter. Wie bei einer Schnitzel-lagd. Ich suche die Stelle mit Herein, ich habe mich ‘ufgehiingt. Ich finde sie sofort. Lesen ist wie ein Spiel. Aber bis heute habe ich Die Pest nicht ganz gelesen. Immer nur in kleinen Happchen. Aber ein Wérterbuch liest man ja auch nicht von vorne bis hinten durch. 66 y Inder Kneipe Eines Tages spiele ich mit Marco und Landremont in unserer Stamm-Kneipe Karten. Im Radio laufen die Nachrichten. Es geht um irgendein Land, wo gerade ein Erdbeben war. Eine richtige Katastrophe ist dq los, Mit einem Haufen Toten. Landremont sagt: ,Mannomann! Manche haben echt kein Gliick. In der Gegend kriegen die standig was auf die Schnauze. Wenn es keine Bomben sind, bricht ihnen das Dach uber dem Kopf zusammen." Marco figt hinzu: ,Fehit nur noch, dasssie die Cholera kriegen." Oder die Pest’ sage ich, ,so wie in Algerien, in dem Buch von Camus." Landremont sieht mich ganz komisch an. Er macht, den Mund auf, sagt aber nichts. Erguckt zu Marco und Julien. Dann wieder zu mir. Und wie nebenbei fragter: ,Du liest Camus?" »Nur Die Pest’, antworte ich, ,nichts weiter:* Ach ja, sagt Landremont, ,du hast Die Pest gelesen, nichts weiter? Du interessierst dich also auf einmal fiir Biicher?" 67 ‘Wie der mit mir redet. Das bringt mich echt auf die Palme. Ich trinke mein Bier aus, stehe auf und sage noch: ,Du liest ja auch welche.” Dann gehe ich. Beim nachsten Mal hau ich dem Hund bestimmt eine rein. Um ihm den Kopf zurechtzuriicken.S0 nannte meine Mutter das immer. ‘Ach a, ich knnte mal wieder meine Mutter besuchen. So lange sie nach lebt. Irgendwann in den nachsten Tagen werde ich mal vorbeigehen. 68 ww Der Gemiisegarten Meine Mutter lebt 30 Meter von mir entfernt. Sie wohnt im Haus, ich im Garten, also in dem Wohnwagen im Garten. Ich hatte mireine eigene sude suchen kénnen. Aber wozu? Ich brauche 9 keinen Platz. Nur fuir das Bett und eine Ecke, in der ich sitzen und mir was zu essen machen kann. Ich bin wegen dem Gemiisegarten hier geblieben. Den habe ich namlich ganz allein angelegt. Da muss ich so12 oder 13 gewesen sein. Ich habe erst den Boden umgegraben. Das war verdammt keine Arbeit fir Schlapp-Schwanze. Dann habe ich den Zaun mit einem kleinen Tor gebaut, einen Werkzeug-Schuppen und das Gewaichs-Haus. Der Gemiisegarten ist mein Baby. Klingt damlich, aberist mir egal. Ohne mich ware er nicht auf der Welt. Ich lasse ein bisschen was von allem wachsen: Karotten, Steck-Riben, Kartoffeln, Lauch. Auch Salate und Tomaten, ganz verschiedene Sorten. ‘Zwischen das Gemise setze ich Blumen. Das sieht schén aus. 69 Meine Mutter hat sich damals furchtbar aufgeregt, als ich mit dem Gemiisegarten angefangen habe. Ihr Rasen wirde aussehen wie eine Baustelle. Ihr Rasen? Von wegen. Das war die reinste Unkraut-Halde. Jetzt sagt sie nichts mehr. Abersie kommt immer wieder und klaut mir mein Gemiise. Erst habe ch geschimpft, aber jetzt ist es mir egal. Ich habe sowieso viel2u viel Gemise. Manchmal verkaufe iches sogar auf dem Markt. ‘Auerdem tut die Bewegung meiner Mutter gut, wenn sie mit dem Korb vom Haus bis in den Garten lduft. Das kann sie gebrauchen, denn sie schnauft wie ein Walross. Sie geht bestimmt mal wegen Herz ‘oder Bronchien drauf. Oder an beidem. Was ihren kopfangeht, ist sowieso schon alles zu spat. ‘An dem Tag, als ich meiner Mutter gesagt habe, ich ziehe jetztin den Garten, an dem Tag hat sie mich flirverriickt gehalten. . Willst du unbedingt, dass die Nachbarn sich das ‘Maul Uber uns zerrei8en? {Die Nachbarn kénnen mich mal" habe ich meiner Mutter geantwortet. ,AuBerdem ist das doch unser Garten." 70 Meine Mutter lie8 sich aufs Sofa fallen, atmete schwer und presste ihre Hand gegen die Brust: Was habe ich blo® dem Herrgott getan, dass ich einen Sohn wie dich bekommen habe?" Dem Herrgott nichts’, antwortete ich. Da schrie sie: ,Du bringst mich noch ins Grab! Hay abin deinen Wohnwagen'" Ich habe sie da sitzen lassen und bin raus. Ich habe mich nicht ein einziges Mal umgedreht. a Gardini Eines Tages stand Gardin bei uns vor der Tar. Damals wohnte ich noch bei meiner Mutterim Haus. Einen Wohnwagen gab es bis dahin noch nichtin unserem Garten. Gardini stand also da, mit seinem Auto und einem Wohnwagen dran.Im Rathaus hatten sie ihm von unserem groBen Grundstiickerzahit. Das Grundstiick war wildes Brach-Land. Da hatte ich ja auch noch nicht mit dem Gemusegarten angefangen. Gardini war auf der Suche nach einem Platz fir seinen Wohnwagen. Angeblich war er geschaftlich uunterwegs, in Sachen Schmuck. Aber ich sah sofort, dass er ein falscher Funfziger war: mit Angeber-Klamotten und mit Haaren, die im Nacken zu lang und voller Schuppen waren. Fuir zwei Wochen suchte er einen Abstell-Platz, natiirlich gegen Miete. Und wenn meine Mutter fir ihn kochen kénnte, wiirde er natirlich auch dafulr gerne bezahlen, Meine Mutter roch Geld, und das auch noch bar auf die Hand. Uns ging es finanziell nicht rosig. Wirnagten ganz schén am Hunger-Tuch. Und deshalb sagte meine Mutter ja Ich habe mich vor dem Typen furchtbar geekelt. Vor allem beim Essen. Er hat gefressen wie ein Schwein Nie hater sich die Hinde gewaschen, auch nicht » nach dem Klo, Aber dann packte ervoll mit seinen Pfoten in den Brotkorb. Die ganze Zeit sprach er mit vollem Mund und spuckte dabei feuchte kriimel durch die Gegend. Ich hielt immer mein Glas zu, damit nichts reinfiel. Es war hart, mit Gardini zusammen an einem Tisch 2u essen. Eines Tages sagte Gardini zu meiner Mutter: »Nennen Sie mich doch Jean, Madame Chazes. Alle meine Freunde nennen mich so:* Aber nur, wenn Sie mich auch Jaqueline nennen Germain, lass dein Glas los! Du fingstdirgleich eine!" Dann léichelte meine Mutter wieder zu Gardin, Ich sah genau, wo der hinsah, wenn meine Mutter aufstand, um Brot zu holen. Gardini sah ihr dann, hinterher wie ein ungliicklicher Hund, dem man den Fressnapf wegnimmt. Vor allem schielte er ‘meiner Mutter unter die Girtel-Linie. B Ich habe hibschen Schmuck aus meiner Pariser Fabrik mitgebracht’, sagte Gardini eines Tages zu meiner Mutter. ,Wollen Sie mal probieren?* Erst zierte sich meine Mutter. Aber dann lie8 sie sich von diesem Schleimer Halsketten umlegen. Dabei presste der Typ sich ganz eng von hinten an meine Mutter. Meine Mutter kicherte laut. Und er wurde rot und bekam eine komische Stimme. Plétzlich sagt meine Mutter zu mir: Germain, du musst doch sicher jetzt schnell in die Schule." Ich hdrte wohl nicht richtig, Seit wann interessierte sich meine Mutter fr meine Schule? Gardini hat sich schnell bei uns eingenistet. Zwischendurch fuhrerimmer mal geschaftlich weg. Er verkaufte Made-Schmuck auf Markten. Von wegen Pariser Juwelen! Meist lag er nur bei uns auf dem Sofa herum. Gardini kommandierte mich rum: ,Réum dein Zimmer auf! Deck den Tisch! Quatsch mich nicht voll! Geh schlafen! Erschnauzte auch meine Mutter an: ,Der Braten ist versalzen! Bring mir ein Bier! Wo bleibt mein Kaffee?" a Meine Mutter hatte ungefahr dieselbe Gestalt eich, naturlich weiblicher. Gardini reichte hr gerade bis zum Ohr. Was nicht viel ist, wenn man. den groBen Macker spielen will. Meine Mutter ist eigentlich eine gutmiltige Stute. Doch eines Abends passierte, was passieren musste. 1 Gardini hatte mir eine gescheuert. Meine Mutter hatte zwar keine mitterliche Ader, aber sie hatte einen sehr starken Sinn firihr Eigentum. Sie war die Einzige, die ihrem Sohn eine scheuern durfte. Und sonst keiner! »Du schlagst das Kind nicht!" sagte sie zu Gardini, sHalt’s Maul’ hat der Typ gebrilt. Wie bitte?" fragte meine Mutter bedrohlich. Was hast du gesagt?” Das hast du ganz genau verstanden’, sagte Gardini, 4Geh mir nicht auf den Sack! Ich will mirdas Spiel ansehen.” In dem Moment stand meine Mutter auf und machte den Fernseher aus. Der Typ brilite: ,Mach sofort die Kiste wieder ant Verdammte Scheie!" Nein! rief meine Mutter. 75 Gardini stand aut. Himmel Herrgott schrie er ,Du hast es so gewollt! Er ohrfeigte meine Mutter, links und rechts. Das war ein groBer Fehler. ‘Meine Mutter wurde bleich. Ohne ein Wort zu sagen, ging sie nach drauBen, Direkt in die Garage. Mit einer Heugabel in der Hand kam sie zurlick, Meine Mutter mit einer Heugabel in der Hand! Das war nichtzum Lachen. Sie zielte ihm damit auf den Bauch und sagte mit ruhiger Stimme: ,Du packst jetzt deine Sachen und haust ab!" Gardini spielte den starken Mann. Er ging auf meine Mutterzu, nach dem Motto: Hast du noch nicht genug? Willst du noch eine? In dem Moment stach meine Mutter zu. Zack! In den Oberschentel. Ein kr&ftiger, kurzer Sto8, Wie bei einem Stierkampf, Das Blut spritzte hervor. Gardini brillte: ,Verdammte Scheie! Bist du verriickt geworden? Meine Mutter sagte: ,Sieht wohl so aus. Ich zahle bis drei. Eins...” humpelte mit seinem Autoschllssel zur Tur, 76 Denk nach’, sagte er zu meiner Mutter. ,Wenn ich jetzt gehe, siehst du mich nie wieder!" wie." sagte meine Mutter. Jaqueline, ich verzeihe noch einmal versuchte es Gardini ' Aber meine Mutter richtete die Heugabel wieder aufihn. Diesmal zielte sie etwas héher als vorhin. Drei.’ Gardin rannte den Gartenweg runter. Schrie noch ein paar Mal Verdammte Scheie und fuhr dann mit dem Wagen weg. Der Wohnwagen waran dem Tag nicht angekoppelt. Und so blieb er auf unserem Grundstiick stehen. Ein paar Tage spater kam dann der Birgermeister zu unsins Haus. Sag mal, jackie.” Nachbarn und Bekannte nannten meine Mutter namlich Jackie. ,£in gewisser Gardini hat bei unsim Rathaus angerufen. Er will seinen Wohnwagen wiederhaben.” Meine Mutter antwortete: ,Dann soll er herkommen, Er wird gut empfangen.* Hast du dem Mann was vorzuwerfen, jackie? Dubist ein wenig feindselig. Er schldgt meinen jungen.” »S0!", meinte der Biirgermeister. Und mich." ACh!" sagte der Birgermeister. Und, willst du mirjetzt die Polizei auf den Hals. hetzen?",fragte meine Mutter. Warum denn?*,fragte der Burgermeister. Ou sagst doch, der Herr wird gut empfangen, wenn er kommt. Oder?” Das habe ich gesagt." Der Biirgermeister dachte kurz nach: ,Tja, dann ist eseine rein persénliche Angelegenheit und geht die Polizei nichtsan. Du hast jedes Recht, einen Freund gut zu empfangen.* ‘Aber dann fragte der Blirgermeister noch: Hast du zuféllig eine Heugabel, jackie?" nla" sagte meine Mutter. ,In der Garage: kann ich sie mir mal fiirzwei, drei Monate ausleihen?* Dannwarer gegangen. Mit der Heugabel in der Hand. Der Mistker! von Gardini hat Uber ein paar Wochen jeden Abend meine Mutter am Telefon bedroht. B Danach immer seltener. Und irgendwann gar nicht mehr. Die Nachbarinnen fragten meine Mutter: ,Was ‘machst du nur, Jackie, wenn er wiederkommt?" Meine Mutter antwortete: ,Nichts Gutes." Sie war, noch nie besonders redselig gewesen. 79 Der Auszug Erst war der Wohnwagen nur meine Spiel-Hitte, dann mein Liebesnest. Sehr praktisch. Aber dann habe ich eines Tages meinen Haupt-Wohnsitz daraus gemacht. Meine Mutter wurde mirimmer unertraglicher. Oberall sah sie nur Dreck-Spuren. Und sie ie sich hangen. Den ganzen Tag iber hat sie aus Zeitschriften Fotos von Film-Schauspielern ausgeschnitten und in unser Familien-Album eingeklebt. Sie Uberklebte meinen Onkel Georges oder meinen GroBvater einfach mit den Fotos von den Schauspielern, »Warum machst du das?" fragte ich meine Mutter. Weil ich seine Visage satt habe! Welche Visage?" Georges oder die von GroBvater?” Non beiden’, antwortete meine Mutter. ,Alles Drecks-Kerle! Mit 63 Jahren baute meine Mutter unglaublich ab. Sie sprach nur noch mit ihrer Katze und faselt dummes Zeug. Irgendwann war mir klar: Eltern sind daflir da, dass man sie so schnell wie méglich verlisst. 80 Ww Erst blieb ich noch bei meiner Mutter, weil sie gesundheitliche Probleme hatte. Vielleicht wirde ja dadurch das Haus bald frei werden. Aber eines Tages reichte es mir. Meine Mutter war alleine in der Kiche und schimpfte mit den Ameisen auf der Spille. Sie schimpfte, weil die Ameisen Dreck-Spuren hinterlassen widen, Da hat es mir gereicht. Soll sie doch krepieren, habe ich mir gesagt. Ich haue ab! Das war so, wie wenn man dringend pinkeln muss. Und danach kommt dann die groBe Erleichterung. Wenn man die Sache erledigt hat. So habe ich meine Mutter verlassen und bin in den Wohnwagen umgezogen. Abends in der Kneipe habe ich dann erzahit, dass ich endgiltig von zu Hause ausgezogen bin. Landremont sagte nur: ,£in Wunder! Du hast es geschafft!" »Wo willst du denn mit dem Wohnwagen hinfahren?’ fragte Julien. ,Wo willst du ihn abstellen?" -Wieso?" fragte ich, ,Der bli da, wo erist:* a Alle brachen in lautes Gelachter aus. Die haben es nicht kapiert. Der Abstand, der ist doch nur im Kopf. Das war doch nur eine symbolische Tat, dass ich an das andere Ende von dem Grundstiick gezogen war. Genau das hatte ich ihnen gerne gesagt, wenn ich as Wort symbolisch damals schon gekannt hatte. 82 Friihes Versprechen Zum Gilickist Margueritte in meinem Leben aufgetaucht. Mitihr kann ich iiberso viele Dinge reden, die mich bewegen. Und Margueritte verstent fast immer, was ich denke und meine. i Eines Tegesim Park list sie mir aus einem anderen Buch vor. Das Buch heiftFrishes Versprechen, Am ‘Anfang habe ich nicht viel verstanden. Oa ging es um Gétter und so. ‘Aber dann packt es mich doch. Der Held des Buches hat mit23 einen riesigen Wunsch. Er will zwar nicht kirchenfenster-Macher werden, aber Schrift-Steller. Istja auch nicht schlecht. Margueritte liest: sist nicht gut, wenn man so jung, so frith, so sehr geliebt wird .. Mit der ‘Mutterliebe macht dir das Leben in der friihesten Kindheit ein Versprechen, das es nie halt. Danach ist man gezwungen, bis an sein Lebens-Ende kalt 2u, essen." Der Held beschreibt also, dass seine Mutter ihn als. kind mitviel Liebe versorgt hat. Mit so viel Liebe, dass er spater nur enttauscht wurde. Denn keine ‘andere konnte ihn so lieben wie seine Mutter. 83 Und was ist’, frage ich Margu anders rum ist?* »Sie meinen, wenn man als Kind nicht geliebt wird, e, .wenn es Germain?* ola" Margueritte Uberlegt eine Weile. ,Ich glaube, dann bleibt das alles noch zu entdecken, in dem weiteren Leben.“ Und dann fragt sie mich: ,War Ihre Mutter streng mit Ihnen?" Ich kann der zarten Margueritte natiirlich nicht sagen, dass meine Mutter mich am liebsten weggemacht hatte. ,Meiner Mutter warich scheifegal." Margueritte ist traurig, dass ihre eigene Mutter nicht mehr lebt. Witzig, dass alte Leute auch. ‘Mutter haben, die sie vermissen. a Durch die Gesprache mit Marguerite kann ich meine Mutter inzwischen mit anderen Augen sehen. Nicht, dass ich sie lieben wiirde, Ubertreiben ‘muss man ja nicht gleich, Aber meine Muttertut mir irgendwie leid. So als Mensch, meine ich Wirhaben uns zwar viel angeschrien, also meist sie mich. Und wir haben mit der Faust gegen die Wainde gehauen, also meistich. 84, Aber trotzdem bleibt sie meine Mutter. Auch wenn es mir nicht passt. ‘Meine Mutter hat mich an den Hals gekriegt, so wie die Algerier die Pest. Ich bin ein Unfall, eine Panne. Sie hatte mich ja abeg, trotzdem lieben kénnen, oder? Wahrscheinlich ist es ein Gliick, dassich selber keine kinder habe, Was ware ich schon fiir ein Vater?! Ganz ohne Schul-Abschluss. Ein Typ, der mit 45 Jahren noch kein einziges Buch gelesen hat, auBer Die Pest von Camus. Ein armer Ker!, der nicht mal einen einzigen ansténdigen Satz bilden kann. Ohne schmutzige Wérter darin, Ich kénnte meinem Kind Schnitzen beibringen. Und Angeln. Aber ich wre kein gutes Vorbild. Ich kénnte es nicht richtig erziehen. Dabei wiinscht sich Annette so sehr ein Kind, und zwarvon mir. Manchmal nimmt sie im Bett meine Hand. Die legt sie dann an die Stelle unter ihrem Bauchnabel und flistert mir ins Ohr: »Machst du mirheute ein Kleines?" Wie sanft und warm sie sich dann an mich driickt, 85, Soweich wie ein Daunen-Kissen, Dann méchte ich ihr gleich ganz viele Kinder machen. Und ich bin mir sicher, ich wiirde sie alle lieben. Annette hatte einmal ein Kind. Besser gesagt, einen ‘Sdugling. Sie hat ihn verloren durch irgendeine bldde Krankheit. Annette redet nie dariiber. Ich kann mir vorstellen, wie es fuir eine Frau ist, wenn sie ein Baby verliert. Obwohl ich ein Mann bin. Annette ist seitdem voller Tranen und voller Liebe. Und sie wei nicht, wohin damit. Vielleicht ist sie deshalb so schén, 86 Die Mutter Meine Mutter ist das Gegenteil von Annette. Meine Mutter ist zh wie Leder und grob wie Schmirgel-Papier. Aber das Leben hat ihr auch nichts geschenkt. Als sie schwanger mit mir war, ist sie von zu Hause rausgeflogen. Und sie wurde als Hure beschimpft. Meine Mutter hat manchmal unseren Nachbarinnen von meiner Geburt erzahit: »Zehn Stunden musste ich leiden wie ein Tier. €r wollte einfach nicht rauskommen. Funfkilo, stellt ‘euch das mal vor! Das ist so viel, wie wenn ich zwei Liter Milch nehme, plus ein Paket Zucker, ein Paket Mehl, ein Pfund Butter und hier, noch die drei Zwiebeln dazu. Was fiir eine Quélerei! Zehn Pfund! Man musste ihn mit der Zange rausholen. Und mich dann wieder zusammenflicken. Deshalb ist fir mich ‘nach dem hier Schluss. Und was der einen kostet! Alle drei Monate neue Schuhe. Zehn Jahre ist er erst und hat schon Schuh-GréRe 40." Ich filhlte mich immer schuldig. Ich bekam immer zu groBe Schuhe, damit noch Platz zum Wachsen war. Die musste ich so lange tragen, bis sie viel zu klein waren. a7

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