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Phanomenologische Forschungen Phenomenological Studies Recherches Phénoménologiques Im Auftrage der Deutschen Gesellschaft fiir phinomenologische Forschung herausgegeben von KARL-HEINZ LEMBECK, KARL MERTENS UND ERNST WOLFGANG ORTH. unter Mitwirkung von, JULIA JONAS: Jahrgang 2012 FELIX MEINER VERLAG HAMBURG INHALT BEITRAGE Sebastian Luft: Von der mannigfaltigen Bedeutung der Reduktion nach Husserl. Reflexionen zur Grundbedeutung des zentralen Begriffs der transzendentalen Phiinomenologie Sylvain Camilleri: Husserl, Reinach et le probléme de l’attitude naturelle .. 31 Laszlé Tengelyi: Negative Dialektik als geistige Erfahrung ? Zu Adornos Auscinandersetzung mit Phinomenologie und Ontologie 47 Inga Rémer: Gibt es eine ,geistige Erfahrung* in der Phinomenologie? Zu Adornos Kritik an Husserl und Heidegger 07 David Amthor: Angemessenheit und Anmafung der Philosophie. Levinas’ friihe Auscinandersetzung mit Husserl und Heidegger . 87 Bernhard Stricker: Die ethische Bedeutung des Skeptizismus. Stanley Cavell und Emmanuel Lévinas 2.0.26... 0ec cece ee ee sees 127 Sonja Rinofner-Kreidl: Schamund Autonomie ......66.6.00.00000000+ 163 Felipe Leén: Shame and Selfhood Ernst Wolfgang Orth: Max Scheler und Ernst Cassirer, Wissensformen und symbolische Formen als kulturphinomenologische Perspektiven . BERICHTE Der Gabediskurs: in Uberblick (Katharina Bauer) 0.0.0... .c0cceeees 233 Husserl und die klassische deutsche Philosophie. Ein Tagungsbericht (Daniela Bandiera) . Zur Editionslage von Schelers Gesammelten Werken (Wolfbart Henckmann) David Amthor Angemessenheit und Anmafung der Philosophie Levinas’ frihe Auseinandersetzung mit Husserl und Heidegger Abstract Emmanuel Levinas’ earliest development of thought is presented here as a phenomenological endeavor, i.e. in its relation to Husserl and Heidegger as well as in its own effort to give an appropriate philosophical account of ,things themselves‘. The latter task is shown to have a teanscendental dimension as it is a self-awareness of conscious life in which the faithful analysis of concrete phenomena and the concept of this life itself have to be brought into attunement. ‘The perspective of Levinas’ phenomenological gaze is then presented in these terms and shows two fairly distinct stages. Up to the mid-1930s Levinas appears as a follower of Martin Heideg- ger, when he advocates an appropriate approach to being inall its richness and therefore critici- 2es Husser!’s alleged intellectualism. Later, with a radicalized perspective, Levinas’ own philo- sophical project advocates an appropriate account of the problem of radical alterity beyond experience and phenomenology. He therefore criticizes both Husserl and Heidegger and remo- dels phenomenology so that it can adequately understand’ radical aterity and at the same time confine itself before it. Emmanuel Levinas kam zum ersten Mal direkt mit den Protagonisten der Phino- menologie in Kontakt, als er 1928/29 in Freiburg studierte. Zu dieser Zeit war bereits klar ersichtlich, dass sich Edmund Husserls Hoffnung nicht erfiillen wiir- de, wonach die Phinomenologie cinen einheitlichen und sicheren Weg nach sei- ner Vorstellung einer strengen Wissenschaft nehmen sollte. Im Gegenteil diffe- renzierte sich die ,phinomenologische Bewegung' zunchmend und bis zu dem Punkt, an dem ihre Geschichte im Riickblick vor allem durch ,Husserl-Hiresi- en* bestimmt erscheint.! Diese bestanden nicht primar in Widerlegungen etwai ger orthodoxer Lehrinhalte Husserls, sondern zunichst in spezifischen Abwei- chungen hinsichtlich der grundlegenden, sachlichen und methodischen Ausrichtungen. Phinomenologische Konkurrenzprojekte erwuchsen dement- sprechend aufgrund von phinomenologischen Einstellungen mit einem spezifi- schen Geprige und einer eigenen methodischen Entfaltung. Dies begann freilich schon mit Husserls fritheren Schiilern, die dessen idealistische Tendenzen ab- lehnten; in Levinas’ Freiburger Studienzeit war es aber vor allem der Einfluss + So Paul Ricceur: Sur la phénoménologie. In: Esprit 21 (1951)-821-839, 836. Phinomenologische Forschungen 2012 -© Felix Meiner Verlag 2012 - ISSN 0342-8117 88. David Amthor Martin Heideggers, durch den sich eine neue, existenzial-phinomenologische Denkweise unter den Zeitgenossen etablierte.? Husserls prominente Forderung jedoch, sich in der eigenen Theoriebildung an den Gegebenheiten der Sachen selbst* zu orientieren und eine konkrete Arbeit an den Phinomenen zu leisten,> behielt bei aller Differenzierung einen zentralen programmatischen Stellen- wert4 Und vielmehr konnte sie hierbei auch gerade als zentraler Bezugspunkt dienen, auf den die Auseinandersetzungen zwischen Phanomenologen rekurrier- ten und von dem sie ihre Dynami erhielten. Dies ist an Levinas’ Beispiel zu zeigen. Sein Status in diesem Milieu ist zu- nichst derjenige eines Forschers und Kommentators. Vor allem seine Dissertati- on Théorie de intuition dans la phénoménologie de Husserl (1930) hat zum Ziel, das Denken Husserls als eine ylebende Philosophie“ zu prisentieren,? und so rug das Werk in besonderem Mafe dazu bei, die Phiinomenologie in Frankreich bekannt zu machen.* Gleichzeitig jedoch ist hierbei schon eine cigene Orientie- rung in Levinas’ Darstellung erkennbar, die hauptsichlich auf den Einfluss Hei- deggers zuriickgeht. Mit einer entsprechenden Kritik an Husserls , Intellektualis- mus“ und einem dezenten Lésungsvorschlag im Sinne Heideggers nahm Levinas daher auch aktiv Teil an einer phinomenologischen Diskussion dieser Zeit, Ein cigenes und originelles Konkurrenzprojekt im oben genannten Sinne~ in einer eigentiimlich anders gelagerten Abgrenzung von Husserl und Heideg- ger — ist frithestens ab der zweiten Hilfte der 1930er Jahre zu erkennen? und erreicht einen vorliufigen Hohepunkt mit den Schriften Vom Sein zum Seien- den (1947)* und Die Zeit und der Andere (1948) Die folgenden Erérterungen versuchen erstens, diese beiden Phasen deutlich herauszustellen und als Ausdruck einer frithen konsequenten Denkentwicklung, zu verstchen. Levinas’ Auseinandersetaung mit Husserl und Heidegger wird als, ? Levinas bemerkt diese Dreiteilung 1934. Vgl. Emmanuel Levinas: Phénoménologie. In: Revue philosophique de la France et de Pétranger 118 (1934). 414420. 414 f. > Vgl. zentral etwa Hua XXV, 60 f,; und Hua I1L/1, 41. + Val. Herbert Spiegelberg: The phenomenological movement. A historical introduction. Den Haag *1982.2, 715-717. + Levinas: Théoric de intuition dans la phénoménologie de Husserl. Paris °1970. 14, * Vgl. Emmanuel Levinas, Richard Kearney: Dialogue with Emmanuel Levinas. In: Ri- chard A. Cohen (Hg.): Face to face with Levinas. Albany 1986. 13~33.16£. 7 Vel. hierzu allgemein Adriaan Theodoor Peperzals: Phenomenology ~ ontology ~ meta- physics. Levinas’s perspective on Husserl and Heidegger. In: Man and world 16 (1983). 113— 127,113 f,, 123 £. vgl. auch Bettina Bergo: Ontology, transcendence, and immanence in Emma~ nuel Levinas’ philosophy. In: Research in phenomenology 35 (2005). 141-177. 144. * Levinas: Vom Sein zum Seienden, Ubers. Anna Maria Krewani, Wolfgang Nikolaus Kre- wani. Freiburg i.Br. 1997. Sofern vorhanden werden Levinas’ Werke in deutscher Ubersetzung angegeben, andernfalls in eigenen Ubersetzungen des {ranzsischen Originals. + Emmanuel Levinas: Die Zcit und der Andere. Ubers. Ludwig Wenzler. Hamburg °1995. Angemessenheit und Anma8ung der Philosophie 89 genuin phinomenologisch verstanden, d.h, vor allem mit Blick auf die Anforde- rung, theoretisch angemessen mit den in Frage stehenden Sach- bzw. Problembe- reichen umzugehen. Der zeitliche Fokus liegt hierbei auf Levinas’ Frihwerk vor dem Erscheinen von Totalitat und Unendlichkeit (1961), und doch sollte hieraus zumindest der Weg zu seiner Ethik verstandlich werden. Zweitens kann, indem Levinas als ein Fall der erwahnten Differenzierung innerhalb der Phinomenolo- gie betrachtet wird, bei Gelegenheit seines Beispiels auch methodologisch da- nach gefragt werden, wie cinerseits Kritik und andererseits Selbstrechtfertigung in der Phinomenologie funktionieren. Eine Grundlage fiir diese Erérverungen kann zunachst mit Levinas selbst erarbeitet werden, namlich indem seine anfing- liche Prisentation der phinomenologischen Methode im Hinblick darauf be- fragt wird, was deren Ziele und wichtigste Charakteristika sind.” Die Anmafung des Naturalismus und die Wahrheit der Phinomenologie Levinas’ fritheste Publikationen lassen keinen Zweifel dariiber aufkommen, dass er sich selbst mit Uberzeugung der Phinomenologie verbunden sieht. So be- merkt er etwa 1931 mit einigem Enthusiasmus, die Ausfihrung phinomenologi- scher Analysen werde ,2u einer Erneuerung der Philosophie fihren*:"" ,Die phanomenologische Methode will eine Welt zerstoren, die durch die naturalisti- schen Tendenzen unserer Zeit - die sicherlich ihr Recht, aber eben auch ihre Grenzen haben — verfalscht und ihrer Fille beraubt wurde*.!? Hiermit ist bereits ganz im Sinne Husserls ausgesprochen, dass es die Sache der Phinomenologie ist, sich gegen unangemessene Beurteilungen der Welt zu richten und ,zu den Sachen selbst’ in ciner unverstellten Weise zu gelangen. Dies fiihrt Levinas in seiner Dissertation in kleinschrittiger Weise vor, indem er Husserls Leistungen wiirdigt, die phinomenologische Methode allgemein so- '© Jaingst wurde dies bereits ganz ahnlich von James Dodd unternommen: James Dodd: The dignity of the mind". Levinas’s reading of Husserl. In: Levinas studies 5 (2010). 19-41 19, 22, In Dodd’s Fokus stehen hierbei ,five specific themes ...}: intentionality; self-evid- ence (Evidenz), sensation and sensibility; the ego and egoic life and finally, transcendental re~ duction and the question of Husserl’s idealism* (ebd. 22). Demgegeniiber steht im Zentrum der gegenwartigen Uberlegungen allcin und in offener Weise das Bernihen um einen angemes- senen theoretischen Zugang zur Welt, wovon ausgehend die Kernelemente der phiinomenolo- gischen Auseinandersetzung zwischen Levinas, Husserl und Heidegger sowie schliefilich auch eine Radikalisierung in Levinas’ Denken verstindlich werden sollen. i Emmanuel Levinas: Freiburg, Husserl und die Phinomenologie (1931). In: Ders: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. Ubers. Alwin Letzkus. Freiburg i.Br. 2006. 79-88. 85. ? Levinas: Freiburg. 86 90 David Amthor wie vor allem gegen den Naturalismus und seine psychologistischen Konsequen- zen etabliert zu haben.?? Wie im obigen Zitat bereits angedeutet ist, besteht der Fehler des Naturalismus sozusagen in einer philosophischen Anmafung: ,[I]n der Behauptung der Objektivitat der physikalischen Welt identifiziert der Nat- ralismus deren Existenz und deren Bedingungen mit der Existenz und den Bedin- gungen der Existenz im Allgemeinen. Und er vergisst, dass die Welt des Physi- kers, durch ihren eigentlichen Sinn, notwendig auf die ,subjektive’ Welt verweist, die man von der Realitat auszuschlieBen versucht als eine blofe Er- scheinung". Die Verfilschung der Welt besteht also in einem physikalischen Reduktionismus, indem der Naturalismus mit cinem allgemeinen ontologischen Gelrungsanspruch das Bild [image]*"> physikalischer Existenz an die Gesamt- heit des Seins herantrigt. Der ,subjektiven Welt‘ tue diese ,Naturalisierung*!* jedoch Unrecht, denn der ,eigentliche Sinn [sens intrinseque]* ihrer Phinomene ~ etwa des Schénen” oder der idealen Gegenstinde’* — bringe einen eigenen contologischen Geltungsanspruch mit sich, der dieser Riickfilhrung auf physikali- sche und kausale Verhiltnisse widerspreche.!? Die Aufgabe der Phinomenologie — und Husserls Leistung hierbei — bestcht jedoch nicht nur darin, dieses allgemeine Modell durch den Hinweis darauf zu widerlegen, dass es gegeniiber dem Eigenrecht subjektiver Phinomene unange- messen ist. Vielmehr ist damit gerade auch positiv die Aufgabe angezeigt, dem ,eigentlichen Sinn‘ verschiedener — und letztlich aller — Seinsbereiche theoretisch angemessen Rechnung zu tragen. Die Phinomenologic beansprucht hiermit ge- geniiber jeder weiteren philosophischen und wissenschaftlichen Reflexion cine vorrangige und grundlegende Bedeutung. Wie Levinas sehr detailliert entwickelt, ist hierfiir emtscheidend, dass Husserl die vormals abgewertete subjektive Welt‘ des Bewusstseins als die primire und eigentlich urspriingliche Sphire bestimmt, von der ausgehend das Projekt einer angemessenen Aufklirung der Seinsbereiche geleistet werden muss. Er betont in diesem Zusammenhang zum einen die absolute Seinsweise und zum anderen die intentionale Struktur des Bewusstseins bei Husserl. Als Strom einzelner unbe- © Vgl. bes. Levinas: Théorie de intuition. 18. 1 Ebd. 29: ,Mais en affirmant cette objectivieé du monde physique, le naturalisme identifie son existence et ses conditions avec l'existence et les conditions d’existence en général. Et il oublie que le monde du physicien, de par son sens intrinséque, renvoie nécessairement ce monde ,subjectif*, qu’on essaie d’exclure du réel en qualité de pure apparence*. % Ebd. 32. % Vgl.ebd. 32-35. v Vgl.ebd. 39f. 4 Dies steht im Kontext der Psychologismus-Kritik Husserls: Vgl. ebd. 35 £., 148 £. Vel. ebd. 39. % Vgl. ebd. 40, 167, 186 £; vgl. analog etwa Hua III/1, 22 f., 48. Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 9 zweifelbarer Erlebnisse ist es erstens nicht durch auBere Verhiiltnisse bedingt, sondern stellt ein unhintergehbares Faktum dar. Die tibrigen Seinsbereiche da- gegen verweisen zuriick auf das Bewusstsein, indem ihre Gegenstinde in den Erlebnissen des Bewusstseins als seiend erscheinen. Wie Levinas zweitens mit Verweis auf die Intentionalitat zeigt, steht dieser ,Primat des Bewusstseins*” dem Projekt einer angemessenen Ontologie nicht im Wege. Denn das Bewusst- sein ist in seinen Erlebnissen ,,Bewusstsein von“ etwas, die Gegenwart von Ge- genstinden macht also das Bewusstsein selbst aus. Bewusstscin bei Husserl meint also nicht ein zwar absolutes, doch isoliertes Subjekt, das zuniichst von Objekten bzw. Dingen an sich getrennt ware und dann mit ihnen in Kontakt zu kommen suchte, Umgekehrt ist hiermit auch nicht ein Subjekt gemeint, das sei- ne gegenwartigen Objekte im strengen Sinne enthielte und letztlich auf subjekti- ve Verhiltnisse reduzierte.* Vielmehr bezeichne Intentionalitit einen demgegen- tiber fundamentalen Prozess der Selbst-Transzendenz: ,Das Bewusstsein, fir Husserl, ist ein primarer Bereich, der allein ein Objekt’ und cin Subjekt* ermég- licht und verstandlich macht~ als bereits abgeleitete Bezeichnungen."* Diese Bestimmung des Bewusstseins als Bewusstseinsleben, das sich in Bezug auf Gegenstinde vollzicht, hat wegweisende Konsequenzen, wie Levinas in pointierter Weise festhalt. Durch cine ,, Transformation“ bzw. Revolution in den Begriffen der Wahrheit und des Seins sind diese im Bewusstseinsleben selbst ver~ ankert und dort innig verbunden2 Das Phinomen dieser Verbindung, das ,pri- mire Phinomen der Wahrheic*, findet Levinas mit Husserl in der ,Intuition* als ciner besonderen Form intentionalen Bewusstseins.” Wahrheit wird nicht erst sekundér hergestellt, sondern besteht schon primar in einer , wahrhaften adae- quatio rei et intellectus*, dh, in einer urspriinglichen und ,leibhaftigen' Prisenz von scienden Objekten im Bewusstseinsleben2* Intuition ist damit sowobl eine privilegierte als auch eine grundlegende Form dieses Lebens. Denn erstens sind nicht alle Erlebnisse von dieser Art, sondern ihnen kénnen auch ohne diese konkrete und leibhafte Prisenz Gegenstinde in 2 Vgl. insgesamt Levinas: Théorie de l’intuition. 54—57, 60. 2 Ebd. 62. 2 Ebd. 65. Dies gegen cinen Riickfall in cinen Berkeley’schen Idealismus: Vgl. ebd. 63, 68 f Ebd, 64: ,La conscience, pour Husserl, est un domaine premier qui rend seul possible et compréhensible un ,objet‘ et un ,sujet' — termes déji dérivés.* Vel. insgesamt ebd. 50, 68-73. % Vel. die Definitionen: ebd. 133, 138. » Ebd. 134 f, Husserl spricht ebenfalls von Intuition" (Hua III/1, 51, 169) oder von einer sintuitivefn] Erlebnisweise“ (ebd. 315), bevorzugt aber generell den Term ,originare Evidenc* (ebd. 318), um diesen Sachverhalt zu beschreiben. % Levinas: Théorie de l'intuition. 134 f vgl. auch prignant Levinas: Uber die ,.deen* von E. Husserl (1929). In: Ders.: Die Unvorhersehbarkeiten der Geschichte. 37—78. 71-73. ® 92 David Amthor abstrakter Weise gegeben sein.2* Deren Intentionen jedoch bewahren sich entwe- der durch eine intuitive Erfiillung, z.B. wenn etwas, das zuvor nur gedacht' pri- sent war, nun leibhaftig prasent ist; oder sie stellen sich im Widerstreit damit als ‘Tauschung heraus.2° Die Wahrheit der Intuition ist zweitens auch basaler Natur. Sie ist nicht etwa bedingt durch das Urteil, sondern das Urteilen selbst ist eben- falls cine Weise des intentionalen Bezugs auf die Welt und damit angewiesen auf die intuitive Erfillung und die leibhafte Gegebenheit der Gegenstinde2! Und drittens schlieBlich ist im gegenwartigen Zusammenhang besonders wichtig, dass diese originire Evidenz dariiber hinaus eine vielgestaltige Situation bezeich- net, die - wie Levinas und Husserl betonen ~ nicht auf theoretische Erkenntnis zu reduzieren ist, sondern in einem volleren Sinne auch nicht-theoretische Erleb- nisweisen einschlief. Mit dieser weiten Bestimmung des intuitiven Lebens hinge es dann auch zu- sammen, dass man auch von ,axiologischen und praktischen Wahrheiten* spre- chen kann,2? und dass hierin auch die seiende Welt in einem nun ungeschmiler- ten Reichtum erscheint: ,Es ist ein Leben der Handlung und des Gefiihls, des Willens und des asthetischen Urteils, des Interesses und des Desinteresses etc. Infolgedessen ist die Welt als Korrelat dieses Lebens gewiss Objekt theoreti- scher Betrachtung, aber auch gewollte, gefiihlte Welt, Welt der Handlung, der Schénheit und der Giite, der Hisslichkeit und der Bosheit. All diese Begriffe konstituieren in gleichem Mafte die Existenz der Welt, setzen deren ontologi- sche Strukturen in gleichem MaBe zusammen wie beispielsweise die rein theore- tischen Kategorien der Raumlichkeit. Hierin kommt eine der interessantesten Konsequenzen der Husserl’schen Einstellung zum Ausdruck.“3> ® Vel. hierzu Hua I, 92 £. 3 Vgl. Levinas: Théorie de |’intuition. 105 f., 110-114. 31 Vel ebd. 125 92 Ebd. 191;in Bezug auf Hua II1/1, 340,323. inas: Théorie de Vintuition. 75 ,Elle est une vied’action et de sentiment, de volonté et de jugement esthétique, dintérée et de désintéressement etc. Dés lors, le monde corrélatif de cette vie est, certes, objet de contemplation théorique, mais aussi monde voulu, sent, monde action, de beauré et de bonté, de laideur et de méchanceré. Toutes ces notions constituent dans la méme mesure Vexistence du monde, composent ses structures ontologiques dans la méme mesure que les catégories purement théoriques de spatialité, par exemple, La se révele une des conséquences les plus intéressantes de l’attitude husserlienne." ‘Angemessenheit und Anmagung der Philosophie % Phénomenologie als Selbstbesinnung des Bewusstseinslebens Man kénnte also die Wahrheit der Phinomenologie als cine ,gelebte Wahrheit‘ bezeichnen, in der das wahrhaft Seiende als Korrelat der Intuition erscheint und dabei seinen ,eigentlichen Sinn’ offenbart. Der Phiinomenologie kommt es nun 2u, diese urspriingliche Evidenz theoretisch angemessen zu beschreiben und zur Geltung zu bringea. Sie ist daher nach Husserl und Levinas eine ,,Selbstbesin- nung des Bewusstseinslebens“.* Dabei hat die phinomenologische Reflexion nicht nur das intuitive Leben zum Gegenstand, sondern auch sie selbst ist derart charakterisiere als ,intuitiver Blick, gerichtet auf das Leben in der ganzen Fille seiner konkreten Formen'.® Es geht also im Kern um eine evidente Analyse des intentionalen Lebens, d.h, um eine Untersuchung der verschiedenen Erlebnisse, in denen Gegenstinde und Seinscharaktere verschiedener Art fiir das Bewusst- sein gegeben sind, Hierzu bietet Levinas keine zusammenhingende methodolo- gische Erérterung, doch seine verschiedenen Bemerkungen lassen sich unter der gegenwartigen Fragestellung verbinden, sodass cine Stufenfolge entsteht, welche mit Husserls methodischer Vorstellung der Reduktion in Deckung zu bringen ist. Gleichzeitig wird hiermit deutlich, dass diese Einzelschritte des phinomeno- logischen Bemiihens um einen angemessenen theoretischen Zugang zur Welt ge~ rade eine transzendentalphilosophische Forschungsdimension mit sich bringen, die letztlich wieder auf den Begriff — und das Problem — des Bewusstseinslebens selbst fihre. Zuniichst ist natiitlich zu bemerken, dass die Phanomenologie ,Wesenswis- senschaft* sein soll.» Die ,eidetische Reduktion® stellt auch fiir Levinas den ~ersten Schritt zur phinomenologischen Einstellung* dar.” Zwar werden die zu analysierenden Erlebnisse mitsamt ihren Gegenstinden als je individuelle Phino- mene vorgefunden, jedoch werden sie im Hinblick auf ihr Wesen befragt. Vor allem bzgl. der Gegenstiinde macht Levinas deutlich, dass es sich hierbei um eine Riickfidhrung der Gegebenheiten auf das ihnen jeweils zugrunde liegende ,Prin- zip* handele.* Es bezeichnet und umfasst diejenigen Pridikate, die einen Seins- bereich und dessen Gegenstiinde ausmachen und die auch notwendig sind, damit ein Gegenstand als solcher tiberhaupt intuitiv gegeben sein kann. Ein materieller Gegenstand etwa wire nicht méglich, wenn er nicht eine riumliche Form besi- &e; ein Ton dagegen bendtigt eine Lautstirke, einen Klang, eine Tonbéhe usw.* Ebd. 186. % Ebd. 1996, % Vel. etwa Hua III/1, 6 156, 170, 172. » Levinas: Théorie de l'intuition. 170. »* Ebd. 159, 166, Vglebd. 159. 4 David Amthor Fiir Levinas sind diese Charaktere dann auch entsprechend die ,Bedingung der Méglichkeit des Objekts selbst“ Die phinomenologische Erforschung von Seinsbereichen fragt damit neben der Beschreibung von gegebenen Gegenstin- den gerade auch hinter die Tatsache ihrer Gegebenheit zuriick. Das erstrebte Wis~ sen um Gegenstinde ist demnach apriorisches Wissen mit einer ,ontologischen Dignitit“; und die philosophische Erkenntnis ist damit im weitesten Sine tran- szendentale Erkenntnis, die jedoch auf dieser Ebene noch nicht auf Formen der Subjektivitit abzielt, sondern eben auf objektive Prinzipien. Doch auch in engerem Sinne handelt es sich um transzendentale Erkenntnis, denn das Wesen der in Frage stchenden Gegenstinde ist nicht direkt und an sich erforschbar. Vielmehr erscheinen sie bekanntlich in Erlebnissen nach MaRgabe des oben erwahnten Primats des intentionalen Bewusstseins; ihre ,Existenz* ist nach Levinas ,die Weise, in der Bewusstsein seinem Objekt begegnet, oder die Rolle, die das Objektim konkreren Leben des Bewusstseins spielt*.? Gegenstin- de miissen also jeweils als im Bewusstscinsleben erlebt angeschen werden, um von dort ausgchend tberhaupt deren Wesen adiquat beschreiben zu kénnen. Das Wesen eines Tones etwa ist nur angemessen aufzukliren, wenn dieser als Ton baw. als Gegenstand eines Tonerlebnisses analysiert wird. Damit dient der Riickbezug auf das intuitive Leben als Rechtsquelle sowohl fiir die eigene phino- menologische Forschung als auch fiir die Kritik anderer ontologischer Ansitze. Hierfiir bietet Husserl das prominenteste Beispiel: ,durch die Erforschung des logischen Lebens, wo sich das eigentliche Sein des logischen Phanomens befin- det, bestitigt Husserl die Urspriinglichkeit dieses Phiinomens und dessen Unre- duzierbarkeit gegeniiber dem psychologischen Phinomen.“# Um also theore- tisch angemessen einen Gegenstand als dasjenige zu begreifen, was er wesentlich ist, muss beriicksichtigt werden, wie er im Bewusstsein urspriinglich und evi- dent gegeben ist. Dieser entscheidende Schritt ist es auch, der fiir Husserl die »phinomenologische Reduktion* charakterisiert und daher fiir die Erreichung der genuin phinomenologischen Einstellung notwendig ist.*5 In dieser Einstellung bleibt die Aufgabe der Angemessenheit jedoch weiter- hin bestehen. Denn was die Erlebnisse selbst sind und somit auch das wie der 40 Ebd. 164. 41 Ebd. 165. “2 Ebd. 189. Bzgl. der ,Neuheit* phinomenologischer Analysen vgl. ebd. 47; und 2ur Spezi- fik einer genuinen sphilosophischen Intuition" vel ebd. 1761, 217 ® Ebd. 147-151, hier 147: ,D'un cété, par Pétude de la vie logique, oi se trouve l'étre méme du phénoméne logique, Husser! affirme l’originalité de ce phénoméne, et son irréduc- tibilité par rapport au phénoméne psychologique. “4 Dies in Anlehnung an Levinas: Théorie de intuition, 188. ‘5 Vel. Hua I, 76 £3 und Hua III/1, 67—69. Vgl. auch Levinas: Théorie de l’intuition. 91 f 93. Vel. wiederum prignant Levinas: Uber die ,Ideen" von E. Husserl. 51 Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 95 Gegebenheit verschiedener Objekte ausmacht, ist nicht aus sich selbst heraus ver- stindlich, Dies ist nun die eigentliche Perspektive der phinomenologischen Selbstbesinnung des Bewusstseinslebens, als Analyse der intentionalen Erlebnis- se, und mithin als Analyse der intentionalen Prisenz ihrer Gegenstinde. Indem Levinas an dieser Stelle Husserls Begriffspaar von noesis und noema aufgreift,’ betont er, dass das Bewusstseinsleben als Konstitutionsprozess zu verstchen sei. In ihm wirken einerseits konstitutive, noetische Akte, indem sie gegenstindli- chen Sinn stiften und Gegenstinde in verschiedener Weise als bewusst-seiend setzen; andererseits erscheinen korrelativ Konstitutionsprodukte, die noemata, aus denen dana die jeweiligen Gegenstinde mit ihrem cigentlichen Sinn und ih- rer eigentlichen Seinsweise verstindlich werden. Der Welt und ihren verschiede- nen Seinsbereichen muss nun entsprechend begegnet werden: ,In der Reflexion betrachtet gibt sich das intentionale Objekt dort genau dafiir, dass ein Akt es denkt: Das begehrte Objekt zeigt sich hier ,als begehrt’, das gewollte Objekt ,als gewollt’, das imaginierte Objekt als imaginiert’, und in ihrer Bezichung zu den Akten des Lebens, des Begehrens, des Wollens, der Imagination.“*” Levinas ist hier in allgemeiner Ubereinstimmung mit Husserl, wenn er auf die zentrale Be- deutung der Konstitutionsprobleme hinweist,® und entsprechend darauf, dass noetisch-noematische Beschreibungen die gro&e Aufgabe der Phinomenolo- gie* darstellen.? Mit dieser Perspektive erhalt das Streben nach philosophischer Angemessenheit gegeniiber einzelnen Seinsbereichen in der Phinomenologie sei- ne finale Bestimmung. Sie fiihrt also nicht nur notwendig ,zuriick* auf deren in- tentionale, erlebnismiige Prisenz, sondern letztlich auf die Frage nach deren noctisch-noematischer Konstitution. Wie Husserl erklirt - und Levinas besti- tigt’*-, erscheinen mit diesem Schritt die ,im spezifischen Sinne transzendenta- len Probleme“,*' die phinomenologische Reduktion erweist sich hiermit also als transzendental-phinomenologische Reduktion, “ Vgl. hierzu allgemein Levinas: Théorie de Fintuition, 88-90, © Ebd. 187: ,Considéré par la réflexion, objet intentionnel s'y donne, précisément, pour ce que ’acte le pense: objet désiré s’y montre ,en tant que désiré’, objet voulu ,en tant que voulu’, l'objet imaging en cant qu’imaginé’, et dans leur rapport avec les actes de la vie, de désir, de volonté, d’imagination* + Vel. ebd. 184. Einschriinkend muss jedoch festgestellt werden, dass hierbei Husserl etwa ausfiibrlich auf das komplexe Zusammenwirken von Akten in der Konstitution entsprechend komplexer Korrelate eingeht, whrend es Levinas wichtiger ist, das Eigenrecht verschiedener Akte und damit die jeweils unterschiedliche Konstitution verschiedener Seinsbereiche zu beto~ nen (vgl. ebd. 73-76). In der Diskussion des Intellektualismusvorwurfs gegeniiber Huser] wird hicrauf 2uriick 2u kommen sein. © Ebd. 189. © Vel. ebd. 186. 1 Hua III/L, 196-199, hier 198. 9% David Amthor Wichtig ist jedoch, dass hiermit nicht ein gleichsam fester Boden fiir das Stre- ben nach Angemessenheit erreicht wird, wie es etwa der Rekurs vom Noema auf die Noesis des Bewusstseins suggerieren kénnte. Denn diese Akte sind selbst wiederum nicht an sich verstindlich, sie sind vielmehr ebenfalls nur in intentio- nalen Erlebnissen bewusst, und zudem immer nur aufklirbar in Bezug auf die von ihnen konstituierten Noemata, Husserl erklirt dies am Beispiel der Wahr- nehmung: ,jeder Komponemte, die die ,objektiv® gerichtete Beschreibung an dem Gegenstinde heraushebr, entspricht eine reelle Komponente der Wahrneh- mung: aber wohlgemerkt, nur soweit die Beschreibung sich getreu an den Ge- genstand hilt, so wie er in dieser Wahrnehmung selbst ,dasteht*. All diese noeti- schen Komponenten kénnen wir auch nur so bezeichnen, da® wir auf das noematische Objekt und seine Momente rekurrieren“.® Hierdurch wird insge- samt eine Wechselbeziiglichkeit von Noesis und Noema deutlich, die nicht nach einer Seite hin aufzulésen ist. Will also die phinomenologische Erforschung ver- schiedener Seinsbereiche deren Konstitution im Bewusstseinsleben angemessen Rechnung tragen, so kann sie sich nicht an einen selbstverstindlichen Mastab halten; sondern indem sie beim intuitiven Bewusstseinsleben ansetzt, muss sie notwendigerweise in einer gewissermafen offenen, zweigeteilten Fragerichtung, die Korrclation noematischer und noetischer Aspekte der Erlebnisse aufkliren, durch welche Gegenstinde gegeben sind. In dieser Form lisst sich das Wesen verschiedener Erlebnisse des Bewusstseins erforschen, und mithin auch die On- tologie verschiedener Seinsregionen zu einem gewissen Abschluss bringen. Dennoch: Die phiinomenologische Forschung bleibt hier nicht stehen und sie kann es auch nicht. Denn selbst nach der Wesenserforschung intentionaler Erleb- nisse bleibt immer noch offen, was das Leben des Bewusstseins als Ganzes aus- macht. Uber die regionale Konstitution hinausgehend steht letztlich das Be- wusstsein bzw. das ,transzendentale Leben* selbst in Frage,® das also insofern der Ursprung allen weltlichen Seins ist, als es die einzelnen Erlebnisse, Konstitu- tionsprozesse und damit auch das Eigenwesen der verschiedenen Seinsbereiche fundieren und integrieren kénnen muss. Hierbei ist auch zu beriicksichtigen, wie das Bewusstseinsleben selbst als zeitlicher Erlebnisstrom konstituiert ist, in~ wiefern es sich zur eigenen Selbsterkenntnis gegenwartig sein kann und, natiir- lich, wie sich in ihm der ganze Reichtum und die ganze Komplexitat der Welt konstituieren.# Es muss an dieser Stelle gleich erwahnt werden, dass Levinas hier bereits mit Heidegger die Erforschung des Bewusstseinslebens in Form ei- 3? Hua III/1, 227; vgl. hierzu weiterhin ebd. 229-232. 5 So im Zusammenhang der Leib-Seele-Problematik Levinas: Théorie de|'intution. 213. Vgl. Husserl diber die jallgemeinen Strukturen des reinen Bewusstseins* einerseits und dic ,funktionellen Probleme" andererseits: Hua III/1, 158-161, 196-199, Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 7 ner Fundamentalontologic im Auge hat.** In jedem Fall jedoch gelangt die tran- szendentale Forschung der Phianomenologie mit diesem Schritt zu ihrer vollen Entfaltung, und mithin die ,Selbstbesinnung* des Bewusstseinslebens zu einer Vervollstindigung. Die phinomenologische Reflexion ist damit nun im vollen Sinne ,,der Versuch, das Leben zu verstehen, und auf dieser Basis die Welt, das intentionale Objekt des Lebens“.* Fiir den gegenwartigen Zusammenhang ist es wichtig, festzuhalten, dass die- ses Konzept des Bewusstseinslebens vor allem in zweierlei Hinsicht methodi- sche Relevanz besitzt. Erstens stellt es vor diesem Hintergrund das Ziel der ge- samten Bemihung dar, philosophisch angemessen mit der Welt in ihrer ganzen Fille umzugehen. Im Aufstieg von der regionalen Konstitutionsforschung bleibt es dabei an diese gebunden, ist ttber konkrete Analysen zu rechtfertigen und muss im Einklang bleiben mit den regionalen Befunden. Dies ist umso wich- tiger, da es zweitens auch den Beginn der phinomenologischen Arbeit erst er- méglicht. Wie eingangs gezeigt wurde, betont Levinas, dass ,,die fundamentale Intuition der Husserl’schen Philosophie darin besteht, [...] den Begriff des Be- wusstseinslebens selbst zu transformieren“®” — mit den entsprechenden Folgen fiir die Begriffe des Seins, der Wahrheit und der Intuition selbst. Indem das Bewusstseinsleben zugleich am Beginn und am Ziel der phiino- menologischen Arbeit verortet ist, wird keine Paradoxie etabliert. Vielmehr wird damit ein zirkularer Prozess der Selbstrechtfertigung nahegelegt, in dem die allgemein in Anschlag gebrachte Grundlage der Forschung durch diese selbst eingeholt, expliziert und begriindet werden muss; oder aber sie wird kritisiert und revidiert, sollte sich zeigen, dass die konkreten Befunde der Phinomenolo- gie dem zuvor allgemein angesctzten Rahmen widersprechen. Vor allem mit Le- vinas ist damit bisher angedeutet und auch im Folgenden deutlich zu zeigen, dass das Konzept des Bewusstseinslebens in seinem universalen und fundamenta- len Anspruch — dem Naturalismus ahnlich (s. 0.) - ein ,,Bild“ aufstellt, das allge- meine Bestimmungen an die gesamte Sphare des Seienden und an die Phinome- nalitat der Phinomene selbst herantrigt. In der phanomenologischen Reduktion als Riickfiihrung auf das dergestalt bestimmte Bewusstscin ergibt sich also eben- falls die Gefahr eines Reduktionismus, d.h. die Gefahr der Anmaftung, die darin bestinde, einzelnen Seinsbereichen und deren Eigenwesen durch ein sachfrem- des Konzept Unrecht zu tun. Das Streben um philosophische Angemessenheit gegentiber der Welt erscheint also eingebunden in eine allgemeine Problematik — und Dynamik— der Bemiihung um Selbstrechtfertigung in der Phinomenologie. ® Vel. Levinas: Théorie de lintution. 187-189. 5 Ebd. 1994. % Ebd. 50. 98 David Amthor Es zeigt eine gewisse Offenheit nicht nur darin, dass es an die unauflosbare Kor- relation von Noesis und Noema verwiesen ist, sondern auch, indem es sich 2wi schen Bewnusstseinsbegriff und konkreten Phanomenen entfaltet, wo selbst die cigene Grundlage und der eigene Blick problematisch werden kénnen. Levinas methodologische Ausfiihrungen wurden bisher problemorientiert in cine eigene Ordnung gebracht und mit Husserl vereinbart, um zu skizzieren, was phinomenologische Arbeit idealerweise bedeuten und leisten soll. Auf die- ser Grundlage lisst sich Levinas’ Kritik an Husserl besser verstehen, d.h. inwie- fern Husserl sein cigenes, positives Ziel verfehle, in seiner Forschung ,nur den inneren Sinn des Lebens zu beriicksichtigen*.®* Nach Levinas liegt dies vor al- lem an Husserls Bewusstscinsbegriff am Beginn seiner Phanomenologie, denn seine Dissertation bemitht sich allgemein darum, zu zeigen, ,wie die Intuition, die er als Art des Philosophierens vorschligt, aus seiner Konzeption des Seins folgt“? In positiver Hinsicht wurde dies bereits dargelegt und Levinas dahinge- hend als Nachfolger Husserls prisentiert. In negativer Hinsicht ist dies ebenfalls zu verfolgen. Denn Levinas versucht nachzuweisen, dass Husserl trotz seiner Verdienste nicht nur Phinomene unangemessen beschreibt, sondern dass dieses Defizit primar in seinem Begriff des Seins bzw. des Bewusstseinslebens begriin- det ist. Dieser Begriff miisse im Sinne Heideggers reformuliert werden, um gleichzeitig den in Frage stehenden Problemen gerecht zu werden und eine insge- samt angemessene Grundlage und Methode fiir die Phinomenologie zu gewin- nen. Kritik des Intellektualismus 1930/32 Wihrend Levinas’ Wiirdigung Husserls den Charakter einer Einfiihrung in die Phinomenologie hat, ist die Kritik an dessen Philosophie eine genuin phiinome- nologische Auseinandersetzung. Aus ihr lisst sich erstens die angedeutete The- matik von Kritik und Rechtfertigung in der Phinomenologie niher verstchen, und zweitens lisst sich im Hintergrund ein phinomenologisches Konkurrenz~ projekt zumindest erahnen, Denn Levinas stellt Husserls problematischen Um- gang mit den Phinomenen lediglich aus einer bestimmten Perspektive kritisch heraus und deutet Lésungswege an, ohne jedoch seinerseits ausfiihrliche Be- schreibungen zu liefern. Jedenfalls wird deutlich, dass Levinas’ Perspektive zu dieser Zeit noch auf kein eigenes phanomenologisches Projekt hinfiihrt, sondern cher in einer Vermittlung der existenzialen Phinomenologie Heideggers besteht. 3 Ebd. 41. % Ebd. 13. Angemesseaheit und Anmafung der Philosophie 99 Das Problem der Husserl’schen Phinomenologic, gegen das Levinas den ,ei- gentlichen Sinn* der Phiinomene glaubt verteidigen zu miissen, ist vor allem der Intellektualismus: ,[D]er Begriff des Seins bleibt fiir ihn [Husserl] eng gebun- den an den Begriff der Theorie, an den Begriff des Wissens; und das trotz aller Elemente in seiner Lehre, die uns zu einem Begriff des Seins zu leiten scheinen, der reicher ist als die blo&e Prasenz eines Objekts fiir ein betrachtendes Bewusst- sein. [...] [F]ir diesen Philosophen haben wir in dem Mae Zugang zu einem Objekt als sciendes, wie wir es theoretisch erkennen.*® Hier klingt ex negativo diejenige frithe Grundmotivation an, die auch in Levinas’ Ablehnung eines phy- sikalischen Reduktionismus leitend ist, nimlich dem ontologischen Reichtum der Welt angemessen zu begegnen. Levinas betont, dass sein Vorwurf des Intel- lektualismus nicht bedeutet, dass man bei Husserl einen ,absoluten Logizis- mus" finde, der bereits das Wesen der Realitit auf theoretische Pridikate redu- zierte“! Im Gegenteil, Husserls flexibler Wesenshegriff, der nicht auf eine theoretische Formalisierung oder Idcalisierung abziele, wird von Levinas mehr- fach positiv hervorgehoben, denn er mache gerade eine Anerkennung,von nicht- exakten und nicht-theoretischen Pradikaten als Wesens- bzw. Seinscharaktere moglich.® Nach Levinas ist Husserls Intellektualismus auf einer tieferen Ebene verortet, auf der Ebene der intentionalen Prisenz und Konstitution der Welt, worauf sich deren eidetische Erforschung bekanntlich beziehen muss. Levinas betont ent sprechend haufig, dass nicht nur das Wesen verschiedener Seinsregionen je unter- schiedlich sei, sondern auch, dass deren Seinsweise je eigen sei, dass sie also in verschiedener Weise intuitiv gegeben scien. Zum Beispiel bestehe ,die Eigen- tiimlichkeit des gelicbten Objekts darin einer Intention der Liebe gege- ion, die nicht auf eine rein theoretische Vorstellung reduzierbar ist“; und etwa ein Buch als Gebrauchsgegenstand sei nicht primar cin wahrgenommener Gegenstand, sondern sein ,praktischer und niitzlicher Charakter* mache seine Gegebenheit aus. Nach Levinas ist hierbei Husserls Verstindnis von intuitiver Intentionalitit problematisch. Denn ,auch wenn In- tuition auf der einen Seite als ein sehr breiter Begriff erscheint, der keine Vorur- tile tiber die Seinsweise sciner Objekte trifft, darf man auf der anderen Seite ben zu sein, in einer Intent © Ebd. 192: ,[L]a notion de Vexistence reste, chez lui, étroitement lige & la notion de la gorie, a la notion de la connaissance. Et, cela, malgré tous les éléments de sa doctrine, qui nous semblent acheminer vers une notion de I’existence, plus riche que la présence devant une conscience qui contemple. (...] [C'est dans la mesure 03 nous connaissons théoriquement Vobjet, que, pour ce philosophe, nous avons accés a lui en tant qu’existant.~ 4 Ebd. 142. © Vel. ebd. 170-174, 218f. © Vel. z.B. ebd. 21 £64, 180-183; aber auch Husserl: Hua III/1, 176. Levinas; Théorie de intuition. 75. 100 David Amthor nicht vergessen, dass Incuition bei Husserl ein theoretischer Akt ist [...]. Denn keiner der Versuche Husserls, ia die Konstitution des Seins die Kategorien einzu- fuhren, die nicht vom theoretischen Leben kommen, fihrt dazu, den Primat oder die Universalitat der theoretischen Einstellung zu beseitigen. Die Charakte- re des Wertes, des Niitzlichen etc. kénnen nur existieren, sofern sie zur Existenz eines Seienden hinzukommen, das Korrelat einer Vorstellung ist.“ Mit der ,Konstitution des Seins" im Allgemeinen ist der Begriff des Bewusst- seins angesprochen, d.h. eine bestimmte Fassung des Begriffs hinsichtlich seiner konstitutiven Funktion, Levinas’ Kritik ziele also auf Husserls Konstitutions- theorie, die das intuitive Bewusstseinsleben auf cine Dominanz. der Theorie hin verenge und Gegenstinde aur in einer entsprechend theoretisch verengten oder berformten Seinsweise zur Geltung bringe. Hier ist fiir ihn entscheidend, dass Husserl seine Uberzeugung aus den Logischen Untersuchungen nicht ganz tiber- wunden habe, wonach die Vorstellung bzw. ,Reprisentation [représentation] die Grundlage aller Akte“ des Bewusstseins darstellt.6* Nach den Ideen J haben zwar nicht-theoretische noetische Akte ausdriicklich eine eigenrechtliche und urspriingliche Funktion in der Konstitution ihrer je entsprechenden Gegenstin- de und Scinsbereiche; neuartige Noemata des Wertens und der Praxis tragen da- mit zum ontologischen Reichtum der Welt in einer Weise bei, die nicht auf Theo- rie reduzierbar sei.‘ Dennoch finde diese Reduktion selbst jetzt noch statt, und vor allem in zweierlei Hinsicht. Denn erstens sei es bei Husserl trotz aller Konstitutionsleistung nicht-theore- tischer Akte vor allem einem objektivierenden Akt geschuldet, dass sich ein Ge- genstand im prignanten Sine konstituiert und damit gegeben ist.‘ Dieser sei mit der, Vorstellung" identifizierbar, dabei der ,Sphire der Behauptungen* ent- Iehnt und trage somit einen entsprechend theoretischen Charakter.* Der konsti- © Ebd. 141 f. ,si intuition se présente, d’une part, comme une notion trés large, qui ne préjuge en rien du mode d’existence de son objet il ne faut pas oublie, de Pautre, que Pintuition est, chez Husser!, un acte théorique [...]. Car toutes les tentatives de Husserl, pour introduire dans la constitution del'étre les catégories qui ne proviennent pas de la vie théorique, n’aboutis-~ sent pas a supprimer ce primar de Pattitude théorique, ni son universalité. Les caractéres de valeur, d’usuel etc., ne pourront avoir de Pexistence qu’en tant que greffés sur existence de Petre corrélatif de la représentation.* “ Auch zum Folgenden: ebd. 1413 vgl. auch ebd. 99, 221. © Vel. ebd. 98,190, Vg. ebd. 141 © Vel. insgesamt ebd. 93 f,, 97-100. Levinas ist nicht ganz konsistent bzw. verstindlich in seinem Gebrauch der entscheidenden Termini. So nennt er ein Konzept der Reprasentation in den Logischen Untersuchungen und in den Ideen I, und tberdies spricht er von einer these représentative (cbd. 141), einer ,thése théorique" (ebd.91) und der ,thése doxique™ (ebd. 192), ohne genau zu kliren, inwiefern dies alles genau in Bezichung steht bzw. identifi- ierbar ist. Mithin bleibt zu cinem gewissen Grade unklar, ob und inwieweit der objektivieren- Angemessenheit und AnmaBung der Philosophie 101 tuierte Gegenstand sei demnach im Kern sozusagen in einem Modus logischer Ausdriicklichkeit als ein vorgestellter gegeben, unabhingig davon, ob er durch nicht-theoretische Akte ein geliebter, gewollter oder gebrauchter Gegenstand ist. Levinas kritisiert dementsprechend, dass bei Husserl ,theoretische Objek- te gar smaterielle Dinge“”! oder — in Husserls Worten ~ cin theoretisches »Sachbewusstsein"” die Basis bildeten, um neue, darauf aufbauende, nicht-theo- retische Objekte zu konstituieren. Hinsichtlich dieser Objekte liege die Unange- messenheit der kritisierten Perspektive darin, dass die Eigentiimlichkeit des Scins dieser Wertobjekte etc. nicht vollkommen sui generis ist, solange in ihnen noch etwas von einem rohen Ding [chose brute] vorhanden ist*.? Diese Kritik betrifft also die Dominanz theoretisch objektivierender Akte und mithin eine Hierarchie unter den noetischen Akten in Husserls Konzept der Konstitution. Ein zweiter Kritikpunkt dagegen betrifft Husserls Vorstellung des Konstitu- tions- baw. des Aktvollzugs selbst, in der Levinas noch auf einer tieferen Ebene den ,Primat des theoretischen Bewusstseins" verankert sicht: ,Obwohl der Sinn der Existenz [...] gemi® der verschiedenen Kategorien von Objekten ver- schieden ist und obwohl sich jede derer in einer verschiedenen Weise im Leben konstituiert, ist in dem Akt, der die verschiedenen Objekte als seiend setzt, im- mer eine Setzung theoretischer Art enthalten, eine Setzung, die Husserl doxi- sche These nennt. [...] Diese doxische These ist das Element der Intentionalitit, das nach Husserl das Objekt als seiend denkt. Dank der doxischen These, die alle Akte des Bewusstseins einschlieRen, existieren deren Objekte- Werte, isthe- tische Objekte, niitzliche Objekte etc.“” Nicht-theoretische Intentionen brau- chen demmach also nicht nur eine Fundierung durch die Vorstellung, sondern enthalten auch selbst wesentlich eine doxische These. Sie kann entweder unvoll- zogen sein, oder aber sie setzt die entsprechenden noematischen Charaktere der nicht-theoretischen Intentionen als aktuell seiend, d.h. in einem Modus der de Aktund damit auch der Begriff des Objekts selbst trotz aller Fortschritte in den Ideen (vgl. ebd. 98 f, 190, 192) als per se intellektualistisch (vgl. ebd. 99, 141) anzusehen seien. Eine Kli- rung hinsichtlich des Begriffs des intentionalen Objekts, wie sie Levinas spiter vornimmt (s.u. ‘Anm. 120), ware hier niitzlich. Zum Einfluss Heideggers und Schelers in diesem Punkt vgl Peperzak: Phenomenology — ontology ~ metaphysics. 115~117. © Ebd. 191. ” Ebd. 184. ” Hua III/I, 266 f., 275. ® Levinas: Théorie de intuition. 223. ™ Ebd. 192: ,Bien que le sens de I’existence [...] soit différent selon les différentes catégo~ ries d'objets, bien que chacune d’elles se constitue d'une maniére différente dans la vie, ~ dans Vacte, qui pose comme existants ces différents objets, est toujours incluse une position d’ordre théorique, position que Husserl appelle these doxique. [...] Et, cette these doxique, qu’envelop- pent tous les actes de la conscience, que leurs objets - valeurs, objets esthétiques, objets usuels te. sont existants. 102 David Amthor Seinsgewissheit?> Dies sind fir Levinas reduktionistische - und gegeniiber nicht -theoretischen Gegenstinden sozusagen anmaitende~ Tendenzen, die Hus- serls Phinomenologie trotz all seiner grundlegenden Leistungen bei einer Intui- tion als ,,Anschauung [vision]“7 und in einer ,Theorie des Wissens [connais- sance]* verharren lassen, ohne zu einer gegeniiber allen Seinsbereichen angemessenen Ontologie zu fiihren.” Levinas geht in seiner Kritik allerdings noch weiter und damit tiber die tran- szendente bzw. objektiv gerichtete Intentionalitat hinaus, in der sich verschiede- ne Gegenstinde konkret konstituieren. Obwohl er nicht ausdriicklich auf das Konzept der immanenten Intentionalitat bei Husserl eingeht, durch die sich das Bewusstscinsleben selbst als Leben bzw. als zeitlicher Fluss konstituiert,? kriti- siert Levinas dieses ebenfalls in ahnlicher Hinsicht: Die theoretisch gefasste und als fundamental angesetzte ,Reprisentation (...] untergrabe die Geschichilich- keit des Bewusstseins und gibt der Intuition einen intellektualistischen Charak- ter.“7? In dieser Kiirze ist dies nicht leicht aus sich selbst heraus zu verstehen und wird im Folgenden mit Heidegger deutlicher. Im Kern geht es Levinas darum, dass Husserl - ,filschlicherweise" ~ die innere Konstitution des Bewusstseinsle- bens selbst als analog zur Konstitution der Welt betrachte. Das absolute Be- wusstsein stinde also nicht nur in seinen Erlebnissen der Welt als Konstitutions- produkt gegeniiber, sondern sogar seinem eigenen Leben als seiner eigenen Zeitlichkeit und Geschichte, und dies zumal in einem Modus der theoretischen Distanz. Entgegen dieser Trennung weist Levinas darauf hin, dass das Leben des Bewusstseins urspriinglich geschichtlich sei, dass das Bewusstsein je darin einge- bunden und dadurch bestimmt sei, und dass hierin auch seine Erlebnisse und die erlebte Welt verstindlich werden. Bei Husser! dagegen deutet sich fiir ihn eine »suprahistorische Einstellung der Theorie“ an,®" die sein Konzept des Bewusst- scinslebens im Allgemeinen kennzeichnet und damit auch die Intuition als Le- bensform von dieser geschichtlichen Einbindung befreit. Bezeichnenderweise kritisiert Levinas erst hieran anschlieSend Husserls Me- thode, d.h. seine Reduktion und seine philosophische Intuition. Letztere sci zwar gerade durch die Anwendung eines flexiblen Wesensbegriffs geeignet, phi- losophisches Wissen mit den verschiedensten Formen der Realitit in Verbin- 75 Vgl. hier2u auch Hua III/1, 270-272. % Levinas: Théorie de l'intuition. 134 f. 7” Ebd. 1926. 7 Vgl.ebd. 78. Ebd. 192: ,La représentation admise comme base de tous les actes de la conscience —voila ce qui compromet|’historicité de la conscience et confére, par conséquent, un caractere intellec~ tualiste a l'intuition* w Ebd. 213 f. " Ebd. 221, Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 103 dung zu bringen und damit den ,Bergson’schen Antagonismus zwischen Intel- lekt und Intuition* zu tberwinden.® Wie aus dem Vorherigen jedoch verstiind- lich ist, habe Bergsons philosophische Intuition demgegentiber den Vorteil, dass sie als Akt verstanden wird, in den ,alle lebendigen Krifte eingebunden sind* und der ,eine wichtige Rolle im Schicksal des Lebens* spielt.® Husserls Intuiti- on dagegen sei zwar ,eine Reflexion auf das Leben, betrachtet in seiner ganzen Fille und seinem ganzen konkreten Reichtum ~ aber dieses Leben, das man be- trachtet, lebt man nicht mehr. Eine theoretische Distanz zum eigenen, vollen Lebensvollzug kennzeichnet also nach Levinas nicht nur Husserls Begriff des Bewusstscinslebens, sondern auch die philosophische Methode als dessen intuit ve Selbstbesinnung, Die phinomenologische Reduktion als Weg, in diese reflexi- ve Einstellung sei schlieBlich entsprechend zu beurteilen. Sie werde bei Husser! nicht aus dem konkreten Leben bzw. Schicksal des Menschen erklirt, sondern in der ,Freiheit der Theorie“ verankert, die das Leben und die ,natirliche Einstel- lung des Menschen bei Husserl kennzcichne.!* Hierdurch und auf dieser Grundlage ist nach Levinas bereits der Beginn der phanomenologischen Arbeit geprigt, denn: , Die phinomenologische Reduktion hat kein anderes Ziel als uns unser wahrhaftes Selbst 2u vergegenwartigen, aber sie vergegenwartigt es einem rein theoretischen und kontemplativen Blick, der das Leben betrachtet, sich aber nicht mehr mit diesem verwechselt.* Hiermit deutet Levinas also an, inwiefern Husserls phinomenologischer Blick von Beginn an durch eine in Anschlag gebrachte Bestimmung des Bewusst- seinslebens geprigt ist und damitin einer intellektualistischen Anmafung gegen- liber nicht-theoretischen Seinsbereichen kulminiert. Gleichzeitig schliet sich damit sozusagen auch der Kreis, denn iiber diese Blickprigung wird auch nach- vollzichbar, inwiefern entsprechend ausgefiihrte Konstitutionsanalysen von do- xisch prisenten Phinomenen zuletzt ein Gesamtkonzept des Bewusstseinsle- bens stiitzen, das dergestalt akzentuiert ist. Was an diesem Konzept also in dieser Zeit problematisch erscheint, diirfte hinreichend deutlich geworden sein. Levi- nas bringt es auch explizit auf den Punkt, indem er schreibt: yes scheint uns, wenn wir dem Husser!’schen Idealismus nicht folgen diirfen, dann nicht weil er cin Idealismus ist, sondern insofern er Vorurteile trifft gegentiber der Seinsweise ® Ebd. 219; vgl. ebd. 170-173. ® Ebd. 203; vgl. ebd. 219. * Ebd. 203. ® Ebd. 222. % Ebd. 213: ,La réduction phénoménologique n'a d'autre but que de nous rendre présent notre moi véritable, mais a le rendre présent & une vue purement théorique et contemplative, qui considére la vie, mais ne se confond plus avec elle.* 104 David Amthor des Bewusstseins als Intentionalitit".” Es ist wichtig, dies festzubalten, um eine spitere Radikalisierung und eine zweite, eigene Phase in Levinas’ Denken zu verstehen, in der die Intentionalitit selbst und der Idealismus gleichermaen zum Problem werden. AuBerdem sieht man nun insgesamt und konkret, inwiefern das Streben nach philosophischer Angemessenheit gegeniiber der Realitét notwendigerweise auf cin Konzept des transzendentalen Bewusstseins bezogen ist, und dies in dynami- scher Weise. Nachdem Husserls Begriff des Bewusstscinslebens letztlich dem ,ei- gentlichen Sinn’ der kompletten Realitat nicht gerecht werde und diesen gar ver- zerre, deutet Levinas an, dass Heideggers Begriff des Daseins diesen Anspruch erfiillen kann, Bezeichnenderweise sci fir Husserl eine entsprechende Anpas- sung seines eigenen Bewusstseinskonzeptes dadurch moglich, dass er lediglich ~Respekt [...] gegeniiber dem eigentlichen Sinn der Phinomene“ zeigen®® bzw. den urspriinglichen ,intentionalen Charakter des praktischen und axiologischen Lebens® anerkennen miisse.!® Wie nun kurz skizziert werden soll, bietet Levi- nas’ Aufsatz ,Martin Heidegger et l'ontologie‘ (1932)” demgemaf’ die Lésung der Husser!’schen Defizite und kann als cigene Antwort auf die Problemformu- lierung der Dissertation gelten.” Gleichzeitig wird hieraus deutlich, aus welcher ® Ebd. 80: ,il nous semble que sil ne faut pas suivre Pidéalisme husserlien, ce n’est pas parce qu’il est idéalisme, mais dans la mesure oi il préjuge contre le mode d’exister de la consci- ence comme intentionalité.* % Ebd. 221. % Vgl. die suggestive und im Sinne Heideggers gestellte Frage, mit der Levinas’ Dissertati- on schliet, ebd. 223: ,Mais, la possibilité méme de dépasser cette difficulté ou fluctuation dans la pensée de Husserl, n'est elle pas donnée avec laffirmation du caracttre intentionnel de lavie pratique et axiologique?* % Im Folgenden wird die Originalfassung verwendet, die gegeniiber der Version in der Auf satzsammlung (Levinas: En découvrant Mexistence avec Husserl et Heidegger. Paris 2001) un- gektirze vorliegt: Levinas: Martin Heidegger et l'ontologie. In: Revue philosophique de la France ct de letranger 113 (1932). 395-431, % Um sicher zu gehen: Wihrend Levinas 1930 erklirt, dass nicht Husserls Idealismus das Problem sei, wird hier ~ ohne Husserl zu erwahnen ~ durchaus der s[dealismus* pauschal als Problem dargestellt (ebd. 397-399). Doch ist hiermit im Unterschied zur spateren, radikaleren Phase in Levinas’ Denken wohl vor allem ein traditioneller Begriff des Idealismus gemeint, der sich aus der Erkenntnisthcorie ergibt, der filschlicherweise die Bezichung von Subjekt und Objekt auf ,eine der iberzeitlichen Bezichungen [reduziert}, die wir in einer idealen Welt ken- nen* (ebd. 398), und der damit die Rolle der Zeit far die Ontologie vernachlassige. Wenn Hus- serl hierbei eine ahnliche Negativfolie abgibt, so liege dies vor allem an seiner ,ahistorischen* (and ,intellektualistischen) Philosophie und ihren entsprechenden Konsequenzen. Doch ei- gentlich als transzendentaler Idealismus wird sie erst spiter problematisch, wenn der ,Primat des Bewusstseins‘ als Intentionalicit selbst in Frage steht, der jedoch 1930/32 ~ mit Heidegger zcitlich verstanden — noch geeignet scheint, die Probleme traditioneller idealistischer Philoso- phie zu iiberwinden (s.0. Anm. 23-25). Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 105 Perspektive Levinas’ friiheste Kritik formuliert war und welche positive Vorstel- lung vom ,cigentlichen Sinn‘ der Phinomene ihr zugrunde lag.” Eine Problemlasung mit Heidegger Levinas prisentiert Heideggers Philosophie ebenfalls als eine Selbstbesinnung, doch das Konzept des Bewusstseinslebens wird hier als Existenz des Daseins verstanden. Im Riickgriff hierauf eréffnet sich fiir Levinas die Méglichkeit einer nicht-reduktionistischen philosophischen Betrachrung der Realitat, denn ,,das Scin, das sich dem Dasein offenbart, erscheint ihm nicht in der Form eines theo- retischen Begriffs, den es betrachter, sondern in einer innerlichen Spannung, in der Sorge, die das Dasein um seine eigene Existenz, hat. Und umgekehrt, diese Weise zu existieren [...] entspricht dem Verstindnis der Existenz durch das Da- sein. Wir verstehen nun besser als vorher, wie die Erforschung des Seinsverstind- nisses eine Ontologie des Daseins ist, eine Erforschung der Existenz des Daseins in all seiner konkreten Fiille.® Der intellektualistisch verengten Intuition bei Husserl steht bei Heidegger also ein vergleichbares Grundphinomen der Wahr- heit gegeniiber. Hierdurch erhilt das Dasein gegeniiber der Welt einen ebenfalls primiren, transzendentalen Status, denn in der Sorge bzw. im Seinsverstindnis als grundlegende Bestimmung der Existenz des Daseins offenbart sich die Reali- tit Doch geschicht dies in einer Weise, die unabhingig von einer theoretischen Vorstellung und von einer expliziten Gewissheit gedacht wird. Den Ansatz~ punkt einer Analytik des Dascins stelle vielmehr das ,In-der-Welt-Sein® dar, in dem sich das Seinsverstindnis und die Sorge des Daseins schon vor der theoreti- schen Stellungnahme vollzichen und aus dem folglich die nicht-theoretischen Phinomene in ihrer ganzen Urspriinglichkeit erscheinen sollen. Heidegger bringe diese phiinomenologisch zur Geltung und folge damit Hus- serls Anspruch, je unterschiedliche Arten der Intentionalitét in ihrem Eigen- recht ernst zu nehmen.® Praktische Gegenstinde haben ihren ,eigentlichen Sinn‘ nicht etwa in ihrer vorstellungsmiigen Vorhandenheit, sondern sind im Modus der ,Zuhandenheit* praktisch verstanden und gegeben als ,Zeug* in der prakti- ® Vgl. 2um Einfluss Heideggers: Levinas: Théorie de 'intuition. 14£. » Levinas: Martin Heidegger et Pontologie. 407 f. ,Précisément, létre qui se xévele au Da- scin, ne se révele pas sous forme de notion théorique qu'on contemple, mais dans une tension intérieure, dans un souci que prend le Dascin de son existence méme. Et, inversement, cette maniére d’exister [...] équivaut a la compréhension de existence par le Dascin. Nous compre- nnons maintenant mieux que tout & ’heure comment I’érude de la compréhension de V’écre est une ontologie du Dasein, une étude de existence du Dasein dans tout sa plénitude*. % Vel. Levinas: Martin Heidegger et l'ontologie. 413. % Vel.ebd. 406 ., 410. 106 David Amthor schen Sorge des Daseins um seine eigene Existenz: ,Axte, um Holz zu hacken, Hammer, um Eisen zu himmern, Hauser, um uns zu beherbergen, Griffe, um Tiiren zu Gffnen etc.“% Und gleichermaten werden auch Gefiihle derart be- schrieben, nicht als fundierte Intentionen, die einer theoretischen Grundlage be- diirfen und lediglich die zuunterst vorgestellte Wirklichkeit geftihlsmafig ,einfar- ben‘, sondern unabhingig davon als Arten der ,Befindlichkeit", in der das Dasein sein eigenes Sein in einer originiren Weise versteht.” Mit diesem Rekurs auf ein vor-theoretisches Seinsverstindnis bei Heidegger denkt Levinas, Hus- serls Anspruch einer angemessenen Analyse der Intentionalitat und mithin der in ihr gegebenen Seinsbereiche erfiillen zu kénnen. Wie gezcigt wurde, konvergiert in Levinas’ Kritik an Husserl der Vorwurf des Intellektualismus, der auf die regionalen Ontologien bezogen ist, mit dem Vor- wurf einer ,suprahistorischen‘ Vorstellung vom Bewusstscinsleben selbst. Levi- nas stellt dies bei Heidegger in einem positiven Zusammenhang dar: ,Es ist nun genau der Sinn dieser Zustinde, der Handhabung als Handhabung, der Affekti- itat als Affektivitat, von dem Heidegger aufbricht. Er bemerkt [...], dass die sogenannten Zustinde des Bewusstseins nicht einfache Washeiten sind, sondern Weisen zu existieren. Und dadurch erahnt er die Zeit in ihnen, die ihnen aber innig verbunden ist, die sich in ihnen, indem sie dieses oder jenes Wesen haben, findet und sie nicht einfach umgibt wie ein Rahmen, in dem sie ablaufen."°* Wih- rend also Husserls Reprisentationalismus einen Begriff des Bewusstseins stiitze, der ihm eine ,theoretische Freiheit' gegeniiber seinem eigenen Leben einriumt, gelange Heidegger tiber die Analyse nicht-theoretischer Erlebnisse zur Ge- schichtlichkeit des Daseins. Das praktische Leben bekundet dabei die fundamentale Eigenschaft des Da- seins, in der Sorge um seine Existenz iiber sich selbst und seine eigene Situation hinaus auf die eigenen Méglichkeiten des Daseins verstehend gerichtet zu sein. Dieser Charakter des ,Entwurfs' des eigenen Daseins kennzeichnet also dessen Existenz, d.h, dessen Leben und dessen Geschichtlichkeit. Auf der anderen Seite fiihrt dies jedoch nicht zu einer neuen Freiheit oder gar Willkiir gegeniiber der eigenen Geschichte. Denn die Befindlichkeiten des Daseins weisen ebenfalls auf seine Geschichtlichkeit als eine ticfere ,Quelle und notwendige Fundierung* vi % Ebd. 410. » Vgl.ebd. 407,416. ® Ebd. 424: ,Or, c'est précisément du sens de ces états, du maniement en tant que manie~ ment, de l'affectivité en tant qu’affectivieé que Heidegger part. Il s'apergoit [...] que les soi- disant états de la conscience ne sont pas de simple quiddités, mais de mode d’exister ~ et par lil devine le temps en eux, mais qui leur est intimement lig, qui se trouve en eux en tant qu’ils ont telle ou telle essence et non pas simplement qui les embrasse comme un cadre oU ils s’écou- lent.* Angemessenheit und AnmaSung der Philosophie 107 hin, jedoch auf den Aspekt der ,Geworfenheit“: Die Befindlichkeit ,erschlieft uns die Tatsache, dass das Dascin an seine Méglichkeiten gefesselt ist, dass sein Da’ sich ihm auferlegt, Im Existieren ist das Dasein immer schon inmitten sei- ner Méglichkeiven geworfen und nicht vor sie gesetzt.“” Hierdurch erhilt die Existenz des Daseins den Charakter der ,Faktizitix*, die Levinas besonders wichtig ist und dies auch spiter in modifiziertem Verstandnis bleibt. Entwurf und Geworfenheit sind also keine Widerspriiche, sondern sie konsti- tuieren das Bewusstseinsleben selbst als das ,,fundamentale Drama der menschli- chen Existenz*.!% Im Jahr 1932 geschicht dies fiir Levinas und mit Heidegger als cine eigene Weise des Daseins, ,sich 2u ,verzeitlichen’ [se ,temporaliser}*;!" und hierin wiederum ist das Erscheinen der Welt als Gegenstand der Sorge auf das Dasein bezogen. Trotzdem erhilt das Dasein darum nicht die gleiche Souverani- tit, die Levinas bei Husserl identifiziert, denn es ist eingebunden in das Drama seiner Existenz, zumal in einer Weise, die einer theoretischen Distanz 2uvor- kommt. Im Gegenteil, Levinas hebt gerade die ,,Endlichkeit* und die ,,Faktizi- tic“ des Daseins hervor, die in Heideggers Konzept des Bewusstseinslebens ent- scheidend sind, und die es maglich machen, Phiinomene angemessen in einer Riickfidhrung auf die wahrhaft konkrete Situation des Lebens zu begrcifen,'” ohne sie einem tiberzeitlichen Modell der Theorie 2u unterwerfen. Zwischenfazit Zum Zweck einer zumindest ansatzweisen Beurteilung der friihesten Oppositi- on, die Levinas in dieser Zeit mit Heidegger gegen Husserl einnimmt, sollen eini- ge Bemerkungen vorgebracht werden - auch um von hier aus wieder zurtickzu- kommen zur philosophischen Angemessenheit in der Phinomenologie. * Ebd. 417: ,Elle ition affective] nous révale le fait que le Dasein est rivé & ses possibilités, que son pose a lui. En existant le Dasein es d’ores et déja jeté an milien deses possibilités et non pas placé devant elles." 8 Vgl. cbd. 403; vgl. deutlicher ebd. 419 f, ‘1 Ebd, 405, Dies wird spiter im Aspect der Einsamkeit des Subjekts wichtig scin. Der einzi ge Beleg, der bereits im Text von 1932 in diese Richtung weisen konnte, ist folgender: ,{D]ans fe fait de Phomme, il est allé chercher non J'étranger"(...}, mais existence effective se compre- nant de par son effectivité.* Diese Aussage scheint jedoch in ihrer Kirze und angesichts ihres Kontextes nicht gewichtig genug, um bereits 1932 bei Levinas ein konsequentes Denken der Alteritit im sp’teren Sinne beginnen zu lassen. "2 Zur Reduktion bei Heidegger und deren Vergleich zur Methode Husserls vgl. Rudolf Bernet: Phenomenological reduction and the double life of the subject. In: Theodore J. Kisiel, J. van Buren (Hg): Reading Heidegger from the start. Essays in his earliest thought. Albany 1994, 245-267. 245-248, 263-267. bi 108 Dayid Amthor Im Allgemeinen scheint fiir Levinas’ Intellektualismus-Kritik entscheidend zu sein, wie , Theorie” zu verstehen ist. Zuniichst ist Levinas’ suggestiv kritische und gegen Husserl gerichtete Frage, ob ,uunsere hauptsiichliche Einstellung zur Realitit diejenige der theoretischen Betrachtung" sei,"® auch mit Husserl selbst zu verneinen, denn er unterscheidet Akte und Einstellungen. Der entsprechen- den Behauptung lige cine direkte Folgerung zugrunde von der Vorstellung als Akt der Wahenehmung hin zur theoretischen Betrachtung als ganze Einstellung cines Subjekts. Dagegen jedoch wird etwa in den /deen 17 deutlich, dass Husserl von einer ,vielfachen Verflechtung“ und einer wechselhaften Dominanz-von Ak- ten innerhalb verschiedener Einstellungen ausgeht.% Selbst wenn man also die notwendige Fundierung des Bewusstseins in der Vorstellung annimmt, wird da- durch der Beitrag von nicht-theoretischen Intentionen zu verschiedenen, auch nicht-theoretischen Einstellungen nicht betroffen und die ,natiirliche Einstel- lung‘ keinesfalls auf Theorie im strengen Sinne eines ,forschenden Betrachtens™ reduziert. Dorion Cairns, der 1932 im Auftrag Husserls und mit dessen Zusam- menarbeit eine kritische Beurteilung zu Levinas’ Dissertation verfasste, bemerkt vielmehr, dass umgekehrt die theoretische Einstellung ihrerseits praktische und axiologische Aspekte integriert: ,, Theoretisches Leben ist fiir Husserl eine beson- dere Form der Praxis ~ ihr praktisches ‘Telos ist richtige Seinsbestimmung, wah- res Sein, Im theoretischen Leben sind wir niche passiv sondern strebend, wol- lend, verwirklichend auf wahres Sein als Ziel gerichtet, Dass nicht alles Leben in diesem Sinn theoretisch ist, ist offensichtlich.“!* Hicrmit befindet man sich jedoch noch auf der Oberflache des Problems, un- ter welcher bekanntlich auch tiefer ziclende Begriffe der Theorie angesprochen sind. Husserl bezeichnet etwa die natiirliche Einstellung durchaus als ,,theore- tisch*, jedoch im Sinne einer ,urspriingliche{n] Einstelhing*.' Hierhin gehé zunichst Levinas’ Kritik an einem fundamentalen Bewusstsein ,bloBer Sachen* bei Husser|, die also nicht mit dem Hinweis auf cine Verflechtung noematischer Charaktere in der Konstitution von Gegenstinden zu widerlegen ist. Doch es lisst sich hier immer noch fragen, inwiefern diese Sachen‘ theoretisch sind. In den Iden I sind sie fiir Husserl in der Tat theoretische Objekte. Sie erscheinen xunichst als Korrelat eines Aktes, der nur objektivierend* ist - bezeichnender- 1 Levinas: Théorie de l'intuition. 174, 10 Vgl. Hua lV, 11-13; vgl. auch knapp Hua ILI/1, 283. #8 Dorion Cairns, Nicolas Monseu: Observations sur La Théorie de l’Intuition dens la Phé- noménologie de Husserl de Levinas. Peut-elle servir d’introduction a la Phénoménologie? Int Alter. Revue de Phénoménologie 15 (2007). 339-354. 352. Erst hier wurde die Rezension aus dem Bestand des Husserl-Archivs Léwen verdffentlicht. Aus den editorischen Anmerkungen lisst sich ersehen, dass das Zitat auf eine Bemerkung Husserls zurtickgeht (s. Anm. 24. 27)-1n ahnlicher Hinsicht vgl. Hua IV, 26 f. 1% Hua III/1, 10 Angemessenhcit und AnmaBung der Philosophie 199 weise mit der Bemerkung: ,wenn das iiberhaupt méglich ist“ ="°” und daher ohne fundierte praktische und axiologische Pridikate. Dennoch sind blofe Sa- chen damit noch nicht notwendig Gegenstand des Wissens oder der Wahrneh- mung, sondern vielmehr erscheint ihr theoretischer Charakter variabel zu sein. Einerseits sind sie namlich durchaus etwa die Gegenstinde der Naturwissen- schaften,! andererseits jedoch auch die Gegenstinde eines sehr basalen Be- wusstseins: ,.1m blofi sinnlichen Anschanen, dem unterster Stufe lebend, es theo- retisch vollzichend, haben wir eine blofle Sache in der schlichtesten Weise theoretisch erfasst.“! Mit Bezug auf diese sehr schlichten Gegenstinde der Sinn- lichkeit, die Husserl auch ,Urgegenstinde* nennt,"® kann maa kaum davon sprechen, dass Husserl nicht-theoretische Gegenstandspridikate als in der Wahr- nehmung oder gar in einem Wissen fundiert ansche. Vielmehr erscheinen sie als zumindest prinzipiell nicht-intellektualistische Basis, auf der weitere theoreti- sche und nicht-theoretische Intentionen Gegenstinde mit weiteren noemati- schen ,Schichten* konstituieren. Diese Sinnlichkeit und auch die weiteren Inten- tionen mitsamt ihren cigentiimlichen Konstitutionsleistungen waren natiirlich wiederum fiir eine angemessene Beschreibung aufzuklren. Was nun den Vollzug der Konstitution und die Rolle der doxischen These hier in angeht, so lasst sich Husser] nicht in der gleichen Weise verteidigen. Vielmehr zeigt sich hier eine unterschiedliche Weise, das Leben des Bewusstseins und da- mit auch die Phinomenalitit der Phinomene zu verstehen. Cairns erklart deut- lich gegentiber Levinas, dass die Doxa ihre Rolle iiberall [spielt], indem wir Sciendes tiberall erleben, d.h. indem wir iberall glauben. Auch ist es wahr, dass wir Seinsgewissheit erleben, auch wenn wir [...] nicht theoretische Ziele erstre- ben." Die Urdoxa kann natiirlich wiederum nicht mit einem theoretischen 17 Hua IV, 16. ‘ot Vel. Hua IV, 246, © HualV, 9. No Hua IV, 17. In dieser Hinsicht ist es auch verstindlich, dass Cairns gegeniiber Levinas bemerkt, es handle sich hier nicht um Theorie im vollen Sinne als werkennende Anschauung", sondern um ,urspriingliche Konstitution". Vgl. Cairns, Monseu: Observations. 3505 vgl. auch Hua III/1, 250. iY Vgl, andeutungsweise etwa Hua IIT/1, 192-194; Hua IV, 8-11, 19, 21-24. Vgl. z.B. auch ebd. 9: Wir bemericen, daf die allgemein-originale Wertbeurteilung, allgemein gesprochen, da jedes ein Wertobjekt als solches origina konstituierende Bewn(itsein notwendig eine Kom- Ponente in sich hat, die dex Gemiitssphare angehort. Die urspriinglichste Wertkonstitution voll- zieht sich im Gemiit als jene vortheoretische (in einem weiten Wortsinne) genieflende Hingabe des filhlenden Ichsubjektes, fir die ich den Ausdruck Wertnehmung schon vor Jahrzehnten in Vorlesungen verwendet habe,“ Zu Husserls Bemiihungen und den entsprechenden Problemen in dieser Hinsicht, aber auch zum Vorwurf des Intellektualismus vel. Ullrich Melle: Objekt rende und nicht-objektivierende Akte. In: Samuel Ijsseling (Hg,): Husserl-Ausgabe und Hus- serl-Forschung. Dordrecht: Kluwer 190. 35-49. “2 Cairns, Monseu: Observations. 352. 110 David Amthor ‘Akt oder gar einer theoretischen Einstellung identifiziert werden. Dennoch, der Modus des Glaubens baw. der Gewissheit ist fiir Husserl ein fundamentaler As- pekt des intentionalen Bewusstseinslebens und dessen ,gelebter Wahrheit* selbst," wahrend sich fiir Heidegger bzw. Levinas das Seinsverstindnis nicht derart explizit vollzieht. AuBerhalb dieses doxischen Aktvollzugs gibt es fiir Husserl lediglich ,Aktregungen*, in denen das Ich nicht als ,vollziehendes Sub- jeke* aktiv lebt;! und korrelativ gibt es hier lediglich Gegenstande in einem un- cigentlichen Sine, die nicht als seiend gesetzt sind. Fiir Levinas dagegen ware dies eine kiinstliche und gleichsam zu hoch zielende Unterscheidung: Die Aktre- gungen auBerhalb der doxischen Ausdriicklichkeit miissten ebenfalls dem Le- ben zugerechnet werden, und ihre Gegenstinde dem Sein. Zwei verschiedene phinomenologische Perspektiven deuten sich hier an, nach denen sich die Selbstbesinnung des Bewusstseinslebens jewcils unterschied- lich vollzieht. Im Riickblick auf die oben skizzierte Offenheit des phinomenolo- gischen Strebens nach Angemessenheit kann man sich dies verstandlich machen. Mit Heidegger, der als gecigneter Vermittler der Husserl’schen Phinomenologie prisentiert wird, trite Levinas bereits in eine folgenreiche Ausgangsdifferenz 71 Husserl. Seine Ausfidhrungen dokumentieren bisweilen auf subtile Weise," dass er bereits cine von Husserl abweichende Vorstellung vom Leben des Bewusst- seins im Allgemeinen hat, und d.h. auch davon, wie ihm iberhaupt Seiendes er- scheint und wie es dabei allgemein bestimmt ist. Im Streben um die angemessene Auslegung dieser Prisenz bertragt sich diese Blickpragung auch auf die Konsti- tutionsforschung, Levinas scheint mit Heidegger auf andere, vor allem nicht- theoretische Aspekte der Realitit aufmerksam geworden zu sein, die er bei Hus- serl nicht ausreichend und in ihrer Urspriinglichkeit respektiert sieht. Diese wi- dersprechen in dieser Zeit nicht der Idee einer transzendentalen Konstitution, sondern fordern gerade, sie als Noemata in ihrem Eigenrecht ernst zu nehmen, und zwar korrelativ zu den entsprechenden nicht-theoretischen Noesen des Be- wusstseins und fundiert in dessen konkretem Leben.!'¢ Damit wird letztlich in konstitutionstheoretischer Perspektive cin Gesamtkonzept des transzendenta- len Lebens angestrebt, das wiederum die zuvor in Anschlag gebrachte allgemei- 3 Vgl. Hua IUI/1, 270: Nach Husserl habe die ,Bevorzugung dieser speziellen doxischen Setzungen ihr tiefes Fundament in den Sachen*. 1i¢ Allgemein zentral: Hua III/1, 262-265, hier 263. 3 Vgl. etwa die Rede von , l'homme véritablement concret" (ebd. 209, 221), die auch Cairns und Husserl diskutieren. Vgl. Cairns, Monseu: Observations. 252 f. ie Bine Wendung gegen die ,Husserlian logic of the noema“ und gegen dessen Ideslisnmus, wie sie Drabinski bereits in Levinas’ Dissertation identifiziert, scheint mir dementsprechend erst spiter greifbar zu sein. Vgl. Drabinski: Sensibility and singularity. 32 39-41 Angemessenheit und AnmaBung der Philosophie il ne Vorstellung explizit machen und damit auch den ,eigentlichen Sinn‘ aller Pha- nomene umgreifen soll. Vor diesem Hintergrund ist es nachvollziehbar, dass sich sowohl Husserl als auch Levinas durch den cigentlichen Sinn‘ der Phiinomene bestitigt sehen, dass sie ihren eigenen philosophischen Zugang zu diesen als angemessen betrachten und je andere Vorgehensweisen als unangemessen kritisieren. Levinas wirft Hus- serl vor, doch letztlich einer Erkenntnistheorie verhaftet zu bleiben, und pli- diert fiir eine Ontologie des Daseins, die im Streben um eine angemessene Be- schreibung der Realitit in ihrem vollen Reichtum auch deren theoriefremdem Charakter und einer entsprechenden Ungewissheit Rechnung tragen muss. Hier- zu und dagegen betonen Husserl und Cairns, dass an erster Stelle die Bemiihung, um cine sichere Methode der philosophischen Intuition stehen miisse, um Ange- messenheit zu erreichen, d.h. um auf einem sicheren, evidenten Grund zu blei- ben und nicht die gerechtfertigte Reichweite der eigenen Untersuchung zu iiber- schreiten, In der gleichen Intention lehnt Husserl etwa auch den methodischen Rekurs auf cin ,Evidenzgefiihl" ab,"”” und auch seine énoy kann im Zusammen- hang dieses Zwecks verstanden werden, da sie den Weg der Phinomenologie ab- sichert gegen Einfliisse einer naiven, natiirlichen Einstellung."* Dementspre- chend wiirde Husserl Levinas wohl vorwerfen, in der Abkchr von doxisch bewussten Phinomenen die Grenzen ciner evidenten Phinomenbeschreibung zu tiberschreiten; und er hat der existenzialen Phanomenologie bekanntlich vor- geworfen, dass sie wieder in einen ,Psychologismus" oder ,transzendentalen Anthropologismus* zuriickfalle.? Im Riickblick lasst sich an dieser Stelle festhalten, dass die philosophische An- gemessenheit als Ziel der Phinomenologie einen Kern der Auseinandersetzung bildet. Sie ist dabei jedoch nicht zwischen diesen beiden Perspektiven vermittel- bar, sondern vielmehr scheint ihre konkrete Bestimmung bereits an die einzel- nen Perspektiven gebunden. Diese haben je eigen akzentuierte Vorstellungen von den in Frage stchenden Phinomenen, und folglich auch davon, was es heift, 7 Hua ILI/1, 46 f. i Vgl. Hua III/1, 129-134. 4 Zentral: Hua V, 139 £3 vgl. auch Husserls Vortrag ,Phinomenologie und Anthropologie’ (1931), in dem er existenzialistische Tendenzen der Phinomenologie kritisch kommentiert, was jedoch Heideggers Begriff des In-der-Welt-Seins nicht gerecht wird: Hua XXVII, 164, 168-170, 179 f; vgl. auch Cairns, Monseu: Observations. 352; und, méglicherweise auf dieser Basis, Edmund Husserl: Briefwechsel. Band VI. Philosophenbriefe. Hg- Elisabeth Schuh- mann, Karl Schuhmann. Dordrecht 1994. 458. Husserl bemerkt hier auch, dass die tbrige sphinomenologische Bewegung* blind sei fir die Notwendigkeit, in den konkreten Analysen zur ,transcendentalen Subjektivitat™ 2uriick zu gehen. Dass Heidegger bzw. Levinas dies tun, jedoch gerade den Begriff der Subjektivitit modifizieren, sollte als zentraler Punkt aus dem ‘Vorangegangenen deutlich geworden sein und auch im Folgenden weiter ausgefiihrt werden, 112 David Amthor mit ihnen angemessen umzugehen. Uber die Erfiillung des eigenen Anspruchs befindet also das phinomenologische Projekt selbst, und zwar nicht aufgrund von extern vorausgesetzten Kriterien, sondern immanent und voraussetzungslos im Hinblick auf die ,gelebte Wahrheit’ des Bewusstseinslebens. Damit ist das Streben nach philosophischer Angemessenheit 2unichst und vor allem eine An- gelegenheit der eigenen Selbstrechtfertigung, in der sich ein phinomenologi- sches Projekt entfaltet und wobei es in Konkurrenz tritt zu anderen phiinomeno- logischen Ansitzen, Wurde dies bisher vor allem an Levinas’ fridhester Nachfolge Heideggers deutlich, so ist dies ebenfalls und in ganz ahnlicher Weise an dessen Entwicklung eines eigenen Projekts 2u zeigen, in dem ein anderer Pro- blembereich leitend ist. Kritik des Idealismus und der Phanomenologie Der Perspektivenwechsel findet bei Levinas im Verlauf der 1930er Jahre statt, am deutlichsten tritt er dann zunichst in Bezug auf Husserl 1940 im Aufsatz »L’ceuvre d’Edmond Husserl‘ hervor, Zu Husserls Philosophie findet sich hier das auffallige Urteil: ,,Vielleicht ware es ungerecht, sie als Intellektualismus zu bezeichnen. Der Vorrang, der dem Begriff des Sinns tiber den Begriff des Ob- jekts zugesprochen wird, um das Denken zu charakterisieren, verbietet uns das. Die Intention eines Verlangens, die Intention eines Gefiihls — als Verlangen oder Gefiihl — bergen in sich einen urspriinglichen Sinn, der nicht im engen Wortsin- ne objektiv ist. Es ist Husserl, der in die Philosophie diese Idee eingefihrt hat, dass der Gedanke einen Sinn haben kann, [dass er] selbst auf etwas zielen kann, wenn es absolut unbestimmt ist, eine Quasi-Abwesenheit des Objekts; und man kennt die Rolle, die diese Idee in der Phanomenologie Schelers und Heideggers gespiclt hat.“19 Mit dieser zuriickhaltenden und konzilianten Beurteilung Hus- serls, die so auch in spiterer Zeit verschiedentlich wiederkehrt, wird also der "© Levinas: L'ceuvre d’Edmond Husserl. In: Ders: En découvrant l’existence avec Husser! et Heidegger. Paris '2001. 7-52, 23 f.: Il serait peut-étre injuste de la qualifier d’intellectua- lisme. La primauté accordée & la notion du sens par rapport a la notion d’objet pour caractéri- ser la pensée nous I'interdit. L’intention dun désir, d'un sentiment — en tant que désir ou senti- ment ~recelent un sens original qui n’est pas objectif au sens étroit dui terme. C'est Husserl qui a introduit dans la philosophie cette idée que la pensée peut avoir un sens, viser quelque chose meme lorsque ce quelque chose est absolument indéterminé, une quasi-absence d’objet; et 07 connait le réle que cette idée a joué dans la phénoménologie de Scheler et de Heidegger.“ Vgl- auch ebd. 18, 1 ZB, 1959: Levinas: Réflexions sur Ia technique“ phénoménologique. In: Ders.: En découvrant l’existence. 111-123. 114f; und Levinas: Intentionalité et métaphysique. Int Ders.: En découvrant existence. 137~144. 139. Angemessenheit und AnmaGung der Philosophie 113 vorherige Intellektualismusvorwurf zurtickgenommen; gleichzeitig jedoch steht sie im Kontext einer deutlichen Radikalisierung in Levinas’ Denken — ver- bunden mit einer radikalisierten Kritik an seinen Lehrern.12 Levinas verabschiedet sich nicht einfach von seinem vorherigen Standpunkt, denn er behauptet noch immer, dass durch die Stellung der Reprisentation und ihre Bestimmung durch den objektivierenden Akt ,bei Husserl das theoretische Bewusstsein zugleich primar und universell* sei.” Ein daraus folgender, privile- gierter Status der Theorie erscheint nun jedoch nicht mehr an sich problema- tisch; die objektivierende Leistung des Bewusstseins wird nicht mehr insofern als eine Anmafung verstanden, als nicht-theoretische Seinsbereiche in quasi- theoretische Objekte iiberfiihrt wiirden. Den ,objektivierende[n] Akt‘ versteht Levinas nun vor allem als cine Synthese der Identifikation“, als konstitutive Funktion innerhalb der Sinngebung des Bewusstseins: ,Durch diese Synthese nimmt das ganze geistige Leben teil an der Reprisentation; oder noch einmal, durch sie bestimmt Husserl in der letzten Analyse den Begriff der Reprasentati- on selbst. Die Reprsentation ist daher kein der Handlung oder dem Gefiihl ent- gegengesetztes Konzept. Sie istihnen vorgeordnet.“!™ Mit diesem Zugestandnis bzgl. der Reprisentation verlagert Levinas also das Thema auf eine tiefere Ebene der transzendentalen Konstitution, auf der es auch von Husserl und Cairns gesehen wurde (s.o. Fn. 110). Er wendet sich nun je- doch kritisch dem konstituierten Sinn und der Intentionalitat des Bewusstseins selbst zu, indem er erklrt: Jede Intention ist eine Evidenz auf der Suche nach sich selbst, ein Licht, das danach strebt hervorgebracht zu werden. Zu sagen, dass am Grunde jeder Intention [...] Reprisentation zu finden ist, bedeutet, die Gesamtheit des geistigen Lebens nach dem Modell des Lichts zu begreifen. [...] Die Bezichung zwischen einem Objekt und einem Subjekt ist nicht eine einfache "2 Dass die Revision der Kritik an Husserl einerseits in einer Aufweichung des urspriingli- chen Vorwurfs und andererseits in einer Vertiefung bzw. Radikalisierung besteht, wurde ver- schiedentlich schon bemerkt: Val. Soren Overgaard: On Levinas’ Critique of Husserl. In: Dan Zahavi, Sara Heinimaa, Hans Ruin (Hg,): Metaphysics, facticity, interpretation, Phenomeno- logy in the Nordic countries. Dordrecht 2003. 115-138. 116; Peperzak: Phenomenology - ontology ~ metaphysics, 114, 119; Dodd: ,The dignity of the mind“, 23-27; vl. auch, jedoch verengend auf das Affektive, Jacques Colette: Lévinas et la phénoménologie husserlienne. In: Jacques Rolland (Hg,): Emmanuel Lévinas. Lagrasse 1984. 19-36. 24 f. Dagegen wurde biswei len auch die Kontinuitat zur Dissertation von 1930 betont: Vel. Richard A. Cohen: Levinas, Rosenzweig and the phenomenologies of Husserl and Heidegger. In: Philosophy today 32 (1988). 165~178. 173; John E. Drabinski: Sensibility and singularity. The problem of phenome- nology in Levinas. Albany 2001.3, 50. inas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 23. : »Par cette synthese tout vie spirituelle participe de la représentation; ou encore, par elle Husserl détermine en derniére analyse la notion méme de la représentation. La repré- sentation n’est done pas un concept opposé action ou au sentiment, Elle se situe avant. a 4 David Amthor Prisenz des einen fir das andere, sondern das Begreifen des einen durch das an- dere, das Verstandnis [/’intellection]; und dieses Verstandnis ist Evidenz. Die ‘Theorie der Intentionalitat bei Husserl, so eng verbunden mit seiner Theorie der Evidenz, besteht zuletzt darin, Geist mit Verstandnis zu identifizieren, und Ver- standnis mit Licht.*"5 Es ist klar, das hiermit der Staus der intuitiven Intentiona~ litat in Frage steht, die 1930 als das Grundphinomen des Bewusstseinslebens und als , sehr breiter Begriff* (s.0. Anm. 65) positiv hervorgehoben worden war. Levinas fiihrt hierfiir die Metapher des Lichts ein, die von dieser Zeit an zentral bleibt und die dazu dient, wiederum die Anmafsung eines ,Modells‘ gegeniiber solchen Regionen‘ zu bezeichnen, denen philosophisch anders und angemesse~ ner begegnet werden miisse. Klar ist auch, dass es sich innerhalb der Phinomeno- logie wicderum um cine Auseinandersetzung handelt, die zwischen diesen gleichsam bedrohten Bereichen und einem Gesamtkonzept des Bewusstseinsle- bens vermitreln muss. Doch wie ist es denkbar, phinomenologisch gegen die Evidenz zu argumentieren? Zum Zweck der Aufklérung der neuartigen phino- menologischen Perspektive bei Levinas, aus der auch die vertiefte Kritik formu- liert wird, soll im Folgenden die Metapher des Lichts in vier zentralen Aspekten entfaltet werden. Sie fassen diejenigen Bestimmungen eines Bewusstseinslebens —und mithin einer entsprechend orientierten Phinomenologie— zusammen, ge- gen deren Unangemessenheit sich Levinas richtet. Dagegen strebt er schlieBlich wiederum eine Reformulierung des Begriffs des Bewusstseinslebens (bzw. der Existenz) an, um den yon ihm identifizierten und in Rede stehenden Problemen angemessen begegnen zu kéanen. 1. Sinn ys. Nicht-Sinn: Der erste Aspekt wurde schon weitgehend behandelt, denn es wurde bereits deutlich: Levinas meint hier nicht mehr das Denken bzw. die Theorie cines Intellektualismus gegeniiber nicht-theoretischen Sinnbestan- den und Seinsbereichen, sondern die intellection schlie&t mit jeglichem Sinn auch nicht-theoretische Phanomene ein. Wie sogleich zu zeigen ist, erfahrt zwar Heideggers vortheoretisches Seinsverstandnis im Text von 1940 noch nicht die gleiche Kritik wie Husserls intuitive Intentionalitat, doch aus anderen Griinden. In spaterer Zeit wird es durchaus in gleicher Hinsicht kritisiert, etwa in Vom Sein zum Seienden: ,,Das Denken, das Wollen, das Gefiihl sind vor allem Erfah- rung, Anschauung, klare Einsicht oder der Versuch, zur Klarheit zu kommen — 1% Ebd. 24: Toute intention est une évidence qui se cherche, une lumiére qui tend & se faire. Dire qu’a la base de toute intention [...] se trouve la représentation, ¢’est concevoir ensemble dela vie spirituelle sur le modéle de la lumiére.(...] La relation entre objet ct sujet n'est pas une simple présence de l'un & autre mais Ia compréhension de l'un par l'autre, P'intellection; et cette intellection c'est l’évidence. La théorie de l’intentionalité chez Husser], rattachée si étro’ tement a sa théorie de ’évidence, consiste en fin de compte a identifier esprit et intellection, et intellection et lumigre.* Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 15 wie gro® auch immer die Distanz sein mag, die sie vom Intellekt trennt. Die Sorge Heideggers, der die Wahrnehmung nicht mehr als Grundlage dient, ent- hile dennoch eine Erleuchtung, die aus ihr ein Verstehen und ein Denken macht.“ Die Sphire des Lichts bezeichnet also die Phinomenalitit der Phino- mene selbst, und damit die Eigenschaft des Bewusstseins, Sinn zu haben.” 2, Totalicét vs. Exterioritit: Indem das Licht als sinnvolle Prisenz von Seien- dem vorgestellt wird, ist weiterhin zu kliren, welche Reichweite dies hat. Be- zeichnenderweise unterscheidet Levinas zwei Bereiche, die in unterschiedlicher Weise abseits bzw. jenseits des Lichts verortet sind. Wie im obigen Zitat bereits anklingt, macht er nimilich deutlich, dass abseits der aktuell vollzogenen intuiti- ven Intentionalitat auch die inaktuellen, impliziten und potentiellen Intentio- nen, welche dessen Horizonte konstituieren, doch prinzipiell zur Sphire des Lichts gehren;! und spiiter nennt er hierauch das ,Unbewusste“, mit der Beto- nung, dass dieses gerade gemeinsam mit dem (aktuellen) Bewusstsein das Licht der Subjektivitit ausmache. Wenn also behauptet wird, Husserl identifiziere »Geist* mit , Verstindnis* bzw. ,Licht“, so ist verstindlich, dass damit der ge- samte Umfang von dessen Idealismus gemeint ist. In dieser gesamten auf Evidenz angelegten Sphare der Intentionalitit er- scheint nun Seiendes allein nach Maftgabe seiner Konstitution im Bewusstsein: »So sehr das Objekt von au&en kommt, so ist es doch kraft des Lichts in dem Horizont, der ihm vorausgeht, schon unser; es kommt von einem schon ergriffe- nen DrauBen und entsteht, als komme es von uns“. Im Idealismus konvergie- ren also der Anspruch auf die Universalitit des Lichts mit dessen Eigenschaft, gerade als Sinnstiftung auch zu einer Ancignung alles AuSeren zu fiihren, sodas letztlich die gesamte Welt als eine ,Totalitit* erscheint, die ausnahmslos vom Bewusstsein umgriffen wird." Im Unterschied zu seiner Dissertation richtet sich Levinas nun 1940 gegen Husserls Idealismus, indem er dessen ,Modell des Lichts“ an sich in Frage stellt und damit letztlich fiir eine radikale Exterioritit jenseits des Lichts eintritt, jenseits der Potentiale des Bewusstseins, und damit 2% Levinas: Vom Sein zum Scienden, 57. Vgl. auch ebd. 58 f,, 123 £4 vgl. zur Parallelitit Hus- serls und Heideggers Rudolf Bernet: Levinas’ critique of Husserl. In: Simon Critchley, Ro- bert Bernasconi (Hg,): The Cambridge companion to Levinas. Cambridge. 82-99. 87. #27 Vel. Levinas: Vom Sein zum Seienden. 57. 8 Vel. ausfihrlich 1959: Levinas: La ruine de la représentation. In; Ders En découvrant Vexistence. 125-135. 130-132; und 1940 in Bezug auf das ego in Beziehung zu seinem eigenen Leben: Levinas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 40. 1 Vel, mit der Licht-Metapher Levinas: Vom Sein zum Seienden. 82 £ und zum Unbewuss- tenals Riickzugsort des Bewusstseins in seine eigenen Kapazititen: ebd. 61, 80, 123. Levinas: Vom Sein 2um Seienden. 58. Vgl. auch bereits Le *ccuvred’Edmond Hus- serl. 24; und Levinas: Die Zeit und der Andere. 37 f. "1 Levinas: Vom Sein zum Seienden. 58. 116 David Amthor fiir cin Jenseits als ,Nonsens*, wie es Husserl eindeutig ablehnt.? ,Denken kann [...] nicht in eine Bezichung treten zu demjenigen, das keinen Sinn hat, zum Irrationalen. Husserls Idealismus ist die Bestatigung, dass jedes Objekt [...] durchdringlich fiir den Geist ist; oder umgekehrt, dass der Geist auf nichts tref- fen kann, ohne es zu verstehen. Das Sein kann den Geist nicmals anstofen, weil es immer eine Bedeutung fiir den Geist hat. Der Sto selbst ist cine Weise des Verstehens.“! Hieraus wird ebenfalls deutlich, dass Levinas’ Eintreten fiir die irrationale Ex- terioritit nicht auf einen vermeintlichen Bereich von ,Dingen an sich‘ jenseits des Lichts abzielt. Die urspriinglich idealistische Identifikation von Sinn und Sei- endem, d.h, die Transformation im Begriff des Seins durch Husserl, die Levinas 1930 gelobr hatte, wird nicht preisgegeben. Vielmehr muss Levinas vor diesem Hintergrund und als Phinomenologe konsequenterweise iiber den Idealismus Husserls - und letztlich auch das Seinsdenken Heideggers — hinausstreben zu einem dezidiert metaphysischen Denken ,jenseits des Seins‘. Der Idealismus der Phinomenologie wird dabei nicht von Grund auf abgelehnt, sondern gleichsam in seinem Geltungsanspruch begrenzt. Innerhalb der Sphire des Lichts miissen dann die von ihm ,ungeahnten Horizonte“ aufgefunden werden, in denen sich cine radikale Exterioritit zumindest andeutet und philosophisch angemessen be- handele werden kann. Dass dies eine philosophische Angemessenheit ist, die nicht ganz. im oben ent- wickelten Sine ,phinomenologisch* 2u nennen ist, dirfte bereits klar sein. Eine Modifikation tritt hier ein, denn es kann ja gerade nicht um die getreue Beschreibung des ,cigentlichen Sinns‘ eines Seinsbereichs in Bezug auf das ihn konstituierende Bewusstseinsleben gehen. Angemessenheit bedeutet hier nicht mehr den phinomenologisch richtigen Umgang mit nicht-theoretischen Phino- menen; sie meint vor allem den Respekt gegeniiber einem problematischen Be- reich, der an sich schlechthin nicht theoretisierbar bzw. beschreibbar ist, und dem gegeniiber die Phanomenologie selbst cine latente Bedrohung darstellt. Trotz dieses Unterschieds, was das Objekt der Angemessenheitsbemihung an- geht, ist jedoch ihr allgemeiner Weg mit dem oben entwickelten in Deckung zu bringen. Denn Angemessenheit muss auch hier letztlich zwischen dem in Rede 12 Hua III/1, 96; vel. auch ebd, 120. © Levinas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 32: «La pensée ne saurait (...] entrer en relation avec ce qui n’a pas de sens, avec l'irrationnel. L'idéalisme de Husserl est Paffirmation que tout objet [...] est perméable & lesprit; ou inversement, que l’esprit ne peut rien rencontrer sans le comprendre. L’étre ne saurait jamais heurter esprit parce qu’il a toujours un sens pour lui.” So Drabinski: Sensibility and singularity. 20~22, 42; in Anlehnung an Levinas: Totalitat und Unendlichkeit. Versuch iiber die Exterioritit. Ubers. Wolfgang Nikolaus Krewani. Frei- burgi.Br. 1987.31. Angemessenheit und Anma8ung der Philosophie 7 stehenden Problem und einem Konzept des Bewusstseinslebens verhandelt wer- den, das seinerseits wiederum fur die entsprechenden Phinomenanalysen eine leitende Funktion erfilllt. Dieses Konzept darf nun gerade nicht als universales Konstitutionszentrum angesehen werden, sondern es muss neben diesem ,Mo- dell des Lichts‘ auch eine jenseitige ,Dunkelheit's zumindest indirekt erklirbar machen — zumal in einer Weise, die nicht geradehin spekulativ, sondern aus der Sphare des Lichts heraus nachvollziehbar ist. 3, Freiheit vs. Drama der Existenz: Fir eine solche riicksichtsvolle Selbstbe- scheidung der Phinomenologie hat Levinas 1940 ein Konzept des Bewusstseins- lebens im Auge, das ,Dunkelheit‘ in der Form seiner eigenen Zeitlichkeit bzw. Geschichte zulasst. Seine Kritik an Husserls ,ahistorischem‘ Bewusstseinsbegriff von 1930 wird also in dieser Hinsicht fortgesetzt'* und gewinnt deutlich an Bri- sanz, wenn er 1940 wiederum zugunsten Heideggers urteilt: Bei Husserl wird das Phinomen des Sinns niemals durch die Geschichte bestimmt. Die Zeit und das Bewusstsein bleiben in letzter Analyse die ,passive Synthese‘ einer inneren und tiefen Konstitution, die nicht mehr ein Seiendes ist. Fiir Heidegger dagegen ist der Sinn durch etwas bedingt, das bereits gewesen ist. [...] Die Einfihrung der Geschichte an der Grundlage des geistigen Lebens zerriittet die Klarheit und die Konstitution als die echten Seinsweisen des Geistes. Evidenz ist nicht linger die fundamentale Art des Verstandnisses: Das Drama der Existenz, vor dem Licht, ist das wesentliche Faktum der Geistigkeit.“17 Die Metapher des Lichts erstreckt sich also iiber die Bezichung zwischen Be- wusstsein und Seiendem hinausgehend auch auf die Konstitution des Bewusst- seinslebens selbst. Das Licht bedeutet hier im engeren Sinne die Gegenwart’ fiir das Bewusstsein, in der Seiendes leibhaft prasent ist, jedoch sind nach Levinas auch die Zukunft und die Vergangenheit bei Husserl lediglich zeitliche Horizon- te, die einer Konstitution der Gegenwart des transzendentalen Ego untergeord- net sind.38 Deshalb ist Husserls Philosophie fiir Levinas nun eine Philosophie der Freiheit“, eine Freiheit des transzendentalen Bewusstseins in seiner konstitu- 1) Vgl. zu entsprechenden Prinzipien in Levinas’ Denken Bergo: Ontology, transcendence, and immanence. 141. . ‘8 Vgl. bereits Peperzak: Phenomenology - ontology - metaphysics. 117 f. 0 Levinas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 52: ,Chez Husserl le phénomene du sens n’a j mais été déterminé par Ihistoire. Le temps et la conscience demeurent en derniere analyse la ssynthése passive‘ d’une constitution intéricure et profonde qui, elle, n'est plus un étre. Pour Heidegger, au contraire, le sens se conditionne par quelque chose quia d’ores et déja été. (...] Lintroduction de Phistoire dans le fond de la vie spirituelle, ruine la clarté et la constitution en tant que modes d’ existence authentiques de l’esprit. L’évidence n’est plus le mode fondamental de 'intellection: le drame de existence, avant la lumiere, fat lessentiel de la spiritualité." Vgl. auch ebd. 48 f, BE Vgl.ebd. 41 f. 118 David Amthor tiven Rolle sowohl gegeniiber der Welt als auch gegeniiber seinem eigenen Le- ben.'* Eine Vertiefung in Levinas’ Sichtweise gegeniiber 1930 besteht hierbei darin, dass in der ,Freiheit“ nun neben dem negativen Aspekt der Nicht-Invol- viertheit vor allem der positive Aspekt einer Souverinitit des Bewusstseins her- vorgehoben wird. Der Anspruch auf die universale Geltung seiner synthetischen Aktivitat verleiht dem Leben des Bewusstseins den unverbindlichen Charakter eines ,Spiels*, das prinzipiell in seiner Verfiigbarkeit steht.“ Demgegeniiber sei, richtig verstanden, ein tieferes Zusammenspiel von Selbst und Exterioritit entscheidend fiir das Bewusstseinsleben als ,Drama der Exis- tenz‘, Wie Levinas auch 1947 noch bemerkt, sei es Heidegger gewesen, ,der das letzte und universelle Wesen dieses Spiels des Innen und Aufen jenseits vom Subjekt-Objekt-Spiel, auf das die idealistische und realistische Philosophie es re- duziert hatte, in seiner tiefsten Form erfat hat*.'*! Doch bemerkt er im gleichen Zusammenhang, dass Heidegger dieser Exterioritit letztlich auch nicht angemes sen begegne, denn durch die Vorstellung einer ekstatischen ,Selbst-Verzeitli- chung‘ (s.0. Anm. 101) stiitze dessen Begriff der Existenz letztlich auch die Sou- verdnitit des Subjekts und des Lichts: ,Die Heideggersche Sorge, die durch das Verstehen ganz licht ist (mag auch das Verstehen sich selbst als Sorge ausgeben), ist schon von der Struktur ,Innen-Aufen* bestimmt, die das Licht kennzeichnet. Ohne Erkenntnis zu sein ist die Zcitlichkeit bei Heidegger eine Ekstase, das Au- Ber-sich-Sein‘. Zwar keine Transzendenz der Theorie, aber schon Austritt eines Innen in ein Aufen. [...] Sie ist Beziehung nicht zu einem Objekt, sondern zu dem Verb sein, zu der Handlung, zu sein. Durch die Ekstase tibernimmt der Mensch scin Sein. Die Ekstase ist also das Geschehen selbst der Existenz. Unter dieser Voraussetzung aber ist die Existenz ,Zeitgenosse’ der Welt und des Lichts.“12 Auch Heidegger verfehlt also letztlich das fiir Levinas entscheidende Ziel, ei- ner radikalen Exterioritit ihr Recht zu lassen. Das wird auch besonders in seiner Interpretation des ‘Todes deutlich, denn dieser sei bei Heidegger ,eine hachste Helligkeit und ebendadurch eine héchste Mannhaftigkeit. Es ist die Ubernahme der auersten Méglichkeit der Existenz durch das Dasein, die genau alle anderen Moglichkeiten méglich macht“. Entgegen dieser auGersten Ekstase stellt der Tod fiir Levinas die Grenze des Idealismus* dar, indem er das Dascin mit einer 1» Ebd. 495 die Charakterisierung dieser Freiheit als theoretisch' fallt natirlich gegentiber 1930 weg: Vgl. ebd. 40; vgl. auch zur transzendentalen Dimension des Problems der Freiheit Drabinski: Sensibility and Singularity. 50-52. “© Levinas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 48 f,, 25. ‘1 Levinas: Vom Sein zum Scienden. 100. 1 Ebd 1 Levinas: Die Zeit und der Andere. 43 f, Angemessenheit und AnmaSung der Philosophie 19 primiren Unméglichkeit konfrontiert. Er ist eine ,Situation, in der etwas abso- lut Unerkennbares erscheint, absolut unerkennbar, das heiftt fremd gegeniiber jedem Licht, jedes Ubernehmen einer Méglichkeit unméglich machend™.!* Be- zogen auf die Konstitution der inneren Zeitlichkeit des Bewusstscinslebens ist es demnach verstindlich, dass der Tod gegeniiber der bewussten Gegenwart des Lichts nun nicht mehr cine konstituierte Zukunft ist, sondern den Charakter ciner ,ewigen Zukunft" hat, dass sich hier also eine zeitliche Exterioritit jen- seits des Konstitutionsleistungen eines transzendentalen Subjekts andeutet, die damit prinzipiell ,niemals jetzt“ sein kann. 4, Einsamkeit vs, soziale Erlésung: Der von Levinas intendierte Problembe- reich der Exterioritit hat bisher also anhand der Licht-Metapher ex negativo ei- nige Bestimmungen erfahren. Als Bereich der ,Dunkelheit‘ bzw. des Irrationa- en auBerhalb der Konstitution des Subjekts wurde er zusitzlich mit dessen Ohnmacht Angesicht seines eigenen Todes und zugleich mit einer radikalen Zu- kunfe in Verbindung gebracht. Eine letzte Bestimmung schlieflich ist fiir Levi- nas’ weiteres Vorhaben die entscheidende: die Sozialitit. Bei aller Kritik an Hus- ser] hatte Levinas 1930 noch ganz neutral und unkritisch dessen Konzeption der Intersubjektivitat angesprochen.” Auch noch 1940 ist die subtile Kritik vor al- lem aus der Riickschau von den spateren Werken zwischen den Zeilen erkenn- bar," doch 1948 in Die Zeie und der Andeve wird in dieser Hinsicht wiederum die Metapher des Lichts bemiiht: ,Indem die Vernunft das Ganze in ihrer Uni- versalitat einschlieRt, findet sie sich selbst in der Einsamkeit wieder. Der Solipsis- mus ist weder eine Verirrung noch ein sophistischer Trugschlus: er ist die eigent- liche Struktur der Vernunft. Nicht aufgrund des ,subjektiven' Charakters der Empfindungen, die von der Vernunft kombiniert werden, sondern aufgrund der Universalitit der Erkenntnis, das hei&t der Unbegrenztheit des Lichtes und der fir jeden denkbaren Gegenstand geltenden Unmoglichkeit, aufterhalb zu sein. Dadurch findet die Vernunft niemals eine andere Vernunft, zu der sie sprechen konnte. Die Intentionalitit des Bewutscins erlaubt es, das Ich von den Dingen zu unterscheiden, aber sie lift den Solipsismus nicht verschwinden, da sein Ele- ment, das Licht, uns zwar zu Herren der aueren Welt macht, jedoch unfihig ist, “4 Bbd. 44. "9 Ebd. (6 Ebd. 45. “7 Vgl. Levinas: Théorie de Pintuition. 183, 214 £3 Levinas: Uber die »Ideen* von E. Hus- serl. 76~78; vgl. besonders noch 1934 Levinas’ Urteil tiber Husserls Idealismus, das im Kon- trast 2u seiner spiteren Radikalisierung steht: Levinas: Phénoménologie. 420: ql est con- vaincu que seul le solipsisme impliqué dans ['idéalisme fur la cause du malentendu. L’admission de Pintersubjectivité transcendantale saurait le dissiper. I ne soupgonne méme pas que les difficultés soulevées par ’idéalisme transcendantal se trouvent ailleurs." 148 Vel, Levinas: L'ceuvre d’Edmond Husserl. 48. 120 David Amthor uns dort einen Partner zu entdecken.“#® Weder Husserls Vorstellung einer Kon- stitution des alter ego durch die Einfiihlung noch Heideggers Miteinandersein kdnnen dieser radikalen Alteritat gerecht werden. Denn diese Alteritit ist nicht unbekannt, sondern unerkennbar, widerstindig gegen jedes Licht. Doch dies zeigt genau an, daf das andere nicht in irgendeiner Weise ein anderes Ich-selbst ist, das mit mir an einer gemeinsamen Existenz teilhat (...]; das Verhalenis zum anderen ist cin Verhaltnis zu einem Geheimnis.“"° Diese recht spiten expliziten Belege sollten nicht dazu fiihren, Levinas’ Wen- dung zur Sozialitit ebenfalls spit anzusetzen. Vielmehr scheint er diesen wichti- gen Aspekt schon etwa seit Mitte der 1930er Jahre im Auge gehabt zu haben.!! In seinen jiingst erstmals publizierten Notizen, welche die Zeit von 1937 an abde- cken, findet sich bereits folgendes Urteil ber Heidegger: ,Indem er Einsamkeit in eine Form des In-der-Welt-seins transformiert, verbietet Heidegger sich selbst, in der Einsamkeit die Nichtigkeit [éant] dieses selben Faktums des Seins und den Pfad der Erldsung [salut] zu schen. Das Ubel der Einsamkeit ist nicht das Faktum eines Seienden, sich selbst in der Welt iibel zu befinden; sondern das Ubel dieses Faktums des Seins selbst - welchem man nicht abhelfen kann durch ein vollstindigeres Sein, sondern durch die Erlsung, Erlsung ist nicht Sein." Eine Selbstiiberwindung der phinomenologischen Ontologie Anhand der Metapher des Lichts wird also insgesamt eine neue, radikalisierte Perspektive in Levinas’ phinomenologischem Denken erkennbar, aus der sich die Kritik an Husserl und auch Heidegger speist, und aus der sich schlieflich ein eigenes phinomenologisches Projekt entfaltet. Dieses soll nun abschlieffend zu- 9 Levinas: Die Zeit und der Andere. 38 f. Vgl. auch Levinas: Vom Sein zum Seienden. 105: »Keine der Beziehungen, die das Licht kennzeichnen, ermoglicht, die Alteritit des anderen Menschen zu erfassen, die die Endgiiltigkeit des Ich aufbrechen soll." 0 Levinas: Die Zeit und der Andere. 47 £; vgl. z.B. auch ebd. 18 f und Levinas: Vom Sein zum Seienden. 115~118. 1 Hilerzu passend datiert Cohen den Begina von Levinas’ Rezeption der anti-idealistischen und um eine Ethik bemiihten Philosophie Rosenzweigs auf das Jalr 1935. Vel. Richard A. Cohen: Levinas, Rosenzweig and the phenomenologies of Husserl and Heidegger. 173-176. Vgl. auch Glenn Morrison: Levinas’ philosophical origins: Husserl, Heidegger and Rosen- zweig. In: Heythrop journal 46 (2005). 41-59. 41. 182 Levinas: Carnets de captivité. Euvres 1. Hg. Rodolphe Calin, Catherine Chalier. Paris 2009, 52: ,En transformant la solitude en une forme de I'In-der- Welt-Sein Heidegger s'interdit de voir dans la solitude le néant du fait méme de létre et la voie du salut. Le mal de la solitude n'est pas le fait d’un étre se trouvant mal dans le monde; mais le mal du fait méme de l’étre — auquel on ne peut pas remédier par un ere plus complet, mais parle slut, Salut rest pas Pécre.* Angemessenheit und AnmaBung der Philosophie 121 mindest andeutungsweise in Bezug auf die gegenwartige Fragestellung vorge- stellt werden. Durch die Dichotomie von Licht und ,Nicht-Licht' bzw. ,Dunkel- heit‘ wurden bereits die wichtigen Aspekte vorgestellt, die Levinas’ eigenes Pro- jekt beriicksichtigen muss. Wie im Folgenden verstindlich wird, integriert es diese verschiedenen Aspekte des Lichts, indem es sie modifiziert und anders ver- ortet, um das Problem radikaler Alteritit philosophisch angemessen zu behan- deln. Hierin wird schlielich auch deutlich, dass der zunichst rein theoretische Anspruch der Phinomenologie, den ,Sachen selbst angemessen zu begegnen und ihnen dergestalt philosophisch ,gerecht zu werden’, cine entschieden ethi- sche Bedeutung gewinnt, nun dem Anderen ,gerecht zu werden’ und ihn in sei- nem Eigenrecht zu respektieren. Wie im letzten Zitat ber die ,Erlésung* bereits anklingt, konvergieren zu diesem Zweck bei Levinas eine ‘Tendenz zur Metaphysik und ein Denken der Sozialitit. Es istalso eine keineswegs willkiirliche, sondern eine vor diesem Hin- tergrund konsequente Uberlegung, wenn er im Vorwort zur Schrift von 1947 den Gedanken an das ,Gute jenseits des Seins“ als Leitformel fiir seine Philoso- phie ausgibt. Diese Philosophie nimmt gegeniiber Heideggers Ontologie eine andere Stellung ein als gegeniiber Husserls transzendentalem Idealismus. Wie man etwa am Beispiel des ‘Todes sieht, bestreitet Levinas nimlich Heideggers Phinomenbeschreibungen und interpretiert entscheidende Elemente aus dessen Existenzialismus neu. Er entwickelt damit gegeniiber Heidegger eine ,Gegen- Ontologic*,'® dic also prinzipiell dessen Seinsdenken als Modell anerkennt, die aber gleichzeitig dem ,tiefen Bediirfnis“ folgt, ,das Klima dieser Philosophie zu verlassen*, und zwar nicht zu einer ,Philosophie, die man als vor-heideggerisch qualifizieren kénnte®.' Dieses ontologische Projekt soll Husserls Idealismus nun wirklich umgehen kdnnen, indem es iiber die Phanomenalitét und ber das Sein hinausfiihet, Trotz dieser Ausbruchstendenzen, durch die Levinas’ Methode nicht bis zum Ende phinomenologisch* ist, beginnt und funktioniert seine Philosophie als phiinomenologische Ontologie mit einer entsprechenden Selbstentfaltung ge- maf der vorgestellten, radikalisierten Sichtweise. Levinas beansprucht, eine ge- treue Beschreibung der Phinomene zu liefern, wie sie in der ,Situation, die Be- wusstsein heifit“, vorliegen. Seine transzendentale Erforschung dieser Phinomene geht nun aber genau dahin, diese Situativitat des Bewusstseins und seines Lichts zu thematisieren, damit seine Rolle als absoluter Ursprung zu revi- ' Bergo: Ontology, transcendence, and immanence. 141; vgl.ebd. 144, 153 f. 5+ Levinas: Vom Sein 2um Seienden. 20. | 5 Levinas: Die Zeit und der Andere. 50; vgl. ebd. 28; und Levinas: Vom Sein zum Seien- den. 105. '8* Levinas: L’ceuvre d’Edmond Husserl. 46, Hervh. D.A. 122 David Amthor dieren und insgesamt das Konzept des Bewusstseinslebens erneut zu reformulie- ren, Mit anderen Worten: Levinas’ Selbstbesinnung des Bewusstseinslebens rich- tet sich durch seine Analysen gegen die Annahme, dass nur ein transzendentales »Selbst" in diesem Leben entscheidend sei: ,Indem wir so zur ontologischen Worzel der Einsamkeit zurticksteigen, hoffen wir zu erahnen, worin diese Ein- samkeit iiberschritten werden kann.“!7 Beziiglich Levinas’ Phinomenbeschreibung ist zuntichst klar, dass eine phiino- menologische Reduktion im Sinne Husserls von vornherein den Blick fiir das in Frage stehende Problem verstellen wiirde. Wenn man dennoch bei Levinas” Me- thode von einer Reduktion sprechen kann, so als Re-duktion bzw. Riickfilhrung der Phiinomene auf das dadurch neu zu verstehende existenzielle Drama des sub- jektiven Lebens, das zu Beginn allgemein als Zusammenspiel von Licht und sDunkelheit’, von Selbst und Alteritit in Anschlag gebracht wird." Levinas Be- schreibungen kénnen auch parallel zu einer existenzialen Analytik des Daseins verstanden werden, die cine wesentliche Struktur der Existenz des Daseins her- auszustellen sucht.%®? Im Unterschied 2u Heidegger bildet jedoch die Zeit hierin fiir ihn die Méglichkeit, dass das Dasein mit der radikalen Alteritit konfrontiert wird und damit seine Existenz tiber die Einsamkeit hinaus verstindlich ist. In Levinas’ Analysen kommt sodann ein Verstindnis der Zeit ur Geltung, dass der Heidegger’schen ekstatischen Zeitlichkeit entgegensteht und entschei dend dafiir ist, dessen Ontologie zu iberwinden. Man kann hier bezeichnender- cine Wiederanntherung an Husserl feststellen, die bereits 1940 subtil ange- deutet ist, Levinas bemerke hier die revolutionare Rolle Heideggers gegeniiber Husserls Verstindnis der Zeitkonstitution durch ein absolutes Bewusstsein, nes sei denn man verstcht bei Husserl das ego selbst als Moment eines impersonalen Geschehnisses, bei dem die Begriffe der Aktivitat und Passivitat nicht mehr gel- ten. Man kann im Begriff der Urimpression [...] Hinweise in diesem Sinne fin- den.“ In der Tat gibt der Begriff der Urimpression Levinas eine Idee von ¢i- nem Ereignis, in dem die aktuelle Gegenwart als die Situation des Lichts aus dem Zusammenspiel zwischen der konstitutiven Aktivitit des Selbst und der we Levinas: Die Zeie und der Andere. 18. ‘88 Vgl. zur Reformulierung der Reduktion bei Levinas, die jedoch hier freilich friher datiert wind, Drabineki: Sensibility and singlariy. 40-42; wg. auch Dodd: The dignity of the mind*. 38-40. 18 Vgl, Heidegger: Sein und Zeit. GA 2.55. © Levinas: L’ocuvre d’Edmond Husserl. 39: -A moins de comprendre chez Husserl, le moi lui-méme comme moment d’un événementimpersonnel auquel les notion d’activité et de passi- vité ne s’appliquent plus. On peut trouver dans la notion d’Urimpression (...] des indications dansce sens.“ Angemessenheit und Anmafung der Philosophie 123 Passivicit gegeniiber einem ,Aufen* entsteht."*! Levinas ist sich bewusst, dass er mit diesem Verweis nach ,aufven‘ letztlich tiber die Erfahrung und die Phanome- nologie hinausgeht.'“ Dennoch versucht er soweit méglich, die Phinomene der Gegenwart im Hinblick auf diese sich andeutende ,Dialektik* zu beschrei- ben,'* die er gerade in einer absoluten Differenz offen hilt, ohne sie einem iiber- geordneten Konzept der Konstitution zu unterstellen.! Fir diese Analysen sind weiterhin gerade die Phanomene des nicht-theoretischen und besonders des affektiven Lebens von entscheidender Bedeutung. Sie sind nicht mehr selbst der Kern des Interesses wie im Jahr 1930, doch vor allem sie geben fiir Levinas Auf- schluss iiber die dialektische Entstchung des gegenwértigen Bewusstseins: ,Die ,Dunkelheit‘ der Gefiihle, weit davon entfernt, eine blo®e Negation der Helle zu sein, bezeugt dieses vorgingige Erlebnis.“'% Durch die Selbstbesinnung des Bewusstseinslebens auf seine innere Dialektik und mit besonderer Beriicksichtigung seiner affektiven Qualititen untersucht Levinas nun dessen zeitliche Konstitution und wiederum dessen In-der-Welt- Sein. Die Sphire des Lichts und der Gegenwart wird als Augenblick“ mitsamt einer Dauer gefasst, in dem das Subjekt die Herrschaft tiber sein Sein und itber die ihm begegnende, sinnvoll verstandene Welt innehat.'® Er ist bei Levinas die Folge einer ,Hypostase“, die jenes mysteridse, dialektische Ereignis bezeichnet, in der das Subjekt der Gegenwart sich selbst in ciner ,Setzung™ erst eigentlich als Subjekt hervorbringt." Vorher gibt es kein Subjekt in diesem Sinne, die Hy- postase unterstcht nicht einer iibergeordneten Konstitutionsinstanz und erweist sich darum erst eigentlich als Zusammenspiel von einem Selbst und einer vorgan- gigen, radikalen Alteritat. Diese ist die Aleeritat des ,,i! y a“ [es gibt], eines blo- Gen, ,dunklen® Faktums des anonymen Seins, unabhingig von und vor jedem konkreten Seienden. Es steht jenseits des Lichts und der Macht des Subjekts und ist nur indirekt ,erfahrbar‘ vor allem durch das Phanomen der Schlaflosigkeit, in dem seine Subjektlosigkeit und Anonymitat mehr oder weniger deutlich ange- zeigt ist.16¢ 11 Vgl. spiter deutlich: Levinas: Réflexions sur la ,technique* phénoménologique. 118~ 121, 182 Vel. Levinas: Die Zeit und der Andere. 28, 1 Vel. z.B, Levinas: Vom Sein zum Seienden. 34, 36. Vel. Levinas: Die Zeit und der Andere. 19. 1% Levinas: Vom Sein zum Seienden. 124. Der Kontrast zur Schrift von 1932 hinsichtlich des Status der Affektivitit (5.0. Anm. 99) wird hierdurch und auch im Folgenden deutlich, denn Gefiihle weisen hier selbst diber die subjektive Geworfenheit' Heideggers hinaus. 166 Ebd, 93-95; vel. deutlicher Levinas: Die Zeit und der Andere. 26-29. 167 Vgl. insgesamt Levinas: Vom Sein zum Scienden. 99-101. tot Vgl. ebd. 79-82. 124 David Amthor Das Faktum des Seins bleibt jedoch nach dem Herrschaftsantritt des Subjekts in dessen Leben prisent, und zwar als Biirde des eigenen Seins und der Materiali- rit des eigenen Selbst.!® Dementsprechend beschreibt Levinas nun dieses Leben und das In-der-Welt-Sein als Geniefien, welches den Gegen-Terminus zur Sorge Heideggers bildet. Im Widersprach zur Sorge fiir die eigene Existenz ist das Ge- nieBen durch die Tendenz gekennzeichnet, die Biirde des eigenen Seins in der Gegenwartzu erleichtern und ,das An-sich-selbst-angekettet-Sein* in der Mate- rialitit 2u lockern.!” In dieser Bewegung stellt das GenieSen dasjenige Licht dar, in dem das weltliche Seiende seinen Sinn fiir das gegenwartige Leben des Sub- jekts erlangt!”! - und zu dem an dieser Stelle im Einzelnen noch weit mehr zu sagen wire, Gleichzeitig erhilt das Subjekt durch das Licht eine Distanz bew. Freiheit gegentiber den Objekten und gegeniiber seiner eigenen Materialitit. Die- se Freiheit ist jedoch nur sekundiir, denn das GenieRen und das ihm eigene Licht kénnen das Subjekt nicht von dem bedriickten Sein in der eigenen Gegenwart befreien, das es zuvor aufgenommen hat und nun einsam beherrscht.”? Dies kann nur geschehen durch eine neue Impression von aun, ein neues Ercignis als Hypostase eines neuen Augenblicks. Wie bereits dargestellt wurde, verwendet Levinas die Beispicle des Todes und ciner absoluten Zukunft, um auf cine radikale Transzendenz hinzuweisen, durch welche die Zeitlichkeit des Lebens jenseits der Méglichkeiten des Sub- jekts verstandlich werden soll. Am wichtigsten ist ihm jedoch letztlich der As- pekt der Sozialitat, den er mit der eigentlichen Konstitution der Zeit in Deckung, bringt: , Wie soll in der Tat die Zeit in einem Subjekt allein entstchen? Das Sub- jekt allein kann sich nicht verneinen, hat kein Nichts. Die absolute Andersheit des anderen Augenblicks [...] kann im Subjekt, das endgiiltig es selbst ist, nicht angetroffen werden. Diese Andersheit kommt mir nur vom anderen her zu. Ist die Gesellschaft nicht, eher noch als die Quelle fiir unsere Vorstellung von der Zeit, die Zeit selbst? Wenn die Zeit sich in meiner Bezichung zum anderen kon- stituiert, ist sic auSerhalb meines Augenblicks, aber sie ist auch etwas anderes als cin der Betrachtung gegebener Gegenstand. Die Dialektik der Zeit ist die eigent- liche Dialektik der Bezichung zum anderen, das heift, sie ist cin Dialog, dessen Studium andere Kategorien erfordert als die Dialektik des einsamen Sub- jekts.“173 Dementsprechend fasst Levinas schlieflich die Entstchung eines neuen 1 Vgl. Levinas: Die Zeit und der Andere. 29-31. Dies wire ~ als entsprechende Modifikati- on verstanden ~mit Heideggers Faktizitat 2u parallelisieren; s.o. Anm. 99. 9 Ebd. 32-37, hier 35. 1 Vgl.ebd. 36. 2 Vgl. Levinas: Die Zeit und der Andere. 41 f.; und Levinas: Vor Sein zum Seienden. 113~ 15, ° Levinas: Vom Sein zum Seienden. 115 . ‘Angemessenheit und Anma@ung der Philosophie 125 Augenblicks in cin Bild der Zwischenmenschlichkeit, genauer gesagt im Bild der Fruchtbarkeit,!” mit dem er tiber die Gegenwart und damit auch tiber die Phano- menologie hinausgeht.” Wahrend der Tod namlich das Subjekt geradchin ne- giert, erméglicht die Alteritit des Anderen in der Gestalt des Weiblichen, dass dem alten‘ Subjekt der Gegenwart ein Sohn entstcht, d.h. ein neuer Anfang als cin anderes Subjekt eines neuen Augenblicks. Dieses Ereignis kann lediglich im erotischen Streben auf das Weibliche hin erhofft, aber nicht eigenmichtig er- reicht werden,” sodass schlieflich sowohl der Fortschritt des eigenen Bewusst- seinslebens als auch die Begegnung mit dem Anderen der Freiheit des Subjekts entzogen sind und dieses je unmittelbar und unabweislich betreffen Mansiehtalso, wie sich Levinas’ eigenes phinomenologisches Projekt der spi- ten 1940er Jahre konsequent als ein Versuch entfaltet, dem selbst identifizierten Problem der radikalen Alteritat philosophisch angemessen zu begegnen und da- mit jene AnmaGungen zuriickzuweisen, die aus den Universalititsanspriichen eines Modells des Lichts folgen. Dabei bringt dieser Versuch notwendig eine ei- gene Neuformulierung sowohl des Konzepts des Bewusstseinslebens als auch — damit zusammen hingend — des Konzepts transzendentaler Konstitution mit sich, die durch konkrete Phinomenbeschreibungen und Konstituionsanaylsen zu rechtfertigen sind. Durch die Gleichstellung von Zukunft und personalem Anderen, von Zeitlicbkeit und Sozialitit, die man in ihrer Radikalitie auch be- streiten mag, spielt die Sozialitat bei Levinas eine transzendentale Rolle; hier je- doch weit tiefer als etwa bei Husserl, der das alter ego erst nach Mafgabe einer »Primordialsphire* des eigenen Bewusstseins konstituiert sieht.” Demgegen- tiber hat die Bezichung zum Anderen bei Levinas gerade einen primordialen Sta~ tus, indem sie am Grund des transzendentalen Bewusstseinslebens selbst veror- tet"#ist und diesem den Charakter eines existenziellen Dramas verleiht. Hieraus 4 Vgl. allgemein Levinas: Die Zeit und der Andere. 61~63. 175 Val. ebd. 63; und Levinas: Vom Sein zum Seienden. 105. v6 Val. Levinas: Die Zeit und der Andere. 56,59 f 77 Vel. Hua I, 124-130. v8 Vg. allgemein und auch 2um Folgenden Bernet: Levinas’s critique of Husserl: 86 f,, 90, 93-96. Vel. auch, zwar in Bezug zu Totalitit und Unendlichkeit, jedoch auch passend zu den hier behandekeen ‘exten: Theodore de Boer: An ethical transcendental philosophy. In: Ri- chard A. Cohen (Hg.): Face to face with Levinas. Albany 1986. 83-115. 90-95. Natilich ist fir Husserls Theorie der Intersubjektivitit die unerreichbare Fremdheit des Anderen ebenfalls wichtig: Vgl. Hual, 125 f,, 137; vgl. hierzu auch Dan Zahavi: Husser!’s intersubjective transfor- mation of transcendental philosophy. In: Journal of the British society for phenomenology 27 (1996). 228-245. 229 £. Zahavi betont jedoch auch zu Husserl: the very flow of the subject [...]is a process which does not depend upon the relation to the Other" (ebd. 239). Dieser Unterschied scheint einer allzu starken Nahe zwischen Husserl und Levinas in diesem Punkt zu widersprechen: Vel. diesbeziiglich v.a. Georg Rémpp: Der Andere als Zukunft und Gegen- ‘wart. Zur Interpretation der Erfahrung fremder Personalitit in temporalen Begriffen bei Lévi- 126 David Amthor wird schlieSlich auch verstindlich, inwiefern mit Levinas spiter von einer ,ethi- schen Sinngebung* gesprochen werden kann,!” die wohl hier urspriinglich ange- deutet wird, und aus der wiederum die philosophische Blickwendung von der um Angemessenheit bemihten Ontologie zu einer Ethik als erster Philosophie verstindlich wird, nas und Husserl. In; Husserl studies 6 (1989). 129-154, 147-149; und zuletzt auch Overg- aard: On Levinas’ critique of Husserl. 117-130. Levinas: La ruine de la représentation. 135. Vgl. hierzu auch Drabinski: Sensibility and singularity, 43 £.,47; und Dodd: , The dignity of the mind". 40.

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