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2.3 Lesen und Exzerpieren
Literatursuche, -auswahl und -beschaffung
Anlage einer Literaturdatei > Abschnitt 7.1
Verschlagwortung der Literatur > Abschnitt 7.1.6
Anlage einer Verfasserkartei > Abschnitt 7-2.
Ablage ae ‘ordnung der Exzerpte > Abschnitt 7.3
‘inbeziehung von i i i i
Pieeon ee aniken, die der Wissenschaftlichen Literatur entnommen sind, in Ihre
5. Kapitel
Lesen
Wie ich schon feststellte, ist im Studienbetrieb Ihr méglicher individueller
Beitrag zur Wissenschaft sehr viel weniger gefragt als der Nachweis, dass Sie
sich erfolgreich im sozialen Feld der Wissenschaft zu bewegen verstehen, Da-
raus folgt die gréRere Betonung der rezeptiven gegeniiber den produktiven
Elementen wissenschaftlichen Arbeitens. Dementsprechend ist neben dem
Zuhéren und Mitschreiben das Lesen und Exzerpieren die Tatigkeit, die den
breitesten Raum im Studium einnimint.
Lesen und Exzerpieren haben viele Parallelen zum Zuhéren und Mitschrei-
ben. Auch hier geht es darum, die Gedanken eines anderen nachzuvollziehen,
seinen Argumentationen nachzudenken, sie auf dem Hintergrund der bereits
vorhandenen eigenen gedanklichen Ordnung zu verarbeiten und das neu Ver-
nommene nach Méglichkeit in diese Ordnung zu integrieren — was meist eine
Erweiterung, Modifikation oder Korrektur des bisher erworbenen Gefiiges an
wissenschaftlichen Uberzeugungen in mehr oder minder grofem Umfang zur
Konsequenz hat.
Beim ZuhGren gibt es allerdings noch eine direkte Begegnung mit dem andern,
dessen Gedanken Sie aufzunehmen versuchen. In Kleineren Seminaren kann
die reine Rezeption durchbrochen und durch wechselseitige Le
bereichert werden. Sie kénnen nachfragen, Einwande vorbringen, Erginaunge
oder Erweiterungen vorschlagen; kurz: in ein wissenschaftliches Gespra‘
—_
Mit CamScanner gescannt2. Kapitel: Elemente wissenschaftlichen Arbeitens im Studium 33
kommen. In Vorlesungen, zumal in Massenveranstaltungen, wie sie heute vor
allem (leider) zu Studienbeginn die Regel sind, nahert sich das tatsichliche
Geschehen jedoch immer mehr dem Typus der Einbahn-Kommunikation an,
bei der der Vortragende seine Positionen ablidt, ohne unmittelbar damit zu
tun zu bekommen, wie das Vorgetragene denn bei den Zuhérern angekom-
men ist. Immerhin - auch dann noch sehen Sie, héren Sie, wer das ist, der da
spricht. Sie sehen ihn lacheln, sehen seine bedeutungsvoll ernste Miene, héren
die Betonung, die er seinen Worten gibt, oder die Tonlosigkeit seine Vortrags,
bekommen seine Begeisterung mit oder seine gelangweilte Routine. Mit einem
Wort: Sie kénnen noch erfahren, dass es lebendige Personen sind, die hin-
ter der Wissenschaft stecken, sympathische oder unsympathische Menschen,
verknécherte oder lebendige. Manchmal mag die Ausstrahlung der Person gar
wichtiger werden, als was sie vertritt. Als ich in Tiibingen studierte, besuchte
ich auch Vorlesungen von Ernst Bloch. Ich habe fast nichts begriffen, aber er
hat mich stark beeindruckt. Die wenigen Ideenfetzen, die ich aus seinen Vor-
lesungen mitnahm, blieben mir weitaus starker im Bewusstsein haften und
entfalteten dort eine tiefer gehende Langzeitwirkung als Dutzende anderer
Lehrveranstaltungen, denen ich problemlos folgen konnte.
Dieses personale Moment von Wissenschaft tritt beim Lesen stark in den
Hintergrund. Von den meisten Autoren, deren Texte man im Studium liest,
wei man ansonsten nichts oder so gut wie nichts. Die Wissenschaft erscheint
so abgeldst von den Personen. Ich halte das fir einen Verlust Und deshalb
bin ich nicht der Meinung, die von vielen Studierenden vertreten wird: dass
man Vorlesungsbesuche ebenso gut durch Lektiire von Biichern ersetzen kén-
ne, wenn in ihnen inhaltlich das Gleiche vermittelt werde. (Dariiber hinaus
bieten Vorlesungen natiirlich die Méglichkeit, aktueller zu sein, also auf neu-
este Entwicklungen einzugehen, die in Biichern noch keine Beriicksichtigung
finden konnten.)
Dem Verlust steht jedoch ein bedeutender Gewinn gegeniiber. Ich sagte, Wis-
senschaft sei ein sozialer Zusammenhang und das Studium eine Einfiihrung
in diesen sozialen Zusammenhang. Durch die an einer Hochschule lehrenden
Fachvertreter wird aber die Gemeinschaft derer, die das Gemeinschaftswerk
Wissenschaft hervorbringen, nur auerst unzulinglich reprasentiert. Jede
Hochschule, und sei es die renommierteste und auf den oberen Rangen der
Hochschul-Charts postierte, ist so gesehen Provinz, Und andererseits hat man
an jeder Hochschule, und sei sie noch so unbekannt und provinziell, den Zu-
gang zur ,groRen Welt" der Wissenschaft. Denn die erschlie@t sich weitaus
weniger in den Personen der an einer Hochschule Lehrenden als in der wis-
senschaftlichen Literatur.
Dass Lesen allein Einbahn-Kommunikation sei, stimmt auBerdem nicht ganz.
Eine Kommunikation findet statt - aber nur in Ihrem Kopf. Wahrend Sie lesen,
setzen Sie sich zwangslaufig mit dem Gelesenen auseinander. Was Sie beim
Lesen aufnehmen, ist erst einmal etwas Fremdes in Ihrem Kopf; oder sagen
wir freundlicher: es ist in Ihrem Kopf zu Gast. Ob es dort auch heimisch wird,
hangt davon ab, wie Ihre Kommunikation mit diesem ,Gast" ausgeht: ob Sie
Mit CamScanner gescannt1, Teil: Studieren und WISSCnSEE ————
34
en kénnen oder unvereinbare Gegensitze bzw, Fremdheit
sich mit ihm ei
bleiben.
tzung findet natiirlich auch beim Zuhéren statt,
Jegenheit gibt, mit dem Vortragenden in ein Gesprach at
8 igen an ihn zu richten, beschriinkt sich die Kom,
‘iufig auf das innere Gespri ich, das Sie fiihren,
dem beim Zuhdren nachgehen, kann es leicht passieren,
Allerdings, wenn Sie dem beim n i ieren,
dass Thre Gedanken abschweifen und Sic den Kontakt zum Vortrag verlieren,
das entSie ech vor Vorgetragenen nichts entgehen lassen, sind Sie weitge.
hend zur Passivitét verurteilt und miissen die Auseinandersetzung mit dem
Gehérten auf spiter verschieben.
Beim Lesen fiillt diese Einschriinkung weg. Die innere Kommunikation kann
daher viel intensiver sein; wieviel Zeit Sie sich dafiir nehmen, liegt allein bei
Ihnen. Was Sie griindlich gelesen haben, ist eher angeeignet, als was Sie selbst
bei konzentriertestem Zuhdren aufnehmen kénnen. (Allerdings haben Sie dann
aufgrund des immer wieder erfolgenden Innehaltens auch mehr Zeit investiert.)
Diese innere Auseinanderse!
Wenn es keine Gel it
kommen oder wenigstens Fri
munikation auch dort zwangs
Auch beim Lesen stellt sich die Frage: Lesen Sie einen Text, weil dies von Ihnen
verlangt wird? Dann wird es meist darum gehen, seinen Inhalt in irgendeiner
Form, schriftlich oder miindlich, spiter wiedergeben zu k6nnen. Oder lesen Sie
ihn, weil Sie glauben, dass er fiir Sie von Interesse sein konnte? Dann kommt
es darauf an, von der Lektiire fiir die eigene wissenschaftliche Bildung einen
Gewinn zu haben.
Im Studium werden Ihnen haufig Texte angegeben, deren Inhalt Sie dann
(vielleicht auszugsweise) in einem Seminar referieren, in einer Klausur oder
miindlichen Priifung wiedergeben sollen. Manchmal wird Ihnen dabei von
vornherein eine Fragestellung vorgegeben. Dann kommt es nicht unbedingt
darauf an, den Text in seinem gesamten Gehalt zu erfassen. In anderen Fallen
aber ist genau dies nétig.
Rekonstruktion eines wichtigen Textes
W aa
enn es darauf ankommt, sich einen fiir ein Referat, eine Hausarbeit oder
Priifung sehr wichtigen Text in seii
7 7
fehle ich folgendes Vorgehen, a
Mit CamScanner gescannt2. Kapitel: Elemente wissenschaftlichen Arbeitens im Studium 35,
iiber den Inhalt. Oft wird auch am Anfang eines T ispiel in ei
i : ‘extes, B
Binleitung, eine kurze Vorschau auf das gegeben, wes folgen soll. ‘etinciner
Dann lesen Sie erst einmal den gesamten Text it
und zwar ohne etwas aufzuschreiben, a her map
Riicksicht darauf, ob Sie in diesem ersten Anlauf alles verstehen. Fremdwor-
ter und Fachausdriicke, die Sie nicht verstehen, miissen Sie natiirlich sofort
nachschlagen. Schauen Sie bei Begriffen, hinter denen Sie fachspezifische Be-
deutungen vermuten, zuerst im Fachwérterbuch nach, da Sie hier genauere
Auskunft bekommen und mit gréRerer Wahrscheinlichkeit die spezielle Be-
deutung eines Begriffs in Ihrem Themenzusammenhang erléutert wird. Ein
allgemeines Fremdwérterlexikon kann thnen schon mal Ubersetzungen
anbieten, die Sie auf Irrwege fiihren.
Danach sollten Sie versuchen, den Inhalt aus dem Gediachtnis in Stichworten
zu rekapitulieren. Die Stichworte sollten Sie aufschreiben.
Anhand dieser Stichworte versuchen Sie, eine Gesamtlinie in der Darstellung,
die der Text von seinem Thema gegeben hat, zu rekonstruieren. Dabei werden
Sie wahrscheinlich immer wieder mal zur Auffrischung Ihres Gedachtnisses
in den Text hineinsehen miissen. Diese Rekonstruktion des Textes kann ruhig
skizzenhaft bleiben, weil es erstmal nur darauf ankommt, die groen Linien
nachzuzeichnen. Wenn Sie daraus eine kleine schriftliche Ausarbeitung ma-
chen, also einen einigermafen ausformulierten, lesbaren Text — umso besser.
Ich kann Ihnen das nur empfehlen. Dinge, die Sie geschrieben haben, haben
Sie sozusagen doppelt und dreifach gedacht. Entsprechend fester sind sie im
Gedachtnis verankert.
Thre Rekonstruktionsskizze kénnen Sie nun als eine Art Hypothese iiber den
tatsiichlichen Gehalt des Textes betrachten, die Sie bei der folgenden griind-
lichen Lektiire iiberpriifen. Sie werden feststellen, dass Sie beim zweiten Lesen
des Textes so manches, das Ihnen beim ersten Lesen unversténdlich geblieben
war, auf Anhieb verstehen, weil sich sein Sinn aus dem inzwischen bekannten
Gesamtzusammenhang des Textes erschlieft. Sie werden auBerdem feststellen,
dass Ihnen Ihre Hypothese tiber den Gehalt des Textes sehr bei der Orientierung
im Gedankengang des Textes hilft und es leichter macht, die Konzentration
beim Lesen zu bewahren. Wenn Sie dagegen versuchen, gleich beim ersten
Durchgang alles Gelesene vollstandig zu erfassen, fehlt Ihnen diese Hilfe. Das
Lesen ist viel miihevoller - und héchstwahrscheinlich miissen Sie den Text
schlielich doch mindestens noch einmal durchlesen, weil Ihnen beim ersten
Durchkampfen iiber den Schwierigkeiten mit den Details die gréReren Linien
des Textes entgangen sind.
Thre Hypothese iiber den Gehalt des Textes wird sich beim zweiten, griind-
lichen Lesen nicht unbedingt vollstandig bestatigen. Sie werden sie Korrigie~
Ten, modifizieren, differenzieren, erganzen miissen. Wenn Sie iiber den pom
teferieren oder eine Hausarbeit abfassen sollen, miissen Sie das Ergebnis I i
zweiten, griindlichen Lektiire ohnehin schriftlich ausformulieren. Bes auch,
wenn Sie sich nur auf eine schriftliche oder miindliche Priifung vorbereiten,
Mit CamScanner gescannt36 1. Teil: Studieren und wissenschaftlich arbeiten
wire das — aus oben schon genanntem Grund - auBerst empfehlenswert, Da.
nach erst kénnte man sich - bei einem Autor bezichungsweise Text, der von
entsprechender Bedeutung ist - umsehen, ob es in der »Sekundarliteratur«
Zusammenfassungen, Inhaltsangaben zu dem betreffenden Text gibt, um die.
se zusitzlich mit dem eigenen Ergebnis zu konfrontieren. Vorher sollten Sie
das nicht tun, sonst lesen Sie den Text nicht aus der Perspektive Threr eigenen
Hypothese, sondern durch die Brille einer fremden Interpretation.
Denn jede Lektiire ist nicht einfach nur objektive Erfassung eines Gegenstandes,
sondern zugleich seine Interpretation. Sie verstehen einen Text immer nur
auf dem Hintergrund Ihrer eigenen Gedanken zu dem behandelten Thema,
so unklar Ihnen die auch noch sein mégen. Deshalb miissen Sie Ihren eigenen
Zugang zu einem Text finden, unbeeinflusst von fremden Interpretationen, in
denen sich die Gedanken anderer niedergeschlagen haben. Deshalb ist es aber
auch nétig, sich spater noch mit diesen Interpretationen anderer zu beschafti-
gen, um die eigene Sichtweise zu relativieren, aber auch, um gegebenenfalls
fundiert begriinden zu kénnen, warum Sie — nach Kenntnisnahme anderer
Auffassungen und ihrer Begriindungen — der Auffassung sind, dass gerade Ihre
Interpretation dem Text am ehesten angemessen ist.
Primar- und Sekundarliteratur
Die Begriffe ,,Primar-“ und ,,Sekundarliteratur“ werden nicht iiberall einheitlich
gebraucht. Ich verstehe unter Primarliteratur grundsiitzlich alles, was den
unmittelbaren Gegenstand Ihrer Arbeit darstellt, und unter Sekundirlitera-
tur alles das, was andere dann noch iiber diese Primirliteratur geschrieben
haben. Ein und derselbe Text kann demnach Primér- oder Sekundarliteratur
sein, je nachdem, welchen Stellenwert er fiir Sie hat, Sie k6nnen in einem pa-
dagogischen Seminar die Aufgabe erhalten, sich mit Alfred Schiifers Rousseau-
Rezeption auseinanderzusetzen - dann ist dieser Text Ihre Primérliteratur.
Oder Sie beschaftigen sich mit Rousseau’s Bildungsroman Emile, dann ist der
Schafer-Text fiir Sie Sekundarliteratur,
Grundsatzlich sollten Sie Ihre Kenntnisse und Rinsichten iiber piidagogische
Theorien niemals allein auf Sekundarliteratur stiitzen, Wenn Sie etwas iiber
poueeaud Emile schreiben wollen, dann miissen Sie diesen Text auch lesen
und ae ea nicht mit dem begniigen, was in irgendwelchen Paidagogischen
dass Sie aufgasegishtsblichern dariiber steht. Und glauben Sie auch nicht,
Seieatauete eee ie Lektiire des Rousseau-Buchs von Schiifer berechtigt
aerate aay in Ge er Rousseau zu schreiben. Sie kennen Schafers Auffassung,
Ihre Einsicht tber Renee hattlich als solche auch wiedergeben. Aber als
Schafers Tew oan ‘ousseau diirfen Sie dies nicht ausgeben — und schien Ihnen
so iiberzeugend,
Lesen im Studium soll thnen nj
Texten vethelfen. Sie sollen ea zur Bekanntschaft mit bestimmten
der wissenschaftli e Weise auch einen Uberblick iiber de”
selintnn eons on Forschner «Gif CarhSGanner geséaiint2, Kapitel: Elemente wissenschaftlichen Arbeitens im Studium 37
welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen dessen Verfasserin oder Verfasser
gelangt ist, nicht aber, was als Erkenntnisstand ,der Wissenschaft" gelten kann.
Sie kénnten sich in Handbuchartikeln oder ,,infiihrungen in ...“ die entspre-
chende Information zu holen versuchen. Bedenken Sie dabei aber, dass Sie
auch dort die Auffassung eines bestimmten Verfassers dariiber erfahren, was
Stand“ der wissenschaftlichen Forschung und Theoriebildung ist. Es ist nicht
ausgemacht, dass diese Auffassung von den Fachkolleginnen und -kollegen
allgemein geteilt wird.
Wenn Sie sich mit einem Thema ausfiihrlicher beschaftigen und immer wieder
andere Texte dazu lesen, werden Sie aber merken, dass sich die dargestellten
Problemstellungen, Erkenntnisse oder Theorieansatze nicht einfach gleich-
makig verteilen, sondern Gewichtungen feststellbar sind. Auf diese Weise
werden Sie allmahlich damit vertraut, welche Probleme in Ihrem Fachgebiet
(zumindest in einer bestimmten Zeitspanne) in besonderem Mafe das Interesse
der Wissenschaftler herausgefordert haben, welche Theorieansiitze besonders
diskutiert werden und Anerkennung finden, welche Erkenntnisse als gesichert
oder umstritten gelten. Sie fangen an, sich ,auszukennen‘.
Produktives Lesen
Einfacher haben Sie es mit dem Lesen, wenn Sie es tun, weil Sie glauben,
dass die betreffenden Texte fiir Sie interessant sein kénnten, und es nicht
darauf ankommt, ihren Gesamtgehalt zu erfassen oder gar den »Stand der
Wissenschaft in Erfahrung zu bringen. Versuchen Sie, Ihr Interesse nicht
allzu sehr im Vagen zu belassen. Formulieren Sie Fragen an den Text, auf
die Sie sich eine Antwort erhoffen; oder Thesen, zu denen Sie im Text nach
Bekraftigungen, Bestitigungen oder Binwanden, Widerlegungen suchen; oder
Informationsliicken, die der Text hoffentlich schlieBen kann. Dann kénnen Sie
(nach Vororientierung anhand von Inhaltsverzeichnis, Gliederung oder ein-
eitender Ubersicht) durchaus selektiv lesen, weniger interessante Passagen
iiberfliegen und sich in packende Stellen griindlich vertiefen.
Bei der blofen Rezeption eines Textes steht die Auseinandersetzung mit sei-
nem Inhalt nicht im Vordergrund. Unabhangig davon, wie Sie selbst zu den
rezipierten Gedanken stehen, sollen Sie ihren Kerngehalt mi yglichst authen-
tisch wiedergeben kénnen. (Obwohl die Fahigkeit, sich in die Gedankenwelt
eines anderen Menschen hineinzuversetzen, zwangslaufig begrenzt ist, was
fiir jeden Leser gilt.) Wenn Sie aber lesen, um primar fir sich selbst, fiir Ihre
eigenen Gedanken etwas von der Lektiire zu haben, steht die Auseinanderset-
ung unbedingt Ich behaupte, dass Sie—in ic
ns
‘Text haben, je mehr er Sie zur A\
nge schreibt, di e
best Sim38 1. Teil: Studieren und wissenschaftlich arbeiten Vy
Einsichten vermitteln, die sich harmonisch dem bisherigen Erkenntnisstand
einfiigen und so weiter.
J
1m in Gesprichen (und auch in Seminaren) Ihren Auffassunge, er
aoe ee vient und Ihren Argumenten mehr Durchschlagskraft 2u verleiher Wi
So einen Text zt lesen, ist relativ angenehm, und Sie haben daher das Gefih, "i
einen ,guten* Text gelesen zu haben. i 4
Zu Ihrer wissenschaftlichen Bildung tragen solche Texte aber ziemlich wenig is"
bei. Ein ,schlechter* Text konnte Ihnen mehr bringen. Weil Ihnen das, was da we
steht, vollkommen gegen den Strich geht, sehen Sie sich zu Gegenargumenten, v
zu Widerlegungen provoziert. Sie sind gezwungen, was Sie fir richtig halten, é
in einer Weise zu begriinden, dass seine Uberlegenheit gegeniiber dem Ge- ve
lesenen - zumindest fir Sie selbst - iiberzeugend dargelegt wird. Und wenn ¢
Ihnen selbst nicht die richtigen Einwinde einfallen, werden Sie sich vielleicht
in der Sekundarliteratur umsehen, ob sich da nicht jemand findet, der das
Passende zu diesem unméglichen Text geschrieben hat. f
Damit steigen Sie direkt ein in die wissenschaftliche Auseinandersetzung, und ¥i
das heit: Sie nehmen teil am wissenschaftlichen Leben. Womit ich nicht etwa t
sagen will, dass Sie nur durch Texte, die Ihren Widerspruch hervorrufen, wei- g
tergebracht werden. Jeder Text, der nicht lediglich bestatigt, was Sie ohnehin k
schon gedacht haben, kann Sie weiterbringen. Er kann Ihnen Argumente an die
Hand geben, die Ihnen bisher gefehlt haben. Er kann bestimmte Einsichten in §
ihrem Geltungsbereich relativieren. Er kann Ihnen Zusammenhiinge zu ande- 1
ren Einsichten deutlich machen, die Ihnen noch nicht klar waren, zusatzliche (
Ich habe das Lesen mit der Aufnahme eines Gastes verglichen. Ebenso ange-
messen ist die umgekehrte Betrachtungsweise: Lesen ist Gedankenreise. Ihr
Geist bereist das Land, in dem ein anderer Geist heimisch ist. Gedanken sind
keine frei schwebenden Ideen an sich, sie sind Gedanken von Menschen. Die
Reise in die Gedankenwelt eines anderen Menschen wird immer auch davon
etwas vermitteln. Sie merken es daran, dass Sie etwas beriihrt, aufregt, dass
Sie Spannung empfinden; sicher auch manchmal Zorn oder Freude. Lesen
bereichert. Im Zusammenhang des wissenschaftlichen Arbeitens kénnen Sie
das Lesen leider nicht einfach nur genie@en; es ist eben Arbeit — was den Ge-
nuss nicht ausschlieft, sich aber auch nicht auf ihn beschrankt. Sie miissen
sich (und spater anderen) Rechenschaft abgeben iiber den i i
a Gewinn, den diese
Gedankenreise Ihnen gebracht hat, eine Art Reisebericht, Voraussetzung aber
t, dass Sie sich auf die Welt einlassen, die Sie bereisen; dass Sie offen sind
fir ite sjonenen eines anderen Menschen, Wer nur bereit ist aufzunehmen,
a u dem fllgt, was er schon wei, verhiilt sich wie die Touristen, die
Ausschau halten nach deutschem Bier. Und ebenso hat der,
es Ziel im Auge hat, keinen Blick mehr fiir die Landschaft,
und gleicht dem Touristen, der von Mallorca nur
le Gedankenwelt eines andern
ar Sie
Sie kénnen schlieBlich beim
Mit CamScanner gescannt2. Kapitel: Elemente wissenschaftlichen Arbeitens im Studium 39
Lesen nicht Ihre eigene Identitat abstreifen und sollen es ja auch gar nicht.
Das eigene Interesse (das in der eigenen Gedankenwelt seinen Grund hat)
bildet erst den Resonanzboden fiir das, was Sie aufnehmen. Sie miissen sich
halt dariiber klar sein, dass Ihre explizit formulierten Interessen zwar wichtig
sind fiir die Orientierung bei der Lektiire, dass Sie aber dahinter, latent und
unausformuliert, héchstwahrscheinlich noch weitere Interessen haben, von
denen Sie vielleicht noch gar nichts ahnen, die bisher unbewusst, jedenfalls
unklar geblieben sind, dennoch angesprochen werden kénnten. Das sind dann
die Uberraschungen, unerwarteten Einsichten, produktiven Abwege, die sich
beim Lesen ergeben kénnen, wenn Sie an der Orientierung gebenden Frage-
stellung nicht sklavisch kleben.
Wenn Sie es sich leisten kénnten, den lieben langen Tag interessante Texte
zu lesen nur um Ihrer persénlichen Bildung willen, dann ware es sicher nicht
nétig aufzuschreiben, was Ihnen an Einsichten gekommen ist. (Sie wiirden es
vielleicht trotzdem tun, weil es Ihnen Spafs macht.) Da Sie studieren, verhal-
ten sich die Dinge anders. Auch das, was Sie aus Interesse tun, sollte Ihrem
Studienerfolg zugute kommen. Und daher miissen Sie die resultierenden Er-
kenntnisfortschritte festhalten.
Sie sollten sich daher zu allen beschriebenen Schritten schriftliche Aufzeich-
nungen machen: Die Fragen, die Sie an den Text stellen, die Thesen, die Sie
durch seine Lektiire stiitzen wollen, die Wissensliicken, die er schlieSen soll
~ all dies, worin sich Ihr Interesse am Text prazisiert, sollten Sie schriftlich
ausformulieren, und die Antworten, die Bestatigungen oder Widerlegungen, die
zusatzlichen Informationen, die Ihnen der Text dann tatsachlich gibt, ebenso
wie das, was Ihnen dann wieder dazu durch den Kopf geht oder was Sie in der
Sekundirliteratur dazu gefunden haben. Auch hier wieder wiirde ich sagen:
Wenn Sie die Zeit und den Nerv dazu haben, arbeiten Sie das Ganze abschlie-
Rend zu einem einigermagen lesbaren Text aus (ausgefeilte Formulierungen
sind nicht vonnéten; die Darstellung muss nicht liickenlos, die Argumentation
nicht hieb- und stichfest sein), solange Sie noch drinstecken, auch wenn Sie
keine unmittelbare Verwertung fiir das Niedergeschriebene im Studium haben.
Sie werden sich hierfiir spater auRerordentlich dankbar sein.
Anstreichungen, Unterstreichungen, Randnotizen
Was ich in diesem Abschnitt ausfiihre, gilt nur fiir das Arbeiten mit eigenen
Biichern oder Kopien. In geliehenen Biichern Unterstreichungen und Randnc
tizen zu machen, ist eine Gemeinheit, nicht so sehr, weil es Eingriff in fremd
Eigentum ist, sondern weil es spatere Leser in ihrer Konzentrationsfahigkeit
behindert. Wenn ich ein Buch lese, das voller Unterstreichungen und Rand
tizen anderer Leser ist, muss ich standige Aufraumarbeiten leisten. |
ich es nun will oder nicht — das zusatzlich Eingefiigte zie it Aufmé
auf sich, und es kostet Anstrengung, die Aufmerksamke ron é
und auf die reine Textvorgabe 2u konzel uch t
canttlee aiza—sJ
40 1. Teil: Studieren und wissenschaftlich arbeiten
wird. So ein Text gleicht dann einer mit Miill iiberséten Wiese: Es ist Schwierig,
sie noch als Wiese wahrzunehmen.
Anstreichungen, Unterstreichungen und Randnotizen sollten Sie erst beim
2weiten griindlichen Lesen anbringen. Dann wissen Sie schon besser, worauf
es ankommt, und heben nicht Dinge hervor, die Thnen nach der Lektiire des
ganzen Textes dann doch als weniger wichtig erscheinen. Wieso aber iiber-
haupt anstreichen? Zum einen verbinden Sie dadurch das rezipierende Lesen
mit einer manuellen Aktivitat; das sorgt dafiir, dass Sie sich das Gelesene bes-
ser merken kénnen. Das Anstreichen im Text hat zum andern aber vor allem
den Zweck, sich fiir spater die Orientierung im Text zu erleichtern und den
Blick gleich auf das zu lenken, was Sie (zumindest jetzt, beim Anstreichen) fiir
besonders wichtig halten. Wenn das Unterstreichen oder Anstreichen hierfiir
niitzlich sein soll, miissen Sie sparsam damit umgehen. Ist die Hiilfte des Textes
unterstrichen, werden Sie ihn spater doch wieder fast ganz lesen miissen.
Sie sollten also nur unterstreichen oder anstreichen,
* um besonders treffende Formulierungen des Autors oder fiir ihn typische
Aussagen hervorzuheben, die Sie spiter vielleicht zitieren méchten;
* um Worter oder kurze Passagen hervorzuheben, die als Stic
hervor hworte fiir den
Inhalt eines ganzen Textabschnitts dienen kénnen.
Ich habe mir eine Unterstreichungstechnik angewohnt, die sich daran orien-
tiert, dass ich — nach Moglichkeit — das Unterstrichene im Zusammenhang
lesen kann wie eine auSerst komprimierte Fassung des Textes, ohne dass ich
eine solche anfertigen muss.
Randnotizen zum Text k6nnen zusiitzliche Querverweise auf andere Stellen
im Text, Hinweise auf andere Literatur oder auch eigene Kommentierungen
enthalten, kurz alles Mégliche, was zur ErschlieSung des Textes zusitzlich
dienlich ist, i é gi i a "
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