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Einleitung

Die wesentlichen Grundlagen dieses Buches basieren auf Erkenntnis-


sen, welche auf dem Gebiet der Gehirnforschung in den letzten hun-
dert Jahren gemacht werden konnten. Durch die Entwicklung soge-
nannter bildgebender Verfahren ist es inzwischen sogar möglich, die
neurologischen Aktivitäten des Gehirns von außen zu beobachten und
bildlich zu dokumentieren. Hierdurch neu gewonnene Erkenntnisse
stießen bei den Medien auf großes Interesse, wurden so der interes-
sierten Öffentlichkeit zugänglich und gewinnen seit Jahren auch für
die soziale Arbeit zunehmend an Bedeutung. Nachdem die Regierung
in den USA die 1990er-Jahre als das Jahrzehnt des Gehirns ausgerufen
hatte, ist auch in Deutschland in den vergangenen Jahren das Interesse
an diesen Forschungsergebnissen erheblich gestiegen.

Ausgelöst durch den Pisa-Schock wurde die Republik gleich zu Beginn


des neuen Jahrtausends aus ihrem Bildungsschlaf gerissen. In dieser
Studie wurde das Bildungsniveau von Schülern auf internationaler
Ebene verglichen. Das schlechte Abschneiden der deutschen Schüler
führte zu heftigen Diskussionen und zur plötzlichen Sensibilisierung
der Bildungspolitiker aller Parteien. Neue Bildungspläne wurden aus
den Schubladen gezaubert, diverse Arbeitsgruppen gegründet und
Ausschüsse gebildet. Themen wie „Lernen wie man lernt“, Neurodi-
daktik und Neuropädagogik gewannen an Interesse und standen nun
vielerorts auf der bildungspolitischen Tagesordnung. Eine darauf fol-
gende Studie untersuchte das innerdeutsche Bildungsniveau. Neben
einem geografischen Gefälle, wo die südlichen Bundesländer besser
abschnitten als jene im Norden der Republik, konnte im Allgemeinen
auch eine erhebliche Diskrepanz der schulischen Leistungen im Hin-
blick auf die soziale Herkunft beobachtet werden. Entsprechend schnit-
ten Schüler aus den unteren sozialen Schichten bedeutend schlechter
ab wie jene aus den mittleren und oberen gesellschaftlichen Schichten.
Anstatt diesen Benachteiligungen konzeptionell entgegenzuwirken,
wurde dieses Spannungsfeld durch massive Kürzungen im sozialen
Bereich paradoxerweise noch zusätzlich verstärkt. Hintergründe die-
ser sozioökonomischen Veränderungen und die daraus resultierenden
„neurologischen Schäden“ werden im letzten Kapitel erläutert.

Der erste Teil dieses Buches konzentriert sich auf die Grundlagen der
Gehirnforschung. Zunächst werden der anatomische Aufbau des Ge-
hirns und seine stammesgeschichtliche Evolution dargestellt. Das In-

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dividuum wiederholt in seiner Entwicklung diesen Prozess, wodurch
auch Parallelen zur Entwicklungspsychologie deutlich werden. Im
zweiten Kapitel werden die physiologischen Abläufe, d. h. die Funk-
tions- und Arbeitsweise des Gehirns und seine Vernetzungsnotwen-
digkeit für die Lernprozesse, erläutert.

Ein Schwerpunkt des zweiten Teils bezieht sich auf den Paradigmen-
wechsel, der in den letzten Jahrzehnten in mehreren wissenschaftlichen
Disziplinen vonstatten gegangen ist. Die Vorreiterrolle übernahmen
die naturwissenschaftlichen Bereiche, allen voran die Physik. In den
Geisteswissenschaften sind solche Umbrüche vor allem in den psycho-
logischen Lerntheorien durch die sogenannte „kognitive Wende“ voll-
zogen worden. In der sozialen Arbeit wurde der funktionsorientierte
Ansatz weitestgehend vom situationsorientierten Ansatz abgelöst, was
nicht zuletzt auch die Entwicklung eines neuen, humanistischen Men-
schenbildes zur Folge hatte. Bedingt durch diese kognitive und huma-
nistische Wende verloren jetzt die extrinsischen Motivationstheorien,
wie das lineare Reiz-Reaktions-Schema, an wissenschaftlicher Bedeu-
tung. Die neuen Konzepte orientieren sich dagegen an Motivationsfor-
men, welche die inneren Stärken und Potenziale der menschlichen Per-
sönlichkeit betonen. Mithilfe der bildgebenden Verfahren (MRT, PET
etc.) konnten in den 1990er-Jahren neue Erkenntnisse in Bezug auf die
Lern- und Motivationsabläufe im Gehirn gewonnen werden. In die-
sem Kontext wurden die intrinsischen Motivationstheorien nun auch
naturwissenschaftlich bestätigt.

Im weiteren Verlauf werden verschiedene Modelle der kognitiven und


humanistischen Psychologie beschrieben, die sich explizit auf neuro-
biologische Forschungsergebnisse beziehen oder strukturelle Paralle-
len zu diesen aufweisen. In diesem Zusammenhang werden auch Ver-
bindungen zu modernen Ansätzen der sozialen Arbeit, wie z. B. dem
symbolischen Interaktionismus und dem systemisch-konstruktivisti-
schen Ansatz verdeutlicht. Die Notwendigkeit solcher Annäherungen
von Geistes- und Naturwissenschaften wird beispielsweise auch von
Wolf Singer, Direktor am Max-Plank-Institut für Neurobiologie (Frank-
furt am Main), ausdrücklich betont:

„Wenn wir die Verpflichtung ernst nehmen, Entscheidungen über


unsere Zukunft nach bestem Wissen und Gewissen zu fällen, dann
dürfen wir uns nicht auf Wissen beschränken, das von den Natur-
wissenschaften erschlossen wird. Wir müssen in gleichem Maße auf

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jenes Wissen zurückgreifen, das sich im Laufe der kulturhistorischen
Entwicklung angesammelt hat. Dieses Wissen wird, seit sich die
Disziplinen getrennt haben, vornehmlich von den Geisteswissen-
schaften erschlossen und aktualisiert.“ (Singer, 2002, S. 183)

Diese Aussage ist für unser Thema von großer Bedeutung, insbesonde-
re, da es sich bei der sozialen Arbeit um eine interdisziplinäre Professi-
on handelt, welche unter anderem psychologische, soziologische und
politische Bereiche der Geistes- und der Sozialwissenschaften mitein-
ander verknüpft. Daher sollte man solchen Diskussionsangeboten mit
offenem Interesse begegnen, schließlich liegen hier neurobiologische
Erkenntnisse vor, welche zum Erklären von menschlichem Verhalten
und von Lernprozessen entscheidend beitragen und daher bereits seit
Längerem auch den Bereich der Psychologie betreffen. Hierbei handelt
es sich wiederum um ein wesentliches Orientierungsfeld sozialer Ar-
beit, welches auf gar keinen Fall ausgeklammert werden darf.

Auf die konkrete Bedeutung der Gehirnforschung für die soziale Arbeit
konzentriert sich der dritte Teil des Buches. Im sechsten Kapitel wer-
den pädagogische Konzepte, Anwendungsbereiche und Berufsfelder,
wie die pädgogische Kinesiologie, die Kultur- und Erlebnispädagogik
sowie der Early-Excellence-Ansatz, vorgestellt. Anhand dieser Darstel-
lungen soll verdeutlicht werden, dass neurologische Forschungsergeb-
nisse im Bereich der sozialen Arbeit bereits seit Längerem Anwendung
finden, wenn auch oftmals auf indirektem Wege, z. B. über die oben ge-
nannten psychologischen Modelle, insbesondere über systemisch-kon-
struktivistische Ansätze. Darüber hinaus sei hier ausdrücklich betont,
dass die verschiedenen neuen Methoden in der sozialen Arbeit sowie
die Reformpädagogik im Allgemeinen seitens der Gehirnforschung
nun auch eine naturwissenschaftliche Bestätigung finden.

Im siebten Kapitel wird auf den kulturhistorischen Paradigmenwechsel


eingegangen, welcher den Umbruch vom Industrie- ins Informations-
zeitalter beinhaltet. Hier werden neben der aktuellen sozialpolitischen
Situation auch noch die Möglichkeiten und Grenzen der sozialen Ar-
beit im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Veränderungen
aufgezeigt. Diese beinhalten, neben der Beschreibung der beruflichen
und arbeitsmarktpolitischen Lage, auch eine kritische Untersuchung
der aktuellen Sozialpolitik in Bezug auf das zweite Sozialgesetzbuch
(SGB II). Diesbezüglich werden auch die Folgen der Hartz-IV-Geset-
ze für die soziale Arbeit und ihre negativen Auswirkungen auf die

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menschliche Gehirnentwicklung beschrieben. Als mögliche sozialpoli-
tische Alternative, um neurologischen Deprivationen konstruktiv ent-
gegenwirken zu können, wird in diesem Kontext die Einführung eines
bedingungslosen Grundeinkommens ausdrücklich befürwortet.

Abschließend wird das Thema „freier Wille“ angesprochen, welcher


von Gehirnforschern aufgrund neurologischer Forschungsergebnis-
se infrage gestellt und als Illusion oder kulturelles Konstrukt bezeich-
net wird. Hier können Parallelen zu diversen Ansätzen des philoso-
phischen Materialismus gezogen werden. So vertrat Michail Bakunin
bereits im 19.ten Jahrhundert die These, dass der Materialismus den
freien Willen zunächst verneine, dieser sich aber dann durch Selbstre-
flexion des Bewusstseins aus der Materie heraus entwickle. Interessan-
terweise bezieht sich Bakunin hier schon auf vorliegende Erkenntnisse
der Naturwissenschaften, insbesondere der Gehirnforschung.

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