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Phänomenologie und Marxismus
4,f, I? Band 3 \ -
2 J :r
. Sozialphilosophie
;

Herausgegeben von
Bernhard W aldenfels, Jan M. Broekman
1
und Ante Pazanin
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Jan M. Broekman (geb. 1931) ist o. Professor für Philosophie, besonders


Rechtsphilosophie, an der Universität Leuven. Veröffentlichungen: Phä-
nomenologie und Egologie, 1963; Strukturalismus, 1971. Herausgeber
einer Reihe »Kolleg Rechtstheorie«.
Ante Pazanin (geb. 1930) ist o. Professor für Philosophie an der Fakultät
für politische Wissenschaften der Universität Zagreb. Veröffentlichun-
gen: Wissenschaft und Geschichte in der Phänomenologie E. Husserls,
1972; auf kroatisch: Grundzüge der Philosophie, 1970; Marx und der
Materialismus, 1972; Philosophie und Politik, 1973.
Bernhard Waldenfels (geb. 1934) ist o. Professor für Philosophie an der
Universität Bochum. Veröffentlichungen: Das sokratische Fragen, 1961;
Das Zwischenreich des Dialogs, 1971. Mehrere Studien zur französischen
Philosophie, namentlich zu Merleau-Ponty. Mitherausgeber der »Philo-
sophischen Rundschau«.
Autoren aus westlichen und östlichen Ländern setzen hier auf dem
Gebiete der Sozialphilosophie einen Gesprächsversuch fort, der in den
zwei vorangehenden Bänden begonnen wur_de (stw 195 und 196). Eine
Phänomenologie, die der lntersubjektivität und Sozia!ität einen zuneh-
mend fundamentalen Charakter zuschreibt, tritt in bezug zu einem
Marxismus, der seiner Herkunft nach Gesellschaftstheorie ist. Es ergeben
sich Spannungen zwischen egologischer, dialogischer und gesellschaftli-
cher Grundorientierung, zwischen Deskription und Kritik, zwischen der
Kontingenz heterogener Sinnbildungen und Totalitätsansprüchen, zwi-
schen der Mikroskopie alltäglicher Praktiken und einer Makroskopie
institutioneller Großformationen. Das thematische Schwergewicht liegt
auf einer Hermeneutik des Alltags, einer Analyse sprachlich-diskursiver
Praktiken und einer kritischen Theorie der Gesellschaft. Neben phäno-
menologischen Autoren wie Husserl, Scheler, Heidegger, Sartre, Mer-
leau-Ponty, Schütz und marxistischen Autoren wie Luk:ics, Volosinov,
Kosik, A!thusser, Leithäuser kommen Vertreter der Sprechakttheorie und
neuerer französischer Diskurstheorien zu Wort. Suhrkamp
' -t/
ausführliche Behandlung der Relevanzproblematik siehe in: derselbe,
Das Problem der Relevanz, Frankfurt/M. r97r und derselbe/T. Luck-
Paul Ricreur
mann, Strukturen. Rückfrage und Reduktion der Idealitäten
62 Siehe die für die Punkte a) - c) angegebenen Seiten in Kapital I .
63 Siehe die ad d) angegebene Stelle in Kapital II. in Husserls »Krisis« und Marx'
64 K. Marx, Das Elend der Philosophie, MEW Bd. 4, S. 75?6. »Deutscher Ideologie«
65 Grundrisse, S. r3-r4, Hervorhebung im Original.
66 Ebd., S. 12.

Mein Aufsatz verfolgt eine doppelte Absicht. Im Hinblick auf


eine vergleichende Ideengeschichte soll eine bedeutsame Ver-
wandtschaft hergestellt werden zwischen zwei Gedankenent-
würfen, nämlich zwischen dem Marxschen Entwurf in der
Deutschen Ideologie und dem Husserlschen Entwurf in der
Krisis der europäischen Wissenschaften; diese Verwandtschaft
besteht, grob gesagt, in der Reduktion der Sphäre der Idealitä-
ten auf die der Realität, wobei letztere teilweise oder gänzlich
mit der Praxis gleichgesetzt wird. Gewiß haben Marx und
Husserl nicht dieselben Idealitäten vor Augen. Der eine denkt
an die religiösen, politischen und moralischen Idealitäten und
an die »sonstige Ideologie«, während der andere die logischen,
mathematischen und die daraus sich herleitenden philosophi-
schen Idealitäten im Sinn hat. Doch gemeinsam ist ihnen die
philosophische »Geste«, wie ich es nennen möchte, die
»Rückfrage«, wie es bei Husserl heißt. Doch so interessant ein
solcher Vergleich in historischer Sichtweise sein mag, diese
Verwandtschaft zwischen zwei Arten von Rückfrage, wie sie
bei zwei sehr unterschiedlichen Denkern anzutreffen sind,
muß uns auch unter systematischen Gesichtspunkten interes-
sieren. Was bedeutet es denn, wenn man behauptet, die Le-
benswelt oder die Praxis sei der Gesamtsphäre der Vorstellun-
gen und Idealisierungen (im Sinne von Bewußtseinskorrela-
ten) vorgeordnet? In welchem Sinne fundiert das Leben, das
praktische Leben, die Bewußtseinsordnung der Idealitäten
und macht diese zu etwas Abgeleitetem? Ist das praktische
Leben denkbar ohne irgendeine Vermittlung durch Vorstel-
lungen, seien es logische Idealitäten oder eine Ideologie?
Wenn die letztere Frage zu verneinen ist, können diese Ideali-
täten dann zugleich in einem ontologischen Sinne abgeleitet
und in einem epistemologischen Sinne gleichursprünglich
sein? In diesen Fragen geht es letzten Endes um den eigentüm-
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liehen Status von Vorstellungen, Ideologien und Ideafitäten, stand einer ausdrücklichen Reflexion wird, die unseren Ver-
nachdem man diese auf ihren Seins- und Sinnboden zurückge- such rechtfertigt, die Problematik von Husserl auf M~r.x zu
führt hat. Anders gesagt, es geht hier um ihr Anrecht auf übertragen. Es folgt nämlich daraus, d~ß Husser_ls knusche
Eigengültigkeit, ungeachtet ihrer Abhängigkeit von einer pri- Wachsamkeit ihn besser instandsetzt, em Redukt1onsverfah-
mitiveren und ursprünglicheren Seinsart. ren zu definieren, das n;_cht reduktionistisch ist. Damit ist
natürlich nur die allgemeine Richtung angegeben, in der sich
die Hypothese bewegt, die unsere Untersuchung leitet. Wir
I. Die Reduktion der Idealitäten bei Husserl werden sehr bald sehen, daß eine Reduktionsmethode, die
nicht reduktionistisch ist, zu mehrfachen Paradoxien führt.
Ich beginne mit Husserl, und zwar aus methodischen Grün- Doch diese Paradoxien haben zumindest den Vorzug, uns
den. Die Krisis liefert, so scheint mir, einen einfacheren und
1
später wenn wir bei Marx nach einem Äquivalent suchen,
daher günstigeren Modellfall für die Erörterung der eben gegen' die Annahme einer linearen Ka_usalität zwischen _Bas!s
erwähnten Paradoxien. Aus diesem Grunde schien es mir und Oberbau zu schützen, gegen eme Annahme, wie sie
angebracht, den Versuch zu machen, dieses Diskussionsmo- allzuhäufig in vereinfachten Interpretationen des Ma_rxismus
dell hinterdrein auf die komplexeren Probleme zu übertragen, anzutreffen ist. Wir werden uns also zunächst auf diese Re-
die durch die Beziehungen zwischen Ideologie und Praxis in duktionsmethode konzentrieren.
der Deutschen Ideologie aufgeworfen werden.
Das Problem einer Reduktion der Idealitäten auf die Lebens- 1. Die Methode der Rückfrage in der »Krisis«
welt stellt sich einfacher dar als das entsprechende Problem bei
Marx, und dies aus verschiedenen Gründen. Zunächst ist der Die Grundthese, von der wir ausgehen, lautet folgenderma-
paradigmatische Fall von Idealisierung - die mathesis 1-!'nive'.- ßen: die Lebenswelt, die im Fragehorizont der Krisis steht,
salis - leichter in eine Theorie zu fassen als der paradigmati- fällt niemals in irgendeine direkte Anschauun~, sond~r_n ist
sche Fall der Ideologie bei Marx, nämlich die Religion. Sodann nur indirekt zugänglich auf dem Umweg über eme spezifische
ist das Prinzip einer Ausweitung des ursprünglichen Modells Methode der »Rückbesinnung«, die genauer als »Rückfrage«
bei Husserl klarer umrissen : die Mathematisierung der gesam- zu charakterisieren ist. Der Ansatzpunkt für diese Rückfrage
ten Natur, zur theoretischen Praxis erhoben und durch eine
bestimmte innere Teleologie geregelt, stellt in der Tat einen r liegt im gegenwärtigen Zust~nd d~r ~issei:ischatten, allerdings
nicht in der »Wissenschaftlichkeit« im Smne mnerer Exakt-
Prozeß dar, der sich leichter identifizieren läßt als bei Marx die
Ausweitung des ursprünglichen ideologischen Model_ls auf d\e j heit, sondern im Anspruch der Wissenschaften, sich sel_bst z:u
fundieren und dieses Fundament zum Maßstab aller Rationali-
politischen Idealitäten und die Gesamtsphäre der ideologi- tät zu erheben. Husserl geht also von einer ganz bestimmten
schen Vorstellungen. Wenn die Ausweitung des Model\s bei herrschenden Situation aus, und er charakterisiert sie einer-
Husserl einheitlicher ist als bei Marx, so nur deshalb, weil der seits damit, daß die mathematischen Idealitäten sich in unserer
Prozeß im wesentlichen rein epistemologischer Natur ist und Kultur verselbständigt haben, andererseits damit, daß ein all-
somit nur die theoretischen Praktiken betrifft, zumindest in gemeiner Zweifel laut wi~d an der .»al_lgeme!nen Be_wertung«
den Anfangsphasen, während bei Marx die Ausweitung d~s (S. 3), die diese Hypostasierung mit sich brmgt. Wir werden
anfänglichen ideologischen Modells auf alle übri~e Ideolog_1e uns später noch fragen, inwieweit der Zerfal~ des Hegelschen
eine Reihe von sozialen Praktiken durchläuft, die schwer m Systems und seine Umwandlung durch die von Marx so
eine Ordnung zu bringen sind: nämlich Politik, Recht, Kultur genannten deutschen Ideologen auf der Ebene philosophi-
usw. Doch vor allem ist es die Tatsache, daß die Methode scher Motivation mit dem verglichen werden kann, was Hus-
einer Reduktion der Idealitäten bei Husserl selbst zum Gegen- serl für die Krise der europäischen Wissenschaften verant-
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wortlich macht. Diese Parallelität - falls sie irgendeine Gültig- sprung, auf den die Rückfrage abzielt, besteht nicht in irgend-
keit hat - ändert nichts an der Tatsache, daß für Husserl der einer Form von passiver, rezeptiver Anschauung, sondern in
Ursprung jener Krise in der Renaissance, zur Zeit von Galilei einem leistenden Leben. Der Terminus, der uns hier entgegen-
und Descartes anzusetzen ist. Wenn man aber ins Auge faßt, tritt, ist der der Leistung, und er schließt den der Praxis ein:
was ich als philosophische Geste bezeichnet habe, die viel- vor der Geometrie der Idealitäten kommt die praktische Meß-
leicht beiden Denkern gemeinsam ist, so sind es die »tieferen kunst, die von Idealitäten nichts weiß (S. 49). Diese vorgeo-
Motive« (S. 5) der Veränderung, die sich aufdrängen; Husserl metrische Leistung ist jedoch das Sinnesfundament für die
spricht auf ähnliche Weise wie Marx von einer » Wende«, Geometrie. Es ist ein fatales Versäumnis, so erklärt Husserl an
» Wendung« oder » Umwendung«: das europäische Menschen- dieser Stelle, daß Galilei seine Rückfrage nicht bis zur ur-
tum hat in der Renaissance eine »revolutionäre Umwendung« sprünglich sinngebenden Leistung vorangetrieben hat. Auf
(S. 5) vollzogen, und an einer späteren Stelle heißt es: »eine diese Weise hat sich die Idealisierung auf einem Urboden
sonderbare Wende« des ganzen Denkens war die notwendige bewegt, der an sich schon der Ordnung der Tätigkeit und der .
Folge (S. 9). Leistung angehört, der aber bereits bei Galilei verdeckt bleibt.
Eben diese Wende verlangt ihrerseits nach einer Wende im Dieser Gegensatz von Idealisierung und Leistung, wie er
Sinne einer neuen Fundierung. Doch diese Fundierung kann durch die Methode der Rückfrage aufgedeckt wird, soll später
niemals so etwas sein wie eine utopische Projektion: sie geht mit dem Gegensatz von Vorstellung und Praxis bei Marx
aus von der Anerkennung eines verlorenen Ursprungs. Was verglichen werden. ·
wir brauchen, so Husserl, sind »historische und kritische
Rückbesinnungen« mittels einer »Rückfrage nach dem, was 2. Die Kriterien des Ursprünglichen
ursprünglich und je als Philosophie gewollt und durch alle
historisch miteinander kommunizierenden Philosophen und Ich habe vorhin schon angedeutet, daß die Rückfrage viel-
Philosophien hindurch fortgewollt war; dies aber unter kriti- leicht einen Komplex von Paradoxien in sich schließt. Die
scher Erwägung dessen, was in Zielstellung und Methode erste Paradoxie betrifft die Kriterien des Ursprünglichen. Man
diejenige letzte Ursprungsechtheit erweist, welche, einmal sollte sich nicht hinwegtäuschen über die Unstimmigkeiten
erschaut, den Willen apodiktisch bezwingt« (S. 16). Dieser zwischen den verstreuten Bemerkungen, die Husserl zu die-
Text führt uns auf die Methode der Rückfrage, die den sem Thema macht.
Leitfaden abgeben soll für die folgenden Überlegungen. Die von Galilei ausgehende Reflexion legt uns eine erste
Drei Bemerkungen drängen sich hier auf. Zunächst gilt es auf Reihe von Aspekten nahe. Zunächst ergibt sich folgender
den indirekten Charakter der Methode zu achten, ungeachtet Aspekt: noch vor allen geometrischen Gebilden, noch vor
der Tatsache, daß sie auf etwas ausgerichtet ist, was als dem geometrischen Raum und der geometrischen Zeit findet
Letztes, Ursprünglichstes, Echtestes gilt. Sodann setzt die man ein tätiges Lebewesen in einer bestimmten Umwelt.
Rückkehr zu einem vergessenen Ursprung voraus, daß der Wollte man einzig und allein diese Gedankenlinie verfolgen,
Idealisierungsprozeß als eine »Überschiebung« durchschaut so gelangte man zu der Idee einer Lebenswelt, die nicht nur in
wird, mittels derer die substruierte mathematische Welt für sich selbst geschlossen, sondern auch gegen jegliche Frage
die einzig wirkliche, die wirklich wahrnehmungsmäßig gege- abgeschlossen wäre. Sagt Husserl nicht selbst, diese Lebens-
bene Welt, kurz, als unsere »alltägliche Lebenswelt« (S. 48-49) welt bleibe in ihrer eigenen Wesensstruktur unverändert, was
genommen wird. Wir werden uns später fragen, wieweit diese immer wir »kunstlos oder als Kunst« (S. 51) tun? Doch ein
Oberschiebung auf schluß reich ist für die Metapher der opti- zweiter Aspekt rückt den ersten zurecht: das Handeln, das für
schen Umkehrung, der camera obscura, wie sie bei Marx zu diese Ebene charakteristisch ist, schließt jeweils ein Vor-ha-
finden ist. Und schließlich eine dritte Bemerkung: der Ur- ben, ein Vor-meinen ein: »Alle Praxis mit ihren Vorhaben
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impliziert Induktionen« (ebd.). Die Trennungslinie verläuft wird. Mit Kant bewegt sich unsere Reflexion tatsächlich auf
also nicht zwischen Leben einerseits und Voraussicht oder der Ebene von Geltungsfragen. Die geeignete Form, ideale
Induktion andererseits, sondern zwischen Induktion als zuge- Geltungen auf ihr Erfahrungsfundament zurückzuführen, be-
hörig der Sphäre der Praxis und Induktion als »ins Unendliche steht darin, die Erfahrung selbst als einen Prozeß der »Wer-
zu steigernde« (ebd.). Mit anderen Worten, die entscheidende tung« und die Subjekte als »bewertende Ichsubjekte« (ebd.)
Wende liegt in der Idealisierung im Sinne einer unendlichen darzustellen. Husserl bemerkt in diesem Zusammenhang, daß
Iteration. Die Trennungslinie, die hier verläuft, läßt sich Wertungen zu »habituellen Erwerben« absinken, zugleich
schwieriger ziehen, sofern nämlich das Vorhaben seiner Mög- aber beliebig »wieder aktualisiert« werden können; auf diese
lichkeit nach für den unendlichen Prozeß offen zu sein Weise dauern sie fort als »unsere Geltungen«. Diese Wertdi-
scheint, der die Idealisierung charakterisiert. Ein dritter mension der Lebenswelt wird nicht aufgehoben durch das
Aspekt scheint den erstgenannten zu bekräftigen, doch er tut Insistieren auf den »sinnlichen« und »körperlichen« Aspekten
dies gewissermaßen auf der Ebene des zweiten Aspekts: der der Lebenswelt im Sinne einer »Sinnenwelt«, durch das Insi-
neue Prozeß bleibt letzten Endes der Praxis äußerlich; Husserl stieren auf jenen Aspekten also, mit denen Husserl sich lang
wagt es hier von einem »Ideenkleid« zu sprechen, das die und breit befaßt in demselben Paragraphen, der die von Kant
Lebenswelt zugleich »vertritt« und »verkleidet« (S. 52). Diese nicht berücksichtigten Voraussetzungen behandelt (§ 28). Es
Verkleidung hat Galilei daran gehindert, jemals die wirkliche legt sich der Gedanke nahe, daß der Übergang von der
Bedeutung seiner Methode, seiner Formulierungen und seiner Sinnenwelt zur Wertewelt durch das »ich kann« und das »ich
Theorien zu begreifen. Auf diese Weise war er zugleich »ent- tue« garantiert ist, durch das, was aus dem Subjekt ein »Ich
deckender und verdeckender Genius« (S. 53). der Affektion und Aktionen« (S. 109) macht.
Die von Kant ausgehende Reflexion legt eine andere Reihe Doch wie immer es mit der Kohärenz zwischen der Be-
von Aspekten nahe. Kant versucht die Voraussetzung aller schreibung der Welt als Sinnenwelt und der Welt als Werte-
Voraussetzungen in einem Kategoriensystem zu fundieren. welt bestellt sein mag, die Gemeinschaftsdimension der Le-
Wir müssen also das Problem der Rückfrage in gleicher Weise benswelt geht jedenfalls auf die wertende Tätigkeit zurück.
in den Termini der Voraussetzung formulieren. (Auch diese Leben besagt, »miteinander in der Welt leben« (S. uo); unter
Terminologie ist Marx nicht fremd.) Innerhalb dieses neuen diesen Bedingungen wird aus den »Aktsubjekten« ein poten-
Bezugsrahmens wird die Lebenswelt bezeichnet als der unbe- tielles »Wir«, wie die Analysen von Alfred Schütz zeigen.
fragte Boden jeglicher Voraussetzung (S. 106). Was Kant ver- Indem Husserl derart die kulturellen und wertmäßigen
gessen hat, gehört in den Bereich der Leistung, der Leistung Aspekte der Lebenswelt hervorhebt, schafft er die Möglich-
der transzendental-formenden Subjektivität. Die Kantische keit, die Wissenschaft selbst in die Sphäre der Praxis einzu-
Terminologie ist hier beibehalten, aber zugleich umgedeutet. schließen, und zwar als theoretische Praxis. Der Begriff der
Es geht hier nicht mehr um eine Tätigkeit der Synthesis, Lebenswelt weitet sich aus bis zu einem Punkt, wo er sein
sondern um die »als seiend vorausgesetzte alltägliche Lebens- Gegenstück, die objektive Welt, mit einbegreift, natürlich
umwelt« (ebd.). Die Implikationen dieser spezifischen Art nicht, insoweit sie objektiv ist, doch insofern, als sie das
von Rückfrage unterscheiden sich merklich von denen, die mit Produkt einer Leistung ist. Die Wissenschaft ist eine Leistung,
dem Begriff einer vorgeometrischen Praxis verbunden sind. ein Gebilde, das der gemeinsamen wissenschaftlichen Tätig-
Zunächst einmal werden die kulturellen Prädikate der Welt keit entstammt (§ 34e); selbst Bolzanos Sätze an sich sind
hervorgehoben. Die Wissenschaften, so heißt es bei Husserl, menschliche Gebilde, rückbezogen auf menschliche »Aktuali-
sind »Kulturtatsachen in dieser Welt« (S. 107). Es ist verständ- täten und Potenzialitäten«: sie gehören zur »konkreten Ein-
lich, warum gerade an dieser Stelle und in diesem Zusammen- heit der Lebenswelt ... , deren Konkretion also weiter reicht
hang die kulturelle Dimension der Lebenswelt hervorgehoben als die der ,Dinge«< (S. 133).
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Doch diese Einbeziehung der theoretischen Praxis in das ausgeht. So gesehen ist die Lebenswelt außerhalb unserer
umfassende Universum der Lebenswelt ist noch nicht das Reichweite. Sie ist die letzte Voraussetzung, die als solche
letzte Wort. Die kulturelle und gemeinschaftliche Dimension niemals in ein neues paradiesisches Leben überführt werden
des praktischen Lebens in der Welt macht aus ihm eine kann.
»anonyme Subjektivität«, und dies nicht nur deshalb, so Außerdem ist die Wahrnehmungswelt - von Husserl Sinnen-
scheint es, weil seine Quelle, sein Boden als Leistung verges- welt genannt -, die wir gern mit der Lebenswelt und ihrer
sen wurde, sondern weil die Leistung selbst anonym ist auf Praxis identifizieren, keineswegs etwas, das der Deutung ent-
der Ebene der Teleologie, die das Leben auf bestimmte »Ge- behrt. W aldenfels weist uns darauf hin: Wahrnehmung ist
stalten« hinordnet (S. 114). Diesen letzten Gedankenschritt Deutung. 2 Die Krisis bestätigt es selbst: die Umwehen afrika-
verstehe ich auf folgende Weise. Als Husserl sich mit der nischer Neger und chinesischer Bauern haben nicht dieselben
Konsequenz konfrontiert sah, die Lebenswelt könne eine Wahrnehmungswerte wie die Umwelt des Abendländers. Auf
private, mitteilungslose Welt sein, wie es der Fall wäre, wenn andere Weise, aber in konvergierender Richtung ist die vor-
einzig der »subjektiv-relative« Aspekt betont würde, richtete geometrische Welt bereits auf Vorhaben hingeordnet, die der
er seine Aufmerksamkeit auf eine Art von »unverbrüchlicher geometrischen Welt den Weg bahnen. Wir sind immer schon
Einheit des Sinn- und Geltungszusammenhanges ... , der jenseits des Vorgegebenen, das vor-gegeben bleibt und nie-
durch alle geistigen Leistungen hindurchgeht« (S. 115). Allen mals aufs Neue gegeben ist.
individuellen und kulturellen Leistungen voraus findet man Doch man muß noch einen Schritt weitergehen: die soge-
bereits eine universelle Leistung. Diese ist in jeder menschli- nannte Lebenswelt ist selbst nicht jeglicher Frage enthoben.
chen Praxis, in jeglichem vorwissenschaftlichen und wissen- Wenn sie für eine Rückfrage, die von Galilei oder selbst von
schaftlichen Leben vorausgesetzt (ebd.). Kant ausgeht, voraussetzungslos erscheinen könnte, dann ist
Diese abschließende Suche nach einer »letztfungierenden sie für die Cartesianische Frageweise, die wir bisher noch nicht
Subjektivität« (ebd.) konnte ihren Ausdruck erst finden am berücksichtigt haben, auf grundlegende Weise dem Zweifel
Ende einer Reflexion zweiter Ordnung, die sich auf die Tran- ausgesetzt. In· Paragraph 17, der den Titel trägt: Descartes'
szendentalphilosophie Kants stützte. Rückgang zum ,ego cogito,, finden wir die deutliche Behaup-
Wenn die Suche nach Kriterien für das Ursprüngliche so gar tung, daß der radikale Zweifel Descartes' nicht nur die Gültig-
nicht an einen Abschluß kommen will, wenn sie sich gar in keit aller vorausgehenden Wissenschaften betrifft, sondern so-
verschiedene Richtungen zu verlieren scheint, so wohl des- gar die Gültigkeit der vor- und außerwissenschaftlichen Le-
halb, weil die Frage selbst schon schlecht gestellt ist. Das benswelt (S. 77). Diese Behauptung scheint auf den ersten
Ursprüngliche, so müssen wir sagen, ist kein Gegenstand der Blick unvereinbar mit der Charakterisierung der Lebenswelt
Deskription. Oder, um es anders zu sagen, das hier in An- als letzter Voraussetzung. Doch die verschiedenen Aussagen
spruch genommene Vorgegebene ist niemals aufs Neue gege- lassen sich vereinbaren- ich greife hier der Lösung vor, die ich
ben. Die Philosophie ist keine Wiederholung des Ursprüngli- später skizzieren werde - , wenn man die ontologische Funk-
chen. tion der Lebenswelt, die ihr zukommt, sofern sie vor jeder
Die vorausgegangene Reflexion auf die Kriterien des Ur- Deutung schon da ist, abtrennt von ihrer epistemologischen
sprünglichen liefert uns einige der Gründe für dies negative Funktion, die sie übernimmt, sofern sie auf Gültigkeit An-
Resultat. W eitere Gründe werden wir später noch entdecken. spruch erhebt. Auf dem cartesianischen Weg gelangen wir
Zunächst scheint es, daß der Begriff der Lebenswelt nicht genau dahin, die Lebenswelt, sofern sie Anspruch auf Gültig-
abgelöst werden kann von eben der Methode der Rückfrage, keit erhebt, dem cartesianischen Zweifel zu unterwerfen.
die von der Schicht der durch wissenschaftliche und kulturelle Doch soll diese Unterscheidung getroffen und aufrechterhal-
Tätigkeit erzeugten Idealisierungen und Objektivierungen ten werden, so ist der ontologische Boden, abgelöst von
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seinem Anspr.uch auf Legitimität, weiter denn je entfernt von Diese These läßt nun aber neue Paradoxien hervortreten.
einer jeden Wiederholung in einer anschaulichen Erfahrung. Wenn der eigentümliche »Seinssinn« der Lebenswelt eine
Dies ist vielleicht der Grund dafür, daß Husserl vom »origina- offene Frage bleibt (S. 124), so deswegen, weil man überhaupt
len Cartesianischen Motiv« spricht als von der »Hölle einer nicht versteht, wie die Frage nach der absoluten Geltung der
nicht mehr zu übersteigernden quasi-skeptischen Epoche« Lebenswelt als einer erlebten vorausgehen kann. Die Wissen-
(S. 78). Diese überraschende Erklärung läßt durchblicken, daß schaftlichkeit des Vorwissenschaftlichen bleibt eine undurch-
die Lebenswelt nicht eine Welt ist, in die wir zurückkehren sichtige Frage. Erforderlich ist eine Wissenschaftlichkeit, die
können wie Odysseus nach Ithaka, denn wir haben sie für verschieden ist von der objektiv-logischen Wissenschaftlich-
immer verlassen, nicht nur zugunsten von Mathematiken und keit, und sie ist »als die letztbegründende nicht die mindere
der Physik, sondern unter dem Druck einer Frage, die sich sondern die dem Werte nach höhere« (S. 127). Wie aber kann
ebenfalls gegen sie wendet: die Frage nach der letzten Fundie- eine solche Episteme gleichzeitig ihrem verächtlichsten Ge-
rung. Diese Frage gehört in der Tat selbst nicht mehr zur genpart, der Doxa, gerecht werden?
Lebenswelt. Sie wurde gestellt von dem »neuen Menschen- Die Beilage XVII entwickelt auf andere Weise die Paradoxie
tum« (§ 33), das heißt, von den Griechen. Die Frage der einer absoluten Fundierung in der Lebenswelt. Husserl er-
Griechen nach dem letzten Fundament gehört nicht mehr zur kennt die notwendige und zugleich gefährliche »Doppeldeu-
Lebenswelt selbst, versteht man darunter das unmittelbare tigkeit« von Welt als »Gebiet« an. In einem ersten Sinne ist das
Leben auf der Ebene einer radikal vorwissenschaftlichen Gebiet etwas allen Zwecken Vorausgehendes; es liegt jenseits
Praxis. aller Aufteilung; es ist der Boden. Doch das Insgesamt des
schon Erziehen und Zu-erzielenden bildet ebenfalls eine Art
3. Die epistemologische Funktion der Lebenswelt von »Gebiet«. Hier meint »Gebiet« den Ort aller Sonder-
zwecke, aller besonderen T eleologien, unter denen sich auch
Die Frage nach den Kriterien des Ursprünglichen wird abge- die der verschiedenen Wissenschaften befindet. Die Paradoxie
löst durch die Frage nach der epistemologischen Funktion der besteht nun darin, daß das vorgegebene »Gebiet« nicht er-
Lebenswelt. Diese Frage ist allerdings ebensowenig frei von reicht werden kann ohne den Umweg über besondere
Paradoxien. Doch vielleicht widersetzen diese sich weniger Zwecke, die diese oder jene Kulturwelt bilden, zum Beispiel
dem Versuch einer Harmonisierung oder Versöhnung. die vorwissenschaftliche und die wissenschaftliche Welt. Der
Eines ist inzwischen klar: das Zurück zur Lebenswelt ist nur »Kontrast« zwischen dem Vorgegebenen als der ungeteilten
ein Moment, eine Zwischenstufe innerhalb eines fundamenta- Ganzheit und den teilhaften Zweckgebilden behält also etwas
leren »Zurücks«, des Zurücks zur Wissenschaft als solcher, Verwirrendes. Husserl gibt selbst zu: »Hier ist wieder ein
zur Vernunft als solcher, jenseits ihrer Eingrenzung in das Verwirrendes« (S. 462). Es ist in der Tat nicht einzusehen, wie
objektive Denken. Was wir uns also klarmachen müssen, ist man das Vorthematische als Horizont mit dem schon Thema-
folgendes: um den Begriff der Wissenschaft in seinem echten tisierten in Einklang bringen soll. Deshalb erscheint es als eine
Sinn wiederherzustellen, muß man den Umweg nehmen über »paradoxe Frage« (ebd.), wie man »die« Welt zum Thema
eine Rückfrage, die dieses objektive Denken zum Ausgangs- machen will, obwohl sie doch keinem der Themen zugehört,
punkt nimmt, seine mangelnde Fundierung aufdeckt und es die für die Zweckgebilde der objektiven Wissenschaften maß-.
auf das zurückführt, was ihm absolut vorausgeht. Diese Funk- gebend sind. Dies ist also die letzte Paradoxie. Trotz aller
tion der »Rückfrage zur Lebenswelt«, die ihr bei der Wieder- Anstrengungen, die Wissenschaft als Leistung in die Gesamt-
herstellung der wirklichen Bedeutung von Vernunft und Wis- struktur der Lebenswelt einzubetten, meldet sich doch immer
senschaft zufällt, müssen wir also aufzudecken und zu verste- wieder eine innere Diskrepanz zwischen dem Vorwissen-
hen suchen. schaftlichen und dem Wissenschaftlichen. Husserl gesteht
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sich zumindest an einer Stelle die U nauflöslichkeit dieser unserer Geschichte, daß Galilei, Descartes und Kant unserer
Paradoxie ein: »Die paradoxen Aufeinanderbezogenheiten Modernität die Richtung gegeben haben, wie wir sie kennen.
von ,objektiver Wahrheit< und ,Lebenswelt< machen die Seins- Ebenso müssen wir vorwegnehmend feststellen, daß es ein
weise beider rätselhaft« (S. 134). Das Rätsel liegt darin, daß die Zufall ist, wenn die Hegelsche Philosophie vom Staat und vom
beiden Welten unzertrennlich miteinander verbunden und absoluten Wissen Marx den Ansatzpunkt für seinen Reduk-
unwiderruflich einander entgegengesetzt sind. tionsprozeß geliefert hat. Was umgekehrt nicht zufällig ist, das
Man muß also Busserl seine äußerste Hellsichtigkeit zugute ist die Hybris, die den erwähnten Anspruch beseelt. In diesem
halten, mit der er die Paradoxien aufzeigt, die mit der Suche Sinne hat Kant das Richtige getroffen : die Vernunft sieht sich
nach einer letzten Fundierung zusammenhängen. Diese Hell- immerzu mit der Notwendigkeit des »transzendentalen Schei-
sichtigkeit grenzt mitunter an Verwirrung: »In den Versu- nes« konfrontiert. Vielleicht ist das Auftauchen des Bewußt-
chen, zur Klarheit zu kommen, werden wir angesichts der seins als ein philosophisches Thema mit einer ähnlichen Hy-
auftauchenden Paradoxien mit einem Male der Bodenlosigkeit bris verknüpft. Sich setzen, das bedeutet für das Bewußtsein,
unseres ganzen bisherigen Philosophierens inne. Wie können sich in sich selbst gründen wollen. Die Rückkehr zur Lebens-
wir jetzt wirklich zu Philosophen werden?« (ebd.) Und später welt bricht mit dieser Hybris, indem sie zu der Behauptung
dann: »Wir sind hier absolut Anfänger und haben nichts von gelangt, daß die Welt dem Bewußtsein immer schon vorausge-
einer hier zur Normierung berufenen Logik« (S. 136), und gangen ist. Diese Behauptung ist die positive Seite der ontolo-
dies »nicht nur durch die Größe des Zieles, sondern durch die gischen These. Sie besteht darin, die Lebenswelt als den
wesensmäßige Fremdheit und Gefährlichkeit der dabei in letzten Bezugspunkt jeder Idealisierung, jeglichen Diskurses
Funktion tretenden notwendigen Gedanken« (S. 137). anzusetzen. Busserl schreibt: »Vermöge dieser Verwurzelung
hat die objektive Wissenschaft beständige Sinnbeziehung auf
4. Die epistemologische Funktion und die ontologische die Welt, in der wir immerzu und in der wir auch als Wissen-
Funktion der Rückkehr zur Lebenswelt schaftler und dann auch in der Allgemeinschaft der Mitwis-
senschaftler leben« (S. 132).
Um diese Paradoxien und vielleicht auch ähnliche bei Marx Doch diese ontologische These besagt nichts, weder in ihrer
aufzulösen, möchte ich auf einen früheren Gedanken zurück- polemischen noch in ihrer assertorischen Form, über die
kommen, nämlich auf die Möglichkeit, die epistemologische epistemologische Funktion von Idealisierungen, Objektivatio-
Funktion der Lebenswelt von ihrer ontologischen Funktion nen, Konstruktionen, Sinngebilden usf. Die These vom letzten
zu trennen. Bezugspunkt läßt die Frage nach einer letzten Rechtfertigung
Die ontologische Funktion kündigt sich unter zwei Formen unberührt. An dieser Stelle entstehen die Mißverständnisse,
an: die erste ist negativ und polemisch, die zweite positiv und nicht nur die, die Busserl auflöst, sondern auch die, die er
assertorisch. Die Notwendigkeit, daß die ontologische Funk- weckt. Sie vereinigen sich alle in der Zweideutigkeit des
tion zunächst eine polemische Form annehmen muß, ist Marx Begriffes ,Fundament<, der einmal den gründenden Boden
und Busserl gemeinsam. Die These widersetzt sich zunächst gezeichnet, auf dem etwas aufgebaut wird, bald das Prinzip
einem gegenteiligen Anspruch, dem Anspruch nämlich, das der Rechtfertigung, das die Konstruktion von Idealitäten
Bewußtsein zum Ursprung und Beherrscher des Sinns zu lenkt, die auf dieser Grundlage stattfindet. Nur indem wir
erheben. Die erste Funktion des Begriffs der Lebenswelt diese zwei Bedeutungen von Fundament unterscheiden, kön-
besteht darin, diesen Anspruch zu untergraben. Gewiß hat nen wir die von Busserl bemerkte Paradoxie überwinden, die
dieser Anspruch einen zufälligen Charakter. Deshalb machen den Beziehungen zwischen der objektiv wahren Welt und der
Busserl und Marx ihn nicht von demselben historischen Au- Lebenswelt anhaftet. Diese Paradoxie besteht, wie wir uns
genblick abhängig. Es ist in der Tat ein zufälliger Umstand erinnern, darin, daß man gleichzeitig eine Beziehung des
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Kontrastes und eine Beziehung der Abhängigkeit ansetzt. Die von Symbolen und Regeln, in deren Raster die Welt schon
Paradoxie verschwindet oder, wenn man so will, sie wird zu interpretiert ist, sobald wir zu denken beginnen.
dem, was sie wirklich ist, nämlich eine Paradoxie, wenn man Man kann diese wechselseitige Vorordnung weiterhin eine
die epistemologische Beziehung des Kontrastes von der onto- Paradoxie nennen : die Paradoxie, nach der die Lebenswelt als
logischen Beziehung der Abhängigk~it absondert. vorgegebene dem Gültigkeitsanspruch vorausliegt, aber den-
Unter einem »Kontrast« haben wir zu verstehen, daß die noch immer schon von ihm überschritten ist. Doch dieses
Gültigkeitsfrage in einer Sit~ation auftaucht, die sie ~ls solche Paradox hört auf, eine Doppeldeutigkeit zu sein, wenn man die
nicht enthält. Diese Frage 1st von anderer Art als Jene nach Unterscheidung aufrechterhält zwischen der ontologischen
dem letzten Bezugspunkt. Deshalb kann man sagen, daß der Vorgängigkeit der Lebenswelt und dem epistemologischen
Begriff der Wissenschaft durch ein neues ~ens~he?tum, die Primat der Idee der Wissenschaft, die für jede Frage nach der
Griechen, aufgestellt werden mußte. Die Ems1cht, daß Gültigkeit leitend ist.
die Lebenswelt jeder Idealisierung vorausgeht, erfordert
keine »griechische Wissenschaft«. Die Idee der Wiss~nschaft
als der Quelle jeglicher Rechtfertigung entstamrr:t mcht _der II. Die Reduktion der Ideologie bei Marx
Lebenswelt. Wie wir sehen werden, muß Marx sich zu emer
ähnlichen Unterscheidung bereitfinden bei der entschei- Die Paradoxien in Husserls Krisis erleichtern, so scheint mir,
denden Wende seines Arguments, das die Beziehung zwi- den Zugang zu ähnlichen, aber versteckteren Paradoxien, wie
schen herrschenden Gedanken und herrschender Klasse be- sie sich in der Deutschen Ideologie von Marx finden.3
trifft. Marx handelt von Ideologien und nicht mehr von Idealitä-
Diese Unterscheidung zwischen der ontologischen und der ten; doch dabei stellt er meines Erachtens eine ähnliche onto-
epistemologischen These spricht für die Idee einer irreduzi- logische These auf wie Husserl, indem er nämlich die gesamte
blen Dialektik zwischen der Abhängigkeitsbeziehung und der Sphäre der Ideologien auf ihre Basis im wirklichen Leben als
Kontrastbeziehung und letzten Endes für eine Dialektik zwi- auf ihren letzten Bezugspunkt zurückführt. Aber er stößt
schen der realen Welt als Boden und der Idee der Wissenschaft dabei auf eine ähnliche Schwierigkeit wie Husserl, wo es
als Prinzip jeglicher Gültigkeit. Die reale W~lt hat den V~r- darum geht, der relativen Autonomie der Ideologien gerecht
rang in der ontologischen Ordnung. Aber die Idee der Wis- zu werden. Die Autonomie in der Abhängigkeit, wie sie für
senschaft hat den Vorrang in der epistemologischen Ordnung. die ganze Sphäre der Ideologie charakteristisch ist, findet
Man kann also die Idealitäten in dem Sinne »herleiten«, als sie vielleicht - mutatis mutandis - ihre Aufklärung in der Hus-
sich auf die reale Welt beziehen. Doch man kann nicht ihren serlschen Paradoxie, die sich zugleich für eine epistemologi-
Gültigkeitsanspruch herleiten. Dieser Anspruch wirkt zurück sche Irreduzibilität der Idealitäten und für ihre ontologische
auf die Idee der Wissenschaft, die in anderem Sinne ursprüng- Abhängigkeit von der Lebenwelt ausspricht. Diese Paradoxie
licher ist als die Lebenswelt. Mit anderen Worten, wir leben in bedeutet letzten Endes eine »Reduktion« ohne »Reduktio-
einer Welt, die jeder Frage nach der Gültigkeit vorausgeht. n1smus«.
Doch die Frage nach der Gültigkeit geht ihrerseits allen
Versuchen voraus, den Situationen, in denen wir uns befinden, 1. Von der Ideologie zur Praxis
einen Sinn zu geben. Sobald wir zu denken beginnen, werden
wir gewahr, daß wir immer schon in und durch »Welten« aus Das, worauf es bei der Interpretation der Deutschen Ideologie
Vorstellungen, Idealitäten und Normen leben. So gesehen zunächst ankommt, ist die Rolle, die die reduktive Methode
bewegen wir uns in zwei Welten: in der vorgegebenen Welt, bei der Bestimmung des zentralen Begriffs der Praxis spielt.
die Grenze und Boden ist für die andere, und in einer Welt Ich halte es für außerordentlich wichtig zu betonen, wie sehr
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die entscheidenden Merkmale der Praxis von der regressiven tung des Begriffs der Ideologie, der nun nicht mehr lediglich
Methode abhängen, nach der sie gewonnen werden. Ähnlich die deutsche Ideologie bezeichnet, sondern eine Denkweise
wie bei Busserl, der von der Krisis der europäischen Wissen- die das Bewußtsein zum Ausgangspunkt nimmt. Der Begriff
schaften ausging, um auf dem Wege einer Rückfrage die der Ideologie erstre~kt sich damit auf die gesamte Sphäre der
Lebenswelt zu erreichen, beginnt die Deutsche Ideologie da- »Vorstellungen«. Die ersten Worte der Vorrede geben bereits
mit, den Status der Ideologie selbst zu erörtern. Die ersten den Ton an: »Die Menschen haben sich bisher stets falsche
Sätze des Kapitels über Feuerbach beziehen sich nicht auf die Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind
Praxis, sondern auf die Ideologie. oder sein sollen.« (S. 3) Der Ausdruck »Vorstellung« läßt
Dieser Terminus bezeichnet zunächst in einem einge- einige Varianten zu: »Hirngespinste«, »Herrschaft der Gedan-
schränkten Sinne die deutsche Ideologie, das heißt den Ver- ken«, »Ideen«, »sagen, sich einbilden, sich vorstellen« usw.
such, die Dekomposition der Hegelschen Philosophie durch Diese Varianten haben wenig zu besagen, sie gehören alle der
eine Kritik »im reinen Gedanken« voranzutreiben (S. 7): »Die »ersten Betrachtungsweise« an. Es ist nicht einmal erforder-
Althegelianer hatten Alles begriffen, sobald es auf eine Hegel- lich, die Formen der Ideologie genau und vollständig aufzu-
sehe logische Kategorie zurückgeführt war. Die Junghegelia- zählen; e~ genügt, eini_g~ Formen zu erwähnen: Religion,
ner kritisierten Alles, indem sie ihm religiöse Vorstellungen Metaphysik, Moral, Polmk, Recht; man kann ruhig hinzufü-
unterschoben oder es für theologisch erklärten« (S. 9). Zu- &en: _»und die sonstige Ideologie« (S. 16). Das Wesentliche
nächst hält Marx sich an diesen eingeschränkten Begriff von hegt m dem globalen Gegensatz zweier Methoden.
Ideologie, wenn er dem Denken der Junghegeliane~ entgegen- Dieser Gegensatz beherrscht die grundlegende Dichotomie,
tritt und dabei Methode gegen Methode setzt: Die »Forde- auf der letzten Endes das gesamte Werk aufbaut; dort, wo
rung, das Bewußtsein zu verändern, läuft auf die Forderung Ma_rx von der gesellschaftlichen und politischen Gliederung
hinaus, das Bestehende anders zu interpretieren, d. h. es ver- spnc~t und vom Lebensprozeß bestimmter Individuen, aus
mittelst einer andren Interpretation anzuerkennen« (ebd.). dem Jene hervorgeht, fügt Marx verdeutlichend hinzu: »aber
Die Junghegelianer vergessen, daß man die wirklich bestehen- dieser Individuen, nicht wie sie in der eignen oder fremden
de Welt nicht bekämpft, solange man nur »die Fragen dieser Vorstellung erscheinen mögen, sondern wie sie wirklich sind,
Welt« bekämpft (S. 9- 10). Die wirkliche Welt wird somit d. h. wie sie wirken, materiell produzieren, also wie sie unter
~unächst als etwas angesetzt, was sich nicht ändert, solange bestimmten materiellen und von ihrer Willkür unabhängigen
man bei einer Kritik verbleibt, die sich nur in Gedanken Schranken, Voraussetzungen und Bedingungen tätig sind« (S.
abspielt und in den Phrasen dieser Welt, in den Vorstellungen 1 5): L_assen. wir für ei~en A_ugenblick die Gleichsetzung
des Bewußtseins gefangen bleibt. Die Rückkehr zum Wirkli- »wirk_hch-wir½en« und die B~z1ehung zwischen der Tätigkeit
chen geht also aus vom Scheitern einer Kritik der Hegelschen und ihren w1llensunabhäng1gen Voraussetzungen beiseite.
Philosophie, ganz ähnlich, wie sie bei Busserl von einer Krisis Ko?zentrie_ren wir uns zunächst auf den massiven Gegensatz
der europäischen Wissenschaften ausging. Was als erstes auf- z~1schen »1~ der Vorstellung erscheinen« und »wirklich (oder
fällt, ist die Änderung der Methode im Hinblick auf die wir~sam) sem«. Das zweite Glied dieses Begriffspaares wird
Bestimmungen des Wirklichen: »In der ersten Betrachtungs- nur msofern gesetzt, als das erste negiert wird.
weise geht man von dem Bewußtsein als dem lebendigen Um die Tragweite dieses Gegensatzes zu ermessen, dürfen
Individuum aus, in der zweiten, dem wirklichen Leben ent- wir nicht vorschnell den Bereich der Vorstellung mit dem der
sprechenden, von den wirklichen lebendigen Individuen selbst Verdrehungen, der Verfälschungen und Mystifikationen,
und betrachtet das Bewußtsein nur als ihr Bewußtsein« kurz: mit der Ideologie im engeren und polemischen Sinne des
(S. 16). Wortes gleichsetzen, obwohl es letzten Endes dieser Sinn ist,
Diese methodische Wende führt unmittelbar zur Auswei- den Marx bevorzugt. Die Gleichsetzung darf nicht total sein,
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will man von der Umdrehung eines realen Gegenstandes in
denn sonst nimmt man sich die Möglichkeit, ein Phänomen zu einem realen Bild zur Umkehrung eines jeden Wirklichen in
erklären, das ursprünglicher ist als das falsche Bewußtsein einer jeden Vorstellung gelangen, wo doch der Status dieser
selbst, nämlich »die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Vorstellung gerade durch seine Entgegensetzung zum Wirkli-
Bewußtseins« als »unmittelbar verflochten in die materielle chen definiert wird? Unglücklicherweise zieht die optische
Tätigkeit und den materiellen V er kehr der Me11;schen, Sprache Metapher, wenn man sie wörtlich nimmt, eine Reihe weiterer
des wirklichen Lebens« (S·. r 5). Diese Reserve gilt um so mehr, ~etaphern nach sich, die ebenso undurchsichtig sind, näm-
als Marx selbst auf der Basis dieser »Sprache des Lebens« lich: »Echo«, »Reflex«, »Nebelbildung im Gehirn«, »Subli-
etwas zu errichten sucht, was er im Gegensatz zur Spekulation mat«, die bekanntlich im dialektischen Materialismus ein be-
»die wirkliche, positive Wissenschaft, die Darstellung der dauernswertes Schicksal erfahren haben. Mit diesem buch-
praktischen Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozes- stäblichen Verständnis der Metapher, das bereits in diesem
ses der Menschen« (S. r6) nennt. Diese Wissenschaft ist nicht Text ihre Wirkung ausübt, verbindet sich die rein polemische
»voraussetzungslos«, selbst wenn die Voraussetzu~gen w~rk- These, derzufolge die Formen der Ideologie »keine Geschich-
liche sind und wenn es die Menschen selbst smd. Diese te, keine Entwicklung« haben (S. r6) .
Wissenschaft ist nicht einmal frei von »Abstraktionen«, selbst Kehren wir also zum Husserlschen Modell zurück. Dieses
wenn die Abstraktionen gewonnen sind aus der Betrachtung Modell kann uns helfen, die buchstäbliche Deutung der Meta-
der historischen Entwicklung. So geht auch das ganze weitere pher zu vermeiden und diese begrifflich produktiv zu machen.
Kapitel über Feuerbach von einer Auswahl bestin:imter Ab- Wenn Husserl ebenfalls von einer »Umwendung« sprach, so
straktionen aus, »die wir gegenüber der Ideologie gebrau- in dem Sinne, daß die logisch-mathematischen Idealitäten der
chen« (S. r 7), und erläutert sie an historischen Beispielen. Lebenswelt überschoben wurden. Die Rückfrage kleidete sich
Zunächst wird also nicht die Falschheit der Vorstellungen also in die Form einer Umwendung der Umwendung. Doch
angeprangert, sondern die Tatsache, daß_ die Vorste~lu~gen der Sinn dieser doppelten U mwendung war die Rückkehr zum
dem Wirklichen unterschoben und daß sie als das Wirkliche Ursprünglichen. Das gilt auch für Marx. Der Sinn der Meta-
selbst begriffen wurden. Dieser buchstäbliche Mißgriff defi- pher von der camera obscura liegt in der Rückkehr vom
niert den polemischen Begriff der Ideologie (so wie erz. B. im Bewußtsein zum bewußten Sein. Hier liegt der Schlüssel, in
vorigen Zitat auftaucht), er definiert aber nicht den gesamten der ontolog!schen These, die jeder idealistischen These entge-
Bereich der Vorstellungen. Die gesamte Sphäre der Vorstel- gengesetzt ist. »Das Bewußtsein kann nie etwas Andres sein
lung wird als ganze reduziert auf die ~phäre des ~irkliche1:, als das bewußte Sein, und das Sein der Menschen ist ihr
und letztere ist auch die Sphäre bestimmter Ind1v1duen, die wirklicher Lebensprozeß .. . Nicht das Bewußtsein bestimmt
unter bestimmten Bedingungen tätig sind. das Leben, sondern das Leben bestimmt das Bewußtsein«
An dieser Stelle kann uns die Husserlsche Reduktion durch (S. 15 - 16). Umgekehrt wird also ein ontologisch gedachter
Rückfrage vielleicht etwas weiterhelfen im Ve~ständnis des- Anspruch, nämlich der Anspruch darauf, daß das Bewußtsein
sen, was bei Marx im wesentlichen durch eme Metapher und seine Vorstellungen alles sind, was ist.
ausgedrückt wird, durch die Metapher der ca7:1-era obscura.
Wir kennen alle den berühmten Text: »Wenn m der ganzen 2. Der Zielpunkt der Reduktion: die Praxis
Ideologie die Menschen und ihre Verhältnisse wie in einer
Camera obscura, auf den Kopf gestellt erscheinen, so geht dies Der marxistische Begriff der Praxis macht nicht weniger
Phänomen ebensosehr aus ihrem historischen Lebensprozeß Schwierigkeiten als der der Lebenswelt. Um diesen Begriff in
hervor, wie die Umdrehung der Gegenstände der Netzhaut der Deutschen Ideologie, I: Feuerbach, zu bestimmen, wähle
aus ihrem unmittelbar physischen« (S. r 5). Diese Metapher ist ich denselben Gedankengang wie bei dem Husserlschen Be-
für sich genommen eher verwirrend als erhellend. Denn wie
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griff der Lebenswelt. Ich unterscheide zwischen der Frage stürzen wird. Was ist die Ursache dafür, so fragt Marx, daß die
nach der ontologischen Fundierung und der Frage nach der Produkte der.menschlichen Tätigkeit zu Mächten werden, vor
epistemologischen Rechtfertigung. Mit der ersten _Frage ver- denen der Mensch sich ohnmächtig fühlt? Die Antwort ist
binde ich die Frage nach dem Status der Praxis als dei:n bekannt: Ursache ist die Teilung der Arbeit. Wir betreten hier
Zielpunkt der Reduktion der Ideologien; für die epistemol?gi- ein Gebiet, daß Husserl unbekannt blieb, wenngleich die
sche Erörterung spare ich mir die Frage auf nach der relauven allgemeine Bedingung des Vergessens, die sich nach Husserl
Autonomie der Sphäre der Ideologien. . mit jeder Leistung verbindet, eine gewisse Verwandtschaft hat
Die Paradoxien, die dem ontologisch verstandenen Begriff mit den Mißgeschicken, die sich an die Arbeitsteilung heften.
der Praxis anhaften, sind nicht geringer als die Paradoxien, die Der konkrete Begriff der Teilung der Arbeit ersetzt den noch
sich mit dem Begriff der Lebenswelt verbinden. idealistischen Begriff der Selbstentfremdung des Bewußtseins
Es gibt, in der Tat, zwei Gedankenlinien, ?ie sich i~- d~m aus den Manuskripten (obwohl Marx den frühen Faden nicht
Feuerbach-Kapitel der Deutschen Ideologie unaufhorhch völlig abreißen läßt): »Diese ,Entfremdung<, um den Philoso-
überkreuzen. Für die erste Gedankenlinie gilt, daß die wirkli- phen verständlich zu bleiben, kann natürlich nur unter zwei
chen lebendigen Individuen es sind, auf die alle Ideologie als praktischen Voraussetzungen aufgehoben werden usw.«
auf ihren letzten Bezugspunkt verweist: »Die erste Vorausset- (S. 24). Doch indem der Prozeß konkret, materiell wird,
zung aller Menschengeschichte ist natürlich die Existenz le- reduziert er sich nicht auf ein schlicht technologisches Phäno-
bendiger menschlicher Individuen« (~. r~)·. D_er Ausdru~k men. Es handelt sich um eine Zerstückelung des Menschen
Praxis wird auf sie angewandt, sofern sie_ tatig smd. Und "'.1e selbst, die damit die Tätigkeit als solche betrifft: »Übrigens
das lebendige Individuum bei Husserl mc~t zu _vers_teh~n ist sind Teilung der Arbeit und Privateigentum identische Aus-
ohne die Welt, in der es tätig ist, ebenso smd die wir~hchen drücke - in dem Einen wird in Beziehung auf die Tätigkeit
lebendigen Individuen laut Marx zugleich tätig und Be~mgun- dasselbe ausgesagt, was in dem Andren in bezug auf das
gen unterworfen, die sie v?rfin~en ode~ erzeuge~: »~ie _Y or- Produkt der Tätigkeit ausgesagt wird« (S. 22). Die Gestalt des
aussetzungen, mit denen wir begmnen, sm~ ... die wirkhc~en kommunistischen Menschen, der abwechselnd Jäger, Fischer,
Individuen, ihre Aktion und ihre materiellen Lebensbedin- Hirt ... und Kritiker ist, soll daran erinnern, daß die Teilung
gungen, sowohl die vorgefundenen wie die ~urch ihre eigne der Arbeit eine ontologische Bedeutung hat als ein Auseinan-
Aktion erzeugten« (~bd.). Man darf also mcht sagen, _daß derbrechen der Totalität, die die Tätigkeit als solche entfaltet.
letzter Bezugspunkt die wirklichen tätigen Individuen smd, An dieser Stelle scheint die Analyse sich umzukehren. Bei
man muß den folgenden Satz als ganzen _und in_einem At~~- der Suche nach historischen Formen, die in der Teilung der
zug aussprechen: »Die Tatsache ist also di~, b~stimmte Ind~v1- Arbeit und den Eigentumsverhältnissen faßbar werden, löst
duen, die auf bestimmte Weise produktiv smd, gehen diese Marx Faktoren heraus, die soeben noch als Grenzen, Voraus-
bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse setzungen und Bedingungen der Tätigkeit betrachtet wurden,
ein« (S. 15). Also keinerlei Abstraktion vom Individuum im und diese abstrahierten Formen erhebt er zu Ursachen des
allgemeinen. Aber ebensowenig eine Abstraktion vo~ d~n sozialen Gesamtprozesses. Produktivkräfte und Produktions-
Bedingungen der Tätigkeit: diese gehören ~elbst z_ur Tätigkeit, verhältnisse gelten nun als der »reale Grund«, als die »wirk-
sofern sie zugleich bestimmend und be~timmt smd: _,,Indei:n liche Basis der Geschichte«, wobei diese Ausdrücke das ge-
die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, produzieren sie samte Gewicht bekommen, das die Philosophen einstmals
indirekt ihr materielles Leben selbst« (S. ro). dem Terminus »Substanz« zugemessen haben (S. 28). Auf
Der folgende Schritt folgt noch derselben Ged~nkenlinie ~nd dieser Ebene kollektiver und anonymer Entitäten entfaltet die
bezieht sich auf die wirkliche Basis der Ideologien, er bereitet Geschichte ihre Phasen, und auf dieser Ebene reihen sich die
aber schon die Umdrehung vor, die uns alsbald in Verwirrung Eigentumsformen aneinander: Stammeigentum, städtisches

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Eigentum, feudales Eigentum ~sw. bis _zum kapitalist\sche_n ursprünglichen Ebene innerhalb der Reduktion liegen. Die erste
Eigentum. Die Manufaktur wird zu emer Art von histon- Erkläru~gsweise ist radikaler als die zweite. Ontologisch frü-
schem Agens, von kollektivem Helden, dem geradewegs eine her (»die Tatsache« sagt der oben zitierte Text) sind die
Reihe eindrucksvoller historischer, ökonomischer, politischer ~~~ti~mte~ Indiv~duen, . die auf bestimmte Weise produktiv
und kultureller Wirkungen zugeschrieben werden (S ..44-_5r). taug smd, mdem sie brsummte soziale und politische Verhält-
Marxistische Erklärungen objektivistischer und strukturahsu- nisse eingehen.
scher Art finden auf diesen Seiten eine wenigstens partielle Wenn wir derart auf den Niveauunterschied beider Erklä-
Rechtfertigung ihres Gesichtspunkts. Doch das ist nicht all~s : rungsweisen aufmerksam geworden sind, finden wir bei Marx
dort, wo Marx dazu übergeht, den Ursprung der Ideologien selbst die.geeigneten Instrumente für eine Dekonstruktion der
!vstorisch zu erklären, verbindet er sie unmittelbar mit ~iesen kollektiven Entitäten. Solche Instrumente gibt es in zahlrei-
~ollektiven Entitäten. Wir werden später unter dem Gesichts- cher Form. Zunächst zeigt Marx entgegen jeder Hypostasie-
punkt der epistemologischen Autonomie der Ideen und Ide~- rung der Klasse als letzte Kategorie, wie die Klasse ihrerseits
logien auf diesen berühmten Text zurückkommen, den wir aus Prozessen hervorgeht, die der Tätigkeit »bestimmter Indi-
hier zunächst unter dem Gesichtspunkt der ontologischen viduen« viel näher ste~en (Ähnlichkeit und Konvergenz zwi-
Abhängigkeit der Ideologien zitieren: »Die Gedanken der schen den Le1?ensbedu~gungen der lokalen Bürgerschaften,
herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden deren Gruppierung m dauerhaften Beziehungen usf.)
Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle (S. 42-43). Ein anderer Hinweis : die universelle Klasse kann
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geisti- die Klassen nur aufheben, wenn sie selbst nicht etwa ein
ge Macht« (S . 35). Dieses Argument bildet den Kern des historisch irreduzibler Faktor ist, sondern vielmehr der Um-
orthodoxen Marxismus, wenn es um die Erklärung von Ideo- formung individueller in objektive Kräfte entstammt (S. 37,
logien geht. Die Tätigkeit bestimmter Individuen verschwin- 56-57). Darüber hinaus gilt: wenn die Befreiung der Proleta-
det in einer Art von Gigantomachie, wo anonyme Wesen rier eine _k?llektive _Handl~ng ~st, so ist sie dies als Handlung
aufeinandertreffen: Eigentum und Arbeit. von_ ~ndividu~n, die ver_emt m den Kampf eintreten. Die
Die Frage nach dem letzten Bezugspunkt des P~ozess~s, ?en Indi~i?uen le~d~n als Glieder einer Klasse, sie reagieren als
die Reduktion der Ideologien durchläuft, schemt bei emer veremigte lndlVlduen (S. 58). Ein letzter Hinweis: der ständi-
grundlegenden Zweideutigkeit zu enden. Zwei Linien über- g~ Rückga~g aut den Begriff der »Selbstbetätigung« . Aufgabe
kreuzen sich, und es ist schwer, zwischen beiden genau zu dieses Begriffes ist es, uns an folgendes zu erinnern: wenn die
trennen. Einmal sind es die wirklichen Individuen, die das Geschichte im Grunde Geschichte von Produktivkräften ist
letzte Erfordernis darstellen, dann wieder sind es kollektive so sind diese Kräfte letzten Endes die Kräfte der Individue~
Entitäten wie soziale Kräfte, soziale Verhältnisse oder selbst (S. 57-5 8).
Klassen. Man muß also die kollektiven und anonymen Entitäten
Doch vielleicht gilt für den Begriff der Praxis dasselbe wie derselben Reduktion unterziehen wie die Ideologien. Diese
für den Begriff der Lebenswelt, nämlich, daß die letzten Re1uktion - die man eine anthropologische nennen kann
Kriterien seiner Identifikation nicht in ihm selbst liegen. Auch - gilt als Modell aller anderen Reduktionen. Die Klassen sind
hier ist es die Richtung der Reduktionsbewegung, die das abgele~tete Begrif~e, und eine Erklärung, die sich auf solche
Kriterium liefert, aufgrund dessen wir zwischen beiden Linien abgeleiteten Begriffe stützt, ist selbst noch keine radikale
wählen können. Wenn man diese Deutungsregel akzeptiert, Er~ärung. Eine Bestätigung für diese Hierarchisierung der
erscheint es nicht mehr zweifelhaft, daß die Erklärung durch beide~ Erkl~rungstypen liegt im übrigen in dem Umstand,
wirkliche lebendige Individuen und die Erklärung durch kol- daß die radi_kalere Erklärung das Ableitungsprinzip für die
lektive Entitäten, wie die der Klasse, nicht auf einer gleich- wemger radikale Erklärung enthält, und dies auf vielfache
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Weise. Zunächst enthält der Begriff bestimmter Individuen, gische~ Abhängigkeit nicht widerspricht. Zur Charakterisie-
die bestimmte Verhältnisse eingehen, die Möglichkeit einer rung dieser besonderen Form von Autonomie kann die oben
Abstraktion in sich, mittels derer diese Verhältnisse ihrers'eits ausgearbeitet~ Unterscheidung _zwischen epistemologischer
zu autonomen Erklärungsfaktoren werden. Sodann liefert die und ontologischer Ordnung sich als fruchtbar erweisen.
Teilung der Arbeit die konkreten Bedingungen für _diese Selbstv_erständlic? kann die Au_tonomie d~r Ideologie nicht
fortschreitende Autonomie der Resultate der menschlichen ~ur e.eistemologischer Natur sem, sofern die Ideologie näm-
Tätigkeit. Doch diese Prozesse spielen sich derart ver~te~kt ~b, lich em Feld abdeckt, das beträchtlich weiter reicht als die
daß man sie nur unterscheiden kann, wenn man sie m eme logisch-mathematischen Idealitäten, die Husserl in Betracht
generelle Reduktionsbewegung einbezieht, in eine_ R~duk- z!eht. Der_ Fall der Idealit~ten liefert jedoch auf gewisse Weise
tionsbewegung, die von den »Vorstellungen« zum wirklichen em reduziertes Modell, eme Miniatur für den komplexeren
Sein, d. h. zur Praxis hinführt. Fall der Ideologie.
Um dies zu zeigen, gehen wir von dem Fall aus, den Marx
3. Die Autonomie der ideologischen Sphäre sel~st erwähnt, in_ welchem der Status der Ideologie dem der
logisch-mathematischen Idealitäten am nächsten kommt. Das
Ich möchte nun am Marxschen Text die Arbeitshypothese ist dort der Fall, wo die Ideologie selbst in einer Idealisierung
erproben, die zuvor entworfen wurde, um eine ähnliche Para- besteht.
doxie bei Husserl aufzulösen. Diese Paradoxie lautete folgen- Erinnern wir zunächst an den berühmten Text der die
dermaßen: einerseits verweisen die logisch-mathematischen Beziehung zwischen herrschenden Ideen und her;schenden
Idealitäten zurück auf die Welt als auf ihre Seinsbasis; anderer- Klassen beschreibt: »Die Gedanken der herrschenden Klasse
seits läßt sich der Anspruch auf eine letzte Rechtfertigung als sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die
letzte epistemologische Frage nicht herleiten v<:>n der Lebens- Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesell-
welt. Um diese Paradoxie aufzulösen, sahen wir uns gezwun- schaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht« (S. 35).
gen, zugleich eine Vorrangigkeit der Lebenswelt und eine Worauf beruht denn der Wechselbezug zwischen herrschen-
Vorrangigkeit der Idee der Wissenschaft zu behaupten, doch den Gedanken und herrschender Klasse? Er resultiert nach
dies unter verschiedenen Beziehungen: im ersten Fall unter Marx aus dem Umstand, daß die Klasse, die über die Mittel
einer ontologischen Beziehung, im zweiten Fall unter episte- zur materiellen Produktion verfügt, gleichzeitig über die Mit-
mologischen Beziehung. . tel ~ur g~istigen Pr?dukti<;>n verfügt. Der Wechselbezug ver-
Die Lektüre des Feuerbach-Kapitels der Deutschen Ideologie schie~t sich so auf_ei!1e weitere S~ufe, auf den Bezug zwischen
führt zu einer ähnlichen, wenngleich weiterreichenden Para- materieller 1;1nd gei~tiger Produktion. Doch was ist eine geisti-
doxie. Es handelt sich um die Autonomie des Ideologiebe- ge Produktion? Die Anwendung des Begriffs der Arbeitstei-
reichs in seiner Gesamtheit und in der Verschiedenheit seiner lung leistet hier nur eine schwache Hilfe. Denn sagt man, die
Form;n, gegenüber der »wirklichen Bas~s« der Geschic~te. Arbeitsteilung »äußere« sich hier in der herrschenden Klasse
Einerseits weist alles, was »Vorstellung« ist, aufgrund semes al_s Teilung zwischen materieller und geistiger Arbeit, so bleibt
Seinsmangels auf das wirkliche Sein zurück, nämlich auf die die Frage offen, was geistige Arbeit von der anderen Form der
Praxis bestimmter Individuen, die bestimmte soziale Verhält- Arbeit unterscheidet. An dieser Stelle führt nun Marx den
nisse eingehen. Die ontologische Abhängigkeit der ideologi- Begrif~ ein, der die größten Schwierigkeiten bereitet und über
schen Gesamtordnung von der wirklichen Ordnung der Pra- den wir uns Gedanken zu machen haben: »Die herrschenden
xis ist sogar solcher Art, daß Marx die Behauptu~g wagt, d\e Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der
Ideologie »habe keine Geschichte«. Andererseits hat die herrschenden materiellen Y_erhältnisse, die als Gedanken ge-
Sphäre der Ideologie eine Art von Autonomie, die der ontolo- faßten, herrschenden materiellen Verhältnisse« (ebd.).
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Der Begriff, der uns hier Schwierigkeiten macht, ist der des kehrt wie die List der Vernunft bei Hegel, wo sich das
»ideellen Ausdrucks«, der in der weiteren Formulierung auf- Konkret-Allgemeine die Leidenschaften der Menschen zunut-
gegriffen wird: »die als Gedanken gefaßten, herrschen~en ze macht. Doch das Rätsel verdichtet sich damit nur noch
materiellen Verhältnisse«. Lassen wir für einen Augenblick mehr. ~iner~eits hat jene List nur Erfolg, wenn die Begriffe
das Ausdrucksverhältnis als solches beiseite, und konzentrie- der Rationalität und der allgemeinen Gültigkeit in sich selbst
ren wir uns auf das Adjektiv »ideell«. Das Rätsel, vor dem einen Sinn haben, unabhängig von ihrer trügerischen Umbie-
Marx hier steht, liegt in folgendem: in dem Maße, wie die gung durch die List des Interesses. Andrerseits setzt diese
Gedanken der herrschenden Klasse sich vom Gang der Ge- Umbiegung wiederum voraus, daß die Herrschaft nicht Erfolg
schichte abheben und autonomisieren, werden sie immer ab- haben kann, ohne Argumente zu akzeptieren, mit denen die
strakter und nehmen immer mehr die Form der Allgemeinheit herrschende Klasse ihre Ansprüche zu legitimieren sucht.
an. Doch dieser Prozeß hat nichts Zufälliges: »Jede neue ?s ~eigt si~h also, daß die Beanspruchung des Allgemeinen
Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschen- eme irreduzible Komponente von Herrschaft selbst ist. Diese
den setzt, ist genötigt, schon um i~ren Zweck durchzuf~hr~n, Implikation hat Max Weber in seinem großen Werk über
ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglie- Wirtschaft und Gesellschaft deutlich gesehen. Jedes Autori-
der der Gesellschaft darzustellen, das heißt ideell ausge- tätssystem läßt sich charakterisieren durch einen bestimmten
drückt ... « (S. 37). Wie wir sehen, ist dieser Text der erwarte- Anspruch auf Legitimität, und man kann eine Typologie dieser
te Kommentar zu der Formel: »ideeller Ausdruck«. Worin Ansprüche aufstellen, je nachdem ob die Autorität charisma-
besteht aber diese Nötigung, die sich mit der Idealisierung tisch, traditionell oder rational ist. Das alles ist hinlänglich
einstellt? Worin erreicht die herrschende Klasse, wenn sie bekannt, doch hier liegt nicht der entscheidende Punkt unse-
dieser Nötigung nachgibt, besser ihren Zweck? Die Notwen- rer Erörterung. Jedes Autoritätssystem appelliert an eine Vor-
digkeit und das Interesse, das sich daran heftet, wären ~nver- stellung von der Legitimität der entsprechenden Ordnung.
ständlich, wenn der Ausdruck der Interessen (was auch immer ~ie Typologie der Le~itimitätsansprüche genügt also noch
das Wort Ausdruck besagen mag) hier nicht auf einen Allge- rucht. Man muß zusätzlich noch eine Typologie der Motive in
meinheitsanspruch stieße, der v~n jede1!1 ~enschen verstan- Betr.acht ziehen, die den Glauben an die Legitimität einer
den wird und von dessen Horizont sich Jeder »Gedanke« bestimmten Ordnung stützen. Diese zweite Typologie, die
abheben muß, soll er gemeinschaftliches Interesse finden. der ersten entspricht, ist eine Typologie von Motiven: materi-
Diesen Anspruch auf Allgemeinheit setzt Marx voraus, ohne elle Motive, affektuelle Motive, ideelle Motive usw. Besonders
ihn jedoch thematisieren zu können, wenn er folgenden Satz bemerkenswert ist es, daß Max Weber sich genötigt sieht,
schreibt: Jede neue Klasse ist genötigt, »ihren Gedanken die folgendes hinzuzufügen: »Keine Herrschaft begnügt sich,
Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünfti- nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder
gen, allgemeingültigen darzustellen« (ebd.). (Man achte auf nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen
den wiederholten Gebrauch des Verbs »darstellen« dort, wo ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre
die Idealisierung eingeführt wird. Man wird sich daran erin- ,Legitimität< zu erwecken und zu pflegen.«4
nern, daß Marx diesen Ausdruck bereits einführte, um die Der Übergang von der Idee der herrschenden Klasse zu jener
positive Wissenschaft zu charakterisieren, die auf die Sp~kula- der herrschenden Ideen ist also nicht leicht zu vollziehen.
tion folgen soll: »Sie ist ,die Darstellung< der praktischen Denn bei Anwendung auf eine soziale Klasse schließt der
Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Men- Begriff der Herrschaft bereits in verdichteter Form den ge-
schen«, S. 16) samten Legitimationsprozeß in sich, einen Prozeß, der seiner-
Diese List des Interesses, welche die Zielrichtung auf das seits einen Austausch zwischen Ansprüchen und einer be-
Allgemeine zu ihren Gunsten umbiegt, funktioniert umge- stimmten Motivationsordnung entstammenden Glaubensvor-

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Stellungen impliziert. Das Zusammenspiel von Ansprüchen Frage, in welchem Sinne eine Vorstellung ein Interesse aus-
und Glaubensvorstellungen ist aufs engste verknüpft mit der drücken soll. Die Vorstellung verschwindet nicht durch ihre
Ausübung von Herrschaft selbst. Man kann also nicht zwi- Rückführung auf die Wirklichkeitsebene. Wenn es gelänge,
schen herrschender Klasse und herrschendem Gedanken eine falsche Vorstellungen auszuräumen, so bliebe doch das Pro-
einseitige, lineare Relation aufstellen, die von der Klasse hin b~em, welchen Status die Vorstellung ganz allgemein hat; denn
zu dem Gedanken verläuft. Vorstellungen und Glaubensein- dieses Problem würde erneut aufgeworfen durch jene ur-
stellungen sind im Herrschaftsanspruch einer Klasse oder sprünglichen Vorstellungen, die Marx »Sprache des wirkli-
sonst irgendeiner sozialen Gruppe immer schon am Werk. chen Lebens« nennt und die aus der positiven Wissenschaft
Unsere Erörterung war ausgegangen vom Problem, wie die keine Spekulation, sond~rn eine »Darstellung« des prakti-
Idealisierung von Ausdrucksformen der Macht gedacht wer- schen Lebens macht. Diese Vorstellungen werden für sich
den kann; nun hat sie sich ausgeweitet bis hin zum allgemeine- genommen ausreichen, um das allgemeine Problem aufzuwer-
ren Problem der Beziehung zwischen Interessen und Vorstel- fen, wie sich das wirkliche Leben in der Vorstellung aus-
lungen, mag es sich dabei um den Legitimitätsanspruch han- drückt.
deln, der von einem Autoritätssystem erhoben wird, oder um Nun müssen wir uns aber mit Clifford Geertz5 eingestehen,
den Legitimitätsglauben, der von den der Herrschaft unter- daß ~s bisher keiner Theorie der Ideologien, mag sie vom
worfenen Individuen ausgeht. Begriff des Interesses ausgehen wie bei Marx oder von dem
Damit kommen wir zurück auf die bisher noch unberück- der Spannung wie in anderen nichtmarxistischen Theorien
sichtigte allgemeinere Frage, die bei Marxschen Formeln wie gelungen ist zu zeigen, wie die Ideologien ein Gefühl in ein;
»ideeller Ausdruck« und »als Gedanken gefaßte, herrschende Bedeutung umwandeln und wie sie es sozial zugänglich ma-
materielle Verhältnisse« auftauchte. Was ist das für eine Rela- chen. Dies liegt nach Aussage des genannten Autors daran,
tion zwischen der materiellen Ebene des Interesses und der daß all diese Theorien die ursprüngliche Funktion der Ideolo-
geistigen Ebene des Gedankens, die mit dem Terminus Aus- gien übersehen, die darin besteht, das menschliche Handeln
druck bezeichnet wird? auf der Ebene der Offentlichkeit zu vermitteln und zu inte-
Dieses Problem fällt nicht zusammen mit dem der ontologi- grieren. Wenn man bei den Ideologien direkt auf ihre Rolle
schen Abhängigkeit, die zwischen dem Bereich der Vorstel- der Verdrehung, der Falsifikation und der Mystifikation zu-
lungen und der wirklichen (oder materiellen, das ist dasselbe) g~ht, so nimmt man sich die Möglichkeit zu sagen, wovon
Basis der Praxis besteht. Unter ontologischer Abhängigkeit ist d1~se trügerischen Ideologien eigentlich eine Perversion sind.
lediglich zu verstehen, daß Vorstellungen nicht selber Wirk- Die Idee der falschen Vorstellung setzt selbst voraus, daß die
lichkeiten sind und daß sie, sofern sie des Seins ermangeln, auf Vorstellungen in einer ursprünglichen Form die noetische
das einzig wirkliche Sein zurückverweisen, nämlich auf das Komp_onente der Handlung bilden. Kurz gesagt, was all diese
der lebendigen Individuen. Dies ist ein anderes Problem, das Theorien aus dem Blick verlieren, ist der autonome Prozeß
zwar viel weiter reicht als das streng epistemologische Pro- der symbolischen Formulierung. Tatsächlich ist das Handeln
blem, das durch die Idealitäten aufgeworfen wird, das aber nämlich bereits in seinen elementarsten Formen durch Sym-
doch im wesentlichen von gleicher Natur ist wie dieses. Es bolsysteme vermittelt und artikuliert. Um dasselbe in einer
handelt sich um das Problem der noetischen Eigenart der anderen Sprache zu sagen: was das menschliche Handeln von
Vorstellung. Das Problem zeigt sich bereits, wo Marx die einer. bloß_en Verkettung physisc~er Bewegungen unterschei-
Individuen, so wie sie in ihrer eigenen Vorstellung oder in der det, 1st die Tatsache, daß es em regelgeleitetes Verhalten
der anderen erscheinen, den wirklichen Individuen gegen- darstellt. Ein Verständnis etwa davon, was die Geste des
überstellte, sofern sie sich betätigen. Wenn man den Vorstel- Armhebens bedeutet, impliziert die Fähigkeit, diese Geste von
lungen insgesamt ein eigenes Sein abspricht, so bleibt doch die einem Code, das heißt von der Gesamtheit öffentlicher Kon-
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ventionen her zu interpretieren; erst aufgrund dieser Konven- hung, die eine metaphorische Aussage mit der Situation unter-
tionen besagt diese Geste, daß einer grüßt, für etwas stimmt, hält, die sie neu beschreibt. Wenn Marx sagt, daß die herr-
sich für eine Aufgabe meldet usw. Erkennt man diese letzte schende Klasse ihre Gedanken als herrschende Gedanken
Schicht der symbolischen Handlung, der symbolisch artiku- durchsetzt, indem sie diese als ideelle und allgemeine vorstellt,
lierten Handlung nicht als wirklich an, so kann ·man nicht suggeriert er dann damit nicht, daß dieses Vorgehen eine
umhin, in der Ideologie lediglich eine intellektuelle_Deprava- gewisse Ähnlichkeit hat mit der Hyperbel, wie sie von den
tion zu sehen, die ihre Gegner zu demaskieren versucht. Rhetorikern beschrieben wird?
Marx muß aber selbst diesen autonomen Prozeß symbolischer Ganz gleich, wie groß die Verwandtschaft- zwischen Rheto-
Formulierung, wie Geertz es nennt, voraussetzen, wenn er rik und Ideologie sein mag, die Erörterung beweist doch, daß
erklären will, was es mit der »Sprache des wirklichen Lebens« der anfängliche Gegensatz zwischen wirklichem tätigen Leben
auf sich hat. Dieser Prozeß liegt allen systematischen Verdre- und mystifizierter Vorstellung als solcher völlig sinnlos ist,
hungen voraus, die man im abfälligen polemischen Sinne des wenn die Verdrehung nicht ein pathologischer Prozeß ist, der
Wortes Ideologien nennt. auf der Struktur eines symbolisch artikulierten Handelns auf-
Einen Schritt weiter in Richtung auf die Ideologie im polemi- baut. Wenn das Handeln nicht von Anfang an symbolisch ist,
schen Sinne des Wortes kann man tun, wenn man in Erwä- so kann keine Magie einem Interesse eine Illusion entlocken.
gung zieht, daß die symbolische Vermittlung sich nicht auf Wenn wir also I. zugestehen, daß die Handlung in ihren
stillschweigende Regeln beschränkt, die der Handlung zu- elementarsten Formen bereits durch Symbolsysteme vermit-
grunde liegen und die, sobald man sie expliziert, als lnterpre- telt und artikuliert ist und daß 2. der einfachste Diskurs, in
tant für die Handlung dienen. Diese symbolischen Vermitt- dem diese symbolischen Vermittlungen zum Ausdruck kom-
lungen werden nämlich außerdem noch für sich selbst »vorge- men, seiner Natur nach rhetorisch ist, - so wird es verständ-
stellt« im Diskurs: erst hier treffen wir auf den ganz generellen lich, daß ganze Segmente dieser Symbolsysteme und dieser
Begriff der »Vorstellung«, wie er von Marx verwendet wird. rhetorischen Diskurse in jene Herrschaftsverhältnisse umge-
Nun zeigt dieser Diskurs - der ideologische Diskurs - von lenkt werden, die Marx auf überzeugende Weise beschreibt
vornherein die spezifischen Züge der Verkürzung, der Ver- und erklärt. Es wäre sinnlos zu behaupten, daß bestimmte
einfachung, der Stereotypisierung, aufgrund derer er eher in Ideen systematische Verdrehungen der Wirklichkeit zuwege
die Rhetorik fällt als in die Logik. Wenn man derart Ideologie bringen, wenn nicht zunächst die soziale Wirklichkeit bereits
und Rhetorik einander annähert, so bedeutet dies kein durch Symbolsysteme vermittelt wäre, die das soziale Han-
Verdammungsurteil über die Ideologie. Man schafft vielmehr deln integrieren, und wenn nicht sodann diese Symbolsysteme
die Möglichkeit, in die Sphäre der Ideologie Begriffe, Metho- Zugang zur Sprache hätten, auf dem Wege über die Rhetorik.
den und Theorien zu übertragen, die anderswo erprobt wur- Dies ist, so scheint mir, das Prinzip der Autonomie der
den, namentlich in der Literaturkritik. Die Ideologie verliert ideologischen Ordnung. Es handelt sich um dasselbe Prinzip,
viel von ihrer Dunkelheit, wenn man auf die Verwandtschaft das wir mit Hilfe der Theorie der Idealitäten bei Husserl
achtet zwischen ihrer Funktionsweise und jener der übertra- gewonnen haben. Es bezeichnet den Umstand, daß die episte-
genen Rede, der Rede in Tropen wie Metapher, Metonymie, mologische Problematik nicht auf die ontologische Problema-
Hyperbel, Ironie usf. Diese Annäherung zwischen Tropologie tik zurückgeführt werden kann. Dieselben Idealitäten, die
und Ideologie wirft einiges Licht auf das Problem des Aus- ontologisch von der wirklichen Basis abhängen, sind unter
drucks: des Ausdrucks der Interessen in »Gedanken«. Wenn epistemologischem Gesichtspunkt autonom und irreduzibel.
die Rhetorik der Ideologien z. B. von der Metapher ausgeht, Doch die Erörterung der Thesen aus der Deutschen Ideologie
so kann die B_eziehung zwischen der Ideologie und ihrer hat sich nicht darauf beschränkt, jene Interpretation zu bestä-
wirklichen Basis verglichen werden mit der Referenzbezie- tigen, die sich für die logisch-mathematischen Idealitäten erge-
ben hatte. Sie hat uns die Möglichkeit gegeben, den Begriff der 4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. v. J. Winckelmann, 1.
epistemologischen Autonomie bis zu dem einer noetischen Halbbd., 5-, revidierte Aufl., Tübingen 1976, S. 122.
Autonomie auszuweiten. Die letztere hat nicht nur für die 5 Vgl. den Artikel über »Ideologie als kulturelles System« in: Interpre-
tation of Cultures, New York 1973.
logisch-mathematischen Idealitäten Gültigkeit, sondern für
alle Symbolisierungsprozesse, die vermittelnd in das Handeln
eingreifen.

Anmerkungen

1Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale


Phänomenologie, Husserliana VI, Den Haag 1954; bloße Seiten- und
Paragraphenangaben innerhalb von Teil I des vorliegenden Aufsatzes
beziehen sich auf das genannte Werk.
2 Vgl. hierzu Husserl, I. Logische Untersuchung,§ 23 .
3 Alle folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Text, zitiert
nach der Ausgabe MEGA, I, 5, Berlin 1932. -Die Auswahl gerade der
Deutschen Ideologie möchte ich nicht ausführlich begründen. Sie
stützt sich auf zwei Arbeitshypothesen, von denen nur die erste im
Laufe der Analyse erhärtet wird: 1) Ich behaupte, daß die Deutsche
Ideologie zwar einen Übergang darstellt von den sog: philosophischen
zu den sog. ökonomischen Schriften, daß sie aber gleichwohl kein
vormarxistischer Text mehr ist. Ein erster Einschnitt trennt dieses
Werk von den Okonomisch-philosophischen Manuskripten aus dem
Jahre 1844, die ihren philosophischen Horizont noch im Denken
Feuerbachs haben. Der zentrale Begriff des »Gattungswesens« bleibt
noch einer idealistischen Konzeption von »Bewußtsein« verhaftet.
Das Bewußtsein entfremdet sich in fremden Mächten, in denen es sich
nicht mehr wiedererkennt. Das Bewußtsein überwindet seine Ent-
fremdung, indem es durch Kritik seine eigene Macht zurückgewinnt.
Indem nun Marx das Bewußtsein durch die lebendigen wirklichen
Individuen ersetzt, die von ihnen selbst nicht erzeugte Verhältnisse
eingehen, eröffnet er eine nicht-idealistische Anthropologie, die im
Begriff der Praxis ihr Zentrum hat. 2) Ich behaupte ferner, in Überein-
stimmung mit Michel Henry, Marx (Paris 1976), daß diese Anthropo-
logie durch die spätere Entwicklung nicht überholt oder gar annuliert
wird. Sie liefert weiterhin grundlegende Begriffe, auf die alle Begriffe
der politischen Okonomie aufbauen. Diese zweite Arbeitshypothese
wird in unserem Aufsatz nicht belegt. Nichtsdestoweniger erwähne
ich sie hier, um zu erklären, warum für mich die Deutsche Ideologie
selbst im Vergleich zu den Grundrissen und zum Kapital nicht an
Interesse verliert.

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