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Ricoeur - Rückfrage Und Reduktion Der Idealitäten in Husserls Krisis Und Marx Deutscher Ideologie
Ricoeur - Rückfrage Und Reduktion Der Idealitäten in Husserls Krisis Und Marx Deutscher Ideologie
~ f \-
Phänomenologie und Marxismus
4,f, I? Band 3 \ -
2 J :r
. Sozialphilosophie
;
Herausgegeben von
Bernhard W aldenfels, Jan M. Broekman
1
und Ante Pazanin
, ',
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Eigentum, feudales Eigentum ~sw. bis _zum kapitalist\sche_n ursprünglichen Ebene innerhalb der Reduktion liegen. Die erste
Eigentum. Die Manufaktur wird zu emer Art von histon- Erkläru~gsweise ist radikaler als die zweite. Ontologisch frü-
schem Agens, von kollektivem Helden, dem geradewegs eine her (»die Tatsache« sagt der oben zitierte Text) sind die
Reihe eindrucksvoller historischer, ökonomischer, politischer ~~~ti~mte~ Indiv~duen, . die auf bestimmte Weise produktiv
und kultureller Wirkungen zugeschrieben werden (S ..44-_5r). taug smd, mdem sie brsummte soziale und politische Verhält-
Marxistische Erklärungen objektivistischer und strukturahsu- nisse eingehen.
scher Art finden auf diesen Seiten eine wenigstens partielle Wenn wir derart auf den Niveauunterschied beider Erklä-
Rechtfertigung ihres Gesichtspunkts. Doch das ist nicht all~s : rungsweisen aufmerksam geworden sind, finden wir bei Marx
dort, wo Marx dazu übergeht, den Ursprung der Ideologien selbst die.geeigneten Instrumente für eine Dekonstruktion der
!vstorisch zu erklären, verbindet er sie unmittelbar mit ~iesen kollektiven Entitäten. Solche Instrumente gibt es in zahlrei-
~ollektiven Entitäten. Wir werden später unter dem Gesichts- cher Form. Zunächst zeigt Marx entgegen jeder Hypostasie-
punkt der epistemologischen Autonomie der Ideen und Ide~- rung der Klasse als letzte Kategorie, wie die Klasse ihrerseits
logien auf diesen berühmten Text zurückkommen, den wir aus Prozessen hervorgeht, die der Tätigkeit »bestimmter Indi-
hier zunächst unter dem Gesichtspunkt der ontologischen viduen« viel näher ste~en (Ähnlichkeit und Konvergenz zwi-
Abhängigkeit der Ideologien zitieren: »Die Gedanken der schen den Le1?ensbedu~gungen der lokalen Bürgerschaften,
herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden deren Gruppierung m dauerhaften Beziehungen usf.)
Gedanken, d. h. die Klasse, welche die herrschende materielle (S. 42-43). Ein anderer Hinweis : die universelle Klasse kann
Macht der Gesellschaft ist, ist zugleich ihre herrschende geisti- die Klassen nur aufheben, wenn sie selbst nicht etwa ein
ge Macht« (S . 35). Dieses Argument bildet den Kern des historisch irreduzibler Faktor ist, sondern vielmehr der Um-
orthodoxen Marxismus, wenn es um die Erklärung von Ideo- formung individueller in objektive Kräfte entstammt (S. 37,
logien geht. Die Tätigkeit bestimmter Individuen verschwin- 56-57). Darüber hinaus gilt: wenn die Befreiung der Proleta-
det in einer Art von Gigantomachie, wo anonyme Wesen rier eine _k?llektive _Handl~ng ~st, so ist sie dies als Handlung
aufeinandertreffen: Eigentum und Arbeit. von_ ~ndividu~n, die ver_emt m den Kampf eintreten. Die
Die Frage nach dem letzten Bezugspunkt des P~ozess~s, ?en Indi~i?uen le~d~n als Glieder einer Klasse, sie reagieren als
die Reduktion der Ideologien durchläuft, schemt bei emer veremigte lndlVlduen (S. 58). Ein letzter Hinweis: der ständi-
grundlegenden Zweideutigkeit zu enden. Zwei Linien über- g~ Rückga~g aut den Begriff der »Selbstbetätigung« . Aufgabe
kreuzen sich, und es ist schwer, zwischen beiden genau zu dieses Begriffes ist es, uns an folgendes zu erinnern: wenn die
trennen. Einmal sind es die wirklichen Individuen, die das Geschichte im Grunde Geschichte von Produktivkräften ist
letzte Erfordernis darstellen, dann wieder sind es kollektive so sind diese Kräfte letzten Endes die Kräfte der Individue~
Entitäten wie soziale Kräfte, soziale Verhältnisse oder selbst (S. 57-5 8).
Klassen. Man muß also die kollektiven und anonymen Entitäten
Doch vielleicht gilt für den Begriff der Praxis dasselbe wie derselben Reduktion unterziehen wie die Ideologien. Diese
für den Begriff der Lebenswelt, nämlich, daß die letzten Re1uktion - die man eine anthropologische nennen kann
Kriterien seiner Identifikation nicht in ihm selbst liegen. Auch - gilt als Modell aller anderen Reduktionen. Die Klassen sind
hier ist es die Richtung der Reduktionsbewegung, die das abgele~tete Begrif~e, und eine Erklärung, die sich auf solche
Kriterium liefert, aufgrund dessen wir zwischen beiden Linien abgeleiteten Begriffe stützt, ist selbst noch keine radikale
wählen können. Wenn man diese Deutungsregel akzeptiert, Er~ärung. Eine Bestätigung für diese Hierarchisierung der
erscheint es nicht mehr zweifelhaft, daß die Erklärung durch beide~ Erkl~rungstypen liegt im übrigen in dem Umstand,
wirkliche lebendige Individuen und die Erklärung durch kol- daß die radi_kalere Erklärung das Ableitungsprinzip für die
lektive Entitäten, wie die der Klasse, nicht auf einer gleich- wemger radikale Erklärung enthält, und dies auf vielfache
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Weise. Zunächst enthält der Begriff bestimmter Individuen, gische~ Abhängigkeit nicht widerspricht. Zur Charakterisie-
die bestimmte Verhältnisse eingehen, die Möglichkeit einer rung dieser besonderen Form von Autonomie kann die oben
Abstraktion in sich, mittels derer diese Verhältnisse ihrers'eits ausgearbeitet~ Unterscheidung _zwischen epistemologischer
zu autonomen Erklärungsfaktoren werden. Sodann liefert die und ontologischer Ordnung sich als fruchtbar erweisen.
Teilung der Arbeit die konkreten Bedingungen für _diese Selbstv_erständlic? kann die Au_tonomie d~r Ideologie nicht
fortschreitende Autonomie der Resultate der menschlichen ~ur e.eistemologischer Natur sem, sofern die Ideologie näm-
Tätigkeit. Doch diese Prozesse spielen sich derart ver~te~kt ~b, lich em Feld abdeckt, das beträchtlich weiter reicht als die
daß man sie nur unterscheiden kann, wenn man sie m eme logisch-mathematischen Idealitäten, die Husserl in Betracht
generelle Reduktionsbewegung einbezieht, in eine_ R~duk- z!eht. Der_ Fall der Idealit~ten liefert jedoch auf gewisse Weise
tionsbewegung, die von den »Vorstellungen« zum wirklichen em reduziertes Modell, eme Miniatur für den komplexeren
Sein, d. h. zur Praxis hinführt. Fall der Ideologie.
Um dies zu zeigen, gehen wir von dem Fall aus, den Marx
3. Die Autonomie der ideologischen Sphäre sel~st erwähnt, in_ welchem der Status der Ideologie dem der
logisch-mathematischen Idealitäten am nächsten kommt. Das
Ich möchte nun am Marxschen Text die Arbeitshypothese ist dort der Fall, wo die Ideologie selbst in einer Idealisierung
erproben, die zuvor entworfen wurde, um eine ähnliche Para- besteht.
doxie bei Husserl aufzulösen. Diese Paradoxie lautete folgen- Erinnern wir zunächst an den berühmten Text der die
dermaßen: einerseits verweisen die logisch-mathematischen Beziehung zwischen herrschenden Ideen und her;schenden
Idealitäten zurück auf die Welt als auf ihre Seinsbasis; anderer- Klassen beschreibt: »Die Gedanken der herrschenden Klasse
seits läßt sich der Anspruch auf eine letzte Rechtfertigung als sind in jeder Epoche die herrschenden Gedanken, d. h. die
letzte epistemologische Frage nicht herleiten v<:>n der Lebens- Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesell-
welt. Um diese Paradoxie aufzulösen, sahen wir uns gezwun- schaft ist, ist zugleich ihre herrschende geistige Macht« (S. 35).
gen, zugleich eine Vorrangigkeit der Lebenswelt und eine Worauf beruht denn der Wechselbezug zwischen herrschen-
Vorrangigkeit der Idee der Wissenschaft zu behaupten, doch den Gedanken und herrschender Klasse? Er resultiert nach
dies unter verschiedenen Beziehungen: im ersten Fall unter Marx aus dem Umstand, daß die Klasse, die über die Mittel
einer ontologischen Beziehung, im zweiten Fall unter episte- zur materiellen Produktion verfügt, gleichzeitig über die Mit-
mologischen Beziehung. . tel ~ur g~istigen Pr?dukti<;>n verfügt. Der Wechselbezug ver-
Die Lektüre des Feuerbach-Kapitels der Deutschen Ideologie schie~t sich so auf_ei!1e weitere S~ufe, auf den Bezug zwischen
führt zu einer ähnlichen, wenngleich weiterreichenden Para- materieller 1;1nd gei~tiger Produktion. Doch was ist eine geisti-
doxie. Es handelt sich um die Autonomie des Ideologiebe- ge Produktion? Die Anwendung des Begriffs der Arbeitstei-
reichs in seiner Gesamtheit und in der Verschiedenheit seiner lung leistet hier nur eine schwache Hilfe. Denn sagt man, die
Form;n, gegenüber der »wirklichen Bas~s« der Geschic~te. Arbeitsteilung »äußere« sich hier in der herrschenden Klasse
Einerseits weist alles, was »Vorstellung« ist, aufgrund semes al_s Teilung zwischen materieller und geistiger Arbeit, so bleibt
Seinsmangels auf das wirkliche Sein zurück, nämlich auf die die Frage offen, was geistige Arbeit von der anderen Form der
Praxis bestimmter Individuen, die bestimmte soziale Verhält- Arbeit unterscheidet. An dieser Stelle führt nun Marx den
nisse eingehen. Die ontologische Abhängigkeit der ideologi- Begrif~ ein, der die größten Schwierigkeiten bereitet und über
schen Gesamtordnung von der wirklichen Ordnung der Pra- den wir uns Gedanken zu machen haben: »Die herrschenden
xis ist sogar solcher Art, daß Marx die Behauptu~g wagt, d\e Gedanken sind weiter Nichts als der ideelle Ausdruck der
Ideologie »habe keine Geschichte«. Andererseits hat die herrschenden materiellen Y_erhältnisse, die als Gedanken ge-
Sphäre der Ideologie eine Art von Autonomie, die der ontolo- faßten, herrschenden materiellen Verhältnisse« (ebd.).
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Der Begriff, der uns hier Schwierigkeiten macht, ist der des kehrt wie die List der Vernunft bei Hegel, wo sich das
»ideellen Ausdrucks«, der in der weiteren Formulierung auf- Konkret-Allgemeine die Leidenschaften der Menschen zunut-
gegriffen wird: »die als Gedanken gefaßten, herrschen~en ze macht. Doch das Rätsel verdichtet sich damit nur noch
materiellen Verhältnisse«. Lassen wir für einen Augenblick mehr. ~iner~eits hat jene List nur Erfolg, wenn die Begriffe
das Ausdrucksverhältnis als solches beiseite, und konzentrie- der Rationalität und der allgemeinen Gültigkeit in sich selbst
ren wir uns auf das Adjektiv »ideell«. Das Rätsel, vor dem einen Sinn haben, unabhängig von ihrer trügerischen Umbie-
Marx hier steht, liegt in folgendem: in dem Maße, wie die gung durch die List des Interesses. Andrerseits setzt diese
Gedanken der herrschenden Klasse sich vom Gang der Ge- Umbiegung wiederum voraus, daß die Herrschaft nicht Erfolg
schichte abheben und autonomisieren, werden sie immer ab- haben kann, ohne Argumente zu akzeptieren, mit denen die
strakter und nehmen immer mehr die Form der Allgemeinheit herrschende Klasse ihre Ansprüche zu legitimieren sucht.
an. Doch dieser Prozeß hat nichts Zufälliges: »Jede neue ?s ~eigt si~h also, daß die Beanspruchung des Allgemeinen
Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr herrschen- eme irreduzible Komponente von Herrschaft selbst ist. Diese
den setzt, ist genötigt, schon um i~ren Zweck durchzuf~hr~n, Implikation hat Max Weber in seinem großen Werk über
ihr Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglie- Wirtschaft und Gesellschaft deutlich gesehen. Jedes Autori-
der der Gesellschaft darzustellen, das heißt ideell ausge- tätssystem läßt sich charakterisieren durch einen bestimmten
drückt ... « (S. 37). Wie wir sehen, ist dieser Text der erwarte- Anspruch auf Legitimität, und man kann eine Typologie dieser
te Kommentar zu der Formel: »ideeller Ausdruck«. Worin Ansprüche aufstellen, je nachdem ob die Autorität charisma-
besteht aber diese Nötigung, die sich mit der Idealisierung tisch, traditionell oder rational ist. Das alles ist hinlänglich
einstellt? Worin erreicht die herrschende Klasse, wenn sie bekannt, doch hier liegt nicht der entscheidende Punkt unse-
dieser Nötigung nachgibt, besser ihren Zweck? Die Notwen- rer Erörterung. Jedes Autoritätssystem appelliert an eine Vor-
digkeit und das Interesse, das sich daran heftet, wären ~nver- stellung von der Legitimität der entsprechenden Ordnung.
ständlich, wenn der Ausdruck der Interessen (was auch immer ~ie Typologie der Le~itimitätsansprüche genügt also noch
das Wort Ausdruck besagen mag) hier nicht auf einen Allge- rucht. Man muß zusätzlich noch eine Typologie der Motive in
meinheitsanspruch stieße, der v~n jede1!1 ~enschen verstan- Betr.acht ziehen, die den Glauben an die Legitimität einer
den wird und von dessen Horizont sich Jeder »Gedanke« bestimmten Ordnung stützen. Diese zweite Typologie, die
abheben muß, soll er gemeinschaftliches Interesse finden. der ersten entspricht, ist eine Typologie von Motiven: materi-
Diesen Anspruch auf Allgemeinheit setzt Marx voraus, ohne elle Motive, affektuelle Motive, ideelle Motive usw. Besonders
ihn jedoch thematisieren zu können, wenn er folgenden Satz bemerkenswert ist es, daß Max Weber sich genötigt sieht,
schreibt: Jede neue Klasse ist genötigt, »ihren Gedanken die folgendes hinzuzufügen: »Keine Herrschaft begnügt sich,
Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünfti- nach aller Erfahrung, freiwillig mit den nur materiellen oder
gen, allgemeingültigen darzustellen« (ebd.). (Man achte auf nur affektuellen oder nur wertrationalen Motiven als Chancen
den wiederholten Gebrauch des Verbs »darstellen« dort, wo ihres Fortbestandes. Jede sucht vielmehr den Glauben an ihre
die Idealisierung eingeführt wird. Man wird sich daran erin- ,Legitimität< zu erwecken und zu pflegen.«4
nern, daß Marx diesen Ausdruck bereits einführte, um die Der Übergang von der Idee der herrschenden Klasse zu jener
positive Wissenschaft zu charakterisieren, die auf die Sp~kula- der herrschenden Ideen ist also nicht leicht zu vollziehen.
tion folgen soll: »Sie ist ,die Darstellung< der praktischen Denn bei Anwendung auf eine soziale Klasse schließt der
Betätigung, des praktischen Entwicklungsprozesses der Men- Begriff der Herrschaft bereits in verdichteter Form den ge-
schen«, S. 16) samten Legitimationsprozeß in sich, einen Prozeß, der seiner-
Diese List des Interesses, welche die Zielrichtung auf das seits einen Austausch zwischen Ansprüchen und einer be-
Allgemeine zu ihren Gunsten umbiegt, funktioniert umge- stimmten Motivationsordnung entstammenden Glaubensvor-
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Stellungen impliziert. Das Zusammenspiel von Ansprüchen Frage, in welchem Sinne eine Vorstellung ein Interesse aus-
und Glaubensvorstellungen ist aufs engste verknüpft mit der drücken soll. Die Vorstellung verschwindet nicht durch ihre
Ausübung von Herrschaft selbst. Man kann also nicht zwi- Rückführung auf die Wirklichkeitsebene. Wenn es gelänge,
schen herrschender Klasse und herrschendem Gedanken eine falsche Vorstellungen auszuräumen, so bliebe doch das Pro-
einseitige, lineare Relation aufstellen, die von der Klasse hin b~em, welchen Status die Vorstellung ganz allgemein hat; denn
zu dem Gedanken verläuft. Vorstellungen und Glaubensein- dieses Problem würde erneut aufgeworfen durch jene ur-
stellungen sind im Herrschaftsanspruch einer Klasse oder sprünglichen Vorstellungen, die Marx »Sprache des wirkli-
sonst irgendeiner sozialen Gruppe immer schon am Werk. chen Lebens« nennt und die aus der positiven Wissenschaft
Unsere Erörterung war ausgegangen vom Problem, wie die keine Spekulation, sond~rn eine »Darstellung« des prakti-
Idealisierung von Ausdrucksformen der Macht gedacht wer- schen Lebens macht. Diese Vorstellungen werden für sich
den kann; nun hat sie sich ausgeweitet bis hin zum allgemeine- genommen ausreichen, um das allgemeine Problem aufzuwer-
ren Problem der Beziehung zwischen Interessen und Vorstel- fen, wie sich das wirkliche Leben in der Vorstellung aus-
lungen, mag es sich dabei um den Legitimitätsanspruch han- drückt.
deln, der von einem Autoritätssystem erhoben wird, oder um Nun müssen wir uns aber mit Clifford Geertz5 eingestehen,
den Legitimitätsglauben, der von den der Herrschaft unter- daß ~s bisher keiner Theorie der Ideologien, mag sie vom
worfenen Individuen ausgeht. Begriff des Interesses ausgehen wie bei Marx oder von dem
Damit kommen wir zurück auf die bisher noch unberück- der Spannung wie in anderen nichtmarxistischen Theorien
sichtigte allgemeinere Frage, die bei Marxschen Formeln wie gelungen ist zu zeigen, wie die Ideologien ein Gefühl in ein;
»ideeller Ausdruck« und »als Gedanken gefaßte, herrschende Bedeutung umwandeln und wie sie es sozial zugänglich ma-
materielle Verhältnisse« auftauchte. Was ist das für eine Rela- chen. Dies liegt nach Aussage des genannten Autors daran,
tion zwischen der materiellen Ebene des Interesses und der daß all diese Theorien die ursprüngliche Funktion der Ideolo-
geistigen Ebene des Gedankens, die mit dem Terminus Aus- gien übersehen, die darin besteht, das menschliche Handeln
druck bezeichnet wird? auf der Ebene der Offentlichkeit zu vermitteln und zu inte-
Dieses Problem fällt nicht zusammen mit dem der ontologi- grieren. Wenn man bei den Ideologien direkt auf ihre Rolle
schen Abhängigkeit, die zwischen dem Bereich der Vorstel- der Verdrehung, der Falsifikation und der Mystifikation zu-
lungen und der wirklichen (oder materiellen, das ist dasselbe) g~ht, so nimmt man sich die Möglichkeit zu sagen, wovon
Basis der Praxis besteht. Unter ontologischer Abhängigkeit ist d1~se trügerischen Ideologien eigentlich eine Perversion sind.
lediglich zu verstehen, daß Vorstellungen nicht selber Wirk- Die Idee der falschen Vorstellung setzt selbst voraus, daß die
lichkeiten sind und daß sie, sofern sie des Seins ermangeln, auf Vorstellungen in einer ursprünglichen Form die noetische
das einzig wirkliche Sein zurückverweisen, nämlich auf das Komp_onente der Handlung bilden. Kurz gesagt, was all diese
der lebendigen Individuen. Dies ist ein anderes Problem, das Theorien aus dem Blick verlieren, ist der autonome Prozeß
zwar viel weiter reicht als das streng epistemologische Pro- der symbolischen Formulierung. Tatsächlich ist das Handeln
blem, das durch die Idealitäten aufgeworfen wird, das aber nämlich bereits in seinen elementarsten Formen durch Sym-
doch im wesentlichen von gleicher Natur ist wie dieses. Es bolsysteme vermittelt und artikuliert. Um dasselbe in einer
handelt sich um das Problem der noetischen Eigenart der anderen Sprache zu sagen: was das menschliche Handeln von
Vorstellung. Das Problem zeigt sich bereits, wo Marx die einer. bloß_en Verkettung physisc~er Bewegungen unterschei-
Individuen, so wie sie in ihrer eigenen Vorstellung oder in der det, 1st die Tatsache, daß es em regelgeleitetes Verhalten
der anderen erscheinen, den wirklichen Individuen gegen- darstellt. Ein Verständnis etwa davon, was die Geste des
überstellte, sofern sie sich betätigen. Wenn man den Vorstel- Armhebens bedeutet, impliziert die Fähigkeit, diese Geste von
lungen insgesamt ein eigenes Sein abspricht, so bleibt doch die einem Code, das heißt von der Gesamtheit öffentlicher Kon-
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ventionen her zu interpretieren; erst aufgrund dieser Konven- hung, die eine metaphorische Aussage mit der Situation unter-
tionen besagt diese Geste, daß einer grüßt, für etwas stimmt, hält, die sie neu beschreibt. Wenn Marx sagt, daß die herr-
sich für eine Aufgabe meldet usw. Erkennt man diese letzte schende Klasse ihre Gedanken als herrschende Gedanken
Schicht der symbolischen Handlung, der symbolisch artiku- durchsetzt, indem sie diese als ideelle und allgemeine vorstellt,
lierten Handlung nicht als wirklich an, so kann ·man nicht suggeriert er dann damit nicht, daß dieses Vorgehen eine
umhin, in der Ideologie lediglich eine intellektuelle_Deprava- gewisse Ähnlichkeit hat mit der Hyperbel, wie sie von den
tion zu sehen, die ihre Gegner zu demaskieren versucht. Rhetorikern beschrieben wird?
Marx muß aber selbst diesen autonomen Prozeß symbolischer Ganz gleich, wie groß die Verwandtschaft- zwischen Rheto-
Formulierung, wie Geertz es nennt, voraussetzen, wenn er rik und Ideologie sein mag, die Erörterung beweist doch, daß
erklären will, was es mit der »Sprache des wirklichen Lebens« der anfängliche Gegensatz zwischen wirklichem tätigen Leben
auf sich hat. Dieser Prozeß liegt allen systematischen Verdre- und mystifizierter Vorstellung als solcher völlig sinnlos ist,
hungen voraus, die man im abfälligen polemischen Sinne des wenn die Verdrehung nicht ein pathologischer Prozeß ist, der
Wortes Ideologien nennt. auf der Struktur eines symbolisch artikulierten Handelns auf-
Einen Schritt weiter in Richtung auf die Ideologie im polemi- baut. Wenn das Handeln nicht von Anfang an symbolisch ist,
schen Sinne des Wortes kann man tun, wenn man in Erwä- so kann keine Magie einem Interesse eine Illusion entlocken.
gung zieht, daß die symbolische Vermittlung sich nicht auf Wenn wir also I. zugestehen, daß die Handlung in ihren
stillschweigende Regeln beschränkt, die der Handlung zu- elementarsten Formen bereits durch Symbolsysteme vermit-
grunde liegen und die, sobald man sie expliziert, als lnterpre- telt und artikuliert ist und daß 2. der einfachste Diskurs, in
tant für die Handlung dienen. Diese symbolischen Vermitt- dem diese symbolischen Vermittlungen zum Ausdruck kom-
lungen werden nämlich außerdem noch für sich selbst »vorge- men, seiner Natur nach rhetorisch ist, - so wird es verständ-
stellt« im Diskurs: erst hier treffen wir auf den ganz generellen lich, daß ganze Segmente dieser Symbolsysteme und dieser
Begriff der »Vorstellung«, wie er von Marx verwendet wird. rhetorischen Diskurse in jene Herrschaftsverhältnisse umge-
Nun zeigt dieser Diskurs - der ideologische Diskurs - von lenkt werden, die Marx auf überzeugende Weise beschreibt
vornherein die spezifischen Züge der Verkürzung, der Ver- und erklärt. Es wäre sinnlos zu behaupten, daß bestimmte
einfachung, der Stereotypisierung, aufgrund derer er eher in Ideen systematische Verdrehungen der Wirklichkeit zuwege
die Rhetorik fällt als in die Logik. Wenn man derart Ideologie bringen, wenn nicht zunächst die soziale Wirklichkeit bereits
und Rhetorik einander annähert, so bedeutet dies kein durch Symbolsysteme vermittelt wäre, die das soziale Han-
Verdammungsurteil über die Ideologie. Man schafft vielmehr deln integrieren, und wenn nicht sodann diese Symbolsysteme
die Möglichkeit, in die Sphäre der Ideologie Begriffe, Metho- Zugang zur Sprache hätten, auf dem Wege über die Rhetorik.
den und Theorien zu übertragen, die anderswo erprobt wur- Dies ist, so scheint mir, das Prinzip der Autonomie der
den, namentlich in der Literaturkritik. Die Ideologie verliert ideologischen Ordnung. Es handelt sich um dasselbe Prinzip,
viel von ihrer Dunkelheit, wenn man auf die Verwandtschaft das wir mit Hilfe der Theorie der Idealitäten bei Husserl
achtet zwischen ihrer Funktionsweise und jener der übertra- gewonnen haben. Es bezeichnet den Umstand, daß die episte-
genen Rede, der Rede in Tropen wie Metapher, Metonymie, mologische Problematik nicht auf die ontologische Problema-
Hyperbel, Ironie usf. Diese Annäherung zwischen Tropologie tik zurückgeführt werden kann. Dieselben Idealitäten, die
und Ideologie wirft einiges Licht auf das Problem des Aus- ontologisch von der wirklichen Basis abhängen, sind unter
drucks: des Ausdrucks der Interessen in »Gedanken«. Wenn epistemologischem Gesichtspunkt autonom und irreduzibel.
die Rhetorik der Ideologien z. B. von der Metapher ausgeht, Doch die Erörterung der Thesen aus der Deutschen Ideologie
so kann die B_eziehung zwischen der Ideologie und ihrer hat sich nicht darauf beschränkt, jene Interpretation zu bestä-
wirklichen Basis verglichen werden mit der Referenzbezie- tigen, die sich für die logisch-mathematischen Idealitäten erge-
ben hatte. Sie hat uns die Möglichkeit gegeben, den Begriff der 4 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, hrsg. v. J. Winckelmann, 1.
epistemologischen Autonomie bis zu dem einer noetischen Halbbd., 5-, revidierte Aufl., Tübingen 1976, S. 122.
Autonomie auszuweiten. Die letztere hat nicht nur für die 5 Vgl. den Artikel über »Ideologie als kulturelles System« in: Interpre-
tation of Cultures, New York 1973.
logisch-mathematischen Idealitäten Gültigkeit, sondern für
alle Symbolisierungsprozesse, die vermittelnd in das Handeln
eingreifen.
Anmerkungen