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Können Computerspiele zum Erlernen musikalischer

Fähigkeiten genutzt werden?


Ein ‚Digital Game-Based Learning‘ Konzept
Bachelor-Arbeit

vorgelegt von

Christian Meznaric

im Rahmen des

Studiengangs BA Elementare Musikpädagogik, 10. Semester

Hochschule für Musik und Theater Hamburg

1.Betreuerin: Almuth Süberkrüb

2.Betreuer: Oleg Tjulenev

eingereicht am: 11.09.2021


Inhaltsverzeichnis
Einleitung............................................................................................................................................... 6

1. ‚Digital Game-Based Learning‘ und Lernen als Identitätsbildungsprozess ............................. 7

1.1 ‚Digital Game-Based Learning‘ und ‚Serious Games‘ ...................................................... 7

1.2 Didaktische Grundlage für Game-Design ......................................................................... 10

1.2.1 ‚Inquiry’ und ‚Learning as Becoming’ ......................................................................... 11

1.2.2 ‚Games-To-Learn’ statt ‚Games-To-Teach’ ................................................................. 15

1.3 ‚Performance-Play-Dialog‘ Modell ................................................................................... 20

1.3.1 Play .................................................................................................................................. 20

1.3.2 Dialog .............................................................................................................................. 21

1.3.3 Performance .................................................................................................................... 22

2. ‚Developing Musicianship Through Improvisation‘ ................................................................ 24

2.1 Improvisation und Repertoire ............................................................................................ 25

2.2 Didaktische Elemente ......................................................................................................... 26

2.3 ‚Inquiry‘ und Improvisation............................................................................................... 28

3. Musik als Spielmechanik in Computerspielen .......................................................................... 29

3.1 Rhythmusspiele .................................................................................................................. 30

3.2 ‚Tune Train‘ - Ansätze musikalischen Lernens ................................................................ 32

4. ‚Der Barde‘ – Musiklernen durch ‚Performance-Play-Dialog‘ ............................................... 33

4.1 Vorüberlegungen ................................................................................................................ 33

4.1.1 Musikalischer ‚Performance-Play-Dialog‘ ................................................................... 33

4.1.2 Repertoire und Hörerleben ............................................................................................ 34

4.1.3 Patterns und Progressionen ............................................................................................ 34

4.1.4 Kreativität und ‚Inquiry‘ ................................................................................................ 35

4.2 Spieldesign ‚Der Barde’ ..................................................................................................... 35

3
4.2.1 Das Vorbild – ‚Darkest Dungeon‘ ................................................................................ 36

4.2.2 Die Prämisse von ‚Der Barde‘....................................................................................... 38

4.2.3 Spielablauf und die Rolle von Musik............................................................................ 38

4.2.4 Die Kampf- und Improvisationsmechanik.................................................................... 39

4.2.5 Beispiel ........................................................................................................................... 40

4.2.6 Ergänzende Spielmechaniken ........................................................................................ 41

4.2.7 Dialog .............................................................................................................................. 43

5. Ausblick....................................................................................................................................... 44

Literaturverzeichnis ............................................................................................................................ 46

Forschungsstand

Im Folgenden bezieht sich der Theorieteil und die generelle Ausrichtung der Arbeit zum
großen Teil auf das Buch ‚Games-to-Teach and Games-to-Learn‘ von Yam San Chee. Dessen
philosophische und pädagogische Erwägungen sind auf mehrere Autoren zurückzuführen. Die
relevanten Bezüge werden in den entsprechenden Kapiteln erwähnt.

Die musikalische Lernmethode ‚Developing Musicianship Through Improvisation' von


Christopher Azzara gründet auf der ‚Music Learning Theory‘ von Edwin Gordon und für die
Aspekte, die das Design von Computerspielen betreffen sind Anleihen aus ‚Game Design
Workshop‘ von Tracy Fullerton und ‚Game Design und Produktion’ von Gunther Rehfeld
entnommen.

4
In dieser Arbeit wird aus Gründen der besseren Lesbarkeit das generische Maskulinum
verwendet. Weibliche und anderweitige Geschlechteridentitäten werden dabei ausdrücklich
mitgemeint, soweit es für die Aussage erforderlich ist.

Im Folgenden werden interaktive digitale Unterhaltungsprodukte jeder Art als


„Computerspiele“ oder auch einfach als „Spiele“ bezeichnet. Das umfasst unter anderem PC-
Spiele, Browsergames, Konsolenspiele, Videospiele und Mobile Games.

5
Einleitung
„In everyday life, there are often contradictory demands on us; our goals are not
always clearly defined. But in flow experiences, we know what needs to be done, and
we get immediate feedback on how well we’re achieving our goals. For example,
musicians know what notes to play next and can hear when they make mistakes; the
same is true whether it’s playing tennis or rock climbing.“ 1

Dieser Auszug aus einem Buch über Game-Design beschreibt, inwieweit der Begriff ‚Flow‘
für das Design eines Computerspiels wichtig sein soll. Dieses „beglückend erlebte Gefühl
eines mentalen Zustandes völliger Vertiefung und restlosen Aufgehens in einer Tätigkeit“ 2 ist
in der Tat etwas, das bei solchen Spielen erfahren werden kann. Die zunehmende Verbreitung
reflexbasierter Ego-Shooter, komplexer Strategiespiele, die viele Stunden Einarbeitung
erfordern und simpler Mobile Games, die von jedermann nebenbei im Bus gespielt werden
können, bieten den Beleg für die gesellschaftliche Relevanz, den diese Spiele mittlerweile
bekommen haben. Neben dem gesellschaftlich durchaus anerkannten Eskapismus eines
harmlosen Unterhaltungsproduktes, sind damit gleichermaßen negative Auswirkungen auf
Spieler in Form von Suchterscheinungen assoziiert.

Seit Carl Abt in den 70er Jahren den Begriff der ‚Serious Games‘ geprägt hat wird nunmehr
untersucht, inwieweit die Motivation, die Computerspiele mitbringen, zum Lernen genutzt
werden kann. Die Ansätze dabei sind mittlerweile äußerst vielfältig, die tatsächliche Relevanz
in der Praxis jedoch überschaubar. Alles in allem gibt es keine eindeutigen Erkenntnisse
darüber, wie gut ein solches Lernen überhaupt funktioniert oder wie es aussehen soll. In
dieser Arbeit sollen daher exemplarisch die Forschungen von Yam San Chee aus Singapur
herangezogen werden. Dieser konnte Modellprojekte an staatlichen Schulen mit eigens hierfür
entwickelten Lernspielen durchführen. Diese Projekte wurden anhand ausführlicher
pädagogischer und philosophischer Erwägungen konzipiert und sind in ihrem Entwurf und

1
Tracy 1. Fullerton, Game design workshop a playcentric approach to creating innovative games 2019 (An A K
Peters book), https://www.taylorfrancis.com/books/9781315104300, S. 99.
2
Wikipedia, »Flow (Psychologie)«,
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Flow_(Psychologie)&oldid=214994414, abgerufen am 07.09.2021.

6
ihrer Durchführung einzigartig. Nun ist gerade das Lernen musikalischer Fähigkeiten durch
Computerspiele nahezu unerforscht, was eine Untersuchung dieses spezifischen Feldes
besonders interessant macht. Mit Chees Forschung als Grundlage soll in der folgenden Arbeit
ein exemplarisches Konzept für ein Computerspiel entwickelt werden, welches das Ziel hat,
musikalische Fähigkeiten zu vermitteln. Diesbezüglich wird das Modell ‚Developing
Musicianship Through Improvisation‘ als geeignete musikalische Vermittlungspraxis
vorgestellt und einbezogen.

1. ‚Digital Game-Based Learning‘ und Lernen als


Identitätsbildungsprozess
Zur Schaffung einer entsprechenden Grundlage für ein solches Konzept gilt es
herauszuarbeiten, inwiefern Yam San Chee das Lernen durch Spiele im Sinne eines
Identitätsbildungsprozesses anstrebt.

1.1 ‚Digital Game-Based Learning‘ und ‚Serious Games‘


Zunächst sind zwei wesentliche Begriffe zu erklären, die im weiteren Verlauf wichtig sein
werden. Besonders häufig fällt in der gängigen wissenschaftlichen und Populärliteratur der
Begriff ‚Serious Game‘, der auf Clark Abt zurückgeht.3 Darunter fallen Computerspiele, die
nicht in erster Linie der Unterhaltung dienen, sondern mit deren Hilfe Inhalte und Fähigkeiten
erlernt oder trainiert werden sollen.4 Dabei muss es sich nicht zwingend um pädagogische
Spiele handeln. Bei dem Spiel ‚America’s Army‘ handelt es sich beispielsweise im
Wesentlichen um ein Rekrutierungsinstrument der US Armee. Weit weniger klar abgegrenzt
steht daneben der Begriff ‚Digital Game-Based Learning‘ (in diesem Abschnitt DGBL), der
seit 2001 durch das gleichnamige Buch von Marc Prensky Einfluss auf das Fachgebiet des

3
Wikipedia, »Clark C. Abt«, https://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Clark_C._Abt&oldid=1030795791,
abgerufen am 06.09.2021.
4
Gundolf S. Freyermuth u. a. (Hrsg.), Serious Games, Exergames, Exerlearning. Zur Transmedialisierung und
Gamification des Wissenstransfers, Bielefeld 2013 (Bild und Bit, Band 2), S. 139 f.

7
digitalen Lernens genommen hat.5 Irreführenderweise wird er in manchen Kontexten als eine
Art Überbegriff für alle computerspielbasierten Lernmethoden verwendet. Richtigerweise
reiht er sich als Konzept unter die Bereiche des Edutainments beziehungsweise des E-
Learnings ein. Während ‚Serious Games‘ für ein spezifisches Spieldesign stehen, beschreibt
DGBL die Art und Weise, wie Computerspiele jeglicher Art zum Lernen eingebunden werden
können.

„[Digital Game-Based Learning] (…) setzt den Fokus deutlicher auf


Lernumgebungen und die Lernmethode (…). Dabei können (müssen aber nicht)
Spiele zum Einsatz kommen, die speziell als Lernspiele, d.h. mit einem oder
mehreren konkreten Lernzielen und einer fachlichen Eingrenzung, konzipiert
wurden. Das Ziel liegt dabei auf dem Erwerb von Wissen und/oder der
Erprobung von Kompetenzen, die außerhalb des Spiels liegen.“6

Alle Spiele, auch ‚Serious Games‘, können hierbei demnach zur Anwendung kommen. Das
Spielen eines solchen für sich bedeutet aber nicht, dass nach einer durchdachten Methode
gelernt wird. Umgekehrt ist DGBL auch mit reinen Unterhaltungsspielen denkbar, sofern sie
einen geeigneten Inhalt bieten, der vermittelt werden soll. Beiden Konzepten gemein ist, dass
der hohe Motivationsgehalt, den Spiele mit sich bringen, als relevant für die besondere
Lernerfahrung gilt. Auch bei den ‚Serious Games‘ stehen visuelle und erzählerische
Inszenierung sowie ansprechende Spielmechaniken beim Entwicklungsprozess im
Mittelpunkt. Die pädagogischen Elemente richten sich letztlich danach und kommen
anschließend als Überbau dazu. 7 Der Unterschied, der für den Kontext dieser Arbeit relevant
ist, liegt in den bildungspolitischen Erwägungen, die sich in jüngerer Zeit bezüglich des
DGBL herausgebildet haben. In dieser Hinsicht hatte vor allem James Paul Gee mit seinem

5
Vgl. Marc Prensky und Sivasailam Thiagarajan, Digital game-based learning. [new roles for trainers and
teachers ; how to combine computer games and learning ; real-life case studies from organizations utilizing
game-based techniques], St. Paul, Minn. 2007.
6
Technische U. Braunschweig, »Game-based Learning«, https://www.tu-
braunschweig.de/lehreundmedienbildung/konzepte/game-based-learning, letzte Änderung am 10.08.2021,
abgerufen am 10.08.2021.
7
Michael Zyda, »From Visual Simulation to Virtual Reality to Games«, in: Computer 38/9 (2005),
https://mikezyda.com/resources/pubs/Zyda-IEEE-Computer-Sept2005.pdf, abgerufen am 09.08.2021, S. 26.

8
Buch ‚The anti-education era‘ weitreichenden Einfluss.8 In den Fokus für das Lernen rückt
hierbei die besondere Wechselbeziehung mit der Spielumgebung, in die sich der Spieler
begibt. Ein ‚Serious Game‘ kann seinem Zweck auch gerecht werden, wenn im Spielverlauf
Multiple Choice Fragen beantwortet werden und das eigentliche Spiel in keinem engeren
Zusammenhang zum Lerninhalt steht. Im Browserspiel ‚Zombie Math‘ gilt es etwa, möglichst
schnell Mathematikaufgaben zu lösen, bevor hungrige Zombies den Spieler erreichen. 9 Es
besteht keine Verbindung zwischen den Entscheidungen des Spielers und der Spielmetapher,
die dem Spieler mathematische Zusammenhänge begreiflich machen könnte. DGBL erfordert
aber eben diese Auseinandersetzung und Reflektion mit dem eigenen Handeln als zentrale
Lernerfahrung. In der Städtebausimulation ‚Sim City‘, das kein ‚Serious Game‘ ist, muss der
Spieler fortlaufend Entscheidungen treffen, die sich auf die Entwicklung seiner Stadt
auswirken. So hat er z.B. die Wahl, wieviel Industrie oder wie viel Kultureinrichtungen er
errichten möchte. Das hat wiederum Auswirkungen auf die, an die Realität angelehnten,
Spielsysteme. Diese simulieren etwa das Ökosystem der Spielwelt und die Zufriedenheit der
fiktiven Bürger. Der Spieler ist letztlich mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert
und kann dadurch in einen Reflektionsprozess bezüglich seiner Entscheidungen treten.
‚Moving Tomorrow – An Intercultural Journey’ ist hingegen ein ‚Serious Game‘, welches
ebenfalls die Reflektion über das eigene Handeln möglich werden soll. Die Spielcharakterin
findet sich hier als Mitarbeiterin einer Firma in einem fremden kulturellen Kontext wieder.
Dem Spieler sollen hierbei die alltäglichen Herausforderungen erfahrbar gemacht werden.
Nach Herstellerangaben soll sich die Handlung unterschiedlich entwickeln, je nachdem wie
der Spieler sich in der Spielwelt verhält.
Das Spiel ist für Hochschulseminare konzipiert, in deren Rahmen das Spiel gespielt und
besprochen werden soll. 10

8
vgl. hierzu Yam S. Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, Singapore 2016.
9
»Zombie Math - Play with Math Games«, https://www.mathgames.com/play/zombiemath.html, abgerufen am
06.09.2021.
10
Excellence Centre for Intercultural Management, Diversity and Inclusion | ESCP Business School, »Moving
Tomorrow - Culture Serious Game - Excellence Centre for Intercultural Management, Diversity and Inclusion |
ESCP Business School«, https://cim.escp-business-school.de/learning/moving-tomorrow/, letzte Änderung am
29.06.2021, abgerufen am 06.09.2021.

9
Computerspiele, die ein motivierendes Spielprinzip mit Lerninhalten anreichern, stellen für
sich noch keine guten Lernspiele dar. Es sind gute ‚Digital Game-Based Learning‘-Konzepte
notwendig, die Spielern einen pädagogischen Rahmen geben, in dem die Spiele sinnvoll
genutzt werden können. Im Folgenden soll deutlich werden, warum ein solcher Rahmen nicht
nur für gute Lernspiele unabdingbar ist und warum ein ‚Serious Game‘ wie ‚Zombie Math‘
diesen Anspruch nicht erfüllt.

Abbildung 1

Abbildung 3 Abbildung 2

‚Moving Tomorrow – An Intercultural Journey’, ist ein ‚Serious Game‘ (Abb 1). Hier soll der Spieler
interkulturelles Wissen vermittelt bekommen, indem er aus Sicht des Hauptcharakters die Besonderheiten
unterschiedlicher Unternehmenskulturen erlebt. Das kommerzielle Unterhaltungsprodukt ‚Sim City 4‘ ist
demgegenüber eine Aufbausimulation, anhand deren Mechaniken bestimmte städtebauliche Zusammenhänge
erfahrbar gemacht werden (Abb. 2). Beide Spiele sind so konzipiert, dass der Lerninhalt im Zusammenhang mit
Metapher und Spielmechanik steht. Das trifft nicht zu bei dem Browsergame ‚Zombie Math‘ - per Definition
ebenfalls ein ‚Serious Game‘.

1.2 Didaktische Grundlage für Game-Design


Die grundsätzlichen Zusammenhänge menschlichen Lernens und wie diese in Spielen
berücksichtigt werden können, bildet eine wesentliche Grundlage für die Ziele dieser Arbeit.

10
Hierzu werden vorrangig die Erkenntnisse von Yam San Chee herangezogen, die er in seinem
Buch ‚Games-To-Teach or Games-To-Learn‘ zusammengefasst hat. Er hat im Rahmen seiner
zehnjährigen Forschung für das ‚National Institute of Education‘ in Singapur ein
pädagogisches Modell entwickelt, bei dem er sich auf ontologische und
erkenntnistheoretische Zusammenhänge der westlichen Bildungsgeschichte stützt. Diese
verknüpft er mit jüngeren Entwicklungen zu ‚Digital Game-Based Learning‘ zu einem
Konzept, das er als ‚Games-To-Learn‘ bezeichnet. In dessen Zentrum stellt er die
praxisorientierte Methode ‚Performance-Play-Dialogue‘, für die, unter seiner Leitung,
insgesamt drei ‚Serious Games‘ zu Lernthemen aus Physik, Chemie und Politik entwickelt
wurden. Zu diesen wurden zwischen 2012 und 2014 verschiedene Modellprojekte an
staatlichen Schulen in Singapur durchgeführt. Im Folgenden werden die relevanten
Einzelheiten seiner Thesen erläutert, die er als geeignete pädagogische Grundlage für die
Konzeption eines Lernspiels betrachtet.

1.2.1 ‚Inquiry’ und ‚Learning as Becoming’

Einer der Autoren, auf die sich Chee beruft, ist der Pädagoge und Philosoph John Dewey
(1859 – 1952), dessen Wirken insbesondere auf die Reformpädagogik Einfluss hatte.11 Für
Chee erlangt dessen Verwendung des Begriffs ‚Inquiry‘ zentrale Bedeutung, der bisweilen
mit ‚Forschung‘ übersetzt, im konkreten Kontext aber mit ‚Ergründung‘ besser umrissen wird.
Um zu verstehen, warum der Begriff hier zentrales Element einer didaktischen Grundlage ist,
gilt es einen Schritt zurück zu machen zu der Grundüberlegung Deweys: „Dem Denken kann
12
sich nur erschließen, was [für den Menschen] Bedeutung hat“. Dewey formt hieraus den
praktischen Schluss, dass sich die Lehre und das Lernen nach den bedeutungsvollen
Aktivitäten im Leben des Schülers richten sollen.13 Im Lichte dessen sieht Chee konkret einen
Irrtum darin, wie das Lernen in den institutionalisierten Schulsystemen weltweit praktiziert
wird. Der Kern des Problems liegt für ihn hierbei nicht darin, dass Wissen leichter

11
Wikipedia, »John Dewey«, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=John_Dewey&oldid=214537370,
abgerufen am 18.08.2021.
12
Donald J. Morse, Faith in Life John Dewey's Early Philosophy 2019 (American Philosophy),
https://www.degruyter.com/isbn/9780823285204.
13
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 39.

11
aufzunehmen wäre, wenn man eine persönliche Erfahrung daran knüpft. Er stellt vielmehr die
geltende Auffassung in Frage, dass es sich bei Wissen um etwas handele, das ein Schüler
„begreifen“ könne.14 Dem zu Grunde liege ein grundsätzliches ontologisches und
epistemologisches Missverständnis, das seiner Ansicht nach bereits seit den frühen
griechischen Philosophen besteht.

Ontologie bezeichnet die Lehre vom Sein und von den Grundstrukturen der Wirklichkeit, 15
während Epistemologie, sich mit den Voraussetzungen für Wissen und Erkenntnis
auseinandersetzt. 16 Chee argumentiert, dass das Sein (im Sinne einer Ontologie)
fälschlicherweise als eine einseitig zugängliche objektive Wahrheit angesehen wird, die durch
das Erkennen (im Sinne einer Epistemologie) ergründet werden könne. Der Fehler drückt sich
in etwas aus, das schon Dewey als philosophischen Irrtum beschrieben hat. Er bezeichnet es
als Verwechslung von logischer Ergründung (‚Inquiry‘) und der Konsequenz sprachlicher
Bedeutungsschaffung mit bereits bestehendem Vorhandensein metaphysischer Existenz. 17
Dies wird veranschaulicht durch ein Gedankenspiel von Bryan Greetham, bei dem der
Besucher einer Universität nach Besichtigung der Verwaltungs- und Lehrgebäude, der
Bibliothek und der Sporteinrichtungen fragt, wo denn nun die Universität sei.18 Die
‚Universität‘ als solche ist aber rein konzeptuell und hat keine separate materielle Existenz.
Chee führt hierzu aus, dass die „primäre“, durch unsere Sinne erfahrbare Realität zu
unterscheiden sei von der „sekundären“ Realität, die wir durch Sprache erschaffen. Die
letztere erlaubt es uns, verschiedene Abstraktionsebenen zu erschaffen. Die Worte selber
schaffen jedoch keinen Zugang zur primären Realität der Natur. Die Folge ist etwas, das Chee
als ‚Lost in Representations‘ bezeichnet und das sich in der irrigen Annahme darüber

14
Ebd., S. 20.
15
Wikipedia, »Ontologie«, https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Ontologie&oldid=214341343, abgerufen
am 01.09.2021.
16
Wikipedia, »Erkenntnistheorie«,
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Erkenntnistheorie&oldid=214908500, abgerufen am 01.09.2021.
17
vgl. Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, 27 f.
18
Ebd., S. 28.

12
ausdrücke, um was es sich bei Wissen handelt.19 Alles, was sich zum Beispiel in Büchern an
Informationen finde lasse, sei entgegen gängigen Sprachgebrauchs kein tatsächliches Wissen.
Hierbei handele es sich vielmehr nur um Repräsentationen von Bedeutungen, die einer
bestimmten Erfahrung gegeben wurden. Wer noch nie ein Rhinozeros gesehen hat, kann
demnach ein solches auch nicht zweifelsfrei identifizieren, wenn er in einem Lexikon die
Definition „massives gehörntes Säugetier“ auswendig gelernt hätte.20 Die Wörter und Sprache
selbst seien menschliche Konstrukte, die nach der physikalischen Welt entstünden und nicht
anders herum.

In den Klassenzimmern dieser Welt drücke sich dadurch die Annahme aus, dass Wissen etwas
sei, das zeitlich vor den Schülern bestanden hat und das als eine Art Entität vermittelt werden
könne.21 Der Ansatz einer objektiv vorhandenen Realität, die sich zur Vermittlung eignet, ist
jedoch aufgrund der obigen Erwägungen in sich problematisch. Deswegen ist auch der
Mensch nicht dazu ausgelegt, Wissen, im Sinne objektiver Fakten, vermittelt zu bekommen,
wie es oft versucht wird. Die Schüler wissen auf diesem Wege zwar etwas über Dinge, aber
sie verstehen dieses Wissen nicht, sie sind ‚Lost in Representations‘. Anschaulich lässt sich
festhalten, dass die Repräsentation von Wissen stets eine physische Form verliehen bekommt,
etwa in Form von Worten in einem Wörterbuch. Dagegen drückt sich tatsächliches Wissen in
einem Potential aus, durch das Tätig-Sein generiert wird, wie es der Kognitionspsychologe
Allen Newell formuliert. 22 Eine Person wird nicht in der Lage sein Fahrrad zu fahren, wenn
sie die wichtigen Einzelheiten hierüber nur als „Wissen“ gelernt hat (Gleichgewicht,
notwendiges Tempo, usw.). Im Übrigen wird derjenige, der Fahrrad fahren kann, durchaus in
der Lage sein etwas über das Fahrradfahren zu erzählen.

Wenn das vorangegangene verstanden wurde, kann nun das von Dewey angestoßenes
Paradigma des ‚Inquiry‘-Prozess umrissen werden, der tatsächliches Lernen beschreiben

19
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 36.
20
Ebd., S. 24.
21
Ebd., S. 20.
22
vgl. ebd., S. 26.

13
soll.23 Im Einklang mit gängigen psychologischen Ansätzen wird Lernen hiernach ausgelöst
durch ein Ereignis, das den normalen Fluss von Handlungen im Leben einer Person
unterbricht.24 Diese Beeinflussung führt zu einer Selbstreflektion, bei der der Mensch einen
Weg zu finden versucht, wie er die unterbrochene Handlung fortsetzen kann. Im Hinblick
hierauf wird deutlich, dass Wissen (als Aktivität) immer in der Lebenswelt menschlicher
Handlungen stattfindet. Eine Person muss hierbei einen Weg finden, wie mit dem Problem
umgegangen werden kann. Wenn sie dann tätig wird, handelt die Person aufgrund der
hypothetisch erwogenen Lösungen ihrer Probleme. Sie ergründet dabei, welche ihrer
erwogenen Lösungen geeignet ist, das begehrte Ergebnis hervorzurufen. Als Nebeneffekt
ergibt sich durch die Verknüpfung von Mitteln und Zielen, dass ein ähnliches Problem in der
Zukunft nicht von Grund auf neu gelöst werden muss. Lösungen aus der Vergangenheit
können sich vielmehr als in der Gegenwart effektiv erweisen.“

„Lernen auf diesem Wege adressiert sowohl Überlegung, als auch Handlung und ist damit
empirisch fundiert.“25 Hierin liege, so folgert Chee, intelligentes, bedeutungsvolles und
zielgerichtetes menschliches Verhalten und „echtes“ Lernen finde statt.“

Weil die Lebenswirklichkeit des Menschen eine durch und durch sozial konstruierte sei, lerne
der Mensch daher letztlich, um sich in seinem sozialen Lebensumfeld selbst zu verwirklichen.
Dadurch, dass er sich Zeit seines Lebens in seiner sozialen Rolle bewegt, könne er gar nicht
anders, als seine Ziele und sein Werden danach auszurichten. Da der Mensch und die
Probleme seines Lebensumfeldes zudem ständigem Wandel unterworfen sind, ist der
‚Inquiry‘-Prozess ein offener Prozess, der aufgrund der ständigen Veränderung der
Lebenswelt durch fortlaufendes Ergründen gekennzeichnet ist. Der Mensch verfügt nicht über
ein immaterielles Auge, womit er unveränderliche objektive Wahrheiten erfassen kann.
Lernen und Lehren durch Sprache allein, können Schüler demnach nicht ermächtigen und

23
vgl. auch Neil Postman und Charles Weingartner, Teaching as a subversive activity, New York 1969,
https://kairosschool.co.za/wp-content/uploads/2011/02/Teaching-as-a-Subversive-Activity.pdf, abgerufen am
23.08.2021.
24
Andrea Kiesel und Iring Koch, Lernen. Grundlagen der Lernpsychologie, Wiesbaden 2012 (Basiswissen
Psychologie), S. 11.
25
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn., S. 32.

14
handlungsfähig machen, nur weil sie hierdurch Wissen über etwas erlangen. Im Gegenteil
stellt Lernen einen Identitätsbildungsprozess dar, den Chee als

‚Learning as Becoming‘ bezeichnet. Er betont angesichts des Irrtums einer objektiv


wahrnehmbaren Realität die Relevanz aller Wahrnehmungsvorgänge des Menschen. Hierzu
schreibt er:

“From the perspective of learning as becoming, then, the educator’s goal is to help
students develop enactive expertise that is deeply embodied, highly adaptive, and
closely aligned to professional practice. Such expertise is grounded in values,
dispositions, and habits of action that arise through influences exerted by students’
learning and cultural trajectories.”26

Explizit sind hierbei auch die emotionale und wertorientierte Sicht einer Person auf die Welt
ein Teil von Wissenserwerb, der hierdurch erst seine Richtung bekommt. Ein solches Lernen
ist immer zentriert auf die Person und steht damit in Abgrenzung zu einem psychologischen
Kognitivismus, der zentriert ist auf den Verstand und dessen neuronalen Vorgänge. Das echte
Leben impliziert die Notwendigkeit der Entwicklung von spezifischem Verhalten, um eine
Teilhabe am sozialen Leben zu gewährleisten. Die Frage, wie eine solche Identitätsbildung in
der Bildung stattfinden kann, führt schließlich zu der Art und Weise, wie Computerspiele zum
Lernen verwendet werden können.

1.2.2 ‚Games-To-Learn’ statt ‚Games-To-Teach’

Die Gegenüberstellung eines in der sozialen Lebenswirklichkeit begründeten natürlichen


Lernens und des in Schulsystemen verkörperten über-etwas Lernens überträgt Chee analog
auf das Feld des ‚Digital Game-Based Learnings‘. Sein Begriff ‚Games-to-Learn‘ steht dabei
für die Nutzung von Computerspielen im Sinne von ‚Inquiry‘, während ‚Games-to-Teach‘
Lernspiele auf Medien reduziert, die einer schulisch gängigen Wissensvermittlung dienen. Im
Zentrum des Schulunterrichts, der für viele pädagogische Kontexte den Maßstab bildet, steht
die Materie. Diese gilt als unabhängig und zeitlich vor dem Schüler bestehend. Durch welche
Methode die Materie vermittelt wird, ist dabei freigestellt, sei es durch das Medium

26
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn.

15
Computerspiel oder durch etwas Anderes.27 Diese Denkweise spiegelt sich auch in vielen
Lernspiele wider, wie etwa im Mobile-Game ‚Org Chem Adventure‘ 28. Hier übernimmt der
Spieler die Rolle eines jungen Mannes, der sich auf die Reise in das „Land der organischen
Chemie“ macht, um das Geheimnis um das Schicksal seines lange verschollenen Vaters
aufzudecken. Dabei wird er mit Fragen bezüglich organischer Chemie konfrontiert. In einer
Begegnung soll der Spieler einem Einwohner des Landes Essigsäure bringen, die dieser
benötigt. Diese „wächst“ in Form ihrer chemischen Strukturformel auf den Wiesen. Der
Spieler muss aus einer Auswahl von vier Formeln die richtige auswählen. Wenn er dies
geschafft hat, schreitet die Handlung fort. Unabhängig davon, ob der Spieler es geschafft hat
sich die Formel auswendig zu merken, wird hier deutlich, dass die Essigsäure selbst keine
Auswirkung auf die Spielwelt hat, die es zu ergründen gilt. Wenn die richtige Formel
ausgewählt wurde, geht das Spiel davon aus, dass der Spieler den Lerninhalt „Strukturformel
Essigsäure“ übermittelt bekommen hat. Ähnlich verhält es sich, wenn man erfährt, dass das
Wasser in dieser Welt mit Propanol versetzt ist und erst bereinigt werden muss. Der Spieler
bekommt dann die Strukturformel gezeigt, die beschreibt, wie sich mit einem
Trocknungsmittel das Wasser von Propanol trennen lässt. Hier besteht zumindest der Ansatz,
dass es ein Problem in der Spielwelt gibt, dessen Lösung durch chemische Arbeitsschritte
lösbar wäre, nämlich trinkbares Wasser zu bekommen. Allerdings besteht die Lösung dieses
Problems nur in dem Wissen über die korrekte Strukturformel und der Spieler ist nicht
gefordert, die Zusammenhänge zu ergründen, die diese chemische Reaktion bedingen. Hierin
liegt ein weiteres Problem mit der Annahme einer objektiven „wahren“ Realität. Jede andere,
als die „richtige“ Antwort hat in solch einem Kontext keinen Wert. Wenn aber für einen
Lernenden keine Gelegenheit besteht zu erfahren, warum „falsche“ Antworten nicht richtig
sind, wird sein Verständnis von wahr und falsch fragil bleiben. 29 Der einzige Maßstab hierfür
bleibt die lehrende Autorität, sei es das Spiel oder ein Lehrer. Die durchaus plausible
Aufgabe, trinkbares Wasser gewinnen zu müssen, verkommt in diesem Fall zur erzählerischen

27
Postman und Weingartner, Teaching as a subversive activity, S. 19.
28
NinDeMo, »Org Chem Adventure – Apps bei Google Play«,
https://play.google.com/store/apps/details?id=com.nindemo.orgchemadv&hl=de&gl=US, letzte Änderung am
10.09.2021, abgerufen am 10.09.2021.
29
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 23.

16
Ausgestaltung. Der Spieler hat nicht die Gelegenheit bekommen, die Bedeutung seines
Handelns und die der Spielwelt zu ergründen, die dem Handeln eine starke persönliche
Grundlage geben könnten. Computerspiele sind hierfür grundsätzlich geeignet, weil sie
Entscheidungssituationen schaffen können, aus denen unterschiedliche Ergebnisse
hervorgehen. Dafür ist es aber wichtig, dass sich die Spielumgebung, je nach Entscheidung
des Spielers, auf verschiedene Arten weiterentwickeln kann. Da sich das wiederum auf den
Spieler auswirkt, ist dieser mit den Konsequenzen seines Handelns konfrontiert und kann in
Reflektion darüber treten, welche seiner Entscheidungen richtig oder falsch bzw. besser oder
schlechter geeignet sind zur Erreichung des Zieles. Im weiteren Verlauf könnten für den
Spieler ähnliche Situationen entstehen, in denen er alternative oder bessere
Entscheidungsmöglichkeiten treffen kann, wodurch der Prozess der Bedeutungsschaffung
offen und nachhaltig wird.

Letztlich steht in vielen ‚Serious Games‘ das Lernen „über“ Materie im Vordergrund. Im Fall
von ‚Org Chem Adventure‘ ist davon auszugehen, dass die Spieler das Wissen, welches sie
durch das Spiel vermittelt bekommen, nicht verstehen. Sie sind ‘lost in representations‘. Ein
solches, auf das reine Ergebnis orientierte Lernen, ist geprägt durch die in Schulen
institutionell bedingte Notwendigkeit, bewertbare Resultate zu erhalten und fällt unter das
Paradigma ‚Games-to-Teach‘. Im Gegenzug steht ‚Games-to-Learn‘ für ein an den ‚Inquiry‘-
Prozess angelehntes Lernen mit Spielen. Ein solches soll ‚Legends of Alkhimia‘ sein, das sich
ebenfalls mit organischer Chemie auseinandersetzt. Es wurde in Zusammenarbeit mit Chees
Team im Rahmen der Forschung zu ‚Games-To-Teach or Games-To-Learn‘ entwickelt und
im Rahmen eines Modellprojektes im schulischen Kontext getestet. 30 Es handelt sich um ein
dreidimensionales ‚Action-Adventure‘ und Mehrspieler Spiel für vier Personen. Aus der
Vogelperspektive steuern die Spieler ihre Figur, die den Bewohnern der Fantasystadt
Alkhimia hilft, sich gegen verschiedene Bedrohungen zu wehren. So stellen die
Stadtbewohner von Alkhimia im dritten Level entsetzt fest, dass ihre Kohlernte nicht mehr
grün, sondern knallrot ist. Der Spieler hatte im vorangegangenen Level Monster, die die Stadt
bedrohen, besiegt. Die verrottenden Körper und die beim Kampf benutzten Chemikalien
haben dabei jedoch offensichtlich das Feld verunreinigt. Die Spieler müssen nun also das

30
vgl. ebd., 91 ff.

17
Problem lösen und den Kohl in seinen ursprünglichen Zustand versetzen. Dazu müssen sie
Proben der Monsterabfälle und Rotkohlblätter ins Labor bringen, um eine Lösung zu finden.
Im Labor finden sie weitere Substanzen, die für die Spielentwickler „Surrogate für lösliche
31
und unlösliche Hydroxide und Karbonate sind“. Diese sind in der Lage den Säure und
Basegehalt von Stoffen zu beeinflussen. Durch Versuche mit den zur Verfügung stehenden
Chemikalien sind die Spieler gefordert herauszufinden, wie sich ein neutrales Mittel
herstellen lässt, das weder sauer noch alkalisch ist. Auf dem Weg dorthin sind die Spieler mit
anderen chemikalischen Phänomenen konfrontiert, wie etwa das Entstehen eines Gases bei
einer bestimmten Reaktion oder ein unabsichtliches blaues (basisches) Kohlblatt. Wenn die
Spieler erfolgreich sind, erhalten sie durch die Zugabe bestimmter Stoffe, Salz und Wasser
und außerdem eine violettes Kohlblatt („um eine Farbe in der Mitte zwischen Rot und Blau
und damit Neutralität zu suggerieren“).

„Das ist das Ergebnis, das sie brauchen. Wenn die Schüler dann eine dieser
Substanzen als Munition einsetzen und mit ihren Waffen das Feld besprühen, wird das
Kohlfeld grün und die Stadtbewohner kommen heraus, um ihre Anerkennung für die
Bemühungen der Spieler auszudrücken. Die vielen Substanzkombinationen, die in
dieser Spielstufe möglich sind sowie die komplexe Chemie der Säure-Base-Reaktionen
führen in der Regel zu einem längeren Dialog über die Sinnfindung im
Klassenzimmer. 32

Wesentlich für das Verstehen dieser Beschreibung vom Spiel ist, dass die Spieler in einer
Situation sind, die in der Spielumgebung eine bedeutungsvolle Aktivität und ‚Inquiry‘
erfordert. Sie müssen also Mutmaßungen über Problemlösungen anstellen und diese auch
validieren, während sie sich in einem Austausch mit der Spielwelt befinden. Im ‚Inquiry‘
Prozess drückt sich hierbei das philosophische Konzept des Pragmatismus auf, indem die
Gesamtheit der Spielerfahrung entscheidend ist für den Erkenntnisprozess. Dieses wurde in

31
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn.
32
Ebd.

18
der Neuzeit von William James weiterentwickelt und von Dewey aufgegriffen.33 Hierin ist das
Modell eines nicht-kognitivistischen Verstandes beschrieben, der die Relevanz von Werten,
Überzeugungen und Handlungen in gebührendem Maße einbezieht. Denn der Verstand des
Menschen gründet sich auf Erfahrungen, die all diese Aspekte beinhalten. ‚Legends of
Alkhimia‘, versucht dementsprechend Situationen für Spielererfahrungen zu schaffen, die ihr
Erleben in fortlaufenden Austausch treten lassen mit ihren Emotionen, Verhaltensweisen und
ihrer Vorstellungskraft. Das Ziel hierbei ist den Lernenden als Teilnehmer des Lebens zu
behandeln und nicht als Zuschauer. „Der Pragmatismus fordert also, den empiristischen
Charakter herrschen zu lassen und den rationalistischen Charakter vollständig
aufzugeben“.34

Es ist anzunehmen, dass der pädagogische Wert von Spielen oftmals allein darin gesehen
wird, dass Spieler gewillt sind, sich über längere Zeit mit Lernmaterie auseinanderzusetzen,
weil sie durch kurzweiligen Zeitvertreib im Spiel gehalten werden. Gleichzeitig scheint das
bloße Vorhandensein von Interaktivität als Garant für eine intensivere Auseinandersetzung
mit den Inhalten zu gelten. Jedoch gehen diese Überlegungen am Kern des Problems vorbei.
Spiele nach dem Prinzip ‚Games-to-Teach‘ sind durch die Erwartungshaltung, dass sie
austauschbare Medien zur Wissensvermittlung sind, in ihrem eigentlichen Potential
beschränkt.

Das eigentlich Wesentliche, was Computerspiele leisten können ist, eine Umgebung zu
schaffen, in der der Spieler dadurch lernen kann, dass er selbst tätig wird und hierdurch die
Spielwelt ergründet, in der er sich bewegt, also ‚Inquiry‘ betreibt. In der ureigenen
Eigenschaft von Spielen, eine Rolle spielen zu können, sieht Chee die Möglichkeit, den
‚Inquiry‘-Prozess in bedeutungsvoller Weise stattfinden zu lassen. 35 Hierbei sieht er es als
elementar, dass der Spieler sich in seiner Rolle in der Spielwelt entwickelt. Schon Clark Abt,
auf den der Begriff ‚Serious Game‘ zurückgeht, ging davon aus, dass Spiele in der Lage sind,

33
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, 46 f.
34
William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, Hamburg 2016 (Philosophische
Bibliothek, Band 684), S. 34.
35
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, 5 f.

19
Gedanken, die vom Tätig-Sein getrennt wurden, wieder damit zu verknüpfen. 36 Damit ist der
Bogen gespannt zu dem ‚Inquiry‘-Prozess. Spiele sind in der Lage, dem Spieler die
Ergründung von Zusammenhängen und Phänomenen zu ermöglichen, indem sie die
Motivation dafür schaffen. Diese liegt darin, dass sie sich in ihrer Rolle in der Spielumgebung
verwirklichen wollen. Hierdurch können Spielräume für identitätsstiftende Lern-Aktivität in
Bereichen geschaffen werden, die im echten Leben, bzw. im schulischen Kontext, schwer
oder gar nicht zu realisieren wären. Chee hält es bei alledem für wichtig, dass ein
pädagogischer Rahmen geschaffen wird, der die Spieler in diesem Reflektionsprozess leitet
und unterstützt. Diesen nennt er ‚Performance-Play-Dialog‘.

1.3 ‚Performance-Play-Dialog‘ Modell


Das ‚Performance-Play-Dialog‘ Modell von Chee soll dazu dienen, Computerspiele als Raum
für Handlung zu etablieren, in dem das Lernen im Wege von ‚Learning-as-Becoming‘
möglich wird. Dabei geht es um das Wechselspiel der Entscheidungen, die der Spieler im
Spiel trifft und über die er dort reflektiert (Play) und dem Dialog im Klassenzimmer, der
sozialen Raum schafft für eine weitergehende Auseinandersetzung (Dialog). In Beziehung
hierzu steht der Prozess einer auf tiefem Verstehen basierenden persönlichen Entwicklung
und damit einer auf das Leben bezogenen Identität (Performance). 37 Im Folgenden wird dieses
Modell in der Theorie und anhand eines Praxisbeispiels erläutert.

1.3.1 Play

Für die theoretischen Erwägungen zu Play, stehen unter anderem frühe Werke von Johan
Huizinga im Mittelpunkt, der die Bedeutung von Spielen als besonderen Raum betont, in dem
„verantwortungsvolle Tätigkeiten für die wirkliche Welt“ gefördert werden können. In dem
„magischen Kreis“, den das Spielen erzeugt, lässt sich die Realität vorübergehend aussetzen.
Die Übernahme einer Rolle in diesem Spiel ist es, was dort soziales Lernen möglich macht. 38

36
Clark C. Abt, Serious games, New York 1970, 4 ff.
37
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 52.
38
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 55.

20
Das Spiel ‚Statecraft X: Learning Governance‘ ist ebenfalls eines der Spiele, die im Rahmen
der Forschung zu ‚Games-To-Teach or Games-To-Learn‘ entwickelt und über drei Wochen
anhand eines Modelprojektes getestet wurden. Es handelt sich um ein Multiplayer
Strategiespiel, in dem die Schüler jeweils die Führung über ein Königreich in einer Fantasy-
Welt übernehmen. Pädagogisches Ziel ist es, den 15-jährigen Schülern zu vermitteln, was es
bedeutet ein Bürger zu sein. Die Anforderungen an das Verständnis eines solchen Konzeptes
wurden an den staatlichen Lehrplan vom Singapur angelehnt. Weil das Bürgertum geprägt ist
von dem Spannungsverhältnis zwischen dem Individuum auf der einen und den Rechten und
Pflichten gegenüber der Gesellschaft auf der anderen Seite, wurde das Spielprinzip so
konzipiert, dass die Spieler die Rolle einer Regierung übernehmen. Dabei haben sie die
Aufgabe, eine Stadt zu errichten und zu regieren, wobei sie mit Entscheidungen konfrontiert
werden, die die verschiedenen Felder politischen Handelns berühren, wobei die Zufriedenheit
der fiktiven Bürger ein ständig zu berücksichtigender Faktor ist. 39 Die Handlungen der Spieler
in diesem Rollen-Spiel ist es, worüber Reflektion und ‚Inquiry‘ möglich wird.

1.3.2 Dialog

Im Fall von ‚Statecraft X‘ wird mit den Schülern im Klassenzimmer besprochen, wie sie das
Spiel wahrnehmen, warum sie bestimmte Entscheidungen treffen und wie sie diese
Entscheidungen einordnen. Der hier stattfindende Dialog ist, über die bloße Verständigung
hinaus, zu verstehen als

„(…) Ausdruck einer grundsätzlichen Orientierung am Anderen und des Wunsches,


diesen Anderen zu verstehen und von ihm verstanden zu werden. Sie ist von
grundlegender Bedeutung für eine Lebensweise, die nicht starr, sondern veränderlich
ist, die offen und vorläufig ist und nicht autoritär.“ 40

Während dieser Sitzungen bemühen sich die Schüler, einen Sinn und eine persönliche
Position zu finden, zu den Fragen des Regierens, die das Engagement im Spiel aufwirft. Zum
Beispiel werden sie konfrontiert mit der Versorgung mit Wohnraum, Gesundheitsfürsorge,

39
Ebd., S. 76.
40
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, 55 ff.

21
Verteidigung und Zufriedenheit der Bürger sowie die Steuerung der Handels- und
Einwanderungsströme in und aus den Städten. Dieser soziale Moment gibt ihnen die
Möglichkeit, sich in Relation zu anderen zu setzen und bietet Platz für die Artikulation ihrer
Werte und Überzeugungen. Das Bedürfnis andere zu verstehen und verstanden zu werden,
gibt die Möglichkeit, gegenüber anderen offen zu bleiben und Ideen zu entwickeln, die sich
von den eigenen unterscheiden. Hierdurch wird die Entstehung neuer Ideen ermöglicht. 41 Ein
zentraler Lernpunkt des Lehrplans von ‚Statecraft X‘ ist es, den Schülern ein tiefes
Verständnis dafür zu vermitteln, dass Regieren eine komplexe Herausforderung ist, auf die es
keine einfachen „richtigen Antworten“ gibt. Ergänzt wird dieser Vorgang durch Aufgaben,
die den Bezug zur echten Lebenswelt reflektierend herstellen sollen. Beispiel ist eine fiktive
Ansprache an die Bürger der Fantasy-Welt, warum man sich am besten als Herrscher eignet,
der am Ende des Projekts ergänzt wird von einem Aufsatz darüber, was es heißt ein guter
Staatsführer für ein Land wie Singapur zu sein.

1.3.3 Performance

Performance beschreibt als Kernstück die zielgerichtete Gesamtheit der Entwicklung der
Identitätsbildung, die ein Lernender im Rahmen dieses Modells durchmacht. Sie ist Play und
Dialog im Prozess nicht chronologisch nachgeordnet, sondern beschreibt die fortlaufende
Wechselwirkung die sich aus den drei Elementen ergibt. Die Grundüberlegungen hierfür leitet
Chee aus den Bereichen der ‚Performance Theory‘ und der ‚Performance Studies‘ her. Eines
der Kernmerkmale hierbei ist, dass der Unterschied von Performance und reinem Handeln
nicht darin besteht, ob eine Theaterbühne vorliegt oder nicht. Wenn über Handeln reflektiert
wird, entsteht die Qualität einer Performance. Ein Handeln bekommt immer die Qualität einer
Performance, wenn es durch ein Publikum als solches wahrgenommen und validiert wird.
Hierdurch kann der Adressat einer Performance aber auch das eigene Selbst sein. Ein in
Verbindung treten mit dem echten Leben, auf der Basis eines bewussten Reflektierens, ist
damit als Performance denkbar. Der menschliche Akteur kann hierdurch Teile seiner Identität
entwickeln, indem er neue Wege schafft, die Welt zu sehen und zu verstehen. 42 Was es für

41
Ebd., S. 56.
42
Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 54.

22
den pädagogischen Umgang mit Spielen bedeutungsvoll macht ist die Tatsache, dass ein
Performer seine Identität und die Welt um sich herum selber erschafft, wodurch er sich und
die diese Welt ergründen kann.

„Thus, performance holds possibilities to imitate a life world, to create a life world, to
transform a life world, and to stake claims about that life world.“ 43

In Verbindung mit der Annahme eines durch Pragmatismus bestimmten Verstandes, kann sich
durch Performance ein Erleben, Erfahren und Handeln im Hier und Jetzt ergeben. 44 Die
Performanceleistung, die die Schüler in ihrer rollenspielartigen Verortung in ‚Statecraft X‘
und im Dialog im Klassenzimmer erbringen, befördert die Entwicklung eines Verständnisses
vom Regieren im Einklang mit ihrer Selbstidentität. 45

Ein solches Lernen soll sich nach Chee nicht den, wie auch immer gedachten, Verstand als
Ziel setzen, sondern die Gesamtheit einer Person. Diese sei bestimmt durch ihr Wissen, Tun,
Sein und ihre Wertevorstellung. Aus der Komplexität der Lebenswelt einer solchen Entität
folgert er, dass Lernen performativ stattfinden muss. Beim Lernen im Rahmen von
‚Performance-Play-Dialog‘ wird folglich das Verhalten einer Person betrachtet, während sie
in einer erlebten Aktivität eingebunden ist und teilnimmt an von Austausch geprägten
Praktiken ihres sozialen und kulturellen Umfelds. 46 Im Folgenden geht es darum, die Brücke
zu schlagen zwischen den bisherigen Überlegungen und konkreten Ansätzen zu einem
musikorientierten ‚Digital-Based Learning‘.

43
Ebd., S. 53.
44
Ebd., S. 54.
45
Ebd., S. 69.
46
Ebd., S. 57.

23
Abbildung 4

Hier versucht Chee, das Zusammenspiel der Elemente von ‚Performance-Play-Dialog‘ zu veranschaulichen. In
der Mitte ist der Lernende verkörpert, der sich durch ‚Play‘ (verortet auf der rechten Seite) und durch ‚Dialog‘,
(verortet auf der linken Seite) in den Prozess der ‚Performance‘ begibt (spiralförmige Entwicklung nach oben,
die an den hermeneutischen Zirkel erinnert). (Chee, Games-to-Teach and Games-Learn‘, S. 69.)

2. ‚Developing Musicianship Through Improvisation‘


‚Developing Musicianship Through Improvisation‘ ist eine Methode nach Christopher
Azzara, die auf die ‚Music Learning Theory‘ von Edward Gordon aufbaut. Sie bildet die
Grundlage für die Konzeption eines musikalischen ‚Digital Game-Based Learnings‘, weil sie
die praktische Ausübung von Musik und deren Wahrnehmung betont. Der Kern liegt hierbei
in Gordons zentralem Konzept ‚Audiation‘. Neben dem tatsächlichen Hören musikalischer
Phänomene geht es ihm hierbei um ein „inneres“ Hören, das nicht den physikalisch
wahrnehmbaren Klängen gilt, sondern das eine Bedeutungsschaffung betreibt, die das
Vorhandensein von Musik erst ermöglicht. Hierdurch wird dem Hörenden ein besonderer
Stellenwert zugemessen, durch die Annahme komplexer Lern- und Reflexionsprozesse, die

24
sich im Rahmen einer tiefen Wahrnehmungsebene abspielen.47 Die Theorie steht im Einklang
damit, dass Musikausübung in sich bereits hochperformativ ausgelegt ist. Insofern ist der
Bezug zu einem ‚Learning-as-Becoming‘, wie es hier angestrebt wird, naheliegend. Azzaras
weitere Ausgestaltung dieser Theorie liefert darüber hinaus ein pädagogisches Grundgerüst,
das mit dem Fokus auf konkrete Materialien und Arbeitsanweisungen gute Bedingungen
schafft, anhand derer sich entsprechende Spielmechaniken konzipieren lassen.

2.1 Improvisation und Repertoire


Improvisation sei, so Azzara, die spontane Expression bedeutungsvoller musikalischer
Ideen.48 Damit sie aber stattfinden kann, liegt das Fundament hierfür in der
Auseinandersetzung mit musikalischem „Repertoire“. Repertoire steht für jedes musikalische
Material, welches den Kern menschlicher musikalischer Erfahrung beschreibt. Im Wege von
Hören, Singen und Spielen von Liedern und anderen musikalischen Formen besteht die
Möglichkeit der Schaffung eines „Vokabulars“ und eines tiefen Verständnisses harmonischer
und rhythmischer Zusammenhänge. Azzara betont dabei, dass das Hören in bedeutungsvoller
Weise geschehen muss und dass die „expressive Interaktion“ mit Anderen, ein wichtiger Teil
für die musikalische Erfahrung ist. Ziel sei es, „so viele Melodien und Basslinien wie möglich
zu internalisieren“ 49, so dass die Grundlage für Improvisation geschaffen wird. Die
Improvisation selber steht dabei nicht am Ende des Lernprozesses, sondern ist wichtiger
Bestandteil der fortlaufenden Auseinandersetzung mit dem Repertoire. Dabei entsteht ein
dynamischer Prozess, in dem sich die Erschließung neuen musikalischen Materials durch
bedeutungsvolles Hören und Spielen vorhandener Musik abwechselt mit dem
improvisatorischem Umgang des Materials, der erst die Veränderung bestehender Motive und
schließlich die Schaffung eigener musikalischer Ideen mit sich bringt. Dadurch betreibt
Improvisation letztlich den Lernprozess als kreative und treibende Kraft, die die Erschließung
musikalischer Phänomene auf Basis persönlicher Bedeutungsschaffung ermöglicht. Durch die

47
Edwin E. Gordon, Learning sequences in music. A contemporary music learning theory, Chicago, Ill. 20072007,
S. 4.
48
Christopher Azzara, Developing musicianship through improvisation, Chicago 2006, S. IV.
49
Ebd.

25
Verbindung der eigenen musikalischen Reflektion und der expressiven Auseinandersetzung
mit Anderen liegt hierin ein Bedeutungsschaffungsprozess, der sich aus der tatsächlichen
Lebenswelt des Lernenden erschließt und dessen Ziel die Entwicklung einer musikalischen
Persönlichkeit ist. Diese Merkmale stehen in Übereinstimmung mit den grundsätzlichen
Überlegungen zum ‚Inquiry‘-Prozess, wodurch Vieles von dieser Vorgehensweise für das
konkrete Spieldesign in Betracht gezogen werden kann. Ein kurzer Überblick über die
wesentlichen Elemente der Methode soll dies deutlich machen.

2.2 Didaktische Elemente


Die Kernelemente von ‚Developing Musicianship Through Improvisation‘ entfalten sich in
den, aus dem Repertoire folgenden, harmonischen Patterns und Progressionen, die die
Fähigkeit zur Improvisation bedingen, wobei die Improvisation selbst Grundlage für das
Ergründen von Musik ist.

Das Singen und Hören von „Repertoire“ beinhaltet gewissermaßen Grundlage und
Wortschatz für jede weitere musikalische Entwicklung. Es bildet den Bezug zu den Klängen,
der Musikverstehen ermöglicht, so wie die Geschichten, die man als Kinder erzählt bekommt,
der Grundstein dafür sind, Lesen zu können und zu wollen. Azzara legt in dieser Hinsicht die
Benutzung bekannter Volkslieder nahe. Deren musikalische Relevanz in der Gesellschaft legt
nahe, dass sich hierzu auch auf persönlicher Ebene und in Gemeinschaft eine von Bedeutung
geprägte Beziehung herstellen lässt. Das deckt sich mit der vorangegangenen Annahme, dass
Bezug zu den tatsächlichen Aktivitäten des Lernenden bestehen sollte. Im konkreten Fall
betrifft das auch die Zugänglichkeit und Eingängigkeit des vorgeschlagenen Liedmaterials.

Abbildung 5

Das Spiritual ‚Joshua‘, ein Beispiel für ‚Repertoire‘. (Azzara, Developing Musicianship Through Improvisation.)

26
Aus dem Repertoire folgen dann die musikalischen Phrasen und Patterns, die sich aus den
Melodien, Rhythmen und harmonischen Zusammenhängen der Stücke ergeben. Das
Kennenlernen möglichst vieler Patterns ist zwar ein Ziel der Methode, sollte jedoch nicht im
Sinne eines Auswendiglernens verstanden werden. Vielmehr geht es um ein Verinnerlichen
dieser kurzen Teilstücke, in dessen Folge man anfängt harmonische und rhythmische
Zusammenhänge und Progressionen zu erkennen. 50 Das geschieht einerseits durch Hören und
andererseits durch musikalische Übungen, bei denen es um das Wiedergeben, die
Weiterführung und die Veränderung des Materials geht.

Abbildung 6 Abbildung 7

Beispiel für harmonische Patterns (Abb. 6) und Rhythmische Progressionen (Abb 7).(Azzara, Developing
Musicianship Through Improvisation.)

Aus diesen Übungen geht schließlich nahtlos die namensgebende Improvisation hervor.
Azzara selbst bezeichnet jedes Improvisieren als das Treffen sinnvoller musikalischer
Entscheidungen. So ist selbst die Entscheidung zwischen zwei verschiedenen Basstönen
Improvisation oder die Veränderung eines bestehenden Rhythmus. Während des Prozesses
wird der Umgang mit dem Tonmaterial immer vielfältiger, wobei die schrittweise Steigerung
des Improvisationsvermögens stets nah am Repertoire erfolgt. Das zielgerichtete Spiel mit
dem musikalischen Material, das Imitieren, Erweitern und Verändern der Patterns im Kleinen
und die Weiterführung mit immer mehr Repertoire soll auf diesem Wege zu einem
Bewusstsein für harmonische Zusammenhänge führen. Das wiederum ermöglicht die
Improvisation im Großen, also das Improvisieren auf das harmonische Grundgerüst des
entsprechenden Repertoires. Im Umkehrschluss sorgt das Improvisieren mit bekanntem

50
Christopher Azzara, Developing musicianship through improvisation, S. IV.

27
Material dafür, dass neuem Repertoire mit einer anderen Erfahrungshaltung begegnet werden
kann. Das Aufschreiben und Lesen der Musik in Notenschrift wird ebenfalls Teil des
Lernprozesses. In konventionellen Lernkontexten wird dies gelernt, bevor selber Musiziert
wird, damit fremde Musik gelesen werden kann. Hier besteht der Ansatz darin, dass das
Aufschreiben und Lesen von Noten aus der Motivation erfolgt, die eigenen Improvisationen
zu notieren um sie später wieder verfügbar zu haben.

Ergänzend ist zu erwähnen, dass dem miteinander Musizieren ein großer Stellenwert für all
diese Erfahrungen beigemessen wird. Aus der fortlaufenden Reflektion über die in aktiver
Weise erfahrene Musik soll so ein musikalisches Fundament hervorgehen, dass sich in
ähnlicher Weise entwickelt, wie dies bei Sprache zum Zwecke der Kommunikation geschieht.

2.3 ‚Inquiry‘ und Improvisation


Bei den vorangegangenen Ausführungen deutet sich an, wie sehr die Azzara Methode mit den
Grundsätzen von ‚Inquiry‘ und ‚Learning-as-Becoming‘ resoniert.

Die gesamte Methode bildet in ihrem Verständnis über das Erlernen von Musikalität einen
Gegenentwurf für den ontologischen Irrtum einer Anschauung von Wissen als eine Entität
und dem Existieren einer objektiven Realität. Dies erschließt sich schon in dem von Gordon
formulierten Verständnis, dass Musik für sich überhaupt nicht existiert, sofern sie nicht durch
den Hörer oder Musizierenden diese Bedeutung erlangt.

„Sound itself is not music. Sound becomes music through audiation when, as with
language, we translate sounds in our mind and give them meaning. The meaning we
give to these sounds will be different depending on the occasion as well as different
from meaning given them by any other person.“51

So realisiert sich in dem zentralen Anliegen von Azzara, es müsse möglichst viel Repertoire
erfahren werden, die Grundlage für Musiklernen im Wege von ‚Inquiry‘. Nur wenn Musik als
bedeutungsvolle Aktivität im Leben des Lernenden stattfindet, kann ein lernender Zugang

51
Gordon, Learning sequences in music, S. 3.

28
dazu gefunden werden. Dabei ergibt sich die Rolle von Musik auch überhaupt erst im
Zusammenhang mit der sozialen Lebenswirklichkeit der Menschen. Sofern die Bedeutungen,
die eine Person den erfahrenen Klängen, in und angesichts seiner sozialen Rolle, gibt, zu der
Musik werden, die „sein Repertoire“ bilden, kann erst eine Relevanz für sein Handeln
entstehen, das ein Lernen ermöglicht. Hierdurch wird die Musik nicht ausschließlich das Ziel
des Lernens, sondern die zentrale Motivation dafür, warum überhaupt Musik überhaupt
betrieben wird.

Die Herausforderungen, die Azzara mit den Patterns und Progressionen anhand des
Repertoires schafft, sind damit, analog zum ‚Inquiry‘-Prozess, Ereignisse, die „den normalen
Fluss von Handlungen im Leben einer Person unterbrechen“. Im Imitieren, Verändern und
Weiterführen dieses musikalischen Materials zieht der Lernende somit gewissermaßen
Lösungen für Probleme in Betracht, über deren Erfolg er anschließend reflektieren kann.
Dabei ist „Problem“ hier zu verstehen als Auseinandersetzungen darüber, in welcher Weise
die Person in der konkreten Situation Musik schaffen kann, die für ihn sinnvolle Bedeutung
erlangt und mit dem Ausgangsmaterial resoniert.

Schließlich realisiert sich in der Azzara Methode, dass der Lernprozess fortwährt und in
neuen Situationen anderes Repertoire, andere Kontexte und andere Lösungen für andere
Probleme gefragt sind, die allesamt auf bereits gefundenen Lösungen aufbauen. Damit wird in
letzter Instanz ‚Learning-as-Becoming‘ angestrebt, indem die Entwicklung einer
musikalischen Persönlichkeit im Mittelpunkt der Methode steht.

Die konzeptuelle Resonanz, die hierbei zu den Ausführungen von Chee entsteht, macht
‚Developing Musicianship Through Improvisation‘ als Methode, besonders interessant dafür,
sie im Rahmen von ‚Performance-Play-Dialog‘ für ein Lernspiel zu implementieren.

3. Musik als Spielmechanik in Computerspielen


Im Rahmen der Recherche für diese Arbeit wurden in ‚Serious Games‘ kaum Ansätze
gefunden, die musikalische Entscheidungen performativ in das Spielerleben einbeziehen.
Dieser Umstand könnte an der Schwierigkeit liegen, musikalische Erfahrung sinnvoll in
Spielmechaniken zu übersetzen. Anhand zweier Spiele, einem ‚Serious Game‘ und einem
Unterhaltungsprodukt, sollen die Probleme mit dem Umgang musikalischer Spielelemente
anschaulich werden.

29
Bei Spielmechaniken handelt es sich um die Regeln, die die Spielelemente und deren
Beziehungen zueinander festlegen.52 Das, was Musik ausmacht, in ein Programm zu
übersetzen und in einen motivierenden Spielverlauf einzubinden, ist aus verschiedenen
Gründen eine Herausforderung. Ein Computerspiel, das den Spieler erfolgreich in seine Welt
einbinden soll, muss ihm Ziele setzen, die einerseits motivierend und erfolgsversprechend
sind und andererseits so anspruchsvoll, dass er nicht gelangweilt wird.53 Wenn der Spieler
dann eine Handlung im Spiel vollzieht, muss vom Spiel die Rückmeldung darüber erfolgen,
wie sein Tun sich auf die Spielumgebung und das Spielziel auswirkt. Bei Spielen mit
entsprechender musikalischer Mechanik, muss das Spiel also gewissermaßen Kriterien dafür
anlegen, was eine gute musikalische Entscheidung ist. Es lassen sich aber selbst in der
Realität kaum verlässliche Aussagen darüber treffen, wann eine „guter Rhythmus“, eine „gute
Melodie“ vorliegt oder wann jemand „gute Musik“ gemacht hat. Angesichts dessen scheint es
plausibel, dass Gordon in seiner ‚Music Learning Theory‘ davon ausgeht, dass Musik erst
54
durch Bedeutungsschaffungsprozesse im „inneren Ohr“ des Rezipienten entsteht.
Strenggenommen müsste die Software diesen Bedeutungsschaffungsprozess für Menschen
nachvollziehbar imitieren und außerdem eine authentische musikalische Interaktion mit dem
Spieler schaffen.

3.1 Rhythmusspiele
Musik als entscheidungsträchtige Spielmechanik kommt tatsächlich nur in möglichst simpler
und verlässlich zu übersetzender Form vor. Bei der großen Mehrheit der musikbasierten
Spiele handelt es sich also nicht zufällig um Rhythmusspiele. Eine im Rahmen einer
Spielmechanik bewährte und leicht zu kontrollierende Variable ist das Drücken eines Knopfes
synchron zu einem vorgegebenen Rhythmus. Im Fall von 'Guitar Hero“ (2005) ist der Spieler
Gitarrist einer Rockband und spielt die Gitarrenstimme eines Songs, während die
Visualisierung einer durch das Bild laufenden Gitarrentabulatur auf dem Bildschirm zu sehen

52
Gunther Rehfeld, Game Design und Produktion. Grundlagen, Anwendungen und Beispiele, München 22020
(Medien), S. 70.
53
Fullerton, Game design workshop a playcentric approach to creating innovative games, S. 99.
54
Gordon, Learning sequences in music, S. 3.

30
ist. Er muss durch das Drücken der entsprechenden Tasten, auf einem gitarrenähnlichen
Controller, zum richtigen Zeitpunkt die passende Saite anschlagen, die auf der Tabulatur
repräsentiert wird. Bei zu großer zeitlicher Abweichung oder Drücken der falschen Taste ist
ein dissonanter Ton zu hören, der dem Spieler die Rückmeldung dafür gibt, dass er etwas
falsch gemacht hat. Bei korrekter Spielweise läuft die Musik ungestört weiter und
audiovisuelles Feedback belohnt besondere Erfolge des Spielers.

Das erfolgreiche Bewältigen dieser Rhythmuspassagen kann, besonders in den höheren


Schwierigkeitsgraden, sehr anspruchsvoll sein und vieler Stunden Übung bedürfen.

Abbildung 8

‚Guitar Hero 3 – Legends of Rock‘ (Quelle: www.macgamesland.com)

Dabei gibt es jedoch keine Hinweise auf ein musikalisches Lernen. Einer Untersuchung
zufolge gibt es keine Hinweise auf eine Verbesserung rhythmischer Fähigkeiten von Spielern,
die ein Rhythmustraining anhand 27 unterschiedlicher Spiele durchlaufen haben. Die für den
Spielerfolg wesentlichen Fähigkeiten scheinen das Auswendiglernen der zu drückenden
Knöpfe und Reflexe im Sinne von konventionellen Geschicklichkeitsspielen zu sein. 55 Grund
hierfür ist unter anderem die Bedeutung visueller Stimuli für den Spieler. Ohne Musik wären
diese Rhythmusspiele selbstverständlich nicht denkbar und der Spieler hat durch die

55
vgl. Valentin Bégel u. a., »Music Games: Potential Application and Considerations for Rhythmic Training«,
in: Front Hum Neurosci 11 (2017), https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/28611610.

31
geschaffene Atmosphäre eine durchweg musikalische Erfahrung. Es ist aber davon
auszugehen, dass die Handlungen in diesen Spielen nicht primär musikalischer Natur sind und
dass musikalische Reflektion beim Spieler nicht oder nur in Ansätzen stattfindet.

3.2 ‚Tune Train‘ - Ansätze musikalischen Lernens


Ansatzweise verfolgt das für Kinder konzipierte Spiel „Tune Train“ den Ansatz einer
musikalischen Ergründung innerhalb der Spielumgebung.

Die Spielmetapher besteht darin, dass der Spieler eine Route für einen Zug bestimmt, der mit
gleichbleibender Geschwindigkeit durch eine Landschaft fährt und Menschen aus ihren
Häusern abholt. Diese wohnen in unterschiedlichen Stockwerken und deren vertikale Lage
entspricht dabei einer festen Tonhöhe, wobei der Abstand zwischen den Häusern der Länge
der Notenwerte entspricht. Damit bestimmt der Spieler durch die Route, die er mit dem Zug
durch die Landschaft nimmt gleichzeitig über die Melodie, die sich daraus ergibt. Bei Bedarf
kann diese in Notenschrift am oberen Bildschirmrand eingeblendet werden.

Abbildung 9

‚Tune Train‘ (Quelle: apps.apple.com)

Tatsächlich wird hierbei Musik anhand der Spielmechanik erfahrbar gemacht, die allerdings
für nachhaltiges Lernen ungenügend ausgestaltet ist. Im Spiel gibt es keine Aufgabe, die dem
Spieler eine bedeutungsvolle Entscheidung mit Konsequenzen abverlangen würde. Es gibt aus
spielerischer Sicht keinen Grund für den Spieler, warum er sich für eine bestimmte Route

32
entscheiden sollte oder warum nicht. Damit fehlt aber gerade die Grundlage dafür, die eigenen
musikalischen Entscheidungen zu reflektieren. Zwar sorgt das für absolute kreative Freiheit
im Rahmen der Vorgaben des Spiels, andererseits kann sich der Spieler durch das Spiel selbst
nicht in Beziehung zu seinen Entscheidungen setzen. Die Grundlage, die dieses Spiel bietet ist
damit nur ein einzelnes Element für musikalisches Lernen. Ein kompetenter Lehrer könnte
sicherlich entsprechende Ergänzungen vornehmen und eine Auseinandersetzung darüber in
Gang setzen, ob es für schöne Melodien besser ist, den Zug große oder kleine Sprünge
(Intervalle) machen zu lassen. Auch könnte er Bewusstsein dafür schaffen, wie sich die
Harmonie während der Zugstrecke ändert und damit auch der Klangcharakter (das Spiel sorgt
für eine Anordnung der Häuser, die eine musikalisch sinnvolle Akkordfolge bewirkt, ohne
dass der Spieler darüber informiert wird). Die Chance, ein Spiel zu schaffen, das bereits für
sich musikalische ‚Inquiry‘ und Performance anhand von Rollenspiel ermöglicht ist hierin
noch nicht zu sehen.

Die Schwierigkeit, musikalisches Reflektieren in Regelmechaniken unterzubringen, bedarf


also weiterer Spielelemente. Daher geht es nun darum, skizzenhaft einen Entwurf zu schaffen,
der als Vorschlag für weiterführendes Spieldesign dienen kann.

4. ‚Der Barde‘ – Musiklernen durch ‚Performance-Play-Dialog‘


Im Folgenden geht es darum, zu beschreiben, wie ein musikalisches ‚Serious Game‘ im Sinne
von ‚Digital Game-Based Learning‘ konzipiert werden könnte, das sich an ‚Developing
Musicianship Through Improvisation‘ ausrichtet.

4.1 Vorüberlegungen
Als Vorüberlegung sind die Ziele und die Elemente zu benennen, die das Spiel beinhalten
soll. Diese bieten die Grundlage für den letztendlichen Gesamtprozess im ‚Perfomance-Play-
Dialog‘.

4.1.1 Musikalischer ‚Performance-Play-Dialog‘

Allgemein gesprochen ist im ‚Performance-Play-Dialog‘ der Rahmen für musikalisches


Lernen zu schaffen, indem das Spiel einen Raum für bedeutungsvolle Aktivität anhand von
„Repertoire“ bietet. Der Dialogprozess soll Gelegenheit bieten, sich über die im Spiel
getroffenen musikalischen Entscheidungen auszutauschen und eine Reflektion im Sinne der

33
Azzara Methode zu ermöglichen. Als Ziel dieser Performanceleistung gilt es, kreatives
improvisatorisches Schaffen der Lernenden zu befördern, welches den Mittelpunkt ihrer
musikalischen Identitätsbildung ausmachen soll. Ziel für das Spiel selbst ist es also, eine
Spielumgebung zu schaffen, in der der Spieler in enger Auseinandersetzung mit
bedeutungsvollem Repertoire improvisatorische Leistungen erbringt. Diese sollen sich
bestenfalls an Patterns und Progressionen im Sinne der Azzara Methode ausrichten und
Problemlösungen des Spielers erfordern. Im Verlauf sollte durch sukzessiv hinzukommendes
Repertoire dieser Prozess weitergeführt und durch neue Anforderungen eine immer größere
Vielfalt musikalischer Entscheidungen durch den Spieler ermöglicht werden.

4.1.2 Repertoire und Hörerleben

Analog zu ‚Developing Musicianship Through Improvisation‘ bildet das musikalische


Repertoire im Spiel die Grundlage dafür, dass der Spieler sich mit musikalischem Erleben
auseinandersetzen möchte und kann. Im Hinblick der erwähnten Rhythmusspiele, besteht die
Herausforderung darin, das Hören und das musikalische Wirken nicht zur Nebenerscheinung
werden zu lassen. Die Musik selber muss der Mittelpunkt des Spiels werden und keine daran
angelehnten Spielmechaniken. Neben einem besonderen Augenmerk auf hochwertige
Komposition und Produktion ist es deshalb wichtig, dass das Hören zu einem zentralen
Erlebnis der Spielerfahrung wird. Da sich Musik durch ihre emotionale Wirkung dazu eignet,
eine ansprechende Atmosphäre und Geschichte zu transportieren, bietet es sich an, dass ihre
Ästhetik den Schwerpunkt bildet, an der sich das Spieldesign orientiert. Der emotionale
Bezug, den der Spieler zur Musik bekommt ist schließlich dafür entscheidend, wie er selber
musikalisch tätig werden kann. Sie soll außerdem in engem Zusammenhang mit der
Spielmechanik stehen. Das Spielerlebnis muss die audiative Wahrnehmung des Spielers
herausfordern und gegenüber visuellem Feedback als zentrale Spielmechanik hervorheben.

4.1.3 Patterns und Progressionen

Patterns und Progressionen bieten die Vorlage dazu, „Materialien“ für Spielmechaniken zu
entwickeln, die den Spieler zur musikalischen Auseinandersetzung mit dem Repertoire
herausfordern. Sie sollten sich daher aus dem Repertoire des Spiels ergeben und die Arbeit
mit diesem ermöglichen. Dabei bieten sich die Arten der musikalischen Auseinandersetzung
an, die auch im echten Leben gegeben sind: Imitieren, Verändern und Fortführen der
wahrgenommenen Musik. Dabei geht es auf Seiten der Spiellogik darum, einen sinnvollen

34
metaphorischen Grund zu schaffen, warum der Spieler dies tun sollte. Auf Seiten des Hörens
sollte sich bestenfalls auch immer eine Motivation aus dem Hören selbst ergeben. Dabei bietet
es sich an, mit der Erwartungshaltung zu spielen, die der Spieler hat, wenn er ein Pattern in
einer bestimmten Spielsituation wählt. Das ist zum einen möglich durch das Feedback, das
dem Spieler bezüglich seiner Handlungen gegeben wird, also ob die Entscheidung des
Spielers Erfolg hat oder nicht. Es ist aber andererseits wichtig, dass der Spieler in die Lage
versetzt wird, unabhängig von der Spielmetapher auf der Ebene des Hörens über seine
Handlungen und die Ästhetik der Musik zu reflektieren.

4.1.4 Kreativität und ‚Inquiry‘

Die Möglichkeit zur freien, kreativen Gestaltung drückt sich bereits darin aus, wie das Spiel
mit den Entscheidungsmöglichkeiten bezüglich der Patterns und Progressionen umgeht.
Hierbei geht es darum, dass kein eindeutiges „Richtig“ und „Falsch“ anhand der Handlungen
des Spielers abgeleitet wird. Wenn improvisierte Töne in einem simplen Arrangement eines
einfachen Liedes auf einmal komplizierte harmonische Strukturen bilden, sind diese insoweit
nicht vom Spiel zu belohnen, wenn der Spieler nicht weiß, was er tut. Dieselben
Entscheidungen, die zu einem früheren Zeitpunkt im Spiel keinen Erfolg haben, können also
durchaus später im Spiel sinnvoll sein. Beispielsweise wenn das Spiel neues Repertoire
einführt, welches komplexere Harmonien mit sich bringt. Dies macht den ‚Inquiry‘-Prozess
auch gerade aus, der das eben beschriebene Phänomen dahingehend durch das nicht endende
Reflektieren über Lösungen von Problemen beschreibt. Die Entscheidungen des Spielers
sollten daher immer situationsabhängige Auswirkungen haben, wobei vom Spiel nicht zu
verlangen ist, immer verständlich zu machen warum eine Improvisation spielerisch gerade
funktioniert oder nicht. Die Reflektion, die der Spieler bezüglich der musikalischen
Sinnhaftigkeit seiner Entscheidungen betreibt, ist daher wahrscheinlich nicht immer im
Einklang damit, was das Spiel belohnt und was nicht. Allerdings ist gerade hierfür der
befördernde Dialog da, anhand dessen Unverständnis und persönliche Eindrücke verarbeitet
werden können. Es ist in jedem Fall zu erstreben, dass verschiedene Wege zum Spiel-Ziel
führen können und der Spieler Raum für Kreativität und Scheitern hat.

4.2 Spieldesign ‚Der Barde’


Im Konzept-Lernspiel ‚Der Barde’ übernimmt der Spieler die Rolle des namensgebenden
Barden, der als Mitglied einer Abenteurergruppe in einen Dungeon (Kerker) steigt, aus dessen

35
Tiefen ein wertvoller Schatz zu holen ist. Dabei bestimmt die Musik des Barden den Verlauf
der Kämpfe gegen die Monster, denen sich die Gruppe stellen muss. Das Spiel soll sich an
Erwachsene und Jugendliche ab etwa 15 Jahren richten.

Der Designprozess eines Computerspiels ist äußerst umfangreich und umfasst in der Regel
mehrere Jahre, wobei laufend Anpassungen und Änderungen in spielerischer und technischer
Weise erfolgen. Die Ausführungen über das Design sind im Detail daher nur als Darlegung
von Ansätzen zu erachten, die für den Rahmen eines solchen Spiels sinnvoll sein können.

4.2.1 Das Vorbild – ‚Darkest Dungeon‘

Es ist im konkreten Fall sinnvoll, das Spieldesign an die Mechaniken eines vorhandenen
Computerspiels anzulehnen, dessen Struktur für die Umsetzung der gewünschten Abläufe
geeignet ist. Die Konzeption von ‚Der Barde’ orientiert sich an ‚Darkest Dungeon‘, ein
Rollenspiel mit rundenbasierten Kämpfen aus dem Jahr 2016. 56 Rollenspieltypisch ist dessen
Handlung in einer mittelalterähnlichen Fantasywelt verortet, in der der Spieler die Kontrolle
über einen oder mehrere Charaktere übernimmt. Deren Fähigkeiten entwickeln sich im Laufe
des Spiels durch das Sammeln von Erfahrung und durch das Finden von
Ausrüstungsgegenständen weiter. Der Spieler steuert eine vierköpfige Abenteurergruppe
durch verschiedene labyrinthartige Umgebungen, sogenannte Dungeons, in denen Schätze
gefunden und Kämpfe bestritten werden müssen. Das Konzept rundenbasierter Kämpfe
entspricht der Vorgehensweise von Brettspielen, wie beispielsweise ‚Die Siedler von Catan‘.
Wenn ein Kampf stattfindet trifft der Spieler zunächst für jeden Charakter eine Entscheidung,
wie er zu handeln hat. Dann stellt das Spiel dar, wie sich diese Entscheidungen auswirken.
Als nächstes trifft ein Algorithmus die Entscheidungen für die Gegnergruppe, wodurch deren
Auswirkungen dargestellt werden. Das wird so oft wiederholt, bis der Kampf gewonnen oder
verloren ist. Die Kämpfe als zentrales Spielelement ermöglichen eine Vielzahl taktischer
Entscheidungen. Neben der obligatorischen Lebensenergie der Charaktere führt das Spiel
auch Buch über zahlreiche Mechaniken, die im Hintergrund stattfinden. Im Fall von ‚Darkest
Dungeon‘ ein „Stress System“ und andere Auswirkungen auf den kurz- und langfristigen

56
Wikipedia, »Darkest Dungeon«,
https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Darkest_Dungeon&oldid=211527164, abgerufen am 02.09.2021.

36
Zustand der Charaktere. Nach einer fehlgeschlagenen oder auch erfolgreichen
Dungeonerkundung (sog. Dungeon Run) ruht die Gruppe sich in einem Dorf aus, das als
Rückzugsort dient. Dort können neue Abenteurer rekrutiert und Verbesserungen erworben
werden. Im nächsten Dungeon Run probiert der Spieler erneut den zuvor fehlgeschlagenen
Dungeon zu bestehen oder es geht direkt in den nächsten. Nach Absolvierung aller Aufgaben,
die der Hintergrundgeschichte entsprechend konzipiert sind, ist das Spiel gewonnen.

Das bewährte und motivierende Spielprinzip, in Dungeons auf Entdeckungstour zu gehen und
dabei die Spielcharaktere weiterzuentwickeln und Gegenstände zu finden, ist einer der
Gründe für die Wahl dieses Vorbilds. Allerdings soll vor allem das Kampfsystem mit seinen
vielfältigen Kombinationsmöglichkeiten und der übersichtlichen Darstellungsform per
Seitenansicht (siehe Abb. 10) die Umsetzung von ‚Developing Musicianship Through
Improvisation‘ ermöglichen. Zudem sollen Geschicklichkeitsübungen, im Stile von
Rhythmusspielen, vermieden werden, wofür das rundenbasierte Kampfsystem die Grundlage
bietet. Der Spieler soll musikalisch improvisatorisch tätig werden, durch überlegtes Treffen
von Entscheidungen ohne Zeitdruck.

Abbildung 10

Eine Szene aus ‚Darkest Dungeon‘. Die Perspektive auf das Geschehen kann auch in ‚Der Barde‘ sinnvoll
genutzt werden. (Quelle: eneba.com)

37
4.2.2 Die Prämisse von ‚Der Barde‘

Performance und ‚Learning-as-Becoming‘ erfordern es, dass auch die Werte und
Überzeugungen des Lernenden berücksichtigt werden müssen. Damit sind auch
dramaturgische Elemente relevant, die die formalen Elemente des Spiels in einen emotional
fesselnden Kontext setzen.57 Auf die ausführliche Ausgestaltung einer Hintergrundgeschichte
wird aber verzichtet, um den Fokus auf eine Spielmechanik zu legen, die geeignet ist um
‚Developing Musicianship Through Improvisation’ umzusetzen.

Der Barde oder die Bardin, deren Rolle der Spieler spielen soll, ist eine typische Fantasy-
Charakterklasse in Rollenspielen. In vielen solchen Spielen handelt es sich bei Klängen nicht
nur um Vibrationen, sondern sie entfalten eine eigene, magieähnliche Kraft. Die Pointe des
Spiels ‚Der Barde’ ist es, dass die restliche Abenteurergruppe aus Kämpfern, Bogenschützen
usw., leider ein inkompetenter Haufen ist, der alleine nicht viel ausrichten kann. Der Spieler
übernimmt daher mit seinen musikalischen Entscheidungen die Verantwortung über den
Verlauf der Kämpfe und über das Schicksal der Gruppe.

4.2.3 Spielablauf und die Rolle von Musik

Für den Spielablauf bietet sich an, dass der Weg durch die zahlreichen Etagen eines unter der
Erde liegenden Dungeons, analog steht zu mehreren Musikstücken Repertoire, mit denen
improvisatorisch gearbeitet wird. Die Aufgaben und Kämpfe, die den Spieler in einer Etage
erwarten, entsprechen damit der Gesamtheit aller musikalischen Übungen, die für ein Stück
Repertoire angebracht sind. Übertragen auf die fertige Spielmetapher können beide Elemente
so zusammengefügt werden, dass die unterschiedlichen Dungeonlevel jeweils von einem
eigenen charakteristischen Musikstück untermalt werden. Dieses bestimmt somit auch,
welche Rhythmen und Harmonien in dem jeweiligen Level im Fokus des Lernens stehen.
Jedes Dungeonlevel sollte umfangreich sein und mehrerer Anläufe bedürfen, damit das
Repertoire umfassend anhand von ‚Developing Musicianship Through Improvisation’
behandelt werden kann. In Folge kann ein ‚Bossgegner‘ am Ende von jedem Level dem
musikalischen und spielerischen Höhepunkt entsprechen. Um den Kampf mit diesem zu

57
Fullerton, Game design workshop a playcentric approach to creating innovative games, S. 46.

38
bestehen, kann dann beispielsweise die freie Improvisation auf dem harmonischen Gerüst des
Repertoires abverlangt werden.

Moderne Computerspiele erlauben den dynamischen Einsatz von Musik, wodurch sich die
Musik, je nach Spielsituation, nahtlos verändern kann, etwa um dramatische Ereignisse zu
untermalen. Damit kann im Spiel auch situationsbedingt mit unterschiedlichen musikalischen
Aspekten des Repertoires gearbeitet werden. Die Notwendigkeit, bedeutungsvolle
musikalische Entscheidungen zu treffen, welche dem oben erwähnten ‚Tune Train’ fehlen,
soll hierbei durch die Orientierung des Spiels an ein zugrundeliegendes Repertoire erreicht
werden. Neben der atmosphärischen Stimmung, bildet dieses die Grundlage für den Maßstab,
wie das Spiel die Entscheidungen des Spielers in Form der erschaffenen Musik bewertet und
auf den Spielverlauf überträgt. Durch entsprechende Algorithmen, die die Komposition als
Anhaltspunkt einbeziehen, ist es denkbar zu bestimmen, inwieweit kreative Melodien des
Spielers die musikalischen Ideen des Repertoires mit einbeziehen. Theoretische Annahmen
über sinnvolle Melodie- und Harmonieführung müssen ergänzend in die Programmroutinen
eingearbeitet werden, um diesen Entscheidungsmaßstab zu erweitern. Damit können Kriterien
dafür entstehen, wie der Spieler angesichts allgemein vertretener musikalischer Prinzipien und
anhand des Repertoires Klänge erschafft.

4.2.4 Die Kampf- und Improvisationsmechanik

‚Developing Musiscianship Through Improvisation‘ erfordert, dass der Lernende mit


musikalischem Material arbeitet, es verändert und eigene Ideen entwickelt. Entstehen soll
dieses, indem der Spieler den Barden musikalisch sinnvolle Entscheidungen im Kampf treffen
lässt.

Das Kampfsystem des Spiels soll vage angelehnt werden an das Kreieren von Melodien, wie
im Spiel ‚Tune Train’ (vgl. 3.2). Wenn ein Kampf mit einer Monstergruppe stattfindet, wird
dem Spieler eine Partitur eingeblendet. Auf dieser entfaltet sich eine kurze musikalische
Sequenz, die sich charakterisiert durch das Repertoire des Dungeonlevels im Allgemeinen
und durch die Zusammensetzung der Monstergruppe im Speziellen. Wenn der Spieler angreift
oder sich verteidigt, ist er gefordert, als Barde entsprechende musikalische Entscheidungen zu
treffen, bzw. improvisatorisch tätig zu werden. Der Angriff bzw. die Verteidigung verläuft
erfolgreich, je nachdem, wie sehr die gespielten Klänge die Anforderungen an eine
Musikalität erfüllen, deren Parameter durch eine System von Spielmechaniken bestimmt

39
werden. Die Monstergruppen, denen der Spieler begegnet, repräsentieren unter diesem
Kontext die Übungen, die in ‚Developing Musicianship Through Improvisation’ das Arbeiten
mit dem Repertoire ermöglichen. Diese können den kleinen, am Repertoire ausgerichteten
Motiven und harmonischen Abfolgen entsprechen, die die konkrete Szene setzen für die
Melodien, die der Spieler entwirft. So könnte ein Typ von Monster dem Akkord der Tonika
entsprechen. Je nachdem wie der gespielte Ton des Spielers sich zu diesem Akkord verhält,
wird der Effekt im Spiel ein anderer sein.

Bei alledem sollte es möglichst vermieden werden im Spiel aus der echten Welt stammende
musikalische Begriffe oder Symbole zu verwenden. Musikrepräsentationen sollten nur in
einer für die Spielwelt glaubwürden Weise dargestellt werden, um die Immersion in der
Spielwelt nicht zu brechen. So könnte die Partitur zum Beispiel durch ein Lautengriffbrett
visualisiert werden. Die Glaubwürdigkeit der Spielwelt ist für die Performance im Sinne der
Identitätsbildung wichtig. Die Übertragung auf die gängige musikalische Sprache und
Konvention kann dafür später im Dialog erfolgen.

4.2.5 Beispiel

Im Folgenden soll ein solches Zusammenspiel von Spielmechaniken anhand eines konkreten
Kampfverlaufes erörtert werden:

Es wird angenommen, dass der Spieler sich früh im Spiel befindet und ein einfaches Lied mit
zwei Akkorden das Repertoire des Levels bietet, wodurch nur begrenzte Möglichkeiten zu
Kampf bzw. Musik zur Verfügung stehen. Er befindet sich in einem Dungeon-Run, das heißt
er bewegt den Barden und die Gruppe durch den Level. Eine Gegnergruppe überrascht die
Abenteurer. Sie besteht aus vier Monstern. Zum Zwecke der Beschreibung werden die ersten
beiden in der Reihe als C-Dur Tonika-Monster (T) und die hinteren beiden als G-Dur
Dominant-Monster (D) bezeichnet. Es ist davon auszugehen, dass zu diesem Zeitpunkt im
Spiel nur lange Basstöne gespielt werden können. Wir befinden uns in der C-Dur Skala. Der
Spieler hat nur drei Töne zur Verfügung: C, G und D. Das C sorgt aufgrund seiner
harmonischen Beziehung als Grundton zur Tonika dafür, dass das (T)-Monster Schaden
erleidet. Dasselbe ergibt sich für das G zu dem (D)-Monster. Zusätzlich ist es durch Spielen
des D beim (D)-Monster auch möglich, es zu „stunnen“ (betäuben). Das ist auch hilfreich, da
diese sonst die gesamte Monstergruppe heilen, wenn sie wieder an der Reihe sind. Damit wird
das Spiel in die Lage versetzt, alternative Entscheidungen zu belohnen, die auch in

40
musikalischer Hinsicht Sinn machen können. Hingegen ist das Spielen des Tones D beim (T)-
Monster zu diesem Zeitpunkt nicht sinnvoll, da es als große Sekunde oder wahlweise None in
komplexerer Beziehung zum Tonika Akkord steht, als die simple Musik das suggerieren
würde. Die Entscheidung würde für gewöhnlich auch nicht „richtig” klingen.

Was bereits so oft anhand von ‚Inquiry‘ erwähnt wurde, findet hier praktische Bedeutung: Es
gibt keine objektiven Wahrheiten, sondern nur Bedeutungszumessungen anhand konkreter
Situationen. Es können im Verlauf des Spiels durchaus Situationen entstehen, in denen für
den die große Sekunde bei einem C-Dur Akkord passend klingen wird. Wenn die
Spielmechanik es hergibt, dass in späteren Levels komplexere Musik mit Jazzanleihen zum
Repertoire wird, macht es Sinn, dass durch solch einen Umstand besondere Resultate
hervorgerufen werden. Es ist aber auch denkbar, dass die Spieler das unterschiedlich
empfinden würden. Die Frage ist dabei, ob der jeweilige Spieler weiß, was er tut und mithin
wie er darüber reflektiert. Als Maßgabe darüber, wie musikalisch orientiert diese
Entscheidung ist, bekommt das Spiel vorwiegend das in der Situation konkrete Repertoire als
Anhaltspunkt, allerdings wird es schwierig sein, Mechaniken zu konzipieren, die hierüber in
überzeugender Weise urteilen. Hierin drückt sich die große Herausforderung aus, ein Spiel zu
erschaffen, in dem die Musik für den Spieler den Mittelpunkt der Erfahrung und seiner
Entscheidungen bildet. Ansonsten läuft das Spiel Gefahr, dass die Musik zur
Nebenerscheinung wird und das eigentliche Spielziel leichter durch rationalisiertes ausloten
der zugrundeliegenden Mechaniken zu meistern ist.

Abbildung 11

Ein C-Dur und ein G-Dur Akkord in Notenschrift. Akkorde bestehen


aus mehreren gleichzeitig erklingenden Tönen. Werden Töne zu
einem klingenden Akkord gespielt, die darin bereits enthalten sind,
werden sie generell als klanglich passend empfunden. Werden Töne
gespielt, die nicht im Akkord enthalten sind, gehen daraus für
gewöhnlich komplexere Harmonien hervor.

4.2.6 Ergänzende Spielmechaniken

Diese Erwägungen sollen bereits die Basis dafür bieten, worauf das Spiel aufbauen könnte.
Sowohl aus Sicht des Spielers, als auch im Hinblick auf die Entwicklung des Spiels sollte die
Fülle aller Mechaniken sich erst im Laufe des Spiels entfalten. Damit gilt es eine

41
Überforderung zu vermeiden und gleichzeitig das Lernen der Musikalität sinnvoll zu
strukturieren. Der Spieler sollte zu Anfang des Spiels nur begrenzte Möglichkeiten haben, wie
er musikschaffend tätig werden kann, um den Einstieg so unkompliziert wie möglich zu
gestalten. Das entspricht auch dem Vorgehen in ‚Developing Musicianship Through
Improvisation‘, wo es zunächst darum geht, passende Grundtöne als Bassbegleitung zu der
Melodie eines Stückes zu finden. Dann wird gelernt, sich für andere Basstöne entscheiden zu
können und erst viel später werden komplexere Harmonien und Melodien erschaffen.

Spiele bieten in diesem Sinne vielfältige Ansätze, um neue musikalische Möglichkeiten erst
schrittweise einführen. Um den Spieler nicht mit Entscheidungsmöglichkeiten zu
überfrachten, können diese nach und nach mit der Entwicklung des Bardencharakters und
dem Finden besserer Ausrüstung einhergehen. Um hingegen die Fülle der kreativen
Möglichkeiten nicht zu Orientierungslosigkeit führen zu lassen, bietet es sich an, die
Ressourcen des Spielers zu beschränken. 58 Ressourcen sind ein wesentlicher Bestandteil jedes
Spiels. So sind in einem Spiel Skat die Karten, bei Schach die Figuren die wesentliche
Ressource. Die Laute des Barden könnte etwa am Anfang nur wenige Saiten haben und erst
im Laufe der Zeit voll bespielbar sein. Es können auch besondere Töne oder bestimmte
Notenwerte, wie Achteln zur wertvollen Ressource gemacht werden, die gesammelt und
verwaltet werden müssen. Das kann neben besserer Übersicht und einer flacheren Lernkurve
auch dafür sorgen, dass die Kämpfe nicht zu leicht werden, indem der Spieler jederzeit die
aufwendigsten Melodien spielt. Wenn er sinnvoll planen muss, wann ein besonders schwerer
Gegner außergewöhnliche Harmonien erfordert, wird nicht nur der Spielverlauf interessanter.
Er wird den damit verbundenen Klängen außerdem eine besondere Bedeutung zumessen
können, da sie in diesen Momenten herausstechen.

Sofern dieses Fundament besteht, lässt sich das Spielprinzip in Sachen Komplexität vielfach
steigern. Diesbezüglich sind vielfältige Mechaniken denkbar, deren Wechselwirkung
sinnvolle musikalische Entscheidungen interessant und nachhaltig spielentscheidend machen
können. Erwähnenswert sind etwa Boni für komponierte Musikpassagen, die sich am
Repertoire orientieren oder für musikalischen Abwechslungsreichtum sorgen. Das kann sich

58
Fullerton, Game design workshop a playcentric approach to creating innovative games, S. 35.

42
niederschlagen in höherem angerichtetem Schaden in den Kämpfen, oder auch neuen
(nützlichen) Gefährten, die sich der Gruppe anschließen, weil die Musik des Barden
besonders ansprechend ist.

4.2.7 Dialog

Im Dialog gilt es, die im Spiel gemachten Erfahrungen miteinander in Beziehungen zu setzen
und den Reflektionsprozess über die Entscheidungen im Spiel in einer Gruppe weiter zu
bestärken. Es ist davon auszugehen, dass es Konfusion oder auch Unverständnis darüber
geben wird, warum das Programm welche Handlungen begünstigt oder bestraft. Der Umgang
hiermit ist besonders wichtig, da sich hierbei die Frage anschließt, warum Musik überhaupt
als gut oder schön empfunden wird. Die Diskussion darüber, was die Entscheidungskriterien
des Programms sind, inwieweit es diese gut erfasst, ob sie funktionieren und auch
nachvollziehbar sind, bietet einen Weg, über Musik sprechen zu können. Es bietet sich dafür
konkret an, über die Wahrnehmung des Repertoires zu sprechen und über besonders
erfolgreiche Kämpfe und Melodien, die das Spiel in einer Art ‚Best Of‘ Liste aufzeichnen
könnte.

Darüber hinaus sollte der Übergang geschaffen werden, in Auseinandersetzung mit echten
Instrumenten und Liedern zu gehen. Hierbei können Situationen aus dem Spiel
nachempfunden werden, durch eigenes und gemeinsames Spielen oder Hören von Musik,
wobei sich natürlich auch die Einbringung eigenen Repertoires anbietet, zu dem die
Lernenden persönlichen Bezug haben. Durch die Anwendung der gemachten Erfahrungen
anhand von Körper, Stimme und Instrumenten, bekommen die Lernenden Rückmeldung
darüber, was Improvisieren und Musizieren in der echten Welt bedeutet und können dies in
Relation zu den Reflektionen über ihre Spielerlebnisse setzen. Diese Reflektion kann dann im
Wechsel zwischen Performance im Spiel und Performance in der Realität wiederholt werden.

Der ‚Performance-Play-Dialog‘ schließt somit einen Kreis dahingehend, dass die


Auseinandersetzung und die Reflektion über Musik letzten Endes in der Gruppe und im
echten Leben tragende Bedeutung bekommt. Damit liegt die musikalische Erfahrung wieder
da verortet, wo man sie intuitiv als bedeutungsvoll wahrnimmt, und zwar im sozialen Leben.

43
5. Ausblick
Das Lernen musikalischer Fähigkeiten durch Computerspiele steht im wahrsten Sinne des
Wortes in den Kinderschuhen, da noch nicht einmal in Ansätzen erwiesen ist, ob dieses
überhaupt erfolgreich sein kann. Die Hürden sind zahlreich, um hierin weiterführende
Erkenntnisse zu schaffen. Spiele für sich sind zeitlich und finanziell sehr aufwendig und in
erster Linie als Unterhaltungsprodukte besonders erfolgreich. Insbesondere Spiele mit
komplexen Systemen, wie es das Vorhaben um ‚Der Barde‘ erfordern würde, bedürfen einer
lange Entwicklungszeit und besonderer Expertise sowohl in pädagogischer Hinsicht, als auch
im Hinblick auf das Spieldesign. Darüber hinaus ist ein solches Spiel, ausgehend von der
untersuchten Methode, für sich nur so gut, wie die notwendige pädagogische Begleitung im
Rahmen von ‚Performance-Play-Dialog‘. Yam San Chee, der Autor von ‚Games-to-Teach
and Games-to-Learn‘ konnte durch entsprechende Förderung insgesamt drei Spiele für seine
Forschung entwickeln und in Modellprojekten pädagogisch begleiten lassen, was für sich
bereits eine Ausnahmesituation darstellt. Die Ergebnisse, die Chee mit seiner Erforschung
liefern konnte, liefern zwar Hinweise darauf, dass seine Methode belastbare Lernerfolge
erzielen kann. Sie sind aber empirisch noch nicht umfangreich genug untersucht, um hieraus
eindeutige Schlüsse ziehen zu können.59

Letztlich ist eine weitere Auslotung derartiger Methoden den systemischen Problemen des
Bildungssystems ausgesetzt, welches den Maßstab dafür setzt, wie gelernt wird. Das System
und die Beteiligten sind hauptsächlich an bewertbaren Lernergebnissen, wie Schulnoten,
orientiert und eine Verbesserung des Bildungsniveaus wird letztlich anhand der
Prüfungserfolge der Schüler gemessen. Aus dieser Sicht ist es natürlich nicht besonderes
erstrebenswert, Methoden zu erforschen, die das Begehen von Fehlern ausdrücklich erfordern
und bei denen die Materie nicht als eindeutiger Lerninhalt sichtbar wird. Ein Computerspiel,
das wie ein Lexikonartikel aussieht wird unter diesem Gesichtspunkt immer den effektiveren
Eindruck machen als eines, das tatsächlich aussieht wie ein Spiel und erst auf den zweiten
Blick und durch entsprechende Methoden die Zusammenhänge bereithält, die ein
bedeutungsvolles Handeln möglich machen.

59
vgl. etwa die Ergebnisse zum Spiel ‚Statecraft X‘, Chee, Games-To-Teach or Games-To-Learn, S. 86.

44
Damit wird deutlich, dass solche Spiele einen schweren Stand haben werden in einem System,
welches nicht bereit ist, die tatsächlichen Aktivitäten von Schülern in den Mittelpunkt zu
setzen. Es ist davon auszugehen, dass die Annahmen über objektives und vermittelbares
Wissen anhand von Wissens-Repräsentationen auf überschaubare Zeit erhalten bleiben
werden. Daraus ergibt sich aber auch, dass das Thema dieser Arbeit einen kleinen Aspekt
davon untersucht, der die Notwendigkeit eines ganzen Paradigmenwechsels beleuchtet. Damit
steht die am Anfang gestellte Frage, ob das Erlernen musikalischer Fähigkeiten durch
Computerspiele überhaupt funktioniert, in einem anderen Licht. Wenn ein solches in Form
von ‚Learning-as-Becoming‘ nämlich funktioniert, könnte es Teil der Argumentation werden,
die ein notwendiges Umdenken fordert. Weg von wirklichkeitsfremder Wissensvermittlung
und hin zu einem Lernverständnis, das die Lebenswirklichkeit des Individuums und seine
Identitätsbildung in den Mittelpunkt stellt.

45
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»Zombie Math - Play with Math Games«,


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47
Eidesstattliche Erklärung:

Ich versichere an Eides statt, dass ich die Bachelor-Arbeit selbständig angefertigt und keine

anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe. Alle Stellen, die dem Wortlaut oder

dem Sinn nach anderen Werken entnommen sind, habe ich in jedem einzelnen Fall unter
genauer

Angabe der Quelle (einschließlich des World Wide Web sowie anderer elektronischer

Datensammlungen) deutlich als Entlehnung kenntlich gemacht. Dies gilt auch für angefügte

Zeichnungen, bildliche Darstellungen, Skizzen und dergleichen. Ich nehme zur Kenntnis, dass

nachgewiesene Unterlassungen der Herkunftsangabe als versuchte Täuschung bzw. als Plagiat

gewertet und mit Maßnahmen bis hin zur Aberkennung des akademischen Grades geahndet

werden.

Ort/Datum/Unterschrift

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