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Michel Foucault

Schriften in vier Bänden


Dits et Ecrits
Band III
1976-1979
Herausgegeben von
Daniel Defert und Frarn;:ois Ewald
unter Mitarbeit von
Jacques Lagrange

Aus dem Französischen von


Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek,
Hermann Kocyba und
Jürgen Schröder

Suhrkamp
Die Veröffentlichung der vierbändigen Ausgabe der Dits et Ecrits Inhalt
erfolgt mit Unterstützung des Französischen Ministeriums
für Kultur - Centre National du livre 1976
und der Kulturabteilung der Französischen Botschaft in Berlin.
166. Ein nicht hinnehmbarer Tod
Titel der Originalausgabe: Dits et ecrits
© 1994 Editions Gallimard, Paris (Vorwort zu Cuau, B„ L'Affaire Mirval
© Editions Belfond, 1977, und au Camment le recit abalit le crime, Paris 1976,
©Editions Gallimard, 1994, für den Text 195 s. VII-XI.). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . l l
© Editions du Seuil, 1979, und 167. Die Köpfe der Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
©Editions Gallimard, 1994, für den Text 259 168. Die Gesundheitspolitik im 18. Jahrhundert........ 19
169. Fragen an Michel Foucault zur Geographie
(Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38
170. Krise der Medizin oder Krise der Antimedizin
(Vortrag)......... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
171. Über »Histoire de Paul« (Gespräch)...... . . . . . . . 77
172. Michel Foucault: Verbrechen und Strafen in der
UdSSR und anderswo ... (Gespräch). . . . . . . . . . . . . 83
173· Die gesellschaftliche Ausweitung der Norm
(Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
174· Das Wissen als Verbrechen (Gespräch) . . . . . . . . . . . 105
175. Michel Foucault, die Ungesetzlichkeit und die
Kunst des Strafens (Gespräch). . . . . . . . . . . . . . . . . . l l 5
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek 176. Hexerei und Wahnsinn (Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . l 19
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation 177. Gesichtspunkte (Auszug aus einem Vortrag) . . . . . . . 123
in der Deutschen Nationalbibliografie
http://dnb.ddb.de
178. Fragen von Michel Foucault an »Herodote« . . . . . . . 125
179· Bio-Geschichte und Bio-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . 126
© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag l 80. Gespräch mit Michel Foucault
Frankfurt am Main 2003 (Über den Film von R. Allio, Mai, Pierre Riviere,
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
ayant egarge ma mere, ma sceur et man frere, 1976) 129
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. l81. Das Abendland und die Wahrheit des Sexes . . . . . . . l 35
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form 182. Warum das Verbrechen von Pierre Riviere?
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages
(Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme 183. Sie sagten über Malraux . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. l 84. Die politische Funktion eines Intellektuellen. . . . . . . l 45
Umschlag: Hermann Michels
und Regina Göllner
l 8 5. Die Rückkehr des Pierre Riviere (Gespräch)
Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden (Über den Film Mai, Pierre Riviere, ayant egarge
Printed in Germany ma mere, ma sceur et man frere, von R. Allio, l 976) . l 52
Erste Auflage 2003
l 86. Der Diskurs darf nicht gehalten werden für... . . . . . l 64

1 2 3 4 5 6 - 08 07 06 0 5 04 03 l 87. Man muss die Gesellschaft verteidigen . . . . . . . . . . . l 65

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6 Inhalt Inhalt 7

1977 216. Macht und Wissen (Gespräch) ................ . 515


188. Vorwort (Vorwort zu My Secret Life, Paris 1977) ... 174 217. »Wir fühlten uns als schmutzige Spezies« ........ . 534
189. Vorwort (Vorwort zu Deleuze, G./Guattari, 2 l 8. Mächte und Strategien (Gespräch) .............. . 538
F., Anti-Oedipus: Capitalism and Schizophrenia,
New York 1977) .. · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · · 1978
190. Sexualität und Wahrheit (Neue Einführung 219. Vorwort von Michel Foucault
in La Volonte de savoir) ..................... . 181 (Vorwort zu Canguilhem, Georges, On the Normal
191. Vorwort (Vorwort zu Debard, M./Hennig, J.-L., and the Pathological, Boston 1978) ............. . 551
Les ]uges Kaki, Paris 1977) ........ · · · · · · · · · · · · 183 220. Die Entwicklung des Begriffs des »gefährlichen
192. Gespräch mit Michel Foucault ................ . 186 Menschen« in der forensischen Psychiatrie des
193· Vorlesung vom 7. Januar 1976 ................. . 213 19. Jahrhunderts ........................... . 568
194· Vorlesung vom 14. Januar 1976 ................ . 231 22 l. Gespräch über die Macht .................... . 594
195· Das Auge der Macht (Gespräch) ............... . 250 222. Wahnsinn und Gesellschaft (Vortrag) ........... . 608
l 96. Die Geburt der Sozialmedizin (Vortrag) ......... . 272 223. Klappentext (zu dite Alexina B. von Hercule Barbin,
197· Die Machtverhältnisse gehen in das Innere dt. Über Hermaphrodismus, Frankfurt/M. 1998) ... .
der Körper über (Gespräch) .................. . 224. Eugene Sue, wie ich ihn liebe ................. .
198. Das Leben der infamen Menschen .............. . 22 5. Eine erdrückende Bildung .................... .
199· Das Poster vom Staatsfeind Nr. l (über]. Mesrine, 226. Alain Peyrefitte erklärt sich: .. , und Michel
L'instinct de mort, Paris l 979) ...... · · · · · · · · · · · · Foucault antwortet ihm ..................... .
200. Nein zum König Sex (Gespräch) ............... . 227. Der traditionelle politische Raster .............. .
2or. Die grauen Morgen der Toleranz (über den Film 228. Achtung Gefahr! .......................... .
von P. P. Pasolini, Comizi d'amore, 1965) ........ . 354 229. Die Einbindung des Krankenhauses in die moderne
202. Das unbegrenzte Irrenhaus ................... . 357 Technologie (Vortrag) ....................... .
203. Präsentation (Präsentation einer Ausstellung 230. Sexualität und Politik (Gespräch) .............. .
des Malers Maxime Defert) ................... . 362 2 3 r. Die Disziplinargesellschaft in der Krise
204. Der große Zorn über die Tatsachen ............. . 364 (Konferenz) .............................. .
205. Die Angst davor, Recht zu sprechen (Gespräch) ... . 370 232. Die analytische Philosophie der Politik (Vortrag) .. .
206. Das Spiel des Michel Foucault (Gespräch) ....... . 39 1 233. Sexualität und Macht (Vortrag) ................ .
207. Eine kulturelle Mobilmachung ................ . 430 234. Die Bühne der Philosophie (Gespräch) .......... .
208. Die Marter der Wahrheit .................... . 432 235. Methodologie zur Erkenntnis der Welt: Wie man
209. Einsperrung, Psychiatrie, Gefängnis ............ . 434 sich vom Marxismus befreien kann (Gespräch) .....
210. Wird Klaus Croissant ausgeliefert? ............. . 468 236. Michel Foucault und das Zen: ein Aufenthalt
21 r. Michel Foucault: »Von nun an steht die Sicherheit in einem Zen-Tempel (Gespräche) .............. .
über den Gesetzen« (Gespräch) ................ . 474 237. Der geheimnisvolle Hermaphrodit (Gespräch) .... .
212. Die Macht, ein großes Tier (Gespräch) .......... . 477 238. Erläuterungen zur Macht. Antwort auf einige
213· Michel Foucault: die Sicherheit und der Staat Kritiker (Gespräch) ........................ .
(Gespräch) ............................... . 495 239. Die »Gouvernementalität« (Vortrag) ............ .
Brief an einige Führer der Linken .............. . 502 240. Vom guten Gebrauch des Kriminellen ........... .
Folter ist Vernunft (Gespräch) ................ . 505 24r. Die Armee, wenn die Erde bebt ............... .
Inhalt Inhalt 9

242. M. Foucault. Ein ohne Komplexe geführtes Gespräch 272. Foucault untersucht die Staatsräson (Gespräch). . . . . 999
mit dem Philosophen, der die Machtstrukturen 273. Kämpfe um das Gefängnis (Gespräch) . . . . . . . . . . . 1005
untersucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 838 274. Die Geburt der Biopolitik .................... 1020
243. Der Schah ist hundert Jahre zurück . . . . . . . . . . . . . 850
244. Teheran: Der Glaube gegen den Schah . . . . . . . . . . . 856
24 5. Wovon träumen die Iraner? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 862
246. Zitrone und Milch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 870
247. Ein gewaltiges Erstaunen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 875
248. Eine Revolte mit bloßen Händen . . . . . . . . . . . . . . . 878
249. Streit innerhalb der Opposition. . . . . . . . . . . . . . . . . 882
250. Die »Ideenreportagen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 885
251. Antwort Michel Foucaults an eine iranische Leserin. 887
2 52. Die iranische Revolution breitet sich mittels
Tonbandkassetten aus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 888
253. Das mythische Oberhaupt der Revolte im Iran..... 894
254. Brief Foucaults an L>Unita . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 898
2 5 5. Sicherheit, Territorium und Bevölkerung. . . . . . . . . . 900

1979
256. Vorwort von Michel Foucault
(Vorwort zu Brückner, P./Krovoza, A., Ennemis
de !'Etat, Claix 1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 906
257. Die Gesundheitspolitik im 18. Jahrhundert........ 908
258. Was ist ein Autor? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 929
259. Der Geist geistloser Zustände (Gespräch) . . . . . . . . . 929
260. Formen der Justiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944
26 l. Pulverfass Islam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 949
262. Michel Foucault und der Iran. . . . . . . . . . . . . . . . . . 952
263. Das Sexualstrafrecht (Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . . . 954
264. Ein so schlichtes Vergnügen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 970
26 5. Offener Brief an Mehdi Bazargan . . . . . . . . . . . . . . . 97 4
266. Für eine Moral der Unbequemlichkeit . . . . . . . . . . . 978
267. Michel Foucault: der Augenblick der Wahrheit . . . . . 984
268. Die Zeit anders leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 984
269. Nutzlos, sich zu erheben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987
270. Die Strategie des Umfelds. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 992
271. »Das Flüchtlingsproblem ist ein Vorbote der großen
Wanderungsbewegung des 21. Jahrhunderts«
(Gespräch) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 996
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sivierung, welche den Schrecken steigert, sondern durch ein Rea- skizzieren, der Sie von Ihrer Arbeit über den Wahnsinn im klassi-
litätsmaß, das im strengen Sinne des Wortes »ermutigt«. schen Zeitalter zur Untersuchung der Kriminalität und der Delin-
quenz geführt hat?
- Während meiner Studienzeit, so um die Jahre 1950-195 5, war
Das Buch von Mireille Debard undJean-Luc Hennig folgt, glaube eines der großen Probleme, die im Raum standen, das Problem
ich, diesem Weg. Man findet darin eine umfassende Taktik der der politischen Stellung der Wissenschaft und der ideologischen
Ungeduld und der Wahrheit, eine Kunst, aus dem Gewöhnlichen Funktionen, die sie übernehmen konnte. Dabei stand nicht so sehr
das überhöhte und aus dem, was man gewöhnlich toleriert, die das Problem Lyssenko im Vordergrund; dennoch glaube ich, dass
empörende Brutalität hervorgehen zu lassen; man findet darin im Umfeld dieser hässlichen Affäre, die so lange vergraben und
auch eine gewisse Erzählökonomie ohne eine von diesen den Le- sorgsam verborgen blieb, eine ganze Menge interessanter Fragen
ser missachtenden Emphasen - kurz, rundum ein Stil politischer aufgewirbelt wurde. Sie lassen sich allesamt in zwei Worte zusam-
Intervention, der im Verlauf dieser letzten Jahre sehr wichtig ge- menfassen: Macht und Wissen. Ich glaube, die Histoire de la folie
wesen ist und der seine Möglichkeiten mit Sicherheit noch nicht habe ich ein wenig im Horizont dieser Fragen geschrieben. Für
ausgeschöpft hat. Christian Hennion hat jüngst mit seinem Buch mich ging es dabei um Folgendes: Wenn man einer Wissenschaft
über die delicti in flagranti ein Beispiel dafür abgegeben. 1 Es wie der theoretischen Physik oder der organischen Chemie das
kommt darauf an, im politischen Gewebe die »Abstoßungs- Problem ihrer Beziehungen zu den politischen und ökonomi-
punkte« zu vermehren und die Fläche möglicher Dissidenzen aus- schen Strukturen der Gesellschaft stellt, stellt man dann nicht
zudehnen; es kommt darauf an, im Kampf gegen die Machtinsti- ein zu kompliziertes Problem? Legt man damit die Latte für eine
tutionen das zu verwenden, was die Taktiker als »schlanke mögliche Erklärung nicht zu hoch? Wird umgekehrt, wenn man
Ordnung« bezeichneten. Bekanntlich hat sie Siege davongetragen. eine Wissensart wie die Psychiatrie nimmt, die Frage nicht viel
übersetzt von Hans-Dieter Gondek leichter zu lösen sein, weil das epistemologische Profil der Psy-
chiatrie niedrig ist und weil die psychiatrische Praxis an eine
ganze Reihe von Institutionen, unmittelbaren ökonomischen An-
forderungen und sozialen Regulierungen von politischer Dring-
192 lichkeit gebunden ist? Ließe sich daher im Falle einer so »zwei-
Gespräch mit Michel Foucault felhaften« Wissenschaft wie der Psychiatrie nicht auf gesichertere
Weise die Verflechtung der Wirkungen von Macht und Wissen
»Intervista a Michel Foucault« (»Entretien avec Michel Foucault«; geführt von erfassen? Ebendiese Frage habe ich dann in der Naissance de la
A. Fontana und P. Pasquino im Juni 1976; übersetzt von C. Lazzeri), in: clinique [Die Geburt der Klinik] bezüglich der Medizin stellen
Fontana, A., und Pasquino, P. (Hg.), Microfisica de! potere: interventi politici, wollen; sie hat mit Sicherheit eine viel stärkere wissenschaftliche
Turin 1977, S. 3-28. Struktur als die Psychiatrie, aber auch sie ist sehr tiefgehend in die
sozialen Strukturen eingebunden. Ein wenig irritiert hat mich die
- Für das italienische Publikum sind Sie der Autor der Histoire de Tatsache, dass diese Frage, die ich mir stellte, diejenigen überhaupt
la folie [Wahnsinn und Gesellschaft], der Les Mots et !es Choses nicht interessierte, denen ich sie stellte. Sie nahmen wohl an, es sei
[Die Ordnung der Dinge] und heute von Surveiller et punir ein politisch bedeutungsloses und epistemologisch unwürdiges
[Überwachen und Strafen]. Könnten Sie in Kürze den Werdegang Problem.
Dafür gab es, glaube ich, drei Gründe. Der erste ist, dass das
1 Unbedingt zu lesen ist auch das bemerkenswerte Buch von Bernard Remy,]ournal
Problem der marxistischen Intellektuellen in Frankreich darin be-
de prison (Paris 1977), eines der stärksten Werke über die militärische Einsperrung
und im Weiteren über die militärische Institution im Ganzen.
stand - und damit übernahmen sie die ihnen vom P. C. F. vorge-
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schriebene Rolle-, sich bei der Institution Universität und beim alle diese Fragen ihre politische Bedeutung angenommen, und das
establishment Anerkennung zu verschaffen; sie mussten daher mit einer Schärfe, die ich nicht erwartet hätte und die zeigte, wie
dieselben Fragen stellen, dieselben Probleme und Bereiche behan- schüchtern und zurückhaltend meine früheren Bücher noch wa-
deln wie sie: »Wir können noch so sehr Marxisten sein, wir kön- ren. 0 hne die in diesen Jahren realisierte politische Öffnung hätte
nen uns nicht aus dem heraushalten, womit ihr euch herum- ich mit Sicherheit nicht den Mut gehabt, den Faden dieser Pro-
schlagt; aber wir sind die einzigen, die euren alten Problemen bleme wiederaufzunehmen und meine Untersuchung anhand des
neue Lösungen geben können.« Der Marxismus wollte als Er- Strafwesens, der Gefängnisse und der Disziplinen fortzusetzen.
neuerung der liberalen universitären Tradition anerkannt werden Schließlich gibt es vielleicht noch einen dritten Grund, aber ich
(so wie sich auch in einem weiter gefassten Sinne die Kommunis- kann nicht sicher sein, nicht absolut sicher, dass er mit eine Rolle
ten in derselben Zeit als diejenigen darstellten, die allein imstande gespielt hat. Ich frage mich jedoch, ob es nicht bei den Intellek-
seien, die nationalistische Tradition weiterzuführen und wieder zu tuellen des P.C.F. (oder denen, die ihm nahe standen) eine Ver-
stärken). Das hatte für den Bereich, der uns beschäftigt, zur Folge, weigerung gab, das Problem der Einsperrung, der politischen Ver-
dass sie die akademischsten und »nobelsten« Probleme der Ge- wendung der Psychiatrie und allgemeiner der disziplinären
schichte der Wissenschaften wiederaufnehmen wollten: Mathema- Erfassung der Gesellschaft zu stellen. Sicher war damals in den
tik, Physik, kurz, die durch Duhem, Husserl und Koyre aufge- Jahren so um 1955-1960 nur wenigen das Ausmaß des Gulags in
werteten Themen. Die Medizin, die Psychiatrie, das sah weder der Wirklichkeit bekannt; doch glaube ich, dass viele dies ahnten,
sehr nobel noch sehr seriös aus und konnte den großen Formen viele hatten das Gefühl, es wäre besser, über diese Dinge gar nicht
des klassischen Rationalismus nicht das Wasser reichen. erst zu sprechen: Gefahrenzone, Rotlicht. Selbstverständlich ist es
Der zweite Grund ist, dass der poststalinistische Stalinismus, schwierig, rückblickend ihren Grad an Mitwissen auszuloten.
der aus dem marxistischen Diskurs alles ausschloss, was nicht Aber Sie wissen ja, wie leicht die Führung der Partei - die davon
Wiederholung des bereits Gesagten war, es nicht gestattete, sich selbstverständlich wissen musste - Anweisungen in Umlauf brin-
noch nicht erschlossenen Bereichen zuzuwenden. So gab es keine gen konnte, verhindern konnte, dass über dieses oder jenes ge-
ausgebildeten Begriffe, kein anerkanntes Vokabular für solche sprochen wurde, und diejenigen disqualifizieren konnte, die da-
Fragen wie die Machtwirkungen der Psychiatrie oder das poli- rüber sprachen ...
tische Funktionieren der Medizin, während die unzähligen
Austauschprozesse zwischen den Universitätsleuten und den - Es gibt also eine gewisse Art Diskontinuität in Ihrem eigenen
Marxisten seit Marx bis in unsere derzeitige Epoche, über Engels theoretischen Werdegang. Was halten Sie übrigens heute von die-
und Lenin, eine ganze Tradition eines Diskurses über die Wissen- sem Begriff, durch den man zu schnell und zu einfach versucht hat,
schaft durchgefüttert hatte, die am Wissenschaftsverständnis des aus Ihnen einen strukturalistischen Historiker zu machen?
19.Jahrhunderts festhielt. Die Marxisten bezahlten ihre Treue
zum alten Positivismus mit dem Preis einer radikalen Taubheit - Diese Diskontinuitätsgeschichte hat mich stets ein bisschen
gegenüber den gesamten durch Pawlow aufgeworfenen Fragen überrascht. Gerade ist eine Ausgabe des Petit Larousse erschie-
zur Psychiatrie; bei einigen Ärzten, die dem P.C.F. nahe standen, nen: »Foucault: Philosoph, der seine Theorie der Geschichte auf
war die psychiatrische Politik, die Psychiatrie als Politik keine die Diskontinuität gründet.« Das haut mich um. Zweifellos habe
Beachtung wert. ich mich in Les M ots et les Choses unzureichend dazu erklärt,
Das, was ich von meiner Seite aus in diesem Bereich zu leisten obgleich ich viel darüber gesprochen habe. Mir schien, dass in
versucht hatte, ist in der intellektuellen französischen Linken mit bestimmten empirischen Wissensformen wie der Biologie, der po-
großem Schweigen aufgenommen worden. Und erst um 1968 he- litischen Ökonomie, der Psychiatrie, der Medizin usw. der Rhyth-
rum haben trotz der marxistischen Tradition und trotz des P.C.F. mus der Transformationen nicht den sanften und kontinuistischen
1977 192 Gespräch mit Michel Foucau!t

Schemata der gewöhnlich angenommenen Entwicklung ge- senschaftlichen Aussagen zirkulieren; welches gewissermaßen ih-
horchte. Das große biologische Bild einer Reifung der Wissen- re innere Machtordnung ist, und wie und warum sie sich in be-
schaft zieht sich noch recht ausgeprägt unter den historischen stimmten Momenten umfassend modifiziert.
Analysen durch; es erscheint mir historisch nicht gerechtfertigt. Diese verschiedenen Ordnungen habe ich in Les M ots et les
In einer Wissenschaft wie der Medizin zum Beispiel haben Sie bis Choses aufzuspüren und zu beschreiben versucht. Damit sage
zum Ende des 18.Jahrhunderts eine bestimmte Art Diskurs, des- ich auch, dass ich sie zunächst einmal nicht zu erklären versucht
sen allmähliche Transformationen - über fünfundzwanzig, dreißig habe, und dass man dies in einer späteren Arbeit zu leisten ver-
Jahre - nicht nur mit den wahren Sätzen, die bis dahin formuliert suchen müsste. Doch was in meiner Arbeit fehlte, war dieses
werden konnten, sondern gründlicher noch mit den Sprechwei- Problem der diskursiven Ordnung, der dem Spiel des Aussagens
sen, mit den Sehweisen und mit der Gesamtmenge der Praktiken eigenen Machtwirkungen. Ich warf sie viel zu sehr mit der Syste-
brachen, die der Medizin als Stütze dienten: Das sind nicht einfach matizität, der theoretischen Form oder so etwas wie dem Para-
nur neue Entdeckungen, das ist eine neue Ordnung im Diskurs digma zusammen. An der Stelle, an der Histoire de la folie und Les
und im Wissen. Und dies in wenigen Jahren. Das ist etwas, was M ots et les Choses zusammenflossen, bot sich dann dieses von mir
man nicht bestreiten kann, sobald man die Texte mit genügender noch sehr schlecht isolierte zentrale Machtproblem in zwei
Aufmerksamkeit betrachtet. Mein Problem bestand überhaupt äußerst unterschiedlichen Ansichten dar.
nicht darin zu sagen: Seht her, es lebe die Diskontinuität, wir sind
in der Diskontinuität, und wir bleiben darin, sondern darin, die - Man muss also den Begriff Diskontinuität wieder an den ihm
Frage zu stellen: Wie kann es geschehen, dass man zu bestimmten eigenen Ort zurückversetzen. Es gibt da vielleicht noch einen Be-
Zeitpunkten und in bestimmten Wissensordnungen diese jähen griff, der anspruchsvoller und zentraler in Ihrem Denken ist, der
Abkopplungen, diese Überstürzungen in der Entwicklung, diese Begriff Ereignis. Nun hat sich bezüglich des Ereignisses eine ganze
Transformationen hat, die nicht mehr dem ruhigen und kontinuis- Generation lange Zeit in der Sackgasse befunden, denn im An-
tischen Bild entsprechen, das man sich gewöhnlich davon macht? schluss an die Arbeiten der Ethnologen, und selbst der großen
Doch das Wichtige an derlei Veränderungen ist nicht, ob sie Ethnologen, ist jene Dichotomie zwischen den Strukturen einer-
schnell oder in großem Umfang verlaufen werden, vielmehr sind seits (dem, was denkbar ist) und dem Ereignis andererseits aufge-
diese Schnelligkeit oder dieser Umfang nur das Zeichen für etwas baut worden, welches der Ort des Irrationalen, des Undenkbaren
anderes: eine Modifizierung in den Bildungsregeln der Aussagen, sein soll, dessen, was nicht in die Mechanik und das Spiel der
die als wissenschaftlich wahr akzeptiert werden. Es ist also kein Analyse eintritt und nicht darin eintreten kann, zumindest nicht
Wechsel im Inhalt (Widerlegung alter Irrtümer, Ans-Licht-brin- in der Form, die sie innerhalb des Strukturalismus angenommen
gen neuer Wahrheiten), und es ist ebenso wenig eine Abwandlung haben. Erst kürzlich noch haben sich im Rahmen einer in der
der theoretischen Form (Erneuerung des Paradigmas, Modifizie- Zeitschrift L'Homme veröffentlichten Debatte drei hervorragende
rung von systematischen Gesamtheiten); was in Frage steht, ist Ethnologen erneut diese Frage gestellt und bezüglich des Ereig-
das, was die Aussagen regelt, und die Art und Weise, wie sie ei- nisses geantwortet: Es ist das, was uns entgeht, es ist der Ort der
nander regeln, um eine Gesamtheit wissenschaftlich akzeptabler absoluten Kontingenz. Wir sind die Denker und Analytiker von
Aussagen zu bilden, die folglich auch mittels wissenschaftlicher Strukturen. Die Geschichte betrifft uns nicht, wir wissen damit
Verfahren bestätigt oder entkräftet werden können. Alles in allem nichts anzufangen usw. Dieser Gegensatz ist der Anlass und das
ein Problem der Ordnung, der Politik der wissenschaftlichen Produkt einer bestimmten Anthropologie gewesen. Meines Erach-
Aussage. Auf dieser Ebene geht es darum, herauszubekommen, tens hat sie verheerend gewirkt, unter anderem auch bei den His-
nicht, welches die Macht ist, die von außen auf der Wissenschaft torikern, die am Ende so weit gegangen sind, das Ereignis und die
lastet, sondern welche Machtwirkungen noch zwischen den wis- Ereignisgeschichte als Geschichte zweiter Ordnung der kleinen, ja
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winzigen Tatsachen, der Zufälle usw. zu disqualifizieren. Tatsache sie muss bis in ihre kleinste Einzelheit analysiert werden können:
ist, dass es in der Geschichte zu Knoten kommt, bei denen es sich doch gemäß der Verstehbarkeit der Kämpfe, der Strategien und
weder um geringwertige Tatsachen noch um jene schöne, wohl- der Taktiken. Weder die Dialektik (als Logik des Widerspruchs)
geordnete, treffliche und für die Analyse transparente Struktur noch die Semiotik (als Struktur der Kommunikation) könnten der
handelt. Die große Einsperrung zum Beispiel, die Sie in der His- eigentlichen Verstehbarkeit der Konfrontationen gerecht werden.
toire de la folie beschreiben, stellt vielleicht einen dieser Knoten Die Dialektik umgeht auf ihre Art die stets gewagte und offene
dar, die sich dem Gegensatz zwischen Ereignis und Struktur ent- Wirklichkeit dieser Verstehbarkeit, indem sie sie auf das Hegel' -
ziehen. Vielleicht können Sie für uns beim derzeitigen Stand der sehe Skelett zurückstutzt, und die Semiologie umgeht auf ihre Art
Dinge diese Wiederaufnahme und diese Reformulierung des Be- ihren gewaltsamen, blutigen und tödlichen Charakter, indem sie
griffs Ereignis genauer darlegen? sie auf die befriedete und platonistische Form der Sprache und des
Dialogs zurückstutzt.
- Es ist anzunehmen, dass der Strukturalismus die systematischste
Anstrengung war, um nicht nur aus der Ethnologie, sondern auch - In Bezug auf dieses Problem der Diskursivität kann man, glau-
aus einer ganzen Reihe weiterer Wissenschaften und letztlich aus be ich, mit Fug und Recht behaupten, dass Sie der Erste gewesen
der Geschichte selbst den Begriff Ereignis auszutreiben. Ich sehe sind, der dem Diskurs die Frage der Macht gestellt hat, und zwar
niemanden, der antistrukturalistischer sein kann als ich. Es zu einem Zeitpunkt gestellt hat, als ein Typ von Analysen gras-
kommt aber darauf an, dass man mit dem Ereignis nicht das sierte, der über den Begriff Text, sagen wir, das Objekt »Text«
macht, was man mit der Struktur gemacht hat. Es geht nicht da- mitsamt der entsprechend begleitenden Methodologie, nämlich
rum, alles auf eine bestimmte Ebene zu setzen, welches die des der Semiologie, dem Strukturalismus usw., verfuhr. Dem Diskurs
Ereignisses wäre, sondern in Betracht zu ziehen, dass es einen die Frage der Macht zu stellen, meint also im Grunde die Frage:
gestaffelten Aufbau verschiedener Arten von Ereignissen gibt, Wozu dienst du? Es geht nicht so sehr darum, ihn in sein Unge-
die weder dieselbe Reichweite noch dieselbe chronologische Er- sagtes zu zerlegen, einen impliziten Sinn zu jagen. Die Diskurse
streckung haben, noch dieselbe Fähigkeit, Wirkungen hervorzu- sind, Sie haben das häufig wiederholt, transparent, sie benötigen
bringen. keine Deutung oder irgend jemanden, der käme, um ihnen einen
Das Problem ist, zugleich die Ereignisse zu unterscheiden, die Sinn zu verleihen. Wenn man die Texte auf eine bestimmte Weise
Netze und die Ebenen zu differenzieren, denen sie zugehören, liest, sieht man, dass sie klar sprechen und dass sie nicht noch zu-
und die Fäden nachzuzeichnen, die sie verbinden und dafür sor- sätzlich einen Sinn und eine Deutung benötigen. Diese den Dis-
gen, dass sie sich auseinander erzeugen. Daraus ergibt sich die kursen gestellte Frage der Macht hat natürlich eine bestimmte Art
Ablehnung von Analysen, die sich auf das symbolische Feld oder Wirkung und eine bestimmte Anzahl von Implikationen auf der
auf den Bereich der signifikanten Strukturen beziehen, sowie der methodologischen Ebene und auf der Ebene der derzeit laufenden
Rückgriff auf Analysen, die in Begriffen der Genealogie von Kräf- historischen Forschung mit sich gebracht. Könnten Sie ganz kurz
teverhältnissen, strategischen Entwicklungen und Taktiken geleis- diese Frage einordnen, die Sie gestellt haben - sofern es denn
tet werden. Ich glaube, dass das, worauf man sich beziehen muss, stimmt, dass Sie sie gestellt haben?
nicht das große Modell der Sprache und der Zeichen, sondern das
des Krieges und der Schlacht ist. Die Geschichtlichkeit, die uns - Ich denke nicht, dass ich der Erste gewesen bin, der diese Frage
mitreißt und uns bestimmt, ist kriegerisch; sie ist nicht sprach- gestellt hat. Mich hat im Gegenteil die Mühsal überrascht, die ich
licher Natur. Machtbeziehung, nicht Sinnbeziehung. Die Ge- damit hatte, sie zu formulieren. Wenn ich jetzt darüber nachden-
schichte hat keinen Sinn, was nicht heißt, dass sie absurd oder ke, sage ich mir, worüber habe ich denn zum Beispiel in der His-
ohne Zusammenhang wäre. Sie ist im Gegenteil verstehbar, und toire de la folie oder in der Naissance de la clinique sprechen
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können, wenn nicht über die Macht? Nun ist mir freilich voll- - Ja, wenn Sie so wollen, insofern es zutrifft, dass die Leute meiner
kommen bewusst, dass ich praktisch das Wort nicht verwendet Generation, als sie Studenten waren, mit diesen zwei Analysefor-
und dieses Feld von Analysen nicht zu meiner Verfügung gehabt men voll gestopft wurden: die eine, die auf das konstituierende
habe. Ich kann sagen, dass da sicherlich ein Unvermögen war, das Subjekt zurückging, und die andere, die auf das Ökonomische in
freilich mit der politischen Situation zusammenhing, in der wir letzter Instanz, auf die Ideologie und auf das Spiel von Basis und
uns befanden. Es ist nicht zu sehen, von welcher Seite aus - von Überbau zurückging.
rechts oder von links - man dieses Problem der Macht hätte stel-
len können. Rechts wurde es nur in Begriffen wie Verfassung, - Wie würden Sie daraufhin, immer noch in diesem methodologi-
Souveränität usw„ also in Begriffen des Rechts gestellt, von Seiten schen Rahmen, die genealogische Herangehensweise einordnen?
des Marxismus in der Begrifflichkeit von Staatsapparaten. Wie sie Worin besteht ihre Notwendigkeit als ein Fragen nach den Bedin-
konkret und im Einzelnen in ihrem spezifischen Charakter und in gungen der Möglichkeit, den Modalitäten und der Konstitution
ihren Techniken und Taktiken ausgeübt wurde, danach forschte der »Objekte« und der Bereiche, die Sie nacheinander analysiert
man nicht; man begnügte sich damit, sie beim anderen, beim Geg- haben?
ner polemisch und pauschal zugleich anzuprangern: Die Macht im
sowjetischen Sozialismus wurde von seinen Gegnern Totalitaris- - Ich wollte sehen, wie man diese Konstitutionsprobleme inner-·
mus genannt; und im westlichen Kapitalismus wurde sie von den halb einer historischen Verlaufsform lösen konnte, anstatt sie auf
Marxisten als Klassenherrschaft angeprangert, die Mechanik der ein konstituierendes Subjekt zurückzuführen. Doch sollte diese
Macht jedoch wurde niemals analysiert. Mit dieser Arbeit konnte historische Verlaufsform nicht die schlichte Relativierung des
erst nach 1968 begonnen werden, das heißt ausgehend von den phänomenologischen Subjekts sein. Ich glaube nicht, dass das
alltäglichen und an der Basis geführten Kämpfen, und mit denen, Problem sich lösen lässt, indem man das Subjekt historisiert, auf
die sich im äußerst feinmaschigen Netz der Macht damit herum- das sich die Phänomenologen beziehen würden, und indem man
zuschlagen hatten. Dort ist das Konkrete der Macht und zugleich sich als Konsequenz daraus ein sich durch die Geschichte verwan-
die wahrscheinliche Fruchtbarkeit dieser Analysen der Macht delndes Bewusstsein gibt. Wenn man sich vom konstituierenden
sichtbar geworden, sich dieser Dinge zu vergewissern, die bis da- Subjekt frei macht, muss man sich vom Subjekt selbst frei machen,
hin außerhalb des Feldes der politischen Analyse geblieben waren. das heißt, man muss zu einer Analyse gelangen, die der Konstitu-
Um die Dinge sehr vereinfacht zu sagen: Die psychiatrische In- tion des Subjekts in der historischen Verlaufsform Rechnung tra-
ternierung, die mentale Normierung der Individuen und die Straf- gen könnte. Und das ist das, was ich die Genealogie nennen wür-
einrichtungen haben sicher eine ziemlich begrenzte Wichtigkeit, de, das heißt eine Form von Geschichte, die der Konstitution der
wenn man allein nach ihrer ökonomischen Bedeutung sucht. Um- Wissensarten, der Diskurse, der Gegenstandsbereiche usw. Rech-
gekehrt sind sie im allgemeinen Funktionszusammenhang der Rä- nung trägt, ohne sich auf ein Subjekt beziehen zu müssen, ob
derwerke der Macht mit Sicherheit wesentlich. Solange man die dieses nun dem Feld der Ereignisse gegenüber transzendent ist
Frage der Macht so stellte, dass man sie der Instanz der Ökonomie oder ob es in seiner leeren Identität an der Geschichte entlang-
und dem von ihr gewährleisteten Interessensystem unterstellte, läuft.
musste man diese Probleme zwangsläufig für wenig bedeutend
halten. - Die marxistische Phänomenologie, ein bestimmter Marxismus
haben mit Sicherheit abschirmend und hindernd gewirkt; doch
- Haben also ein bestimmter Marxismus und eine bestimmte Phä- auch heute noch gibt es Begriffe, die abschirmend und hindernd
nomenologie ein objektives Hindernis für die Formulierung dieser wirken, der Begriff 1deologie auf der einen und der Begriff Unter-
Problematik dargestellt? drückung auf der anderen Seite. So wird, genau austariert, die
1 977 192 Gespräch mit Michel Foucault 197

Geschichte gedacht und jenen Phänomenen Normierung, Sexuali- nen, wie innerhalb von Diskursen, die an sich selbst weder wahr
tät und Macht ein Sinn verliehen. Ob man nun davon Gebrauch noch falsch sind, Wahrheitswirkungen zustande kommen. Die
macht oder nicht, im Grunde geht man immer einerseits auf die zweite Unannehmlichkeit ist, dass er sich, wie ich glaube, not-
Ideologie zurück - einen Begriff, den man ohne weiteres bis hin zu wendigerweise auf so etwas wie ein Subjekt bezieht. Und drittens
Marx zurückverfolgen kann -, und andererseits auf den Begriff steht die Ideologie in sekundärer Stellung im Verhältnis zu etwas,
Unterdrückung, den Freud in seinem gesamten Werk oft und gern das für sie als Basis oder ökonomische, materielle usw. Determi-
gebraucht hat. Infolgedessen werde ich mir erlauben, Folgendes nante funktionieren muss. Aus diesen drei Gründen glaube ich,
vorzubringen: Es gibt gleichsam eine Art Sehnsucht hinter diesen dass das ein Grundbegriff ist, den man nicht verwenden kann,
beiden Grundbegriffen und bei denen, die sie blind drauflosver- ohne Vorkehrungen zu treffen.
wenden; hinter dem Grundbegriff Ideologie steht die Sehnsucht Der Grundbegriff Unterdrückung ist hinterhältiger, oder jeden-
nach einem Wissen, das gleichsam sich selbst transparent wäre und falls habe ich viel mehr Mühe gehabt, mich davon zu befreien,
das ohne Illusion, ohne Irrtum funktionieren würde; zum anderen insofern er in Wirklichkeit sehr wohl mit einer ganzen Reihe von
gibt es hinter dem Grundbegriff Unterdrückung die Sehnsucht Phänomenen zusammenzukleben scheint, die zu den Wirkungen
nach einer Macht, die ohne Zwang, ohne Disziplin und ohne Nor- der Macht gehören. Als ich die Histoire de La folie schrieb, be-
mierung funktionieren würde; eine Art Macht ohne Knüppel auf diente ich mich zumindest implizit dieses Grundbegriffs der Un-
der einen und ein Wissen ohne Illusion auf der anderen Seite. terdrückung. Ich glaube durchaus, dass ich damals eine Art le-
Diese beiden Grundbegriffe Ideologie und Illusion haben Sie als bendigen, geschwätzigen und ängstlichen Wahnsinn unterstellte,
negativ, psychologisch und von unzureichender Erklärungskraft den die Mechanik der Macht und der Psychiatrie am Ende mit
bestimmt. Sie haben das vor allem in Ihrem letzten Buch getan, Erfolg unterdrückt und zum Schweigen gebracht hätte. Nun
in Surveiller et Punir, in dem man zwar keine große theoretische scheint mir allerdings der Grundbegriff Unterdrückung völlig un-
Diskussion über diese Begriffe findet, aber auf eine Art Analyse geeignet zu sein, um dem Rechnung zu tragen, was es gerade in
stößt, die es gestattet, über die traditionellen Formen der Versteh- der Macht an Produktivem gibt. Wenn man die Machtwirkungen
barkeit hinauszugehen, die, und nicht nur in letzter Instanz, auf durch die Unterdrückung definiert, so verschafft man sich eine
die Grundbegriffe Ideologie und Unterdrückung gegründet sind. rein rechtlich bestimmte Auffassung von dieser Macht; man setzt
Wäre das jetzt nicht der Ort und die Gelegenheit, Ihr Denken in die Macht mit einem Gesetz gleich, das Nein sagt; es wäre vor
dieser Sache zu präzisieren? Zum ersten Mal vielleicht kündigt sich allem die Stärke des Verbotes. Nun glaube ich aber, dass darin eine
in Surveiller et punir eine Art positiver Geschichte ohne Ideologie ganz und gar negative, enge und dürre Auffassung von der Macht
und Unterdrückung an, eine endlich von aller Negativität und vorliegt, die seltsamerweise geteilt wurde. Wenn die Macht immer
allem Psychologismus, die diese überall passenden Instrumente nur unterdrückend wäre, wenn sie niemals etwas anderes tun
implizieren, befreite Geschichte. würde als Nein zu sagen, glauben Sie wirklich, dass es dann dazu
käme, dass ihr gehorcht wird? Dass die Macht Bestand hat, dass
- Der Grundbegriff Ideologie scheint mir aus drei Gründen nur man sie annimmt, wird ganz einfach dadurch bewirkt, dass sie
schwierig verwendbar zu sein. Der erste Grund ist der, dass er, ob nicht bloß wie eine Macht lastet, die Nein sagt, sondern dass sie
man will oder nicht, stets in einem virtuellen Gegensatz zu etwas in Wirklichkeit die Dinge durchläuft und hervorbringt, Lust ver-
steht, das die Wahrheit wäre. Nun glaube ich allerdings, dass das ursacht, Wissen formt und einen Diskurs produziert; man muss
Problem nicht darin besteht, dass man die Teilung zwischen dem sie als ein produktives Netz ansehen, das weit stärker durch den
vollzieht, was in einem Diskurs der Wissenschaftlichkeit und der ganzen Gesellschaftskörper hindurchgeht als eine negative In-
Wahrheit untersteht, und dann dem, was etwas anderem unter- stanz, die die Funktion hat zu unterdrücken. In Surveiller et punir
stehen würde, sondern dass es darin besteht, historisch zu erken- habe ich zeigen wollen, wie es vom 17.-18.Jahrhundert an wahr-
1 977 192 Gespräch mit Michel Foucault

haftig zu einer technologischen Aufhebung der Blockierung der zu entdecken, dass die Kinder eine Sexualität hätten. Nun können
Produktivität der Macht gekommen ist. Nicht nur haben die Sie aber all die Bücher über die Pädagogik und die Medizin des
Monarchien der klassischen Epoche große Staatsapparate entwi- Kindes und die Ratgeber für Eltern lesen, die im r 8. Jahrhundert
ckelt - Armee, Polizei, Steuerverwaltung -, sondern man hat vor publiziert wurden, und in ihnen ist ständig und in allem vom Sex
allem gesehen, wie in dieser Epoche das gestiftet wurde, was man der Kinder die Rede. Man kann nun behaupten, diese Diskurse
eine neue Ökonomie der Macht nennen könnte, das heißt Verfah- seien genau zu dem Zweck erschaffen worden, zu verhindern,
ren, die es erlauben, die Machtwirkungen auf eine zugleich konti- dass es eine Sexualität gibt. Doch diese Diskurse funktionierten
nuierliche, ununterbrochene, angepasste und individualisierte so, dass sie den Eltern überhaupt erst eintrichterten, dass es in
Weise im gesamten Gesellschaftskörper zirkulieren zu lassen. ihrer Erziehungsaufgabe ein grundsätzliches Problem gab: den
Diese neuen Techniken sind zugleich viel wirksamer und viel Sex ihrer Kinder, und zum anderen so, dass sie den Kindern ein-
weniger kostspielig (ökonomisch weniger aufwendig, weniger trichterten, dass es für sie ein gewichtiges Problem gab, das Ver-
dem Zufall unterworfen in ihrem Ergebnis, weniger anfällig für hältnis zu ihrem eigenen Körper und zu ihrem eigenen Ge-
Schlupflöcher oder Widerstände) als die Techniken, die man bis schlecht; so wurde der Körper der Kinder in eine erregende
dahin verwandte und die auf einer Mischung aus mehr oder Spannung versetzt, und so wurden zugleich Blick und Aufmerk-
weniger erzwungenen Duldungen (vom anerkannten Privileg bis samkeit der Eltern auf die kindliche Sexualität gerichtet. Man
hin zur endemischen Kriminalität) und kostspieliger Zurschau- sexualisierte den kindlichen Körper, man sexualisierte das Verhält-
stellung (glanzvolle und diskontinuierliche Interventionen der nis des Körpers der Kinder zu dem der Eltern, man sexualisierte
Macht, deren gewaltsamste Form die exemplarische, weil außer- den familiären Raum. Die Macht hat die Sexualität positiv hervor-
gewöhnliche Bestrafung war) beruhte. gebracht, anstatt sie zu unterdrücken. Ich glaube, dass man ver-
suchen muss, diese positiven Mechanismen zu analysieren, und
- Die Unterdrückung ist ein Begriff, der vor allem im Umfeld der dazu muss man sich von dem juristischen Schematismus frei ma-
Sexualität verwandt wurde. Es hieß, die bürgerliche Gesellschaft chen, durch den man bis heute die Macht mit einem rechtlichen
unterdrücke die Sexualität, ersticke das Begehren usw., und wenn Status zu versehen versucht hat. Daraus ergibt sich ein histori-
man sich beispielsweise die Kampagne gegen die Masturbation sches Problem: herauszufinden, warum das Abendland über eine
ansieht, die im 18.jahrhundert entsteht, oder den medizinischen so lange Zeit hinweg die Macht, die es ausübte, nicht hat sehen
Diskurs über die Homosexualität aus der zweiten Hälfte des wollen, außer auf eine durch das Recht bestimmte negative Weise,
19.jahrhunderts, oder auch den Diskurs über die Sexualität im und eben nicht auf eine technisch-positive Weise.
Allgemeinen, dann scheint das wahrlich ein Unterdrückungsdis-
kurs zu sein. Tatsächlich erlaubt er eine ganze Reihe von Opera- - Es ist vielleicht so, weil man stets gedacht hat, die Macht käme
tionen, die im Wesentlichen Operationen sind, die innigst mit die- in den großen juristischen und philosophischen Theorien zum Aus-
ser Technik verbunden scheinen, die sich scheinbar als eine druck, und zwischen denen, die sie ausübten, und denen, die sie
Unterdrückungstechnik darstellt oder die als eine solche dekodiert erlitten, bestünde eine fundamentale und unabänderliche Tren-
werden kann. Ich glaube, der Kreuzzug gegen die Masturbation nung.
stellt ein typisches Beispiel dar.
- Ich frage mich, ob dies nicht mit der Institution der Monarchie
- Gewiss. Es heißt gewöhnlich, die bürgerliche Gesellschaft habe in Verbindung steht. Sie ist im Mittelalter auf einem Boden per-
die infantile Sexualität so sehr unterdrückt, dass sie sich sogar manenten Kampfes zwischen den zuvor schon existierenden feu-
geweigert habe, darüber zu sprechen und sie da zu sehen, wo dalen Mächten gegründet worden. Sie hat sich als Schiedsrichter
sie war. Man habe auf Freud warten müssen, um zu guter Letzt dargestellt, als Macht, die dafür sorgen kann, dass der Krieg auf-
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hört, dass den Gewalttätigkeiten und dem Machtmissbrauch ein seinen Apparaten inbegriffene Staat recht weit davon entfernt ist,
Ende gesetzt wird und dass den Privatfehden und -streitigkeiten das gesamte reale Feld der Machtverhältnisse abzudecken, und
ein Nein entgegengesetzt wird. Sie hat sich akzeptierbar gemacht, weiter, weil der Staat nur auf der Basis von schon zuvor existie-
indem sie sich eine rechtlich verfasste und negative Rolle gab, renden Machtbeziehungen funktionieren kann. Der Staat ist ein
deren Grenzen sie freilich sogleich überschritt. Der Souverän, Überbauphänomen hinsichtlich einer ganzen Reihe von Macht-
das Gesetz, die Untersagung, das alles bildete ein Repräsentati- netzen, die durch die Körper, die Sexualität, die Familie, die Hal-
onssystem der Macht, das anschließend von den Theorien des tungen, die Wissensarten und die Techniken hindurchgehen, und
Rechts weitergegeben wurde: Die politische Theorie ist von der diese Verhältnisse unterhalten gegenüber einer Art Metamacht,
Gestalt des Souveräns besessen geblieben. Alle diese Theorien die im Wesentlichen um eine bestimmte Anzahl großer Verbots-
stellen noch immer das Problem der Souveränität. Was wir brau- funktionen herum strukturiert ist, eine Beziehung von Bedingen-
chen, ist eine politische Philosophie, die nicht um das Problem der dem zu Bedingtem. Diese Metamacht jedoch, die über Verbots-
Souveränität, also des Gesetzes, also der Untersagung herum auf- funktionen verfügt, kann nicht wirklich über Zugriffe verfügen
gebaut ist; man muss dem König den Kopf abschlagen, und in der und kann sich nur in dem Maße erhalten, wie sie in einer ganzen
politischen Theorie hat man das noch nicht getan. Reihe vielfältiger, nicht definierter Machtverhältnisse verwurzelt
ist, die zudem die notwendige Grundlage für diese großen nega-
- Man hat ihn dem König nicht abgeschlagen, und andererseits tiven Machtformen bilden, und genau das wollte ich sichtbar ma-
versucht man, den Disziplinen einen aufzusetzen, das heißt diesem chen.
weiten System von Überwachung, Kontrolle und Normierung und
später von Bestrafung, Korrektur und Erziehung, das im 17. und - Erschließt sich nicht von diesem Diskurs her die Möglichkeit,
18.jahrhundert eingerichtet wird. Man fragt sich, woher dieses über jenen Dualismus auf der Ebene der Kämpfe hinauszugehen,
System kommt, warum es erscheint und welchen Vorteil es mit die seit so langer Zeit von dem Gegensatz zwischen dem Staat
sich bringt. Und man neigt heute ein wenig dazu, ihm ein Subjekt einerseits und der Revolution andererseits leben? Zeichnet sich
zu geben, ein großes molares, totalitäres Subjekt, den modernen so nicht ein Kampfplatz ab, der breiter ist als der, welcher den
Staat, der sich im 16. und 17.jahrhundert konstituiert hat, der Staat zum Gegner hat?
über eine Berufsarmee und nach der klassischen Theorie über eine
Polizei und ein Korps von Beamten verfügt. - Ich würde sagen, der Staat ist eine Kodifizierung vielfältiger
Machtbeziehungen, die es ihm gestattet zu funktionieren, und
- Stellt man das Problem in der Begrifflichkeit des Staates, so die Revolution stellt eine andere Art von Kodifizierung dieser
stellt man es immer noch in einer Terminologie des Souveräns Beziehungen dar. Dies impliziert, dass es ebenso viele Arten von
und der Souveränität und in einer Terminologie des Gesetzes. Revolutionen wie mögliche subversive Kodifizierungen von
Beschreibt man alle diese Machtphänomene in Abhängigkeit Machtbeziehungen gibt, und dass andererseits ohne weiteres Re-
vom Staatsapparat, so setzt man sie im Wesentlichen in der Ter- volutionen vorstellbar sind, die im Wesentlichen die Machtbezie-
minologie einer repressiven Funktion an: Die Armee, die eine hungen intakt lassen, die es dem Staat gestattet hatten zu funk-
Todesmacht ist, die Polizei und die Justiz, die Strafinstanzen tionieren.
sind ... Ich will, damit nicht sagen, dass der Staat nicht wichtig
sei; was ich sagen will, ist, dass die Machtverhältnisse und folglich - Bezüglich der Macht als Forschungsgegenstand sagten Sie, dass
auch die Analyse, die man von ihnen machen muss, über den man die Formel von Clausewitz umkehren und dadurch zu der
Rahmen des Staats hinausgehen müssen. Und dies in zweierlei Vorstellung gelangen müsse, dass die Politik die Fortsetzung des
Sinn: als Erstes, weil der darin mit seiner Allgegenwart und mit Krieges mit anderen Mitteln sei. Auf der Grundlage ihrer jüngsten
202 1977 192 Gespräch mit Michel Foucault 203

Analysen scheint das militärische Modell dasjenige zu sein, das der nicht kennt. Moheau zum Beispiel, einer der ersten, der Unter-
Macht am besten Rechnung trägt. Ist der Krieg folglich ein ein- suchungen dieser Art unter Verwaltungsgesichtspunkten organi-
faches metaphorisches Modell oder macht er das alltägliche und siert hat, scheint deren Einsatz in den Problemen einer Kontrolle
regelmäßige Funktionieren der Macht aus? der Bevölkerung vorzusehen. Funktioniert diese disziplinarische
Macht folglich ganz von allein? Ist sie nicht an etwas Allgemei-
- Auf alle Fälle ist das das Problem, mit dem ich mich heute neres gebunden, welches diese feste Vorstellung von einer Bevöl-
auseinander zu setzen habe. Im Grunde muss man von dem Au- kerung wäre, die sich ordentlich reproduziert, von Personen, die
genblick an, da man die Macht mit ihren Techniken und ihren sich ordentlich verheiraten und die sich den ordentlich definierten
Verfahren von der rechtlich bestimmten Form zu isolieren sucht, Normen gemäß ordentlich verhalten? Es gäbe also einen molaren
in der die Theorien sie bis jetzt eingeschlossen hatten, das Pro- Körper, einen großen Körper, den Körper der Bevölkerung, und
blem stellen: Ist die Macht nicht einfach eine Herrschaft kriege- eine ganze Reihe von Diskursen über sie, und auf der anderen
rischer Art? Muss man infolgedessen nicht die gesamten Macht- Seite abwärts davon die kleinen Körper, die gelehrigen, singulären
probleme in der Form von Kräfteverhältnissen stellen? Handelt es Körper, die Mikrokörper der Disziplinen. Wie kann man, selbst
sich nicht um eine Art verallgemeinerten Krieg, der einfach nur zu wenn es sich für Sie heute vielleicht erst um den Anfang einer
bestimmten Zeiten die Form des Friedens und des Staates anneh- Forschung handelt, die Beziehungsarten denken, die sich, sofern
men würde? So dass der Frieden eine Form von Krieg wäre und dies der Fall ist, zwischen diesen beiden Körpern herstellen: dem
der Staat eine Art und Weise, ihn zu führen. Hier taucht nun eine molaren Körper der Bevölkerung und den Mikrokörpern der In-
ganze Reihe von Problemen auf: Der Krieg von wem gegen wen? dividuen?
Kampf zwischen zwei oder mehreren Klassen? Kampf aller gegen
alle? Die Rolle des Krieges und der militärischen Institutionen in - Die Frage ist vollkommen richtig gestellt. Es fällt mir schwer,
dieser zivilen Gesellschaft, in der ein permanenter Krieg geführt darauf zu antworten, weil ich in diesem Moment genau daran am
wird; der Wert der Grundbegriffe Taktik und Strategie für die Arbeiten bin. Ich glaube, man muss im Sinn haben, dass unter all
Analyse der politischen Strukturen und des politischen Prozesses; den grundlegenden technischen Erfindungen des 17. und des
die Natur und die Transformation der Kräfteverhältnisse: Das 18.Jahrhunderts auch eine neue Technologie der Machtausübung
alles müsste untersucht werden. Jedenfalls ist es eine Überra- aufgetaucht ist, die wahrscheinlich wichtiger ist als die Verfas-
schung, festzustellen, mit welcher Leichtigkeit, welcher Quasi- sungsreformen oder die neuen Regierungsformen, die Ende des
Evidenz von Kräfteverhältnissen oder von Klassenkampf die Rede 18.Jahrhunderts eingerichtet wurden. Von links hört man häufig:
ist, ohne dass jemals klar präzisiert wird, ob es sich um eine Form »Die Macht ist das, was vom Körper absieht und ihn verleugnet,
von Krieg handelt, oder um welche Form es sich handeln könnte. was ihn verdrängt und unterdrückt.« Ich würde eher sagen, dass
mich am meisten an diesen neuen, seit dem 17. und 18.Jahrhun-
- Wir haben über die Disziplinarmacht gesprochen, deren Funk- dert eingerichteten Machttechnologien ihr ebenso konkreter wie
tionieren, deren Regeln und deren Konstitutionsweise Sie in Ihrem präziser Charakter und ihr Zugriff auf eine vielfältige und diff e-
letzten Buch aufzeigen, woraufhin man sich fragen könnte: Wa- renzierte Wirklichkeit überrascht. Die Macht, so wie man sie in
rum überwachen? Welchen Vorteil bringt die Überwachung? Ein den Gesellschaften feudalen Typs ausübte, funktionierte grosso
Phänomen taucht im r8.jahrhundert auf, und zwar, dass man die modo durch Zeichen und Abgaben. Zeichen der Treue zum
Bevölkerung zum Gegenstand der Wissenschaft erhebt; erstmals Herrn, Rituale, Zeremonien und Abgaben von Gütern mittels
untersucht man die Geburten, die Todesfälle und die Bevölke- Steuern, Plünderung, Jagd und Krieg. Ab dem 17. und 18.Jahr-
rungsverschiebungen, und erstmals behauptet man beispielsweise, hundert hatte man es mit einer Macht zu tun, die nunmehr mittels
dass ein Staat nicht regieren kann, wenn er seine Bevölkerung Produktion und Leistung ausgeübt wurde. Es ging darum, von
1 977 192 Gespräch mit Michel Foucault

den Individuen in ihrem konkreten Leben produktive Leistungen sentant des Universalen Gehör zu verschaffen. Intellektueller zu
zu erhalten. Und dazu war es notwendig, eine wahrhafte Verkör- sein, war ein wenig das Gewissen aller zu sein. Ich glaube, darin
perung der Macht in dem Sinne zu realisieren, dass sie bis zu den fand sich eine vom Marxismus her übertragene Idee wieder, und
Körpern der Individuen, ihren Gesten, ihren Haltungen und ihren zwar von einem ermatteten Marxismus: Genauso wie das Prole-
alltäglichen Verhaltensweisen reichen sollte; daher die Wichtigkeit tariat qua Notwendigkeit seiner geschichtlichen Position Träger
von Verfahren wie die schulischen Disziplinen, die es schafften, des Universalen (aber eben unmittelbarer, nicht reflektierter, sei-
aus dem Körper der Kinder einen Gegenstand äußerst komplexer ner selbst wenig bewusster Träger) ist, will der Intellektuelle
Manipulationen und Konditionierungen zu machen. Allerdings durch seine moralische, theoretische und politische Wahl Träger
mussten diese neuen Machttechniken darüber hinaus die Bevöl- dieser Universalität sein, aber eben in ihrer bewussten und aus-
kerungsphänomene berücksichtigen, kurz gesagt, die Akkumula- gearbeiteten Form. Der Intellektuelle wäre die klare und indivi-
tion der Menschen behandeln, kontrollieren und steuern (so wur- duelle Figur einer Universalität, deren dunkle und kollektive
den aus einem ökonomischen System, das die Akkumulation des Form das Proletariat wäre.
Kapitals vorantrieb, und einem Machtsystem, das die Akkumula- Nun wird schon seit einigen Jahren von dem Intellektuellen
tion der Menschen befehligte, ab dem 17.Jahrhundert zwei kor- nicht mehr verlangt, diese Rolle zu spielen. Eine neue Art Verbin-
relative und voneinander nicht zu trennende Phänomene); daher dung zwischen Theorie und Praxis hat sich etabliert. Die Intel-
das Auftauchen der Probleme der Demographie, der öffentlichen lektuellen haben sich die Gepflogenheit zu Eigen gemacht, nicht
Gesundheit, der Hygiene, des Wohnens, der Langlebigkeit und im Universalen, im Beispielgebenden, im Wahren-und-Gerechten
der Fruchtbarkeit. Und die politische Bedeutung des Problems für alle, sondern in festgelegten Sektoren, an genau bestimmten
des Sexes ist, glaube ich, der Tatsache geschuldet, dass der Sex Punkten zu arbeiten, an die sie entweder durch ihre professionel-
in der Fuge zwischen den Disziplinen des Körpers und der Kon- len Arbeitsbedingungen oder durch ihre Lebensbedingungen
trolle der Bevölkerungen seinen Platz hat. (Wohnung, Krankenhaus, Irrenanstalt, Labor, Universität, die fa-
miliären oder sexuellen Beziehungen) versetzt wurden. Sie haben
·- Zum Schluss eine Frage, die man Ihnen bereits gestellt hat: dabei mit Sicherheit ein wohl stärker konkretes und unmittelbares
Diese von Ihnen durchgeführten Arbeiten, diese Ihnen eigenen Bewusstsein von den Kämpfen gewonnen. Und sie sind dabei auf
Beschäftigungen und diese von Ihnen erreichten Ergebnisse, wie Probleme gestoßen, die spezifischer Natur, die nicht universal und
kann man sich alles in allem dessen, sagen wir, in den alltäglichen häufig verschieden von denen des Proletariats oder der Massen
Kämpfen bedienen? Sie haben bereits vom punktuellen Kampf als waren. Und dennoch haben sie sich wirklich aus, wie ich glaube,
spezifischem Ort von Konflikten mit der Macht jenseits diverser zwei Gründen einander angenähert: weil es sich um wirkliche,
Instanzen wie den Parteien und den Klassen in ihrer Globalität materielle, alltägliche Kämpfe handelte, und weil sie oft, wenn
und Generalität gesprochen. Was ist als Konsequenz daraus heute auch in einer anderen Form, auf denselben Gegner stießen wie
die Rolle der Intellektuellen? Sobald man kein organischer Intel- das Proletariat, das Bauerntum oder die Massen (die multinatio-
lektueller ist (das heißt einer, der als Sprachrohr einer globalen nalen Konzerne, den Gerichts- und Polizeiapparat, die Immobi-
Organisation spricht), sobald man nicht der Inhaber, der Herr lienspekulation usw.); ich möchte das den spezifischen Intellek-
einer Wahrheit ist, wo befindet man sich dann? tuellen nennen im Gegensatz zum universalen Intellektuellen.
Diese neue Figur hat eine weitere politische Bedeutung: Sie hat
- Seit langem hat der so genannte »Links«intellektuelle das Wort es ermöglicht, ziemlich nahe beieinander liegende Kategorien, die
ergriffen und wird er als jemand angesehen, dem das Recht zuzu- getrennt geblieben waren, zwar nicht zusammenzuschweißen,
erkennen ist, als Herr der Wahrheit und der Gerechtigkeit zu aber doch zumindest wieder miteinander zu verknüpfen. Bis da-
sprechen. Man hörte ihn an bzw. er maßte sich an, sich als Reprä- hin war der Intellektuelle par excellence der Schriftsteller: Als
206 1 977 192 Gespräch mit Michel Foucault

universales Bewusstsein und freies Subjekt stand er in einem Ge- Weil der Atomphysiker einen direkten und lokalisierten Bezug
gensatz zu denen, die nur Kompetenzen im Dienste des Staates zur Institution Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Wissen
oder des Kapitals waren (Ingenieure, Richter, Lehrer). Seitdem die hatte, intervenierte er; doch weil die atomare Bedrohung die ge-
Politisierung von der spezifischen Aktivität eines jeden her er- samte menschliche Gattung und das Schicksal der Welt betraf,
folgt, verschwindet die Schwelle des Schreibens als sakralisieren- konnte sein Diskurs zugleich der Diskurs des Universalen sein.
des Merkzeichen des Intellektuellen; und es lassen sich nun trans- Unter dem Deckmantel dieses die ganze Welt angehenden Protes-
versale Verbindungen von Wissen zu Wissen, von einem Punkt tes brachte der Atomwissenschaftler seine spezifische Stellung in
der Politisierung zu einem anderen herstellen: So können die der Ordnung des Wissens in Anschlag. Und zum ersten Mal,
Richter und die Psychiater, die Ärzte und die Sozialarbeiter, die glaube ich, wurde der Intellektuelle von der politischen Macht
Arbeiter in den Labors und die Soziologen jeder an seinem eige- nicht mehr wegen des von ihm gehaltenen allgemeinen Diskurses,
nen Ort und auf dem Wege des Austauschs und der Unterstüt- sondern aufgrund des Wissens, dessen Inhaber er war, verfolgt:
zung an einer umfassenden Politisierung der Intellektuellen par- Denn genau auf dieser Ebene stellte er eine politische Gefahr dar.
tizipieren. Dieser Vorgang erklärt, warum bei gleichzeitigem Ich spreche hier nur von den westlichen Intellektuellen. Was in
tendenziellen Verschwinden des Schriftstellers als Galionsfigur der Sowjetunion geschehen ist, hat gewiss in einigen Punkten
der Professor und die Universität vielleicht nicht als Hauptele- Ähnlichkeiten, doch auch Unterschiede in anderen. Man müsste
mente, aber immerhin als Austauscher und als privilegierte Kr.eu- eine vollständige Untersuchung über die wissenschaftliche Dissi-
zungspunkte in Erscheinung treten. Dass aus der Universität und denz im Westen und in den sozialistischen Ländern seit 1945
aus der Lehre politisch ultrasensible Regionen geworden sind, hat durchführen.
mit Sicherheit darin seine Ursache. Und was man Krise der Uni- Man kann annehmen, dass der universale Intellektuelle, so wie
versität nennt, darf nicht als Machtverlust interpretiert werden, er im 19.Jahrhundert und zu Beginn des 20.Jahrhunderts funk-
sondern im Gegenteil als Vervielfältigung und Verstärkung ihrer tioniert hat, in Wirklichkeit aus einer eher besonderen histori-
Machtwirkungen inmitten einer vielgestaltigen Gesamtheit von schen Figur hervorgegangen ist: dem Mann der Gerechtigkeit,
Intellektuellen, die praktisch alle durch sie hindurchgehen und dem Mann des Gesetzes, demjenigen, der der Macht, dem Despo-
sich auf sie beziehen. Die ganze übersteigerte Theoretisierung tentum, den Missbräuchen und der Arroganz des Reichtums die
der Schrift, die man in den 196oer Jahren beobachten konnte, Universalität der Gerechtigkeit und die Billigkeit eines idealen
war zweifellos nur der Schwanengesang darauf: Der Schriftsteller Gesetzes entgegensetzt. Die großen politischen Kämpfe im
kämpfte darin um den Erhalt seines politischen Vorrechts; nur, 18.Jahrhundert sind um das Gesetz, um das Recht und um die
dass es sich dabei eben um eine Theorie handelte, dass es dazu Verfassung, um das, was richtig ist in der Vernunft und in der
wissenschaftlicher Verbürgungen bedurfte, gestützt auf Linguis- Natur, um das, was universal gelten kann und gelten muss, aus-
tik, Semiologie und Psychoanalyse, dass diese Theorie bis auf gefochten worden. Was man heute den Intellektuellen nennt (ich
Saussure oder Chomsky usw. zurückging, und dass sie dermaßen meine den Intellektuellen im politischen und nicht im soziologi-
mittelmäßige literarische Werke zur Folge hatte, das alles beweist, schen oder professionellen Sinne des Wortes, das heißt denjenigen,
dass die Aktivität des Schriftstellers nicht mehr das Handlungs- der im Bereich der politischen Kämpfe von seinem Wissen, von
zentrum war. seiner Kompetenz und von seinem Verhältnis zur Wahrheit Ge-
Wie mir scheint, hat sich diese Figur des spezifischen Intellek- brauch macht), ist meines Erachtens aus dem Rechtskundigen
tuellen seit dem Zweiten Weltkrieg entwickelt. Der Atomphysi- oder jedenfalls aus dem Menschen hervorgegangen, der sich auf
ker - sagen wir es mit einem Wort oder besser mit einem Namen: die Universalität des gerechten Gesetzes berief, unter Umständen
Oppenheimer - bildet vielleicht das Scharnier zwischen dem uni- gegen die Rechtskundigen von Berufs wegen (der Prototyp dieser
versalen Intellektuellen und dem spezifischen Intellektuellen. Intellektuellen ist in Frankreich Voltaire). Der universale Intellek-
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tuelle stammt von dem Rechtskundigen als Würdenträger ab und solute Wissenschaftler, nicht mehr derjenige, der allein die Werte
findet seinen vollkommensten Ausdruck im Schriftsteller als Trä- aller trägt, sich dem Souverän oder den ungerechten Regierungen
ger von Bedeutungen und Werten, in denen alle sich wieder- widersetzt und seinen Schrei bis in die Unsterblichkeit zu Gehör
erkennen können. Der spezifische Intellektuelle stammt von einer bringt; es ist derjenige, der zusammen mit einigen anderen
ganz anderen Figur ab, nicht mehr dem Rechtskundigen als Wür- entweder im Staatsdienst oder gegen ihn über Möglichkeiten ver-
denträger, sondern dem Wissenschaftler als Experten. Ich sagte fügt, die das Leben fördern oder definitiv beenden können. Nicht
gerade, dass er mit den Atomwissenschaftlern ins Rampenlicht mehr Sänger der Ewigkeit, sondern Strategie des Lebens und des
der Bühne trat. In Wirklichkeit bereitete er sich bereits in den Todes. Wir erleben derzeit das Verschwinden des großen Schrift-
Kulissen seit langer Zeit darauf vor, war er sogar in zumindest stellers.
einer Ecke der Bühne seit, sagen wir, dem Ende des 19.Jahrhun- Gehen wir nun auf genauer bestimmte Dinge ein. Zugestanden
derts präsent. Sicherlich mit Darwin oder eher mit den nachdar- sei, mit der Entwicklung der technisch-wissenschaftlichen Struk-
winschen Evolutionisten beginnt sein eigentlicher Auftritt. Die turen in der Gesellschaft unserer Zeit, die vom spezifischen Intel-
stürmischen Beziehungen zwischen dem Evolutionismus und lektuellen seit einigen Jahrzehnten eingenommene Wichtigkeit
den Sozialisten und die sehr zwiespältigen Auswirkungen des und die Beschleunigung dieser Bewegung seit 1960. Der spezifi-
Evolutionismus (zum Beispiel auf Soziologie, Kriminologie, sche Intellektuelle stößt auf Hindernisse und setzt sich Gefahren
Psychiatrie und Eugenik) signalisieren den wichtigen Moment, aus. Der Gefahr, sich auf umständebedingte Kämpfe, auf sektor-
in dem es im Namen einer »lokalen« - so wichtig sie sein mag - bezogene Forderungen zu beschränken. Dem Risiko, sich von
wissenschaftlichen Wahrheit zur Intervention des Wissenschaft- politischen Parteien oder gewerkschaftlichen Apparaten bei der
lers in die politischen Kämpfe seiner Zeit kommt. Historisch stellt Führung dieser lokalen Kämpfe manipulieren zu lassen. Vor allem
Darwin diesen Wendepunkt in der Geschichte des westlichen In- dem Risiko, mangels einer globalen Strategie und äußerer Stützen
tellektuellen dar (Zola ist von diesem Gesichtspunkt aus sehr be- diese Kämpfe nicht weiterentwickeln zu können. Auch dem Ri-
deutsam: Er ist der Typus des universalen Intellektuellen, Träger siko, dass niemand oder nur sehr begrenzte Gruppen dem Folge
des Gesetzes und Kämpfer für die Gerechtigkeit, aber er belädt leisten. In Frankreich hat man gegenwärtig ein Beispiel vor Au-
seinen Diskurs mit einem umfassenden Bezug auf Nosologie und gen. Der um das Gefängnis, das Strafsystem und den polizeilich-
Evolutionismus, den er für wissenschaftlich hält, den er im Übri- gerichtlichen Apparat geführte Kampf hat sich, weil einsam mit
gen sehr schlecht beherrscht und dessen politische Wirkungen auf Sozialarbeitern und ehemaligen Häftlingen entwickelt, mehr und
seinen eigenen Diskurs äußerst zweischneidig sind). Man müsste mehr von allem entfernt, was ihm eine Ausweitung erlauben
sich bei einer näheren Untersuchung ansehen, wie die Physiker konnte. Er hat sich von einer ganz und gar naiven und archaischen
um die Jahrhundertwende in die politische Auseinandersetzung Ideologie vereinnahmen lassen, die aus dem Delinquenten sowohl
eingetreten sind. Die Diskussionen zwischen den Theoretikern das unschuldige Opfer als auch den reinen Aufrührer, sowohl das
des Sozialismus und den Theoretikern der Relativität sind in die- Lamm des großen gesellschaftlichen Opfergangs als auch den jun-
ser Geschichte von größter Wichtigkeit gewesen. gen Wolf künftiger Revolutionen macht. Diese Rückkehr zu den
Jedenfalls sind Biologie und Physik auf bevorzugte Weise die anarchistischen Themen vom Ende des 19.Jahrhunderts ist nur
Bildungszonen dieser neuen Gestalt des spezifischen Intellektuel- durch eine fehlende Einbettung in die aktuellen Strategien mög-
len. Die Ausweitung der technisch-wissenschaftlichen Strukturen lich geworden. Und das Ergebnis ist eine tiefe Spaltung zwischen
im Bereich der Ökonomie und der Strategie haben ihm seine diesem eintönigen und lyrischen Liedchen, das freilich nur in
wirkliche Bedeutung gegeben. Die Figur, in der sich die Funk- allerkleinsten Gruppen verstanden wird, und einer Masse, die gute
tionen und das Ansehen dieses neuen Intellektuellen konzen- Gründe hat, das nicht für bare Münze zu nehmen, die vielmehr
trieren, ist nicht mehr der geniale Schriftsteller, sondern der ab- aufgrund der mit Bedacht geschürten Furcht vor der Kriminalität
210 1 977 192 Gespräch mit Michel Foucault 211

die Aufrechterhaltung, ja sogar die Verstärkung des gerichtlichen werden: die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen ob-
und polizeilichen Apparates akzeptiert. liegt, was als wahr fungiert.
Meines Erachtens ist es für uns an der Zeit, die Funktion des In Gesellschaften wie den unseren ist die politische Ökonomie
spezifischen Intellektuellen neu auszuarbeiten; und nicht aufzuge- der Wahrheit durch fünf historisch wichtige Merkmale charak-
ben, trotz der Sehnsucht so mancher nach den großen universalen terisiert: Die Wahrheit ist auf die Form des wissenschaftlichen
Intellektuellen(» Wir brauchen«, sagen sie, »eine Philosophie, eine Diskurses und auf die Institutionen, die ihn hervorbringen, aus-
Weltanschauung«). Man braucht nur an die bedeutenden, in der gerichtet; sie unterliegt einem konstanten ökonomischen und
Psychiatrie erreichten Ergebnisse zu denken: Sie beweisen, dass politischen Anreiz (ein Wahrheitsbedarf ebenso sehr für die öko-
diese lokalen und spezifischen Kämpfe kein Irrtum gewesen sind nomische Produktion wie für die politische Macht); sie ist in
und nicht in eine Sackgasse geführt haben. Man kann sogar sagen, diversen Formen Gegenstand einer immensen Verbreitung und
dass die Rolle des spezifischen Intellektuellen, gemessen an den Konsumtion (sie zirkuliert in Erziehungs- oder Informations-
politischen Verantwortungen, die er als Atomphysiker, Genetiker, apparaten, deren Ausdehnung im Gesellschaftskörper trotz einiger
Informatiker, Pharmakologe usw. wohl oder übel zu übernehmen strenger Begrenzungen relativ weit reicht); sie wird unter der nicht
genötigt ist, immer wichtiger werden muss. Es wäre nicht nur ausschließlichen, aber dominanten Kontrolle durch einige große
gefährlich, ihn in seinem spezifischen Verhältnis zu einem lokalen politische oder ökonomische Apparate (Universität, Armee,
Wissen unter dem Vorwand zu disqualifizieren, dies sei eine An- Schrift, Medien) hervorgebracht und übermittelt, und schließlich
gelegenheit für Spezialisten, die die Massen nichts angeht (was ist sie der Einsatz einer umfassenden politischen Auseinanderset-
doppelt falsch ist: sie haben ein Bewusstsein davon und sie sind zung und sozialen Konfrontation (ideologische Kämpfe).
auf jeden Fall davon betroffen), oder er diene den Interessen des Meines Erachtens muss man jetzt beim Intellektuellen in Rech-
Kapitals bzw. des Staates (was wahr ist, aber zugleich auch den nung stellen, dass er folglich nicht der Träger universaler Werte ist;
strategischen Platz aufzeigt, den er einnimmt), oder auch, er ver- er ist schlicht jemand, der eine spezifische Position innehat - von
breite eine szientistische Ideologie (was nicht immer wahr und einem spezifischen Charakter jedoch, der an die allgemeinen
gegenüber dem wirklich Erstrangigen: den den wahren Diskursen Funktionen des Wahrheitsdispositivs in einer Gesellschaft wie
eigentümlichen Wirkungen, zweifellos nur von sekundärer Be- der unseren gebunden ist. Mit anderen Worten, der Intellektuelle
deutung ist). unterliegt einem dreifachen spezifischen Charakter: dem spezifi-
Das Wichtige ist meines Erachtens, dass die Wahrheit weder schen Charakter seiner Klassenposition (Kleinbürger im Dienste
außerhalb der Macht noch ohne Macht ist (sie ist einem Mythos des Kapitalismus, organischer Intellektueller des Proletariats),
zum Trotz, dessen Geschichte und Funktionen man aufgreifen dem spezifischen Charakter seiner Lebens- und Arbeitsbedingun-
müsste, nicht die Belohnung freier Geister, nicht das Kind langer gen, gebunden an seine conditio als Intellektueller (sein For-
Einsamkeiten, nicht das Vorrecht derer, die sich frei machen schungsbereich, sein Platz in einem Labor, die ökonomischen
konnten). Die Wahrheit ist von dieser Welt; sie wird in ihr dank oder politischen Anforderungen, denen er sich unterwirft oder
vielfältiger Zwänge hervorgebracht. Und sie hat in ihr geregelte gegen die er aufbegehrt, in der Universität, im Krankenhaus
Machtwirkungen inne. Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsord- usw.), und schließlich dem spezifischen Charakter der Wahrheits-
nung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursar- politik in unseren Gesellschaften. Und damit kann seine Position
ten, die sie annimmt und als wahr fungieren lässt; die Mechanis- eine allgemeine Bedeutung annehmen und bringt der lokale oder
men und die Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und spezifische Kampf, den er führt, Wirkungen oder Implikationen
falschen Aussagen zu unterscheiden; die Art und Weise, wie mit sich, die nicht einfach nur von professionellem oder sektora-
man die einen und die anderen sanktioniert; die Techniken und lem Belang sind. Er fungiert oder er kämpft auf der allgemeinen
die Verfahren, die wegen des Erreichens der Wahrheit aufgewertet Ebene dieser für die Strukturen und für das Funktionieren unserer
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Gesellschaft so wesentlichen Ordnung der Wahrheit. Es gibt einen senschaftliche Praxis mit einer richtigen Ideologie einhergeht.
Kampf für die Wahrheit oder zumindest um die Wahrheit, und Sondern zu wissen, ob es möglich ist, eine neue Politik der Wahr-
dabei ist, um es noch einmal zu sagen, zu berücksichtigen, dass ich heit zu konstituieren. Das Problem ist nicht, das Bewusstsein der
mit Wahrheit nicht die Gesamtheit der wahren Dinge meine, die Leute oder das, was sie im Kopf haben, zu verändern, sondern die
es zu entdecken oder annehmbar zu machen gilt, sondern die politische, ökonomische und institutionelle Produktionsordnung
Gesamtheit der Regeln, denen entsprechend man das Wahre der Wahrheit.
vom Falschen scheidet und man mit dem Wahren spezifische - Es kommt nicht darauf an, die Wahrheit von jedem Macht-
Machteffekte verbindet; und das ist auch so zu verstehen, dass system zu befreien - was ein Trugbild wäre, da die Wahrheit selbst
es sich nicht um einen Kampf zugunsten der Wahrheit, sondern Macht ist -, sondern die Macht der Wahrheit von den Formen
um einen Kampf um den Status der Wahrheit und der von ihr einer (sozialen, ökonomischen, kulturellen) Hegemonie zu be-
übernommenen ökonomisch-politischen Rolle handelt. Man muss freien, innerhalb deren sie derzeit funktioniert.
die politischen Probleme der Intellektuellen nicht in einer Termi- Alles in allem dreht sich die politische Frage nicht um Irrtum,
nologie von Wissenschaft/Ideologie, sondern in einer Terminolo- Illusion, entfremdetes Bewusstsein oder Ideologie; sie dreht sich
gie von Wahrheit/Macht denken. Und an der Stelle kann dann um die Wahrheit selbst. Daher die Wichtigkeit Nietzsches.
auch die Frage nach der Professionalisierung des Intellektuellen übersetzt von Hans-Dieter Gondek
und nach der Teilung zwischen manueller und intellektueller Ar-
beit neu in Angriff genommen werden.
Das alles muss recht verworren und unsicher erscheinen. Un-
sicher, natürlich, und das, was ich da sage, sage ich vor allem mit 1 93
dem Anspruch einer Hypothese. Damit es etwas weniger verwor-
Vorlesung vom 7.Januar 1976
ren wäre, müsste ich freilich einige Sätze vortragen - nicht im
Sinne allgemein anerkannter Dinge, sondern allein als Angebot »Corso de! 7 gennaio 1976« (»Cours du 7 janvier 1976«), in: Fontana, A., und
an zukünftige Versuche oder Erprobungen: Pasquino, P. (Hrsg.), Microfisica del potere: interventi politici, Turin 1977,
- Unter Wahrheit ist eine Gesamtheit von geregelten Verfahren s. 163-177.
für die Produktion, das Gesetz, die Verteilung, das Zirkulieren-
lassen und das Funktionieren von Aussagen zu verstehen. Ich möchte versuchen, bis zu einem bestimmten Grad eine Reihe
- Die Wahrheit ist zirkulär mit Machtsystemen, die sie hervor- von Untersuchungen abzuschließen, die ich seit vier oder fünf
bringen und unterhalten, und mit von ihr induzierten und sie wei- Jahren, praktisch seitdem ich hier bin, durchgeführt habe, und
terführenden Machtwirkungen verbunden. Ordnung der Wahr- bei denen mir allmählich klar wird, dass sich in ihnen, ebenso
heit. für Sie wie für mich, die Unannehmlichkeiten häufen. Es waren
- Diese Ordnung ist nicht einfach nur ideologisch oder über- Untersuchungen, die sehr eng beieinander lagen, ohne letztlich
bauhaft; sie ist eine Bedingung für die Ausbildung und Ent- ein zusammenhängendes oder kontinuierliches Ganzes zu bilden;
wicklung des Kapitalismus gewesen. Und sie funktioniert auch, es waren bruchstückhafte Untersuchungen, von denen letztlich
vorbehaltlich gewisser Modifizierungen, in der Mehrzahl der so- keine bis zu ihrem Abschluss gelangt ist, und sie haben auch keine
zialistischen Länder (ich lasse die Frage China offen, das ich nicht Fortsetzung erfahren; es waren verstreute und zugleich sich wie-
kenne). derholende Untersuchungen, die in dieselben Bahnen, in diesel-
- Das wesentliche politische Problem für den Intellektuellen ben Themen, in dieselben Begriffe zurückfielen. Es waren kurze
ist nicht, die ideologischen Inhalte zu kritisieren, die mit der Wis- Bemerkungen zur Geschichte des Strafverfahrens; einige Kapitel,
senschaft verbunden wären, oder dafür zu sorgen, dass seine wis- die die Entwicklung und Institutionalisierung der Psychiatrie im

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