You are on page 1of 24

„Mir wird bewusst, dass ich au-

ßerhalb dieses Viertels keinen


Menschen kenne…“
Eine Analyse der Artikulationsräume im Roman
Beschreibung einer Krabbenwanderung von Ka-
rosh Taha.

Jochen Brusberg

Student
Vt 2022
Examensarbete, 15 hp

Abstract

Denna studie undersöker romanen „Beschreibung einer Krabbenwanderung“ från Karosh


Taha med hjälp av postkoloniala teorier. I analysen fokuseras på hur huvudaktören Sanaa
möter normer och synvinklar i sina diskurser med andra hybrida subjekt i det Tredje
rummet (Artikulationsraum), omförhandlar tankesätt och transformeras mot nya möjli-
gheter och därmed ett mer självständigt, oberoende liv. Analysen baseras på Homi Bhab-
has postkoloniala hybridiseringsteori med fokus på det Tredje rummet (Artikulations-
raum). I arbetet presenteras en allmän beskrivning om postkoloniala teorier samt be-
grepp och litteraturvetenskapliga studier och deras användning i studier av litteratur som
utspelar sig i migrantmiljö. Därtill följer ett avsnitt med en mer detaljerad förklaring av
Bhabhas teori om det Tredje rummet. Genom close reading analyseras texten avseende
hybrida egenskaper samt diskurser som förs bland nyckelaktörer i tre olika Tredje rum.
Med hjälp av wide reading belysas den kulturella och historiska kontexten. Analysen har
lett fram till slutsatsen, att Taha skapade ett modernt och konstruktivt narrativ om post-
koloniala förhållanden och om migration.

Nyckelord: Postkoloniale Theorie, Kulturelle Differenz, Hybridität, Migration, Artikula-


tionsraum

Student
Vt 2022
Examensarbete, 15 hp

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ...5
1.1. Das koloniale Erbe und der Weg zu postkolonialen Theorien ........................................5
1.2. Einführung in die Primärliteratur...................................................................................6
1.3. Ziel und Fragestellungen .................................................................................................7
1.3.1.Artikulationsraum: Das Hochhaus ................................................................................7

1.3.2. Artikulationsraum: Sanaa und Adnan .........................................................................7

1.3.3. Artikulationsraum: Sanaa und Omer ..........................................................................8

2. Forschungshintergrund ..................................................................8
2.1. Ort und Raum ..................................................................................................................8
2.2. Artikulationsräume .........................................................................................................9
2.3. Postkoloniale Migration ................................................................................................10
2.4. Literaturwissenschaftliche Studien ...............................................................................11
2.4.1. Beschreibung der Kolonisierung .................................................................................11

2.4.2. Prozess der Entkolonisierung und Migration ............................................................12

3. Methode .....12

4. Analyse ......13
4.1. Artikulationsraum 1: Das Hochhaus .............................................................................13
4.1.1. Die Bewohner*innen als Gruppe .................................................................................13

4.1.2. Sanaa und Asija ...........................................................................................................14

4.1.3. Sanaa und Khalida nebst Freundin Baqqe .................................................................15

4.2. Artikulationsraum 2: Sanaa und Adnan .......................................................................17


4.3. Artikulationsraum 3: Sanaa und Omer .........................................................................19

5. Diskussion und Ausblick ...............................................................20

6. Literaturliste ................................................................................23

Student
Vt 2022
Examensarbete, 15 hp

1. Einleitung

„Ich sehe das bei vielen Kolleg:innen, die etwas erklären, was sie nicht erklären müssten,
wenn sie zu mir sprechen würden. Unbewusst schreiben wir also für ein Publikum, das uns
nicht verstehen wird. Die Rezeption der Arbeit von migrantischen Schriftsteller:innen ent-
larvt, wie diese Literatur verstanden wird. (Und auch dieser Essay richtet sich größtenteils
an ein ignorantes Publikum.)“ (Karosh Taha 2021)

1.1. Das koloniale Erbe und der Weg zu postkolonialen


Theorien
Die Kolonialzeit hat der Welt ein schweres Erbe hinterlassen, das nicht nur in den ehema-
ligen Kolonien zu spüren ist, sondern auch die Gegenwart der ehemaligen Kolonialmäch-
te prägt. Die mediale Präsenz der kolonialen Erfahrungen ist groß und wird durch den
Globalisierungsprozess und die sozialen Netzwerke, die einen Austausch an Informatio-
nen ermöglichen, verstärkt. Diese Informationsfülle bzw. der mögliche Austausch an In-
formationen, hat einen Einfluss auf Individuen und den geführten Diskurs sowohl in den
ehemaligen Kolonien als auch in den westlichen Ländern, die die ehemalige Kolonial-
macht repräsentieren (Conrad, 2013).

Das Koloniale schafft durch sein Wesen immer einen Bezug zu einem Ort, auch wenn die
Bedeutung weit über den Ortsbezug hinausgeht. Orte wurden von den Kolonialmächten
konstruiert, ohne dabei Rücksicht auf die Menschen und ihre soziale Umgebung zu neh-
men (Said, 2019).

Dieser räumliche Aspekt führte, ganz im Sinne der Kolonialmächte, zu einem Denkkon-
strukt aller Betroffenen, welches eine Einteilung in „ich bzw. wir“ und einem „die“, also
die anderen, möglich machte. Je nach Konstruktion bzw. Zuordnung befindet man sich
auf der einen oder der anderen Seite, fühlt die/der eine oder die/der andere zu sein. Eine
Geschichtsschreibung erfolgte nur einseitig von den Kolonialmächten. Seit einigen Jahr-
zehnten begannen Autor*innen aus den ehemaligen Kolonien ihre eigenen Interpretatio-
nen kolonialer Geschichte zu erzählen. Ihre fiktionalen Protagonist*innen haben ihre ei-
gene Sicht, die „der anderen“ und teilweise sprechen sie ihre eigenen Sprachen, die „der
anderen“. Die vorherrschenden Themen sind: „wie nehme ich mich selbst wahr“, „wie
werde ich wahrgenommen“ und „wie würde ich gerne wahrgenommen werden“. Das Ziel
dieser Autor*innen ist es, sich mit dem kolonialen Erbe kritisch auseinanderzusetzen,
Stereotype zu brechen und eine radikale Veränderung der Deutungshoheit der ehemali-
gen Kolonialmächte zu erreichen (Neumann, 2010).

Neben der Fokussierung auf reine koloniale Relationen, also Menschen, die der Kolonisa-
tion direkt ausgesetzt waren und Menschen, die die Kolonisation betrieben haben, be-
schäftigt sich der postkoloniale Diskurs auch mit den Auswirkungen der dem Kolonialis-
mus eigenen Denkstrukturen auf die westlichen Metropolen in einer postkolonialen Zeit.
Ha (2013) betrachtet die postkolonialen Kritiken als diskursiven Ausdruck eines globalen
Widerspruchs, der die Prämissen der eigenen Ausgangslage als Möglichkeit der Reflexion
begreift. Dies schließt eine postkoloniale Form der kulturellen Glokalisierung, die Aus-
wirkung globaler Effekte auf die lokale Ebene ein, die die transkulturellen Lebensbedin-
gungen im Alltag urbaner Zentren kennzeichnen. Durch transkontinentale Migrations-

bewegungen und kulturelle Zirkulation entstehen transnationale Räume und hybride Kul-
turen (Ha, 2013).

Der Diskurs schlägt sich auch in der Literatur nieder. Durch die Eigenschaft von Litera-
tur, eigene fiktive Welten entstehen lassen zu können, werden diese „kolonialen“ Erfah-
rungen neu erzählt und neu verhandelt. Durch referenzielle Bezugnahme können Orte
oder begrenzte Räume entstehen, die uns an konkrete Plätze, Gebäude oder Städte erin-
nern, aber fiktiv sind und dazu dienen, einen universellen Bezug herstellen zu können.
Mit ästhetischen Mitteln kann Literatur dabei nicht nur ausdrücken und beschreiben,
sondern auch spielerisch Orte verfremden und ausgestalten. Darüber hinaus werden ap-
pellative Möglichkeiten genutzt, um auf suggestive Weise Stellung zu beziehen und somit
ethische Fragestellungen wirksam zu verhandeln (Jeßing, Köhnen 2017).

Etwas später als in der englischsprachigen Gegenwartsliteratur veröffentlichen seit eini-


gen Jahren auch eine ganze Reihe meist junger deutschsprachiger Autor*innen Texte, in
denen sie ihre inter- und transkulturellen Lebenserfahrungen aufgreifen und erzählen.
Die Autor*innen finden in ihrem Umfeld, in ihrem Alltag eine Fülle von Themen, die sie
reflektieren und in ihren Texten verarbeiten. Ein Kernthema ist die Auseinandersetzung
mit kultureller Differenz, die nicht länger als Festschreibung einer Andersartigkeit oder
Fremdheit begriffen werden soll, sondern als eine Summe aus Erfahrungen aus verschie-
denen Gemeinschaften mit mehr oder weniger verbindlichen kulturellen Werten, die als
Verknüpfung die kulturelle Identität der Protagonist*innen charakterisieren. Oftmals
werden die Schicksale der Individuen bzw. Protagonist*innen in der Gegenwart mit Be-
richten ihrer Vorfahren verknüpft, um damit Widersprüche und Machtstrukturen zu er-
klären (Neumann, 2010). Diese Momente, die bei der Artikulation von kultureller Diffe-
renz produziert werden, beschreibt Homi Bhabha (2000) als Zwischenräume:

Diese »Zwischen«-Räume stecken das Terrain ab, von dem aus Strategien - individueller
und gemeinschaftlicher - Selbstheit ausgearbeitet werden können, die beim aktiven Prozess,
die Idee der Gesellschaft selbst zu definieren, zu neuen Zeichen der Identität sowie zu inno-
vativen Orten der Zusammenarbeit und des Widerstreits führen. (Bhabha 2000)

Er nennt diese Zwischenräume auch „Third space“, also den dritten Raum oder Artikula-
tionsräume.

1.2. Einführung in die Primärliteratur


Die Autorin Karosh Taha kam als 10-jährige 1997 ins Ruhrgebiet. Geboren wurde sie im
Nordirak, kulturelle Differenz ein selbstverständlicher Begleiter. Sie studierte Anglistik
und Geschichte in Deutschland und debütierte 2018 mit ihrem Roman Beschreibung ei-
ner Krabbenwanderung für den sie diverse Preise und Stipendien erhielt (Taha 2018).

Der Roman wird homodiegetisch erzählt. Die Heldin Sanaa fungiert als Ich-Erzählerin,
wohnt in einem Hochhaus in einer nicht benannten Stadt. Die Autorin vermeidet in ih-
rem Text einen direkten Bezug zur Umgebung. An wenigen Stellen wird direkt Deutsch-
land erwähnt.

Sanaa ist die Tochter von Asija und Nasser, die an einer Universität studiert und hält da-
mit eine Verbindung zum Leben außerhalb des Hochhauses aufrecht. Auf sie konzentriert
sich die Handlung. Daneben existieren ihre depressive Mutter Asija, die kaum Deutsch

spricht, ihr Vater Nasser, der vermeintlich eine Affäre mit einer Türkin unterhält, und
ihre Schwester Helin. Sie leben zusammen in einer Wohnung.

Ständige Besucher der Familie sind andere Bewohner des Hochhauses, u.a. die Schwester
des Vaters, Khalida und ihre Freundin Frau Zakholy, genannt Baqqe (Frosch). Zu einem
späteren Zeitpunkt kommt noch Dayka Idris mit Ehemann und Sohn ins Spiel. Alle
kommen ursprünglich aus dem Nordirak und sind Kurd*innen. Die Handlung beschränkt
sich zum größten Teil auf die Wohnung von Sanaas Familie.

Im Hochhaus leben die meisten Menschen, die die Protagonistin kennt. Alle haben einen
ähnlichen soziokulturellen Kontext. In diesen Relationen entstehen wichtige Artikulati-
onsräume für Sanaa. Ihre Familie kam vor vielen Jahren nach Deutschland, in dieses
Hochhaus, weil der Vater, Nasser, dies unbedingt wollte. Die Mutter haderte lange mit
Nassers Entscheidung, die letztendlich eine Depression bei ihr auslöste.

Um zu studieren, um ihre beiden Liebhaber zu treffen oder um zu feiern, verlässt Sanaa


das Hochhaus, diesen abgegrenzten homogenen Ort, stundenweise. Die Protagonist*in-
nen an diesen „anderen“ Orten artikulieren sich auf eine andere, fremde Weise. Sie hat
sich diese Räume, in denen sie wohnt, sich bewegt und in denen sie träumt, ihren Voraus-
setzungen entsprechend konstruiert und abgegrenzt. Sie macht Erfahrungen mit „Zwi-
schenräumen“ auf der Suche nach mehr Selbstbestimmung.

1.3. Ziel und Fragestellungen


Das Ziel der folgenden Arbeit ist, drei der von Karosh Taha konstruierten „Artikulations-
räume“ ihrer Protagonistin Sanaa, einer jungen Studentin, die von migrantischer Hybri-
dität und damit mehrfacher kultureller Zugehörigkeit geprägt ist, zu untersuchen, und die
Bedeutung, die diesen Räumen bezüglich kultureller Differenz im Prozess zu mehr
Selbstbestimmung zugemessen wird, herauszuarbeiten.

Die Fragestellung ist, wie sich Sanaas Hybridität auf den Prozess zu mehr Selbstbestim-
mung in den drei Artikulationsräumen auswirkt. In den drei gewählten Artikulations-
räumen, dem Hochhaus, Adnan und Omer tritt das Spannungsfeld Sanaas zwischen dem
„ich“ und den „anderen“ am deutlichsten zu Tage.

1.3.1.Artikulationsraum: Das Hochhaus


Das Hochhaus stellt in erster Linie einen Ort dar. In diesem Hochhaus befinden sich die
Menschen, mit denen die Protagonistin soziale Kontakte pflegt, Menschen, die sie fast
täglich trifft, an deren Leben sie teilhat und die ihrem Leben Aufmerksamkeit schenken.
Die Protagonist*innen gehören einer Religion an und haben ähnliche kulturelle Traditio-
nen. Der Ort wird zum Artikulationsraum, der das Geschehen der Agierenden prägt. Eine
Grenze des Raumes ist ersichtlich, jedoch nicht statisch. Es gibt Möglichkeiten, diese
Grenzen zu überschreiten bzw. sie neu zu verhandeln.

1.3.2. Artikulationsraum: Sanaa und Adnan


Die Begegnungen mit Adnan finden zwar an detailliert beschriebenen Orten statt, die
auch eine Bedeutung haben, z.B. die Universität oder Adnans Wohnung, dienen jedoch in
erster Linie der Artikulation. Die Basis ist eine vermeintlich ähnliche Kultur mit Abgren-
zung zur Umwelt, die die dominierende, „andere“ Kultur darstellt. Adnan ist jedoch auch
Teil dieser anderen Kultur und lebt bereits seine Hybridität aus, was Sanaa erst langsam

wahrnimmt. Dieser Artikulationsraum befindet sich ausschließlich außerhalb des Hoch-


hauses und ist nicht direkt davon beeinflusst.

1.3.3. Artikulationsraum: Sanaa und Omer


Der dritte Raum lässt konkrete Ortsbezüge fast gänzlich vermissen. Bei diesem Artikula-
tionsraum handelt es sich um die Beziehung von Sanaa zu Omer. Im Text gibt es kurze
Sequenzen von Omers Wohnung oder einer Bar, die die beiden besuchen, jedoch haben
diese Orte keine Bedeutung, sondern skizzieren im Sinne Bhabhas verschiedene Schau-
plätze des gleichen Artikulationsraumes.

2. Forschungshintergrund
Zum Thema Postkolonialismus finden sich seit den 1950er Jahren eine Vielzahl von Tex-
ten z.B. belletristische, mit essayistischem Charakter, oder auch reine Forschungsstudien.
Diese Texte beschreiben oder analysieren das Thema Kolonialismus und seine Folgen
hinsichtlich Identitätsfindung von Menschen im Kontext eines Ortes/Raumes in einer
postkolonialen Welt. Nachdem bereits in den 1950er und 1960er Jahren u.a. durch die
Texte Frantz Fanons „Schwarze Haut, weiße Masken“, (Peau Noire, masques blancs,
1952) und „Die Verdammten dieser Erde“ (Les damnés de la terre, 1961), erschienen mit
einem Vorwort von Jean-Paul Sartre, die koloniale Situation, der grassierende Rassismus
und der Widerstand gegen koloniale Machtstrukturen Gegenstand der Analysen waren,
entsteht in den 1970er Jahren ein neuer Diskurs, vorwiegend in den USA und Großbri-
tannien.

Nach dem Erscheinen Edward Saids Text „Orientalism“ im Jahr 1978 beschleunigt sich
die Entwicklung dieser neuen Forschungsrichtung. In den 1980er Jahren kommt es zu
einer vermehrten Theoriebildung, einhergehend mit Begrifflichkeiten wie Hybridität, Al-
terität, Subalternität, Mimikry und Zentrum/Peripherie, die später in dieser Arbeit Er-
wähnung finden werden, die die postkoloniale Problematik konkreter und mit größerer
Trennschärfe zu analysieren vermochten. Neben Saids initialer Studie „Orientalism“, die
1978 erschien, und seinen späteren Forschungen finden die Arbeiten von Homi Bhabha
und Gayatri Chakravorty Spivak große Aufmerksamkeit.

2.1. Ort und Raum


Ein zentrales Element, welches sowohl von Frantz Fanon in seinen Untersuchungen zu
den Kolonialisierten in den Metropolen Frankreichs als auch von Edward Said und vor
allem später bei Homi Bhabha aufgegriffen und erforscht wurde, ist die Kategorie
„Raum“. Said greift diese Dimension unter einem mehr geographischen Kontext auf (Los-
sau 2012), indem er sich mit dem Begriff Orientalismus und dem dazu konstruierten phy-
sischen Raum auseinandersetzt. Welchen Raum umschließt der Begriff Orient und welche
Eigenschaften, kulturellen Prägungen und schließlich Identitäten sollen mit diesem Be-
griff verknüpft werden? Welchem Ziel dient diese Konstruktion? Bezüglich der Wahr-
nehmung eines möglichen Raumkonstrukts schreibt er:

„Eine Gruppe von Menschen, die wenige Hektar bewohnen, ziehen um ihr Land eine Grenze
und bezeichnen die jenseits liegenden Gebiete als »das Barbaren-reich«. Diese verbreitete
Praxis, im Geist einen vertrauten Raum als den »unseren« darzustellen und das unvertraute
Außerhalb als den »ihrigen«, könnte eine völlig willkürliche geographische Abgrenzung sein.
Ich spreche deshalb hier von »willkürlich«, weil die imaginäre Geographie der Spielart »un-
ser Land/Barbaren-reich« die Sicht der Barbaren selbst gar nicht einbezieht. Vielmehr ge-

nügt es, dass »wir« die Grenze setzen: Damit konstruieren wir sie als »die«, ihr Gebiet und
ihre Mentalität als verschieden von »unserer«.“ (Said, 2019).

Die für Said daraus resultierende Frage ist, wie prägt ein konstruierter Raum, bei dem es
sich um einen physischen Ort handelt, die Biografien der Akteure, ihre Interaktionen in
diesem Raum und letztendlich ihre Denkstrukturen?

Said (2019) zieht aus einer Analyse der beiden Tragödien von Aischylos Die Perser und
Euripides Die Bakchen die Schlussfolgerung, dass die herabsetzende europäische Sicht
auf den konstruierten Orient bereits sehr früh einsetzte, sich tief verwurzelte und ein we-
sentliches Motiv der imaginären Geografie Europas blieb. Die Linie, die dann von der
westlichen Orientalistik untermauert wird, ist, dass sich Europa mächtig und wortgewal-
tig zeigt und Asien besiegt und kleinlaut. Der Westen verfügt demnach über eine gewisse
Vernunft und Überlegenheit. Darin eingebettet liegt auch die Sicht des Westens auf den
Islam, der in Zügen als Plagiat des Christentums umgedeutet wurde und für etwas Altes
und Überholtes steht. Das beeinflusst die Sicht der Menschen in diesen konstruierten
Räumen des Orients auf sich selbst und ihren Lebensraum nicht positiv. Zudem entstand
durch die Auswirkungen der später einsetzenden Marktwirtschaft ein weiterer, durch
Konsum geleiteter Faktor (Said 2019). Diese beiden Faktoren, sich in einer rückständigen
Umgebung zu befinden und die Erfüllung von Träumen, die einer westlichen Welt zuge-
ordnet werden, können als Inspiration einiger gewertet werden, z.B. die Länder des ima-
ginären Orients zu verlassen um zu den „anderen“, z.B. nach Europa zu gelangen. In
Saids literaturwissenschaftlichen, poststrukturalistischen und diskursanalytischen Ar-
beitsweisen wird der imaginäre Orient als europäische Chiffre des absolut „anderen“ her-
ausgearbeitet (Ha, 2013).

2.2. Artikulationsräume
Bhabha spricht in seinem Text „Die Verortung der Kultur“ von einem „Dritten“, ebenfalls
konstruierten, imaginären Raum der (kulturellen) Äußerung oder Artikulationsraum
(Bhabha 2000). In diesen Artikulationsräumen kommt es zu Überlappungen divergie-
render kultureller Zeichen, die jederzeit neu belegt und rehistorisiert werden können
(Kerner 2012). Für diese komplexen kulturellen Formationen prägte er den Begriff der
Hybridität, die in einer kolonialen Konstellation entstehen und sie zugleich destabilisie-
ren. Seine Annahmen basieren darauf, dass Konzepte in sich geschlossener ethnischer
Kollektive nicht nur keine Bedeutung haben, sondern überhaupt nicht existieren. Kultu-
relle Diskurse basieren auf einem historisch gewachsenen Schema der beiden Pole, „wir“,
welcher als Norm bzw. Ideal angesehen wird, und „die anderen“ mit einer deutlichen
Konnotation des Mangels und der Abnormität. (Sieber 2012). Anders als Fanon versteht
Bhabha Hybridität nicht als Manko, sondern im Gegenteil als unabdingbare Vorausset-
zung für innovatives Denken (Wiegmann 2016).

Des Weiteren stellte Bhabha in seinen Analysen die westliche binäre Logik in Frage, nach
der menschliche Entwicklung ein auf Perfektion ausgerichteter Prozess ist, in dem poten-
tiell alle Phänomene verstandesmäßig begriffen und genauen Kategorien zugeordnet wer-
den können. Bhabha konstatiert, dass anderen Kulturen keine Abweichungen dieser binä-
ren Logik zugestanden wurden. Er geht jedoch noch einen Schritt weiter und analysiert
die Auswirkungen dieser binären Logik auf die Konstellation zwischen den Kolonisierten
und den Kolonialmächten. Nach binärer Ordnung kann es sich bei den Kolonisierten nur
um Opfer oder Widerstandskämpfer handeln. Die Zwischenpositionen, die der Angepass-

ten, Nachahmenden (Mimikry) oder der schlauen Höflichen (Sly civility), die unter den
Kolonialmächten bereits Verwirrung stifteten und später eine Diskussion zur Relativie-
rung kolonialer Schuld beförderten, finden in diesen binären Denkstrukturen keinen
Platz (Bhabha 2000). Bhabha etabliert basierend auf seinen Analysen ein Kulturmodell,
das weder statisch ist noch auf dem Prozess einer linearen Höherentwicklung gründet.
Damit bricht er mit der modernen europäischen Logik, dass sich Moderne und Tradition
antagonistisch zueinander verhalten (Sieber 2012).

Bhabha stellt ebenso die Vorstellung in Frage, die eigene Identität, als etwas Statisches
begriffen, finden zu können. In seinem Konzept der Hybridität geht er davon aus, dass
sich Selbstbilder anhand eines Kontextes einschließlich der darin vorkommenden Subjek-
te formen. Da es dadurch mehr zu einer Identifizierung des Subjektes z.B. mit einem Dis-
kurspartner und seiner Verschiedenheit kommt, bleibt auch hier eine Beweglichkeit, ein
stetiger Prozess des Aushandelns bestehen und damit die Dynamik zur Schaffung neuer
Kontexte (Bhabha 2000). Jedes dieser Subjekte ist nach Bhabha von Minderheitendiffe-
renz geprägt. Das bedeutet, dass die Zusammensetzung der bekannten Identitätsfaktoren
wie Geschlecht, Alter, Region etc. bei jedem Subjekt in jedem beliebigen Kontext die Ge-
wichtung verändert. Diese Dynamik ermöglicht es, Identifizierung und Differenz gleich-
zeitig und allen Subjekten zuzuschreiben und diese Hybridität positiv und nicht als Man-
gel wahrzunehmen. Eine Begegnung von Subjekten auf dieser Basis würde nicht länger
auf der binären Logik „wir“ und „die anderen“ fußen, sondern ein neugieriges, konstruk-
tives Entdecken der Differenzen ermöglichen, was neue Möglichkeiten eröffnen kann. Er
stellt im Sinne eines offenen Diskurses die Konstruktion des sogenannten kolonialen Sub-
jekts, also der kontextuell miteinander verbundenen Protagonist*innen in Abrede (Bhab-
ha 2000).

Den postkolonialen Forschungen bezüglich Zwischenräumen, Grenzverschiebungen und


Überschneidungen, sowohl geographisch als auch bezüglich der Artikulation, ist gemein,
zu versuchen, das westliche identitätslogische Denken, welches zur Unterordnung und
Marginalisierung des kolonialen Anderen (migrantischen Anderen) führt, herauszufor-
dern und zu demaskieren (Lossau 2012). Dabei besitzt die Raumdarstellung in der belle-
tristischen Literatur für die Verhandlung von kultureller Differenz und zur Verdeutli-
chung von Grenzen eine Schlüsselfunktion (Neumann 2010).

2.3. Postkoloniale Migration


Frantz Fanon nahm bereits in den 1960er Jahren in seinem Text Die Verdammten dieser
Erde Bezug auf diese transnationalen Aspekte, indem er konstatierte, dass die europäi-
schen Städte ein Produkt der „dritten Welt“ seien. Er begründet dies durch die Mecha-
nismen, die eine Dekolonisation in Gang setzen und wie sich diese auf europäische Städte
auswirken (Fanon 1981). Wieder findet sich ein Bezug auf Orte bzw. Räume. Bei Fanon
sind es vorwiegend die geographisch abgrenzbaren Orte, die im Fokus seiner Betrachtung
stehen. Bezüglich der beschriebenen Mechanismen finden sich jedoch bereits Artikulati-
onsschemata, die den später bei Bhabha beschriebenen Artikulationsräumen ähneln.
Laut Ha (2013) konstatierte Fanon schließlich, dass die Kolonisierung ein wechselseitiger
Prozess zwischen Kolonisierenden und Kolonisierten war (Ha, 2013).

Postkoloniale Theorie kann also auch als eine Perspektive beschrieben werden, die auf
der einen Seite den Verlauf der Rekonstruktion des europäischen Imperialismus und Ko-
lonialismus analysiert und auf der anderen Seite die Kämpfe gegen diese Herrschaftsform

10

dokumentiert und erforscht, ohne dabei theoretische Ansätze des Eingreifens, also Lö-
sungsvorschläge, vorzugeben. Im Fokus stehen dabei Akteure und Akteurinnen, die erst-
mals im Rahmen der Dekolonisierung in Erscheinung treten, so z.B. auch die Menschen
mit migrantischer Hybridität. Postkoloniale Migrant*innen, die von rassistischen und
diskriminierenden Alltagserfahrungen geprägt sind, bilden dabei ein wichtiges Interven-
tionsfeld und rechtfertigen eine Verbindung zu Postkolonialen Theorien (Ha, 2013).

Ha (2013) schlussfolgert, dass Migrationsfragen strukturell in einen historischen, globa-


len, sozioökonomischen, ethnisch-nationalen, kulturell-religiösen und geschlechtsspezifi-
schen Rahmen eingebettet sind, der mit Macht und Ungleichheitsverhältnissen verfloch-
ten ist. Sie sind als Erscheinung der Moderne eng mit kolonialen Erfahrungen verknüpft.
Durch das ökonomische Wachstum und den damit einhergehenden Arbeitskräftemangel
in Westeuropa begann ein Prozess der Internalisierung und Einverleibung des koloniali-
sierten „Anderen“ in Europa (Ha, 2013). Je mehr die Globalisierung fortschreitet und Sti-
le, Räume und Vorstellungen global vermarktet werden, desto mehr lösen sich besondere
Identitäten gebunden an Vergangenheit, Orte, Zeiten und Traditionen auf. Sie werden
von diesen Merkmalen entbunden und erscheinen frei flottierend (Hall 2000). In der
Folge entstehen hybride Subjekte, die nicht mehrere Kulturen oder Traditionen vereinen,
sondern parallel mit diesen leben.

Diese Konzepte orientieren sich an der konkreten Erfahrungswirklichkeit von Migration


und globalem Nomadismus und sind eng verknüpft mit der damit einhergehenden Pro-
blematik kultureller Identitätskonstruktionen sowohl in der postkolonialen als auch in
der globalisierten Welt (Wiegmann 2016).

2.4. Literaturwissenschaftliche Studien


In literarischen Texten, die dem postkolonialen und migrantischen Spektrum zugeordnet
werden können, steht häufig das Thema Identifikationsfindung im Vordergrund. Babka
und Dunker (2020) unterscheiden dabei Texte, die den Prozess der Kolonisierung be-
schreiben und Texte, die den emanzipatorischen Prozess der Entkolonisierung im Fokus
haben. Hier sollen für das Thema dieser Arbeit relevante Beispiele aus der Forschung
aufgezeigt werden, die auf diese beiden Ausrichtungen referieren.

2.4.1. Beschreibung der Kolonisierung


Die Beschreibungen des Prozesses der Kolonialisierung kommen in vielen Texten als
Rückblenden vor, so wie auch bei Taha, die ihre Protagonist*innen vom Nordirak träu-
men und damit Verknüpfungen herstellen lässt, um die kolonialen Denkmuster deutlich
zu machen. Fortmann-Hijazi (2019) analysiert in seiner Studie Gehen, um zu erinnern
u.a. Semier Insayifs Roman Faruq. Im Fokus der Untersuchungen steht die Sprache als
Element. Er stellt am Beispiel des Romans heraus, wie der Stimmverlust des Protagonis-
ten, im Spannungsfeld seiner Herkunftssprache, dem Arabischen, und seiner neuen Spra-
che, dem Deutschen, das Hadern mit der eigenen Identität verkörpern kann. Der Sprach-
verlust fördert wiederum die Sinne für den Klang und die Schrift der arabischen Sprache.
Dies besitzt eine identitätsstiftende Wirkung. Mit einer Metapher, einer Schneelandschaft
in Österreich, verweist er auf einen zeichenentleerten Raum, der die Zugriffslosigkeit auf
Sprache demonstrieren soll. Nach Fortmann-Hijazi (2019) geht es Insayif nicht um das
Verschmelzen zweier kultureller Hintergründe, sondern um die Darstellung des Wechsel-
seitigen, welches den Raum des Dazwischen beschreibt. Die Subjekte verorten sich nicht

11

monolingual oder national, sondern erkennen ihre hybride Identität (Fortmann-Hijazi


2019).

2.4.2. Prozess der Entkolonisierung und Migration


Janz (2019) analysierte verschiedene Texte von Erpenbeck, Jelinek und Obexer, in denen
die Befindlichkeiten der Europäer*innen im Vordergrund stehen. Deren Identitätsfragen
werden untersucht, also der Menschen aus den Ländern der ehemaligen Kolonialmächte.
Für die Protagonist*innen verfängt das gängige Verhaltensmuster, also Bestätigung für
sich selbst darin zu finden, das Fremde („andere“) auszuschließen, nicht mehr und die
eigene Identität wird dadurch in Frage gestellt.

Carolin Schmieding (2018) beschreibt in ihrer Analyse zweier Texte von Ludwig Laher,
Verfahren und Und nehmen was kommt, die Situation von Migrant*innen im gegenwär-
tigen Österreich. Sie arbeitet heraus, dass eine multiperspektivische Erzählweise postko-
loniale Strukturen aufdecken und gleichzeitig dekonstruieren kann. Schmieding fokus-
siert bei ihrer Analyse auf die beiden Merkmale Herkunft und Geschlecht und beschreibt
Hautfarbe und Sprache als identitäts- und alteritätsstiftende Merkmale, also die Identität
wird in Abgrenzung zu anderen gesucht. Die beiden Protagonistinnen der analysierten
Texte werden aufgrund dieser Merkmale zum „Anderen“ stilisiert und diskriminiert.
Schmieding referiert auf Spivak und arbeitet die doppelte Unterdrückung der Frau in die-
sem Kontext heraus (Schmieding 2018).

Domínguez Macías (2019) fokussiert in seiner Arbeit über das Werk von Marica Bodrozic
auf die Raumdarstellung und das Erinnern. Im Werk von Bodrozic werden die Protago-
nist*innen zu Subjekten, die den postkolonialen Diskurs bestimmen. Laut Domínguez
Macías greift Bodrozic das Thema Peripherie und Zentrum in ihrem Werk auf und refe-
riert deutlich auf die kolonialen/postkolonialen Denkstrukturen, die ihren
Protagonist*innen begegnen. Es wird herausgestrichen, dass alles Ungeordnete oder
Chaotische der Peripherie den „anderen“ zugeordnet wird, um den eigenen Diskurs, den
des Zentrums, auf Dauer zu bewahren und zu legitimieren. Referierend auf Bhabha
(2000) schlussfolgert Domínguez Macías, dass die vermeintliche Überlegenheit eines his-
torischen Blickes die Vision der Realität dadurch einschränkt, dass gleichzeitige Gemein-
samkeiten im (Artikulations-) Raum nicht erkannt werden (Domínguez Macías (2019).

3. Methode
Durch die Methode des close reading soll durch textgenaue und detailbezogene Lektüre
des Textes die Konstruktion von Artikulationsräumen im Sinne Bhabhas untersucht wer-
den. Die Protagonistin und ihr Motiv, sich Zwischenräume zu schaffen, um sich artikulie-
ren zu können und dabei zu mehr Selbstbestimmung zu finden, steht bei der Analyse im
Vordergrund.

Methodisch soll durch das wide reading anhand von Co-Lektüre, in diesem Fall Texten
der postkolonialen Theorie, der kulturelle und historische Kontext sichtbar gemacht wer-
den, der wiederum die Bedeutung der Einzelelemente im Text mit dem ihn umgebenden
Diskurs verdeutlicht und verstehbar macht (Hallet 2010). Insbesondere der Kontext der
gesellschaftlichen Zustände in Städten der postkolonialen, westlichen Welt soll herausge-
arbeitet werden. In erster Linie bezieht sich dies auf die Überschneidungen von Postkolo-
nialem und Migrantischem in Stuart Halls Cultural Studies oder Kien Nghi Has Ethnizi-
tät und Migration reloaded und auf die Besonderheiten, die den Kontext einer weibli-
chen hybriden Protagonistin besser verständlich machen, in Sally Haslangers Der Wirk-

12

lichkeit widerstehen, Gayatri Chakravorty Spivaks Can the Subaltern speak und bei Anna
Babkas Analyse Zur Verortung und Perspektivierung von postkolonialen Theorien &
Gendertheorien in der germanistischen Literaturwissenschaft.

4. Analyse
Wie die drei analysierten Artikulationsräume miteinander verknüpft sind, zeigt das fol-
gende Zitat: „Adnan weiß das mit Asija, aber nicht das mit Mammut. Omer weiß das mit
Mammut, aber nicht das mit Asija.“ (Taha 2018, S. 133) Die Grenzziehungen Sanaas sind
scharf, aber verlieren im Verlauf ihre Wirkung. Das Zitat macht deutlich, dass dem Span-
nungsfeld zwischen den gewählten Artikulationsräumen eine besondere Bedeutung inne-
wohnt und die Mutter Asija, aus der Gruppe der Bewohner*innen des Hochhauses, eine
entscheidende Rolle spielt. Mammut findet zwar im Zitat Erwähnung, spielt aber im Ver-
lauf nur eine untergeordnete Rolle.

4.1. Artikulationsraum 1: Das Hochhaus


Innerhalb des Hochhauses werden die Lebensgeschichten verschiedener Mitglieder kur-
discher Familien fiktiv durchgespielt. Das Hochhaus als begrenzter Ort und Raum zur
Artikulation garantiert den Bewohner*innen einen relativ stabilen Kontext, der es mög-
lich macht, Selbstbilder durch immerwährende Wiederholungen von gleichen Aussagen,
mit Träumen, Erinnerungen und mystischen Sequenzen vermengt, zu manifestieren.
„Das Hochhaus ist ein organisches Wesen: Wenn auf der ersten Etage ein Bewohner sich
das Bein bricht, hat das Folgen für die Menschen im ganzen Haus.“ (Taha 2018, S. 69)
Nach Bhabha (2000) handelt es sich bei den Hochhausbewohnern um ein in sich ge-
schlossenes ethnisches Kollektiv von großer Ambivalenz, in dem vieles rehistorisiert, neu
konstruiert und interpretiert wird und auf dem Schema „wir“ und die „anderen“ basiert.

Um dennoch vorhandene feine Unterschiede in den Diskursen herauszuarbeiten, fokus-


siert die Analyse zunächst auf die gesamte Gruppe, um den Kontext zu verdeutlichen, und
später auf die für Sanaas Entwicklung wichtigen Akteurinnen im Hochhaus, die Mutter
Asija und das Duo Khalida/Baqqe.

4.1.1. Die Bewohner*innen als Gruppe


Die Bewohner*innen des Hochhauses werden auf der einen Seite hinsichtlich ihrer Werte
und Traditionen fast klischeehaft homogen beschrieben, dennoch zeigt sich in den Inter-
aktionen eine Varianz an individuellen Handlungsmöglichkeiten und Werten.

Taha nutzt diese Ausgangsbeschreibung in ihrem Roman, um die Hintergründe zu ver-


deutlichen, die Sanaas Leben initial beeinflussten. Eine Dynamik entwickelt sich in
Sanaas Leben immer dann, wenn dieser Ort verlassen wird und neue Räume der Artikula-
tion geschaffen werden. Diese Diskurse, in den Räumen außerhalb, entfalten wiederum
rückwirkend eine neue Dynamik im Hochhaus.

Der Roman ist so aufgebaut, dass für die rezipierende Person das Bild eines Hochhauses
in einer deutschen Stadt entsteht, in dem die Bewohner*innen mehrheitlich aus
Migrant*innen mit kurdischem Ursprung bestehen, die dem gleichen sozioökonomischen
Umfeld angehören. Durch die physische Abgrenzung und die Beschreibung als einen Ort
entsteht gleichzeitig ein Artikulationsraum, in dem sich die Hochhausbewohner selbst
abgrenzen und in dem sie agieren. Die psychodynamische Komplexität der Abhängigkeit
zwischen der Gruppe im Hochhaus und der Gruppe oder den Gruppen außerhalb wird
sehr versteckt und subtil verhandelt.

13

Um diesen Eindruck zu verstärken, lässt Taha ihre Protagonistin von einem Außenposten,
der Bushaltestelle, einem der selbst geschaffenen Zwischenräume, zum Hochhaus reflek-
tieren:
Ich schaue auf das Hochhaus, das mit dreihundertachtundsechzig Augen zurückschaut. Die
Anzahl der Augen entspricht nur zu einem Drittel der Wahrheit, trotzdem halte ich den Bli-
cken stand, ziehe genüsslich an meiner Zigarette und erforsche das Hochhaus wie ein Wim-
melbild: Auf den Balkonen hängt regungslos verwaschene Kleidung an den Wäscheständern,
weil selbst der Wind das Viertel nicht besucht. Auf wenigen Balkonen stehen Blumentöpfe
ohne richtige Blumen, nur mit Löwenzahn, der aus Versehen dort blüht. Neben den Blumen-
töpfen haben einige Bewohner die Winterreifen aufeinandergestapelt, zum Beispiel Familie
Hussein auf der sechsten Etage. Ihr vierjähriger Sohn, dessen Namen ich nicht kenne, der
aber wahrscheinlich auch Hussein heißt, klettert auf die vier Räder, um über das Geländer
gelehnt seine Freunde und Brüder zu rufen. Jedes Mal denke ich: Heute ist es so weit, heute
fliegt der kleine Hussein…Hussein Senior und Frau Hussein erwischen den Kleinen jedes
Mal rechtzeitig, zerren ihn runter und ohrfeigen ihn… (Taha 2018, S.32)

Sanaa beschreibt dies aus der Distanz, sowohl physisch als auch gedanklich. In diesem
Zwischenraum wird deutlich, dass sie sich in einem Prozess der Abgrenzung befindet. Sie
kritisiert die tristen Umstände nicht, sondern zählt sie nur lakonisch auf. Durch diese Er-
zählweise spürt der Lesende ein Missbehagen, einen Zynismus der Protagonistin.

4.1.2. Sanaa und Asija


Eine besondere Bedeutung für die Protagonistin Sanaa spielt der teilweise nonverbal ge-
führte Dialog mit ihrer Mutter Asija. Da Asija depressiv ist, nimmt sie am Leben der Fa-
milie kaum Anteil und vernachlässigt auch den Kontakt mit den anderen Bewohnern des
Hochhauses. Diese versuchen ihrerseits, Asija daran zu erinnern, welche Pflichten sie als
Mutter hat.
Vielleicht wollten sie Asija auch nur daran erinnern, wie eine kurdische Frau ihre Familie zu
ernähren hat, mit Dolma, Kutilk…ein Hochhaus aus Geschirr…jeder Teller eine andere Grö-
ße und Form…an den Rändern gewellt, andere waren platt, manche waren tief und rund,
andere eckig oder oval. (Taha 2018, S. 35)

Die Nachbarschaft zeigt Solidarität und Verbundenheit und bringt der Familie tellerweise
Essen. Dabei wird ein Zusammenhalt der Frauen deutlich gemacht, der auf traditionellen
Regeln und Erwartungen basiert. Mit der Tellermetapher werden jedoch ebenso die fei-
nen Unterschiede herausgestellt, die in dieser Gruppe gleicher Herkunft bestehen. Diese
filigrane Heterogenität weist auf deutlich mehr Artikulationsräume hin, da obwohl ein
statisches Identifikationsmerkmal, die Herkunft dennoch deutliche Differenzen aufwei-
sen kann. Im Sinne kultureller Differenz verhandelt jedes einzelne Subjekt (jeder Teller)
seine Identität, die lediglich durch den jeweiligen Kontext bestimmt ist. Um Asija ihre
Andersartigkeit innerhalb der Gruppe der Hochhausfrauen vorzuwerfen, äußert Khalida:
„Siehst du wie wichtig Nachbarn sind? Ohne Nachbarn ist der Mensch wie ein
Tier.“ (Taha 2018, S. 35)

Für Sanaas Entwicklung schafft das Anderssein Asijas neue Möglichkeiten, nicht zuletzt
durch einen besonderen Austausch. Diesem anderen und besondere Verhältnis zwischen
Sanaa und ihren Eltern wird u.a. im Text dadurch Ausdruck verliehen, dass sie nicht die
Begriffe Mutter oder Vater benutzt, wie der Rest im Hochhaus, sondern von Kindheit an
die Vornamen der Eltern. Auch dies kann als Zwischenraum gesehen werden, ein Artiku-
lationsraum zwischen einem klassischen Eltern-Tochter Verhältnis und freundschaftli-
cher Vertrautheit.

14

Asija ist die einzige Person, die mich verunsichert, weil ich sie nicht einschätzen kann. Zwi-
schen Leben und Sterben gibt es noch einen Zustand; ich meine nicht Koma, ich meine die
Weise, wie Asija unter uns weilt. Sie ist nicht ansprechbar, bis man sich ihr vorsichtig nä-
hert, ihre Schultern berührt und »Asija« haucht. Sie erwacht dann und weint oder lächelt,
als stünde ein alter Freund vor ihr. (Taha 2018, S. 14)

Das Zitat beschreibt das Verhältnis zwischen Mutter und Tochter als liebevoll und den-
noch spröde. Durch einen eingeschränkten Dialog zwischen den beiden, in dem vieles
mystifiziert wird, öffnete Asija wahrscheinlich ihrer Tochter die Möglichkeit, für anderes
offen zu sein und damit einen Zugang zur Außenwelt, also den „anderen“ zu finden, den
Asija nie fand. Zwischen Asija und Sanaa gibt es eine nonverbale Diskursebene, die Asijas
strukturelle Besonderheit herausstreicht. Sanaa ist durch ihren Schulbesuch bilingual
aufgewachsen und der Weg zu den „anderen“ konnte nur über das Sprachverständnis ge-
lingen. Der Artikulationsraum Hochhaus basiert meist auf Arabisch/Kurdisch. Wenn
Sanaa im Hochhaus Deutsch spricht, gerät sie an Grenzen: „Asija und Dayka Idris können
nicht antworten, weil sie beide kein Deutsch verstehen.“ (Taha 2018, S. 184) In Ausnah-
mefällen, in denen andere Anwesende, hier Asija, nicht verstehen sollen, wie z.B. im
Streit zwischen Sanaa und Helin, wechselt Helin ins Deutsche „»Das hast du nicht zu ent-
scheiden«, sagt sie auf Deutsch.“ (Taha 2018, S. 88) Mit Asija kommuniziert Sanaa auch
ohne sprachliche Zeichen, alle anderen Diskurse, außerhalb des Hochhauses, führt Sanaa
auf Deutsch.

Taha datiert den Beginn dieses Umgangs miteinander auf die Flucht der Eltern aus dem
Irak nach Europa. Die Kinder verblieben vorerst bei den Großeltern, während die Eltern
versuchten, in Deutschland das neue Leben vorzubereiten. Sanaas Gefühle zur Mutter
wurden auf die Großmutter Uda (Mutter) übertragen, die sich in der alten Heimat um sie
kümmerte. Aber auch später blieb diese Distanz zur Mutter bestehen. Asija wollte nicht
weg aus dem Irak, Nasser benötigt viele Jahre, um sie zu überzeugen. Lediglich für Nas-
ser schien Europa der Sehnsuchtsort zu sein. Dafür nutzt er die Schussverletzung Asijas.

Er wollte unbedingt nach Europa, nach Europa, nach Europa, wo jeder hinwanderte, weil es
dort anscheinend etwas gab, was auf den anderen Erdteilen nicht existierte. Die Kugel in
Asijas Schulter war ihr Flugticket nach Europa. (Taha 2018, S. 26)

Das Zitat macht deutlich, dass die Entscheidung nach Deutschland zu gehen, nicht ein-
vernehmlich getroffen wurde. Asija erfüllte ihre Pflicht, den Entscheidungen des Ehe-
manns zu folgen, und musste gleichzeitig innerlich verarbeiten, durch ihre Schussverlet-
zung den Schlüssel zum Gelingen dieses Umzugs beigesteuert zu haben. Dieses entschei-
dende Erlebnis veränderte nicht nur den Ort des Paares, sondern auch den Umgang mit-
einander. Für Asija scheint aufgrund dieser Erfahrung die Einsicht gereift zu sein, dass
sie sich dieses Schicksal nicht für ihre Töchter wünscht. Auf die Forderung Khalidas,
Sanaa auf einen Besuch mit in den Irak zu nehmen, der natürlich einem bestimmten tra-
ditionellen Zweck dienen sollte, entgegnet Asija: „»Meine Tochter bleibt bei mir.« Diese
wenigen Worte reichten aus, um mich für den Rest meines Lebens an Asija zu
binden.“ (Taha 2018, S. 93)

Ein Bruch mit Kultur und Tradition, der in einem Zwischenraum reifte. Durch die Zu-
rückgezogenheit muss Asija einen inneren Dialog geführt haben, der ihren konstruierten
Kontext verändert hat, so dass sie eine Option schaffen konnte, die nicht mehr ihr selbst
zugutekommt, aber ihren Töchtern hilft.

4.1.3. Sanaa und Khalida nebst Freundin Baqqe


Als Gegenpol lässt Taha das Duo Tante Khalida und Freundin Baqqe agieren. Zwei ältere
Damen, die sich der Tradition verschrieben haben und dem Leben Sanaas nicht viel ab-

15

gewinnen können. Auch mit ihnen kommuniziert Sanaa regelmäßig. Taha lässt hier ihre
Protagonistin ein wirksames Werkzeug einsetzen. Sanaa erkennt früh, nach ihren ersten
eigenen Erfahrungen mit Cannabis, dass die beiden erträglicher sind, wenn sie ein wenig
davon rauchen. Danach mischt sie das Gras heimlich unter den Tabak, aus dem die Ziga-
retten für die beiden Damen gedreht werden. Obwohl Sanaa diesen Zustand herbeige-
führt hat, entfalten deren Mythen vorerst ihre destruktive Wirkung hinsichtlich ihres
Selbstfindungsprozesses. Dies macht den Zustand ihrer inneren Ambivalenz deutlich. Bei
einer der für die Handlung bedeutendsten Geschichte, geht es um eine Haarsträhne, die
Baqqe von Sanaa abschneidet, um das Kernthema für eine kurdische Frau, der Mann und
die Hochzeit mit ihm, vorherzusagen.
Die vier Männer aus Baqqes Prophezeiung scheinen ihren Platz in meinem Körper gefunden
zu haben. Obwohl Baqqe meine Haarsträhne zu einem Knoten band, fanden die Männer
ihren Weg zu mir, das bedeutet, der aufgelöste Knoten wird nichts bewirken können, ein
fauler Zauber.
Ich sitze in Nassers Schoß.
Omer bleibt für immer in mir.
Adnan hockt in meinen Gedanken und will immer wieder mal bedacht werden.
Der vierte fehlt mir. Ist es Kemal oder doch Mammut? Vielleicht Onkel Agid oder Herr Zak-
holy. Mein Herz rast, als der Volvomann sich in meine Gedanken drängt, der irre Volvo-
mann mit der Flinte (Taha 2018, S. 215).

An diesem Beispiel beschreibt Taha, wie eine innere Verhaftung Sanaas zur Gemeinschaft
im Hochhaus, mit ihren traditionellen Werten vorhanden ist. Sanaa wird als rational
denkender, junger, weiblicher Mensch geschildert, der raucht, Auto fährt, zwei Liebhaber
koordiniert und beide fein säuberlich aus dem Rest seines Lebens heraushält. Sie fühlt
zwar einen inneren Widerstand, kann sich aber aus eigener Kraft vorerst nicht von diesen
destruktiven Zwängen befreien und untersucht ihre Beziehungen anhand eines Aberglau-
bens, der von Khalida und Baqqe in einer Art Ritual eingeführt wird.

»Was passiert jetzt?« fragte ich die Tante. Sie blickte zu mir, die Augen hatten ihr Urteil
gefällt, seitdem hat sich mich nie wieder anders angeschaut.
»Wir retten dich.«
»Wieso retten?«
»Es gibt Frauen deren Verlangen sie ins Verderben lockt.«
»Was ist Verlangen?«
»Eine schlechte Art der Sehnsucht.«
»Was ist Sehnsucht?«
»Halt jetzt den Mund.«
»Ich will zu Asija.«…
»Ich möchte das alles nicht« sagte ich und stand auf. Tante Khalida hielt meinen Arm fest.
»Wenn du ruhig sitzt, geht es schneller und wir können nach Hause gehen. Dayka Yahya
schneidet dir eine Strähne ab, um dich vor gierigen Augen zu schützen, du dummes Mäd-
chen.« (Taha 2018, S. 59)

Erst Asija kann sie im Dialog und durch ihr Agieren aus diesem Zustand herausholen und
damit ihr Selbstbild in einen neuen Kontext rücken, der sie selbstbestimmter werden
lässt.

Meine Schultern fangen an zu beben, und ich will mich zusammengekrümmt in jemandes
Schoß verziehen, der mich vor Tante Khalidas Angriffen schützen kann, der mir zumindest
Macht über mein Leben und dessen Lauf gibt. Die Möglichkeit gibt, selbst zu entscheiden,
wie wir von anderen Menschen gesehen werden (Taha 2018, S. 172).

Die Dialoge zwischen Mutter und Tochter öffnen einen sich seit langem in Stagnation be-
findlichen Zustand Sanaas und lässt sie die Oberhand über sich selbst finden. Im Verlauf

16

des Textes wird zunehmend deutlich, dass sich ihre Suche nicht primär um Identifikati-
onsmerkmale dreht, sondern um Selbstbestimmung. Ein selbstbestimmtes Individuum
kann alle erdenklichen Identifikationsmerkmale kombinieren, verhandeln und schließlich
managen. Es macht dann keinen Unterschied mehr, ob man kurdisch oder deutsch, weib-
lich, männlich, non-binär oder wie alt man ist. Entscheidend ist nur, was im jeweiligen
Artikulationsraum verhandelt wird und wie dies dem Prozess hin zu mehr Selbstbestim-
mung förderlich ist.

Khalida und Baqqe befinden sich ständig in Aktion und können nicht innehalten. Sie wie-
derholen mantraartig ihre traditionellen Vorstellungen und bestätigen sich gegenseitig.
Damit halten sie ihren geschaffenen Kontext am Leben und verharren darin. Die Mutter
Asija dagegen scheint erstarrt, wohl als Reminiszenz an die Bibel und Lot, weil sie eigent-
lich zurück in den Nordirak blickt und wohl auch lange dahin zurückwill. Durch einen
inneren Monolog, der auch als Artikulationsraum begriffen werden kann, schafft sie es
dennoch zu reflektieren und schafft sich und ihren Töchtern einen neuen Kontext. Asija
erstarkt und verändert dabei ebenso ihre physische Präsenz. Ihre verbale Kommunikation
ist bis zum Schluss des Textes auf ein Minimum reduziert, ihre Körpersprache kann je-
doch bewirken, dass sich selbst Nasser, ihr Ehemann, gegen die arrangierte Ehe Sanaas
mit Idris, dem Volvomann, stellt. Diese Kontextveränderung gibt ihr die Kraft, am
Schluss des Textes vor allen Protagonist*innen zu verkünden, dass Idris gerade gut genug
sei, ihrer Tochter hinterherzulaufen wie ein streunender Hund. Diese Aussage und ihr
Auftritt vor versammelter Mannschaft scheinen Sanaa den entscheidenden Antrieb zu
geben, sich gegen die arrangierte Ehe zu stellen und den letzten Schritt, heraus aus der
Begrenztheit, zu gehen und zu Asija und Helin zu sagen: „Wir müssen das Viertel verlas-
sen, Asija!“ (Taha 2018, S. 237)

4.2. Artikulationsraum 2: Sanaa und Adnan


Im Dialog mit Adnan verändert Sanaa ihre Sprache, wird weicher und erscheint unsicher.
Er schaut mich an, und ich verspüre den Drang, ihm zu sagen: Du bist wunderschön. Ich will
diesen Augenblick mit einem Gedicht, einer Geschichte oder einem Foto einfangen, nach
seinen Augen greifen, seine Wimpern an meiner Wange spüren, seinen Atem einatmen, ich
will mich in ihm drehen, in ihm wenden, mich in seine Haut hüllen, mich von seiner Leber
ernähren (Taha 2018, S. 37).

Das Zitat macht deutlich, dass Sanaa in Adnan den Partner wahrnimmt, dem ihre Liebe
gilt. Die Interaktion und die Kommunikation mit ihm macht ihre Sehnsucht nach Gebor-
genheit deutlich. Gleichzeitig grenzt sie den Raum, den sie dieser Beziehung gibt, radikal
ab, indem sie sich das, was ihr Adnan ihrer Meinung nach nicht geben kann, von einem
anderen Mann holt. Sie konstruiert die Beziehung zu Adnan aus ihrer Sicht und lässt nur
das zu, was aus ihrem Erfahrungsschatz möglich ist. So bemerkt Sanaa zu Omer über Ad-
nan warum sie mit ihm, Omer, schläft: „Weil ein Mann mich nicht zufriedenstellen kann
…“ (Taha 2018, S.38) um gleichzeitig zu sinnieren, „Fast hätte ich noch hinzugefügt, dass
ich nur Adnan den Schwanz lutsche, nur Adnan.“ (Taha 2018, S. 40) Dieses ambivalente
Verhalten zeigt diese Abgrenzung. Der eine Mann, Omer, steht für bedingungslosen Sex,
der andere für Intimität und Sinnlichkeit. Damit greift Taha eine Thematik auf, die gegen
gängige religiöse Regeln verstößt, aber den Pragmatismus Sanaas deutlich macht. Die
Intimität mit Adnan erfordert Tiefe, die sich über die Sexualität hinausbewegt. Sie möch-
te wahrgenommen werden und Akzeptanz erfahren, kann das jedoch nicht zulassen, da
ihr ein weiterer Unterschied zwischen den beiden, der der sozialen Klassen, erst ver-
schwommen und später deutlich bewusst wird. Durch ihr Studium bewegt sie sich bereits

17

in eine andere soziale Klasse hinein, Adnan befindet sich jedoch bereits in dieser Klasse,
und das verunsichert sie.

In einem Gespräch erwähnt sie die Geschichte der Haarsträhne und wie es dazu kam. Da-
bei erläutert sie den Aberglauben, der von Baqqe, der Freundin ihre Tante Khalida, an sie
herangetragen wurde und sie weiterhin stark beeinflusst. Adnan nimmt das Thema auf
und erzählt wiederum von seiner Tante und möchte mit ihr über Aberglauben sprechen.
Hier steigt Sanaa aus dem Gespräch aus, empfindet, dass Adnan monologisiert und hofft
ihn auf einer anderen Ebene etwas mitgegeben zu haben.
Vielleicht wird er heute Abend doch nicht über mich lachen, sondern nachdenken, grübeln,
Adnan grübelt, und diese Erinnerung, die ich an ihn weitergereicht habe, wird irgendwo in
seinem Gedächtnis darauf warten, ausgegraben zu werden, um ihm einen Stich zu versetzen
(Taha 2018, S. 131).

Sanaa offenbart in diesem Zitat ihre Unsicherheit, da herausklingt, dass sie denkt, dass
Adnan über sie lachen könnte. Gleichzeitig kommuniziert sie undeutlich, auf zwei Ebe-
nen, da sie sich von ihm abgrenzt, darauf hofft, ihm einen Stich zu versetzen, der ihn
nachdenken lässt, um ihn näher zu sich zu führen. Es offenbart ein Unvermögen, die Un-
gleichheit zwischen den beiden auszublenden und in einen Dialog einzusteigen, die kultu-
relle Differenz, hier am Beispiel des Aberglaubens, zuzulassen und den konstruierten Ar-
tikulationsraum zu verlassen, um nach etwas Neuem zu streben, das beiden neue Erfah-
rungen und Sichtweisen eröffnen könnte. Für Sanaa steht Adnan für eine von ihr defi-
nierte Sicht- und Lebensweise, aus der er nicht entkommen darf. Sie vertieft das weiter
beim Besuch der Eltern Adnans in deren Haus. Im Hochhaus herrscht eine Offenheit, die
sie an anderer Stelle als kontrollierend, als Mangel an Intimsphäre, empfindet, an dieser
Stelle jedoch als etwas positives herausstreicht: „Bei uns kann jeder jederzeit in die Woh-
nung kommen, ungeachtet unseres Willens. Adnans Eltern scheinen Sprechstunden zu
haben.“ (Taha 2018, S. 149). Die Wahrung von Privatsphäre, der Lebensstil in Adnans
Familie, wird mit Sprechstunden verglichen und erhält eine negative Konnotation. Eine
anderweitige Verwendung eines Gebetsteppichs, als die ihr bekannte, stößt auf Abnei-
gung, die Kochkünste der Mutter sind unzureichend und das Vorhandensein einer Biblio-
thek sorgt für Verwirrung. Da eine Artikulation mit Ziel einer Öffnung für Sanaa an dieser
Stelle nicht möglich zu sein scheint, gibt es nur die Möglichkeit sich von Adnan zu entfer-
nen.
Ich fürchte mich vor einem Liebesgeständnis, vor einem Versprechen. Ich werde ihm erklä-
ren, dass ich Asija versprochen bin, für ihr Glück die Verantwortung trage. Solange Asija
nicht lachen kann, kann ich nicht mit Asija schweben. Ich würde ihn zwischen meinen Ge-
danken und Erinnerungen ersticken, um ihn dann neben dem Rotkehlchen und dem grau-
blaulila Fisch ins Grab zu legen, von wo aus er mich verwünscht (Taha 2018, S. 160).

Sanaas Impetus bezüglich Adnan scheint ab dieser Stelle nur noch die Flucht weg von
ihm zu sein. Sie erkennt, dass eine Öffnung, eine Fortführung der Beziehung zu diesem
Zeitpunkt nicht möglich ist.
»Ich kenne dich überhaupt nicht«, sage ich ihm ins Gesicht und meine es aus tiefster Über-
zeugung…Mir wird bewusst, dass ich außerhalb des Viertels keinen Menschen kenne, dass
Herr Zakholy mir näher ist als Adnan. Ich bin wie Herr Zakholy, kenne nur das Viertel, ich
bin wie Tante Khalida, spioniere meinen Vater aus, ich bin wie Kemal, habe keine Kontrolle
darüber, was ich morgen tun werde. Ich fühle mich erschöpft wie Asija und gehetzt wie Nas-
ser, mein Körper ist beladen mit Erinnerungen, Geschichten und Flüchen, er muss entrüm-
pelt werden, damit ich weiterkomme, damit ich in der Lage bin, Adnan aufzunehmen. (Taha
2018, S. 206).

18

Die Hoffnung diese Beziehung weiterzuführen, schwingt mit, die Realität schließt jedoch
eine Nähe aus. Sie will weiterkommen, um Adnan annehmen zu können, sieht aber keine
Möglichkeit zur Artikulation an dieser Stelle.

4.3. Artikulationsraum 3: Sanaa und Omer


Die Verbindung Sanaas zu Omer ist reduziert auf sexuelle Aktivitäten. Sanaa unternimmt
nicht einmal den Versuch, mehr in Omer zu sehen als ein Werkzeug zur Befriedigung ih-
rer Lust. Omer ist kein Kurde, gehört damit zu einer Gruppe von „anderen“. Auch Omer
scheint, wenn auch aus anderen Beweggründen, keine Ambitionen zu haben, mehr in die-
se Relation hineinzudeuten und lässt Sanaa als anders gelten, ohne weitere Ansprüche
anzumelden.
Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Dankbar greife ich nach der Ablenkung und
lese die Nachricht von Omer: Sanaa, Sanaa, Sanaahäubchen. Lange nicht gefickt, wann
bist du mal wieder bei mir? Hitze durchströmt meine Brust, ich lösche die Nachricht, bevor
ich das Handy wieder in die Tasche stecke (Taha 2018, s. 27).

In der Kommunikation zwischen den beiden gibt es viele Lücken. Diese sind auf der einen
Seite notwendig, um die sexuelle Spannung aufrecht zu halten und sie nicht durch Alltäg-
liches zu verwässern, auf der anderen Seite aber limitierend, da ein weiteres Verstehen
der beiden als Menschen nicht möglich wird.
…bis ich ihn anbettele, mich zu ficken. Das geilt ihn besonders auf, als würde ich ihn fragen,
ob er mich bitte, bitte zum Essen ausführen und für mich bezahlen und mir die Tür aufhal-
ten kann, weil ich das allein nicht schaffe,…(Taha 2018, S. 39)

Dieses Zitat beschreibt Sanaas Denken über Omer. Ähnlich wie bei Adnan hat sie feste
Grenzen gezogen und lässt keine Reflexion zu. Dieses Omer unterstellte Denken wirkt
klischeehaft und folgt der von Bhabha (2000) beschriebenen binären westlichen Logik.
Sanaa zeigt hier ihr hybrides Wesen, indem sie nicht zulassen kann, dass sich auch Omer,
einer der „anderen“, für den Umgang mit ihr einen Raum der Artikulation geschaffen hat,
der es ihm ermöglicht, nicht nach Tradition zu agieren, sondern sich ebenso einen neuen
Kontext im Umgang mit einem weiblichen Menschen aufbaut. Nach traditioneller Weise
würde er sich im Umgang mit einer Frau, die er zum Essen ausführt, anders artikulieren.
Omer hat mir zum Geburtstag einen eBook-Reader geschenkt und meinte, wie toll es sei,
kein schweres Buch mehr tragen zu müssen. Er verstand nicht, warum ich ihm nicht aus
lauter Freude um den Hals sprang…ich will die Seiten umblättern, ich will das Papier hören,
ich will an neuen Büchern riechen…Du kannst deine Lieblingsstellen markieren und sehen,
ob das auch die Lieblingsstellen von anderen sind. Er verstand es nicht (Taha 2018, S. 123).

So wie Sanaa Omer nicht versteht, kann sie ebenso wenig verstehen, welche Interessen,
Wünsche und Sehnsüchte er hat. Das Zitat repräsentiert zwei gleichwertige, aber unter-
schiedliche Ansichten. Der Dank, den Sanaa ihm zollen könnte, wird von ihr davon ab-
hängig gemacht, dass er ihre Wünsche versteht. In der Beziehung zwischen den beiden
existiert außer sexueller Passung kein Verständnis. Beide beherrschen das Spiel der Mi-
mikry, sie passen sich einander an und ahmen sich nach. Sie haben zu ihrem Verlangen
eine Person und für die Personen einen Raum konstruiert. Alles was über die Grenzen
dieses Raumes hinausgeht, muss erst angesprochen bzw. verhandelt werden. Aus der
Grundkonstellation heraus, miteinander Sex zu haben, entsteht nicht automatisch eine
andere, weitere Ebene. Ein neugieriges Entdecken der Differenzen und damit die Mög-
lichkeit in Unterschieden neue Optionen zu entdecken und weiterzuführen, wird nicht
zugelassen.

19

In Omers Wohnung packe ich mich als selbstgebrachtes Geschenk aus - werfe die Jeans auf
seinen Chefsessel, die Socken landen unter dem Bett und die Scham in einer Ecke (Taha
2018, S. 202).

Dass die Scham in einer Ecke landet, gibt einen Verweis darauf, dass mehrere Ebenen in
ihr aktiv sind, wenn sie sich ihrer Lust hingibt. Vor Omer muss sie sich nicht schämen.
Ihre Scham gilt denen, die physisch nicht anwesend sind, derer sie sich aber in ihren kon-
struierten Räumen sicher sein kann. In der Realität treten sie als Sittenwächterinnen
Khalida und Baqqe auf.

Als Sanaa aus sich herauswachsen möchte und mit unlauteren Mitteln den unangeneh-
men Verfolger, den Volvomann, loswerden will, kommt Omer als sehr bodenständiger,
dem Rechtsstaat treu ergebenen Bürger daher. Er will sie abhalten, eine Straftat zu bege-
hen, was jedoch nicht in seiner Macht steht: „Sanaa. Deutschland. Rechtsstaat.“ (Taha
2018, S. 210) Bewusst spielt Omer doch nur eine einseitige, sexuelle Rolle in Sanaas Le-
ben, sodass er in ihrer Fantasie in ihrer Vagina verschwindet, sie nur noch seine Beine
sieht und er ihr Orgasmen beschert.
Wenn ich an mir herunterschaue, sehe ich nur noch zwei behaarte Männerbeine aus mir
herausragen. Mit einem letzten Zucken löst sich Omer von der Welt, findet eine neue in mir,
wo er so lange bebt, bis ich komme (Taha 2018, S. 214).

Unterbewusst ist der Artikulationsraum zwischen den beiden jedoch von großer Bedeu-
tung. Er steht für die Selbstbestimmung der eigenen Sexualität Sanaas. Sorge dafür zu
tragen, sexuell befriedigt zu werden, ist ein Zeichen für eine enorme Entwicklung eines
weiblichen Menschen, der im Kontext einer fast vollständigen Negierung seiner Sexualität
aufwuchs. Sanaa und Omer konstruieren einen Zustand, der es ermöglicht, eine Bezie-
hung rein sexueller Natur miteinander zu führen. Im Artikulationsraum mit Omer gelingt
es Sanaa, ihren Kontext zu verschieben und selbstbestimmt das zu fordern, was ihr zu-
steht.

5. Diskussion und Ausblick


Die Kolonialzeit hat über alle Grenzen hinweg Strukturen geschaffen, die das „die“ und
die „anderen“ im Bewusstsein der Agierenden verankerten. Diese Denkstruktur ist allge-
genwärtig und beeinflusst das Leben der meisten Menschen und damit ihre Souveränität
(Spivak 2008). Der Text Tahas ist weniger als Beschreibung der Kolonisierung ausgelegt,
sondern als Situationsbeschreibung des Prozesses der Entkolonisierung am Beispiel von
Migranten (Babka, Dunker 2020). Inhaltlich handelt es sich um verwobene Geschichten,
also um Verflechtungen zwischen der Geschichte verschiedener Regionen und damit
letztendlich um eine transnationale Geschichtsschreibung (Randeria 1999). Der Text er-
zählt von Figuren, die in ihrer Komplexität und Hybridität den postkolonialen Diskurs
bestimmen (Babka, Dunker 2020).

Taha schafft mit der Figur Sanaas eine Person, die sich Artikulationsräume schafft, in
denen sie ihre eigenen Verhaltensmuster und die ihrer Bezugsgruppen verhandelt und
dekonstruiert. Kategorien wie Ideal oder Mangel (Sieber 2012) werden außer Kraft ge-
setzt und/oder in einen neuen Kontext gesetzt. Gegensatzpaare wie modern versus tradi-
tionsverhaftet werden spielerisch weggewischt, indem z.B. der Gebetsteppich zum Wand-
schmuck geriert und damit ein neuer Umgang mit Religion möglich wird. Das Beispiel
stellt einen dynamischen Austausch und Übersetzungsprozess dar, eine Integration von
altem in einen neuen Zusammenhang und die Entstehung von etwas abgewandeltem, die
binäre Logik von etwas höher Entwickeltem außer Acht lassend.

20

Das Hochhaus als Artikulationsraum stellt im Roman eine Art Ausgangspunkt dar. Taha
verknüpft hier die reale Welt mit ihren Herausforderungen und mythisch verklärten Tra-
ditionen. Hier wurde Sanaa maßgeblich sozialisiert und die Selbstbilder der
Protagonist*innen entwickelten sich. Besonders Asija und Sanaa verändern sich funda-
mental durch ihre Diskurse und die Schaffung neuer Kontexte. Asija erwacht aus ihrer
depressionsverursachten Lethargie und nimmt wieder am realen Leben teil, Sanaa kann
mit verklärten Traditionen brechen und autark agieren, indem sie z.B. den Volvomann
nicht als den vierten Mann in Baqqes Prophezeiung akzeptiert, sondern auf ihr Artikula-
tionsvermögen setzt und zu dem Schluss kommt, das Hochhaus verlassen zu müssen.
Man kann dies als Anfang eines neuen Bewusstseins lesen, das sich die Vorteile von Hy-
bridität, mit unterschiedlichen Facetten Teil eines Ganzen sein können, zu eigen macht.
Anderes muss nicht mehr ausgeschlossen und mögliche Gleichheiten nicht verleumdet
werden (Steyerl 2008).

Das Verhältnis zu Adnan macht die Sehnsüchte Sanaas deutlich. In diesem Raum werden
die Komplexität und die Wechselwirkungen zu den anderen Artikulationsräumen heraus-
gearbeitet. Hier wird deutlich, dass ihre Ambiguitätstoleranz entwickelt werden muss. In
einer Darstellung von Minderheitendifferenz, gelingt es Sanaa noch nicht, Identifizierung
und Differenz positiv wahrzunehmen und nicht als Mangel oder Bedrohung zu sehen.
Sanaa erkennt, dass sie in Teilen einer binären Logik im Sinne Bhabhas (2000) aufsitzt,
von der sie sich aber noch nicht lösen kann. Dieser Raum wird im Roman nicht als abge-
schlossen erzählt und insinuiert eine weiterführende Dynamik. Die neuen Erfahrungen
aus anderen Artikulationsräumen bezüglich Kontextveränderungen lassen es möglich
erscheinen, dass Sanaa Adnans Liebe erkennt und nicht als Mitleid missinterpretiert. Ein
selbstbestimmter (weiblicher) Mensch braucht in diesem Kontext kein Mitleid, ist aber
sehr wohl empfänglich für Liebe. Hier wird die Bedeutung von Hybridität als Raum da-
zwischen, zwischen Zeichenkörper und Zeicheninhalt, deutlich. Es gibt die vergangene
und aktualisierte Bedeutung, also die Position zwischen den beiden, wo noch nicht alles
festgelegt ist und Optionen für Möglichkeiten gegeben sind.

Bedeutungsvoll ist auch das Verhältnis zwischen Sanaa und Omer, welches in einem drit-
ten Artikulationsraum verhandelt wird. Diesen gestaltet Taha mit Zügen der Mimikry.
Beide verschreiben sich darin einer sexuellen Offenheit, wie sie vermeintlich außerhalb
des Hochhauses gelebt wird. Diese Idee verknüpft sich mit den Vorstellungen von Tradi-
tion versus Moderne. Weder könnte Omer nach der Tradition seiner Herkunftskultur so
agieren, wie er es tut, noch viel weniger wäre es einem weiblichen Menschen erlaubt, dies
zu tun. Keiner stellt dem Anderen der Sache störende Forderungen. Interessant ist, dass
auch nach christlicher Tradition in Deutschland eine solche Liaison mehrheitlich keine
Billigung finden würde. Beide spielen hier eine Rolle und passen sich einem konstruierten
Kontext an. Dem Rezipierenden werden hybride Subjekte nähergebracht, die sich spiele-
risch den vermeintlichen Normen der „anderen“ angepasst haben. Gleichzeitig pflegen sie
andere Traditionen, maßgeblich aus ihren Herkunftskulturen und leben dies mit größter
Selbstverständlichkeit nebeneinander. Taha erzählt diesen Part wertungsfrei und ohne
Streben nach Beurteilung von Höherem oder weniger Entwickeltem, sodass der Text da-
mit auf die von Bhabha (2000) entwickelte Kritik an der binären Logik referiert und
ebenso wie er in Frage stellt. Das Verhältnis zwischen den beiden dient nur einem legiti-
men Zweck, der sexuellen Befriedigung. Ein weiterer Schritt der Protagonistin, hin zu
mehr Selbstbestimmung.

Insgesamt kann keinem der drei analysierten Artikulationsräume ein ausschließlicher


Fokus zugesprochen werden. Sanaa verhandelt mit allen Beteiligten ihre essenziellen Fra-
gen zu Geschlecht, Alter, sozialer Klasse etc. mit unterschiedlicher Gewichtung in jedem
Kontext. Taha lässt im Text, mit ihrer Heldin, einen anderen Typus weiblicher Mensch

21

entstehen, der eine neue, erweiterte Ebene erreicht, zwischen der kolonial geprägten
Struktur ihrer Herkunftskultur und der zwar gegensätzlich, aber ebenso kolonial gepräg-
ten Struktur ihrer neuen Heimat. Die Auseinandersetzung mit neu kennengelernten
Denkstrukturen, gibt ihr die Kraft, die sie wegführen von Mimikry, Anpassung und Dul-
dung hin zu Selbstbestimmung.

Taha fokussiert im Text auf Artikulationsräume, die zwischen hybriden Personen (Mi-
grant*innen) innerhalb und außerhalb des Hochhauses entstehen. Ein Artikulationsraum
zwischen hybriden und nichthybriden Personen (den Deutschen) findet im Text keine
direkte Erwähnung. Nach Ha (2013) wird damit die Präsenz des Nicht-Repräsentierten,
den Deutschen, und außerhalb des (textlichen) Rahmen Stehenden dennoch zur Geltung
gebracht, da der Kontext für die Rezipient*innen bereits gegeben ist.

Anhand der erstaunlichen Erkenntnisse, die die Protagonistin in ihren Zwischenräumen


erzielen kann, zeigt Taha, wie die Prämissen der eigenen Ausgangslage als Möglichkeit
zur Reflexion begriffen werden können, ohne den Gesamtkontext zu nivellieren. Ihr wird
bewusst, dass sie doch unter dem Einfluss des Geschehens außerhalb des Viertels steht,
ohne die Menschen dort persönlich zu kennen. Dies vollzieht sich ganz im Sinne Bhabhas
postkolonialer Theorie des dritten Raumes. Eine Bevormundung der hybriden Gruppen
jedweder Art findet nicht statt. Die hybriden Subjekte entwickeln sich aus eigener Kraft.

Damit wird das Zitat zu Beginn dieser Arbeit verständlicher, bei dem Taha auf ein tief-
greifendes Unverständnis der Rezipierenden mit hegemonialen Denkstrukturen referiert
und damit vielleicht, zwischen den Zeilen, einen universellen Artikulationsraum an-
mahnt, einen zwischen den Subjekten kultureller Differenz, frei von Isolation in „Hoch-
häusern“ bzw. Parallelgesellschaften (Hall 2000). Taha begegnet der tradierten Kritik zur
Rolle der abhängigen, unmündigen, wenn überhaupt, höchstens angepassten Kolonisier-
ten/Migrant*innen dadurch, dass sie die Rolle der Kolonisierenden in ihrem Text weg-
lässt und die Selbstständigkeit der Kolonisierten explizit erzählt und betont. Sie be-
schreibt die Kolonisierten/Migrant*innen als eigenständige Problemlöser*innen, die ihre
eigenen Konflikte untereinander verhandeln und erzählt damit nicht die stereotypische
Überlegenheit der ehemaligen Kolonialmächte, die nun als Retter*innen auftreten und
den Kolonisierten zeigen was richtig für sie ist. Die Besonderheit des Textes steckt genau
in diesem Merkmal, nämlich die Kolonisierten/Migrant*innen mit all ihren vermeintli-
chen Fehlern, als mündige Subjekte zu beschreiben. Taha entwickelt in ihrem Text ein
moderneres, konstruktives Narrativ von Postkolonialem bzw. Migration.

Ein weiterführendes Thema, welches in dieser Arbeit nicht den gebührenden Platz fand,
wäre eine Vertiefung des Merkmals Geschlecht versus Gender im Sinne Spivaks, Babkas
und Hasslangers. In Sanaas Erinnerungen findet sich ein weiterer Artikulationsraum, in
dem sie mit ihrer Freundin Roush im Nordirak Diskurse führte. Dieser könnte als Aus-
gangspunkt dienen, auf das biologische Geschlecht, das körperliche Merkmale umfasst,
und dem Gender, also der Art und Weise, wie das Geschlecht gelebt wird, zu fokussieren
und die Besonderheiten im Artikulationsraum dahingehend zu untersuchen.!

22

6. Literaturliste
Babka, Anna (2006): Zur Verortung und Perspektivierung von postkolonialen Theorien &
Gendertheorien in der germanistischen Literaturwissenschaft. In: Bidwell-Steiner,
Marlen/Wozonig, Karin S. (Hg.), A Canon of Our Own, Innsbruck, Wien, Bozen:
StudienVerlag, S. 117-132.
Babka Anna/Dunker, Axel (2020): Einleitung. In: Babka, Anna/Dunker, Axel. (Hg.),
Postkoloniale Lektüren : Perspektivierungen deutschsprachiger Literatur, [online]
https://ebookcentral.proquest.com/lib/umeaub-ebooks/detail.action?
docID=6465475. S. 7–19 [Stand 16.03.2022].
Bhabha, Homi (2000): Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg.
Castro, Varela/do Mar, Maria/Dhawan, Nikita (2010): Mission Impossible: Postkoloniale
Theorie im deutschsprachigen Raum?. In: Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene (Hg.),
Postkoloniale Soziologie, Bielefeld: transcript Verlag, S. 303-329.
Conrad, Sebastian/Randeria, Shalini (2013): Einleitung - Geteilte Geschichten - Europa
in einer postkolonialen Welt. In: Jenseits des Eurozentrismus, [online] https://eu-
sp.org/sites/default/files/archive/stories/library/Exhibitions/0059737.pdf [Stand
09.02.2022].
Domínguez Macias, Leopold (2019): Das Heimatlose erzählen. In: Blanco Hölscher Mar-
garita/Jurcic, Christina (Hg.), Narrationen in Bewegung : Deutschsprachige Litera-
tur und Migration, [online] https://ebookcentral.proquest.com/lib/umeaub-
ebooks/detail.action?docID=6269042. S. 54-69 [Stand 23.03.2022].
Fanon, Frantz (1981): Die Verdammten dieser Erde, 19. Aufl., Frankfurt am Main: Suhr-
kamp.
Fanon, Frantz (2016): Schwarze Haut, weiße Masken, 2. Aufl., Wien: Turia.
Fortmann-Hijazi, Sarah (2019): Semier Inssayif: Faruq - Auf der Suche nach einer ara-
bischsprachigen Vergangenheit. In: Fatah, Sherko/Insayif, Semier/Khider, Abbas
Hg.), Gehen, um zu erinnern : Identitätssuche vor irakischem Hintergrund, [online]
https://ebookcentral.proquest.com/lib/umeaub-ebooks/detail.action?
docID=6269083 [Stand 23.03.2022].
Graf, Guido (2021): Podcast: Ränder - Theorien der Literatur 2 Gespräche - Karosh
Taha, [online] https://anchor.fm/guido-graf8/episodes/Karosh-Taha---Gesprch--
Episode-2-e1a8si6 [Stand 05.02.2022].
Grubich, Stefanie (2013): „Lange saß ich zwischen den Stühlen. “Eine postkoloniale Lite-
raturanalyse mit intersektionalem Ansatz anhand der Werke von Seher Çakir. Di-
plomarbeit an der Philologisch-Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität
Wien, [online] http://othes.univie.ac.at/26139/1/2013-02-12_0502810.pdf [Stand
25.09.2021].
Jeßing, Benedikt/Köhnen, Ralph (2017): Einführung in die Neuere deutsche Literatur-
wissenschaft, 4. Aufl., Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.
Ha, Kien Nghi (2013): Postkoloniale Kritik und Migration. In: polylog - zeitschrift für in-
terkulturelles philosophieren 30, [online] https://www.polylog.net/fileadmin/docs/
polylog/30_thema_ha.pdf [Stand 13.03.2022].
Ha, Kien Nghi (2004): Ethnizität und Migration reloaded - Kulturelle Identität, Diffe-
renz und Hybridität im postkolonialen Diskurs, Berlin: Wissenschaftlicher Verlag
WVB.
Hall, Stuart (2000): Cultural Studies - Ein politisches Theorieprojekt, In: Ausgewählte
Schriften 3. Hamburg: Argument Verlag.

23

Hallet, Wolfgang (2010): Methoden kulturwissenschaftlicher Ansätze: Close Reading und


Wide Reading. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.), Methoden der Literatur-
und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag S. 293-315.
Hárs, Endre (2004): Postkolonialismus – nur Arbeit am Text? Homi K. Bhabhas theoreti-
sches Engagement, [online] https://www.researchgate.net/publication/
249926952_Postkolonialismus_-_nur_Arbeit_am_Text_Homi_K_Bhabhas_theo-
retisches_Engagement [Stand 23.03.2022].
Hasslanger, Sally (2021): Der Wirklichkeit widerstehen, Berlin: Suhrkamp Verlag.
Janz, Rolf-Peter (2019): Migration übers Mittelmeer. In: Blanco Hölscher, Margarita/
Jurcic, Christina (Hg.), Narrationen in Bewegung : Deutschsprachige Literatur und
Migration, [online] https://ebookcentral.proquest.com/lib/umeaub-ebooks/de-
tail.action?docID=6269042. S. 174-181 [Stand 23.03.2022].
Kerner, Ina (2012): Postkoloniale Theorien, 4. Aufl., Hamburg: Junius.
Kreutzer, Eberhard (2004): Postkoloniale Literaturtheorie und –kritik. In: Ansgar Nün-
ning (Hg.), Grundbegriffe der Literaturtheorie, 3. Aufl., Stuttgart: J.B. Metzler Ver-
lag, S. 216-218.
Lossau, Julia (2012): Postkoloniale Geographie. Grenzziehungen, Verortungen, Verflech-
tungen. In: Karentzos, Alexandra/Reuter, Julia (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolo-
nial Studies, Wiesbaden: Springer VS S. 355 - 363.
Lossau, Julia (2015): Die Politik der Verortung : eine postkoloniale Reise zu einer ande-
ren Geographie der Welt, Bielefeld: Transcript.
Neumann, Birgit (2010): Methoden postkolonialer Literaturkritik und anderer ideologie-
kritischer Ansätze. In: Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (Hg.), Methoden der Litera-
tur- und kulturwissenschaftlichen Textanalyse, Stuttgart: J.B. Metzler Verlag.
Nünning, Vera/Nünning, Ansgar (2010): Methoden der literatur- und kulturwissen-
schaftlichen Textanalyse Ansätze – Grundlagen – Modellanalysen, Stuttgart: J.B.
Metzler Verlag.
Randeria, Shalini (1999): Geteilte Geschichte und verwobene Moderne. In: Rüsen, Jörn/
Leitgeb, Hanna/Jegelka Norbert (Hg.), Zukunftsentwürfe. Ideen für eine Kultur der
Veränderung, Frankfurt am Main: Campus S. 87-96.
Said, Edward W. (2019): Orientalismus, 6. Aufl., Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag.
Schmieding, Carolin (2018): Eine postkolonial erzähltheoretische Analyse Ludwig Lahers
Werke »Verfahren« und »Und nehmen was kommt«. Masterarbeit im Studienfach
Deutsche Philologie an der Universität Wien, [online] https://phaidra.univie.ac.at/
open/o:1341720 [Stand 31.10.2021].
Sieber, Cornelia (2012): Der >dritte Raum des Aussprechens< - Hybridität - Minderhei-
tendifferenz. Homi K. Bhabha: »The Location of Culture«. In: Karentzos, Alexandra/
Reuter, Julia (Hg.), Schlüsselwerke der Postcolonial Studies, Wiesbaden: Springer
VS S. 97 - 108.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2010): Kultur. In: Reuter, Julia/Villa, Paula-Irene (Hg.),
Postkoloniale Soziologie, Bielefeld: transcript Verlag S. 47-67.
Spivak, Gayatri Chakravorty (2008): Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und sub-
alterne Artikulation, Wien - Berlin: Verlag Turia + Kant.
Steyerl, Hito (2008): Die Gegenwart der Subalternen. In: Spivak, Gayatri Chakravorty.
Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien - Ber-
lin: Verlag Turia + Kant. S. 7-16.
Taha, Karosh (2018): Beschreibung einer Krabbenwanderung, Köln: Dumont Buchver-
lag.

24

Taha, Karosh (2021): Was mache ich eigentlich hier. dis-orient, [online] https://www.-
disorient.de/magazin/was-mache-ich-eigentlich-hier [Stand 06.02.2022].
Wiegmann, Eva (2016): Der literarische Text als dritter Raum. Relektüre Homi Bhabhas
aus philologischer Perspektive, In: GFL-Journal, Jg. 17, Nr. 1, S. 5-25, [online]
http://www.gfl-journal.de/1-2016/wiegmann.pdf [Stand 02.02.2022].

25

You might also like