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10.1515 - Infodaf 2006 0602
10.1515 - Infodaf 2006 0602
Wortschatzarbeit im Deutsch-als-Fremdsprache-
Unterricht an der Hochschule im Ausland – aber
wie?
Gisela Tütken
1 Dieser Beitrag ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, der im Rahmen einer
Deutsch-Lehrer-Fortbildungsveranstaltung der Germanistischen Abteilung der Chuo
Universität Tokyo am 20. Juli 2004 gehalten wurde.
2. Weil die Menge der zu lernenden Ein- werden – wobei es nicht nur um die bloße
zeldaten hier unüberschaubar groß ist Übertragung eines Wortes in die Mutter-
und Systematisierungsmöglichkeiten sprache geht, sondern um das »Verstehen
schwierig sind. Dies trifft besonders der darin aufgerufenen Lebenswelt im
auf eine lexikalisch geprägte Sprache Zielsprachenland« Deutschland (Luch-
wie das Deutsche zu. tenberg 2000: 227)?
3. Eine Sprache besteht zudem nicht nur Einen allgemeinen, auf eindeutigen For-
aus Einzelwörtern, sondern aus Wort- schungsergebnissen basierenden Kon-
verbindungen, d. h. Ausdrücken und sens darüber, wie Lernende eine Fremd-
Wendungen (Phraseologismen) der sprache lernen, gibt es bisher nicht (Ge-
unterschiedlichsten Art, die durch ihre meinsamer Europäischer Referenzrahmen
über das Einzelwort hinausgehende 2001: 138).
Bedeutung, ihre Idiomatik, verbunden Es kann jedoch von einigen grundlegen-
sind. den Annahmen ausgegangen werden:
4. Wörter, Ausdrücke und Wendungen Grundsätzlich ist Verstehen und Lernen
erhalten ihre spezifische Bedeutung fremdsprachlicher Wörter möglich auf-
darüber hinaus erst durch den Kontext, grund der biologisch-neurophysiologi-
in dem sie stehen. schen Grundbeschaffenheit des menschli-
5. Grundsätzlich ist das Wortschatzler- chen Wahrnehmungs- und Denkverhal-
nen in einer Fremdsprache insgesamt tens. Die ihm zugrunde liegenden kogniti-
ein sehr komplexer Lernprozeß, denn ven Strukturierungsprinzipien sind uni-
es gilt nicht nur semantische Informa- versal (vgl. Schema 2) und beziehen sich
tionen aufzunehmen, sondern auch die sowohl auf konzeptuelle wie auf semanti-
grammatisch-syntaktischen Funktio- sche Gedächtnisleistungen (Börner/Vogel
nen, die phonetische Aussprache, die 1997: 2). Es gibt »universelle menschliche
orthographische Form sowie den Ver- Erfahrungsbereiche« (Neuner 1990: 6), die
wendungsradius der zu lernenden in unterschiedlichen Sprachen zur Ausbil-
Wörter zu erfassen. dung entsprechender Konzepte geführt
6. Beim Wortschatzlernen in der Fremd- haben. Auf deren Grundlage kann »von
sprache fehlt ganz allgemein der aus einem gemeinsamen elementaren Wis-
der Muttersprache gewohnte kulturell sens- und Erfahrungsbestand der Wortbe-
geprägte Wissens- und Erfahrungskon- deutung« (Neuner 1990: 6) ausgegangen
text (vgl. Schema 1 in Anhang 1), der werden (vgl. Schema 3).
für erfolgreiches Lern- und Kommuni- Beim Lernen fremdsprachlicher Wörter
kationsverhalten unerläßlich ist – um wird das jeweilige muttersprachlich aus-
so mehr, wenn die Fremdsprache im gebildete Erfahrungswissen aktiviert
Lande der Muttersprache der Lerner – und dient als Kontrastfolie für das Erken-
wie in diesem Falle Japans – gelernt nen und die Aufnahme fremder Bedeu-
wird. tungskomponenten. D. h. auf dem Wege
des Vergleichs werden Gemeinsamkeiten
1.2 Möglichkeiten und Unterschiede in der Wortbedeutung
Wie können aber – trotz der genannten zwischen Muttersprache und Fremd-
Schwierigkeiten – Wörter einer Fremd- sprache bewußt. Dabei werden neu auf-
sprache, d. h. Wörter aus einem anderen zunehmende Wörter »nach allgemeinen
Kulturkontext – hier dem fernen und und interkulturell wirksamen Merkma-
differenten deutschen Kulturkontext –, len abgetastet« und gemäß ihren Merk-
verstanden und in der Folge auch gelernt malen ins Sprachgedächtnis (das »men-
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zwischen den Einzelwörtern angenom- 3. wenn es für die Lerner interessant und
men (Bernd-Dietrich Müller 1994: 13) (vgl. möglicherweise affektiv (positiv/nega-
Schema 6): tiv) besetzt ist (Förderung der Motiva-
– Koordinationen; tion sowie tieferer – emotionaler – Ver-
– Kollokationen; arbeitung);
– Subordinationen; 4. wenn es von den Lernenden mit Lern-
– Synonyme; bereitschaft (Sprachlernbewußtheit!)
– Antonyme. aufgenommen wird;
Je behaltenswirksamer ein zu lernendes 5. wenn es in aktivem Umgang (münd-
Wort in das Sprachgedächtnis (das men- lich bzw. schriftlich) wiederholt ange-
tale Lexikon) eingeführt wird (dies ist wendet wird (Tütken 1995: 558/559).
Aufgabe des Wortschatzlehrens!), desto Nach dem bisher Gesagten erweist sich
sicherer kann es dort verankert, d. h. mit das Wörterlernen in einer Fremdsprache
bereits vorhandenem Wissen vernetzt dann als wenig nachhaltig, wenn die
werden und desto länger kann es behal- Wörter nach der immer noch weit ver-
ten und erinnert (abgerufen) werden. Be- breiteten traditionellen Methode der
haltenswirksam bedeutet in diesem Zu- Wortgleichungen (fremdsprachliches
sammenhang eine didaktisch-methodi- Wort = muttersprachliches Wort) gelernt
sche Aufbereitung und Präsentation des werden. Denn dieses sog. Vokabellernen
zu lernenden Wortmaterials in »behal- besteht in dem Versuch, sich mehr oder
tenswirksame[n] Ordnungsmuster[n]« minder zusammenhanglose und unge-
(Rohrer 1985a: 50), die der oben skizzier- ordnete Wörter einzuprägen (Paar-Asso-
ten angenommenen (assoziativ-kogniti- ziationslernen).
ven) Arbeitsweise des Sprachgedächtnis- Entgegen der Vorstellung von Statik, die
ses entgegenkommt, sie unterstützt bzw. der psycholinguistische Begriff mentales
erleichtert. Das Sprachgedächtnis arbei- Lexikon hervorrufen könnte, ist das
tet zudem vorwiegend semantisch, d. h. Sprachgedächtnis also ein sehr dynami-
registriert in erster Linie Bedeutungen (ne- scher, prozessual gesteuerter Gedächtnis-
ben Wortformen und grammatischen bereich, der im Laufe des Fremdsprachen-
Strukturen). erwerbsprozesses in Umfang und Struk-
Nach bisherigen Erkenntnissen der Lern- tur ständig verändert und erweitert wird
forschung kann die Verankerung/Ver- (Raupach 1997: 37). Dieser (vorwiegend)
netzung von zu lernendem Wortmaterial im Rahmen von gesteuertem Spracher-
im Sprachgedächtnis vor allem unter fol- werb erlangte, je nach Individuum und
genden 5 Bedingungen optimiert wer- Lernphase instabile und variable fremd-
den: sprachliche Wortschatz wird in der
1. Wenn das Wortmaterial nicht isoliert, Sprachlernforschung auch Lernersprache
sondern in sinnvollem Zusammen- genannt (Börner/Vogel 1997: 12 f.).
hang (Text, Situation/Handlung, Bild, Sprachverwendungsbezogen können
Tondokument) dargeboten wird (situa- beim (fremdsprachlichen) Wortschatzler-
tionsbezogenes, ganzheitliches und nen 3 interaktiv und simultan arbeitende
mehrkanaliges Lernen!); Wortschatzbestände aufgerufen werden:
2. wenn es in eine strukturierte Form ge- – Der Verstehenswortschatz, d. h. Wort-
bracht wird (Schaffung impliziter Zu- schatzbestände, die beim Lesen und
sammenhänge z. B. durch Koordina- Hören aktiviert werden, weshalb diese
tion, Gegensatzbildung, Hierarchisie- auch rezeptiver oder passiver Wortschatz
rung, Klassifikation usw.); genannt werden;
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Anhang 1: Schaubilder
Schema 1
Schema 2
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Schema 3
Schema 4
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Schema 5
Verständigung
zwischen Spre-
chern verschiede-
ner Mutterspra-
chen/verschiede-
ner Kulturzugehö-
rigkeit
[Aus: Gerhard
Neuner: »Mit dem
Wortschatz arbei-
ten«. In: Fremdspra-
che Deutsch 3
(1990), 5.]
Schema 6
[Aus: Bernd-Dietrich Müller: Wort-
schatzarbeit und Bedeutungsvermitt-
lung.
Fernstudienheinheit 8. Berlin: Lan-
genscheidt, 1994, 13.]
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Schema 7
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__ ? __
__!__:__?__
Schema 8
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Schema 9.1
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Schema 9.2
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Schema 9.3
519
Schema 9.4
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Schema 9
[Nach: Oliver Bayerlein: Erwerb und Vermittlung von Wortschatz - Ein Beitrag zur Verbesserung
des Unterrichts in Deutsch als Fremdsprache an japanischen Hochschulen.
München: iudicium verlag, 1997, S. 71–85.]
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Schema 10
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Schema 11
Leicht verändert nach: Wolfgang Börner »Didaktik und Methodik der Wortschatzarbeit:
Bestandsaufnahme und Perspektiven.« In: Peter Kühn (Hrsg.): Wortschatzarbeit in der
Diskussion. Hildesheim: Olms Verlag, 2000.
(Germanistische Linguistik 155–156 – Studien zu Deutsch als Fremdsprache V, S. 32)
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Fremdsprache, V). stock am 16. November 1996. Frankfurt
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Naumann, Bernd: Einführung in die Wortbil- im Fremdsprachen-Erwerb. Sprachlehrveran-
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»Redewendungen und Sprichwörter«. The- Sprichwörter als Gegenstand des
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gart: Klett, 1996. seologie/Parömiologie. Bochum: Brock-
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(Deutsch – Englisch) Ismaning: Hueber, Trim, John; North, Brian; Coste, Daniel:
2003. Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen
Rinder, Ann: »Das konstruktivistische Lern- für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen (in
paradigma und die neuen Medien«, Info Zusammenarbeit mit Sheils, Joseph;
DaF 30 (2003), 3–22. Übersetzung: Jürgen Quetz in Zusam-
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menarbeit mit Raimund Schieß und Ul- Wandruszka, Mario: Die europäische Sprachge-
rike Sköries; Übersetzung der Skalen: meinschaft. Deutsch-Französisch-Englisch-
Günther Schneider). Berlin; München: Italienisch-Spanisch im Vergleich. 2. Auf-
Langenscheidt, 2001. lage. Tübingen: Francke, 1998 (UTB 1588).
Tütken, Gisela: »Wortschatz lernen – aber Werner, Grazyna: Wortschatzübungen.
wie? Am Anfang war das Wort. Ein kurs- Grundstufe Deutsch als Fremdsprache.
tragendes Wortschatzprogramm für den Leipzig: Schubert, 1996.
studienbegleitenden DaF-Unterricht am Wilss, Wolfram: Wortbildungstendenzen in
Lektorat Deutsch als Fremdsprache der der deutschen Gegenwartssprache. Tübin-
Universität Göttingen«, Info DaF 22 gen: Narr, 1986.
(1995), 555–567. Wotjak, Barbara; Richter, Manfred: sage und
Vester, Frederic: Denken, Lernen, Vergessen. schreibe. Deutsche Phraseologismen in Theo-
21. Auflage. München: Deutscher Ta- rie und Praxis. 4. Auflage. Leipzig: Lan-
schenbuch Verlag, 1998 (dtv 30003). genscheidt/Enzyklopädie, 1997.