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Yoga-Geschichte X: Tantrismus - März 2023

1.0 Grundlagen: Themen, Traditionen, Texte, Riten 1

1.1 Einführung und Entwicklung 1


1.2 Hinduistischer und buddhistischer Tantrismus 5
1.3 Hinduistischer Tantrismus: Hauptthemen und Ziele 5
1.4 Hauptmerkmale 7
1.5 Haupttraditionen 16
1.6 Tantra-Texte 21
1.7 Tantrisches Ritual 23
1.8 Sexual-Rituale 26
1.9 Zusammenfassung und Würdigung I 29

2.0 Tantrismus und Yoga 30

2.1 tantra-yoga: sādhana 30


2.2 mantra-yoga 32
2.3 maṇḍalas, yantras, cakras 38
2.4 mudrās 45
2.5 kuṇḍalinī-yoga 49
2.6 kuṇḍalinī-yoga in der Moderne 50

3.0 Traditioneller haṭha-yoga 52

3.1 Einführung und Überblick 52


3.2 Texte 54
3.3 Praktiken und Lehren 55
3.4 Ursprünge und Entwicklung I: Übersicht 58
3.5 Ursprünge und Entwicklung II: Nāth-Bewegung 60
3.6 Ursprünge und Entwicklung III: āsanas 62
3.7 Moderne 78

4.0 Zusammenfassung und Würdigung II 79

5.0 Leitfragen zum Selbstverständnis 81

6.0 Literatur- und Quellenverzeichnis 82

1.0 Grundlagen: Themen, Traditionen, Texte, Riten


1.1 Einführung und Entwicklung
Vorbemerkung: „Aufgrund seiner historischen Fluidität, der traditionellen Geheimhaltung und der häufig
unheilvollen Assoziationen ist der Begriff Tantra einer der am schwierigsten zu definierenden Begriffe im
gesamten Hinduismus - noch schwieriger insofern, als seine Grenzen keineswegs auf die hinduistische Praxis
beschränkt sind“ (Smith 2015). Tatsächlich finden sich viele Elemente des hinduistischen Tantrismus in fast
allen Religionen Indiens, vor allem im Buddhismus (s. Kpt. 1.2), etwas weniger im Jainismus und Sikhismus,
doch bis hin zum indischen Islam.
Dieses Handout beschreibt die Haupttraditionen des hinduistischen Tantrismus und schliesst die modernen
Verirrungen und Fehlinterpretationen aus: in Indien einseitig als schwarze Magie verrufen, im Westen ebenso
einseitig als ungezügelte Sexualität und Einladung zur Promiskuität verstanden. „Tantra remains one of the
least understood of the yogic teachings“ (Frawley 2020, 15). Nur die kursiv geschriebenen Sanskrit-Begriffe
entsprechen der üblichen, wissenschaftlichen Umschrift. Gelb markierte Themen sind noch zu bearbeiten.
Die verwendeten Quellen sind einerseits wissenschaftlich-indologischer Art, anderseits aber auch
Erfahrungsberichte (z.B. Bettina Bäumer, George Feuerstein, James Malllinson, Christopher Wallis, Alexandra
David-Néel, David Frawley, Daniel Odier, Silvio Wirth), um auch den Praxisteil angemessen zu berücksichtigen,
der für den Tantrismus so zentral ist. Bäumer, Feuerstein, Mallinson und Wallis sind gleichzeitig nach
wissenschaftlichen Standards ausgebildete Indolog:innen.
Das Wort tantra leitet sich von den Sanskrit-Wurzeln tan „(sich) ausdehnen“ und trā, „(er)retten,
(be)schützen“ ab und bedeutet zunächst „Theorie, Lehre, (Lehr-)Buch (śāstra)“. Spezifischer bezeichnet
„Tantra“ „ein System spiritueller Praxis, das in Form eines spezifischen heiligen Textes ausformuliert ist“ (Walis
2013, 25). Im traditionellen Kontext bildete eine der unzähligen Tantra-Schriften die ausschliessliche Basis und
den Rahmen, in welchem ein/e tantrika/ā von einem einzigen Guru einer spezifischen Abfolge von Meistern
eingeweiht wurde und die tägliche Praxis ausübte. Deshalb war der „Tantrismus“ für die einzelnen Tantra-
Praktizierenden beschränkt auf eine einzige Schrift, Überlieferung und spirituelle Autoritätsperson.
Die lexikalischen Übersetzungen mit „Gewebe, Geflecht“ finden sich in keiner tantrischen Schrift, so sehr sie
auf die Charakteristik des Tantrismus hinweisen, dass er sich aus vielen verschiedenen Traditionen speist und
wie ein orientalischer Teppich aus vielen verschiedenfarbigen Garnen und Fäden unterschiedlichster Art
gewoben ist. Kāmikāgama 3.29 erklärt den Begriff etymologisch, das heisst nach den beiden Verben wie folgt:
Es wird tantra genannt, weil es tiefgründige Prinzipien bezüglich tattva (Grundelemente des Univer-
sums) und mantra verkündet (tanoti) und weil es (aus dem Geburtenkreislauf) befreit (trāṇaṃ kurute).
Kurz: Tantra verbreitet Weisheit, die erlöst. Traditionell wird tantra als das bezeichnet, „wodurch Wissen
erweitert bzw. verbreitet wird“, als zusammen- und allumfassendes Wissen und dessen Ausbreitung, oder als
„verbindender Faden“ bzw. Einheit von Śiva und Śakti, die alles durchdringt (Frawley 2008).
Alternativ kann die Silbe tra, wie bei man-tra und yan-tra, als Nominalsuffix auch „Mittel, Instrument“
bedeuten. Tantra bedeutet dann ein „Instrument zur Ausbreitung, Erweiterung“, wo sich die Interpretation
von spirituellem Wachstum und Bewusstseinserweiterung anschliesst. Vom Tantriker Rama Kantha stammt die
einzige, inhaltliche, indigene Definition von Tantra vor rund 1000 Jahren (Wallis 2013, 27):
A Tantra is a divinely revealed body of teachings, explaining what is necessary and what is a hindrance
in the practice of the worship of God; and also describing the specialized initiation and purification
ceremonies that are the necessary prerequisites of Tantrik practice. These teachings are given to those
qualified to pursue both the higher and lower aims of human existence.
Hervorzuheben sind folgende fünf Merkmale:
 Jeder Tantra-Text hat göttliche Autorität. Sein Ursprung wird einer Form Sivas oder Saktis zugesprochen.
 Ein Tantra ist eine praktische Anleitung zur meist rituellen Verehrung einer Gottheit (mit dem Ziel, mit
dieser zu interagieren und schliesslich eins zu werden).
 Ein Tantra beschreibt die Voraussetzungen für eine wirkungsvolle Praxis, vor allem die Initiations- und
Reinigungsriten.
 Die damit verbundenen Lehren eines Tantra dürfen nur (von einem qualifizierten Guru) qualifizierten
Novizen weitergegeben werden.
 Die Lehren dienen zwei Zielen und zwar gleichzeitig, nicht nur der Erlösung (mokṣa bzw. mukti), sondern
auch der Erfüllung weltlicher Ziele (sinnlicher, sozialer und wirtschaftlicher Art) (bhoga bzw. bhukti, siddhi).
Das letzte Merkmal, die gleichzeitige, integrale Verfolgung zweier, scheinbar widersprüchlicher Ziele und
Lebensstile – auch mit yoga und bhoga, ausserweltlicher „asketischer Disziplin“ und weltlichem „Genuss“
definiert – grenzt den Tantrismus von allen anderen religiösen Traditionen Indiens, und den meisten
Weltreligionen, ab. Darin liegt zweifellos auch einer der Hauptgründe für seine grosse Attraktion im Westen.
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Aus wissenschaftlicher Sicht bilden sechs Elemente die prominentesten Merkmale des Tantrismus:
Yogische Meditation, mantra-Praxis, die Verwendung von maṇḍalas, der qualifizierte Guru, die Einweihung
sowie die rituelle Verehrung. Als spezifisch tantrisch wird eine Praxis jedoch erst durch ein siebtes Merkmal,
welches Wallis (2013, 34) „deity yoga“ nennt. Diese spezifisch tantrische Yoga-Form beinhaltet die Arbeit mit
einem besonderen Aspekt des Göttlichen, mit welchem man über die Einweihung verbunden wird. Dieser
„deity-yoga“ beinhaltet die Verwendung des mit der Gottheit verbundenen mantra und yantra sowie durch
deren Visualisierung oder physisch-sinnliche Abbild.
Nach der Bhagavadgita und dem aṣṭāṅga-yoga Patañjalis markiert der Tantrismus einen weiteren Höhepunkt
der Yoga-Geschichte. In noch umfassenderer Weise als die bisherigen Yoga-Texte stellt er eine grossartige
Integration und Verschmelzung verschiedener Yoga-Traditionen dar, die mit einem Symphonie-Orchester
verglichen werden kann. In diesem Schmelztigel der Yoga-Traditionen, in dieser monumentalen Yoga-
Orchestermusik erscheinen und verschwinden die einzelnen Instrumente und Instrumentengruppen im
Zeitenlauf und in den verschiedenen Traditionen immer wieder und bilden insgesamt einen riesigen, stets
wechselnden Yoga-Klangteppich. Und je länger diese Yoga-Orchestermusik dauert desto schwieriger ist es, die
sozioreligiösen, regionalen und historischen Hintergründe, Ursprünge und Entwicklungen der einzelnen
Instrumente und Musiksätze und vor allem auch ihrer Komponisten und Protagonisten zu bestimmen.
Deshalb erstaunt nicht, dass Ursprung und Quellen des Tantrismus wenig bekannt bzw. umstritten sind. Die
tantrische Tradition ist mit ihren ältesten Texten ab dem 5./6. Jahrhundert entstanden, breitete sich schnell
aus und erlebte ihre Blütezeit im 13. Jh., als ihre moderat-zivilisierte Form («rechter Weg») vom traditionellen,
brahmanisch dominierten Hinduismus akzeptiert und integriert worden war. Wie die Epen und Puranas und
die sechs grossen philosophischen Schul-Traditionen (ṣad-darśaṇa) gelten sie aus brahmanisch-orthodoxer
Sicht nicht als śruti, Offenbarungstexte, sondern als Sekundär- bzw. smṛti- also «Erinnerungs»-Texte.
Vermutlich sind sie jedoch in Teilen sehr viel älter und nehmen Elemente von Gesellschaften und Kulturen auf,
die vor und parallel zu den vorherrschenden vedischen und hinduistischen Kultur-Epochen bestanden. So
gehen mit einiger Wahrscheinlichkeit bestimmte Elemente auf vorarische, schamanistische und magisch-
alchemistische Kulturen Indiens zurück, die von der vedischen Kultur verdrängt bzw. unterdrückt worden sind.
So enthält die altvedische Tradition, insbes. der Atharvaveda, wichtige Spuren tantrischer Theorie und Praxis.
Ein Beispiel für das Überleben von Elementen der prähistorischen Industalkultur als auch der Ādivāsīs, der
indischen Ureinwohner, sind die sapta-mātṝkās, eine Gruppe von meistens "sieben Mutter(-Gottheiten)"
(Brahmani, Maheshvari, Kaumari, Vaiṣṇavi, Varahi, Indrani, Chamunda), die in der Blütezeit des Hinduismus in
ganz Indien sehr populär waren und z.T. auch mit Śivas Śakti identifiziert wurden. In der Industalkultur wurden
Siegel und Münzen gefunden, auf welchen sieben weibliche Personen oder Gottheiten nebeneinander
dargestellt sind. Der Rigveda spricht an einer Stelle von sieben Müttern, die den göttlichen Unsterblichkeits-
trank (soma) zubereiten. Und im Mahabharata werden die Mātṝkās als dunkelhäutig, in fremden Sprachen
redend und am Rande der Zivilisation lebend (kṣetra) beschrieben. Sie werden auch mit den in den Wäldern
(vana) lebenden weiblichen yakṣas, die ebenfalls vorarisch-dravidischen Ursprungs sind, in Verbindung
gebracht. Man nimmt an, dass es sich ursprünglich um dämonisierte Volksgöttinnen der Wildnis (vana) handelt
(dakinī), die als Verkörperungen von positiven und negativen Aspekten der Mahadevi anzusehen sind.
Ursprünglich besassen sie eine große Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die jedoch in der Zeit des
vorherrschenden orthodox-arisch-brahmanischen Hinduismus als problematisch angesehen und deshalb
allmählich unterdrückt wurde und verschwand. Heute geht man davon aus, dass matriarchalische Elemente,
die in Form von Muttergottheitskulten schon immer vor allem bei den niederen Gesellschaftsschichten
überwogen, ab dem 5. Jh. Eingang in höhere Gesellschaftsschichten und Aufnahme in den bislang streng
patriarchalischen hinduistischen Mainstream fanden. Schliesslich führte diese Entwicklung zu einer religiös-
spirituellen Revolution und Umwertung vieler bisheriger sozialer und religiöser Normen im sog. Tantrismus.
Ein anderes Beispiel ist Rudra(-Śiva) bzw. die heute nicht mehr existierende Śaiva-Bewegung der Pashupatas,
die sich als Tiere bzw. Vieh (paśu) ihres Herrn (pati) verstanden und auch so verhielten.
Viele Tantra-Schulen akzeptieren die vedisch-brahmanische Tradition und Orthopraxis. Sie stufen diese jedoch
als wenig fortgeschritten und nur für Anfänger geeignet ein. Dagegen stellt zum Beispiel für die Vīrasaivas der
tantrische Weg ein geheimer, elitärer Pfad dar, für welchen nur wenige, die sog. «Helden» (vīra), qualifiziert
sind. So finden sich in einem Grossteil der Tantra-Schriften Erklärungen, dass sie den geheimen, esoterischen

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Teil und damit die eigentliche Essenz des Veda enthalten, von der die konventionell-brahmanische, exoterische
Praxis ausgeschlossen ist, welche für das sog. «Vieh(-Volk)» (paśu) geeignet ist.
Das tantrische Weltbild (in Anlehnung an White 2018)
Aus der grossen Fülle schriftlicher und kunsthistorischer Zeugnisse lassen sich die Grundzüge der tantrischen
Weltanschauung erkennen. Zentral für dieses Weltbild ist die Vorstellung, dass das Universum ein riesiges
Kontinuum darstellt, das aus dem Körper oder dem Selbst des Göttlichen hervorgeht und wieder zu ihm
zurückkehrt, dem Einen, das sich auf mehreren Daseins-Ebenen als Vielheit manifestiert. Dazu gehören:
1. die tattvas, 36 hierarchisch angeordnete elementare Bausteine, aus welchen das Universum besteht
und vom grobstofflichsten Element Erde bis zur subtilsten Ebene des Göttlichen reicht;
2. die große Kette von Wesen, von den impotenten, aber schädlichen Geistern der Toten, die von
tantrischen Zauberern kontrolliert werden, bis zur höchsten Gottheit; und
3. die 50 Laute des Sanskrit-Alphabets (48 plus ḻ und kṣa), die sich vom ursprünglichen a bis zum
letzten aḥ erstrecken, Phoneme, die zu den kraftvoll-magischen Klangformeln oder Zaubersprüchen
(mantra) kombiniert werden können, welche als lautliche Manifestationen der Götter selbst gelten.
All diese Elemente des tantrischen Universums sind in Anlehnung an vedische Vorstellungen gleichzeitig im
Mikrokosmos des individuellen menschlichen Körpers angelegt und können mit Hilfe kreisförmiger Diagramme
(maṇḍala) und geometrischer Figuren (yantra) abgebildet werden. Die Tantriker verwenden diese, um das
tantrisch-göttliche Kontinuum in seiner Gesamtheit bis ins kleinste Detail zu visualisieren und schließlich sich
damit zu identifizieren und sich zu eigen zu machen. Damit verbunden ist in gewissen tantrischen Kreisen die
Vorstellung, dass der Mensch sich selbst ermächtigen und sogar vergöttlichen kann, - bis zur Überzeugung, das
gesamte Spektrum von Wesen und Energien, die das tantrische Universum ausmachen, manipulieren und
beherrschen zu können.
Das tantrische Universum ist ein lebendiges Ganzes, beseelt von einer Kraft oder Energie (śakti), die zum Teil
von einer männlichen Gottheit beherrscht wird, aber selbst weiblich ist. Diese weibliche Energie wird als
Göttin dargestellt, die gleichzeitig der Körper der Welt und häufig die Gattin oder Gefährtin einer männlichen
Gottheit, meist Śiva, ist. Ihre Vereinigung, oft in sexueller Form dargestellt, lässt alles Leben im Universum
entstehen. Darunter gilt das menschliche Leben als privilegierteste Form, da nur der Mensch die Fähigkeit
besitzt, seinen biologisch vorgegebenen Zustand zu transzendieren und Befreiung (mukti) zu erlangen.
Revolution von yogischem Denken und Fühlen, Erfahren und Handeln:
In Übereinstimmung mit dem verwendeten Bild des Yoga-Symphonie-Orchesters fliessen einerseits viele
bekannte Elemente vorangehender Yoga-Traditionen in den Tantrismus ein. Anderseits nimmt diese Tradition
Elemente randständiger oder unterdrückter yogischer Vorstellungen und Praktiken, wie z.B. der erwähnte
sapta-mātṝkā-Kult, wieder auf und verbindet sie mit den Elementen bekannter Yoga-Traditionen zu einer
neuen, bezüglich Grösse und Komplexität einmaligen Yoga-Synthese. Wie in einem Prozess der Amalgamier-
ung nimmt die neue Traditionslinie jedoch nicht nur altbekannte und unterdrückte Elemente früherer Yoga-
Traditionen auf, sondern entwickelt diese weiter oder modifiziert und deutet sie zum Teil radikal um. Der
Tantrismus stellt gegenüber dem orthodoxen Hinduismus eine Revolution von Denken und Fühlen, Erfahren
und Handeln, konkret von philosophischer Theorie und Ritual- und Yoga-Praxis auf mehreren Ebenen dar:
 Die lange nachwirkenden Epochen der Askese und Weltverneinung der Yoga-Tradition der Upanishaden
und des klassischen Yoga Patanjalis waren geprägt von einer negativen Wahrnehmung und Bewertung des
menschlichen Körpers. Anders als in diesen weltverneinenden, Körper, Fühlen und Denken
transzendierenden Yoga-Traditionen wird im Tantrismus auch der physische Körper als Abbild bzw.
Mikrokosmos des göttlichen Universums oder Makrokosmos eingebunden und selber göttliches Objekt der
Verehrung. Tantriker betrachten den Körper als Tempel des Göttlichen und damit als wertvolles Werkzeug
für die Selbst- und Gottesverwirklichung. Damit einher geht eine Aufwertung, ja Bejahung der Sexualität
und deren Einbindung in den Heilsweg.
 Nun stehen nicht mehr Śiva und Viṣṇu, sondern Śakti als Gattin Śivas und zum Teil auch als eigenständige,
göttliche Mutter- und Schöpferkraft in ihren mannigfachen Formen im Mittelpunkt der Verehrung (Devi,
Kālī, Durga, Chamunda, Parvati etc.; vgl. die daśa-mahā-vidyā, die „zehn grossen Weisheitsformen (der
Göttin)“). Die Śākta-Tantras gehören zu den wichtigsten Tantra-Texten (s. Kpt. 1.6), weshalb der
Tantrismus auch als Śāktismus bekannt ist (s. Kpt. 1.5).
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 Die Tantra-Schriften befassen sich nicht nur mit Weisheitslehren (jñāna), welche sich an jene der
Upanishaden anlehnt. Vielmehr beschäftigen sich die Tantras mit komplexen, geheimen, teilweise
abstossend wirkenden Ritualen (kriyā), alltäglichen Riten, Gelübden und Verhaltensregeln (caryā) sowie
vielfältiger Yoga-Praxis (sādhana) und deren Ergebnissen (siddhi), das heisst mit praktisch-esoterischen
„Wissenschaften“ wie Ritual, Magie und Meditationstechniken. Damit ist Tantra in Verbindung mit der
Śakti ein vielfältiger Weg der Energie(-Gewinnung) und auch Macht(-Ausübung).
 Aufgrund der komplexen, esoterischen Lehren und Praktiken kommt dem Guru in keiner indischen
Tradition eine grössere Rolle zu als im Tantrismus. Der verwirklichte Tantra-Yogi kann seine Realisation
mittels Handauflegen oder Einweihung direkt auf den Schüler übertragen.
 Alle Tantra-Traditionen, auch die esoterische Kaula-Schule, die zum geheimen, „linkshändigen Weg“
gehört, sind zugänglich für alle Kasten und sogar Kastenlose. Viele Tantra-Schriften sind jedoch von
Brahmanen verfasst worden und enthalten nach Kasten unterschiedene Einweihungsrituale.

1.2 Hinduistischer und buddhistischer Tantrismus

Die wichtigsten tantrischen Traditionen sind die hinduistische und die buddhistische, die möglicherweise einen
gemeinsamen Ursprung haben oder zumindest in verwandten Kulturen entstanden sind. Obschon einige bud-
dhistischen Tantra-Texte älter sind, kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, welche Tradition früher ist.
Die beiden Traditionen haben sich teilweise parallel, teilweise in gegenseitiger Befruchtung ab dem 5./6. Jh. in
Nordindien entwickelt. Der tantrische oder Mahayana-Buddhismus scheint sogar mehr Gemeinsamkeiten mit
dem Hinduismus zu haben als mit dem älteren Theravada-Buddhismus in Sri Lanka, Burma und Thailand.
Zu den Gemeinsamkeiten gehören die rituelle Verehrung (pūjā), u.a. auch von Sarasvati und Laksmi, bhakti-
und mantra-yoga sowie eine Betonung von Yoga-Praktiken. Die buddhistisch-tantrischen Göttinnen Tara und
Chinnamasta tragen dieselben Namen von zwei der „zehn grossen Weisheitsformen der Göttin“ des hinduisti-
schen Tantrismus. Der Haupt-Bodhisattva, Avalokitesvara, wird ähnlich wie Siva oder Visnu dargestellt (Fraw-
ley 2020, 229ff.). Während im hinduistischen Tantrismus das männliche Prinzip die passive, kontemplative Po-
larität verkörpert (Siva) und das weibliche die aktive, dynamische (Sakti), ist es im buddhistischen Tantrismus
umgekehrt: das männliche Prinzip ist dynamisch (upāya), das weibliche kontemplativ (prajñā) (s. Bailey 2012).
Ausserdem gibt es im buddhistischen Tantrismus nur den „rechtshändigen Weg“, im hinduistischen hingegen
auch den „linkshändigen Weg“ (s. Kpt. 1.5)
Enge, auch geographische Verbindungen bestehen zwischen dem kaschmirischen Śivaismus und dem
tibetischen Buddhismus. Insbesondere zwischen der kaschmirischen Krama-Tradition und der buddhistischen
Dzogchen-Schule sind fast keine Unterschiede auszumachen (Wallis 2013, 32).

1.3 Hinduistischer Tantrismus: Hauptthemen und Ziele

Wie schon seine Entstehungsgeschichte zeigt, stellt der hinduistische Tantrismus wie keine andere Yoga-
Tradition den Leitgedanken der indischen Traditionen, „Einheit in der Vielfalt“, unter Beweis. Wie der
Hinduismus generell stellen die tantrischen Traditionen in ihrer Gesamtheit ein hochkomplexes,
unüberschaubares Geflecht von oft nur lose und entfernt verwandten, uneinheitlichen Religionsströmungen
mit teils gemeinsamen teils aber auch sehr unterschiedlichen Vorstellungen und Praktiken dar. Die
hinduistischen Tantra-Traditionen beschäftigen sich in der Regel mit vier Hauptthemen.
1) Weisheits- bzw. Erkenntnis-Wissen (jñāna)
2) Mystische, meditative Praxis (yoga bzw. sādhana)
3) esoterische Verehrungsrituale (kriyā)
4) exoterische Rituale (caryā)
Dementsprechend findet man in einigen traditionellen Tantra-Schriften jeweils vier Abschnitte, die jedoch in
den einzelnen Tantra-Texten unterschiedlich gewichtet werden:
Ein Teil beschäftigt sich mit (Mikro- und Makro-)Kosmologie, einschliesslich der Bedeutung des Körpers für die
Befreiung, sowie Metaphysik; ein zweiter Teil mit Meditationen und Yoga-Praktiken zur Erweckung von
Energien einschliesslich Einweihung und Begleitung durch einen Guru; ein dritter mit der Verehrung
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bestimmter Gottheiten und geheimen Ritualen einschliesslich erotischer Praktiken, die symbolisch oder real zu
vollziehen sind; und ein vierter Teil schliesslich mit Leitlinien für öffentliche Rituale und das Verhalten im
Lebensalltag eines fortgeschrittenen Schülers. In praktisch allen Textteilen finden sich Anweisungen für den
Einsatz von Mantras (s. 2.2) zur Unterstützung der tantrischen Ziele.

Auf philosophischer, erkenntnismässiger Ebene (jñāna) ist der Tantrismus eine


meist monistische, dem Advaita-Vedanta nahestehende Erkenntnislehre, die auf
der Untrennbarkeit des Relativen und des Absoluten bzw. auf der Identität von
relativer, phänomenaler, und absoluter, geistiger Welt basiert. Geist und materielle
Schöpfung werden nicht als vollständig verschieden und getrennt angesehen,
sondern sind durch die der Materie und dem Leben innewohnende energetische
Natur, die weibliche Schöpfungskraft, verbunden. Da der menschliche Mikrokos-
mos mit dem göttlichen Makrokosmos eng verwoben ist, bejaht der Tantrismus
Welt und Körper. Körper- und Welt-Erfahrung gelten als positive Dimensionen,
da sich in ihnen das Absolute offenbart. Das höchste, absolute Sein ist eine Nicht-
Dualität, brahman, das Absolute. Eine der Hauptlehren von Odiers Tantra-Meisterin
lautete: „In der Nicht-Dualität gibt es keine Gegensätze“ (Odier 2018, 138).
In śivaitischen Schulen wird die formlose Einheit auch parama-śiva genannt, die
sich in einen Bewusstseinsaspekt, Śiva, und einen Energieaspekt, Śakti,
differenziert. Die Śiva-Śakti-Polarität erinnert an die altindische, dualistische
Samkhya-Philosophie. Das geistig-spirituelle Prinzip, puruṣa, ist männlicher Natur,
das stofflich-energetische Prinzip, prakṛti, die Urmaterie, ist weiblicher Natur.
Erlebnisbericht: Odiers Meisterin verkündet (Odier 2018, 96):
„Prakriti ist die Substanz des Universums, sein Knochenmark, seine innerste Kraft. Alles Lebendige ist aus ihr als
dem Urstoff gewirkt. Die Form, die Farbe, das Muster, die Dichte, die Grösse des Webstücks spielt dabei keine
Rolle. Es ist immer das Prakriti-Garn, aus dem alles entsteht. (…) Die Muster entwickeln und verändern sich, sie
verschwinden und tauchen in neuer Form wieder auf. Der Faden aber, der sich unaufhörlich abspult, damit die
Form ihre götttliche Freiheit nutzen kann, dieser Faden ist immer derselbe. (…) dann ist Purusha der Weber, der
ohne Faden nichts produzieren könnte. Und der Faden allein könnte keine Gestalt annehmen. Demnach ist
Purusha das Prinzip, das die Materie durchdringt und ihr die besondere Form verleiht. Das eine kann nicht ohne
das andere existieren. Ob die Dinge wahrnehmbar sind oder verhüllt, Purusha ist der Ordnende.“

Einheit von Śiva und Śakti: Obwohl in ihren Qualitäten und Funktionen klar unterschieden, sind Śiva und Śakti
untrennbar und stellen die beiden Aspekte des Einen dar. Daran erinnert bereits die Darstellung von Śiva als
ardhanāri-īśvara, dem „Gott, der halb Frau ist“, seit Beginn der Zeitenwende (s. Abb.oben: Bronzestatue, Cola,
9. – 13. Jh.). Vgl. Verse 18-21 des Vijñānabhairatantra (13. Jh.): Ohne Siva, das reine Bewusstsein, hat Sakti
keine Existenz. Ohne Sakti, die Schöpfer-kraft, kann sich Siva nicht manifestieren. Sakti ist sein Mund. Ohne sie,
ohne ihr Licht gibt es keinen Zugang zu Siva. Er kann nur durch sie erkannt werden.
Das Konzept der Śiva-Śakti-Polarität ist nicht non-binärer Art, sondern symbolisiert einerseits die
Komplementarität und anderseits die Transformation von Weiblichem und Männlichem in der ultimativen, a-
sexuellen Einheitserfahrung von Śiva und Śakti. Auf psychologischer Ebene erinnert das Konzept an C.G.Jungs
Konzept von animus und anima, die unabhängig des biologischen Geschlechts beide in jedem Menschen
angelegt sind und wirken. Die Tantra-Praktizierenden erfahren sich in einem Stufen-Prozess zunächst als Mann
oder Frau, auch im Ritual, auf fortgeschrittener Stufe in verinnerlichter Form sowohl als Mann als auch als
Frau, bis sie schliesslich in der unio mystica realisieren, dass sie weder Mann noch Frau sind.
Śiva und Śakti erscheinen nur dem unverwirklichten Menschen als polare Wesen. Die Vereinigung von Śiva und
Śakti steht für die Einheit und Ungeschiedenheit der Erscheinungswelt, welche die ganze Schöpfung
durchdringt. Sexualität ist dafür eine im Tantrismus häufig benutzte Symbolik und zum Teil auch reales Ritual.
Das verbindende, höchste Ziel aller Tantra-Traditionen ist deshalb die Vereinigung von Śiva und Śakti im
menschlichen Körper bzw. das Aufgehen der Einzelseele, des Selbst (ātman) im Absoluten (brahman) jenseits
aller Polaritäten und damit Befreiung bei Lebzeiten (jīvanmukti). Deshalb wird tantra-yoga auch als laya-
yoga, als „Yoga der Auflösung“, des Verschmelzens und Verschwindens, bezeichnet.

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Weg der Praxis: Über und vor allen theoretischen Vorstellungen und Konzepten steht jedoch im Tantrismus
die Praxis, der praktische Heilsweg – sei es in Form einer grossen Vielfalt yogischer Praktiken und Meditations-
formen (yoga bzw. sādhana, siehe Kpt. 2) oder in Gestalt differenzierter, realer oder abstrakt-symbolischer
Verehrungsrituale (kriyā) (s. 1.7) und Verhaltensregeln und Alltagsriten wie pūjā (caryā). Für die Erlösung bzw.
für die Einheitserfahrung von Śiva und Śakti können die vier Hauptthemen des Tantrismus (jñāna, sādhana,
kriyā, caryā) zwei Hauptwegen zugeordnet werden:
 Die orthodoxe und unorthodoxe rituelle Praxis (kriyā, caryā), durch die u.a. mit Hilfe von Initiations-
und Reinigungsriten alle Hindernisse in der spirituellen und materiellen Welt beseitigt werden. Dazu
gehören teils symbolisch-mystisch teils real vollzogene, geheime, erotische Rituale (Kpt. 1.7, 1.8).
 Die mystisch-meditative Verwirklichung der höchsten Wirklichkeit (jñāna), die meditative Vergegen-
wärtigung des Gottesbewusstseins (bhāvanā) und das Erkennen der eigenen, angeborenen, göttlichen
Natur (pratyabhijñā) durch Yoga-Übungen und Visualisierungspraktiken (sādhana) (Kpt. 2). Hier wird
zwischen einer stufenmässigen und einer – wesentlich selteneren - spontanen, direkten Verwirklich-
ung unterschieden; die erstere mit, die zweite ohne Hilfe meditativer und ritueller Techniken.
Die Erlösung bzw. Befreiung (mukti, mokṣa) ist an folgenden Merkmalen erkennbar (Pfau 2003, 29):
 Er/sie hat die Einheit von Mensch und Kosmos, von Mikro- und Makrokosmos erkannt.
 Er/sie hat den männlichen und weiblichen Aspekt der einen Wirklichkeit jenseits aller geschlechtlichen
Unterscheidungen in sich vereint.
 Sein/ihr Bewusstsein erfährt keine von ihm getrennten Objekte mehr.
 Er/sie ist frei von Täuschung und Verhaftetsein.
 Er/sie erfährt in sich vollkommene Einheit mit anderen Menschen und der Umwelt.
 Er/sie hat Macht und Vollkommenheit in Bezug auf seinen Körper und übernatürliche Fähigkeiten*.
 Er/sie hat sich mit seiner Gottheit vereint bzw. ist sie selbst geworden.
 Er/sie hat das höchste Prinzip verwirklicht und ist selbst zu diesem Prinzip geworden.
 Er/sie muss nicht mehr wiedergeboren werden.
* Ein innerer, schamanistisch orientierter Zirkel von Tantrikern ergänzte das Heilsziel mit Techniken zur
magischen Manipulation aller möglichen Wesen. Zu diesem Zweck befolgten sie eine Reihe von esoterischen
Praktiken, die ihnen einen schnellen Zugang zu übernatürlichen Kräften (siddhis) ermöglichten. Siddhis gelten
jedoch im Tantrismus auch als natürliches Ergebnis des Heilsweges. Dazu gehören die Kraft, unendlich klein
oder groß zu werden, die Levitation, die Fähigkeit, die Seele in jemand anderen eintreten zu lassen, aber auch
weltliche siddhis wie Hellsehen oder Regenmachen. Während z.B. die Yogasutras des Patanjali vor siddhis als
Hindernisse auf dem Weg warnen, gilt der Besitz magischer Qualitäten und Fähigkeiten im Tantra als Zeichen
dafür, dass jemand die angestrebte Vollkommenheit tatsächlich erreicht hat. Im indischen Volksglauben sind
Tantriker als mit siddhis ausgestattete Magier bekannt, geachtet, oft aber auch gefürchtet (vgl.Jacobsen 2011).

1.4 Hauptmerkmale

Abgesehen von den oben erwähnten vier Hauptthemen sind für viele hinduistische Tantra-Traditionen die
folgenden Grundvorstellungen und Praktiken charakteristisch, die näher beschrieben werden:
1) Gleichstellung oder Dominanz der Śakti über Śiva
2) Śāktismus: Wiederentdeckung der Frauen- und Göttinnenenverehrung
3) Vergegenwärtigung der Śiva-Śakti-Einheit: in der liṅga-yonī-Symbolik im pūjā-Ritual («rechtshändiger
Weg») oder real im rituellen Geschlechtsakt («linkshändiger Weg»)
4) Spiritualisierung von Materie und Körper
5) Dominanz der mantra-Praxis
6) Verwendung von maṇḍala, yantra und cakra
7) Verwendung von mudrā
8) Ziel- und ergebnisorientierte Meditations- und Yoga-Praxis (sādhana, siddhi)
9) Vorrangstellung des Guru

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1) Gleichstellung oder Dominanz der Śakti über Śiva
In den bisherigen, historisch belegten Kulturepochen Indiens dominierten männliche Gottheiten und die
männliche Priesterklasse. Weibliche Gottheiten blieben grösstenteils im Hintergrund oder traten nur als
Ehefrauen ihrer göttlichen Partner in Erscheinung. Im Tantrismus findet diesbezüglich eine Revolution statt.
Das Universum gilt im Tantrismus als durch die Wechselwirkung der Polaritäten von aktiv und passiv, weiblich
und männlich etc. gebildet. Neu aber gilt Śiva, das männliche Prinzip, als passiv und Śakti, das weibliche
Prinzip, als aktiv. Die Śakti bringt auf allen Ebenen neues Leben hervor und führt die männlich-weibliche
Polarität des Universums zusammen. Sie ist Ursprung aller Energieformen. Als universale, kosmische
Schöpferkraft steht sie nicht nur für geistig-spirituelle Erkenntniskraft, sondern für alle Kräfte auf allen Ebenen,
auch für die sexuelle Kraft. So ist für den tantra-yoga die Anrufung der Śakti als das kosmische Prinzip der Kraft
und Energie charakteristisch, die sowohl im ganzen Universum als auch im Menschen wirkt. Ihr männlicher
Gegenpart, Śiva, steht im tantrischen Kontext für das absolute, reine Bewusstsein, für das unendliche und
ewige Eine, das überall existiert und sich als Śakti in der Erscheinungswelt in allen Formen manifestiert.
Śiva und Śakti, kosmisches Bewusstsein und kosmische Energie, sind im Konzept von śivaśakti untrennbar
miteinander verbunden: sie sind eins. Ihre Interdependenz kann folgendermassen ausgedrückt werden: Śiva
kann sich ohne Śakti nicht manifestieren. Ohne sie gleicht er einem Leichnam. Umgekehrt kann sich Śakti ohne
Śiva ihrer selbst und ihrer Schöpfung nicht bewusst sein.
Die Religionsgeschichte zeugt von vielen Beispielen, «die Differenzierung des Absoluten in antagonistischen
und doch zusammenwirkenden Gegensatzpaaren darzustellen. Zu ihren ältesten und häufigsten gehören die
auf der Dualität der Geschlechter beruhenden: Vater Himmel und Mutter Erde, Uranos und Gäa, Zeus und Hera,
die chinesischen Prinzipien des Yin und Yang. Dies ist eine Konvention, die in den hinduistischen und den
späteren buddhistischen Traditionen mit besonderem Nachdruck entwickelt worden ist. Obgleich ihre äußere
Symbolisierung verblüffend erotisch wirkt, sind die Beziehungen dieser Gestalten fast ausschließlich allegorisch
(sinnbildlich) zu verstehen» (yoga-vidya.de).
Im Abschnitt zur Symbolik von liṅga und yonī wird auf die Komplementarität und Einheit des mänlichen und
weiblichen Prinzips auf ritueller Ebene eingegangen (Punkt 3 unten).

2) Śāktismus: Wiederentdeckung der Frauen- und Göttinnenenverehrung

Der śakti-Begriff: Das Nomen śakti stammt von der Wurzel śak-, "können, fähig sein, vermögen», Kraft haben,
um zu wirken, mit dem femininen Suffix -ti: Śakti ist eine weibliche, schöpferische Kraft und wird deshalb
volkstümlich mit «mā, mātā, ambā, amman», «(Gottes-)Mutter», angesprochen. Im Allgemeinen bezieht sich
der Begriff auf «Kraft», «Stärke» oder «Energie», ebenso aber auch auf «Macht» im Sinne von engl. «power»
sowie «Dynamik» und «Potenz». Im religiösen Kontext steht Śakti für die Göttin (Devī) oder die Kräfte der
Gottheiten. «Shakti ist im Hindismus eine der fundamentalsten Kategorien des Göttlichen überhaupt und man
kann auch umgekehrt formulieren: Macht, Energie, Dynamik, besondere Kräfte werden als etwas Göttliches
betrachtet» (Wilke 2006/7, 1). Vom vedischen Agni-Kult bis zum Tantrismus bezeichnet śakti durchgängig die
göttliche Kraft, die untrennbar mit ihrem Träger verbunden ist. In der späteren Entwicklung wird Śakti in
zahlreichen Manifestationen als die Gefährtin von Śiva dargestellt. In der puranischen Literatur erscheint śakti
auch als spezifische Waffe der Götter. Schließlich bezieht sich der Begriff śakti auf die Ausdruckskraft der
Sprache, um die Realität durch eine Bezeichnung, Andeutung oder Suggestion zu beschreiben, Bedeutungen,
die im mantra-Konzept miteinander verbunden werden (Timalsina 2016, vgl. Kpt. 2.2).
Definition des Śāktismus: Mit Śāktismus wird neben dem Śivaismus und Viṣṇuismus jene hinduistische
Hauptströmung verstanden, in welcher der Göttin und weiblichen Gottheiten eine besondere Stellung
zukommt. Je nach ihrer Funktion und lokal-regionaler Ausprägung zeigen sich unterschiedliche Formen auf
verschiedenen Ebenen: Śakti kann als eine der zahlreichen Volks- und Dorfgöttinen personifiziert werden und
zugleich das alles überstrahlende „Höchste Eine“ oder den philosophischen Zentralbegriff darstellen. Śakti
kann einerseits eine autonome – sanft-gütig-beschützend-nährend-heilende oder aggresssiv-grausam-bestiali-
sche - Muttergöttin sein, anderseits auch nur das Attribut eines männlichen Gottes. Gemeinsam ist den Śākta-
Kulten, dass eine oder mehrere Göttinnen als Energien aufgefasst werden, die das Heilsgeschehen und die
Schöpfungsprozesse mehr oder weniger eigenständig beeinflussen und bedingen.

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So wird zwischen volkstümlichen «Zahnmüttern» und den «Brustmüttern» der sanskritischen Hochtradition
bzw. zwischen «wilden und milden Göttinnen» unterschieden (Wilke 2006/7, 11, im Anschluss an S. Kakar):

Je nachdem, ob die Göttin als jungfräulich, autonom und souverän oder aber als verheiratet vorgestellt wird,
kann von einem unabhängigen oder abhängigen Śāktismus gesprochen werden (Wilke 2006/7, 7):

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Als Gattin-Göttin wird Śakti in der grossen Göttin-Trias der Hochtradition mit den grossen kosmischen Göttern
assoziiert: Mahākālī mit Śiva, Mahālakṣmi mit Viṣṇu, Mahāsarasvatī mit Brahma (Wilke 2006/7, 7):

Entwicklung des Śāktismus (s.a. Kpt. 1.5): Agni, «Feuer», ist seit dem Veda die am häufigsten verwendete
Metapher, um den ontologischen, transzendenten Aspekt von Macht zu beschreiben. Die vedische Gottheit
Agni wird mit sieben "Zungen" angerufen, wie kālī, karālī etc. Der frühe Śāktismus hängt wahrscheinlich mit
der vorvedischen Verehrung von sieben oder acht "Müttern" der dravidischen Ureinwohner (sapta-mātṛkās,
Kpt. 1.1) und vielleicht sogar der Industalkultur zusammen. Die historisch belegte Entwicklung des Śāktismus
begann im 4. Jh. mit seiner Hochblüte im 12. bis 14. Jh. Zur Verbreitung des Śāktismus haben die indischen
Volksreligionen beigetragen, in der die Verehrung weiblicher Gottheiten immer vorherrschend war.
Der ausgeprägte Göttinnen-Kult des hinduistischen Tantrismus ist möglicherweise aus einer Synthese der
Samkhya-Philosophie und der wiedererstarkten, ursprünglich prähistorischen Frauen- und Göttinnen-
verehrung entstanden. Der Tantrismus scheint sich unter dem Einfluss alter matriarchaler Kulte entwickelt zu
haben, die in den indischen Randregionen überlebt haben. So gesehen ist der Tantrismus eine Wieder-
entdeckung der weiblichen Spiritualität: jede Frau ist eine Inkarnation der Śakti, der kosmischen Urkraft.
Zu den wichtigsten Schriften des Śāktismus gehören die Śaṅkara zugeschriebene Saundaryalaharī, „Woge der
der Schönheit“, die Tantra mit dem Advaita-Vedānta verbindet, das Devi-Bhāgavata-Purāṇa sowie das Devī-
Mahātmya bzw. durgāsaptaślokī, „700 Verse zu Ehren Durgās“, einem Teil des Markandeya-Purana (s.
Handouts „Devi und Devi-Mantras“, „durgāsaptaślokī“). Das Devīmahātmya (6. Jh.) beschreibt, wie sich die
Körper der vedischen Götter als brennende Flamme manifestieren, aus der die mächtige Durgā hervorgeht.
Das bereits erwähnte Vijñānabhairavatantra vergleicht die untrennbare Beziehung von Śiva und Śakti u.a. mit
dem Feuer und seiner brennenden Kraft. Die Tantras beschreiben den Aufstieg der kuṇḍalinī immer wieder mit
Metaphern des Feuers als Flamme, Hitze, Licht, Verbrennung oder das brennende Gefühl, das im Körper des
Sādhaka auftritt. Yogis demonstrieren ihre Macht, indem sie ihre Kontrolle über das Feuer auf verschiedene,
rituelle Arten zeigen (Tamalsina 2016).
Verehrung des Weiblichen: zentralstes Element des hinduistischen Tantrismus:
Hier transzendiert das weibliche Prinzip das männliche, obwohl es mit ihm eng verbunden bleibt. Wie bereits
dargestellt, ist Śakti mit allen Aspekten des Lebens ausgestattet: erzeugend wie auflösend und zerstörerisch,
sinnlich wie erhaben, gütig bis schrecklich. In tantrischen Schriften wird immer wieder betont, dass jede Frau
eine Verkörperung der Śakti ist, die man verehren soll und weder beschimpfen noch schlagen darf. Sie ist kein
Sexualobjekt, sondern eine Göttin und bleibt als solche geachtet, unbehelligt und frei. Die Frau gilt sogar als
Initiation des Mannes. Als Mann ist es Teil des tantra-yoga, das weibliche Prinzip und Universum im Inneren zu
realisieren. Die Überzeugung ist verbreitet, dass ein Mann ohne Frau nichts ist und keine Kraft hat.
Gender-Aspekte des Tantrismus:
Die Entwicklung weiblich geprägter Vorstellungen und Praktiken im Kontext einer streng patriarchalen Kultur
erscheint als revolutionär. Diese Kultur, in der der größte Teil der religiösen Aktivitäten bis heute von Männern
dominiert wird sowie die ungebrochene patriarchale Gesellschaftsstruktur lassen allerdings Zweifel daran
aufkommen, dass Frauen in Indien nicht nur als Gottheiten, sondern auch in der Gesellschaft entsprechend
geachtet wurden. Leider ist es eine Tatsache, dass die meisten Tantras aus der männlichen Perspektive
verfasst wurden und die tantrische Yoga-Praxis fast immer für Männer konzipiert war (ebenso bei Daniel
Odier, siehe das Quellenverzeichnis, insbesondere Odier 2018).

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3) Vergegenwärtigung der Śiva-Śakti-Einheit: in der liṅga-yonī-Symbolik im pūjā-Ritual («rechtshändiger
Weg») oder real im rituellen Geschlechtsakt («linkshändiger Weg»)
Die Śiva-Śakti-Polarität, und zugleich deren Vereinigung und
Einheit, wird im tantrischen pūjā-Ritual in materieller Form von
liṅga und yonī, die die männlichen und weiblichen Geschlechtsteile
halb symbolisch halb real darstellen, konkret abgebildet (s. Abb.:
Pashupatinath-Tempel, Kathmandu). Dieses seit dem Mittelalter
dominierende Ritual vermittelt dem „rechtshändigen“ Tantriker
eine äussere Stütze und Erinnerung für die geistige, innere
Vergegenwärtigung der beiden kosmischen Grundprinzipien und
ihrer fundamentalen Einheit in der Meditation (s. yantra, Kpt. 2.3).
Auf dem «links-händigen Weg» wird diese Einheit in der sexuellen
Vereinigung zwischen einem tantrika und seiner Partnerin (maithunā) rituell wiederhergestellt (s. Kpt. 1.8).
Die Grenzen zwischen Magie und Mystik, zwischen esoterischen Ritualen und erotischer Mystik sind fliessend.
liṅga und yonī symbolisieren die auf- und absteigenden, vertikalen und horizontalen, zentrifugalen und
zentripetalen, elektrischen und magnetischen Urkräfte des Universums. Sie stehen zueinander wie Berg und
Tal, Wald und Wiesen, Feuer und Wasser, Mann und Frau: nur auf der biologischen Ebene stehen sie für die
männliche und weibliche Sexual-Energie, auf höherer Ebene symbolisieren sie Licht und Energie des reinen,
absoluten Bewusstseins. Der liṅga stellt die aufsteigende Energie des Bewusstseins und des Lebens dar. Er
wird dargestellt oder verbunden mit felsigen Bergen, Säulen, aufrechtstehenden Steinen, mit Kristallen, Feuer,
verschiedenen Licht-Formen und Transparenz. Die yonī wird mit Fruchtbarkeit, Wasserquellen und Flüssen,
sakralen Kreisen und Ringsteinen assoziiert. Die wahre, innere yonī ist die „Höhle“ im spirituellen Herzen, in
der die Schöpfung wohnt und die das innerste Feuer und die Urquelle des Lebens in uns hält (Frawley 2008).
Die liṅga-yonī-Symbolik entspricht jener von yin und yang; in ihr kommen jeweils die beiden grossen
kosmischen Kräfte zum Ausdruck (Frawley 2020, 54).
Mit der einerseits symbolisch im pūjā-Ritual vergegenwärtigten, anderseits real im rituellen Geschlechtsakt
erlebten Vereinigung von Śiva und Śakti überlappen die beiden tantrischen Ritual-Typen, die für die beiden
Haupttraditionen des Tantrismus charakteristisch sind:
a) sog. «rechtshändige» Rituale, in Konformität mit den ethisch-moralischen Vorstellungen des «sanātana
dharma» oder Mainstream-Hinduismus stehende Rituale, und
b) «linkshändige» Rituale, welche die sozialethischen und rituellen Konventionen brechen und als verwerflich
gelten (Kpt. 1.5).

4) Spiritualisierung von Materie und Körper


Der Tantrismus hat eine Feinkörperlehre, ein System feinstofflicher Energieströme (prāṇa), Energiezentren
(cakra) und Energiekanälen (nāḍī) entwickelt, auf welchen die yogisch-meditativen Praktiken, wie kuṇḍalinī-
und haṭhayoga, die rituelle Visualisation und Identifikation mit Gottheiten (nyāsa) sowie die rituelle, sexuelle
Vereinigung (maithunā) basieren. Ausgangspunkt für die tantrische Yoga-Praxis ist der menschliche Körper. Im
Gegensatz zu früheren Yoga-Traditionen vertritt der Tantrismus die Ansicht, dass der Körper als Mikrokosmos
ein Reservoir ungeahnter Möglichkeiten darstellt und verehrungswürdig ist. as Kularnavatantra I.14 verkündet:
Unter den 8‘400‘000 Arten verkörperter Wesen ist’s nur der menschliche (Körper),
in dem das Wissen von der (wahren) Wirklichkeit erworben werden kann.
Der Tantrismus vertritt die Ansicht, dass der sinnlich wahrnehmbare Teil unserer Realität nur einen kleinen
Ausschnitt ausmacht und es mehrere elementarere Existenzebenen gibt, die unseren Sinnesorganen
verborgen sind. Dabei schliessen sie an die Yoga-Physiologie der Upanishaden mit den fünf Körperhüllen
(kośa) und jene der vedantischen Dreikörper-Lehre mit grob-, feinstofflichem und Kausalkörper an.
• Der grobstoffliche, physische Körper, sthūla-śarīra bzw. annamaya-kośa, besteht aus Nahrung und den
fünf Elementen, und ist den Prozessen von Geburt, Wachstum, Zerfall und Tod unterworfen.
• Der feinstoffliche Körper, sūkṣma-śarīra, enthält drei Körperhüllen:

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o prāṇamaya-kośa: entspricht der „Astralebene“ – hier existieren die prāṇa-Energieströme, die nāḍī
und hier findet eine der Hauptaktivitäten der cakras statt
o manomaya-kośa: entspricht dem Intellekt und Ich-Prinzip („lower mind“)
o vijñānamaya-kośa: enthält das höhere Denkorgan, buddhi, Vernunft und Gewissen („higher mind“)
• Im formlosen Kausalkörper schliesslich, kāraṇa-śarīra, sind die „Ursachen“, die kosmischen
Urprinzipien und insbesondere das individuelle Karma des grob- und feinstofflichen Körpers,
gespeichert. Darüber steht der ānandamya-kośa, der Körper der Glückseligkeit.
Die Körper können als unterschiedlich feine Schwingungs- oder Aggregatzustände der Urmaterie, der
kosmischen Śakti, vorgestellt werden.
Ausserdem besteht ein Zusammenhang zwischen den drei Bewusstseinszuständen der Mandukya-Upanishad
und den drei Körpern, als ob diese die Träger der Zustände wären: der grobstoffliche Körper für den
Wachzustand, der subtile für den Traumzustand, und der kausale für den Tiefschlaf. Zuordnung der cakras.
prāṇa:
Der westlichen Wissenschaft unbekannt, ist das prāṇa-Konzept der Energieströme im Tantrismus eine
Selbstverständlichkeit. prāṇa, von der Wurzel an, „atmen“, bedeutet wörtl. „Hervor-Atem“, (Lebens-)Atem,
Lebenskraft, kosmische Energie; lebensspendende Essenz, die der Atem in den Körper hineinträgt und in den
nāḍīs zirkuliert; auch physischer Atem und die physische Atemluft.
Der tantrischen prāṇa-Lehre zufolge teilt sich prāṇa in fünf verschiedene „Winde“ oder Steuerungsenergien:
• prāṇa: der Lebensatem, die Energie hinter dem Atmungssystem; „Ausatmen“
• apāna: „Herab“-Energie: des Ausscheidens, der Sexualität, Menstruation, Geburt; „Einatmen“
• samāna: die ausgleichende Energie hinter der Verdauung
• vyāna: „durchdringende“ Energie: Blutkreislauf und Bewegungssystem
• udāna: „Herauf“-Energie: Nervensystem, Kommunikation, Gehirn und Hormone
nāḍīs:
Nadis, „Kanal, Ader, Arterie“, sind feinstoffliche Energiekanäle für das Fliessen von Lebensenergien. Sie
transportieren prāṇa in die physischen Organe des Körpers und zu den Energiezentren, den cakras, und
dadurch zu den geistigen „Organen“. Die Nadis sind analog zu den Meridianen der chinesischen Medizin. In
den Schriften werden 72.000 Nadis erwähnt. 24 der Nadis gelten als besonders wichtig, wovon wiederum drei
als Hauptkanäle: suṣumnā, der Zentralkanal, der im Feinstoffkörper entlang der Wirbelsäule vom Damm bis
zum Scheitel verläuft, links davon, sich mehrmals um sie schlängelnd, iḍā, die im linken Nasenloch sowie rechts
davon piṅgalā, die im rechten Nasenloch endet. Die meisten Nadis sind gemäss tantrischer Lehre evolutionär
noch nicht geöffnet und müssen erst durch geeignete Methoden erschlossen werden. iḍā steht für den
femininen, lunaren und rezeptiven Aspekt im Menschen, sie ist stärker in Phasen der Konzentration, der Stille
und der Empfänglichkeit. piṅgalā steht für den männlichen, solaren, aktiven Part, und ist während Phasen der
Aktivität, der Logik, der harten Arbeit und der Entscheidung dominant. Die suṣumnā ist in der Regel für stärke-
re Energien verschlossen und muss durch geeignete Praktiken erweckt werden, damit die kuṇḍalinī-Kraft hoch-
steigen kann. Zur Reinigung und Öffnung der Kanäle ist dem haṭhayoga zufolge meist prāṇāyāma notwendig.
granthis:
Während des Aufstiges der kuṇḍalinī gibt es drei granthis, energetische Knoten oder Blockaden, die der Yogi
überwinden muss: Brahma-Granthi oberhalb des unteren cakra, der für die Barriere zwischen physischer Welt
und Astralwelt steht, Viṣṇu-Granthi oberhalb des Herzcakra, der die Barriere zwischen astraler und kausaler
Ebene darstellt, sowie Rudra-Granthi oberhalb des 3. Auges, der für den Übergang von der kausalen zur non-
dualen brahman-Ebene steht,wo es zur kosmischen Erfahrung von Liebe,Verbundenheit u. Gottesnähe kommt.
cakras (siehe auch Kpt. 2.3.3):
cakras, wörtl. „Rad, Kreis; Wurfscheibe“, sind Energiezentren des subtilen Körpers. Die Bedeutung des Wortes
cakra legt nahe, dass die Zentren in Bewegung sind. Die cakras gleichen einem wirbelnden Energiestrudel am
Verbindungspunkt zwischen Körper und Psyche. Obwohl die cakras am ehesten so etwas wie Organe des
feinstofflichen Körpers sind, haben sie auch Zugang zum grobstofflichen Körper und dem Kausalkörper.
Gemäss tantrischem System gibt es sieben cakras, die mit dem Sanskrit-Alphabet und dem mantra-yoga eng
verbunden sind (vgl. 2.2; s.a. die tabellarische Übersicht bei Ramm-Bonwitt 1998, 236f.):
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Das 1. cakra, mūlādhāra oder Wurzel-cakra, liegt an der Basis der Wirbelsäule am Perineum. Es hat 4
Blütenblätter, sein yantra ist ein ockergelbes Quadrat, das für das Element Erde und den Geruch steht, sein
bīja-mantra ist "lam", sein Symbol eine eingerollte Schlage. Seine Qualitäten sind Festigkeit und Beständigkeit,
aber auch Trägheit und Weltlichkeit, seine Wünsche physisches Wohlbefinden, biologische Grundbedürfnisse.
Das 2. cakra, svādhiṣṭhāna oder Sexual-cakra, liegt in der Höhe des Kreuzbeines. Es hat 6 Blütenblätter, sein
yantra und Symbol ist ein silberner Halbmond, der für das Element Wasser, blaue Farbe und den Geschmack
steht, sein bīja-mantra ist "vam", seine Qualitäten sind Fluss der Energien, Emotionen und der Sexualkraft,
aber auch Unbewusstheit und Bedürftigkeit, seine Wünsche Sexualtrieb und Phantasie.
Das 3. cakra heißt maṇipūra oder Nabel-cakra und liegt auf der Höhe des ersten Lendenwirbels. Es hat 10
Blütenblätter, sein yantra ist ein rotes, mit der Spitze nach unten zeigendem Dreieck, das für das Element
Feuer und das Sehen steht. Sein bīja-mantra ist "ram", sein Symbol die Sonnenblume und seine Qualitäten
sind Ego-Kraft und Durchsetzungsvermögen, aber auch Aggression und Macht über andere; seine Wünsche
sind Langlebigkeit und Unsterblichkeit sowie Ruhm, Macht und Besitz.
Das 4. cakra heißt anāhata oder Herz-cakra und liegt auf der Höhe der Brustwirbel. Es hat 12 Blütenblätter,
sein yantra ist ein blauer, sechszackiger Stern, der für das Element Luft und das Gefühl steht, sein bīja-mantra
ist "yam", seine Qualitäten sind Mitgefühl und Freundlichkeit gegenüber allen Wesen, und seine Wünsche
Liebe und Hingabe. Hier beginnt der Bereich des Transpersonalen, in dem das wahre Selbst geboren wird.
Das 5. cakra heißt viśuddha oder Hals-cakra und liegt auf der Höhe der Halswirbel mit 16 Blütenblättern. Sein
yantra ist ein Kreis um ein Dreieck (alternativ ein schwarzes Ei), das für das Element Äther bzw. Raum, das
Gehör und die Farbe grün steht. Sein bīja-mantra ist "ham", sein Symbol der Nektartropfen, seine Qualitäten
sind Kenntnis der eigenen Bestimmung sowie Kraft, Selbstausdruck und Kreativität, sein Wunsch Mitgefühl.
Das 6. cakra heißt ājña oder Stirn-cakra, liegt im Raum hinter und zwischen den Augenbrauen und hat 2 Blü-
tenblätter. Sein yantra ist ein weißer Kreis mit zwei Blütenbättern wie Flügel. Es steht für die höheren, geisti-
gen Elemente, für das individuelle Bewusstsein. Sein bīja-mantra ist "om", sein Symbol das dritte Auge und sei-
ne Qualitäten sind Intuition, Erkennen der geistigen Zusammenhänge, spiriuelle Vision, sein Wunsch Wissen.
Das 7. cakra heißt sahasrāra oder Scheitel-cakra und liegt auf dem Scheitel des Kopfes wie ein tausendblätt-
riger weißer oder sonnenlicht-roter Lotus. Es steht für das kosmische Bewusstsein, Selbstverwirklichung und
Erleuchtung, da es hier nach tantrischer Vorstellung zur Vereinigung von Śiva und Śakti und damit zur
absoluten, vollkommenen Einheitserfahrung jenseits aller Dualitäten und Gegensätze und damit auch jenseits
aller Eigenschaften und Beschreibungen kommt.
Die cakras fungieren als Energiespeicher, um aufgenommenes prāṇa zwischenzuspeichern, und zugleich als
Transformatoren, die das prāṇa erhöhen bzw. drosseln sowie in verschiedene Frequenzen transformieren.
Der Übende kann sich durch die cakras mit transzendenten kosmischen Qualitäten verbinden. Die völlige
Erweckung eines cakra vermittelt dem Yogi außergewöhnliche Fähigkeiten, die als siddhis bezeichnet werden.
cakras: Evolution und Involution
Im Tantrismus ist die Auffassung verbreitet, dass die cakras den verschiedenen kosmischen Aspekten im
menschlichen Mikrokosmos entsprechen. Nach der tantrischen Theorie wurde die Welt durch Evolution bzw.
Entfaltung erschaffen, indem das ursprünglich göttlich Ungeteilte sich in zwei Pole ausdifferenzierte, in Śiva
und Śakti, Bewusstsein und Materie, männlich und weiblich etc. Im weiteren Verlauf kam es zu immer
gröberen Ausdifferenzierungen bis hin zu den fünf Elementen. Nach dem tantrischen Weltbild entspricht der
menschliche Körper in seiner mikrokosmischen Bauweise den Vorgängen im Makrokosmos: Das ungeteilte
Absolute entspricht dem Scheitelcakra sahasrāra, die Ebene der Śiva-Śakti-Polarität dem dritten Auge
(ājñacakra), der Raum korrespondiert mit dem Halscakra viśuddha, die Luft mit dem Herzcakra anāhata, das
Feuer mit dem Nabel-cakra maṇipūra, das Wasser mit dem Sexualcakra svādhiṣṭhāna, und schliesslich die Erde
mit dem Wurzelcakra mūlādhāra.
Involution ist die Umkehrung der evolutionären Entwicklung, das Sich-Auflösen des Gröberen im immer Feine-
ren. Diesem Prozess der Einfaltung entspricht der Aufstieg bzw. die Rückkehr der Lebensenergie durch die
cakras, von den groben Energien des mūlādhāra- bis zur Verschmelzung von Śiva und Śakti im sahasrāra-cakra.
Dieser Prozess des Aufstiegs der Lebensenergie durch einen subtilen Kanal entlang der Wirbelsäule ist als
kuṇḍalinī-yoga bekannt und soll zur völligen Befreiung und Erleuchtung führen. Die kuṇḍalinī, „die geringelte
(Schlangenkraft)“, schläft zusammengerollt wie eine Schlange im untersten cakra. (Kpt. 2.5 und 3).
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Der Integralist Ken Wilber (2006) fasst seine evolutionäre Sicht des cakra-Phänomens wie folgt zusammen
(tantra-tradition.de):
„(…) die Chakras sind (…) Stufen einer evolutionären Entfaltung: ‚Im Verlauf des spirituellen Wachstums muss
ein Mensch die evolutionäre Leiter Stufe für Stufe durch diese Dimensionen hindurch aufsteigen, und so Schritt
für Schritt seine Bewusstheit für diese höheren Bereiche erhöhen.‘ Die Chakras fungieren als Vermittler
zwischen den drei Dimensionen [grobstofflich, subtil und kausal], und können die Energie einer Dimension in die
einer anderen verwandeln. Jede dieser drei Energie/Körper-Dimensionen hat bei jedem Chakra ebenso ihren
entsprechenden Bewusstseinszustand (d.h. eine Version von Zuständen des Wachens, Träumens und des
Tiefschlafes, die mit den grobstofflichen, subtilen und kausalen Energien in Beziehung stehen, sodass jedes der
sieben Chakras einen grobstofflichen, subtilen und kausalen Körpergeist enthält).
Das Gesamtbild der Chakras ist daher ziemlich anspruchsvoll, und entspricht genau den „Grundaussagen"
des Vedanta-Modells der drei Zustände, drei Körper und fünf Ebenen (…). Im Grunde ist es einfach eine leicht
erweiterte Version dieses Modells, mit sieben Ebenen anstelle von fünf. Doch das Gesamtbild ist stimmig:
die sieben Chakras sind sieben Ebenen der Entwicklung bzw. der Evolution. Jede dieser Ebenen existiert in drei
Haupt-Dimensionen: grobstofflich, subtil und kausal. In der grobstofflichen Dimension sind die Chakras mit den
Organen und Systemen des Körpers verbunden, wie z.B. den Genitalien, dem Solarplexus, dem Herzen, dem
Kehlkopf, und der Hirnanhangdrüse. In der subtilen Dimension erscheinen die Chakras so, wie sie meist
dargestellt werden, als die subtilen Zentren der Energie und des Bewusstseins, angeordnet entlang der
Wirbelsäule (mit sekundären Meridianen wie sie z.B. in der Akupunktur dargestellt sind). In der kausalen
Dimension sind die sieben Stufen derart subtil und feinstofflich, dass sie ihre definierenden Merkmale zu
verlieren beginnen, doch sie sind immer noch gegenwärtig als der kausale Grund und als Unterstützung aller
Junior-Ebenen und Dimensionen (…)
Das Chakra-System (…) ist das einfachste Modell, welches auf eine angemessene Weise mit drei Sachverhalten
(…) umgehen kann: Bewusstseinszustände, Bewusstseinsstufen, und die damit in Verbindung stehenden
Energien, all das kann ziemlich nahtlos in einem derartigen Modell miteinander verwoben werden. Mehr wird
derzeit nicht benötigt; und weniger wäre unzureichend."
Für aktuelle indische Interpretationen siehe zum Beispiel jene von Daniel Odiers Meisterin (Odier 2018, 151f.)
und die Beiträge des Sanskrit-Channels (Quellenverzeichnis).

5) Dominanz der mantra-Praxis


In der tantrischen Praxis ist der Einsatz von Mantras wahrscheinlich das Hauptmerkmal bzw. verbindende
Element aller Riten und Yoga-Praktiken, weshalb tantra-yoga auch mantra-yoga ist. Der Tantrismus führt
jedoch die Tradition und überragende Bedeutung, welcher der Sakral-Sprache und ihrer Bausteine seit
altvedischer Zeit zukommt, nicht nur weiter, sondern verbreitet, vertieft und systematisiert die Mantra-
Philosophie und -Praxis zu einer eigenen Wissenschaft, dem sog. mantra-śāstra (s. Kpt. 2.2). Dieser Mantra-
Wissenschaft liegt die Überzeugung zugrunde, dass mantra-japa im Kali-Zeitalter das wichtigste und
wirksamste Mittel zur Befreiung ist.

6) Verwendung von mystischen, geometrischen Diagrammen wie maṇḍala, yantra und cakra – siehe Kpt. 2.3

7) Verwendung von mudrā, Handgesten und Fingerstellungen bzw. spezifische Körperübungen im haṭha-
yoga – siehe Kpt. 2.4, 3.3

8) Ziel- und ergebnisorientierte Meditations- und Yoga-Praxis (sādhana, siddhi; s. Kpt. 2.1, 2.2, 3.3, 3.4)

9) Dominanz bzw. Vorrangstellung des Guru bzw. der Gurvī

Im Tantrismus ist ein qualifizierter Guru als unabdingbarer Vermittler der persönlichen, spirituellen
Einweihung(en) (dīkṣā) und der esoterischen Lehren sowie als verlässlicher, kundiger Begleiter auf dem
spirituellen Weg eine conditio sine qua non (für Details s. Steinmann 1986). Doch schon seit upanishadischer
Zeit gilt ein Guru als unabdingbare Voraussetzung, als Schlüsselelement auf dem spirituellen Weg.

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Im Tantrismus wird dem «wahren Guru», dem sad-guru, eine noch gesteigerte, absolute Autorität
beigemessen. Er wird als eine Verkörperung der göttlichen Inspiration, ja als lebendiger Gott unter Menschen
gesehen, wie bereits Krishna von Arjuna in der Bhagavadgita, und gilt als unfehlbar. Das Tantrarajatantra
verkündet, dass es keinen höheren Gott als den Guru gibt; und das autoritative Kularnavatantra (III.113)
bekräftigt, dass es keine grössere Wahrheit als den Guru gibt. Dasselbe Tantra (XII.49) stellt den Guru sogar
über Śiva, dem Ur-, Welt- und geheimen Guru:
Der Guru ist Vater; der Guru ist Mutter; der Guru ist Gott Śiva;
Wenn Śiva sich erzürnt, ist der Guru der Erretter;
Aber wenn der Guru erzürnt ist, bleibt niemand (zur Errettung).
Vom Wort des sadguru, welches in seiner mantra-Form eine direkte Verbindung zum göttlichen Ursprung
herzustellen befähigt, heisst es im gleichen Tantra (I.107):
Ein einziges Wort des Gurus verleiht Befreiung (mukti); alle Wissenschaften sind Maskeraden.
Dementsprechend lang und anforderungsreich sind die Qualifikationslisten für einen sadguru anhand derer
Novizen einen Meister gründlich überprüfen sollten. Abgesehen von vorbildlicher, makelloser ethisch-
moralischer Lebensführung ist der Tantra-Guru frei von Zorn, Hass, Furcht, Schmerz und Verstellung, frei von
Eigenwillen und Ich-Bewusstsein, frei von Parteilichkeit und Dualität, stets seinem Selbst innewohnend,
befindet er sich in einem souveränen Zustand jenseits aller Kasten und Lebensstadien. Unberührt von Lob und
Kritik fühlt er sich eins mit allem und ist voller Mitgefühl für alle Lebewesen. Neben Kenntnissen des Veda
beherrscht er die tantrischen Schriften und deren Geheimsprache, die er nur reifen Schülern offenbart und
erklärt (s. Kpt. 1.6). Er verfügt über Menschenkenntnis und Diskriminations- und Argumentationsvermögen,
ebenso über paranormale und vor allem charismatische Fähigkeiten als »Durch-dringer» und «Erwecker» und
wird deshalb auch siddha genannt. So besitzt ein tantrischer Guru u.a. die Fähigkeit, in einem Gnadenakt
bestimmte Energien direkt auf den Schüler zu übertragen (śakti-pāta) und diesen Schritt für Schritt zu höheren
Bewusstseinszuständen zu erwecken, zu begleiten und bei allen damit verbundenen Hindernissen und
Prüfungen zur Seite zu stehen. Er lehrt nicht nur durch Worte, sondern auch non-verbal, durch sein Vorbild,
durch und in Schweigen und in der Meditation. Der Guru ist auf verschiedenen Ebenen, innen und aussen,
Gegenstand der Meditation. Im Rudrayamala-Tantra verkündet ParamaŚiva, der Ur-Guru (ādi-guru):
Es gibt nur einen glückbringenden Guru und der bin ich selbst.
Bald ist er im tausendblättrigen Lotus zu kontemplieren,
bald im Herz-Lotus und zuweilen den Augen gegenwärtig (in menschlicher Gestalt).
Sein Wissen verkauft ein sadguru um nichts in der Welt und er weiss, zwischen fähigen und unfähigen Novizen
zu unterscheiden, da ihm nicht nur die Verantwortung für den Heilsvollzug, sondern ebenso für die
Handlungen der von ihm angenommenen Schüler obliegt. Von Novizen seinerseits werden eine gereifte,
asketische und intelligente Persönlichkeit, ein uneigennützger, selbstbeherrschter Charakter, Sauberkeit,
weitgehende Entwöhnung vom Sinnenleben sowie, und vor allem, Sehnsucht nach Befreiung gefordert.
Einweihung (dīkṣā):
Nach einjähriger, gegenseitiger Prüfung und gegenseitigem Entschluss zur Aufnahme eines äusserlich
formalen, im Wesen jedoch sehr persönlichen, intimen Verhältnisses, liegt es am Guru zu erkennen, ob und
wann der Schüler für den schrittweisen Empfang der Lehren und die graduellen Einweihungsriten reif ist. Der
Schüler seinerseits unterwirft sich in der Initiationszeremonie seinem Guru gänzlich, einschliesslich Körper und
Besitz. Von diesem Moment an wird von ihm erwartet, dass er alle Anweisungen des Guru befolgt und niemals
an ihm zweifelt. Einweihung ist im Tantrismus ein zentrales Element; sie ist die Eingangspforte, der Schlüssel
für den Heilsweg. Im traditionellen Kontext ist Tantra-Wissen kein öffentliches Wissen, sondern Einweihungs-
wissen und dementsprechend an zahlreiche Voraussetzungen verknüpft – sowohl auf Seiten des Guru als auch
auf Seiten des Schülers. Auf dem tantrischen Weg gibt es meistens drei bis vier Einweihungen, wobei die erste
in der Regel mit einem persönlichen Mantra verbunden ist. Zum Ablauf der Einweihung (Bharati 1970):
Zuerst werden vom Guru Tag, Stunde, Mantra sowie die persönliche «Wunsch-Gottheit» (iṣta-devatā)
aufgrund verschiedener Faktoren, wie Traumvorzeichen und andere Orakel, bestimmt. Der Schüler muss sich
nach strengen Regeln auf die Einweihung vorbereiten und z.B. zwölf Stunden vorher fasten. Die Einweihung
erfolgt oft im Hause des Lehrmeisters. Der Guru ruft zuerst die eigene iṣta-devatā an, führt dann den Schüler
in den Tantra-Kult ein. Dazu gehören Einleitungsrituale, Atemtechniken und spezifische Meditationen.
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Als Höhepunkt flüstert der Guru dem Schüler das Einweihungs-Mantra ins Ohr und lässt ihn dieses
wiederholen. Dieses Mantra muss vom Schüler geheim gehalten werden. Es darf von ihm erst weitergeben
werden, wenn er selbst ein Guru geworden ist. Zum Abschluss der Zeremonie folgen Opfergaben des Schülers
an den Guru sowie eventuelle Unterwerfungsriten. Mit der Einweihungszeremonie wird der Schüler Mitglied
der Familie des Meisters (guru-kula), der seinerseits die Verantwortung für die spirituelle Entwicklung des
Schülers übernimmt. Das Kularnavatantra erwähnt sieben Stufen der Initiation: veda-, vaiṣṇava-, śaiva-,
dakṣiṇa-, vāma-, siddhānta- und kaula-ācāra, wobei die ersten vier zum «innerweltlichen Weg» (pra-vṛtti) und
die letzten drei zum «ausserweltlichen Weg» (ni-vṛtti) gehören.
Dasselbe Tantra (KT XII.13) beschreibt Wesen und Funktion des sadguru, der auf allen Ebenen und Stufen des
Heilsweges tragend und durchdringend wirkt, wie folgt:
Die Wurzel des dhyāna ist der Körper des Gurus;
Die Wurzel der pūjā ist der Fuss des Gurus;
Die Wurzel des mantra ist das Wort des Gurus;
Und die Wurzel von mokṣa ist die Gnade des Gurus.

Erlebnisbericht:
Odiers Tantra-Meisterin belehrt ihn zur Einweihung in ihren «linkshändigen Weg» (s. Kpt. 1.5) so (2018, 128f.):
«Die Initiation bedeutet auch den Bruch mit den Mythen der Gesellschaft, in der du lebst. Das knüpft ein festes,
unauflösliches Band zu allen Menschen und zu allem, was uns zuvor als unbelebt erschien. Die Initiation befreit
uns von Tabus und Vorschriften der Gesellschaft, Nahrung und Sexualität betreffend, vor allem aber von ihren
Vorschriften, die sich auf die Begriffe und das Denken beziehen. Es ist eine Befreiung von Dogmen, von
Glaubenssätzen, von Zweifeln und Theorien. Der Tantrika stürzt sich mit Körper und Geist in die Wirklichkeit.
Er erklärt nicht, er experimentiert.»
Und zum Verhältnis zum Guru, hier gurvī, lehrt die Meisterin:
«Sobald die Verehrung, die wir einem Meister entgegenbringen, dazu führt, dass wir den Meister in uns selbst
übersehen, sind wir nicht mehr in der Spiritualität. (…) Die wahre Verehrung für einen Meister, die absolute
Liebe zu ihm besteht darin, sich im Innersten bewusst zu werden, dass er uns niemals etwas gesagt hat. Er hat
uns nur sein Herz geöffnet, damit wir darin das unsere erkennen konnten. Das ist alles» (Odier 2018, 133).

1.5 Haupttraditionen

Die hinduistischen Tantra-Traditionen können nach den beiden Haupt-Ritualtypen oder nach der
Hauptgottheit unterschieden werden:
A Unterscheidung nach Ritualtyp und Methode: Rechts- und linkshändiger Tantrismus
Im Laufe der Zeit haben sich zwei tantrische Hauptrichtungen herausgebildet, die von verschiedenen Sekten
und Schulen entwickelt und praktiziert wurden, die orthodoxe, „dharma-konforme“ samaya-Tradition und die
heterodoxe, „familiengetreue“ kaula-Tradition, auch „Weg des Friedens“ bzw. „Weg der Ekstase“ genannt:

1) dakṣiṇā-mārga oder „rechte bzw. rechtshändige Weg“: In dessen Mittelpunkt stehen die rechte
Erkenntnis und Urteilskraft sowie die Hingabe an die göttliche Mutter in ihren mannigfachen Formen
verbunden mit Reinigungsritualen, asketischer Lebensführung, Meditation, Visualisierungen und mantra-
japa. Dieser konventionell-orthodoxe Weg beachtet die klassischen religiösen Verhaltensregeln, wie
yama- und niyama-Gebote, und lehnt das pañca-ma-kāra- bzw. pañcatattva-Ritual des „linken Weges“ ab.
Auf diesem rechtshändigen, monistisch geprägten Weg, dessen Ziel Selbstverwirklichung ist, gilt asketische
Enthaltsamkeit als einziges Mittel zur Sublimierung der Sexualkraft.
Zu dieser älteren Hauptrichtung gehören der Kaschmirische Śivaismus oder Trika, der südindische Śaiva-
Siddhanta, die Bewegung der Vīraśaivas bzw. Liṅgāyats sowie die śāktistische Śrī-Kula-Schule (s.u.).
2) vāma-mārga oder „linke bzw. linkshändige Weg“, versucht auch die sexuellen Energien für die Transfor-
mation des Körpers und die spirituelle Verwirklichung nutzbar zu machen, indem die körperliche Vereini-
gung letztlich zu einem göttlichen Akt der Vereinigung von zwei Seelen in Form von Śiva und Śakti wird.
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Dieser heterodoxe Weg bricht bewusst mit den ethisch-moralischen Konventionen und kehrt diese in
Form der pañca-ma-kāra, „fünf ma“, ins Gegenteil um, das heisst durch den rituellen Genuss von madya
(Wein), maithunā (Geschlechtsakt), māṃsa (Fleisch), matsya (Fisch), und mudrā (geröstete Körner). Im
Rudrayamala-Tantra heisst es (nach Nik Douglas):
Ich folge dem Kult, in dem es Freude an Wein, Fisch, Fleisch, Körnern und der Frau gibt. In der Göttin
suche ich Zuflucht. Ich bin der Traditionsreihe der Gurus ergeben. Ich bin Śiva, Bhairava, der
Schreckliche, der Transzendentale. Sie ist Śakti, die Sinnliche, die Befreierin.
Zu dieser späteren Hauptrichtung gehören die śivaitische Kaula und die śāktistische Kālī-Kula-Schule (s.u.).
Der „linke Weg“ scheint zu allen Zeiten nur von einer Minderheit von Tantrikern praktiziert worden zu
sein. Schon aus Angst vor öffentlicher Ächtung und Ausschluss aus Sippe und Kaste dürften viele Anhänger
des linken Weges ihre Praktiken nur im Geheimen ausgeübt und sich gegen aussen konform verhalten
haben. So erklärt das Yoni-Tantra aus dem 16. Jh (IV.20, Smith 2015):
Innerlich Śāktas, nach außen Śaivas und in der öffentlichen Versammlung Vaiṣṇava-Ansichten
verkündend: Kaulas bewegen sich in der Welt in verschiedenen Formen.

Erlebnisbericht von Silvio Wirth, langjähriger Anhänger des linkshändigen Weges (tantra-tradition.de):
„In Indien wird die linke Hand mit Unreinheit und Unglück, die rechte hingegen mit Reinheit und Segen
assoziiert. So ist der traditionelle Begriff vama-marga oder vamachara bei den meisten Indern negativ
konnotiert als irgendwas „Sinistres“, Zwielichtiges. Für die Anhänger dieser Schulen ist die Bedeutung
jedoch positiv, weil sie entdeckt haben, wie sehr die dunklen Schattenaspekte unsere Existenz bestimmen.
Wenn man sich rituell und existenziell in diese Bereiche vorwagt, die von normalen Menschen gefürchtet
werden, kann Licht ins Dunkel gebracht werden, die unterdrückten Aspekte des Daseins werden wieder
integriert. Diese Bereiche sind Dinge wie Tod, Gewalt, ekelerregende Substanzen und vor allem die
verschiedenen Aspekte der Sexualität. Daher ist dieser Weg besonders energiegeladen und führt schnell zu
intensiven Erkenntnissen. (…) Der linkshändige Weg des Tantra wendet sich an willensstarke und ethische
Menschen, die bestimmte Qualitäten haben. Im Gegensatz zum gewöhnlichen „Pashu“ = Tier ist der „Vira“
= Held in der Lage, paradoxe Handlungen zu vollziehen, und Energie aus gezielten rituellen Tabubrüchen
umzuwandeln. Dies erfordert hohe Wachheit und Konzentration sowie die Bereitschaft, jenseits gesell-
schaftlicher Moralschranken zu leben. (…) Traditionell gesehen vollziehen Viras Rituale, in denen Tabus der
Veden wie der Genuss von Wein, Fleisch und Fisch rituell gebrochen werden, ebenso wird der Geschlechts-
verkehr rituell vollzogen. Auch Drogen und weitere Tabu-Substanzen werden zuweilen eingesetzt.
Diese Rituale sind hochsakral und sollen äußerst subtile Energien freisetzen, sind also nicht mit profanen
Aus-schweifungen zu vergleichen. Dennoch hat diese Praxis den tantrischen Weg in Indien in Verruf ge-
bracht. (…) Die Idee des rechtshändigen Tantra, die sich gewissermaßen auf ethisches Verhalten stützt und
provo-kante, die moralischen Richtlinien außer Acht lassende Rituale weglässt, scheint jedoch eine spätere
Entwicklung zu sein, die auf eine zunehmende Assimiliation des Tantra im Hinduismus hinweist. So gilt der
Asket Lakshmidhara (16. Jh.) als Reformer und wesentlicher Vertreter des rechtshändigen Tantra. Auch die
Entwicklung des Hatha-Yoga scheint im Zusammenhang mit dem rechtshändigen Tantra zu stehen“.

B Unterscheidung nach Hauptgottheit


1 Śivaiten bzw. Śaivas:
Diese bilden die größte und wichtigste Gruppe des hinduistischen Tantrismus und unterteilen sich in mehrere
Gruppen, Traditionen und Schulen. Gemeinsam ist ihnen, dass Śakti ein prominenter Aspekt Śivas darstellt. Die
Śaiva-Tantras beschreiben die fünffachen Kräfte Śivas, die hinter seinen fünf Aktivitäten der Schöpfung, der
Erhaltung, der Errettung, der Verhüllung und der Gnade stehen. Parallel dazu kennt der śivaitische Tantrismus
das Konzept der fünf śaktis, dank deren sich Śiva in fünf verschiedenen Formen manifestiert, die jeweils einer
śakti-Form entsprechen. Die fünf śaktis werden identifiziert als Bewusstsein, Glückseligkeit, Wille, Wissen und
Handlung. Oft als die fünf Gesichter von Śiva dargestellt (pañcamukha) und manchmal in liṅga-Formen mit
fünf Gesichtern zu finden, bilden die fünf śaktis das primäre maṇḍala (s. das Handout „Siva Pañcānana“).
1.1 Eine wichtige śivaitische Tantra-Schule ist jene der Kaula, „einer (esoterischen) Familie Angehörige“,
genannt, um das gemeinsame, über die geheime Initiation einende Band - der allerhöchste Gott, Śiva -

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zu betonen. Der sog. kaula-mārga und dessen Texte, die zum „linkshändigen Weg“ gehören, ermuti-
gen das Brechen moralischer Normen des konventionellen Hinduismus. Für die Kaulas ist ein freier,
experimenteller Zugang zur Spiritualität typisch. Dazu gehört der hohe Status der Kaula-Frauen, die
freie sexuelle Beziehungen pflegen dürfen. Besondere Betonung legen sie auf die Verehrung der Göttin
und geheime sexuelle Praktiken. Das Kularnavatantra gilt als einer ihrer wichtigsten Texte (s. 1.6). Der
Begriff „Kaula“ wird auch verwendet, um die geheimsten, transgressivsten und gefährlichsten Aspekte
der tantrischen Praxis zu beschreiben. In einigen Tantras wird der Begriff „kaula“ sogar konsistenter
verwendet als „tantra“. Die Kaula-Tradition gilt als Geburtsstätte des kuṇḍalinī- und haṭha-yoga.
Erwähnenswert ist die einmal prominente Krama-Schule Kaschmirs, die wichtigste Gruppe der Kālī-
kula, welche Kālī als Hauptgottheit verehrten. Ihre Anhänger verbanden die radikalsten, trans-
gressivsten Rituale mit der sublimsten, nicht-dualistischen Philosophie, „a seeming paradox that fits
well in a system that thinks of the Divine as precisely that which can meaningfully subsume all
paradoxes within itself“ (Wallis2013, 249). Die Krama-Lehren beeinflussten die Trika-Schule, mit
welcher die Krama-Schule in der Theologie von Abhinavagupta verschmolz (s.u.).

1.2 Eine andere wichtige Tantra-Schule ist der Kaschmirische Śivaismus. Er markiert den philosophischen
Höhepunkt des hinduistischen Tantrismus und wird wegen seiner Metaphysik der Trinitäten auch
Trika, „Triade“, genannt. Deren wichtigste sind:
Drei große Realitäten:
• Das höchste Transzendente – Śiva
• Die höchste schöpferische Energie, allgegenwärtig in der Schöpfung – Śakti
• Das spirituelle Atom, das begrenzte Atom oder Individuum – anu (auch nara – Mensch)
Dreiheit der Śakti:
• para-Śakti – die höchste transzendente Energie
• parapara Śakti – die höchste, nicht mehr allerhöchste Energie, sowohl transzendent als auch immanent
• apara Śakti – die immanente Energie
Dreiheit der Energien:
• iccha Śakti – die Energie des Willens. Diese Energie erscheint am Anfang einer Handlung oder eines
Prozesses
• jñana Śakti – die Energie des Wissens, durch welche die Handlung klar ausgedrückt wird, bevor sie
umgesetzt wird
• kriya Śakti – die Energie des Handelns
Dreiheit des Wissens bzw. der Erkenntnis:
• pramatri – das Beobachtende, das Subjekt
• pramana – die Modalitäten des Wissens und Erkennens
• prameya – das bekannte Objekt
Drei Ebenen von Wort und Sprache (vāk):
• pasyanti – subtile Sprache, undifferenzierte Sprache, intuitive Sprache, das Sehen des Wortes im Herzen
• madhyama – mentale Sprache, intermediäre Sprache (in Gedanken)
• vaikhari – gesprochene (äußere) Sprache
Die transzendente Triade (parātrika):
• prakasa (oder Chit, Śiva) – Helligkeit
• vimarsa (oder Spanda) – Dynamismus
• samarasya – ununterbrochene Glückseligkeit
Triade von Gott, der Welt und der Seele, identisch mit Śiva, Sakti und anu:
• pati – Meister, Gott, Śiva
• pasa – Bindung, die drei mala oder Unreinheiten
• pasu – das Gebundene, die begrenzte Seele, jivatman
Drei Unreinheiten:
• anavamala – unvollständiges Sein
• maya mala – Begrenzung im Wissen, avidya, Illusion
• karma mala – Begrenzung in der Macht der Handlung, falsche Identifikation des Autors der Handlung
mit dem begrenzten Selbst anstatt mit Śiva

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Der Kaschmir-Śivaismus entstand während des 8. oder 9. Jh. in Kaschmir und differenzierte sich bis
zum Ende des 12. Jahrhunderts. Einer seiner bedeutendsten Vertreter ist Abhinavagupta (950 – 1020),
dem in seinem Hauptwerk Tantraloka eine Synthese aller zu seiner Zeit existierenden Tantra-Schulen
gelang. Von allen Tantra-Traditionen hat die Trika-Schule die umfassendste und differenzierteste Philo-
sophie geschaffen. Das höchste Prinzip gemäß Trika ist Parama-Śiva, dem allem zugrunde liegenden
und durchdringenden, transzendenten Sein. Seine schaffende Kraft, untrennbar von ihm, manifestiert
sich in Stufen des Universums. Wenn Śakti erwacht, entsteht das Universum. Schläft die Śakti ein,
verschwindet das Universum. Aus ihrer Vibration (spanda) manifestiert sich das Sein in 36 sog. tattvas,
„Dasheiten“, oder Daseinsfaktoren. Auf dem Stufenweg zur Befreiung versucht der Schüler, die
abfallende Kaskade der Tattvas in umgekehrter Richtung wieder hoch und zurück zu ihrem und seinem
Ursprung zu gehen, indem er mit seinem Bewusstsein alles immer umfassender wahrnimmt, ohne die
unteren Stufen zu verachten oder geringzuschätzen. Zu diesem Zweck vermittelt der Guru oder die
Gurvī dem Schüler geeignete Methoden. So erklärte Odiers Tantra-Meisterin: „Die Grundlage des
Śivaismus ist es, die sechsunddreissig Tattvas, die Kattegoien des Universums, zu berühren. Sie bilden
das Fundament, auf dem der gesamte Tantrismus basiert“ (Odier 2018, 78; s. Odiers detaillierten
Erfahrungsbericht: Odier 2018, 78-88). Die Verwirklichung der letzten vier tattvas sind mit medita-
tiven Mitteln nicht mehr möglich; dort bedarf es der Gnade Śivas oder seiner Śakti. Zur Vertiefung s.
die Handouts zum „Kaschmirischen Sivaismus“ und „Vijñānabhairavatantra“ sowie Wallis 2013.

1.3 Parallel zum Kashmirischen Śivaismus im Norden entwickelte sich im Süden der tamilische Śaiva-
Siddhānta, „endgültige Absicht, vollkommenes Ziel“. Anders als die monistische Philosophie des
Kashmir-Śivaismus und Advaita-Vedanta (jñāna-yoga) geht der Śaiva-Siddhanta in Anlehnung an die
dualistische Samkhya-Philosophie von einer von Gott, Śiva, getrennten, ewigen Existenz der Seelen
(puruṣa) und der Welt (prakṛti) aus. Śiva ist sat-cit-ānanda, reine, absolute Existenz, grenzenloses und
allgegenwärtiges, intelligentes Bewusstsein, und vollkommene Seligkeit und Harmonie. Śiva handelt in
der Welt durch seine weibliche Energie, Śakti. Die Seelen werden dieser Schule gemäss inkarniert, um
es ihnen zu ermöglichen, die ihnen anhaftenden Unreinheiten (karma und anavamala; dem Ich-
Bewusstsein) abzulegen. Der Reinigungsprozess der Seele, um in den reinen śuddha-Zustand zu
gelangen, besteht aus drei durch bhakti geprägte Stufen:
• Gottesverehrung durch Darbringung von Blumengirlanden, Lobpreisung, Tempeldienst etc.
• Rituelle Anbetung und Versenkung in ein Gottesbild und die Darbringung von Feueropfern
• Tantrische Yoga-Praxis, Mantra-Rezitation und Meditation mit dem Ziel der Erleuchtung
Es wird betont, dass auch hierfür ein vollkommer Guru notwendig ist. Im Befreiungsprozess schickt
Śiva seine Arul-Śakti, die „Gnaden-Erleuchtung verleihende Śakti“. Die volksnahen heiligen Schrif-ten
dieser Schule bestehen aus elf Sammlungen von Gedichten, dem im 10. oder 11. Jh. redigierten
Tirumurai, und dem Periyapuranam des 12. Jh., der als 5. Veda in Tamil gilt, in dem das Leben und die
glühende Verehrung Śivas (śaiva-bhakti) der 63 Nayanmars oder Śiva-Verehrer beschrieben wird.

1.4 Ebenfalls im Süden, in Karnataka, entstand ab dem 12. Jh. die Bewegung der Vīraśaivas, die unter den
Herrschern von Mysore von 1350 - 1610 die Staatsreligion trugen. Sie führen als Kennzeichen eine Kap-
sel mit einem Siva-Linga mit sich, weshalb sie auch Liṅgāyats genannt werden. Grundlage ihrer tantri-
schen Lehren und Praktiken bilden der Advaita-Vedanta. brahman wird jedoch auf Siva als höchstes,
einziges Sein bezogen. Siva-brahman ist, wie im Śaiva-Siddhanta, mit den Attributen sat-cit-ānanda
ausgestattet. Sakti wird als Sivas Kraft angesehen, durch deren Aktivität in Siva ein Dualismus entsteht:
zwischen Gott Siva einerseits und der Welt und den Seelen anderseits. Siva besteht aus drei Ebenen:
dem reinen, nicht-dualen Sein; einer subtilen, rein geistigen Manifestation; und dem physischen, am
Körper getragenen Linga. Wie in den meisten Tantra-Schulen besteht die Schöpfung auch hier aus 36
tattvas, und Befreiung bei Lebzeiten besteht in der Erkenntnis der Identität mit Siva. Auch die Vīrashai-
vas praktizieren eine Kombination von śaiva-bhakti und Yoga, in dem ein Guru ebenso wichtig ist wie
ein ein reiner, gottergebener Lebenswandel, geprägt durch ahiṃsā, Gewaltverzicht, Vegetarismus und
Abstinenz von Drogen. Die Lingayats lehnen die brahmanische Tradition einschliesslich Kastenwesen
ab und behandeln Männer und Frauen gleich. Ihr Haupt-Mantra ist OM namaḥ śivāya.

1.5 Nāth-Yogīs: Mit dieser wichtigen Bewegung werden die Anfänge des haṭha-yoga verbunden (Kpt. 3.5)
19
2. Śāktas, Verehrer der Śakti:

Obschon die Śākta-Traditionen eine Pluralität von Göttinnen befürworten, sind sie philosophisch monistisch.
Im Śāktismus (s. die Einführung in Kpt. 1.4, 2) bzw. in den Śākta-Schulen wird Śakti in erster Linie als Mahādevī,
„Grosse Göttin“ verehrt, teils mit Śiva in der Nebenrolle als ihr Gefährte, teils autonom und unabhängig.
Mahadevi gilt als Allwesen und Göttin des Absoluten, das in unterschiedlichen Formen erscheint und den
männlichen Göttern als schöpferischer Aspekt des brahman übergeordnet ist. Neben der Göttin-Trias -
Mahākālī, Mahālakṣmī und Mahāsarasvatī – kommt auch der Verehrung der Göttin Durgā, „die schwer
Zugängliche, schwer zu Begreifende“, panindische Bedeutung zu. Auch sie gilt als mit dem Absoluten, dem
brahman, eins und wird als Herrin der Welt und der
Götter betrachtet. Auch Śiva ist von ihr abhängig und
existiert nach Ansicht der Śāktas nur durch sie. Durgā ist
als Mahāyoginī Schöpferin, Zerstörerin bzw. Transforma-
torin und Erhalterin der ewig existierenden Welt in einem.
Ihre Attribute sind u.a. der Dreizack Śivas, der Diskus
Viṣṇus, der Donnerkeil Indras und die Schlinge Varunas,
die ihr die Götter schenkten. Legendär-mythisch ist ihr
Sieg auf ihrem Löwenreittier über den Büffeldämon
Mahiṣa (s. Abb. Flachrelief, 7. Jh., Mahabalipuram).
Durgā ist in ihren vielen Gestalten die beliebteste Göttin
in Indien, nicht nur als waffentragende Kämpferin,
sondern auch als höchste Mutter.
Als Durgā ist Śakti ungebunden, ohne Gatten. Als Lalita, rotfarbige Göttin, sitzt sie auf Śivas Schoß und trägt
einen Zuckerrohrbogen als ein Symbol des menschlichen Geistes, Blumenpfeile als Symbol für die Welt der
Sinne, ein Netz als Symbol der Liebe und des Verlangens sowie eine Keule als Symbol von Zorn und Abneigung.
In anderen Formen tritt Śakti als (Mahā-)Kālī, „die Schwarze“, auf, die wie die Natur grausam und unbe-
rechenbar sein kann und auch blutige Opfer fordert. Im Kālī-Kult werden die Gegensätze von Geburt und Tod,
Entstehen und Vergehen, Schönheit und Schrecken des Lebens als Einheit aufgefasst. Darum verehren Gläu-
bige auch die dunklen Seiten der Kālī, huldigen ihr nicht nur auf dem Hausaltar oder im Tempel, sondern auch
auf Leichenverbrennungsplätzen. Früher brachte man ihr sogar Menschenopfer dar. Allerdings gilt Kālī auch als
Erlöserin und liebende Beschützerin. Sie ist Kālīmā, d. h. „die Mutter Kālī“, die dem Menschen in seinem
Kampf gegen die Verstrickungen in die Sinneswelt, die Gebundenheit an die Welt und den Tod helfen kann.
Eine andere wichtige Form des Śāktismus stellen Kult und Verehrung der sog. daśa-mahā-vidyās, der „zehn
grossen Weisheitsformen (der Göttin)“ dar: Kālī, Tara, Chinnamasta, Bhuvaneshvari, Bagala, Dhumavati, Kama-
la, Mitangi, Sodashi (auch Sundari) und (Tripura) Bhairavi (s. die detaillierte Beschreibung bei Frawley 2020).
Es werden zwei Hauptformen des Śāktismus unterschieden:
Die Śrī-Kula, „die Familie(n) der (hellfarbigen) Göttin Śrī“, sind hauptsächlich in Südindien vertreten, während
die Kālī-Kula, „die Familie(n) der (dunkelfarbigen) Göttin Kālī“, in Orissa, Bengalen und Assam stark verbreitet
sind, wo sie sich zum Teil mit den śivaitischen Kaula-Schulen vermischt haben. Während die Śrī-Kula-Schulen
mit den unorthodoxen „linkshändigen“ Ritualen zurückhaltend sind, sind bei den Kālī-Kula-Schulen, die die
brahmanische Tradition ablehnen, solche Rituale üblich.
Dazu gehört das linkshändige pañcatattva- bzw. pañca-ma-kāra-Ritual bzw. der rituelle Genuss von Wein
(madya), Fisch (matsya), Fleisch (māṃsa), bestimmten Getreidekörnern (mudrā) und sexueller Vereinigung
(maithunā) (s. Kpt. 1.5, A, 2, sowie Kpt. 1.8). Für Śāktas sind auch diese Substanzen Teile der Śakti und kön-nen
rituell transformiert werden. Die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse soll der göttlichen Transfor-
mation dienen. maithunā, die rituell geregelte Sexualität, wird jedoch nur von wenigen Śāktas ausgeführt; die
meisten lehnen sie ab oder führen sie nur symbolisch aus wie in den Śrī-Kula-Schulen. Früher war jedoch die
sakrale Prostitution eine verbreitete Begleiterscheinung des tantrischen Śāktismus und der Geschlechtsakt
wurde als unio mystica mit der großen Mutter, der Göttin des Lebens, der Liebe und Fruchtbarkeit, begangen.
Die den Śākta-Schulen gemeinsame Yoga-Praxis besteht in Aktivierung und Aufstieg der kuṇḍalinī durch die
Praxis von mantra, yantra und die Aktivierung der cakra. Durch das Rezitieren von Mantren manifestiert sich
nach Ansicht der Śāktas die Göttin in den yantra-Darstellungen und ist durch diese anwesend.
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3. Viṣṇuiten bzw. Vaiṣṇavas:
Die Vaiṣṇava-Schulen, vorwiegend in Bengalen und Südindien verbreitet, gehören nur am Rande dem
Tantrismus an. Ihre bhakti-Kulte sind zwar tantrisch inspiriert, enthalten jedoch insgesamt nur wenige Tantra-
Elemente und sind konventioneller ausgerichtet als die Śaiva- und Śākta-Schulen. Eine Ausnahme bildet die
pāñcarātra-Bewegung und deren Geheimlehre der „fünf Nächte“, in welcher mystische Silben, Meditation,
Mantra-Rezitation und Selbstaufgabe betont werden.

1.6 Tantra-Texte

Tantras, oft auch als Agamas, „was überliefert wird“, bekannt, sind vielfältige, teils mystisch-meditative, teils
magisch-rituelle Texte in Sanskrit-Versen. Ihre streng esoterischen Lehren und Praktiken wurden ursprünglich,
wie die ihnen vorangehenden vedischen und hinduistischen Texte, rein mündlich von Meister zu Schüler
überliefert. Je nach sektarischer Ausrichtung gelten die inzwischen verschriftlichten Texte unter ihren
Anhängern (tāntrika) als Offenbarungen
 der Muttergöttin (śakti: gemäss Tradition 64 Tantras an der Zahl),
 von Śiva (28 Agama-genannte Texte) oder,
 seltener von Viṣṇu (108 Samhita-genannte Texte).
Hinduistische Tantra-Texte im engeren Sinn sind Grundlagentexte des „Śāktismus“, dessen Anhänger (śāktas)
das Göttliche in dessen weiblichen Form (śakti oder devī) verehren. Für diese gelten die Tantras als neue
Offenbarung, welche die vedische Offenbarung (śruti) ersetzt oder ergänzt, weshalb diese Textgatung auch als
„fünfter Veda“ bekannt ist. Die Tantras erscheinen als Offenbarungen der Śakti oder Devi oder in Form
spiritueller Dialoge zwischen Śiva, meistens in der Guru-Rolle, und Śakti als seiner Gattin. Gemessen an der
grossen Zahl dieser Texte liegen erst wenige in Übersetzung vor. Dies hängt auch damit zusammen, dass sie
wegen ihrem streng esoterischen Charakter teils in einer Geheimsprache verschlüsselt, teils grammatikalisch
bewusst falsch verfasst bzw. korrupt sind.
Dafür steht der Begriff saṃdhyā-bhāṣā, „Sprache von Licht und Dunkelheit“, einer Zwielichtsprache, mit der
die Überlieferung esoterischer Lehren durch den Einsatz von Symbolik und Mehrdeutigkeit traditionell
verschleiert und vor unreifen Schülern und Anhängern schwarz-magischer Praktiken geschützt wurden. Die
Zwielichtsprache konnte auch der Steigerung der Intuition der Schüler dienen. Der Einsatz allegorischer
Geheimysmbolik war schon in den Veden und Puranas üblich und wurde in allen tantrischen Ausrichtungen
verstärkt fortgesetzt. Auch Matsyendranāth, dem Guru von Goraksanāth und legendären Begründer des
Hathayoga, schrieb seine Gedichte in einer Symbolsprache. Als Beispiel ein Kommentar zum Mahanirvana-
Tantra: „Wer sein Glied in den Schoß der Mutter einführt, die Brüste seiner Schwester presst, seinen Fuß auf
den Kopf seines Gurus setzt, der wird nicht mehr wiedergeboren“, bedeutet in Wirklichkeit: „Wer sein
betrachtendes Denken auf das Muladhara-Chakra richtet und die Energie zu Herz- und Kehl-Chakra leitet und
schließlich das Gehirnzentrum erreicht, der hat den höchsten Geisteszustand verwirklicht“ (www.tantra-
tradition.de). Vgl. die geheime Gebärdensprache der mudrās (Kpt. 2.4).
Viel umfangreicher und bekannter als die tantrischen Original-Texte selber ist die Kommentarliteratur, das
heisst die Auslegung jener durch die vielen Tantra-Meister und deren Schüler. Diese Schriften übertreffen die
kommentierten Original-Texte bezüglich spiritueller Weisheit und philosophischer Präzision und Perfektion
nicht selten. Hiervon zeugen z.B. die Schriften des Kaschmirischen Sivaismus.
Ein stichwortartiger, inhaltlicher Überblick über die wichtigsten hinduistischen Tantras zeigt deren inhaltliche
Spannweite – vom rituell bestimmten Geschlechtsakt des tantrika mit seiner Partnerin und die rein symbolisch
im pūjā-Ritual visualisierte Vereinigung, über die mystisch-yogische Vereinigung mit der Śakti oder einer ihrer
Formen in der Meditation bis zur rein philosophisch-erkenntnismässigen unio mystica. Ein Tantra enthält nicht
selten gleichzeitig Informationen zur rituellen und imaginären Praxis, Philosophie, Ikonographie, dämonischer
Besessenheit, übernatürliche Kräfte und Theorien der Erlösung. Gemäss einer linguistischen Statistik des
westlichen Tantra-Adepten Agehananda Bharati geht es in den Tantras jedoch hauptsächlich um die richtige
Anwendung von Mantras als dominierende, verbindende Methode im Kontext von Meditation und Ritual:

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 Mantra-Anweisungen: 60%
 Mandala-Anweisungen: 10%
 Gottheitsmeditationen: 10%
 Vorbereitung von rituellen Zutaten: 5%
 Amulette und Zaubermittel: 3%
 Ritualbeschreibung, auch sexuelle: 7%
 Übriges: stereotype Wiederholungen sowie Verhaltensregeln.

Hinduistische Tantra-Texte:
Malinivijaya, ca. 900: Basis von Abhinavaguptas Tantraloka und damit eine wichtige Grundlage des kaschmi-
rischen Śivaismus. Beschreibung der Offenbarung von Mantras, Namen der anzubetenden Göttinnen, ihre
Meditationen und Gestalt sowie Mantras und Rituale, die zu ihnen gehören; ihren Sitz im Körper, tägliche
Praxis, Initiation; detaillierte Meditationen und Yoga-Techniken sowie erotische Gruppenrituale.
Kubjikamata oder Kubjika Tantra, ca. 900: Kaula-Herkunft. Verehrung und Anbetung von Mädchen und
Jungfrauen: „Mädchen zwischen 10 und 16 Jahren müssen als Göttin angesehen werden“. 7. Kapitel: Kula-
Frauen stehen im Zentrum: alle Frauen, auch Prostituierte, müssen gegrüßt und in Ehren gehalten werden.
Beispiel eines Ritual-Typus: Man soll seine eigene Frau, die initiiert ist, im betrunkenen Zustand verehren,
indem man sie als Göttin betrachtet. Der Ehemann soll bestimmte Mantras 108mal aussprechen und dabei ihr
Herz mit seinem Herzen berühren, ihre Yoni mit seinem Lingam und ihr Gesicht mit seinem Gesicht.
Mahachinachara-Sara Tantra, ca. 1200: Reisen und spirituelle Erfahrungen eines Mannes namens Vasistha.
Verbindet orthodox-buddhistische mit taoistischen und hindu-tantrischen Lehren. Im 3. Kapitel erklärt der
Text, dass Sexualpraxis, maithunā, dem Weintrinken überlegen ist, und dass beide nur im Ritual praktiziert
werden sollen. Es werden die „Neun Typen freier Frauen“ beschrieben, mit denen man bevorzugt praktizieren
soll (mit Frauen jeden Alters und jeder Kaste): Schauspielerin, Haarschneiderin, Brahmanin, Kuhhirtin,
Totenschädel-Asketin, niederkastige (Shudra-)Frau, Prostituierte, Wäscherin, Girlandenmacherin.
Kulachudamani-Tantra, ca. 1300: Ein Nigama-Tantra: Devi beantwortet die Fragen ihres Gemahls Śiva.
Einzelheiten ihrer Verehrung, v.a. als Kult-Gottheit Mahishamardini, einer Form von Durga. Kaula- und Kālī-
Rituale, z.B. Tieropfer, Herstellung magischer Essenzen sowie ein mysteriöser Prozess, in dem der tantrika
seinen Körper nachts verlässt, um sich mit Göttinnen zu vereinigen. Siddhis spielen eine wichtige Rolle. Zu den
tantrischen Hauptriten des Besänftigens, Unterjochens, Lähmens, Verhinderns, Entfernens und Tötens
kommen dazu: das Wiedererwecken einer Leiche, das Gehen durch Wände, die Unverletzbarkeit durch ein
Schwert, die Kraft des Fliegens und magische Sandalen ähnlich den Siebenmeilenstiefeln.
Rudrayamala-Tantra, ca. 1300: Quelle für viele Tantra-Schriften, scheint im Original verloren gegangen zu sein.
Erhaltenes Fragment betrifft die Identität der Göttin als kuṇḍalinī und enthält das nachfolgende Tantra.
Vijnanabhairavatantra, ca. 1300: ein Kapitel im Rudrayamala-Tantra und eine der wichtigsten Schriften des
kaschmirischen Śivaismus. Der Text lehrt „die Erkenntnis (vijñana) des Göttlichen Bewusstseins (Bhairava, ein
Name Śivas, auch das Absolute)“ in 112 Meditationsformen: Diese umfassen das gesamte Spektrum mensch-
licher Wahrnehmung, von Gefühlen wie Liebe und Hass, Freude und Angst über körperliche Phänomene wie
Hunger oder Durst bis zu meditativen Techniken wie Atemachtsamkeit und Visualisierung. Der Übende lernt,
alles als Ausdrucksformen der Śakti zu begreifen, und sich auf diese Weise mit dem höchsten, mit Śiva
identischen Bewusstsein im Innern zu verbinden bzw. zu erfahren, dass er selbst im Kern Śiva selber ist.
Svacchanda- und Netra-Tantra sowie das Pratyabhijñāhṛdayam, ca. 1300: Weitere, für den monistisch-
mystischen, kashmirischen Śivaismus grundlegende umfangreiche Schriften.
Kularnava-Tantra, ca. 1300: Gilt unter den Kaulas als wichtigstes Werk. Es behandelt praktisch alle
Hauptelemente des Tantrismus aus Sicht des Śāktismus, so auch das polare yoga-bhoga-Grundprinzip des
tantra-yoga, in welchem weltlich-sinnlicher „Genuss“ (bhoga) ebenso dazu gehört wie spirituelle Disziplin und
Erfahrung. Jedes Kapitel heißt ullāsa, „Wonne“, was sich auf den Kaula-Nektar bezieht. 3. Kapitel: Schönheit
des “nördlichen Pfades” des Śivaismus und sein Mantra. Diese Form von Śiva ist als Ardhanarishvara, die Śiva
und Śakti in einer Gestalt vereint, bekannt und steht u.a. für Einheit des Ein- und Ausatmens. Alle Mantras
werden mit Buchstaben ha und sa gebildet.

22
Yogini Tantra, ca. 1350: Kaula-Tantra, handelt hauptsächlich von der Verehrung von Kālī und Kamakhya.
Beschreibt das Yoni-Mandala in der Yoni-Pitha und andere heilige Stätten, in denen die Göttin verehrt wird.
Empfehlungen und Verbote zum Ritual der fünf makāras (s.u.) (z.B. Verbot des Inzests zwischen Sohn und
Mutter). Tantrische Visualisationen.
Yoni-Tantra, ca. 1650: Das Yoni-Tantra ist ein Text aus Bengalen, das sich hauptsächlich mit der Yoni-Puja, der
geheimen Verehrung der Vulva, beschäftigt. Diesem Text zufolge ist maithunā, der Geschlechtsverkehr, unab-
dingbarer Teil des Tantra-Rituals und soll mit Frauen von 12 bis 60 Jahren vollzogen werden, verheiratet oder
nicht, außer jenen, die vor der ersten Menstruation stehen. Auch dieser Text beschreibt die „Neun Typen
freier Frauen“ wie das Mahachinachara-Sara Tantra (s.o.). Wahl von Partnerin, Ort und Zeitpunkt des Rituals
wird dem sādhaka, der sādhana, die spirituell-yogische Praxis, übt, überlassen. Er darf sich aber nie über eine
Yoni abfällig äußern und muss alle Frauen gut behandeln. Die Yoni wird ausführlich verehrt, wobei man sie in
zehn Zonen einteilt, die den daśa-mahā-vidyās, den „zehn grossen (tantrischen) Weisheitsformen (der Göttin)“
entsprechen: Kālī, Tara, Chinnamasta, Bhuvaneshvari, Bagala, Dhumavati, Kamala, Mitangi, Sodashi (auch
Sundari) und Bhairavi oder Tripura Bhairavi (s. die detaillierte Beschreibung bei Frawley 2020). Wer bei seinen
Gebeten immer die Worte „Yoni Yoni“ ausspricht, dem soll die Yoni ihre Gunst gewähren und ihm Freude und
Befreiung bringen.
Mahanirvana-Tantra ca. 1700: Eines der jüngsten, von buddhistischem Gedankengut inspirierten Tantras.
Eines der ersten Tantras, die von Woodroffe ins Englische übersetzt und dadurch im Westen bekannt wurden.
Es stellt einen weiteren Schritt in die Richtung dar, die tantrischen Lehren mit dem orthodoxen Hinduismus zu
versöhnen. So verbietet es z.B. rituelle Sexualität mit einem Partner, mit dem man nicht verheiratet ist.
Die buddhistischen Tantra-Texte sind teilweise älter, insbesondere folgende:
Guhyasamaja-Tantra, ca. 400: „Tantra der verborgenen Vereinigung“. Beschreibung des maṇḍala der Gottheit,
Meditationsanweisungen, Mandala von Körper, Rede und Verstand (mind) sowie verschiedene Diskurse über
Buddhanatur, Leere und das Verwandeln seelischer Gifte wie Gier und Hass.
Hevajra-Tantra, ca. 700: das Mandala der gleichnamigen Gottheit, einer besonderen Verkörperung des Leer-
heitsprinzips, im Mittelpunkt. Aufführung der zu Meditation und Ritual nötigen Mantras; Reinigungen, Weih-
ungen von Orten, Initiationen, die geheime Sprache, Opfergaben, Anfertigen von Bildern, magische Rituale.

Erlebnisbericht:
Odiers Tantra-Meisterin über die Bedeutung von Lehren und Texten (Odier 2018, 83f. bzw. 133):
„Allzu oft wollen wir uns gedanklich das Feinste einer Lehre aneignen und sind unversehens schon dabei, einen
Panzer gegen das Göttliche zu schmieden. Wir müssen auf unserem Weg auch die subtilsten Lehren aufgeben.
Der Mut des Tantrika besteht darin, die Lehren hinter sich zu lassen, sobald er sie aufgenommen hat. Selbst die
Tantras sind nicht mehr wert als die Haut, die eine Schlange auf den Steinen zurückgelassen hat. Wenn man
sich in einer ständigen Häutung, einer ständigen Mutation befindet, kommt der Tag, wo sich das Bewusstsein
auf nichts mehr berufen kann. Das ist der Augenblick des Erwachens. Nur die totale Aufgabe des Mentalen
kann uns für das Göttliche öffnen.“
„Sobald es Systeme gibt, geht der tantrische Geist verloren. Sobald man etwas lagern, etwas speichern will,
geht der tantrische Geist verloren. Eben diese Erkenntnis verleiht den tantrischen Schriften jenes einzigartige,
stetige Fliessen, das sie einem Fluss, den niemand aufzuhalten vermag, vergleichbar macht.“

1.7 Tantrisches Ritual

Neben der Yoga-Praxis (s. Kpt. 2) kommt dem Ritual im Tantrismus eine grosse Bedeutung zu. Die praxis-
orientierten, ritualistischen Tantra-Schulen, und ebenso die tantrischen Yoga-Formen, sind u.a. als Reaktion
auf die philosophische Abstraktheit des Advaita-Vedanta entstanden und bieten eine zugänglichere, volksnahe
Alternative zu den brahmanischen Riten.
Das tantrische Ritual ist, wie jedes andere sakrale Ritual, eine Brücke, die den Menschen mit dem Heiligen
verbindet. Die Rituale sind sakrale Handlungen, die die Kraft haben, Veränderungen im Bewusstsein zu
bewirken. In Übereinstimmung mit der tantrischen Integration von Körper und Materie ermöglichen Tantra-
23
Rituale, Sinn und Zweck der Lehren auch auf körperlicher, feinstofflicher und emotionaler Ebene zu erfassen
und nachzuvollziehen, insbesondere die Erfahrung makrokosmischer Wirklichkeiten im mikrokosmischen
Menschen-Körper. Deshalb spielen der Körper und seine fein- und grobstofflichen Hüllen (s. Yoga-Physiologie
in Kpt. 1.4, 4) sowie die Erfahrung der Welt und des Lebens ganz allgemein fast immer oder mindestens auf
den Anfangsstufen des tantrischen Rituals eine wichtige Rolle.

Innere und äussere Rituale und Verehrungsformen


Die rituelle Verehrung äußerer Gottheiten in der sog. pūjā, „Anbetung, Verehrung“, ist tantrischen Ursprungs.
Sie beinhaltet das Darbringen einer festgelegten Anzahl bestimmter Art von Gaben (upacāra) an ein
physisches Abbild oder Statue, gewöhnlich über ein yantra oder ein rituell geheiligtes Gefäß oder ein
symbolisches Emblem (z.B. śiva-liṅga). Je nach Ritual werden 10, 16 oder selten bis zu 64 unterschiedliche
Gaben dargebracht. Jede pūjā beinhaltet die Rezitation von Mantras sowie die Darbietung einer Reihe von
Handgesten (mudrā), die beide helfen, subtile Energien für den Zweck des Rituals nutzbar zu machen.
Anleitungen sowohl für reguläre (nitya) als auch für gelegentliche (naimittika) und spezielle Riten, wie z.B.
Sühne-Riten (prāyaścitta) sind in tantrischen Texten ausführlich beschrieben. Die äussere Anbetung von
Gottheiten kann jedoch nicht ohne entsprechende innere Haltung wirksam sein. Dafür ist die rituelle
Übertragung der inneren Kräfte auf das äußere Bild als Mittel zu dessen Belebung erforderlich. Erst dann kann
die eigentliche zeremonielle Verehrung - das Darbringen von Gaben wie Weihrauch (dhūpa), Lampe (dīpa),
Blume (puṣpa) und so weiter - beginnen. Das pūjā-Ritual wird auch ārati, ārtī oder ārādhana, „Huldigung“
genannt, in dessen Zentrum die Darbringung von Oellampem und Kerzenlicht steht.
Zu den inneren tantrischen Verehrungstechniken gehören Anbetung und Meditation. Wie in den yogischen
Traditionen wird auch im Tantra ein Schwerpunkt auf die schöpferische Transformation des Bewusstseins
gelegt. Dazu gehört insbesondere die rituelle Umwandlung des mikrokosmischen Körper-Psyche-Komplexes
des Sādhaka in seine göttliche, makrokosmische Entsprechung. In der tantrischen Praxis kommt eine
zusätzliche Ebene hinzu, die sich auf die Korrespondenzen zwischen dem Anbeter und der Gottheit bezieht:
Das betreffende Tantra-Ritual beginnt mit der "Reinigung der Elemente" (bhūta-śuddhi) (s. das Handout
„bhūta-śuddhi-mantra“). In diesem Ritual wird der physische und feinstoffliche Körper des Verehrers, aber
auch der Ort des Rituals selber, als Vorbereitung für die externe pūjā gereinigt wird. Nach Reinigungsbädern
wird der Körper in diesem Ritual durch ein Feueropfer (homa) und unter Verwendung des bīja-mantra von
Agni, raṃ, von innen rituell verbrannt und in einer gereinigten, göttlichen Form neu erschaffen.
Nach diesem Reinigungsritual wird der innerlich „verbrannte“ Körper mit bīja-mantras wiederbelebt, die mit
der verehrten Gottheit übereinstimmen. Diese Technik wird mantra-nyāsa, "Platzieren von Mantras"*,
genannt. Wie ihr Name besagt, besteht sie in der rituellen Platzierung von bestimmten Mantras auf bestimmte
Körperteile, die mit den Mantras und der Gottheit korrespondieren. In diesem Prozess wird der Körper
vergöttlicht und mit der Kraft bzw. den Kräften (Śaktis) der verehrten Gottheit aufgeladen. mantra-nyāsa ist
einer der markantesten Aspekte der tantrischen Ritual-Praxis. mantra-nyāsa wird von mudras und
Visualisierungen begleitet, die die Identifikation von verehrter Gottheit und Verehrer verstärken. Das Ritual
beinhaltet die imaginäre, detaillierte „Installierung“ des Gotteskörpers - einschließlich derer Köpfe, Hände und
Attribute - an Stelle der nicht mehr vorhandenen, „verbrannten“ Körperteile des Tantrikers. Dieser stellt sich
innerlich den Sitz im Herzen vor, auf dem seine Gottheit thront, wo er sie innerlich-meditativ mit Opfergaben
(arghya) und mantra-japa verehrt. In einem nächsten Schritt projiziert der Sādhaka seine innere Gottheit auf
das konkrete, äussere Symbol, das ihn bei seiner Verehrung unterstützt, zum Beispiel ein liṅga-yoni für Śiva
oder ein śrīyantra für Tripurasundarī (s. Kpt. 2.3.2). Dieses Ritual beinhaltet wiederum eine vertiefte
Meditation und die Vergegenwärtigung der Gottheit (bhāvanā) in allen Details, einschließlich ihres
Lotusthrons, gesamten Gefolges etc. Der Tantriker schliesst das Ritual mit der „Belebung“ des äusseren
Symbols seiner Verehrung ab, indem er durch seine Nasenlöcher auf eine Blume atmet, diese auf das Symbol
legt, und diesem konkrete Gaben wie Wasser, Blumen, Salben, Öllampen, Arghya etc. darbringt.
Von den verschiedenen tantrischen Formen der inneren Verehrung oder körperbetonten Mystik ist der
kuṇḍalinī-yoga am deutlichsten erkennbar (s. Kpt. 2.5).

*Für Video-Anleitungen zum nyāsa-Ritual siehe Gurukarunamaya Sri (The powerfull ritual (nyasam) of
transmitting cosmic energy through our body) im Quellenverzeichnis.
24
Ritual-Stufen
Zum tantrischen Ritual gehören der Aufbau von magischem Schutz und hoher Konzentration, das Ablegen der
bisherigen, konventionellen Identität, Invokation und Vergegenwärtigung der Götter, Herbeiführen der Trance,
das Erreichen auserordentlicher, höherer Bewusstseinszustände und schließlich das bewusste „Herunter-
fahren“ sowie Widmung und Glücksgebete. Nach Ajit Mookerjee (1981) folgen die Rituale i.d.R. folgenden
Stufen:
1.Reinigung und Heiligung
Durch ein bestimmtes Training wird der Körper geschult, das „träge“ Stadium zu verlassen, und nach dem Bild
der Gottheit gereinigt und geheiligt zu werden. Dazu werden vor allem Ritual-Elemente wie nyāsa, und bhūta-
śuddhi benutzt (s.o.), die der Beseitigung von Hindernissen dienen und den grobstofflichen in einen
feinstofflichen und schliesslich göttlichen Körper transformieren.
2. Identifikation und Verinnerlichung
Nach der Reinigungsstufe werden Methoden wie mudrā, Meditation, Visualisierung, japa und prāṇāyāma
eingesetzt. Der Sadhaka macht dabei die Erfahrung, als Eingeweihter mit dem Objekt der Hingabe eins zu
werden. Das Objekt der Anbetung wird als Teil des Selbst erfahren.
3. Harmonie und Einheit
Auf dieser Stufe werden die ungerichteten Energien zentriert und sollen im Zentralkanal (suṣumnā)
verschmelzen bis ein Gleichgewicht zwischen den Extremen erreicht ist.
4. Verschmelzen mit der Einheit
Ziel des Rituals ist das Erreichen eines Zustands des Unteilbaren und Ganzheitlichen.

Erlebnisbericht von Silvio Wirth, linkshändigem Tantriker (tantra-tradition.de):


«Im Tantra werden die Energien von Gottheiten angerufen. Die Gottheiten kann man als Verkörperungen
bestimmter Qualitäten des Lebens und Menschseins begreifen, z.B. Lakshmi für Fülle, Rama für Ordnung und
Rechtschaffenheit, Krishna für die alles durchdringende Liebe etc. (…) Diese Gottheiten werden angerufen und
durch bestimmte Gesten (mudrā) und Mantras eingeladen, in unseren physischen Körper zu gelangen und dort
für die Dauer des Rituals zu hausen. Vorher ist es sinnvoll, sich selbst so leer wie möglich von unseren üblichen
Gedanken, Gefühlen und Identifikationen zu machen, d.h. die Anhaftung an das Ego vorübergehend zu lösen.
(…) Wenn in anderen Traditionen diese Götter nur angebetet werden, so ist es im Tantra üblich, in der Vor-
stellung selbst die Form dieser Götter anzunehmen und auf diese Weise zu der Reinform dieser Qualitäten
selbst zu werden. Die anzubetende Gottheit ist also eine Art Hilfsmittel, um die Psyche besonders stark mit
einer bestimmten Kraft oder Eigenschaft aufzuladen. (…)
Es gibt tantrische Rituale, die Anbetung der Göttin, Mantras, rituelle Gesten und Meditation beinhalten und die
für alle geeignet sind. In fortgeschrittenen Stadien wird die Sexualität integriert und genutzt, um die rituelle
Trance zu verstärken. (…) Um diesen Aspekt noch stärker zu forcieren, haben die traditionellen tantrischen
Yogis auch verschiedene Tabus der hinduistischen Kultur ins Ritual eingebaut, so den Genuss von Fleisch, Fisch
und Alkohol. (…) Andere wichtige Elemente, die die Trance verstärken, sind der zeremoniell gestufte Ablauf der
Rituale und die Gebete und Mantras, die rezitiert werden. Manchmal wird auch mit zeremoniellen Substanzen
gearbeitet, die bewusstseinserweiternd sind, wie Räucherwerk und berauschende Getränke. Auch der
ästhetische Rahmen eines Rituals hat erheblichen Einfluss. (…)
Ein Tantra-Ritual kann auch eine hervorragende Übung sein, um Grenzen zu überschreiten, und z.B. Sexualität
zu erfahren auch über die engen Grenzen einer Zweierbeziehung hinaus. Der magische Schutzraum, das rituelle
Ablegen der alten Identität, der zeremoniell strikte Ablauf mit klarem Anfang und Ende und die Möglichkeit der
Reflexion zu einem späteren Zeitpunkt eröffnen neue Perspektiven. So lässt sich ein Tantra-Ritual auch als
Grenzerweiterung, therapeutische Konfrontation und Herausforderung betrachten, die, einmal gemeistert, den
eigenen Standort verschieben kann.»

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1.8 Sexual-Rituale

Es gibt zahlreiche tantrische Praktiken, die gegen die gängigen Normen der hinduistisch-brahmanischen
Orthopraxie verstoßen. Eines der kontroversesten Elemente der tantrischen Praxis ist die rituelle Verwendung
der "fünf Substanzen" (pañcatattva) oder "fünf Ma-Silben" (pañcamakāra), die in traditionell-hinduistischen
Kreisen tabu sind und bereits mehrfach erwähnt wurden:
1. madya (Wein, Alkohol); 2. māṃsa (Fleisch); 3. matsya (Fisch); 4. mudrā (wahrscheinlich ein
aphrodisierendes, geröstetes Getreidekorn); und 5. maithunā (Geschlechtsverkehr).
Die Schulen des «linkshändigen Weges» setzen alle fünf Substanzen in ihren Ritualen real ein, während die
rechtshändigen Tantra-Schulen dafür symbolische Äquivalente verwenden.
Ähnlich verhält es sich mit den "sechs Riten" (ṣaṭkarman), in welchen die schwarzmagischen Aspekte des
Tantrismus zum Ausdruck kommen. Mit Hilfe dieser Riten und damit verbundenen Zaubersprüchen können
folgende sechs Hauptziele erreicht werden:
1. Befriedung (śānti); 2. Kontrolle (vaśīkaraṇa); 3. Ruhigstellen (stambhana); 4. Verursachen von Feindschaft
(vidveṣaṇa); 5. Vertreiben (uccāṭana); und 6. Töten (maraṇa).
Unnötig zu sagen, dass der Gebrauch dieser Zaubersprüche von jenen tantrischen Traditionen vermieden wird,
die mehr auf Meditation und Erkenntnis ausgerichtet sind, als die linkshändigen Schulen.
Da die tantrischen maithunā- oder Sexual-Rituale am kontroversesten diskutiert und am häufigsten
missverstanden werden, werden diese nachfolgend näher dargestellt. Verschiedene Überzeugungen liegen
diesen «linkshändigen» Ritualen zugrunde:
 Eine grundlegend positive Wertschätzung des menschlichen Körpers als mikrokosmische Entsprechung des
Makrokosmos, und damit verbunden die bereits erwähnte Spiritualisierung des menschlichen Körpers.
Das Kularnavatantra (XI.41) erklärt: «Der Körper ist Gottes Wohnstätte, o Devī!»
 Mit dem Körper und seiner immanenten Mann-Frau- bzw. Śiva-Śakti-Polarität – C.G.Jungs animus-anima-
Konzept – findet im linkshändigen Tantrismus auch eine Sakralisierung der Sexualität statt: Für den
linkshändigen Tantriker ist der Sexualakt heilig. Damit wiederholt er den Schöpfungsakt, der in der
Vereinigung von Śiva und Śakti besteht.
Der rituelle, das heisst geregelte Geschlechtsakt ist deshalb in der linkshändigen Tantra-Tradition kein
lustzentrierter Selbstzweck, sondern eine weitere, besonders starke Methode zur Bewusstseinserweiterung
und letztlich zur Einheitserfahrung der körper-immanenten Śiva-Śakti-Polarität. Darin unterscheidet sich die
rituell bestimmte, tantrische Sexualität vom reinen, konfessionsneutralen Erotismus des Kamasutra grund-
legend, mit dem sie im Westen oft verwechselt wird.
Hinzu kommen magisch-alchemistische Überzeugungen, die für diese Tradition typisch und wichtig sind. Es
handelt sich dabei um bestimmte magisch-alchemistischen Methoden, die mit der Bedeutung und
Zusammensetzung der Sexualelixiere zusammenhängen. Insgesamt wird in dieser Tradition Sexualität als
Mittel zu magischem Wirken betrachtet und eingesetzt. Tatsächlich enthalten die Tantra-Schriften wenige
Aussagen über Partnerschaft, Liebe und Beziehung und gar keine zu Homosexualität, Autoerotik, Anal- und
Oralverkehr.
Nicht weitere Begründung für, sondern eher Nebenwirkung der tantrischen Sexual-Rituale ist die Sublimierung
und Integration der Sexualität in den Heilsprozess (KT II.23-24). Dies entspricht dem yoga-bhoga-Prinzip des
«linkshändigen Weges», demzufolge der Mensch seine natürlichen Triebe nicht allein durch gewaltsame,
asketische «Unterjochung» (yoga) kontrollieren kann/soll, sondern auch durch deren rituell bestimmten
«Genuss» (bhoga), das heisst in geregeltem, an viele Anforderungen gebundenem Rahmen. Missbräuche und
orgiastische Entgleisungen waren aber natürlich auch so nie ausgeschlossen und brachten den Tantrismus
immer wieder in Verruf.
Die Tantra-Schriften nennen immer wieder Voraussetzungen, die für die Zulassung zu bestimmten Riten zu
erfüllen sind, insbesondere für maithunā- oder Sexual-Rituale:
Bei diesen dürfen nur sogenannte «Helden», vīra, dabei sein, fortgeschrittene Tantriker, die über einen
integren Charakter und hervorragende Eigenschaften verfügen. Die Rituale erfordern eine reine, spirituelle
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Motivation, um wirkungsvoll, das heisst um anderen Wesen zum Nutzen zu sein und mit dem Göttlichen eins
zu werden. Eine stabile Yoga- und Meditationspraxis einschliesslich Beherrschung komplexer Asanas,
Pranayamas und Mudras, die die Atem- und Samenkontrolle ermöglichen sollen, wird bei beiden Partnern
vorausgesetzt. Feinfühligkeit und die Fähigkeit zum intensiven Erleben sind ebenso wichtig wie das Ruhen in
sich selbst. Frei von Furcht, Befangenheit und Widerstand gilt das maithunā-Ritual als Vollendung eines
schwierigen und langen Lernprozesses. Die Partner leben eine Zeitlang vor dem Ritual enthaltsam, um einen
starken Trieb aufzubauen, der die Grundlage für die Umwandlung der Energie und damit für die Kraft des
Rituals darstellt. Als Ort des Rituals ist ein einsamer Ort, frei von Schmutz und Lärm, auszuwählen, oft auch das
Haus oder der Wohnort des Guru bzw. der Gurvī.
In der linkshändigen Tradition finden sich verschiedene Formen sexueller Rituale. Die meisten von ihnen
werden nur geheim vermittelt. Die umfassendste Darstellung der Kaula-Sexualpraktiken findet sich in
Abhinavaguptas Beschreibung des kulayāga, des "Clan-Opfers", eines geheimen Rituals, der einem elitären
inneren Kreis von Eingeweihten vorbehalten ist (White 2018). Die rituellen Anweisungen für das kulayāga, die
fast zweihundert Verse des 29. Kapitels von Abhinavaguptas Tantrāloka umfassen, beginnen mit der
gegenseitigen Verehrung der Körper, des männlichen vīra (oder siddha oder yogī) und der dūtī, seiner
Partnerin. Durch verschiedene Akte des Vorspiels werden die beidseitigen "Energieräder" erweckt, und das
Paar wird dazu gebracht, sowohl physisch als auch spirituell eins zu werden. Indem das Paar einen Zustand
vibrierender Glückseligkeit (spanda) erreicht, in dem alle Selbstwahrnehmung der "wundersamen Entdeckung
des Selbst" und einer großen Glückseligkeit weicht, die zugleich sinnlich und jenseits der Sinne ist, vereinigt es
sich sexuell. Darauf verehrt der Sādhaka die Vulva seiner Partnerin (genannt "Mund der Yoginī") und berührt
sie, wodurch sie spontan ihre sexuellen Flüssigkeiten absondert. Das Paar opfert diese darauf den Göttern,
bevor es an ihnen selber teilhat, indem es sie wechselseitig von Mund zu Mund weitergibt. Nach einem
zweiten und dritten Geschlechtsakt, der durch eine Fülle von rituellen Handlungen ergänzt wird, soll das
Bewusstsein des yogī mit dem Absoluten verschmelzen.
Viele tantrische Quellen beschreiben auch kollektive Sexual-Praktiken, genannt cakrapūjās (Verehrung des
Kreises) oder yoginīmelapas (Vermischung mit den yoginīs), deren Ziel es war, die göttliche Energie in allen
Teilnehmenden zu wecken. Das Hauptziel dieser Sexual-Praktiken war ursprünglich die Erzeugung einer
sakralen, transformierenden, rituellen Substanz (dravya). Die spätere tantrische Sexualpraxis wurde mit einer
Theorie der transformativen Ästhetik begründet, in der die Erfahrung des Orgasmus einen Durchbruch vom
"verkürzten" Selbstbewusstsein zu einem expansiven Gottesbewusstsein bewirkte, einer Erfahrung des
gesamten Universums als transzendentem "Selbst". Vgl. die Darstellung des vāma-ācāra, des linkshändigen
Rituals der fünften Initiationsstufe bei Feuerstein 1981, 210f.
Eine besondere Form der tantrischen Sexual-Riten stellt die täglich auszuführende yoni-pūjā, die Verehrung
der weiblichen Genitalien, dar, die in der Kaula-Tradition gemäss dem Yonitantra (s. Kpt. 1.6) ausgeübt wird.
Dem linkshändigen Tantriker Silvio Wirth ist es mit seinen Beschreibungen der tantrischen Sexual-Rituale, auf
die sich dieser Abschnitt neben White (2018) hauptsächlich stützt, «wichtig, dass ersichtlich wird, dass es sich
keinesfalls um eine hedonistische Aktivität handelt, sondern um eine tiefgehende religiöse und vielleicht auch
magische Zeremonie, die viel Disziplin, Geduld und innere Haltung erfordert» (tantra-tradition.de).
Diese erfahrungsmässige Einschätzung wird gestützt durch die Merkmale sexueller tantrischer Praxis:
langandauernde Vereinigungen, Energiekanalisierung, Zurückhaltung des Samens und alternative Formen des
Orgasmus.

Erlebnisbericht von Silvio Wirth (tantra-tradition.de):


„Für den normalen Mann ist die sexuelle Erfahrung eine konvergente; sein sexuelles Erleben konzentriert sich
auf die Genitalien und die Aufmerksamkeit wird immer begrenzter. Das tantrische Erleben ist hingegen
divergent (weiblichen Typs): die Erregung geht über die Genitalebene hinaus, erfasst den ganzen Körper und
schließlich das ganze Sein. Die tantrische Ekstase strebt nach Intensität und Dauer und neigt dazu, sich
auszudehnen. Der Tantriker denkt während des Sex nicht: das ist meine Frau, ihre Sexualität gehört mir,
sondern dringt ins Reich der Frau ein und verehrt sie dabei als Ausdruck kosmischer Schöpferkraft (van Lysebeth
1990)“ (tantra-tradition.de).

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Erlebnisbericht von Daniel Odier zur Sexuallehre seiner Meisterin (2018, 143f., 173f.):
„Jede Verdrängung, die man nicht aufgestöbert und der man nicht Genüge getan hat, führt zu Störungen. Diese
Menschen werden die göttliche Spontaneität nie erreichen. Dies ist einer der Gründe, weshalb der Tantrismus
bei den Hindus und vermutlich auch in der westlichen Welt so oft missverstanden wird. Sie sehen in ihm einen
Weg zur impulsiven, unkontrollierten Ausschweifung, wahrend es in Wahrheit darum geht, die Spontaneität
einzuüben, sie über die Eliminierung aller unbefriedigten Bedürfnisse zu erreichen. (…)
Jede Sexualität, die nicht von der göttlichen Liebe ausgeht, ist nur eine Simulation, der man sich hingeben kann,
ohne sie tantrisch zu nennen. Alles, was mit dem Ego verknüpft ist, mit Begierde und Besitz, hat als Erfahrung
nichts mit Tantrismus zu tun. Um ein Tantrika zu werden, braucht man die Seele eines Helden. Niemand kommt
auf diesem Weg erfolgreich voran, der seinen Leidenschaften unterworfen ist oder das Opfer seiner
egoistischen, manipulierenden, machtbesessenen oder verdrängten Sexualität. Wenn Śiva in Śakti eindringt,
dann ist dies ein vollkommener Akt, ein heiliger Akt. Ohne die dreifache Beherrschung – die des Atems, des
Geistes und des Spermas – ist es ein Akt, der die Menschen wie seit je an die Unwissenheit fesselt. (…)
Die Grösse des Tantrismus liegt darin, den Zustand der Leidenschaft nutzen zu können, damit man sich von
jenem Leiden befreien kann, das bei einer profanen Begegnung so oft seinen Platz einnimmt.“
Bevor Odier von seiner Meisterin nach äusserst schwierigen Prüfungen schliesslich im maithunā-Ritual der
„Grossen Vereinigung“ die Einweihung erhält, erklärt sie ihm u.a. (Odier 2018, 181f.):
„Der Tantrismus ist darum so lebendig geblieben, weil er niemals systematisch vorging. Alles ist möglich. Für
die einen gibt es nur eine einzige Initiation, durch die sich alles erschliesst. Für die anderen gibt es drei oder
fünf. Alles fliesst, alles ist offen, unergründlich und frei. Manchmal wird die Göttin durch die Zurückhaltung und
die Steigerung zum Höhepunkt aufeinanderfolgender Orgasmen geehrt, manchmal wird die Göttin durch den
freien Fluss der (Anm. Sexual-)Essenzen geehrt, manchmal wird die Göttin durch einen einzigen Blick geehrt,
manchmal bleibt die Göttin unsichtbar und vereinigt sich nur in der absoluten Einsamkeit des Herzens mit dem
Tantrika. Manchmal hat der Tantrika die Göttin in sich selbst und braucht keine Shakti aus der Aussenwelt, um
das Ritual der Grossen Vereinigung zu vollziehen. Es ist wichtig, zu begreifen, dass die Initiation, die du von mir
bei der Grossen Vereinigung empfängst, ebenso gut symbolisch vor sich gehen kann, ohne den geringsten
Körperkontakt. Ihr Wert wäre derselbe. Man kann jeden tantrischen Weg in grösster Keuschheit beschreiten.
Jeder Meister hat darin absolut freie Hand. Auch darin liegt eine der Stärken des Tantrismus, dass nichts von
dem, was ein menschliches Wesen tut, verworfen oder abglehnt wird. Es gibt keine Regel, keine Mehtode, keine
Schiene, keine Anstrengung, kein zu erfüllendes Soll, keine Ernte. Alles geschieht, als sähe man nur dabei zu,
wie sich der eigene Himmel von Dunst und Wolken befreit. Die Sonne, der Mond und die Sterne sind immer da.“
Sowohl die Prüfungen als auch die eigentlich unglaublichen, doch glaubwürdig beschriebenen initiatorischen
Sexual-Rituale mit seiner Meisterin werden von Odier detailliert dargestellt.

Fragestellungen zum Verhältnis von Sexualität und Spiritualität in modernen Kulturen:


 Kommt der Sexualität ursprünglich ein sakraler Charakter zu?
 Hat Sexualität (noch) einen sakralen Charakter oder ist Sexualität in modernen Kulturen entsakralisiert?
 Dient Sexualität heute nur noch dem Lustprinzip?
 Ist sie zweckentfremdet vom ursprünglichen, biologisch angelegten Zweck der Fortpflanzung?
 Zur Vertiefung s. David-Néel 1930, Odier 2002 und 2018, Vanita 2012 sowie White 2018

Bei der Diskussion von Sexualität im indischen Kontext sind folgende Tatsachen zu berücksichtigen:
Im Hinduismus „ist sexuelle Aktivität, wie alle Aktivitäten, Teil eines heiligen Ganzen. Dieses Konzept wird
visuell in erotischen Tempelskulpturen ausgedrückt, wie zum Beispiel in Khajuraho und Konark. Jeder Tempel
repräsentiert den Kosmos und ist mit Skulpturen bedeckt, die jede Art von Aktivität darstellen, vom Musizieren
über Krieg bis hin zum Liebesspiel, ausgeführt von Menschen, göttlichen Wesen verschiedener Art und Tieren.
Erotische Aktivität ist nur eine von vielen Arten von Aktivitäten, die alle mit der gleichen Kraft und Offenheit
dargestellt werden und auf die Glückseligkeit (ānanda) der Schöpfung hinweisen. Bilder von gepaarten
göttlichen und menschlichen Liebenden (mithuna), die sich leidenschaftlich umarmen, finden sich seit der
Antike in vielen hinduistischen Skulpturen und Fresken und ebenso in der mittelalterlichen Malerei. Ab dem
späten 19. Jahrhundert, unter britischem kolonialem Einfluss, werden Paare nicht mehr auf diese Weise
dargestellt“ (Vanita 2012).
28
1.9 Zusammenfassung und Würdigung I
Nach dem einführenden Kapitel ziehen wir aus globaler, wissenschaftlicher Sicht ein erstes Fazit:
Der Tantrismus steht für einen Paradigma-Wechsel von Śiva zu Śakti, von patriarchal dominierten zu
matriarchal ausgerichteten Gottesvorstellungen, Ritualen und Riten sowie Yoga-Praktiken. Zentral ist der
integrale, universale Ansatz des Tantrismus in Theorie und Praxis. Im Tantrismus werden scheinbar
widersprüchliche Vorstellungen, Methoden, Instrumente und Ziele miteinander verbunden und gleichzeitig
oder stufenmässig verfolgt. Mit seinem nichts ausgrenzenden, fliessenden, inklusivistischen „sowohl als auch“-
Ansatz verkörpert der Tantrismus die indische Mentalität in Reinkultur. In Stichworten:
 Integration aller Polaritäten
 Integration aller Lebewesen in Śiva-Śakti: Śiva als Teil der Śakti, Śakti als Teil von Śiva
 Integration und Transformation von Askese und Erotik, von yoga und bhoga
 Integration von Makro- und Mikrokosmos
 Integration von exoterischen und esoterischen, weltlichen und spirituellen, ortho- und heterodoxen
Ritualen
 Integration aller orthodoxen und heterodoxen, normativen und experimentellen Meditationstechniken
 Integration von Aussen und Innen, öffentlich-alltäglichem Ritual und meditativer Mystik
 Integration von Erfahrungen der Ekstase und Enstase
 Integration von Ritual, Yoga und Philosophie, Praxis und Theorie
 Integration von transgressiven Ritualen und sublimer Philosophie
 Integration von spiritueller Exklusivität (Initiation) und sozialer Inklusivität (Kasten)
 Integration von rein und unrein: tantra-yoga ist für alle Menschen zugänglich
 Integration von prähistorisch-vorvedischen, vedischen, schamanistisch-magisch-alchemistischen und
klassisch-hinduistisch-puranischen Elementen

Aufgrund seiner Universalität und Vielfalt ist evident, dass tantra nicht gleich tantra ist. Die jeweilig gültige
Ausprägung bzw. Kombination von Vorstellungen, Glaubenssätzen, Methoden und Techniken muss im Rahmen
der betreffenden Tantra-Tradition und -Schrift identifiziert werden.

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