Uljana Wolf
Wandernde Errands.
Theresa Hak Kyung Chas translinguale Sendungen
ZWIESPRACHEN
Eine Rethe der Stiftung Lyrik Kabinett
Herausgegeben von
Holger Pils und Ursula Haeusgen
WunderhornDiese Rede wurde am 11, Juni 2015 im Lyrik Kabinett, Munchen, gehalten, Zwiesprache: Twosprach—ein Zursprache,
Tosprech—ein Zusprech.
Zusein ouch oder Terrorsprech:
‘manchn zugemacht.
Verzurrtechnik und Zwieback
Zwiewesen und Niedagewesen und
Tosend und Verfong und
‘manchmal tom éhcac
ale signe évogue
ne
Ich habe nur eine Sprache, und es ist nicht meine Jacques Derrida6 ouaNa wou
1978 fertigte Theresa Hak Kyung Cha, angehende Performancekiinst-
lerin, Dichterin, Filmemacherin, einen Stempel an. Cha war 27 Jahre
alt, hatte ihr Kunststudium an der University of California in Berkeley
abgeschlossen. Anlass war eine internationale Ausstellung fiir Stempel-
design in Amsterdam, organisiert wahrscheinlich von dem Galeristen
‘und mail-Artisten Ulises Carrion. Der Stempel ist fast so grof wie eine
Postkarte. Im Zentrum stehen zwei Worte, durch schwarze Umrisse de-
finiert: mot caché (verborgenes Wort). Oval angeordnet darum stehen
andere Worte, die die Mitte einkreisen, allerdings spiegelbildlich: em:
preinte révele signe évoque énonce dévoile marque tache inscrite trace.
Eine Spiegelschrift, wodurch etwas entschliipft, auf andere Seiten,
Wenn der Stempel gestempelt wird, auf Papier, das zirkuliert, ist der
‘iuBere Kreis aus Worten richtig lesbar. Wied lesbar der Zyklus der Ein-
schreibung, In der Mitte aber das Wort hat sich wieder verborgen, steht
‘nun von links nach rechts gelesen als: tom éhcac. Der srichtige Aus-
drucks aber, jedenfalls in dieser Lesart und Lesrichtung, bleibt zuriick,
bleibt bei sich selbst auf dem Stempel, woanders. Impliziert impish, et-
‘was in uns selbst wire, ihn lesend, weranders. Oder etwas wire immer,
‘wenn man liest, verwandert, who anders. Oder etwas in uns wire im-
‘mer, wenn wir lesen, in einer anderen Sprache, unlesbar, untibersetzbar,
uniibersehbar in der Mitte verborgen. Mausisch. »Wer weiB, vielleicht
besteht mein Jubel darin, da8 ich unauffindbar bin. (Ilse Aichinger)
Die Worte der Einschreibung umbiillen das verborgene Wort, sind wie
ein Handschuh, Drin: ein Zentrum, das nicht sendet.
‘The stamp is mitten in its own mitten.
The stamp is not transmitter out of its mitten.
Unlocke mein Haar. Das Schreiben ist nicht Haar im eigenen Haus.
The reading ist not master in its owl house.
‘The writhing ist not Meister aus Germany.
(She does not have a mailbox yet).
Aber da ist noch ein Wort. In der rechten unteren Ecke des Stempels,
Klein geschrieben: cha, Theresas Familienname. Auf den ersten Blick
liegt der Name auBerhalb des Wortkreises der Einschreibung. Jenseits
|
\
/
|
|
'
f
|
|
I
I
i
|
TERESA HAR KYUNG CHAS TRANSUINGUALE SENOUNGEN 7
des im Zentrum verborgenen Worts. Auf den zweiten oder dritten Blick
aber merkt man, dass der Name auch verborgen liegt in der Mitte des
Wortes. In der Mitte des Stempels. In den Buchstaben nimlich des
Wortes caché: cha.
Versteckt sich das Wort in den Sprachen? Kommen die Sprachen
darin 2u Wort? Die Sprache des Stempels ist franzasisch, Sie beherbergt
mindestens zwei andere Sprachen: das Wort xtraces, das auch Englisch
‘gelesen werden kann. Und den koreanischen Familiennamen, cha, der
Fremdwort bleibt, nicht ibersetzt wird, eigen-ndimlich allen Sprachen
gehért. Allen Sprachen gehért, und doch im Innern des verborgenen
Wortes bleibt, displaced, unerhéet.
‘Aber die Karte hat immer eine andere Seite. Wo sind wir jetzt noch,
Spieglein? Cha stempelte das Stempelbild auf eine Postkarte und
addressierte sie an ihre Familie. An John & Kathy & CO Cha, 2904 E.
‘Van Owen ORANGE/CA 92667. Ein franzasischer Stempel mit ver~
borgenem Wort. Eine Karte, angefertigt fir eine Ausstellung in Ams-
terdam. Eine Postkarte, gestempelt in Amerike, an die Familie koreani-
scher Einwanderer. Das einzige koreanische Wort: cha. Mit lateinischen
Zeichen geschrieben, versteckt in einem franzésischen, kolonialsprach-
lichen Wort. Einem Wort, das nur auf dem Stempel lesbar ist, auf der
anderen Seite.
Mot caché, less cha.
More cha, less caché.
More less, cha caché.
‘Mot less, cha cha.
Was wird mit dieser Karte gesendet? Und an wen? Ist mit dem verbor-
‘genen Wort ein koreanisches Zeichen gemeint? Wird dberhaupt etwas
sesendet? Oder ist der Transmitter in Wahrheit das unibersetzte ver-
lorene Wort in der Mitte, eine Stérung—error—ein nicht ausgefihrter
Auftrag—errand? Und wer ist die Familie? Die Eltern, Geschwister?
Sind mit #& CO« auch wir gemeint? Ist jede, die den Stempel sieht,
die gestempelte Postkarte, Leserin des verborgenen Wortes? Leserin ei-
ner Erfahrung von displacement? Von einer anderen und ihter eigenen?
Und wo briichte uns dieses Lesen hin? Was bezeugt es, zeugt es, zeigt?THERESA WA KVUNG CHAS TRANSLINGUALE SENOUNGEN °
sie sind das publikum
sie sind mein fernes publikum
ich spreche sie an
wie eine ferne verwandte
.gesehn nur gehart nur durch worte von andern.
‘weder sie noch ich
wir sehn einander nicht
ich kann aur annehmen dass sie mich horen
ich kann aur hoffen dass sie mich horen
‘Theresa Hak Kyung Cha wurde 1951 in Busan, Sidkorea, geboren. Chas
Matter wurde in der Mandschurei geboren, wohin ihre Eltern vor der
japanischen Besetzung Koreas gefliichtet waren. Der Koreakrieg und
die repressive Politik der Militirregierung nach den Demonstrationen
gegen die Regierung 1961 zwangen die Familie zum hitufigen Ortswech-
sel und schlieSlich 2ur Emigration. 1962 reisten zuerst Chas Mutter und
cin alterer Bruder nach Hawaii, der Rest der Familie folgte 1963. Ein
Jahr spiter siedelten die Chas nach San Francisco tiber. Theresa und
ihre Schwester Elizabeth besuchten die katholische Klosterschule zum
Heiligen Herzen (Convent of the Sacred Heart) in San Francisco. Sie
lernten Franzésisch und Englisch.
HIGH SCHOOL SEPTEMBER 1965 BIS JUNI 1969
Zerbrechliche Ruhe wie Mantel
Hand die Psalmen auf der Orgel
vereinzelt Glockenschlage, unter
driicktes Husten, Rauspern
verratleiseste, menschliche Gegenwart
Doch: die obsessive Ordnung,
abgemessener Récke
\Verboten Uberschlagene Beine, Perlenohrringe,10 JUANA WOLE
Lacklederschuhe, Tanzen auf dem Campus,
Haarspitzen flrben
Gansemarsch synchronisierter Gesten:
Knien, Offnen und SchlieBen der Pulte,
‘Treppen zum Mittagessen, Knicks.
Primzahlen, Montag Morgen Hofprozessur,
Medaillen, Nachsitzen, weie Handschuh,
‘Chas Entwicklung zur Kiinstlerin fiel in eine Dekade turbulenter Um-
wwalzungen in San Francisco. An der University of California in Berke~
ley machte sie zwischen 1973 und 1978 vier Abschltisse in Komparatis-
tik und bildender Kunst. Cha begann mit Keramikarbeiten und wandte
sich inspiriert von ihren Lehrern und Kommilitonen dem Medium der
Performance zu, experimentierte mit Video, begleitete alle ihre Ar-
beiten mit live gesprochenen Texten oder Aufaahmen ihrer eigenen
Stimme. Daneben arbeitete sie als Kartenabreifierin und Platzanweise-
rin im Pacific Film Archive. Die choreographierten Topographien von
Leinwand, Projektionen und Zuschauerin, von Licht und Schatten und
Erinnerung schreiben sich in alle ihre Arbeiten ein.
Cha schrieb Gedichte, Texte, Skizzen fiir Ausstellungen, die sie
auch als eigenstindige Texte verdffentlichte, darunter die Arbeiten Evi
lée und Temps Morts, die 1980 in einer Anthologie mit Texten bildender
Kiinstler—u.a. auch von Jenny Holzer und Laurie Anderson — im Ver-
lag Tanam Press erschienen. Ihre Texte spielen mit Bedeutungsverschi
bungen, sie sind zum Teil minimalistische, translinguale Botschaften—
mehrsprachig und translatorisch. Wie dieser Text aus dem Kiinstlerbuch,
Pomegranate Book:
veil
AVEIL
AVAIL
re veil
REVEAL,
revéil
ARRive
REVERE
THERESA HAR KYUNG CHAS TRANSLINGUALE SENOUNGEN ”
. %
4
Ser eps
|
=‘Zwei Jahre spiter veréffentlichte Cha ihr erstes eigenstindiges Buch,
Dictée, geschrieben auf Englisch und Franzésisch, ein dichtes, dickich-
tes, explosives Werk, das zwischen Sprachen und Genres changiert. Es
ist das Werk einer schreibenden Kinstlerin und performenden Auto-
rin, ein mehrstimmiges Palimpsest aus Fiktion und Nichtautobiogra-
phie (Mnemosynes Synonyme). Ein Palimpsest, das sich mit Abstam-
‘mungen und ihren Einschreibungen auseinandersetzt, mit politischen,
systemischen Zuschreibungen, trotz oder gegen oder wegen dieser ein
Ichist, verborgen, woanders.
‘Als mir das Buch vor einigen Jahren in New York zum ersten Mal in die
Hand fiel, war es, als erhielte ich eine Sendung, eine Sprachnachricht,
die ich nicht verstand. Sie blieb in meiner Hand, diese Sendung, denn
es scheint wohl, dass ich auf der Suche war und bin nach Wegen—nicht
aus dem Nichtverstehen, sondern aus den Arten des Verstehens, die
‘mir mitgegeben wurden, Karten, Umschlige, verborgene Worte. Aus
meinen Wegen als vielleicht ost-, vielleicht postost-, vielleicht mehr-
deutschliche Schriftstellerin, aus den Wegen zwischen Entfremdung
und Nichtentfremdung, die nicht erst zwischen New York und Berlin
zu pendeln begannen. Wege, die ins Gedicht fren, in die Verkehrung
von Haben und Sagen, seiner Sage, die ich nicht habee.
Von weit her Ferne
welche Nationalitat
welche Abstammung
‘oder Bluts oder Verwandtschaft
welche Blutlinien aus Blut
welche Strippen oder Sippen
welche Rasse Klasse Gen/eration
welcher Clan Stamm Stammung Bestand
welches Haus Geschlecht welche Kaste Konfession
welche Familie Zucht Sorte Brut Art
welche Streuung Strung Verschollung
TTertium Quid nicht dies nicht das
Tombe de nues de Transplantat
eingebiirgert aufgeraumt 2u was (0)
|
|
TWERESA AK MYUNG CHAS TRANSLINGUALE SEMOUNGEN 2
Wie im kleinen Viereck das Stempelprojekt, so entwickelt Dictée mit
sgrofer Intensitét die Themen und Verfahren von Chas Werk: die Kom-
bination von fragmentierter multilingualer Sprache mit dem Scheitern
von Ubersetzung, von dokumentarischem Material mit der Unmdglich-
kit des Zeigens, Sagens, einstimmigen Erinnerns.Es ind Verfahren, die
die Leserin einbeziehen, aber nicht unbedingt die Leserin, die es schon
gibt, sondern die, die durch das Buch erst erfunden wird. Erfunden
‘wird man, in dem man Bezichungen herstelt, relations kniipft—was
sowohl sErzihlunge als auch »Verwandtschaftx heiBen kann. Poesie der
Bezichungen (Glissant), die Gemeinschaft stiftet. Und das ist méglich,
‘weil es einerseits um ein spezifisches Exil, Entwurzelung, Sprachlosig-
keit geht, um die Geschichte koreanischer Unterdriickung. Aber auch,
‘weil Chas Werk eine Sprechhaltung oder Spracherfahrung entwift, die
universell ist, und die ahnlich, meine ich, wie jener Stempel funktio-
niert, indem sie nachvollziehbar macht: Wie esis, jemand 2u sein, eine
Sprache 2u haben, die nicht die richtige ist, die nicht die eigene ist, die
nicht »ursprtingliche oder die uneigentlich ist, die nur auf einem phanta-
sierten, entfernten, im besten Falle: selbstgemachten Stempel existiert.
Ein Stempel vielleicht wie: Heimat. Wie: Nation. Wie: Muttersprache.
Sie ahmt Sprechen nach. Was Rede ahneln mag, (Egal alles was.)
Gefletsche Téne, Grunzen, Fetzen aus Worten. Weil sie strauchelt an
Genauigkeit, begnigt sie sich, Gesten nachzuahmen mit dem Mund. Die
Lntere Lippe zieht sich nach oben, sinkt wieder zurick an ihre Stelle. Sie
presst beide Lippen zusammen und stillpt heraus als Schnute um den
‘Atem einzusaugen der dann duSern kénnte was. (Eins. Nur eins.) Aber
der Atem fallt,verschwindet. Mit einem winzigen Rucken des Kopfes,
nach hinten, sammelt sie Spannung in den Schultern, verharrt in dieser
Stellung, 10)
Chas Dictee hebt an—einer von vielen Anfingen des Buches—mit dem
Sprechen einer Diseuse, einer Aufsagerin, Sprecherin im postkolonia-
len Kabarett der Stimmlosen, Sprachrohr fremder oder eigener Texte,
Sprechen, gesprochen werden, schweigen, verschwiegen werden, emp-
fangen, weitergeben—das sind die Grundbewegungen des Buches, die
schon in der Einteilung der neun Kapitel deutlich werden, die nach
den neun Musen benannt sind. Wird dadurch zunchst eine westlich-4 tuuana wour
‘curopiische Tradition als Struktur aufgerufen, erfahren die einzelnen
Kapitel eine Erweiterung durch Chas dezentrierte, zirkulierende Dikta-
te, in denen vor allem weibliche Figuren aus der konfliktreichen kore-
anischen Geschichte heraufbeschworen werden: Hyung Soon Huo, die
Mutter Chas, die als junge Frau im Exil in der Mandschurai Japanisch
unterrichtete; die r7jahrige Revolutionirin Yu Guan Soon, die 1919 ei-
nen Aufstand gegen die japanische Besatzung Koreas anfiihrte; Jean
d Arc; Thérése von Lisieux, ihre Gotteskindschaft und Kleine Gesten
der Liebe; aber auch Frauen in Filmen; eine Unbekannte, aber deren
psychische Krise in einem falsch addressierten Brief berichtet wird.
Auch der anhaltende Konflikt zwischen Nord- und Sidkorea spielt in
den verschieden verflochtenen Ebenen der Gegenwart eine gro8e Rolle.
Motivisch durchziehen Variationen von Demeter/Persephone das
Buch, Spiegelungen von Unter- und Oberwelt, Miittern und Téch-
tern, Teilungen, Umkehrungen, traumatischer und stillstehender Zeit.
Hinzu kommt die Ebene der weiblichen Schamanen aus koreanischen
Mythen, der sogenannten Mudang, Das letzte Kapitel stellt eine Varia-
tion der koreanischen Erzahlung von Prinzessin Pari dar (Pari Kongju),
deren Name odie Verlassenes heiBt. Paris Erahlung, ihre relation geht
0: Weil se kein Junge ist, wird sie von ihren Eltern ausgesetzt. Als das
K@nigspaar erkrankt, ist einzig Pari bereit, den gefibhrlichen Weg in die
Unterwelt anzutreten, um das heilende Wasser fiir ihre Eltern zu fin-
den, Nach einer neun Jahre wahrenden Reise voller bestandener Auf-
gaben kehrt sie zu ihren Eltern 2urlick, die inzwischen gestorben sind.
Pari kann sie mit den Wassern zum Leben erwecken und wird zu einer
Géttin und Botin der Unterwelt, zentrale Figur in schamanistischer
Praxis, die fortan die Seelen der Toten sicher in die Nachwelt beférdert.
Pari ist im Grunde auch die Diseuse, die zu Beginn des Buches nach-
spricht, sprechen lernt, sich in der Verlassenheit eine Identitat zimmert,
die Reisende, die Tochter. Pati ist ebenso Demeter und Persephone: Lass
Jene, die Diseuse ist, die Mutter ist und wartet neun Tage und neun Nachte,
lass sie gefunden werden. Die Erinnerung beleben. Lass jene, die Diseuse ist,
die Tochter ist, die Quelle erneuern mit ihrem Auftrtt aus der Unterwelt. (0
Und Par ist schlieBlich auch die junge Revolutionirin, die durch ihren
historischen Mut Geschlechterrollen transzendiert, Erzahlungen ver-
vollstindigt: Die einzige Tochter von vier Kindern sie macht vollendet ihr
Leben wie andere vollendet haben. thre Mutter ihr Vater ihre Brier. (0)
THERESA WAM KYUNG CAS TRANSLINGUALE SENDUNGEN 5
Move
bewegen
bewegung
bewegt
mit augen, allen sinnen, auch éter
halten
haltung
gehalt
er fremder —freund
(atem)
if you could know
je pense a toi si souvent trop peut-étre
ich denk an dich so oft vielleicht zu
if could say
{ch weiG natiirlich es geht um genau dies hier. versuchte enterbung.
weder bin ich intellektuelle turnerin noch asketische jangerin
wie ich wander traurig freudig ganz erwacht je t'appelle. ton nom,
‘name. eine strahne eine spur sie folgt uns ziel los doch total
unser gemeinsamer nenner namlich durchkommen komm durch barriére
der name in la jetée the jetty der steg un homme marqué par un image
deson
tenfance image de son propre mort
1976, in demselben Jahr, in dem Cha in Paris bei Christian Metz, Ray-
mond Bellour und Thierry Kuntzel Filmtheorie studierte, erschien
die einflussreiche Studie Kafka. Pour une literature mineure von Gilles
Deleuze und Felix Guattari. Darin definieren die Autoren eine »klei-
ne Literature als das Schreiben von Minderheiten (im Fall Kafkas: die
Literatur der Prager Juden), welches im Spannungsverhaltnis zu den
{sthetischen, politischen, distributiven Verhiltnissen einer Mehrheit
steht. Die Kleine Literatur wird durch drei Eigenschaften charakteri-siert: Sic ist erstens deterritorialisiert, weil sie von einer vielfachen Un-
meglichkeit zu schreiben eingekreist wird. Weil sie von der Mehrheits-
sprache, der sich territorial und national definierenden Hochkultur, in
cine Sackgasse gedringt wird. Sie ist zweitens politisch, weil sihr enger
Raum bewirkt, daB sich jede individuelle Angelegenheit unmittelbar
sit der Politik verknipft.# In kleinen Literaturen nimmt drittens alles
einen kollektiven Wert an, weil es keine Literatur der groen Meister
sibt. »Was der einzelne Schriftsteller schreibt, konstituiert bereits ein.
gemeinsames Handeln, und was er sagt oder tut, ist bereits politisch,
auch wenn die anderen ihm nicht zustimmen.”
Ich weiB nicht, ob Cha damals mit dem Buch oder den Gedanken
von D&G in Kontakt gekommen ist. Vielleicht aber kénnte man ihr
Sprachengemisch, das sich zwischen amerikanischer Kultur, franzési-
scher Avantgarde und koreanischer Geschichte aufspannt, als eine sol-
che kleine Literatur oder literature mineure ansehen, eine bewusst kon-
struierte Mindersprache, mit der die Autorin kulturelle und asthetische
‘Zagehsrigkeiten und politische Implikationen im Zuhdren hinterfragt.
Sehr geehrter Herr,
ich habe bereits geschrieben
Sehr geehrte Herren
an dieser Stelle méchte ich mich
erkundigen wo ein Brief geblieben
Sebe
Damen und Herren,
ich schreibe hnen beziglich diesen
Briefs den ich geschickt und datiert
Sehr geehrte Dame
Oder, eine andere Adressierung: Jacques Derrida beschreibt ein ahn-
liches Spannungsverhiltnis zur Mehrheitssprache in seiner viel spiter
centstandenden, autobiographischen Schrift Le monolinguisme dell autre
(Die Einsprachigkeit des Anderen), die sich mit seiner Beziehung zum
Franzésischen auseinandersetzt. Er nennt Sprachen, die in einem pro-
‘blematischen Verhaltnis der Nicht-Zugehdrigkeit verharren, Ankunfis
sprachen: *Sprachen, denen es—eigenartige Struktur—nicht gelingt, bei
sich anzukommen, weil sie nicht mehr wissen, von wo sie kommen und
in welche Richtung ihre Uberfahrt geht.« Es sind Sprachen, von deren
‘Ankdinften sich ein Begehren herleitet, nimlich das Begehren nach der
Erfindung einer Sprache, die in der Lage ware, das nicht angekommene
(nicht verzeichnete, von Unterdrtickung oder Kolonislisierung verbor-
gene) Gedichtnis 2u tbersetzen.*
Dictée lasst sich auch lesen als ein Buch, das in Ankunftssprachen,
sgeschrieben ist. Als ein stindiges Werden und Kreisen und Unterbro-
chensein. Wie lauten diese Ankunftssprachen, wer diktiert sie? Das
Englische reibt sich an Syntax und Lexik des Franzésischen, es ist zu
weilen wartliche Ubersetzung, ungelenk. Es lebt und bliht in seiner
eigenen Ankunft, es ist ein broken English und zwar auch in dem wartli-
chen Sinne, dass es aufbricht, den poetischen Spielraum intralingualer
\Verschiebung und Variationen in einer Sprache ausnutzt, in minimalen
Schritten: memory less. Der erste Text des Buches behandelt konkret
ein Ankommen in Sprachen. Erst auf Franzésisch, dann auf Englisch
wird die Ankunft von jemandem beschrieben, der oder die saus der
Fernes kommt, vielleicht Immigrantin ist, vielleicht Sprachschilerin,
vielleicht Amnesiepatientin:
Aller fa ligne Cétalt le premier jour point
Elle venait de loin point ce soir au diner virgule
les familles demanderaient virgule ouvre le guil
lemets Ga cest bien passé le premier jour point
interrogation ferme les gullemets au moins
Virgule dire le moins possible virgule la réponse
serait virgule ouvre les guillemets Il nly a qune
chose point ferme les guillemets ouvre les guille-
mets lly a quelqu‘une point loin point ferme
les. guillemetsErster Absatz Es war der erste Tag. Punkt
Sie kam von fern Punkt — Abendessen Komma
die Familie fragte Koma Anfuhrungs
zeichen unten Wie war der erste Tag Frage
zeichen Anfihrungszeichen oben Wie sagen
Komma was irgend méglich Komma die Antwort
ware Anfahrungszeichen unten Da ist nur eine
Sache Punkt Anfuhrungszeichen oben dann
tunten Da ist jemand Punkt Von fern Punkt
‘Anfahrungszeichen oben (0
Ein Diktat, direkt und wortlich, mit Zeichensetzung. Ein Diktat lisst
tuns die Strukturen héren, die in der Sprache als gegeben hingenom-
men werden, unerhért agieren, regulieren. Zeichensetzung, Gram-
‘matik, Kleine policen. Wenn die Strukturen an die Oberfliche der
AuBerung geholt werden—was ist dann noch eine AuBerung, welches
‘Aufen?—verlieren sie ihre Selbstverstindlichkeit, verstellen die Aussa-
se, mischen die Kanile, muddlen die Message. Man ist sofort versetzt in
den Zustand, in dem man ist, wenn man eine Fremdsprache lernt: alles
wird sonderbar, verzerrt, besonders die eigene Sprache.
Oder, wie ¢s Yoko Tawada einmal in Uberseezungen beschricben hat:
Eine Sprache, die man nicht gelernt hat, ist eine durchsichtige Wend,
Man kann bis in die Ferne hindurchschauen, weil einem keine Bedeu:
tung im Weg steht. Jedes Wort ist unendlich offen, es kann alles bedeu-
ten.c' Bei Tawada gibt es dieses: in die Ferne, Sicht auf Neues, Offenes.
Bei Cha: aus der Ferne, Sicht auf Vergangenes, das die Gegenwart ver-
ritselt, Sendungen, die entziffert werden wollen.
In Dictée sind in die »Ankunftssprachene Englisch und Franzésisch
zusitzlich koreanische und chinesische Schriftzeichen eingelagert. Sie
kommen neben anderen dokumentarischen Materialien als Bilder vor,
als Zeichen und Fotokopien—das ist wichtig: nicht als schicke Faksimi-
les, sondern als erkennbar zirkuliertes, markiertes, kopiertes Material
im Sinne von: nicht urspriingliches. Die Dokumente und Bilder schrei-
bben das Buch mit, und darum muss man eigentlich anfangen, von Bil-
dern zu sprechen, will man das Buch lesen, seine Sprachen. In gewisser
Weise ist dies eine wichtige Bigenschaft von Chas Werk, seiner Wir-
kung auf den Leser: die Deterritorialisierung des lesenden Blicks.
ING CHAS TAANSLINGUALE SENOUNGEN 19
Die erste Seite von Dictée (die in der Erstausgabe das Titelbild war) zeigt
cin schwarz-weiles Foto auf dunklem Hintergrund, eine Gesteinswiiste
it einer Kette groBer Gesteinsbrocken, rechts hinten eine pyramiden-
artige Struktur. Es wurde gemutmat, dass es sich um Graber handeln
kénnte. Unbewegliches. Auf Franaésisch tombe. Englisch tomb. Im Bild20 vuawa our
kein Wort. (Worin wir, spiegelbildlich blickend, ahnen das verborgene
Wort, mot).
Nach einer Leerseite eine zweite Kopie, diesmal auf wei8em Un-
tergrund. Sie zeigt eine kopierschwarz-kémnige Fliche, iberzogen mit
cinem Streufilm aus weien Punkten, aus denen sich Zeichen retten,
oder klettern sie hinab?
Es sind koreanische Zeichen, genauer: die Hangul, die 1444 fiir das,
cinfache Biirgertum und fir Frauen geschaffene Schrift. Hangul wurde
erst 1919, im Zuge der antikolonialen Protestbewegung in Korea, zur
offiziellen Schriftsprache. Unter der japanischen Besatzung von 1910
bis 1945 waren koreanische Sprache und Schrift in verschiedenen Ab-
stufungen unterdrickt oder verboten. Die Sprache der koreanischen
Literatur, die offizielle Schriftsprache der Autoren, waren viele Jahe-
hhunderte die klassischen chinesische Zeichen.
Cha gehdrte theoretisch zur sogenannten Hangul-Generation, wie
auch die stidkoreanische Dichterin Kim Hyesoon, die vier Jahre nach
Cha geboren wurde. Dies war die erste Generation, die mit Hangul auf-
‘wuchs und in dieser Sprache unterrichtet wurde. Ihre Eltern waren in
JJapanisch unterrichtet worden, die Generation davor in Chinesisch.
(Kleiner Exkurs: Kim Hyesoon ist eine der wenigen feministischen
Dichterinnen Koreas, deren Hangul sich mit aggressives, abjektiver Poe-
tik gegen die noch immer patriarchalisch gespragte, nationale Asthetik
der Hochkultur richtet. Hyesoons Gedichte sind bevélkert von Ratten,
Mil, urbanem Alltag, grotesken Echos weiblicher Verrichtungen. Eine
‘Tochter verschwindet unter einem Quilt, der ihren verwundeten Ké:
per wie Armut umwuchert. In dem Gedicht Conservatism of the Rats of
Seoul ttet eine Rattenmama ihren Nachwuchs und frist ihn auf, bevor
cin neuer Wurf kommt:
()
‘Am Morgen ist alles stil—-wahrscheinlich ister fort
‘Mommy steht endlich auf und atmet
Mommy beisst und totet uns alle
weil wir verdachtig rlechen, Angst der letzten Nacht
Sie totet uns und frisst unsere Eingewelde,
scharft ihre Zahne an der Wand
TWERESA AK X¥UNG CHAS TRANSUNGUALE SENDUNGEN a
lund gribt unsere Augapfel aus, ist sie
bis es nichts mehr zu essen gibt
Wie immer sind nur Daddy und Mommy ubrig
Sieht aus, als ob Mommy wieder werfen wird.*
Koreanisch, als Muttersprache, bei Hyesoon, ist nicht Besitz (possess:
on), nicht selbstverstndliche Aussprache eines nationalen Subjekts. Die
Sprache ist besessen (possessed) von Widerstand, durchsetzt von und
angereichert mit der Geschichte kolonialer und diktatorialer Gewalt.
Korper und Subjekte befinden sich im Zustand stindiger, gewaltsamer
‘Auflésung, quellen auf und querelen, Schweine und Ratten, ihren vor
die grotesken Reste nationaler Sicherheit als Milltanz, Quilting, zit
liche Exzesse.
‘Auch die Struktur der Familie bietet keinen Riickhalt. Familie, kin
ship, wird identifiziert als Brutstelle emotionaler und hiuslicher Gewalt
und Unterdriickung, Exemplarisch dafiir das Bild der Mutter und der
uklearen Familie, eine monstrése Umschreibung von Nahe und In-
timitat, bei der Fortpflanzung und Defakation in eins fallen, Schutz-
instinkte zu Fressinstinkten werden. Und liest man Kim Hyesoon, wie
ich, auf Englisch in der Ubersetzung der koreanisch-amerikanischen
Dichterin Don Mee Choi, tritt dariiber hinaus das Bewusstsein von
Korea als Neokolonie Amerikas zu Tage. Auch Prinzessin Pari spielt
bei Kim Hyesoon eine grofe Rolle—ihr Todesreich figuriert als anti-
patriarchaler Raum, in dem die als Nicht-Sohn Verstofene sich als Frat
neu erfinden kann. Exkurs Ende.)
‘Aus anderem Epos anderer Geschichte. Aus einer fehlenden Erzahlung.
‘Aus hundert Narrativen. Fehlende, Aus Chroniken. Far andere Versionen
andere Rezitationen, (0)
Ich schrieb, dass Theresa Hak Kyung Cha theroetisch derselben Ge-
neration wie Hyesoon angehdrt. Aber ihr Weg wurde sehr frith in an-
dere Irren, andere Konflikte geschickt, so dass das stheoretisch« eine
sehr weite Erzihlung wird. Cha immigrierte mit 1 Jahren und wuchs
in anderen kulturellen und sprachlichen Kontexten auf. Als Kind in
einer franzésisch-katholischen Schule (dies vielleicht noch der kleinsteBruch—nimlich Fortsetzung der in Korea verbreiteten, kulturell pri-
genden Missionarschulen, die wahrend der Unabhingigkeitsproteste
eine wichtige Rolle spielten). Als Kiinstlerin in einer vor allem fran-
zisisch geprigten, californisch-cineastischen Avantgarde, intensiviert
durch ein Auslandsstudium am Centre d'Etudes Americain du Cinema
in Paris,
was ich vergessen habe manifestiert sich nur in anderer form
‘manifestiert in anderer form in zukunft macht die zukunft auch
Ich schrieb stheoretische auch deshalb, weil Cha 1982, wenige Tage
nach der Verbffentlichung von Dictée in New York von einem Fremden
(einem Wachmann) vergewaltigt und ermordet wurde. Weil ihr Leben
brutal und sinnlos beendet wurde. Weil wir nus, oder nie, ahnen kén-
‘nen, wie sich ihr Werk, ihre formalen Experimente, ihre Sprachen und
die Beziehung zu Korea und dem Koreanischen entwickelt hitten, Ob
ihre Ankunftssprachen solche geblieben waren, oder ob sie sich ange-
siedelt hatten eines Tages, andernorts. Ob Cha weiter mit Prosa experi-
‘mentiert hatte, oder cher mit lyrischen Formen, oder weniger geschtie-
ben und mehr Filme gemacht. Wir wissen es nicht, weil Cha ein Opfer
sexueller Gewalt geworden ist, durch die sie~sie, die schrieb von der
Schwierigkeit, 2u einer Stimme 2u kommen—wieviele andere Frauen
stumm gemacht wurde.
Wir wissen, dass Cha 1979 und 1980 nach Korea zurtickgekehrt
war, beim zweiten Mal gemeinsam mit ihrem jiingeren Bruder James
als Kameramann. In der Tasche ein Script, zwei Stipendien in Héhe
von $18000, ein Storyboard und Gedichte, Notizen, Mit dem Plan, ge-
meinsam einen Film zu verwirklichen, dessen Arbeitstitel White Dust
from Mongolia lautete. In dem Film sollte es, wie Cha in ihrem An-
tragsschreiben fiir die Kulturstiftung National Endowment for the Arts
(NEA) formulierte, um eine Reise gehen. »Zurick 2u einer verlorenen
Zeit und einem verlorenen Ort, immer im Imaginérene. Sie figte hin-
zu, das Thema aller ihrer Arbeiten sei das langsame Erkennen jenes
»Abdrucks [imprint], jener Einschreibung [inscription] eingeritzt durch
die Erfahrung der Auswanderung, der Ankunft in Amerika.”
Dust sollte von der (sprachlichen) Amnesie einer anonymen Frau im
Exil handeln, die von einer zweiten, erzhlenden Instanz—auch einer
Art: Diktat—Erinnerung, Sprache und Identitit zugewiesen bekormt.
Durch ihre Anonymitit, schrieb Cha, kann die Figur multiple Identi-
THERESA HAK KYUNG CHAS TRANSLINGUALE SENDUNGEN 23
titen annehmen, sie wird ein »Kollektive, Metapher fiir mégliche Fi-
sguren, sein junges Madchen im Kino; auf dem Boden hockende Magd,
mit dem Riicken zu uns; Handlerin auf einer Fabre; Marktplatz; Waise;
Nation, eine historische Bedingung, Mutter, Erinnerunge.
Das Filmprojekt konnte nie beendet werden, weil Therese und ihr
Bruder wegen der politischen Unruhen nach der Ermordung des Prési-
denten Park Chung Hee im Oktober 1979 nach kurzer Zeit die Dreh-
arbeiten abbrechen mussten. Zuriick in New York trug sich Cha mit
dem Gedanken, Dust in einen shistorischen Romane zu verwandeln.
Danu ist es nicht gekommen. Dust, seine Partikel aber, sind in Dictée
abgelagert, verborgen, in einem Werk, das antihistorischer Antiroman
und zugleich dessen Postitiv ist: »Vielfalt der Chronologien, Ruptur-
punktes
comment de dire
hhow to say wie sagen de dire comment dire wie soll man sagen wie
sagen wie gesagt
comment on pourrai dire how cauld one say
das
Cest ca das this is the way this is the way wie gesagt
the way done wie gesagt how done24 UuANA WoL
comment cest dite comme comme
how like like how
wie that's to sa—crest a dire
das it's here
Aber zurtick zu Dictee. Wir befinden uns noch auf der zweiten Seite des
Buches, vor der Frage, die die Hangulschrift an uns stellt. Ich kann sie
nicht lesen, aber ich erfahre ihre Bedeutung von anderen Lesern, Kom-
‘mentatoren, die des Koreanischen michtig sind. Denn das ist die zweite
Eigenschaft von Chas Werk, seiner Wirkung auf den Leser: Beginn ei-
ner Gemeinschaft aus Lesern, entfernten Verwandten, Schaffung win-
ziger Zellen, revolutionarer Kollektive. Das Bild, erfahre ich, zeigt die
‘Wand in einer Kohlegrube, einem schwarzen Schacht, wahrend der ja-
panischen Besatzung, in dem Koreaner, auch Kinder, zur Zwangsarbeit
‘gezwungen wurden. Die Schriftzeichen sagen, von rechts oben nach
links unten:
1 tom
ic eau
4 HOT
8 eae
toot BE Rk
cooN R
H ™
H 1
Mou s
o Ns
c G6 ee
4
T Rao
E i oO
6 oc
H 4
E
'
™
THERESA WAX KYUNG CHAS TRANSLINGUALE SENDUNGEN 2s
Ein furchtbarer, einsamer, ein unerhérter Ruf: in der Muttersprache, an
die Mutter, us einem Kohleschacht, an ein Heim, das es so nicht mehr
gab, nie mehr gegeben haben wird. Auf der gegeniiberliegenden Seite
steht der Titel des Buches: DICTEE. GroBbuchstaben, kein Akzent.
Der Name der Autorin darunter. Das Buch beginnt mit diesem Bezie-
Ihungsraum zwischen Hangul und einem im Englischen angesiedelten
feanaisischen Wort, Dictée. Ein translinguales Sprachereignis, eine
Nichtiibersetzung. Bin Trauma, ein Schrecken, wer hat das in den Stein
geritzt, ein Ruf. Was spricht, ist nicht das, was sich versteht, sondern das,
was da sein wird. Uneshdrte im Bergwerk: die MUTTER /Sprache. Es
wird diktiert. Wird sie diktiert? Diktiert sie? Und wem. Und was.
Tote Worte, Tote Zunge. Von Nichtgebrauch. Vergraben im Gedachtnis von
Zeit. Unbenutzt. Ungesagt. Geschichte. Vorbel. Lass jene, die Diseuse ist,
die Mutter ist und wartet neun Tage und neun Nachte, gefunden werden,
Gediichtnis beleben. Lass jene, die Diseuse ist, die Tochter ist, die Quelle
cerneuern mit ihrer Auftritt aus der Unterwelt. Die Tinte flie&t am dicks-
ten bevor sie ausgetrocknet bevor sie nicht mehr schreibt. (0)
‘Was geschicht, wenn sich die Anfiinge und Ankiinfte so gnadenlos ver-
‘mehren? Wied nicht unweigerlich auch all das in Bewegung gesetzt, was
wir schon angefangen glaubten, was wir vergangen glauben, jenes, wo-
rauf sich Eraahlungen von Anfangen bezichen, Genealogien, Mythen,
Grammatiken? Auf die Titelseite folgt die Widmung: meiner Mutter
‘meinem Vater, Beide Worte tauchen spiiter im Buch als Schriftzeichen
wieder auf, allerdings als chinesische, zusammen mit den chinesischen
Schriftzeichen ftir sunges und sMadchene. Was bedeutet es, wenn die
Familienbezeichnungen als chinesische Schriftzeichen auftauchen?
Unter Umgehung des Koreanischen, der angeblichen Muttersprache,
die sich nur im Kohleschacht findet? Chinesisch ist die Schriftsprache,
in der jahrelang, jahrhundertelang koreanische Literatur geschrieben
wurde. Es ist die Schrift, die vor der japanischen Besatzung prigend
war. Wenn die Familie chinesisch benannt wid, also in einer Literatur-
sprache, die Cha nicht schrieb, heibt es vielleicht, dass Familie in einer
Zeit oder Sprache vor der Muttersprache angesiedelt wied, vor dem Ver-
essen? Sie kam aus der Ferme. Die Familien fragte. HeiBtes vielleicht, dass
rman sich auf Familie immer nur anderssprachig beziehen kann, will
man die Traumata und Wiedereinschreibung exklusiver Ursprungsmy-26 uaNa wou
then vermeiden? Heidt es, dass man chinesisches Amnesisch schreiben
muss, eine Art genealogische Nomadensprache? Ist es eine emanzipa-
torische Geste? Oder deuten die chinesischen Schriftzeichen vielleicht
auf cine schmerzliche Abwesenheit, die Unterdrtickung der Mutter-
sprache? Waren dann die Zeichen fiir Mutter und Vater, Sohn und
‘Tochter fiir immer mit der Erfahrung von Unterdriickung verkniipft,
synonym, Familie, Abstammung, Nation, ein Kreislauf, dem man sich
nicht entzichen kann? Im zweiten Kapitel, Kalliopeepische Dichtung,
findet sich ein Lingerer Text, der mégliche Antworten auf diese Fragen
enthalt. Er erzahlt die Geschichte der Mutter im Exil in der Mandschu-
rei
MUTTER
MUTTER, du bist achtzehn Jahre alt. Du wurdest in Yong Jung, Manchu-
rien geboren und hier lebst du jetzt. Du bist keine Chinesin. Du bist Kore-
anerin, Deine Familie flichtete vor der japanischen Okkupation. China ist
{r08, GrOler als gro®. Du sagst die Herzen der Menschen misst man an den
Grenzen ihres Landes. So schweigsam wie gro8. Du lebst in einem Dorf wo
die anderen Koreaner leben. So wie du. Flichtlinge. immigranten, Exilierte
Weiter entfernt von dem Land, das nicht deins ist. Nicht mehr langer deins.
Du wolltest nicht sehen. Du kannst nicht mehr sehen. Was sie antun, Dem
Land und den Menschen. So lange das Land nicht deins ist. Bis es wieder
deins wird. Dein Vater ging fort und deine Mutter ging fort wie die anderen.
Du leidest unter der Gewissheit des Fortgangs. Des Fortgegangenseins. Aber
dein MAH-UHM, Geist ist nicht fort. War nie fort und wird nie fort gewesen
sein, Nicht jetzt. Nicht einmal jetzt. Ist eingebrannt in deine stets gegenwar-
tige Erinnerung. Nicht-Erinnerung. Denn es ist nicht Vergangenheit. Wird
‘ie vergangen sein. Kann nicht. Nicht im entferntesten, Vergangenheit. Es
brennt. Feuer in Flammen brand,
Mutter, du bist noch ein Kind. Mit achtzehn. Mehr noch Kind weil du oft
krank bist. Sie haben dich vor dem Leben beschatzt. Aber du sprichst die
Sprache die vorgeschriebene Sprache wie alle anderen. Sie ist nicht deine.
‘Auch wenn sie nicht deine ist, du musst sie sprechen. Du bist 2weisprachig,
Du bist dreisprachig. Die Sprache die verboten is, ist deine Muttersprache.
Du sprichst sie im Dunkeln, Im Geheimen. Jene, die deine ist. Eigen. Du
sprichst sehr leise, ein Flistern. Im Dunkeln, im Geheimen. Muttersprache
ist dein Asyl. Ist Zuhausesein. Sein wer du bist. Wahrhaftig. Sprechen macht
THERESA HAK KYUNG CHAS TRANSLINGUALE SENOUNGEN 7
dich traurig, Sehnsuchtsvoll. Jedes Wort auszusprechen ist ein Privileg. Das
du riskierst um den Preis des Todes, Nicht nur fir dich, fr alle thr alle seid
eins, seid sprachlos gemacht vom Gesetz, zungtot. Im Innern tragst du das
Zeichen oben rot und das Zeichen unten blau, Himmel und Erde, tal-geuk;
Yai-chi. Das Zeichen ist. Das Zeichen dazugehdrig. Zeichen fur den Grund,
Zeichen fir Rettung. Von Geburt. Bei Tod. Von Blut. Du trigst das Zeichen in
deiner Brust, in deinem MAH-UHM, in deinem MAH-UKM, deinem Scha-
manenherz.
Du singst
Im Schatten stehst du, Bong Sonnenblume
Dein Anblick ist armselig
Lang und lang im Inner Sommertog
Wenn schane Blumen blihen
Werden die lieblichen Jungfrauen
dir 2u Ehren gespielt haben
In Wahrheit war das die Hymne. Das nationale Lied, verboten. Geburts los.
Waise. Sie nehmen dir die Sprache. Sie nehmen dir die Chorale, Hymnen.
och du sagst nicht mehr lange nicht fir immer. Nicht flr ewig. Du war-
test. Du wei8t wie. Du wei8t wie man wartet. Innen MAH-UHM Feuer in
Flammen brand,
)
Du schreibst. Du schreibst du sprichst Stimmen versteckt maskiert du
pflanzt Worte auf den Mond du schickst Worte durch den Wind, Durch den
Wechsel der Jahreszeiten. Durch Himmel und Wasser werden Worte gebo-
‘en werden diskret. Von einem Mund zum ander, von einem Leser zum
andern werden Worte verwirklicht in ihrer ganzen Bedeutung. Der Wind.
Dammern morgens oder abends Lehm und Vogel nach Suden gerichtet
Vogel sind Sprechapparate tragen den Geist Schleier fir die Saat von Nach
richt, Korrespondenzen, Worte, Streuung.
Mutter du bist achtzehn. Es ist 1940. Du hast gerade eine Lehrerausbil:
dung beendet. Du bist auf dem Weg zu deiner ersten Stelle in einem kleinen
Dorf tief im Landinneren. Die Regierung der Mandschurei schreibt vor, dass
du drei Jahre lang eine zugeteilte Stelle annehmen und den Staatskredit fir
deine Ausbildung zurickzahlen musst. Ou bist kaum erwachsen, Du hast
nie das Haus deiner Mutter deines Vaters verlassen. Du die jingste von vier
Geschwistern. Immer krank. Du wurdest immer ferngehalten vom harten
Alltag. immer die jngste, das Kind.Du nahmst den Zug in dieses Dorf mit deinem Vater, Du bist westlich ge-
kleidet. Am Bahnhof starren dich die Dorfeewohner unschuldig an, manche
laufen dir nach, die kinder. Es ist Sonntag
Du bist seit sechs Jahren die erste weibliche Lehrkraft in dem Dorf. Ein
Lehrer begriiBt dich, er spricht dich auf Japanisch an, Japan hat Korea be.
setzt und schickt sich an, China zu besetzen, Sogar in dem kleinen Dorf
Ist seine Prasenz spurbar in der japanischen Sprache, die Uberall gespro.
chen wird. Die japanische Flagge hangt am Eingang zum Biro. Darunter
der padagogische Leitspruch von Kaiser Meij, eingerahmt in Purpur. Der
Direktor verlies ihn bel jeder offiziellen Veranstaltung fir alle Schiller,
Die Lehrer sprechen untereinander Japanisch, Du bist Koreanerin, Alle
Lehrer sind Koreaner. Dir wird die erste Klasse 2ugewiesen. Finfzig Kinder.
Sie miissen ihre Namen auf Koreanisch sagen und wissen wie sie auf Japa-
nisch heigen. Du sprichst mit thnen Koreanisch weil sie zu jung sind, um
Japanisch zu verstehen,
Es ist Februar. In der Mandschurei. In diesem Dorf bist du allein und dein
Elend ist gro8. Du bist scheu und der Alltag der Dorfmenschen ist dir fremd.
Nach Kost und Logis schickst Du alles restliche Geld nach Hause. Du kannst
nicht mehr als Hirse und Gerste verlangen. Du nimmst was man dir gibt.
Warst immer so, Noch immer, Du, Dein Volk
Du nimmst den Zug nach Hause. Mutter...Du rufst sie schon vom Tor,
vom Garten, Mutter, du kannst es nicht erwarten, Sie lisst alles liegen, um
dir entgegen zu laufen, sie kommt und nimmt dich ins Haus, bringt dir Es
sen. Du bist Zuhause jetzt deine Mutter dein Zuhause. Mutter untrennbar
von dem, was ihre Identitat ist, ihre Gegenwart, Dieser Wunsch die gleiche
Luft zu atmen ihre Hand kaum eine Hand mehr Werkzeug kaputt verwittert
kein Tod kann sie dir nehmen. Kein Tod wird sie nehmen, Mutter, ich tru
‘me dich, damit ich bei dir sein kann, Himmel ein Naheres im Schlaf. Mutter,
‘mein erster Laut. Die erste AuBerung, Das erste Konzept. 10)
‘Man kénnte Dictée als ein Buch lesen, das von der abwesenden Mutter-
sprache diktiert wird, das den Ruf aus dem Kohleschacht notiert— Fliis
ter, Im Dunken, im Geheimen. Dann schreibt die Tochter eine Erinne-
‘rung auf, die nicht ihre ist, ein Fragment von der Geschichte der Mutter,
die unter der Besatzungszeit ihre Muttersprache verstecken musste, sie
aufbewahrte fiir zukiinftige Bewahrheitung, Dann wire der Text eine
schmerzliche Erinnerungsschrift, die aber ex negativo die Galtigkeit
und Gegenwart der Muttersprache betitigte. Was aber geschieht, wenn
die Mutter am Ende des Textes direkt angeredet wird, und zwar nicht
in der Muttersprache? Wird aus dem Diktat dann nicht eine Sendung,
cine Erzahlung, die die Mutter in der Ankunftssprache neu schreibt?
In einer oder mehreren Ankunftssprachen, die Asyl sind fiir sie, Er-
innerungsarbeit—wie aber eben auch die Muttersprache sdein Asyle
ist —vielleicht immer nur Asyl sein kann? Die Zeugnisse beginnen sich
zu multiplizieren.
Und wenn man den Begriff Muttersprache verwendet, welche meint
man dann, welchen Laut, welches Konzept, das man selber gelernt?
Als deutsche oder westeuropaische Leser bringen wir ein Verstindnis
mit, das Muttersprache als Besitz einer einzigen wahren, natirlichen
Sprache denkt. Und durch diesen Besitz sind wir, die Sprecher, aut der
Literaturwissenchaftlerin Yasemin Yildiz sorganisch verbunden mit
einer exklusiven, deutlich abgrenzbaren Ethnie, Kultur, und Nation
Wie Vildiz. bemerkenswert ausfiihrt, geht diese Konzeption auf die
sprachphilosophischen Emeuerungen der Romantiker zurtick, auf Her-
der, Humboldt, Schleiermacher, nach denen man nur in seiner eigenen
Muttersprache urspriinglich denken, fihlen und schépfen konate. Diese
Neuerungen waren verbunden mit Verinderungen im Gefiige der bir-
‘gerlichen Familie und im nationalen Einheitsstreben. In seinem weg
weisenden Vortrag Ueber die verschiedenen Methoden des Ucbersezens
denkt Friedrich Schleiermacher auch diber literarische Mehrsprachig-
kkeit nach und kommt zu dem Schluss: »wie Einem Lande, so auch Einer
Sprache, oder der andern, mu der Mensch sich entschlieffen anzugehd-
ren, oder er schwebt haltungslos in unerfreulicher Mitte.
Mitte, mitten... War nicht der Stempel des Beginns eine solche Mit-
te, Schwebe, frankierte Unzugehérigkeit? Es leuchtet ein, dass bei The-
tesa Hak Kyung Cha diese Muttersprache, Hangul, die am Anfang des
Buches als Bild, Hilferuf, die erste AuRerung ist, nicht die gleiche ist, die
Schleiermacher im Sinn hatte. Denn auch das Mutterkapitel konstru-
iert nur eine mégliche Identifikation, eine mégliche Art, in der Unter-
dctickung ein weibliches Ich zu sein und es 2u sagen. Im ersten Kapitel
ist es noch die Revolutionirin, deren Mut die Geschichte vollendet. Fir
‘Cha aber bleibt die Einheit fragwiirdig, unerreichbar. Die Frage nach
der Herkunft, die Frage nach dem Ort der Mutter und der Matterspra-
cche, begreifen wir langsam, it nicht die nach einer Zugehérigkeit, nach
einem Land, Vielmehr: Einer Ungehérigkeit, einer innewohnenden
Latenz, Asyl.30
audience
distant
relative
THERESA HAM KYUNG CHAS TRANSLINGUALE SENOUNGEN 3
Noch einmal Deleuze und Gusttari: »Wieviele Menschen leben heut-
zutage in einer Sprache, die nicht ihre eigene ist? Wie viele kennen die
eigene Sprache gar nicht oder noch nicht, wahrend sie die grofe Spra-
che, die sie gebrauchen miissen, nur unzulinglich beherrschen? Das ist
das vitale Problem der »Gastarbeiters, vor allem ihrer Kinder. Ein Prob-
lem der Minderheiten. Das Problem einer Kleinen Literatur, aber auch.
‘unser aller Problem: Wie kann man der eigenen Sprache eine Literatur
abzwingen, die fihig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen
auf eine niichtern-revolutioniire Linie? Wie wird man in der cigenen
Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner?'®
Fiir mich ist das die wichtigste Frage. Heute ist es eine Frage nicht
nur der +Gastarbeiters, sondern von mindestens zwei Generationen
Binwanderern, die noch immer zwischen den Stiihlen und Sprachen
leben, vielleicht weil man sie eigentlich nie wirklich, wie sie sind, in die
deutsche Muttersprache aufnehmen wollte. Es ist aber auch die Frage
der neuen Einwanderer aus dem Sommer der gré8ten Fluchtbewegun-
zen, die Europa seit dem zweiten Weltkrieg geschen hat. Es ist die Frage
von Mehrheiten, von globalen Arbeitsmigrantinnen, Radikanten, Re-
Fugees, Luftwurzlern. Es ist die Frage, die sich ftir mich von Amerika
aus anders und dringlicher stellt, aber ich meine: nicht wegen Amerika,
nicht wegen einer Distanz zur Muttersprache, sondern weil diese soge-
rnannte Muttersprache in sich (in ihr), meine ich, Nomadin ist.
‘Aus dem Nord-Amerikanischen Dolmetscher:
»Billet, wenn man Jemanden zu Hause nicht angetroffen hat.
Gestern Nachmittag gegen vier Uhr war ich bei Ihnen, zufolge Ihrer
freundlichen Einladung, Sie zu besuchen. Ich bedauere sehr, Sie nicht
zu Hause angetroffen zu haben und bitte daher, mich wissen zu lassen,
zu welcher Zeit ich morgen kommen kann."
Mir ging es von Beginn an so, die Sprache war nicht zuhause anzutref-
fen, Sie schrieb mir renkig-freudige Billets. Sternschnuppe stand auf
cinem, das war frith. Kochanie auf einem anderen. Dana Gift—ift,
irritated, was nicht irrtiert heiBt, die falschen Freunde. Meine Billets
‘trugen Stempel, in denen ich mehrfach spiegelbildlich verborgen war,
irgendeine Multiplikation, die mit der unsichtbaren Verschiebung von32 lun
ost nach post 2u tun hatte. Oder weil meine Sprache auch Stasisprache
war. Oder weil es die Sprache war, die meine GroSmutter als junge Leh
rerin in Schlesien polnischen Kindern beibringen musste, ohne Knack-
laute, Darum will ich Postkarten an Texte schreiben, die sich im Zent-
rum selbst ibersetzten, was nicht auf eine herkémmliche Art lesbar ist,
nur auf eine zugewanderte.
In der zugewanderten Art haben Chas chinesische Schriftzeichen, ge-
scheiterte Ubersetzungen, gebrochene Ankunftssprachen wiederum
‘emanzipatorische Funktion. So dass Familien liegen im verborgenen
‘Wort und jenseits der Worte der Einschreibung. So dass in dieser zerbro-
chenen, wiedergingigen Zeit Menschen Identititen tauschen, Miitter
Nationen und Nationen Magde werden, und Tachter Fahren. Und dass
‘cin Schreiben, welches so radikal die Bedingungen unserer Sprach- und
Subjektwerdung befragt, vielleicht neue alternative, gerechtere Formen
kollektiver Imagination méglich macht. In der Zeit des Schreibens und
weit vor ihr, in Vergangenheiten und Zukiinften, die keiner logischen,
linearen Chronologie folgen, und die uns dennoch schon enthalten. Die
uns diktieren. Die uns in das dibersetzen, was wir sein werden, wie eine
neue Sprache, die wir lernen,
Traduire en francais:
1. | want you to speak.
2.1 wanted him to speak.
3.1 shall want you to speak.
4. Are you afraid he will speak?
5. Were you afraid they would speak?
6. {twill be better for him to speak to us.
7.Was it necessary for you to write?
8. Wait till | write.
9, Why didn't you wait so that | could write you? [0]
Warum hast du nic nkonnte, Warum hast
du nicht gewartet, damit ich dich schreiben konnte?
1 gewartet, damit ich dir schre
messencerIch will schlieSen, in der Aufficherung der Anfiinge, kein besserer
(Ort, mit einem anderen Fund, einer Sendung, my dictée mineure. Es ist
cin kleiner Aufsatz von Maurice Apprey, einem afro-amerikanischen
Psychiatrieprofessor, der mit Anna Freud in London gearbeitet hat und
von dem ich im Gespriich mit einer ungarischen Therapeutin in New
York erfubr. Der Aufsatz hei8t The Pluperfect Errand (ungefahe: der
plusquamperfekte Botengang, der vorvergangene Auftrag). Er behandelt
die unbewusste Weitergabe destruktiver Aggression zwischen Genera-
tionen, inbesondere in migratorischen Zusammenhingen. Laut Apprey
findet die Weitergabe folgendermaen statt: Aus einer fiheren Quelle
(einer vergangenen Subjektivitat) erhilt ein Ich unbewusst, aber wil-
lentlich einen Auftrag (errand), den es fiir eine bestimmte Zeit auf-
bewahrt (nimlich in der mentalen Reprisentation der sinneren Mut-
ters), Kobleschacht. Leinwand. Solange aufbewahrt, bis dieser Auftrag,
von dem das Ich nicht weiB, was er ist, beginnt, dessen Handlungen zu
steuern, sodass es zum Objekt der nun Subjekt gewordenen friiheren
Intentionalitit wird. Wandernde Geheimnisse, Briiche, miandemde
Mandate. Verstrende Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegen-
wart, Aktiv und Passiv vertauscht. Ein Kreislauf wird in Gang gesetzt,
der mehrere Generationen andauern und nur durch die Schaffung ei-
ner sdritten Stimmes unterbrochen werden kann, die es dem Subjekt
erlaubt, zu sich zuriickzukehren. Diese sdritte Stimmes ist oft die
Stimme der Freundschaft, also die Schaffung liebevoller Bezichungen
jenseits familiirer oder geschlechtlicher Strukturen. Die dritte Stimme
kann sich aber ebenso in screative generativity und generositye® fin
den, sprich im freien, freigebigen, kreativen Schaffen,
Tech schlage nicht vor, Chas Werk psychoenalytisch 2u lesen, obwoh!
ir Schaffen sehr wohl auch von Freud und insbesondere Jung beein-
flusst ist. Aber mir spukt im Kopf dieser errand—mit seinen Anklin-
gen an engl. error Fehler) und franz. errant (streunend, wandernd) —als
eine Denkfigur, eine Art Strahlung, die Chas mail art projects und Per-
formances, ihre Gedichte und Dictée durchleuchtet auf diese maladres
se hin: die Suche des exilierten, translationalen Ichs nach der Bedeu-
tung seiner ihm von der Vergangenheit aufgegebenen Auftrige, sprich:
den Diktaten der Diktaturen und Sprachverboten, Die stillstehende,
wuchernde Zeit, die Reservoire rasender Sendungen. Und die poetische
Rede als streunender Fehler und dritte Stimme.' Sie ist auch Liebe zwi-
schen Mutter und Tochter, die Liebe der Solidarisierung zwischen Frau-
nals xcontact zones oder Ubersetzungszone. Und die dritte §
letter
sendereceiver
35die Leserin, sie und Sie, an die letztendlich all diese Sendungen gerich-
tet sind, und mit der eine neue, gerechtere, inklusivere Gemeinschaft
beginnen kann. (Wie ein Fleck, der das Material, auf das er tropfte, auf
zunehmen beginat.)
Wer ist sie,
die auf uns wartet,
damit wir sie méglich machen,
damit sie uns schreiben kann?
to inhabit freely the civic house of memory | am kept out of
Erin Moure, Furious
recit
reciting a poem
re citing a poem
re sighting a poem
re insighting a poem
ING on nnnnens MOVE to action, instigate, rouse
fon the ground locations inscribe and cover up
re locating the poem
and covering it up again
flour, plaster
1 Ich verdanke viele Einsichten der SuBerst detaillierten Studie von Michael
‘Stone-Richards: A Commentary on Theresa Hak Kyung Cha's Dicte, in: Glo.
ator, Vo I, Fall 2009, S.145-210.
2 Gilles Deleuze/ Felix Guattari: Kafka, Fir eine klein Literatur, bers. von
Burkhart Kroeber, Frankfurt a M. 1976, $.25.
3 Ebd, 8.26.
4 Jacques Derrida: Die Einsprachigheit des Anderen oder die Prothese des Ur
sprung Gers. von Barbara Vinken, in: Anselm Haverkamp (Hrsg): Die
Sprache der Anderen, Frankfurt aM. 1997, 5:34
5. Yoko Tawada: Uberseezungen.Literarische Essays, Tabingen 2002, 5.33,
6 Kim Hyesoon: Mommy Must Be « Mountain of Feathers, transl, by Don Mee
Choi, Notre Dame 2008, $.16.
7 EinfGhrung zu White Dust from Mongolia von Constance M. Lewallen, in
Exilée and Temps Morts S47.
‘8 Yasemin Yildiz: Beyond the Mother Tongue: The Postmonolingual Condition,
Now York 2012,
9. Friedrich Schleiermacher: Usber die verschiedenen Methoden des Ubersezens,
in: Hans Joachim Storig (Hrsg): Das Problem des Obersetzens, Darmstadt
1963, 8.63.
10 Deleuze/Guattari: Kafka, 8.8
11. Der Nord=Amerikanische Dolmetscher, Philadelphia 1866, $167.
12 Maurice Apprey: A Pluperfect Errand. A turbulent return to beginnings in the
transgenerational transmission of destructive aggression, in: Fre Associations:
Psychoanalysis and Culture, Media, Groups, Politics 66 July 2014), 8.27.
15, Die dritte Stimme ist auch Derridas Ankunftssprache und damit sie vor-
erste Sp
dessen, was nie stattgefunden hat und fir ein Ereignis, das abwesend war
und nur negative Spuren von sich selbst in dem, was Geschichte macht, 2u-
ickgelassen hat [..} Sie ist noch nicht einmal die verlorene Ursprungsspra-
che. Sic kann nur die Ankunftssprache oder besser die Kommende Sprache,
ches, cine wersprochene Sprache, »erfunden fir die Genealogie
«ine versprochene Sprache seine, Derrida: Einsprachighet des Anderen, S.3.
‘Quellen: und Abbildungsverzeichnis
Der vorliegende Text ist eine dberarbeitete und erweiterteFassung des am
1u, November 2ois im Lyrik Kabinett gehaltenen Vortrags Alle mit [DJ ge-
kkennzeichneten Originaltexte aus: Theresa Hak Kyung Chat Dicte, Berke-
ley 2001, Die Texte Audience Distant Relative, High School September 195638 uuana wour
bis Juni 1960, Schr geohrter Herr, Move, Was ich vergessen habe (sowie andere
Zitate zu Dust), comment de dire und récit stammen aus dem Sammelband:
‘Theresa Hak Kyung Cha: Exilée and Temps Morts. Selected Works, Berkeley
2009. Copyright fir die deutschen Ubersetzungen: Uljana Wolf. Abdruck
‘und Obersetzung der Texte mit freundlicher Genehmigung der Theresa
‘Hak Kyung Cha Memorial Foundation, University of California, Berkeley
[Art Museum and Pacific Film Archive
Abbildungen
Images courtesy of the University of California, Berkeley Art Museum and
Pacific Film Archive; gift of the Theresa Hak Kyung Cha Memorial Founda
Sis und 8: Theresa Hak Kyung Cha: Mot Cache, 1978; ink and stamped ink
‘on paper, two-sided, with postmark and printed postage stamp; 31/2 x5 1/2
S.at: Theresa Hak Kyung Cha: Pomegranate Offering (detail) 1975; stenci-
led ink and typewritten text on cloth, sewn with thread; 11/214 3/4 in
(closed); 11/2 x 29 1/2 in. (open); University of California, Berkeley Art
Museum and Pacific Film Archive; gift ofthe Peter Norton Foundation.
Photo: Benjamin Blackwell
S.30, 33 und 35: Theresa Hak Kyung Cha: Audience Distant Relative (detail),
1977-78; offset printing on paper, two-sided; stamped in on envelope; sheet
11x81/2 in, (folded); 5 1/2 x 8 1/2 in, (unfolded); envelope: 61/4 x 9 1/2 in.
Die Abbildungen auf S.ig und 23 stammen aus Dictee.