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Metaplasmus Metaplasmus

Word of Mouth (Amsterdam 1995) 159-174, 169f. - 150ebd. in poemate pars aliqua orationis vitiosa sit, metaplas-
171 ff. - 1 5 1 vgl. Freud [27] 20ff. - 152vgl. P. Guiraud: Les locu-
mum dicunt» (Nach der Meinung einiger [Gelehrter] ist
tions françaises (Paris 1961); A. Thun: Probleme der Phraseolo- der Barbarismus ein fehlerhafter Teil der Rede in der
gie (1978); Ν. Norrick: H o w Proverbs Mean (1985); G. Gréciano
(Hg.): Phraséologie contrastive (Strasbourg 1989); J.-C. Ans-
Umgangssprache. Diese Definition trennt den Metaplas-
combre: Proverbes et formes proverbiales, in: Langue française mus vom Barbarismus der, wie gesagt, in der Umgangs-
sprache stattfindet, weil man es einen Metaplasmus
102 (1994) 95-107; G. Kleiber: Sur la définition du proverbe, in:
ders.: Nominales (Paris 1994) 207-224; Eggs [141] (1994) 122ff.;nennt, wenn in einem Gedicht irgendein Teil der Rede
R. W. Gibbs u.a: Proverbs and Metaphorical Mind, in: Metaphor fehlerhaft ist). [5] Dann wird aber diese Definition des M.
and Symbolic Activity 11 (3) (1996) 207-216. - 153siehe E. Eggs:auch auf andere Gattungen ausgeweitet: «metaplasmus
Art. <Metonymie>, in: HWRh, Bd.5, Sp. 1203. - 154siehe E. est una pars orationis figurata contra consuetudinem vel
Eggs: Art. <Logik>, in: HWRh, Bd. 5, Sp. 414ff. - 155M. Pielenz:
Argumentation u. M. (1993) 136/7. - 156ebd. u. 121; vgl. Quint.
ornatus alicuius causa vel metri necessitate cogente»
V, 10, 87. - 157vgl. Eggs [141] (1999). - 158Perelman 461 ff; (Ein M. ist ein entweder zum Zweck der Zierde oder aus
471 ff. - 159 ebd. 539. - 160J. S. Mill: System of Logic (Londonzwingenden metrischen Gründen gegen die Sprachge-
1916; zuerst 1843) 521 (= 5, 5, 6). - 161ebd. 516 (= 5, 5, 4). -wohnheit ausgeschmückter Teil der Rede) [6]; und wei-
ter: «ergo inter barbarismum et metaplasmum hoc inte-
162ebd. 364ff. (= 3 , 2 0 , 1 - 3 ) . - 163ebd. 524. - 164Perelman 500.
- 165 ebd. 535. - 166 Β. Brecht: Der verwundete Sokrates, in: rest, quod barbarismus in communi sermone, metaplas-
ders.: Gesch. (1962) 109. mus in poemate est, item quod barbarismus citra auctori-
E. Eggs tatem lectionis inperite nunc a quibusdam praesumitur,
metaplasmus autem ille est, qui ex vetere scriptorum auc-
-» Allegorie Analogie > Antonomasie —> Comparatio -> toritate praeiudicatae consuetudinis ratione profertur,
Elocutio -> Hyperbel -> Imago > Ironie —> Katachrese —· Lito-
tes -» Metonymie —> Ornatus -» Personifikation —> Similitudo -»
item quod metaplasmus [...] a doctis fit scienter, barba-
Synekdoche -> Tropus —> Verbum proprium —> Wortschöp- rismus vero ab inprudentibus nulla aut veterum aut con-
fungstheorien suetudinis auctoritate perspecta adsumitur». (Also
besteht zwischen dem Barbarismus und dem M. dieser
Unterschied, daß der Barbarismus in der Prosaliteratur,
Metaplasmus (griech. μεταπλασμός, metaplasmós; lat. der M. aber in einem Gedicht auftritt, und ebenfalls, daß
metaplasmus, transformatio; engl, metaplasm; frz. méta- der Barbarismus ohne eine autoritative Belegstelle aus
plasme; ital. metaplasmo) der Literatur und ohne sprachliche Kenntnisse jetzt von
A. Der M. betrifft verschiedene Formen der absichtli- irgendwelchen Leuten verwendet wird, der M. aber jene
chen und gestatteten Abweichung von der Sprachrichtig- Abweichung ist, die gestützt auf die alte Autorität
keit im Einzelwort (Latinitas in verbis singulis) und als bestimmter Autoren und nach der Regel einer bewähr-
Stilmittel eingesetzte Verstöße gegen die sprachliche ten sprachlichen Gewohnheit vorgetragen wird, und
Orthographie und Orthoepie. Im grammatisch-rhetori- ebenfalls [...], daß der M. kundig von Gelehrten einge-
schen System wird der M. als ein Problem der virtutes et setzt wird, der Barbarismus aber von Ungebildeten ohne
vitia elocutionis und der Figurenlehre behandelt. Typolo- Bezug auf eine Autorität der alten Schriftsteller oder die
gisch unterscheidet man im klassischen Lehrsystem vier sprachliche Gewohnheit benutzt wird). [7]
Änderungskategorien einer Umformung von Wörtern Q U I N T I L I A N und die römischen Grammatiker bis zu
gegenüber ihrer regulären Formfl]: die <Detractio> Consentius führen eine wertvolle Anzahl von Beispielen
(Aphärese, Synkope, Apokope, Systole, Synizese und für die einzelnen Formen des M. auf, die meist aus VER-
Synaloephe), die <Adiectio> (Prosthese, Epenthese, GIL und anderen bedeutenden Dichtern stammen. Der
Paragoge, Dihaerese und Ektasis), die <Immutatio> M. ist also nach antiker Auffassung primär eine in der
(Ersetzung von Einheiten) und die <Transmutatio> Poetik durch den Grundsatz der licentia geduldete
(Inversion, Palindrom, Anagramm). Innerhalb dieser Abweichung, sofern er von anerkannten, gebildeten
vier Grundoperationen kann man noch präziser nach Autoren mit der Absicht eingesetzt wird, gezielt Affekte
den tria loca (Wortanfang, -mitte und -ende), ferner nach zu erregen, an die Hörer zu appellieren, zu archaisieren,
den von den Änderungen betroffenen Buchstaben, dem Gedicht ornatus oder einen regionalen color zu ver-
Vokalquantitäten, dem Akzent oder der Aspiration dif- leihen, eine für das Ohr unangenehme Massierung von
ferenzieren. M. können nur im gesprochenen (pronuntia- Silben zu vermeiden oder (als Reim-M.) ein bestimmtes
tio) oder im geschriebenen Wort (scriptum) zum Aus- Metrum zu wahren. In der Poetik und Metrik betreffen
druck kommen. [2] daher metaplastische Phänomene die absichtliche Deh-
Eine besonders konsequente Scheidung beider eng nung, Kürzung, Kontraktion bestimmter Silben oder
verwandter Begriffe barbarismus und metaplasmus fin- Worte zur Wahrung eines bestimmten Reim- oder
det sich in der <Ars de barbarismis et metaplasmis> [3] des Rhythmussystems und die Akzentsetzungen. Vergil
Grammatikers CONSENTIUS im 5. Jh. n. Chr. Er beginnt benutzt z.B. in der <Aeneis> die Form repostum statt
mit der grundlegenden Feststellung, daß der barbarismus repositum. [8] Der Reim-M. bedient sich gerne veralte-
und der M. aus den gleichen sprachlichen Operationen ter, mundartlicher oder seltener Wortformen, die Fach-
entstehen und daher nur im Zusammenhang miteinan- und Sondersprachen entstammen, und bildet oft 'un-
der definiert und im Einzelfall voneinander abgegrenzt reine', fehlerhafte Reime.
werden können: «quia quidam modi, ex quibus proveni- Alle absichtlichen Änderungen gegenüber der sprach-
unt, ipsis communes sunt, coniuncte de his dicendum est» lichen consuetude und norma rectitudinis, d.h. alle meta-
(Weil einige Weisen, wodurch diese entstehen, ihnen plastischen Deviationen, können als rhetorische Mittel
gemeinsam ist, kann man auch nur über sie in Verbin- ihre Wirkung nur bei Hörern oder Lesern als Rezipien-
dung miteinander sprechen). [4] Er definiert den M. ten erreichen, die mit der korrekten Regelgrammatik,
zunächst mit Bezug auf die Dichtung: «Barbarismus est, der Orthographie und Orthoepie vertraut sind. Ohne
ut quidam volunt, una pars orationis vitiosa in communi eine allgemein anerkannte norma rectitudinis kann man
sermone, haec definitio separat metaplasmum eo, quod keine lizensierten Abweichungen absichtlich einsetzen.
fieri barbarismum dixi in communi sermone, quoniam, si Die Verwendung von M. als rhetorisches Kunstmittel ist

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in solchen Epochen seltener zu beobachten, in denen sich weitgehenden Konsens über die Definition des M., wenn
die meisten Autoren und Redner besonders um die es auch in der Anzahl und Benennung einzelner species
Durchsetzung einer sprachlichen norma rectitudinis und geringfügige Unterschiede gibt. QUINTILIAN behandelt
die Etablierung einer einheitlichen Hochsprache bemü- Barbarismus und M. in den Grammatikkapiteln der
hen. Auch als Reaktion gegen einen zu starken Einfluß <Institutio oratoria>. [4] Er nennt als Anhänger der
einer Fremdsprache (z.B. des Griechischen in Rom oder Sprachrichtigkeit, des emendate loqui, sowohl den Bar-
des Französischen und Englischen im modernen Eu- barismus als auch den Soloecismus ausdrücklich e i n e f o e -
ropa) werden M. in Dichtung und Prosa zeitweise zur ditas, doch würden zuweilen sogar klare vitia entschul-
Wahrung der Sprachreinheit, der Orthographie und digt «durch den Sprachgebrauch, eine Autorität, Alter
Orthoepie kritisch eingeschätzt. oder schließlich gar durch die nachbarschaftliche Ver-
Da sich gesprochene Sprachen stetig weiterentwik- bindung mit Vorzügen - denn oft ist es schwer, sie von
keln, können bestimmte M. im Laufe der Zeit für den Figuren zu trennen - , [daher] muß der Grammatiker,
bestimmte Bereiche einer Sprache, von einzelnen Spre- damit ihn nicht eine so heikle Beobachtung täusche, sei-
chergruppen oder auch allgemein als grammatisch kor- nen Scharfsinn auf den feinen Unterschied richten». [5]
rekt akzeptiert werden und dann in den Bereich der Er verweist auf die dichterische Freiheit, die licentia, als
sprachlichen norma rectitudinis übergehen. Barbarismen eine Wurzel des M. «ut vitia ipsa aliis in carmine appella-
und M. sind für Sprachwissenschaftler und Philologen tionibus nominentur: μεταπλασμούς enim et σχηματισ-
wichtige Zeugnisse der Sprachentwicklung, weil sie μούς et σχήματα ut dixi, vocamus» (daß sogar die eigent-
lichen Fehler in einem Gedicht andere Namen erhalten:
ansonsten in Texten der Hochsprache einer jeweiligen
wir nennen sie nämlich M., Schematismen und, wie ich
Epoche selten schriftlich fixierte Provinzialismen und
schon erwähnte, Schemata). [6] Quintilian gibt einen
regionale Dialekte, Vulgarismen und Archaismen über-
Katalog verschiedener Formen des Barbarismus. Liest
liefern. Ein typisches Beispiel für den sprachgeschichtli-
man diesen als eine Aufzählung von erlaubten Abwei-
chen Quellenwert der Barbarismen und M. ist die kom- chungen, ergibt sich eine Differenzierung der species des
plizierte Entwicklung vom spätantiken Latein zu den M.
romanischen Volkssprachen. [9]
In der modernen Rhetorik des 20. Jh. werden M. insbe- Mehrere kaiserzeitliche Grammatiker befassen sich
sondere in der strukturalen Rhetorik und der neuen mit der Definition und den species des M., z.B. A P O L L O -
Figuren- und Tropenlehre diskutiert. Mitglieder der NIOS DYSKOLOS (2. Jh. n. Chr.) in <Περί έπιρρημάτων>. [7]
«groupe μ> unterscheiden z.B. M. (Wortform) und Meta- M A R I U S PLOTIUS SACERDOS (3. Jh. n. Chr.) definiert in sei-
sememe (Sinn) auf der Wortebene und Metataxen nen <Artium grammaticarum libri>: «Metaplasmus vel
(Form) und Metalogismen (Sinn) auf der Satz- oder figura est dictio aliter composita quam debet metri vel
gesamten Textebene. H . PLETT entwirft eine neuartige decoris causa» (Ein M. oder eine Figur ist eine Rede-
Figurenlehre, in der M. als gezielt eingesetzte, regelver- weise, die wegen des Metrums oder des decus anders
letzende Operationen eingestuft werden. gebildet ist, als sie es korrekt sein sollte). [8] D I O M E D E S
übersetzt in seiner einflußreichen <Ars grammatica> im
Anmerkungen: 4. Jh. n. Chr. den M. knapp als eine transfictio oder trans-
l z u r Lehre von der quadripertita ratio siehe Lausberg Hb. §462 formatio. [9] Auch Grammatiker, die sich besonders mit
und 500; W. Ax: Quadripertita ratio. Bemerkungen zur Gesch. Problemen der Orthographie und Orthoepie befassen,
eines antiken Kategoriensystems ( Adiectio - Detractio - Trans- wenden ihre Aufmerksamkeit dem M. zu. N O N I U S M A R -
mutado - Immutatio), in: H L 13 (1986) 191-214. - 2zur Def. des CELLUS widmet Buch 8 seines Traktates <De compen-
M. siehe Martin 250; M. Leumann: Laut und Formenlehre, in: diosa doctrina> mit dem Untertitel <De mutata declina-
Leumann - Hofmann - Szantyr: Lat. Gramm., Bd. 1, H d A W II, tione> z.T. metaplastischen Operationen. [10] Für die fol-
2.1 (1977) 448; Lausberg Hb. §462 und 471^195; G.O. Rowe: genden Jahrhunderte werden jedoch die Definitionen
Style, in: S.E. Potter (Hg.): A Handbook of Classical Rhet. in the
des CONSENTIUS und des D O N A T U S in seiner <Ars maior>
Hellenistic Period 330 B.C. - A . D . 400 (Leiden u.a. 1997) 121-
157, insb. 122; K.-H. Göttert: Einf. in die Rhet. Grundbegriffe -
autoritativ.
Gesch. - Rezeption ( 2 1994) 4 2 ^ 3 . -3Ausg.: M. Niedermann: Nach Meinung aller antiken Grammatiker und Rheto-
Consentii ars de barbarismis et metaplasmis. Victorini fragmen- ren liegt das entscheidende Kriterium darin, wer eine
tum de soloecismo et barbarismo (Neufchâtel 1937). - 4ebd.
Abweichung von der norma rectitudinis in einem einzel-
p. 1,4-5 Niedermann; Übers. Verf. - Sebd. p . l , 10-13. - 6ebd.
p . 2 , 1 1 - 1 3 . - 7ebd. p.3, 5-13. - 8 V e r g . Aen. I, 26. - 9 v g l . Ch.H. nen Wort anwendet. Bei Schülern oder sonstigen mit der
Grandgent: From Latin to Italian (Cambridge 1927); R. Wright: griechisch-römischen Literatur und ihren grammati-
Late Latin and Early Romance in Spain and Carolingian France schen Regeln Unvertrauten ist eine solche Abweichung
(Liverpool 1982); H. Lausberg: Formenlehre, in: Roman. nämlich einfach als ein Fehler, ein barbarismus, einzu-
Sprachwiss., Bd. 3 ( 2 1972). stufen, bei Kennern der grammatischen Regeln und der
Literatur sowie mit Berufung auf kanonische Autoren
B.I. Antike. Zahlreiche Varianten des M., die sich aus wird die gleiche sprachliche Operation dagegen als rhe-
den vier grundlegenden Änderungskategorien ergeben, torisch-grammatische Figur anerkannt. Diese Unschärfe
werden schon im 5. und 4. Jh. v. Chr. beobachtet, von der Definition findet sich in vielen Äußerungen. A U G U -
PLATON aber im <Kratylos> als billige Sophistenkünste STINUS, selbst ausgebildeter Rhetor, bemerkt z.B.: «puer
bezeichnet. [1] Der Barbarismus und der M. werden erst in barbarismo reprehensus, si de Virgilii metaplasmo se
unter dem Einfluß der sprachwissenschaftlichen Theo- vellet defendere, ferulis caederetur» (Wenn ein Knabe,
rien der Stoa von hellenistischen und kaiserzeitlichen bei einem Barbarismus getadelt, sich mit einem M. des
griechischen und lateinischen Grammatikern und selte- Vergil verteidigen wollte, würde er mit Ruten geschla-
ner von Rhetoriklehrern systematisch diskutiert und gen werden). [11] Ähnlich räumt SERVIUS in seinem
Kommentar zu Vergils <Äneis> ein: «Der M. und die
definiert. [2] Auch in der lateinischen Grammatik und in
Figur sind mittlere [= wertneutrale rhetorische Phäno-
den modernen Fremdsprachen bleibt die Terminologie
mene] und sie unterscheiden sich durch Kundigkeit oder
für die species des M. an den griechischen termini technici
Unkundigkeit». [12] Die angemessene Beurteilung von
orientiert. [3] Kaiserzeitliche Grammatiker finden einen

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Metaplasmus Metaplasmus

Barbarismus oder M. ist also in jedem Einzelfall von der 12. Jh. in <De grammatica) [7] sowie von JOHANNES VON
peritia oder imperitia des Redners oder Dichters aus zu SALISBURY im <Metalogicus> (1159). Dieser legt Wert auf
beurteilen. eine solide grammatische Ausbildung, die auch die lizen-
sierten M. einschließt: «So wie andere Ausdrucksformen
Anmerkungen: sollten Grammatiker auch Metaplasmen, Schemata und
lvgl. Piaton, Kratylos 394b; 399a und 431c. - 2vgl. W.O. Neu- Tropen behandeln [...]».[8] EBERHARD VON B É T H U N E
mann: D e barbarismo et metaplasmo quid Romani docuerint
(1212) unterscheidet im <Graecismus>, einer kompilati-
(Diss. Königsberg 1917) 22 ff. und ausführliche Belegstellen in
ThLL s.v. metaplasmus, vol. 8 (1936-1966) 876f. - 3 Curtius 53. -
ven und weit verbreiteten versifizierten Darstellung der
4Quint. 1 , 4 - 8 mit Komm, von M. Niedermann: M. Fabii Quinti- lateinischen Grammatik, sogar folgende figurae meta-
liani Institutionis Oratoriae libri primi capita de grammatica (I, plasmi als permissivae: «prothesis, auferesis, syncopa,
4-8) (Neufchâtel 1947).-5Quint. 1 , 5 , 5 . - 6 e b d . 1 , 8 , 1 4 . - 7 A p o l - epenthesis, apocope, paragoge, systole, diastole, éxtasis,
lonios Dyskolos, Ausg.: Gramm. Graec. II, 1, 1, p. 184-185. - elipsis, synalimpha, eclipsis, aposiopasis, pleonasmos,
8 Claudius Sacerdos, Ausg.: Gramm. Lat. Bd. 6,427ff, insb. 4 5 1 - diaeresis, synaeresis, temesis, synthesis, epidiasis, meta-
453; Übers. Verf. - 9 D i o m e d e s , Ausg.: Gramm. Lat. Bd. 1, 4 4 0 -
thesis, anastropha, hysteron proteron, paralange, epiba-
443 und 456, 1. - lONonius Marcellus, Ausg.: W.M. Lindsay
(1903) 774-793. - 11 Augustinus contra Faustum Manichaeum sis, metabole, epímone, epizeusis, hypallage et exal-
22, 25, Ausg.: ML 42, 417, Übers. Verf. - 12Servius, Comm. in lage».[9] Diese wohl umfangreichste mittelalterliche
Aen. V, 120, eine wichtige Quelle für Isid. Etym. 1,35,7, Übers. Aufzählung nennt allerdings außer den klassischen spe-
Verf. cies des M. noch weitere, im strengen Sinne hiervon zu
trennende figurae. A L E X A N D E R VON V I L L A D E I diskutiert
II. Mittelalter. Die Lehre von den M. wird in den im <Doctrinale puerorum> [10] (1199), der bis zur Huma-
Fächern Grammatik und Rhetorik des Trivium überlie- nistenzeit am weitesten verbreiteten, versifizierten und
fert und in zahlreichen <artes grammaticae> und <artes daher leichter als D O N A T U S und PRISCIANUS erlernbaren
poetriae> diskutiert. [1] Die mittelalterlichen Grammati- Grammatik, M. unter den drei Arten der figurae loque-
ker, die der ars recte loquendi verpflichtet sind, überneh- lae, schema, tropus und M., und nennt 16 species, wobei
men die antiken Lehren von den Barbarismen, Soleozis- er sich auf den Katalog des Donatus bezieht, aber einige
men, M. und grammatischen Figuren. Die Definition Formen des M. anders benennt. [11] JOHANNES B A L B U S
und die Differenzierung der species des M. wird vor aus Genua schließlich geht im <Catholicon seu summa
allem aus dem Werk des D O N A T U S tradiert. Das dritte prosodiae> (1286) in der Anerkennung der M. als legiti-
Buch seiner <Ars maior> mit einer Diskussion der sche- mem Teil der Figurenlehre besonders weit. Es gebe drei
mata und tropi erhält den geläufigen Nebentitel <Barba- Arten der figurae: M., allothecae (Schemata) und Tro-
rismus> und ist als grundlegendes Werk auch zum M. im pen. [12]
Mittelalter in separaten Schriften im Umlauf. Donatus
unterscheidet 14 species des M.: «Metaplasmus est trans- Anmerkungen:
formado quaedam recti solutique sermonis in alteram l v g l . Murphy RM 33-34; F. Quadlbauer: Art. <Barbarismus>,
speciem metri ornatusve causa. Huius species sunt quat- in: LMA Bd. 1 (1980) 1436; B. Gansweidt: Art. <M.>, in: L M A
tuordecim: prosthesis, epenthesis, paragoge, aphaeresis, Bd. 6 (1993) 576. - 2vgl. Buch III der <Ars maior>, Ausg.
syncope, apocope, ectasis, systole, diaeresis, episynali- Gramm. Lat. Bd. 4, 367^402, insb. Kap. 5, p. 395-397 und Zitat
p.395,28-31; Übers. Verf. - 3 I s i d . Etym. 1,35,1; Übers. Verf. -
phe, synaliphe, ecthlipsis, antithesis, metathesis.» (Der 4ebd. I, 35,7. - SClemens Scotus, Ausg. J. Tolkiehn: Philologus
M. ist eine rhetorisch kunstvolle Veränderung der kor- Suppl. XX, 3 (1928). - 6Sedulius Scotus, Ausg. D. Brearley,
rekten Sprachform in eine andere Art wegen des Pontifical Inst, of Mediaeval Studies, Toronto Studies and
Metrums oder des Schmuckes. Es gibt 14 Arten dieses Texts XXVII (Toronto 1975). - 7Ausg. R. Baron: Hugonis de
M.: die Prosthese, die Epenthese, die Paragoge, die Sancto Victore Opera propaedeutica, Pubi, in Mediaev. Stu-
Aphairesis, die Synkope, die Apokope, die Ektase, die dies. Univ. of Notre D a m e X X (Notre Dame, Ind. 1966). - 8 vgl.
Joh. v. Sal. I, 24; Übers. Murphy RM 129. - 9 Ausg. J. Wrobel:
Systole, die Dihairese, die Episynaliphe, die Synaliphe,
Eberhardi Bethuniensis <Graecismus>, in: Corpus grammatico-
die Ekthlipse, die Antithese und die Metathese.) [2] Ein- rum medii aevi, I (Breslau 1887) Kap. 1,1-42. - lOvgl. Alexan-
flußreich ist auch die knappe Bestimmung des M. in den der von Villa Dei, Doctrinale Puerorum, Ausg. D. Reichling:
<Etymologiae> des ISIDOR VON SEVILLA: «Metaplasmus Monumenta Germaniae Paedagogica XII (1893) 157, v. 2362. -
Graeca lingua, Latine transformatio dicitur. Qui fit in l l s i e h e zu den Unterschieden Murphy RM 149. - 12Johannes
uno verbo propter metri necessitatem et licentiam poeta- Balbus <Catholicon> Kap. 102; vgl. G. Zedier: Das Mainzer
rum.» (M. ist ein Begriff aus der griechischen Sprache Catholicon (1905).
und auf Lateinisch heißt dies transformatio. Dieser ent-
steht in einem einzelnen Wort wegen einer metrischen III. Renaissance - 20. Jh. Die Lehrbücher der Rheto-
Notwendigkeit oder der dichterischen Freiheit.) [3] Er rik, Poetik und Grammatik aus den Epochen der
schließt mit der treffenden Bemerkung: «Ergo meta- Renaissance und des Barock sind dem klassischen latei-
plasmi et schemata media sunt et discernuntur peritia et nischen System bei QUINTILIAN und den antiken Gram-
inperitia» (Also sind M. und Schemata mittlere [rhetori- matikern auch hinsichtlich der Definition und des
sche Erscheinungen] und unterscheiden sich durch Kun- erlaubten Einsatzes des M. verpflichtet. Das stilistische
digkeit oder Unkundigkeit). [4] Diese Auffassung wird Ideal des durch Werke CICEROS und VERGILS verkörper-
von anderen mittelalterlichen Autoren nur geringfügig ten klassischen Latein verlangt aber zunächst einen spar-
hinsichtlich der Zahl und Benennung der species und des samen Einsatz von M. in Dichtung und Prosa. Häufige-
empfohlenen Umfanges der Anwendung des M. in ver- ren Gebrauch von M. machen erst wieder Autoren des
schiedenen Gattungen variiert, z.B. von C L E M E N S Sco- Manierismus. Nur beiläufige Bemerkungen über M. fin-
TUS im späten 8. Jh., dem Verfasser einer kompilativen det man in MELANCHTHONS <Elementa rhetorices> (Kapi-
<Ars grammatica) [5] für die Hofschule Karls d. Gr. und tel Figurenlehre) (1531) [1], in J O H A N N E S SUSENBROTUS'
Ludwigs des Frommen, wenig später im 9. Jh. von S E D U - <Epitome troporum ac schematum et grammaticorum et
LIUS SCOTUS im Kommentar <In maiorem Donatum rhetoricorom> (1541) [2] und in H E N R Y PEACHAMS <The
grammaticum> [6], von H U G O VON ST. VIKTOR im frühen Garden of Eloquence. A Rhetorical Bestiary> (1577;

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Metaplasmus Metasprache / Objektsprache

2 1593)[3], wo virtutes und vitia jeder figura einander kalität und Akzeptabilität behandelt. Denn diese
gegenübergestellt sind. Begriffe und Konzepte sind durch das zunehmende
Die antike Definition der Schulgrammatik und -rheto- Selbstbewußtsein sprachlicher Minderheiten und welt-
rik wird im 1 8 . Jh. nochmals in Z E D L E R S <Universallexi- weite Migrationsphänomene problematisch geworden.
kon> ( 1 7 3 9 ) zusammengefaßt: «Metaplasmus, Transfor- Das Altgriechische als die Sprache, an der das klassische
mado, ist eine Figur in der Rede-Kunst, da man gewissen System der species des M. entwickelt wurde, ist durch
Wortern und Redens-Arten durch bloße Versetzung der eine stärker phonetische Graphie ausgezeichnet als viele
Buchstaben oder andere Orthographische Kónsteleyen modernen Sprachen, z.B. Deutsch, Französisch oder
eine gantz andere Gestalt giebt.» [4] Ähnlich stark sind Englisch. So gibt es im Griechischen Akzente, Hauchzei-
C. CHESNEAU DU MARSAIS in d e m f ü r d i e F i g u r e n l e h r e chen, im Schriftbild ausgedrückte Längen und Kürzen
seiner Zeit wichtigen Traktat <Des Tropes> ( 1 7 3 0 ; der Buchstaben und Silben, die direkten phonologischen
2 1 7 5 7 ) [ 5 ] und J . C H R . E R N E S T I im <Lexicon Technologiae
und metrischen Wert haben, die aber vor allem in der
Graecorum Rhetoricae> ( 1 7 9 5 ) [ 6 ] noch von klassischen Dichtung in vielen modernen Sprachen nach dem Ver-
Definitionen beeinflußt. lust der quantitierenden Metrik als Ansatzpunkte für M.
Während des 19. und 20. Jh. geht die Bedeutung der zurückgehen. Die Freiheit der modernen Autoren, M. in
klassischen Schulrhetorik und der normativen Gramma- nationalsprachlichen Literaturen, insbesondere in der
tik zurück. Dagegen steigt in fast allen modernen euro- Dichtung und der Belletristik, einzusetzen, ist trotzdem
päischen Nationalsprachen die Toleranz der Hörer oder größer als für antike Autoren. [12] Moderne Sonderspra-
Leser gegenüber grammatischen Deviationen und damit chen, z.B. das französische <Argot> oder das <Franglais>,
auch gegenüber den Spielarten des M., die nun oft von der englische <Slang> und die verschiedenen Jugendspra-
Autoren oder Rednern verwendet werden, welche mit chen, zeigen einen deutlich höheren Anteil an M. als die
der antiken Lehre des M. nicht mehr vertraut sind. Ange- jeweiligen Hochsprachen. In den Massenmedien haben
sichts der Offenheit der Definition des Begriffes des M. M. vor allem für Komödien, Kabarett, Sketche und Par-
nach dem Ende der Verbindlichkeit der antiken Defini- odien, sowie als rhetorisches Kunstmittel der persuasi-
tion beschränken sich moderne Handbücher zu rhetori- ven Kommunikation in der Werbung große Bedeutung.
schen Fachtermini im 20. Jh., z.B. B. DUPRIEZ: <Gradus. Denn ein M. erregt die Aufmerksamkeit stärker als die
Les procédés littéraires) oder R. A. LANHAM: <A Handlist regelgrammatische Form eines Wortes, solange die
of Rhetorical Terms>, auf eine knappe Begriffserklärung Hörer, Leser oder Zuschauer trotz abnehmender sprach-
des M. und wenige Beispiele. [7] Einen tiefergehenden lich-grammatischer Bildung derartige gezielte Äbwei-
Ansatz zu einer neuartigen Figurenlehre und einem chung noch als solche wahrnehmen. M. erfüllen damit
modernen Verständnis metaplastischer Phänomene ent- auch heute noch ihre klassischen Zwecke, poetisch-rhe-
w i r f t d a g e g e n d i e <groupe μ> u m J . DUBOIS, F . EDELINE
torischen ornatus zu verleihen, durch Affekterregung der
und J.-M. KLINKENBERG. Ihre <Allgemeine Rhetorik> Persuasion zu dienen und den sprachlichen Spieltrieb zu
enthält vor allem eine neuartige Darstellung des Berei-
befriedigen.
ches der elocutio und ein für den M. wichtiges Figuren-
modell: «Metaplasmen, Metataxen und Metasememe
Anmerkungen:
teilen sich so das Feld der Abweichungen vom Kode». [8] IMelanchthon 463 ff. - 2 zu Susenbrotus siehe L. A. Sonnino: A
Der Bereich der M. «umfaßt diejenigen Figuren, die auf Handbook to Sixteenth-Century Rhet. (London 1968). - 3 P e a -
die lautliche oder graphische Seite der Wörter und der cham E II ff. und vgl. auch die Ausg. von W . R . Espy u.a. (New
dem Wort untergeordneten Einheiten einwirken, die sie Y o r k 1983). - 4Zedler, Vol. 20 (1739; ND Graz 1961) Sp. 1269. -
gemäß folgenden Modellen [sc. Wort, Phonem und Gra- 5 Ausg. C. Ch. du Marsais: Oeuvres complètes, Bd. 3 (Paris 1797)
phem] zerlegen». [9] Der M. ist daher eine «Operation, - 6 Ernesti Graec. 216. - 7 vgl. Dupriez 289; Lanham 1 9 6 8 , 6 6 - 6 7 ;
durch welche die phonische oder graphische Kontinuität vgl. auch C. Ottmers: Rhet. (1996) 149 und 211; H. Beristáin:
der Nachricht, d.h. die Form des Ausdrucks soweit sie Diccionario de Retórica y poética (Mexiko 1988) 3 2 2 - 3 2 4 . -
8Dubois 44. - 9ebd. 56, Übersicht über die Arten der Metabo-
phonische oder graphische Manifestation ist, verändert
lien 78f. und Beispiele 8 0 - 1 0 9 . - 10 ebd. 80. - 1 1 H . Plett: Text-
wird». [10] Es gibt vier mögliche Abweichungen von wiss. und Textanalyse: Semiotik, Linguistik, Rhet. (1975) 151 ff
einer Nullstufe (degré zéro): die Detraktion (suppres- und 196ff; ders.: Die Rhet. der Figuren. Zur Systematik, Prag-
sion), Adjunktion (adjonction), die Immutation (sup- matik und Ästhetik der 'Elocutio', in: Plett (Hg.): Rhet. Krit.
pression-adjonction) und die Transmutation (transmuta- Positionen zum Stand der Forsch. (1977) 1 2 5 - 1 6 5 , insb. 1 2 8 - 1 3 0
tion). Diese Operationen können sich auf Wort-, Satz- mit Schema. - 12vgl. A. Liede: Dichtung als Spiel, Stud, zur
oder Bedeutungsebenen vollziehen, woraus sich dann Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, 2 Bde. ( 2 1992).
M., Metataxen oder Metasememe ableiten. Wenn der
logische Wert des gesamten Satzes verändert wird, J. Engels
spricht man von Metalogismen. Ein anderes einflußrei-
ches modernes Figurensystem vertritt H. PLETT. Er diffe- -> Änderungskategorien —> Aphaerese —> Apokope —> Barba-
rismus —> Dihaerese —» Epenthese —> Figurenlehre —> Groupe μ
renziert fünf sprachliche Operationen, vier regelverlet-
Licentia —> Orthoepie Orthographie -> Prosthese ->
zende (Addition, Subtraktion, Substitution und Permu- Sprachrichtigkeit —> Synaloephe —> Synizese —> Synkope ->
tation) und eine regelverstärkende (Äquivalenz), die Systole -> Virtutes-/Vitia-Lehre
noch weiter aufgegliedert wird. [11] Von diesen Opera-
tionen ausgehend, unterscheidet er phonologische, mor-
phologische, syntaktische, semantische und graphemi-
sche Figuren. Der M. gehört zu den absichtlich eingesetz- Metasprache/Objektsprache (engl. metalanguage/
ten, regelverletzenden Operationen. Barbarismen und object language; frz. métalangage/langage-objet; ital.
M. werden in der modernen Linguistik und in den ver- metalinguaggio/linguaggio oggetto)
schiedenen Philologien auch unter den Themen der A. In gängiger Verwendungsweise bezeichnet <Meta-
Orthographie und Orthoepie sowie der verbindlichen sprache> das Sprechen über bzw. die Darstellung von
Hochsprachlichkeit in der Schulbildung, der Grammati- Sprache und Objektsprache; die Objektsprache ist das
Objekt dieser Darstellung, d.h. der Gegenstand der

1189 1190
Metasprache / Objektsprache Metasprache / Objektsprache

Metasprache. So gehören in der Rhetorik etwa die Grammatik und mit <Metasprache der Rede> auf die
Regeln der Latinitas zur Wohlgeformtheit der Wortkör- autonyme Sprachverwendung [17], von M. Ulrich auch
per, aber auch der gesamte terminologische Bereich der <Metasprache im engeren Sinn> genannt. [18] Wollte man
elocutio, der Verfahren zur sprachlichen Ausgestaltung Coserius Terminologie folgen, so wären der sprachlichen
der Rede, zum metasprachlichen Bereich. Ihren Metasprache auch die 'von Natur aus' metasprachlichen
Ursprung finden die modernen Begriffe <Meta-> und Wörter [19] der Alltagssprache wie Wort, meinen, Spra-
<Objektsprache> in der formalen Logik bei A. TARSKI [ 1 ] che zuzuordnen; zur Metasprache der Rede sollten auch
und R. C A R N A P [ 2 ] , in der die Metasprache, von Carnap die Verwendung dieser Wörter und Jakobsons Äußerun-
<Syntaxsprache> genannt [3], als Beschreibungsmittel gen mit metalinguistischer Funktion sowie sämtliche
einer besprochenen, formalen Objektsprache dient. Arten des Sprechens über Sprache und Sprachgebrauch
Neben diesem metasprachlichen Zeichenvorrat, wie ihn gehören. In der Rede ist es kaum möglich, eine genaue
etwa das Deutsche bezüglich einer zu beschreibenden Grenze zwischen Metasprache und Objektsprache zu
symbolischen Objektsprache darstellt, zählt zur Meta- ziehen: Ein Satz wie «Worüber reden Sie eigentlich?»
sprache auch die von Carnap als <autonym> bezeichnete kann zwar als <metasprachlich> bezeichnet werden; die
Verwendung sprachlicher Zeichen mit Bezug auf sich Zuordnung der Äußerung «Warum sind Sie denn so
selbst (Tasse hat zwei Silben). [4] Diese für alle sprachli- wütend?» aber, die sich auch ohne expliziten Hinweis auf
chen Zeichen mögliche reflexive Verwendungsweise fin- metasprachlichen Gebrauch auf sprachliche Äußerun-
det sich in der Terminologie von W.V.O. Q U I N E als gen beziehen kann, ist weit schwieriger.
<Erwähnung> (mention) wieder, die im Gegensatz zum B. Obgleich schon in der Antike ein Bewußtsein für
objektsprachlichen <Gebrauch> (use) des Zeichens steht zwei unterschiedliche Sprachebenen besteht, werden
(«Die Tasse ist zerbrochen»). [5] Meta- und Objektsprache noch nicht systematisch
Bei der Verwendung des Begriffs <Objektsprache> getrennt und reflektiert. Mit der Unterscheidung von
sind verschiedene Interpretationen feststellbar: Zum Fehlern innerhalb und außerhalb der sprachlichen
einen kann, wie bei Carnap und Tarski, <Objektsprache> Äußerung (fallaciae dictionis und fallaciae extra dictio-
die Sprache bedeuten, die Objekt der Metasprache nem) bei Scheinschlüssen begreift ÄRISTOTELES bereits in
ist [6], zum anderen kann mit <Objektsprache> eine sich den <Sophistischen Widerlegungen> [20] die Sprache als
auf außersprachliche Objekte beziehende Sprache eigenständigen Gegenstand und legt den Grundstein für
gemeint sein (im Gegensatz zur Metasprache, die sich auf ihre metasprachliche Behandlung. Bei der Untersuchung
Sprachliches bezieht). Meist tritt diese zweite Interpreta- des Wermutstrugschlusses («Niemand gibt ein Prädikat
tion erst bei späteren linguistischen Thematisierungen zu trinken; nun ist Wermut trinken ein Prädikat; also gibt
von Meta- und Objektsprache auf [7], sie ist jedoch schon niemand Wermut zu trinken»), der auf dem Wechsel
bei H . REICHENBACH [8] und B . R U S S E L L , der <Objekt- vom metasprachlichen zum objektsprachlichen Ge-
sprache> im Sinne einer Objekte bezeichnenden <Primär- brauch von Wermut trinken beruht, verwendet dann die
sprache> versteht, angelegt. [9] Da nun die beiden Lesar- megarisch-stoische Schule die Unterscheidung zwischen
ten häufig zusammenfallen (wenn nämlich die Objekt- Metasprache und Objektsprache, ohne sie systematisch
sprache außersprachliche Objekte bezeichnet und zu diskutieren. [21] Auch CHRYSIPP behandelt in Erklä-
gleichzeitig Objekt der Metasprache ist), gibt es eine rungsansätzen zur Antinomie des Lügners eine Proble-
schon bei Carnap zu beobachtende Tendenz zum Über- matik [22], deren Lösung im Mittelalter und später in der
gang von der einen zur anderen Verwendung. [10] modernen Logik durch eine «totale Aufsplitterung» [23]
Im Hinblick auf die Metasprache wird die explizite der Sprache in Meta- und Objektsprache gesucht wird. In
Erkenntnis der modernen Logik, daß Sprachen auch der Spätantike unterscheidet PORPHYRIOS bezüglich der
Mittel zur Selbstbeschreibung enthalten und damit ihre Sprachentstehung zwischen den ursprünglichen Wörtern
eigene Metasprache sein können, später von Z . HARRIS zur Bezeichnung von Dingen und den später zur Katego-
für die Linguistik mit Nachdruck formuliert: «Every risierung dieser Wörter verwendeten Ausdrücken. [24]
natural language must contain its own metalanguage» A U G U S T I N U S spricht in der Dialogschrift <De magistro>
(Jede natürliche Sprache muß ihre eigene Metasprache ausführlich von der Autonymie [25] und von der natürli-
enthalten). [11] Dieser für die Rhetorik und Linguistik chen Reflexivität von Wörtern wie Wort, Nomen, die
elementaren Einsicht liegt die Annahme zugrunde, daß «unter den Dingen, die sie bezeichnen, auch sich selbst
man mit Sprache über alle Dinge der Welt, und somit bezeichnen.» [26] Er unterscheidet damit zwischen Wör-
auch über Sprache, die ja ebenfalls ein Gegenstand der tern, die wiederum Wörter (nomen nominis) und sol-
Welt ist, sprechen kann. Mit der Übernahme des chen, die Dinge benennen (nomen rei): Wort bezeichnet
Begriffspaares <Meta-/Objektsprache> in die Linguistik Wörter wie Tier oder auch Wort, das Wort Tier aber
durch L. H J E L M S L E V [ 1 2 ] und R. JAKOBSON [ 1 3 ] beginnt bezeichnet - außer in autonymer Verwendung - ein Tier.
für die Metasprache eine noch fortdauernde Phase des Im Mittelalter findet sich die Trennung von nomen rei
Ausbaus und der Verzweigung ihrer Inhalte und Anwen- und nomen nominis in den ersten und zweiten Intentio-
dungsbereiche, während die Begriffsbestimmung von nen (intentio prima, secunda) wieder, wobei mit dem
<Objektsprache> in den Hintergrund tritt. [14] In seinem nicht immer einheitlich definierten Begriff <intentio> in
Kommunikationsmodell unterscheidet Jakobson ver- etwa die Art des Begriffsinhalts gemeint ist. [27] Wörter
schiedene Funktionen der Sprache im Gebrauch, darun- der ersten Intention gehören nach moderner Terminolo-
ter auch die in Äußerungen wie «Was meinen Sie gie zur Objektsprache und sind Zeichen für Dinge, die
damit?» operierende metalinguistische Funktion zur keine Zeichen sind. [28] Begriffe wie <Nomen>, <Verb>,
Steuerung von Gesprächsabläufen. [15] Hjelmslev ver- aber auch <Gattung> oder <Art> sind Wörter der zweiten
steht unter Metasprache ein System zur Sprachbeschrei- Intention und werden zum Sprechen über Wörter der
bung wie es etwa die Linguistik ist. [ 1 6 ] E. COSERIU ersten Intention und ihrer Relationen verwendet. Die
bezieht sich mit dem Terminus <sprachliche Metaspra- Suppositionslehre des Mittelalters wendet sich dann von
che> auf metasprachliche Beschreibungsapparate wie der Klassifizierung des sprachlichen Zeicheninventars
z.B. die Sprache der Rhetorik, der Linguistik und der nach Intentionen zu den verschiedenen Gebrauchswei-

1191 1192
Metasprache / Objektsprache Metastasis

sen sprachlicher Ausdrücke im Kontext. Sie stellt die Metastasis (lat. translatio temporum, transmotio, remo-
materiale Supposition, d.h. die metasprachliche, auto- tio criminis; griech. μετάστασις, metástasis, auch
nyme Verwendung eines Wortgebildes, der formalen μετάβασις, metábasis; frz. métastase, removance, dépla-
(mit WILHELM VON OCKHAM der einfachen und persona- cement; engl, metastasis, transmission, changing)
len [29]) Supposition gegenüber, die dem objektsprachli- A. In der antiken Rhetorik ist die M., lateinisch remotio
chen Gebrauch entspricht. W I L H E L M VON SHERWOOD criminis (<Schuldabwälzung>), als Terminus der Status-
unterscheidet gar zwischen der reflexiven Verwendung lehre zunächst Bestandteil der Gerichtsrhetorik. Sie
eines Wortes nur für seine Ausdrucksseite und für die bezeichnet die Zurückweisung der Schuld etwa bei Not-
Ausdrucks- und Inhaltsseite [ 3 0 ] ; W. BURLEIGH nimmt wehr, Normenkonflikt, Pflichtenkollision oder Befehls-
auch in dem Satz «Daß der Mensch ein Lebewesen ist, ist notstand. [1] Der Angeklagte überträgt die Verantwor-
eine sprachliche Äußerung» für «Daß der Mensch ein tung für seine prinzipiell als schuldhaft anerkannte Tat
Lebewesen ist» materiale Supposition an, da es für das auf eine andere Person oder Sache. [2] Diese spezifische
Wortgebilde «Der Mensch ist ein Lebewesen» suppo- Bedeutung des Begriffs weicht um den Beginn unserer
niere. [31] Zeitrechnung einer breiteren Verwendung, die wohl mit
Eine Neuerung gegenüber dieser sehr diffenzierten der Offenheit der Grundbedeutung des Wortes - <Ver-
Reflexion zu Metasprache und Objektsprache ist in der änderung>, <Umstellung>, <Verschiebung> - einhergeht.
nachmittelalterlichen Zeit nicht mehr auszumachen; erst Seit der Spätantike existiert die M. als Homonym für ver-
nach der Unterscheidung von Darlegungssprache (Meta- schiedenste Phänomene. (1) Als Gedankenfigur tritt sie
sprache) und Hilfssprache (Objektsprache) bei G. auf im Sinne der transmotio, der Abwälzung der Schuld
FREGE [32] ergeben sich im Rahmen der modernen Logik in Nebenfragen. Die <Umstellung> kann sich aber neben
wieder neue Aspekte der Metasprache. dem Gegenstand der Rede auch auf Person, Zeit und Ort
beziehen und ist dann ebenfalls der Figurenlehre bzw.
Anmerkungen: der Poetik zuzurechnen, und zwar (2) als mehrfach wech-
1A. Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalisierten Spra- selnde Apostrophe im Sinne der variatio und (3) als
chen (1935), N D in: K. Berka, L. Kreiser (Hg.): Logik-Texte
(1973) 447-559. - 2 R . Carnap: Logische Syntax der Sprache
Umstellung der Zeitstufen zum Zwecke der descriptio.
2 B. HERMAGORAS' Statuslehre nennt im status qualitatis
(Wien 1934, 1968). - 3ebd. 4. - 4vgl. ebd. 109ff. - 5 W . V . O .
Quine: Mathematical Logic (New York 1940) 23ff. - 6 vgl. Car- (ποιότης, poiótes) als eine Möglichkeit der extrinsischen
nap [2] 4f.; Tarski [1] 463f.; A. Tarski: Die semant. Konzeption Rechtfertigung (qualitas assumptiva / άντίθεσις, antithe-
der Wahrheit und die Grundlagen der Semantik, in: J. Sinnreich sis) die Abwälzung der Schuld (M.) auf einen Dritten
(Hg.): Zur Philos, der idealen Sprache (1972, zuerst englisch (<höhere Gewalt>): eine Person oder äußere Umstände
1944) 67f. - 7 vgl. J.M. Bocheftski: Formale Logik ( 3 1970) 25f.; B. (etwa den Krieg oder eine Seuche, scherzhaft auch die
Schlieben-Lange: Metasprache und Metakommunikation, in:
dies.: Sprachtheorie (1975) 189f. - 8vgl. H. Reichenbach: Ele-
Liebe oder den Wein) oder sogar das Opfer selbst. [3]
ments of Symbolic Logic (New York 1966, zuerst 1947) 9ff. u. Der Angeklagte erkennt seine Tat als Unrecht an, sieht
15ff. - 9B. Russell: An Inquiry into Meaning and Truth (Edin- sich aber frei von Schuld. Diese grundlegende Bedeu-
burgh 1940, 7 1966) 62ff. - 1 0 vgl. Carnap [2] 3ff. u. 210ff. - 1 1 Z . tung findet sich noch bei Q U I N T I L I A N : «Wenn eine Recht-
Harris: Mathematical Structures of Language (New York/Lon- fertigung weder in der Tat an sich noch in hinzugezoge-
don/Sydney/Toronto 1968) 17. - 12 L. Hjelmslev: Prolegomena nen Hilfsmitteln gegeben ist, so ist es das Nächste, die
zu einer Sprachtheorie (1974; zuerst dänisch 1943). - 13 R. erhobene Beschuldigung wenn möglich auf einen ande-
Jakobson: Two Aspects of Language and Two Types of Aphasie
Disturbances, in: ders., M. Halle: Fundamentals of Language
ren abzuwälzen. Dabei konnte die Auffassung vertreten
(Den Haag 1956, Den Haag/Paris 2 1971) 67-96. - 14vgl. J. Rey- werden, die Abwälzung fiele auch in den Bereich der
Debove: Le métalangage (Paris/Montréal 1978) 14ff. - 15 R. Grundfälle für die Streitbestimmung \status\, die es nicht
Jakobson: Linguistique et poétique, in: Essais de linguistique mit dem geschriebenen Gesetzestext zu tun haben. So
générale (Paris 1963, zuerst englisch 1960) 209-248. - 16vgl. wird zuweilen die Schuld auf einen Menschen abgescho-
Hjelmslev [12] 115ff. - 17E. Coseriu: Die Gesch. der Sprachphi- ben, wenn etwa Gracchus, wegen des Vertrages mit
los. von der Antike bis zur Gegenwart, T. 1 (1975) 129f. - 1 8 vgl. Numantia unter der Anklage, deren Drohung offenbar
M. Ulrich: Die Sprache als Sache. Primärsprache, Metasprache,
Übers. (1997) 326ff. - 1 9 vgl. J. Rey-Debove: Etude linguistique
auch der Grund war, daß er in seinem Tribunat die
et sémiotique des dictionnaires français contemporains (Den Gesetze einbrachte, die die Volksmenge in Bewegung
Haag/Paris 1971) 51f. -20vgl. E. Eggs: Die Rhet. des Aristoteles brachten, behauptete, er habe als Abgesandter seines
(1984) 287ff.; s. auch C.L. Hamblin: Fallacies (London 1970). - Oberbefehlshabers gehandelt. Bisweilen wird sie auf
21 vgl. Sextus Empiricus, Pyrrhonei hypotyposeis II 229-235 (= einen Sachverhalt abgelenkt, wenn etwa jemand, der
FDS fr. 1200) - 22 vgl. Bochenski [7] 151ff. - 23W. Stegmüller: eine Testamentsbestimmung nicht erfüllt hat, behauptet,
Das Wahrheitsproblem und die Idee der Semantik (Wien 1957, die Erfüllung sei von Gesetzes wegen nicht möglich
2
1968) 39. - 24vgl. J. Pinborg: Logik und Semantik im M A
(1972) 33ff. - 25Augustinus, D e magistro, übers, v. C.J. Perl:
gewesen. Diesen Fall nennt man μετάστασις [Verschie-
Aurelius Augustinus, Der Lehrer (1959) 15ff. - 26ebd. 22. - bung].»^] Die M. steht in dieser frühesten Bedeutung
27vgl. Pinborg [24] 35f. und 90f. - 28vgl. M. Kaufmann: sowohl der concessio, dem Leugnen der bösen Absicht,
Begriffe, Sätze, Dinge. Referenz und Wahrheit bei Wilhelm von als auch der comparatio, dem Rekurs auf positive Folgen
Ockham (1993) 49f. - 2 9 Wilhelm v. Ockham: Summe der Logik, der Tat, nahe. [5]
Aus Teil I: Über die Termini, hg. u. übers, v. P. Kunze (1984). - In die Figurenlehre geht die M. durch Ableitung und
30 William of Sherwood: I n t r o d u c t i o n s in Logicam, hg. u. literarische Verallgemeinerung als eine figura sententiae
übers, v. H. Brands, Chr. Kann (1995) 137f. - 31W. Burleigh:
Von der Reinheit der Kunst der Logik, Erster Traktat, hg. u.
ein, eine Gedankenfigur, die, herausgelöst aus Status-
übers, v. P. Kunze (1988) 11 f. - 32 vgl. G. Frege: Nachgelassene lehre und inventio, dem gedanklichen ornatus zuzurech-
Sehr., hg. v. H. Hermes, F. Kambartel, F. Kaulbach (1969) 280f. nen ist. [6] Dies ist freilich nur eine Figur, sofern es sich
bei der Schuldfrage nicht um die Grundfrage handelt, auf
S.v. Frieling der die ganze causa beruht. Die <Schemata dianoeas>
bereits verwenden <M.> und transmotio als Synonyme,
Bedeutung —> Logik -> Res-verba-Problem —> Semantik —> ähnlich A Q U I L A R O M A N U S : «Transmotionem quidam
Sprachphilosophie -» Sprachwissenschaft —» Universalsprache inter figuras nominavit, cum rem a nobis alio transmove-

1193 1194
Metastasis Metonymie

mus non ita ut ibi causam constituamus (Die < Übertra- tungsformel geschehen oder aber durch «bloße termino-
gung) hat jemand unter die Figuren eingereiht: wenn wir logisch nicht fixierte Übertragung eines Geschehenswor-
etwas auf einen anderen übertragen, ohne aber darauf tes aus der lokalen Abwesenheit in die lokale Anwesen-
den Streitfall zu gründen).» [7] In der Spätrenaissance heit». [17] Quintilian illustriert anhand von Cicero die
schränkt H . PEACHAM die M . im Sinne der transmotio auf Anwendung der M. als eine suggestive Gedanken- und
den Fall ein, daß die Schuld dem Zuweisenden selbst Redefigur, deren unmittelbare Anschaulichkeit durch
übertragen wird («to them which laid them to us»). [8] die Umstellung der Zeitstufen («translatio temporum»)
Um 1 8 0 0 schreibt J. Chr. G . E R N E S T I sie der traiectio in erreicht wird. [18] Das Unmittelbar-vor-Augen-Stellen
alium zu und erkennt eine freiere Verwendung. [9] {sub oculos subiectio) erfolgt hierbei häufig nach einlei-
Von diesem juristischen Hintergrund gänzlich losge- tenden Worten, etwa bei Cicero: «haec, quae non vidistis
löst erscheint die M. auch mit dem Objekt der angerede- oculis, animis cernere potestis» (Das, was ihr mit euren
ten Person. Hier wird das Gewicht von der Verteidigung Augen nicht gesehen habt, könnt ihr im Geist deutlich
auf den Schmuck verlagert, auf die Steigerung des Aus- erblicken). [19]
drucks. [10] Auf die Gedankenfigur der mehrfachen Während die Statuslehre in der Barockrhetorik nur
Apostrophe, den fortgesetzten Wechsel der angespro- mehr eine Nebenrolle zu spielen scheint, «nur in Spezial-
chenen (an- oder abwesenden) Personen, verweist fragen» noch Verwendung findet[20], wird die M. als
bereits R U F I N I A N U S , demzufolge die M . ein Synonym der rhetorische Figur in der Renaissance-Poetik durchaus
metábasis darstelle, von der H . LAUSBERG sie freilich diskutiert, freilich ohne grundlegenden Bedeutungswan-
unterscheidet. [ 1 1 ] H. MORIER rekurriert auf die Dialek- del. [21] Auch J. Chr. G. Ernesti verweist vor allem auf
tik der Figur und führt ein Beispiel aus der Genesis an (3, den Wechsel in der Anwendung der M. von der remotio
9-14): «Gott, der Herr, rief Adam zu und sprach: Wo bist criminis zur translatio temporum. [22] In dieser letzteren
du? Er antwortete: Ich habe dich im Garten kommen Form steht die M. der metalepsis nahe, die die Umstel-
hören; da geriet ich in Furcht, weil ich nackt bin, und ver- lung der Zeitfolge auf der Ereignisebene bezeichnet.
steckte mich. Darauf fragte er: Wer hat dir gesagt, daß du
nackt bist? Hast du von dem Baum gegessen, von dem zu Anmerkungen:
essen ich dir verboten habe? Adam antwortete: Die 1 vgl. einführend Fuhrmann Rhet. 103-108 und ThLL VIII, 877.
Frau, die du mir beigesellt hast, sie hat mir von dem - 2Lausberg Hb. §§ 183-185. - 3 v g l . ebd. - 4 Q u ì n t . VII, 4,13f. -
5vgl. Fuhrmann Rhet. 107f. - 6Lausberg Hb. §755. - 7Aquila
Baum gegeben, und so habe ich gegessen. Gott, der Herr, Romanus 16; vgl. Schern, dian. 14, in: Rhet. Lat. Min. p. 26 und
sprach zu der Frau: Was hast du da getan? Die Frau ant- 73. - 8Peacham 181-182; vgl auch L.A. Sonnino: A Handbook
wortete: Die Schlange hat mich verführt, und so habe ich to Sixteenth-Century Rhet. (London 1968) 184. - 9Ernesti Lat.
gegessen. Da sprach Gott, der Herr, zu der Schlange: 400. - lOUeding / Steinbrink 285. - 1 1 Ps. Iul. Ruf. 25, in: Rhet.
Weil du das getan hast, bist du verflucht unter allem Vieh Lat. min. p. 54; vgl. Lausberg El. §54,2. - 12Morier 717; vgl.
und allen Tieren des Feldes. Auf dem Bauch sollst du Lausberg H b §185; Bibelzitat nach d. Einheitsübers. Stuttgart
1994. - 13Ph. Melanchthon: D e Rhetorica (1519) g; vgl. Laus-
kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.»
berg El. §431. - 14G. Puttenham: The Arte of Engl. Poesie
Dies stellt nicht allein einen Grenzfall zwischen der (London 1589; N D Birmingham 1869) 233 und 240; vgl. Sonnino
Gedankenfigur der transmotio und dem status causae [8] 184 und H.F. Plett: Rhet. der Affekte (1975) 81. - 15J.A.
dar, sondern markiert zugleich die Grenze zur Apostro- Cuddon: A Diet, of Lit. Terms and Lit. Theory (Oxford 3 1991)
phe: eine doppelte remotio und zugleich eine fortgesetzte 545. - 1 6 Lausberg Hb. §814. - 17 G. Ueding: Einf. in die Rhet.
aversio. [12] Hier ist die Verbindung und zugleich Diffe- (1976) 260-261. - 1 8 Q u i n t . IX, 2,40-41. - 19Cicero, Pro S. Ros-
renz zwischen M. und metábasis signifikant, die neben cio Amerino 35. - 20vgl. Barner 270. - 21 vgl. Plett [14] 76. -
22 vgl. Ernesti Graec. 216.
dem Redner und dem Gegenstand eben auch den Zuhö-
rer im Sinne des Angesprochenen wechseln kann. R. Wartusch
Gerade in der Renaissance, etwa von M E L A N C H T H O N ,
-> Apostrophe -» Descriptio —• Gedankenfigur -> Metalepsis
der den Personenwechsel betont, werden wie bei Rufin Statuslehre
die Begriffe <M.> und μετάβασις synonym verwen-
det. [13] Vor allem die englische Rhetorik bezieht die
Figur auf den Inhalt der Rede. G. PUTTENHAM versteht
die M. vornehmlich als flüchtiges Eilen von einem Metonymie (griech. μετωνυμία, metönymia, auch ύπαλ-
Gegenstand zum nächsten: «To flit from one matter to λαγή, hypallagé; lat. metönymia, denominado, transno-
another, as a thing meet to be forsaken and another ente- minatio; engl, metonymy; frz. métonymie; ital. metoni-
red upon.» [14] J. A. C U D D O N nennt sie heute nur mehr «a mia)
changing» und erläutert, die Beiläufigkeit betonend: «A A. Def. - Β. Gesch. - I. Antike und MA. - II. Renaissance,
cursory treatment of a matter; a glossing over as if it were Barock, Aufklärung. - 1 . Traditionelle Rhetoriken. - 2 . Ramisti-
of no importance.» [15] sche Rhetoriken. - III. 19. und 20. Jh. Die Moderne.
In der auch für die Poetik wichtigen eindringlichen A. Die erste überlieferte Definition der M. findet sich
Schilderung (εκφρασις, ékphrasis / descriptio) wird <M.> in der <Rhetorik an Herennius>: «Die M. ist eine Figur,
als Terminus für die Veränderung der Zeitfolge, aber welche von benachbarten und angrenzenden Sachen den
auch des Ortes, verwendet. Die M. dient hier vornehm- Ausdruck hernimmt, durch welchen die Sache, die nicht
lich der Steigerung der evidentia. Die Darstellung eines mit ihrem Wort benannt wird, verstanden werden
Ereignisses in einer anderen als der logisch korrekten kann.» [1] Die gleiche referenzlogische Definition nimmt
Zeitstufe, die den Zuhörer durch einen «Sprung ins Prä- FAUCONNIER in einer neueren kognitionslinguistischen
sens» [16] quasi zum Augenzeugen macht, steht dabei Untersuchung vor, wenn er die M. als eine verschobene
neben der rhetorischen Lokalisierung fernen Gesche- Referenz bestimmt, die dadurch gekennzeichnet ist, daß
hens in der Anwesenheit, etwa den Teichoskopien der ein Ausdruck A x , der von Haus aus für ein Objekt χ steht,
klassischen Tragödien (τοπογραφία, topographía). Die zur Bezeichnung eines Objektes y verwendet werden
Vergegenwärtigung von vergangenem, zukünftigem kann, wenn χ und y durch eine «pragmatische Funktion»
oder hypothetischem Geschehen kann dabei mit Einlei- verbunden sind. [2] Daß die M. eine Übertragung von

1195 1196
Metonymie Metonymie

'Namen' ist, bringt auch der lateinische Terminus für M., terien auch sachlich notwendige - Unterscheidung in M.,
nämlich denominano (d.h. 'Umbenennung') sehr klar Metapher, Synekdoche und Antonomasie verdeckt. Die-
zum Ausdruck. Diese Übertragungstheorie der M. wird ses 'Vergessen' ist umso erstaunlicher, als gerade die
bis in die Neuzeit dominieren - vor allem auch aufgrund historische Sprachwissenschaft die Bedeutung der vier
der grammatischen Tradition, in der die M. in der Regel genannten Tropen aufgezeigt hat.
als transnominatio [3] bestimmt wird. Daneben bildet Will man wichtige begriffsgeschichtliche 'Brüche' im
sich mit QUINTILIAN eine Substitutionstheorie heraus, Sinne eines Paradigmawechsels unterscheiden, so wird
nach der der Ausdruck A y , der 'von Haus aus' zur man neben der substanzlogischen Erklärung der in der
Bezeichnung der Sache y dient, durch den Ausdruck A x M. vorausgesetzten Relationen die bei Beauzée und Fon-
ersetzt wird. Dennoch bleiben die in der Quintiliantradi- tanier zum ersten Mal systematisch vorgenommene
tion stehenden Texte insofern mehrdeutig, als die gege- Trennung von habitualisierten und in einer Sprache lexi-
benen Beispiele oft im Sinne der Übertragungstheorie kalisierten Metonymien (oder Tropen) einerseits und
(ein Ausdruck A y wird/«/· die Sache y verwendet) zu ver- neuen 'okkasionellen' Metonymien (oder Tropen) nen-
stehen sind. Die gleiche Mehrdeutigkeit findet sich auch nen müssen. Freilich wird erst in der aktuellen, nicht in
in vielen Abhandlungen der Neuzeit, wobei auffallend der rhetorischen Tradition stehenden sprachphilosophi-
ist, daß die M. im allgemeinen Sinn wie jeder Tropus als schen und linguistischen Forschung die Frage systema-
Substitution, im spezifischen Sinn hingegen als Namens- tisch diskutiert, wie sich der Übergang von neuen über
übertragung verstanden wird. Erst mit der modernen usuelle bis hin zu lexikalisierten Metonymien vollzieht.
strukturalistischen Sprachwissenschaft, die nicht nur die Wesentliche Erkenntnisse sind dabei, daß bestimmte
M., sondern alle Tropen als rein sprachliche Prozesse zu Metonymien zum gängigen Sprachgebrauch gehören
beschreiben sucht, wird sich die Substitutionstheorie (ohne lexikalisiert zu sein) wie auch, daß es 'Diskursre-
durchsetzen, die jedoch aufgrund der Forschung der letz- geln', d.h. konventionalisierte Formen des Gebrauchs
ten fünfzehn Jahre wieder der alten referenzlogischen von Metonymien gibt (etwa Autor für Werk oder Dienst-
Definition weichen mußte. leistung für Kunde), die erklären, daß 'neue' ad hoc-
Metonymien (wie etwa <Das Omelett ist weg ohne zu
Diese alte 'sachlogische' Auffassung macht verständ-
bezahlen>) sofort verstanden werden können, wenn man
lich, daß die Bestimmung der möglichen Relationen zwi-
weiß, daß diese Äußerung in einem bestimmten Rahmen
schen in einem homogenen Raum benachbarten Sachen
('frame') gemacht wurde, eben einem Restaurant. Da in
eine zentrale Fragestellung bilden mußte. Schon die
der aktuellen Forschung auch zum ersten Mal die Frage
<Rhetorik an Herennius> unterscheidet vier Relationen:
nach den der M. zugrundeliegenden semiotischen und
(i) Erfinder für Erfindung oder umgekehrt; (ii) Werk-
den zum Verstehen notwendigen kognitiven Prozesse
zeug / Besessenes für Träger / Besitzer; (iii) Ursache für
systematisch gestellt wird, stellt diese insofern den radi-
Wirkung oder umgekehrt; (iv) Enthaltendes für Enthal-
kalsten 'Bruch' mit der Tradition dar, als sie das in dieser
tenes oder umgekehrt. [4] Diese Unterscheidungen bil-
als selbstverständlich Vorausgesetzte auf den Begriff
den die Basis aller nachfolgenden Klassifikationen, die in
bringen will.
der Regel diesen Kernbestand leicht variieren, präzisie-
ren oder auch ergänzen. So wird etwa in (i) oder zusätz-
lich zu (i) die Relation < Autor für sein Werk> oder in (iii)
Anmerkungen:
oder zusätzlich zu (iii) die Relation Vorausgehendes für 1 Auct ad Her. IV, 32,43 (Übers, hier und i.f. vom Verf.). - 2G.
Nachfolgendes> oder umgekehrt unterschieden. Im Ge- Fauconnier: Espaces mentaux (Paris 1984) 16. - 3vgl. etwa
gensatz zu diesen noch an die alltagsweltliche Erfahrung Donatus, Ars maior III, 6. - 4 Auct. ad Her. IV, 32, 43.
gebundenen Relationen stehen die in den mittelalter-
lichen Poetriae (insbesondere bei GERVASIUS VON M E L - B.I. Antike und Mittelalter. Der Ausdruck μετωνυμία,
KLEY) unterschiedenen substanzlogischen Relationen metönymia findet sich als terminus technicus im Sinne
wie <das Mitfolgende für das Mitfolgende> (concomitans
von <Umbenennung> erst im 1. Jh. v. Chr. in rhetorischen
pro concomitante), <Materie für gestaltete Materie>
und grammatischen Abhandlungen. Nach PROKLOS hat
(materia pro materiato) oder Eigenschaft für Subjekt>.
Wenn sich auch diese logische Klassifikation nicht durch- schon DEMOKRIT ein Wort, mit dem eine Sache umbe-
gesetzt hat, finden sich doch von der Renaissance bis nannt wird, als μετώνυμον, metönymon bezeichnet. [1]
zu neueren sprachwissenschaftlichen und besonders Der AUCTOR AD HERENNIUM definiert die M., bei ihm
sprachhistorischen Untersuchungen die beiden zuletzt denominatio, wie folgt: «Denominado est, quae ab rebus
genannten Relationen (oft unter anderen Namen wie propinquis et finitimis trahit orationem, qua possit intel-
<Stoff für Form> oder < Akzidentien / Accessoires für Sub- legi res, quae non suo vocabulo sit appellata» (Die M. ist
stanz / Sache> oder einfach <das 'Drumherum' für die eine Figur, welche von benachbarten und angrenzenden
Sache>). Mit diesen Erörterungen ist immer auch das Sachen den Ausdruck hernimmt, durch welchen die
Problem der Abgrenzung zu anderen verwandten Tro- Sache, die nicht mit ihrem Wort benannt wird, verstan-
pen wie Antonomasie, Metalepse und insbesondere Syn- den werden kann). [2] LAUSBERG interpretiert diese Stelle
ekdoche verbunden. Die in der rhetorischen Tradition wie folgt: «Die M. verwendet also ein Wort in der Bedeu-
oft geäußerte Auffassung, daß die M. sich nur schwer von tung eines anderen Wortes, das semantisch mit dem ver-
der Synekdoche (im wesentlichen als Beziehung <Teil für wendeten Wort in einer realen Beziehung steht.» [3]
Ganzes und umgekehrt) zu verstehen) unterscheiden Diese oft übernommene Interpretation ist nicht nur pro-
lasse, wird unter dem Einfluß der strukturalistischen blematisch, weil sie unterstellt, daß Wörter semantisch in
Sprachwissenschaft in der modernen Forschung dahin- einer 'realen Beziehung' stehen können, sondern auch,
gehend radikalisiert, daß neben der Metapher nur noch weil die M. als rein sprachliche Substitution begriffen
die M. (einschließlich aller übrigen 'Kontiguitätstropen') wird. Daß der <Auctor> die M. als Übertragung begreift,
unterschieden wird. Damit wird die bei B E A U Z É E in der folgt nicht nur aus seiner Definition, sondern auch aus
Allgemeinen Grammatik> und nach ihm bei FONTANIER den von ihm gegebenen Beispielen. So liegt etwa eine
angelegte - nach logischen und sprachsemiotischen Kri- Umbenennung vor, wenn man die Gallier als «transalpi-
nische Lanzen» bezeichnet: hier wird nämlich das Wort

1197 1198
Metonymie Metonymie

«vom Werkzeug» (ab instrumento) her genommen und Erwähnt sei hier die ungewöhnliche und in der For-
auf den Benutzer dieses Werkzeugs übertragen. [4] Bei schung einmalige These WEINRICHS, wonach an all diesen
diesen Umbenennungen werden Wörter nicht 'in der Stellen mit res nicht <Sache>, sondern <Argument>
Bedeutung von anderen Wörtern' verwendet, sondern gemeint sei. Er bezieht sich dabei auf eine Bemerkung
auf andere Sachen Ubertragen. Die M. wird vom Auetor Lausbergs, daß die möglichen Beziehungen zwischen
somit nicht sprachimmanent, sondern in doppelter Hin- den in der M. vorausgesetzten Sachen denen entspre-
sicht begriffsrealistisch definiert: einmal, weil jede Sachechen, «welche im Inventions-Hexameter aufgezählt
ihr 'eigenes' Wort hat, zum andern, weil die Wahl des sind», der nach Lausberg seit dem 12. Jh. belegt ist. Da
metonymischen Wortes dadurch legitimiert ist, daß es nun die für das Finden von Argumenten formulierte
'von Haus aus' eine Sache bezeichnet, die mit der Merkformel («quis, quid, ubi, quibus auxiliis, cur, quo-
gemeinten Sache in einer realen Beziehung steht. Im modo, quando» - wer, was, wo, womit, warum, wie,
Gegensatz zur Metapher, in der Beziehungen in hetero- wann) in der antiken Rhetorik nicht zur Bestimmung der
genen Räumen verglichen werden, liegt der M. somit in Metonymien möglichen Relationen benutzt wurde,
eine reale Beziehung (R) zwischen zwei verschiedenen können weder Lausberg noch Weinrich ihre These bele-
Sachen (x, y) in einem homogenen Raum zugrunde. gen. [10]
Bis heute konkurrieren beide Theorien - Übertragung
und Substitution - miteinander. Im Gegensatz zur
homogener Raum Moderne wird im Späthellenismus und im Mittelalter
jedoch die Übertragungstheorie im Vordergrund stehen.
Dies deshalb, weil nicht nur <Cicero> (der als Autor der
R y
<Herennius-Rhetorik> galt), sondern auch DONATUS ZU
den zentralen Bezugsautoren wurden. Auch Donat ver-
y tritt eine Übertragungstheorie, da er die M. als transno-
Αχ Ay
minatio bestimmt: «Metonymia est quaedam veluti trans-
nominatio» (die M. ist gewissermaßen eine 'übertra-
(metonymischer gende Umbenennung'). [11] CHARISIUS bezeichnet die
Ausdruck) M. sogar als «übertragenen Ausdruck» (oratio translata)
und M. PLOTIUS SACERDOS hatte schon vorher von einer
«Redeweise (dictio)» gesprochen, die «von einer eigent-
Genau diese Beziehung R muß bekannt sein, damit man lichen Bezeichnung abstammt (descendens)». [12] Die
verstehen kann, daß mit der Verwendung des Ausdrucks Definition Donats wird dann von B E D A [13] wörtlich
A x (transalpinische Lanze>) nicht x, sondern y bezeich- übernommen, ISIDOR greift zusätzlich auf den Auetor ad
net wird, auf das 'von Haus aus' mit Ay (<Gallier>) refe- Herennium zurück, wenn er die Basis dieses 'Hinüber-
riert wird. Deshalb kann CICERO auch sagen, daß ein tragens' einer Bezeichnung auf eine andere Sache, eben
metonymisch verwendeter Ausdruck A x das gleiche wie die <räumliche Nähe> (proximitas) benennt. [14] Auch
A v bezeichnet. Cicero definiert nämlich im <Orator> die großen Poetriae des Mittelalters bestimmen die M. als
Metonymien als mutata ('vertauschte Wörter'), «in Übertragung. So übernimmt JOHANNES VON GARLANDIA
denen statt des eigentlichen Wortes ein anderes unter- (um 1235) zentrale Definitionsteile vom Auetor, da er
schoben wird, welches - da aus irgendeiner mitfolgenden die M. als <Umbenennung> (denominatio) definiert, die
Sache genommen - das gleiche bezeichnen soll» (mutata, dann gegeben ist, «wenn von benachbarten Sachen der
in quibus pro verbo proprio subicitur aliud, quod idem Ausdruck genommen wird» (cum a rebus finitimis trahit
significet, sumptum ex re aliqua consequenti). [5] An der orationem). [15] Noch einen Schritt weiter geht GALFRID
gleichen Stelle weist er darauf hin, daß Rhetoren dieses VON V I N S A U F (um 1210), der alle Tropen als transumptio-
Verfahren als Hypallage, Grammatiker hingegen als M. nes (Übertragungen) bestimmt, da allen ja gemeinsam
bezeichnen. Cicero definiert hier die M. eindeutig als sei, daß ein Wort auf eine andere Sache übertragen
Substitution (<statt Ay wird A x verwendet) und nicht wie wird [16]; dabei grenzt er die Gruppe Metapher, Allego-
der Auetor ad Herennium oder etwa TRYPHON[6] als rie, Antonomasie und Onomatopöie von der Gruppe
Übertragung (<für y wird die Benennung A von χ genom- der «leichteren» Tropen (M., Hyperbel, Synekdoche,
men)). Dennoch bleibt in der Formulierung der von ihm Katachrese und Hyperbaton) ab. [17] GERVASIUS VON
gegebenen Beispiele noch ein Rest von Mehrdeutigkeit. MELKLEY (um 1215) hingegen übernimmt den Terminus
So bemerkt er in <De oratore>, daß in <Afrika erzittert) transnominatio von Donat: so nimmt man etwa mit <In
«Afrika statt die Afrikaner genommen wird» (pro Afris seiner Hand glänzt Gold> «die Materie für das <aus Mate-
est sumpta Africa). [7] Wir haben hier pro mit <statt> rie Gemachte>» (materiam pro materiato ), d.h. für den
übersetzt und damit dieses Beispiel als Substitution <Ring>. [18] Dagegen wird in den großen Lerngrammati-
begriffen. Die ebenfalls mögliche Ubersetzung mit <für> ken des Mittelalters, dem <Doctrinale> und dem <Grae-
(für die Afrikaner steht <Afrika>) interpretiert diese cismus>, die M. als Substitution bestimmt. [19]
Stelle hingegen als Übertragung (für die Sache χ wird der Aus diesen konkurrierenden Definitionen der M.
Ausdruck Ay genommen). Die gleiche Mehrdeutigkeit ergibt sich ein begriffsgeschichtlich wesentlicher Unter-
findet sich auch bei QUINTILIAN, der einerseits zwar die schied zur Metapher. Die Metapher wurde nämlich in
M. ausdrücklich als Substitution bestimmt («nominis pro der rhetorischen Tradition durchgängig als Übertragung
nomine positio» - das Setzen einer Benennung für eine (translatio) definiert. Soll man daraus folgern, daß die
andere) [8], andererseits aber bei den Beispielen neben Metapher eher eine Übertragung ist, die M. hingegen
der Verwendung der Präposition pro sogar auf die für die eher eine Substitution? LAUSBERG (und mit ihm große
Übertragungstheorie typische Formulierung ex (<von / Strömungen der modernen Forschung) gibt auf diese
aus>) zurückgreift. So ist etwa in «'wohl gesittete' (A y ) Frage eine eindeutige Antwort: alle Tropen sind immuta-
Städte» der Ausdruck A y «von dem, was enthalten ist» tiones , also Ersetzungen eines in einem Kontext 'eigent-
(ex eo, quod continetur) [9] hergenommen. lich' erwarteten Ausdrucks. [20] Da sich diese Antwort

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Metonymie Metonymie

für die Metapher nicht aufrecht erhalten läßt, bleibt die den Fällen <Erfinder / Erfundenes) (i), <Ursache / Wir-
Frage, ob die Lausbergsche Substitutionstheorie zumin- kung) (iii) und <Behälter / Inhalt) (iv) [25]; Donat und
dest für die M. zutrifft. In der Tat hätte man ja im Heren- P O M P E I U S hingegen nennen nur (i) und (iv)[26]; Isidor
nius-Beispiel statt <die transalpinische Lanze> (A y ) auch fügt dem wieder «Ursache / Wirkung) (iii) hinzu, das
<die Gallien ( A x ) sagen können. Auch in einer situations- <Doctrinale> und der <Graecismus> kennen hingegen nur
spezifischen M. wie <Der Wein ist weg ohne zu bezahlen> den 'Behälter-Fall' [27].
könnte man statt <Wein> auch <die Person, die einen Da diese Kategorien recht weit gefaßt sind - so kann
Wein bestellt hatte> sagen. In beiden Fällen kann man (iii) auch den Fall «Vorangehendes / Folgendes) abdek-
freilich nicht von einer Substitution sprechen, da im ken oder (iv) den Fall «Nation / Einwohner) usw. - , kön-
strengen Sinn kein Wort durch ein anderes ersetzt wurde. nen sich Überschneidungen mit anderen Tropen erge-
Richtiger ist vielmehr, daß in beiden Fällen ein Ausdruck ben. So wird etwa im «Doctrínalo die Metalepse als
A x zur Bezeichnung eines Gegenstandes y verwendet «durch das Vorhergehende das Folgende ausdrücken»
wurde, auf den man sich auch mit dem eigentlichen Aus- bestimmt; diese Bedeutung wird sich auch in der Neuzeit
druck A y hätte beziehen können. Das ist auch der durchsetzen. Daß es sich hier um eine mehrfache Bedeu-
wesentliche Unterschied zur Metapher, die nicht durch tungsverschiebung handelt, zeigt das im «Doctrinale)
einen eigentlichen Ausdruck ersetzt werden kann. Von gegebene Beispiel <Ähre> iürJahr. Dieses Beispiel findet
hier aus ergibt sich auch der tiefere Sinn des lateinischen sich schon bei Pompeius und Donat. Pompeius erläutert
Terminus denominatio ('Umbenennung') für die M.: dies freilich so, daß «man durch <Ähren> die Saatfelder,
eine Sache y erhält eine andere Benennung, die sich durch <Saatfelder> die Sommer, durch <Sommer> die
eigentlich auf die Sache χ bezieht, wobei diese Umbenen- Jahre bezeichnet» [28] Donat definiert die Metalepse
nung durch eine reale Beziehung zwischen χ und y legiti- entsprechend als «eine Redeweise, die schrittweise zu
miert ist. dem, was man meint, hinbringt» (dictio gradatim pergens
Von hier aus wird verständlich, daß die Bestimmung ad id quod ostendit) [29]. Aus dieser Definition wie auch
der M. immer auch die Klärung der in Metonymien vor- aus dem gegebenen Beispiel folgt offenbar nur, daß man
ausgesetzten realen Beziehungen beinhaltete. So unter- das Gemeinte mit mehreren Schritten ableiten muß,
scheidet schon die <Herennius-Rhetorik> folgende Fälle: nicht aber, daß diese zeitlich aufeinanderfolgen müssen.
(i) Erfinder für Erfindung oder umgekehrt; (ii) Werk- In dieser Definition fehlt freilich ein wichtiges von Quin-
zeug/Besessenes für Träger/Besitzer; (iii) Ursache für tilian noch genanntes Bestimmungsstück bzw. 'Zwi-
Wirkung oder umgekehrt; (iv) Enthaltendes für Enthal- schenglied', nämlich: die Ableitung wird über Synonyme
tenes oder umgekehrt. [21] Diese Klassifikation, die bis bzw. Homonyme garantiert. So könnte man im Lateini-
ins Hochmittelalter die Folie für die Bestimmung der schen <sus> (Schwein) für Verres sagen, dies deshalb, weil
Metonymien bildet, ist offenbar personenzentriert. Dies <Verres> (für die Person) homonym ist mit <verres>
gilt auch für (iii) und (iv), für die der Auetor als Beispiele (Eber). Damit kann auch bei Quintilian die Metalepse
Menschen oder Götter anführt. Für Griechen und (die er auch als transsumptio bezeichnet) als 'Umbenen-
Römer gehört auch die in Mythen und Kosmologien vor- nung' verstanden werden, die sich jedoch von der M.
gestellte Welt zur 'realen' Welt. Deshalb überrascht es dadurch unterscheidet, daß sie nicht durch eine reale
nicht, daß auch 'mythologische Metonymien'[22] wie Kontiguitätsrelation, sondern durch ein sprachliches
<Ceres> für das Getreide oder <Mars> für Krieg angeführt Zwischenglied legitimiert wird. Daß Quintilian solche
werden. Dabei wird <Ceres> als Erfinderin des Getreides Wortspielereien nicht hochschätzt und allerhöchstens
in (i), <Mars> hingegen in «Mars hat dich notwendig für die Komödie zuläßt, wundert nicht.
gezwungen, so zu handeln» in (iii) eingeordnet, d.h. als Erst mit den Artes poetriae, die unter dem Einfluß der
Verursacher für die Wirkung ('Krieg') verstanden. Als scholastischen Logik und Sprachtheorie stehen, kommen
Beispiel für den Fall (iv) nennt der Auetor «Italien kann neue Aspekte bei der Bestimmung der Arten der mögli-
nicht mit Waffen besiegt werden» (für die darin 'enthal- chen Relationen in den Blick. Johannes von Garlandia
tenen' Italer) und umgekehrt das im Reichtum enthal- unterscheidet nämlich neben dem «Werkzeug für den
tene 'Gold' (etwa in: <Man sieht ihm sein Gold an>). Von Besitzer) auch den Fall des «Werkzeugs für die Hand-
diesen Fällen findet sich bei Tryphon [23] nur der Fall (i), lung) (instrumentum pro actu) und vor allem den Fall (v)
Cicero gibt im <Orator> und vor allem in <De Oratore> der «Materie für das aus der Materie Gemachte) (materia
einige Beispiele, ohne sie systematisch zu gliedern, Quin- pro materiato). [30] Zusätzlich führt er die sprachlich
tilian hingegen erörtert alle Fälle, wobei jedoch bei ihm fundierte Unterscheidung der M. ohne und mit Beschrei-
eine normativ-stilistische Fragestellung dominiert: so bung (descriptio) ein. Keine Beschreibung liegt bei 'Ein-
sind für ihn die Metonymien <Erfinder für Erfundenes> Wort'-Metonymien wie <Frankreich zertrampelt dieses
und <Besitzer für Besessenes> stilistisch besser als die mit Pferden) oder «Ich lese Vergib-, eine denominatio cum
umgekehrten Umbenennungen. Zum zweiten Fall rech- descripcione ist: «die bevölkerungsreiche Stadt der Fran-
net er auch «Von Hannibal wurden bei Cannae 60000 zosen, in der die lernbegierige Menge umherstreift» [31]
erschlagen» oder «den Vergil» für dessen Gedichte. Der für Paris. Der Fall (v) findet sich, wie erwähnt, schon bei
Fall (iii) <Wirkung für Ursache> (etwa «Blasse Krankhei- Gervasius, der nicht nur die vier Herennius-Fälle erör-
ten hausen dort») findet sich nach ihm häufig bei Dich- tert, sondern auch folgende Umbenennungen: (vi) das
tern und Rednern; und im Fall (iv) ist es angemessen, Bezeichnende für das Bezeichnete (significans pro signi-
«wohl gesittete Städte» für die darin enthaltenen Ein- ficato), wie etwa «Bacchus> für Wein; (vii) Antezedens für
wohner zu sagen, doch nur Dichter sollten das umge- Konsequens oder umgekehrt (etwa das Konsequens «Er
kehrte Verfahren wählen (so etwa V E R G I L mit «Als näch- ist bleich) für das Antezedens Er fürchtet sich); (viii) das
ster brennt Ucalegon» (für <das Haus von Ucale- Begleitende für das Begleitende (concomitans pro con-
gon>).[24] Mit Donat wird dann die Spätantike und das comitante) wie etwa <Plektrum> für Saite; (ix) Teil für
Mittelalter bis zu den Artes poetriae formelhaft betonen, Ganzes wie «Dezember) für Jahr oder umgekehrt «Sai-
daß es mehrere Arten der M. gibt, wobei die Anzahl vari- teninstrument) für Zither; (x) Eigenschaft für das Subjekt
ieren kann. In Grammatiken finden sich Dreierlisten mit (wie «Die Güte des Königs nützt uns» für der gütige

1201 1202
Metonymie Metonymie

König). [32] Mit diesen sprach- und substanzlogischen tetische Schule bzw. ARISTOTELES zurückzuführen, des-
Kategorien 'entpersonalisiert' Gervasius die alte Ord- sen weiter Metaphernbegriff auch Übertragungen von
nung - ein sicherlich radikaler Bruch mit der Tradition. der Art auf die Gattung und umgekehrt einschließt. [43]
Bedeutend vorsichtiger und didaktischer geht Galfrid Mißt man die quintiliansche Liste nicht nach logischen
vor, vielleicht auch deshalb, weil es um eine stilistische Kriterien, sondern an der Intention Quintilians, eine Art
Bewertung geht. Er unterscheidet nämlich neben den Forschungsbericht über die Auffassungen zu den ver-
klassischen Fällen <Ursache / Wirkung>, <Werkzeug / schiedenen Tropen zu geben, wird man diese durchaus
Benutzen und <Behälter / Enthaltenes) nur noch (v) und positiv bewerten müssen. So erwähnt Quintilian auch
(x); für (v) gibt er Standardbeispiele wie <Gold> für Ring eine Auffassung, nach der die Synekdoche eine Ellipse
aus Gold und im Fall (x) spricht er aber von <abstrakter ist, da sie auf ein Wort (verbum) verweist, das unausge-
Form> für <konkrete Sache> (forma pro re). [33] - eine sprochen bleibt - «aus Worten (= Synekdoche) ist näm-
Darstellung, die nicht nur eine große Nähe zum Auetor lich ein Wort erkennbar» (verbum enim ex verbis intel-
ad Herennium und Quintilian zeigt [34], sondern eben legi) [44], Diese 'Auslassungstheorie' läßt sich, wie das
auch zu Gervasius und zur scholastischen Philosophie. Beispiel von Galfrid zeigt, leicht auf die M. übertragen.
Doch nicht nur in diesem sprach- und substanzlogischen Dies auch deshalb, weil Quintilian selbst betont, daß die
Zugriff ist das Novum der mittelalterlichen Poetiken zu M. «nicht weit» [45] von der Synekdoche entfernt ist.
sehen. Für den 'Theoretiker des poetischen Stils' Galfrid Diese Formulierung Quintilians wiederum ist eine Para-
sind nämlich Metonymien deshalb stilistisch besser, weil phrase zu Cicero, der in <De oratore> die Synekdoche
sie das Gemeinte kürzer als die ausführliche Form aus- (die er nicht explizit benennt) als «benachbart» zur M.
drücken. Jede M. kann deshalb auch als Ellipse oder, wie (bei ihm immutatio) bestimmt. [46] Cicero selbst unter-
Galfrid sagt, als «Zeugma» [35] bestimmt werden. scheidet wie die Herennius-Rhetorik nur die Teil / Gan-
Daß sich die Artes poetriae zwar sehr eng an die Heren- zes· und die Einzahl / Mehrzahl-Beziehung.
nius-Rhetorik halten, diese aber in logischer Hinsicht Bedenkt man zudem, daß Synekdoche und M. sich
präzisieren, zeigt sich vor allem auch in der Abgrenzung sachlich auf Kontiguitätsbeziehungen in einem homoge-
der M. gegen die Synekdoche. Alle drei Poetiken bestim- nen Raum stützen, läge es durchaus nahe, die Synekdo-
men diese als Bezeichnung des Ganzen durch den Aus- che - wie die Moderne - als Sonderfall der M. zu behan-
druck, der den Teil bezeichnet, und umgekehrt. Johannes deln und diese gegen die Metapher, die über heteroge-
von Garlandia verteht hierunter nur die Beziehung einer nen Räumen operiert, abzugrenzen. Genau das ist in der
einzigen Sache zu einem Teil von ihr (wie etwa <Glocke> Scholastik nicht geschehen, da sie versucht hat, 'in Aner-
für Kirche)', Galfrid führt neben der Relation Jahreszei- kennung der Autoritäten' den logisch-sachlichen Unter-
ten / Jahr> Beispiele an, in denen dem Ganzen Prädikate schied zwischen der M. und der Synekdoche herauszuar-
zugeordnet werden, die streng genommen nicht für das beiten. Dies erklärt, daß Gervasius, der selbst auf die
Ganze zutreffen müssen (wie <ein reißender Fluß> oder Abgrenzungsproblematik von M. und Synekdoche hin-
<ein verregneter Tag>); auch Gervasius bringt vergleich- weist, nur die Teil / Ganzes-Beziehung eines einzigen
bare Beispiele (<der kurzlockige Cäsar> oder <ein wun- Ganzen zur Synekdoche rechnet, Beispiele wie <Dezem-
derschönes Jahr>). [36] Damit übernehmen alle drei ber> für Jahr oder <Saiteninstrument> für Zither hingegen
Autoren freilich nur eine der beiden vom Auetor ad - als Element / Klasse- und Art / Gattung-Beziehungen -
Herennium unterschiedenen Unterarten. [37] Dieser zur M. rechnet. [47]
hatte nämlich für die Synekdoche (lat. intellectio) neben Damit hinterlassen Antike und Mittlealter ein mehr-
der pars / totum-Relation noch die Einzahl / Mehrzahl- fach problematisches Erbe: zunächst das semiotische
Beziehung angeführt. So wird etwa in <Dem Punier eilte Problem der M. (Übertragung einer Bezeichnung oder
der Spanier zu Hilfe> «von einem her mehreres verstan- Substitution einer 'Bedeutung'?); dann das Problem der
den» (ab uno plura intellegentur).[38] Diese Ausblen- Abgrenzung zur Synekdoche; und schließlich, damit ver-
dung der Einzahl / Mehrzahl-Relation stützt sich auf bunden, das sachlogische Problem der möglichen Rela-
Donat, der ebenfalls nur die Teil / Ganzes-Relation tionen von benachbarten Dingen. Für die Lösung des
berücksichtigt (wie z.B. <Heck> (puppis) für Schiff oder letzten Problems hat die Antike ein personenbezogenes
<Das Meer stürzte auf unser Schiff> für eine Welle). [39] oder alltagsweltliches Modell entworfen, die Poetiken
Dem folgen auch andere Grammatiken. Dabei verwen- des Mittelalters hingegen tendenziell ein substanzlogi-
den sie in der Regel zur allgemeinen Beschreibung eine sches Modell.
graduierende Formulierung wie etwa Pompeius: die Syn-
ekdoche «sagt weniger und bezeichnet mehr oder sagt Anmerkungen:
mehr und bezeichnet weniger». [40] Davon ist der logi- 1 Proklos, In Cratylum 16 = VS Demokrit Β 26. - 2 Auct. ad Her.
sche Topos a minore ad malus oder umgekehrt fernzu- IV, 32,43. - 3Lausberg Hb. § 565. - 4 e b d . §568. - 5Cic. Or. 27,
92. -6Tryphon, Περιτροπών, in: Rhet. Graec. Sp., Bd.3, p. 195,
halten [41], da es bei diesem um relative Wahrscheinlich- 20. - 7Cie. De or. III, 167. - 8Quint. VIII, 6, 23. - 9ebd. 24. -
keiten geht und nicht um Formen der sprachlichen Refe- 10H. Weinrich: Zur Def. der M. und zu ihrer Stellung in der
renz und Bezeichnung. Man muß diese pars / totum-Kon- rhet. Kunst, in: A. Arens (Hg.): Text-Etymologie, FS H. Laus-
zeption der Synekdoche auch als eine implizite Kritik an berg (1987) 105-110; Lausberg El. §42 u. 216. - 1 1 Donatus, Ars
Quintilian verstehen, der eine maximalistische Auffas- maior III, 6. - UCharisius, Ars gramm. III, 4, in: Gramm. Lat.,
sung vertritt. So liegen nach Quintilian der Synekdoche Bd. 1, 273; Plotius Sacerdos, Ars gramm. 1, ebd. Bd. 6, 467. -
folgende Relationen zugrunde: Teil / Ganzes, Art / Gat- 13Beda, De schematibus et tropis, in: Rhet. Lat. min. p.612. -
14Isid. Etym. I, 37, 8-10. - 15Joh. v. Garl. 126. - 16 Galfrid 64,
tung, Vorausgehendes / Folgendes, Anzahl (d.h. Einzahl Vv. 950-970. - 17ebd. 64-70, Vv. 971-1065. - «Gervasius von
/ Mehrzahl), Anzeichen / Sache. Zur letzten Relation Melkley, Ars poetica, hg. v. H.J. Gräbener (1965) 68ff. - 1 9 Ale-
(etwa: <Die Rinder am Joch führen die Pflüge heimwärts> xander de Villa Dei: Doctrinale, hg. v. D. Reichling (1893) 168,
als Anzeichen Vir Abend) bemerkt er jedoch kritisch, daß V. 2510; Eberhard von Bethune, Graecismus, hg. v. J. Wrobel
damit eher ein Aspekt der Argumentation als des Aus- (Breslau 1887; ND Hildesheim 1987) 9, V. 104. - 20 vgl. Laus-
drucks (elocutio) angesprochen ist. [42] Die Berücksich- berg Hb. § 552. - 21 Auct ad Her. [2], - 22 vgl. Lausberg Hb. § 568
tigung der Art / Gattung-Relation ist wohl auf die peripa- b. - 23Tryphon [6] p.195, 20-26. - 24Quint. VIII, 6, 23-25. -

1203 1204
Metonymie Metonymie

25 vgl. Plotius Sacerdos [12] p.467. - 26Donat [11]; Pompeius, an. Zur Synekdoche gehören: <Teil / Ganzes>, <Art / Gat-
Commentum, in: Gramm. Lat„ Bd.5, p.307. - 27Donat [11]; tung), <Eines / Vieles> und <Materie / Produkte [6] Ein
Beda [13]; Isid. [14]; vgl. Doctrinale [19], - 2 8 e b d p. 168, V. 2507; wichtiger Bezugsautor für diese erweiterten Listen ist
Pompeius [26] p.306. - 29Donat [11]; vgl. identisch Beda [12]
E R A S M U S . Erasmus folgt dem alltagsweltlichen Modell,
p. 612, 25; vgl. L. Holtz: Donat et la tradition de l'enseignement
grammatical (Paris 1981) 209ff. - 30Joh. v. Garl. 126, V. 282f. - das er noch mehr auf den Menschen hin zentriert: so folgt
31 ebd. 128, V. 289f. - 32Gervasius [18] 68f. - 33Galfrid 64-66, er im wesentlichen Quintilian, unterscheidet aber zusätz-
Vv. 971-1017. - 34vgl. E. Gallo in seinem Kommentar zu Gal- lich für die M. noch explizit <Autor für Werk>, <Führer für
frid 204ff. - 35 Galfrid 66, V. 990. - 36 Joh. v. Garl. 128, Vv. 302- Geführte>, <Frevel für den Frevlen, ja sogar alle Prädi-
04; Galfrid 68, Vv. 1017-42; Gervasius [18] 73. - 37vgl. dag. E. kate, die von Dingen und Personen gesagt werden kön-
Gallo in seinem Kommentar zu Galfrid 206f. - 38 Auct. ad Her. nen (z.B. <eloquentes Werk> für eloquenten Autor;
IV, 33, 45. - 39Donat [11], - 40Pompeius [26] 307; vgl. Plotius
Sacerdos [12] 468; Charisius [12] 274; Donat [11]; Beda [13] 613, <mutige Person> für mutige Tat), sind für ihn M.; zur Syn-
24. - 41 vgl. etwa Lausberg El. § 193. - 42 Quint. VIII, 6,19-22. - ekdoche rechnet er wiederum wie Quintilian die Bezie-
43 vgl. Arist. Poet. 1457b 6. - 44Quint. VIII, 6,21. -45ebd. 23. - hungen <Teil / Ganzes>, <Einzahl / Mehrzahl>, <Art / Gat-
46 Cie. De or. III, 168. - 47Gervasius [18] 69 u. 73. tung>, Vorausgehendes / Nachfolgendes), führt dem
aber noch das substanzlogische <Material / geformtes
II. Renaissance, Barock, Aufklärung. Man kann die Materiah hinzu. Deshalb kann er auch «kurz» sagen, daß
Rhetoriken vom 16. bis 18. Jh. hinsichtlich der Behand- eine Synekdoche immer dann vorliegt, «wenn eine Sache
lung der Kontiguitätstropen in zwei Gruppen einteilen. von einer anderen her verstanden wird.» [7]
Dies ist einmal die ramistische Gruppe, die - im wesentli- MELANCHTHON führt für die Synekdoche außer der
chen dem substanzlogischen Modell folgend - nur vier Beziehung <Art / Gattung) die gleiche Liste wie Erasmus
Arten von Tropen (M., Ironie, Metapher und Synekdo- auf und betont, daß in der Heiligen Schrift von diesen
che) unterscheidet, und eine traditionelle Gruppe, inner- Modi «unendlich viele Figuren» zu finden sind; für die
halb derer eine Richtung sich mehr auf die Wiedergabe M., die mit der Synekdoche «verwandt» (cognata) ist und
der kanonischen Liste von Arten der M. beschränkt, in der «der benachbarte Namen für das Benachbarte
während eine zweite Richtung diese erweitert. Auffal- genommen wird» (vicinum nomen pro vicino sumitur),
lend ist, daß diese Erweiterung sich vor allem auf die Syn- unterscheidet er <Zeichen für Bezeichnetes) (wie <Szep-
ekdoche bezieht. ter> für Herrschaft oder <Toga> für Frieden - die Beispiele
1. Traditionelle Rhetoriken. Diese kanonische Liste finden sich schon in Ciceros <De oratore>), dann <Art für
besteht aus den drei in der Spätantike und im Mittelalter Gattung) (hier führt er das <Lamm Gottes > an, das für die
für die M. tradierten Fällen <Erfinder / Erfundenes> (i), Gattung Opfer steht, bezieht sich also auf die christliche
<Ursache / Wirkung> (iii) und <Behälter / Inhalt> (iv), Allegorese), und schließlich <Verursacher / Autor für
denen manchmal noch der in der Herennius-Rhetorik Sache> (hier führt er neben den klassischen nicht-christli-
und bei Quintilian unterschiedene Fall besessenes / chen die biblischen Beispiele <Moses> für Gesetz und
Besitzer> (ii) hinzugefügt wird. Für die Synekdoche wer- <Christus> für Evangelium an). Auch hier betont er, daß
den wie in der Herennius-Rhetorik <Teil / Ganzes> und in der heiligen Schrift die M. «vielfältig» sind. [8]
<Zahl> (<Einzahl / Mehrzahl>) und / oder - wie bei Quinti- Die Gegenüberstellung dieser beiden Autoren kann
lian - <Art / Gattung> unterschieden. Diese Liste findet schon Doppeltes deutlich machen: einmal, daß die Syn-
sich etwa bei D E L M I N I O [ 1 ] oder bei LAMY[2], Oft wird ekdoche - unter Rückgriff auf Quintilian - immer weiter
noch die substanzlogische Relation <Materie / Form> ausdifferenziert wird; zum andern, daß kein Konsens
(bzw. <geformte Materie>) hinzugefügt. Typisch für spa- über den Status der substanzlogischen Relation «Materie
nische Rhetoriken des 16. und 17. Jh. ist die Darstellung / Form> gegeben ist, da Erasmus diese zur Synekdoche,
von SANTAYANA, der neben «Ursache / Wirkung> (und Melanchthon hingegen zur M. rechnet.
umgekehrt) und <Inhalt / Behälter> noch zusätzlich - ähn- R. SHERRY nähert sich der ursprünglichen referenzlogi-
lich wie schon Galfrid im Mittelalter - <Materie / Form> schen Auffassung, wenn er die M. als «transnomacion»
unterscheidet. Für die Synekdoche differenziert er nur bezeichnet. Sie liegt vor, «wenn ein Wort, das eine ihm
zwischen Teil / Ganzes- und Art / Gattung-Relatio- zugehörige eigentliche Bezeichnung hat, indem es auf
nen. [3] Diese Gemeinsamkeiten schließen nicht aus, daß eine andere Sache bezogen wird, eine andere [Bezeich-
die M. selbst semiotisch unterschiedlich bestimmt wird. nung] hat» (when a word that hathe a proper significa-
Delminio bestimmt sie als Übertragung - die M. «gibt ción of hys owne, beynge referred to another thing, hathe
den Namen einer ihrer Korrelativa dem anderen» (dà il another). Deshalb überrascht es nicht, daß er sich,
nome di uno de' suoi correlativi all'altro), Lamy hinge- obwohl er fast ausschließlich biblische Beispiele gibt,
gen als Substitution: «Métonymie signifie nom pour un auch bei der Bestimmung der metonymischen Fälle eng
autre» (M. bedeutet Namen für einen anderen). Diese an die Herennius-Rhetorik hält. [9] Bei der Synekdoche
weite Definition erlaubt ihm, die M. als allgemeinsten hingegen führt er die große auf Quintilian bzw. Erasmus
Tropus zu bestimmen und ihr «den ersten Platz» in seiner zurückgehende Liste auf, begreift also auch <Materie /
Tropenliste zu geben. [4] Eine leichte Variation findet Form> als Synekdoche.
sich bei dem Jesuiten SOAREZ, da er neben <Ursache / Auch PUTTENHAM hält sich bei der M. an die kanoni-
Wirkung> (iii) und <Behälter / Inhalt> (iv) noch die Rela- sche Liste, bei der Synekdoche hingegen bezieht er sich
tion <Zeichen / Sache> aufführt, die Quintilian zur Synek- auf die Quintilian- und Erasmustradition. Neu sind
doche gerechnet hatte; für die Synekdoche unterscheidet jedoch seine Umschreibungen dieser «Figuren». So
er neben <Teil / Ganzes> nur noch Vorangehendes / bezeichnet er die M. als «falsche oder andersartige
Folge>.[5] Benennung (wrong or otherwise naming), die zu einer
Diese Listen sind jedoch für jesuitische Rhetoriken «Veränderung des Sinns» (alteration of sence) führen,
nicht verbindlich; so führt etwa V U L C A N O neben den kurz: die M. ist ein «Misnamer», ein «Mißbenenner»; die
kanonischen Fällen (i)—(iv) noch <Zeichen für Bezeich- Synekdoche hingegen umschreibt er als «Figur des
netes>, <Feldherr für Heer> und <Beinamen (d.h. be- schnellen Begreifens» (figure of quick conceite). [10]
stimmte Kennzeichnungen) für Personen und Sachem Hier werden offenbar zwei Tendenzen des barocken

1205 1206
Metonymie Metonymie

Denkens - die Welt als Schein und das scharfsinnig- zig)· [16] Zusätzlich ist für Dumarsais die Antonomasie
manieristische Zusammenschauen - den beiden altehr- eine Unterart der Synekdoche, und zwar ist die generali-
würdigen Tropen zugeschrieben. [11] D a dieser Scharf- sierende Antonomasie eine Unterart von (i) und die indi-
sinn (argutezza) sich vor allem in der Metapher manife- viduelle, partikularisierende Antonomasie eine Unterart
stiert, erklärt sich, daß die M. in Poetiken des Barock nur von (ii). [17] Genau diese Unterscheidungen bilden die
am Rande behandelt wird. Freilich muß man hier präzi- Basis der (Allgemeinen Rhetorik) der Lütticher <groupe
sieren. So ist die Relation <Art / Gattung) etwa bei μ> von 1970, welche die aktuelle Forschung wesentlich
T E S A U R O gleichsam versteckt, da sie von ihm - entspre- beeinflußt.
chend dem weiten Metaphernbegriff bei Aristoteles - als Doch schon der bisherige Überblick hat gezeigt, daß
Metapher der Attribution und des Lakonismus behan- neben der Beziehung <Materie / Form> gerade auch die
delt wird. [12] Relation <Art / Gattung) allein schon deshalb problema-
D U M A R S A I S wird ein Jh. später in seinem <Traité des tisch ist, weil kein Konsens darüber herrscht, ob sie zur
Tropes> (1730) diese breite Ausdifferenzierung der M. M. oder zur Synekdoche gerechnet werden sollen. Auch
und der Synekdoche systematisch diskutieren. Dabei das semiotische Problem (Übertragung oder Substitu-
fällt unmittelbar auf, daß er die kanonische Darstellung tion) bleibt ungelöst. Das läßt sich gerade auch an
sowohl in Richtung alltagsweltlicher Erfahrung als auch Dumarsais zeigen. Einerseits nämlich definiert er - ganz
in Richtung logischer Abstraktion erweitert. Seine noch der rationalistischen Grundauffassung der <Allgemei-
heute besonders im französischen Sprachraum die aktu- nen Grammatik) entsprechend - die Metonymien als
elle Diskussion bestimmenden Unterscheidungen sind rein sprachliche Substitutionsprozesse, andererseits
für die M.: (i) Ursache für Wirkung, (ii) Wirkung für aber argumentiert er am Ende seiner Erörterung in
Ursache, (iii) Behälter für Inhalt, (iv) Ort der Herstel- einer zusammenfassenden Gegenüberstellung referenz-
lung für Produkt, (v) Zeichen für bezeichnete Sache logisch. So wird die Synekdoche als «eine Art M.»
(<Szepter> für königliche Autorität, <Toga> für Frieden), bestimmt, «durch die man einem Wort eine besondere
(vi) abstrakter Name für konkreten Namen (<dein Bedeutung gibt, das im eigentlichen Sinn eine allgemei-
Unglück> für du Unglücklicher ), (vii) Körperteile für nere Bedeutung hat» (par laquelle on donne une signifi-
Gefühle (<Er hat kein Herz / Hirn>), (viii) Name des cation particulière à un mot, qui, dans le sens propre, a
Hausherrn für Haus (<Ucalegon brennt> für das Haus une signification plus générale) oder umgekehrt. [18] In
von Ucalegon).[ 13] Die Beispiele für (v) zeigen, daß der zusammenfassenden Gegenüberstellung betont er
diese Relation nicht sprachsemiotisch zu verstehen ist. freilich, daß «es bei beiden Figuren eine Beziehung zwi-
Die wenigen hier aufgeführten Beispiele zeigen zudem, schen dem Objekt, von dem man reden will, und dem,
daß sich Dumarsais eng an Cicero und Quintilian von dem man den Namen entlehnt, gibt; gäbe es nämlich
anlehnt, die er freilich auch korrigiert: so hatte Quintilian keinerlei Beziehung zwischen diesen Objekten, gäbe es
etwa das Beispiel für (viii) als E n t h a l t e n e s für Enthal- keine Begleitvorstellung (idée accessoire), also auch
tendes) klassifiziert (s.o.); und (vi) kann als eine präzisie- überhaupt kein Tropus». Hier folgt Dumarsais der Logik
rende Generalisierung des von Cicero unterschiedenen von P O R T - R O Y A L und Lamy, für die Begleitvorstellungen,
Falls <Tugenden / Laster für Trägen wie etwa <Die Treue die man mit einer Sache verbinden kann, Basis sämtlicher
hat sich durchgesetzt) verstanden werden [14]; diese Prä- tropischen Prozesse sind. [19] Doch auch die beim Aue-
zisierung geht freilich weit über den Fragehorizont Cice- tor ad Herennium implizit angelegte Erkenntnis, daß der
ros hinaus, da sie auch Äußerungen wie <An jedem Tag M. zwei Gegenstände, der Synekdoche hingegen nur ein
wächst uns ein neuer Sklave), in dem <Sklave> abstrakt- Ganzes zugrunde liegen, wird von Dumarsais expliziert:
generisch verwendet wird, einschließt. «Die Beziehung zwischen diesen Objekten ist jedoch bei
In der Liste Dumarsais' zur M. fehlt die Relation V o r - der M. so, daß das Objekt, von dem man den Namen ent-
angehendes / Folgendes), da er diese gesondert als Meta- lehnt, unabhängig von dem Objekt, dessen Vorstellung
lepse («eine Art von M.») behandelt. Damit ist die schon es hervorruft, weiter existiert und keinesfalls ein Ensem-
im mittelalterlichen <Doctrinale> beobachtete begriffli- ble mit diesem bildet.» Die Synekdoche hingegen setzt
che Umdeutung der Metalepse festgeschrieben. Hier voraus, «daß diese Objekte ein Ensemble wie das Ganze
führt Dumarsais Beispiele auf, die Einsichten der neue- und der Teil bilden; ihre Verbindung ist überhaupt keine
ren linguistischen Pragmatik vorwegnehmen. So zeigt er, einfache Beziehung, sie ist viel innerlicher». [20]
daß etwa <Was würden sie sagenl> als <Was glauben sie?) 2.Ramistische Rhetoriken. Auch die auf P E T R U S R A M U S
zu verstehen ist (die Folge <sagen> steht hier für das Vor- zurückgehenden Rhetoriken können die skizzierten Pro-
angehende glauben), daß <Er vergißt die Wohltätern für bleme nicht klären, obwohl ihnen ein logisch konsisten-
<Er ist nicht dankbar> oder daß <Er hat gelebt> für das tes Modell zugrunde liegt. Ramus definiert nämlich die
nachfolgende <Er ist tot> steht. [15] von ihm unterschiedenen Basistropen M., Ironie, Meta-
Die Synekdoche, ebenfalls «eine Art von M.», defi- pher, Synekdoche wie folgt: die M. ist durch eine «Ver-
niert Dumarsais graduierend («Man nimmt das mehr für tauschung (mutatio) von den Ursachen auf die Wirkung
das weniger und umgekehrt»); er unterscheidet folgende bzw. den Subjekten (subjecta) auf das ihnen akzidentell
Fälle: (i) Synekdoche der Gattung (d.h. Namen der Gat- Zukommende (adjuneta)» und jeweils umgekehrt ge-
tung für die Art); (ii) Synekdoche der Art, (iii) Synekdo- kennzeichnet; die Ironie durch eine Vertauschung «von
che in der Zahl, (iv) Teil für das Ganze und das Ganze für Gegensätzlichem auf Gegensätzliches»; bei der Meta-
den Teil, (v) Materie für das daraus hergestellte Produkt. pher findet eine mutatio «von Ähnlichem auf Ähnliches»
Für die Synekdoche der Zahl (iii) unterscheidet er fol- und bei der Synekdoche «vom Ganzen auf den Teil und
gende Fälle: a) Einzahl für Mehrzahl (<Der Feind greift umgekehrt» statt. Überraschend ist, daß Ramus, obwohl
an>), b) Mehrzahl für Einzahl (<Wir meinen) für ich), c) er auch auf substanzlogische Kriterien zurückgreift, Tro-
bestimmte Zahl für unbestimmte (<Ich habe es ihm hun- pen allgemein als «mutatio propriae significationis in
dert Mal gesagt) für viele Male), d) eine 'volle' Zahl für verbo» (eine Vertauschung der eigentlichen Bedeutung
die größere oder kleinere exakte Zahl (<die Bibelüber- im Wort) definiert. [21] D a ß die Synekdoche auch die
setzung der Siebzig) (Septuaginta) für zweiundsieb- Art / Gattung-Beziehung einschließt, zeigen seine Schü-

1207 1208
Metonymie Metonymie

1er O. T A L O N und A. F O U Q U E L I N , die beide Relationen tionellen, im wesentlichen auf Quintilian zurückgehen-
bei der Behandlung der Synekdoche unterscheiden. [22] den Unterscheidungen in Teil / Ganzes, Art / Gattung
Dies schließt freilich nicht aus, daß seine Schüler bei der und Anzahl, aber auch die individuelle und generische
semiotischen Bestimmung der M. wieder auf die Über- Antonomasie. [31]
tragungstheorie zurückgreifen. So übernimmt Talon die Ganz anders geht Vico in seiner <Scienza Nuova> (1725
Ersetzungstheorie von Ramus [23], dagegen ist die Defi- / 44) vor. Ihm dient die ramistische Vierereinteilung nicht
nition der M. in der französischen Rhetorik von Fouque- dazu, das alte rhetorische Lehrgebäude darin zu integrie-
lin nicht als bloße Ersetzung zu verstehen, denn die M. ist ren; er nimmt sie vielmehr als Grundlage für seinen
für ihn «ein Tropus, durch den die gefundene und einge- philosophischen Geschichts- und Wissensentwurf der
setzte Rede - die eigentlich die Ursache von irgendeiner Menschheit. So liegen die vier Tropen Metapher, M.,
Sache bezeichnet - genommen und verwendet wird, um Synekdoche und Ironie, die sich nacheinander herausbil-
die Wirkung zu bezeichnen» (un Trope par lequel la dic- den, der ursprünglichen poetischen Sprache zugrunde,
tion trouvée et instituée pour signifier proprement la die sich vor der von den Grammatikern und Philosophen
cause de quelque chose que ce soit, est mise et usurpée privilegierten 'wörtlichen' Sprache herausbildet. Da
pour signifier l'effet). [24] Vico diese These auch am Beispiel der Sprachgeschichte
Auch GOTTSCHED wird sich zu Beginn des 18. Jh. wie- illustriert, wird er zu einem wichtigen Vorläufer der
der ausdrücklich auf die Übertragungstheorie beziehen. Historischen Sprachwissenschaft. Doch auch seine spe-
So betont er, daß <Metapher> und das lateinische Äquiva- kulativen Erklärungen dieser 'tropologischen' Ur- und
lent translatif) eine allgemeine Bedeutung haben und Grundsprache kommen heute wieder ins Blickfeld der
«sich auch so gar für die Metonymie, Synekdoche und modernen Forschung. So haben nach Vico die 'poeti-
Ironie» schicken. «Deutsch müßte man sie eine Verset- schen Nationen' deshalb die M. <Akzidens für Substanz>
zung, oder einen Wechsel nennen; [...] die M. aber, als verwendet, «weil sie die Formen (forme) und die Eigen-
die andere Gattung verblümter Redensarten, könnte schaften (qualità) noch nicht vom Subjekt (subietto) zu
eine Namensänderung heißen.» [25] A n anderer Stelle abstrahieren wußten». Die Synekdoche <Sterbliche> für
bezeichnet er die M. als «Namenlehn»: «Man setzet aber Menschen wurde verwendet, weil man zuerst an diesen
darinn entweder die Ursache, und meinet die Wirkung die Sterblichkeit bemerkte; und <Haupt> drängte sich für
derselben.» [26] Die Substanz / Akzidens-Relation wird Kopf auf, weil man «in Wäldern vom Menschen den
von ihm als Beziehung zwischen «Hauptursache» und Kopf von weitem» sehen kann. [32] Damit nimmt Vico
«Nebending» bezeichnet. Die dafür gegebenen Beispiele eine wesentliche Erkenntnis der neueren Forschung vor-
formuliert er freilich auch als Substitution. So unterschei- weg: Kontiguitätstropen setzen voraus, daß nicht nur
det er - unter Rückgriff auf Quintilian - für «die Haupt- eine typische, sondern auch herausragende Eigenschaf-
ursache an statt eines Nebendings» fünf Unterarten: (i) ten vorliegen.
Behältnis für Enthaltenes, (ii) Besitzer statt Eigentum, Will man eine Bilanz dieser Epoche ziehen, wird man
(iii) Feldherr für seine Soldaten, (iv) Zeichen für die sicher feststellen müssen, daß die drei von der Antike
bezeichnete Sache, (v) Sachen in der Zeit statt der Zeit und dem Mittelalter hinterlassenen Probleme (Semiotik
selbst. Bei der umgekehrten M. - «ein Nebending an statt der M., Abgrenzung von der Synekdoche, bei beiden
der Hauptursache» - unterscheidet er die Fälle (i), (iv) Kontiguitätstropen vorausgesetzte Relationen) ungelöst
und (v); dem fügt er hinzu: Tugend oder Laster statt der blieben. Dennoch zeigte die Erörterung von Dumarsais,
Leute, die sie ausüben, Gemütsregung statt des Gegen- daß die vielen und vielfältigen, sicher noch eng an antike
stands, das Vorhergehende statt des Nachfolgenden (und und mittelalterliche Traditionsstränge gebundenen Rhe-
umgekehrt). [27] Daß Gottsched damit eine Mixtur aus toriken doch eine differenziertere Sicht, insbesondere
Übertragungs- und Ersetzungstheorie einerseits sowie hinsichtlich der beiden ersten Probleme, ermöglicht
substanzlogischem und alltagsweltlichem Modell vor- haben. Das zeigt sich mit aller Deutlichkeit in F O N T A -
stellt, zeigt sich auch bei seiner Erörterung der Synekdo- NIERS <Figures du Discours> (1821 /1830), einerseits eine
che. Zu dieser rechnet er nicht nur die Teil / Ganzes-, reflektierte Synthese des Denkens der traditionellen
sondern auch die Kleineres / Größeres-Beziehung, also Rhetorik zu Sprache und Stil, andererseits aber eine
die Hyperbel und die verkleinernde Tapeinosis; zur Syn- wichtige Grundlage für die Historische Sprachwissen-
ekdoche gehören auch Art / Gattung-Umbennungen und schaft und für die aktuelle Diskussion. So hat Fontanier
- wie bei Dumarsais - die beiden Formen der Antonoma- in Nachfolge von B E A U Z É E [33] den wesentlichen Unter-
sie. Auch die Beispiele, die Gottsched für die Zahl gibt schied zwischen sprachlich lexikalisierten und neuen
(<eins für vieles und umgekehrt>, bestimmte Zahl für überraschenden Tropen terminologisch festgeschrieben.
unbestimmte) und <volle Zahl für größere oder klei- Daraus folgt eine bei Dumarsais schon vorgezeichnete
n e r e ^ entsprechen den Unterscheidungen bei Dumar- andere Behandlung der Katachrese, die nicht mehr als
sais. [28] Tropus gesehen wird, sondern als eine sprachlich habi-
tualisierte und lexikalisierte Bedeutung, der irgendein
Das Beispiel Gottsched zeigt, daß die ramistische tropologischer (also auch metonymischer) Prozeß zu-
Klassifikation durchaus mit den traditionellen Unter- grundeliegt, der die ursprüngliche Bedeutung eines Wor-
scheidungen vereinbar ist. Ein gelehrtes Beispiel findet tes erweitert hat («sens tropologique extensif»), [34]
sich schon ein Jh. vorher in der Rhetorik von G.J. Vos- Doch auch in seinen Definitionen der M. und der Synek-
sius. Auch Vossius gründet seine Einteilung auf die vier doche hat er im wesentlichen die Problematik der Semio-
ramistischen Grundpfeiler Ursache, Wirkung, Subjekt tik und damit auch des fundamentalen Unterschieds zwi-
und Adjunkt, differenziert dann aber in verschiedene schen beiden gelöst. Die M. bestimmt er als einen <Ver-
Formen der Ursache wie die causa efficiens und causa bindungstropus>, den er wie folgt definiert: «Les Tropes
materiae (dieser ordnet er die alte Unterscheidung mate- par correspondance consistent dans la désignation d'un
ria pro materiato zu) [29]; und bei der Erörterung der objet par le nom d'un autre objet qui fait comme lui un
Umbenennung von Subjekt und Adjunkt integriert er tout absolument à part, mais qui lui doit ou à qui il doit
wie Gottsched die alten für die M. unterschiedenen lui-même plus ou moins, ou pour son existence, ou pour
Fälle. [30] Auch bei der Synekdoche finden sich die tradi-

1209 1210
Metonymie Metonymie

sa manière d'être. On les appelle métonymies, c'est-à- In Fontaniers Theorie spielt nun auch die ramistische
dire, changements de noms, ou noms pour d'autres Unterscheidung von Subjekt und Adjunkt eine funda-
noms» (Die Tropen durch Verbindung bestehen in der mentale Rolle. Sie findet sich nämlich verallgemeinert
Bezeichnung eines Objektes durch den Namen eines als Unterscheidung zwischen idées principales (Haupt-
anderen Objektes, das wie jenes ein völlig für sich beste- ideen) und sekundären idées accessoires (Nebenideen)
hendes Ganzes bildet, das aber jenem oder dem jenes wieder, die freilich nicht nur zur Erklärung der M., son-
selbst mehr oder weniger entweder hinsichtlich seiner dern aller Tropen dient. Diese Auffassung ist ein wesent-
Existenz oder hinsichtlich seiner Seinsweise verbunden liches Charakteristikum der Allgemeinen Grammatik
ist. Wir nennen sie M., d.h. Namensvertauschungen oder und Tropenlehre, die sich aus der Logik von Port-Royal
Namen anstelle anderer Namen). [35] entwickelte. Danach entstehen die Tropen aus den
In dieser Definition, die nach zweitausend Jahren das Begleitideen: «Es ist nun nicht selten, daß diese Begleit-
in der Herennius-Rhetorik alltagsweltlich Gesehene auf ideen unsere Vorstellung viel stärker frappieren und in
den Begriff bringt, ist offenbar der einzige Hinweis auf ihr viel präsenter sind als die Hauptidee. [...] Was passiert
eine Substitutionstheorie die 'wörtliche' Übersetzung dann oft? Nun, wir halten bei einer dieser Begleitideen
des griechischen μετωνυμία. Gleiches gilt für Fontaniers inne und ersetzen beim Ausdrücken unseres Denkens
Definition der «Verknüpfungstrope» (trope par con- das gewöhnliche und gängige Zeichen der Hauptidee
nexion) Synekdoche, die «in der Bezeichnung eines durch das Zeichen der Nebenidee.» [41] Daß diese Ver-
Objektes durch den Namen eines anderen Objektes allgemeinerung letztlich auf den Kontiguitätstropen
besteht, mit dem es ein Ensemble bildet, ein entweder gründet, kann eine Bemerkung Dumarsais' verdeutli-
physisches oder metaphysisches Ganzes, wobei die Exi- chen: «Es sind oft auch diese Begleitideen [...], welche
stenz oder Idee des einen in der Existenz oder Idee des die Gegenstände entweder mit mehr Energie oder mit
andern enthalten ist.» [36] mehr Anmut zeichnen. Von daher das Zeichen für die
Ungeklärt bleibt freilich auch bei Fontanier das Pro- bezeichnete Sache, die Ursache für die Wirkung, der Teil
blem der möglichen Relationen zwischen und innerhalb für das Ganze, das Vorangehende für das Folgende und
von Ensembles und ihrer Zuordnung zur M., zur Synek- alle anderen Tropen.» [42]
doche, zur Metalepse und zur Antonomasie. So unter- Ergebnis der Figuren- und Tropenlehre Fontaniers ist
scheidet er zwar mit Dumarsais für die M. die Fälle einmal die die aktuelle Diskussion noch bestimmende
<Ursache für Wirkung>, <Wirkung>, <Behälter>, <Ort>, Reduzierung der Worttropen auf M., Synekdoche, Meta-
<Zeichen>, <Körperteile bzw. Physisches für Gefühle> pher und - gleichsam zwischen den beiden letzten -
und <Herr für Haus bzw. Besitz>, zusätzlich übernimmt er Antonomasie, zum andern mehrere ungelöste Probleme,
aber wieder das alte Instrument für Träger bzw. Besit- die sich freilich genau bestimmen lassen: das sind einmal
zer), das bei ihm jedoch auch Fälle wie <eine ausgezeich- die von der Antike und dem MA ererbten Probleme der
nete Feder> für guter Schriftsteller umfaßt, und unter- genauen Abgrenzung der Relationen <Teil / Ganzes>,
scheidet schließlich noch eine «M. der Sache», in der ein <Art / Gattung), (Einzelnes / Vieles (Generisches)>,
typischer Gegenstand genommen wird, wie etwa <Hüte> <Materie / Form>, <Konkretes / Abstraktes) und, zum
oder <Perücken> für Männer, <Hauben> für Frauen oder andern, damit verbunden, die neuen Fragen nach dem
<Wagen> für Pferde (etwa in <Der Wagen hört auf keine Unterschied zwischen Teil eines Ganzen und typischem
Stimme und keine Zügel>). Damit führt Fontanier den Accessoire, zwischen zeitlichen, kausalen und logischen
wichtigen Unterschied zwischen Teil und typischem Folgebeziehungen, aber auch konversationellen Impli-
Accessoire einer Sache ein. Dumarsais hatte nämlich das katuren. Hinzukommt das semiotische Problem der
letzte Beispiel noch als Synekdoche interpretiert; dage- Abgrenzung der Formen der 'uneigentlichen Rede' auf
gen argumentiert Fontanier, daß selbst angeschirrte der Ebene des Wortes, des Satzes und des Textes.
Pferde keinen Teil des Wagens bilden. [37] Auch bei der
Synekdoche folgt Fontanier zwar der Darstellung von Anmerkungen:
Dumarsais, fügt aber die «Abstraktionssynekdoche» 1G.C. Delminio: La Topica, o vero della elocuzione (ca. 1540),
(etwa <Jugend> für junge Leute oder <Wut> für der in: Β. Weinberg (Hg.): Trattati di poetica e retorica del Cinque-
cento, Bd. 1 (Bari 1970) 357^407,366ff. - 2 Lamy 59f. - 3 vgl. J.R.
Wütende) hinzu, die Dumarsais noch als M. <Abstraktes Verdu: La Retòrica española de los siglos XVI y XVII (Madrid
für Konkretes> behandelt hatte. 1973) 326f. u. 344f. - 4 Delminio [1] 366; Lamy 59. - S S o a r e z 148
Bei der Behandlung der Metalepse, «die man mit der u. 150. - 6N. Vulcano: Sagata Pallas sive pugnatrix eloquentia
M. verwechselt hat», grenzt sich Fontanier sogar radikal (1687/8); hg. v. T. Feigenbutz u. A. Reichensperger, Bd. 2 (1997)
von Dumarsais ab, indem er sie nicht mehr als Wort-, 183 f. - 7Erasmus Copia 1,22f., p. 68-72. - 8 M e l a n c h t h o n 464f. -
sondern als Propositionstropus bestimmt, bei dem «ein 9 R . Sherry: A Treatise of Schemes and Tropes (1550; N D New
Sachverhalt durch einen andern begreiflich gemacht York 1977) 42f. - 1 0 G. Puttenham: The Arte of English Poesie
(London 1589; N D Menston 1968) 150f. u. 154f. - l l v g l . E.
wird, der ihm vorangeht oder folgt oder ihn begleitet, Eggs: Art. <Metapher>, H W R h , Bd. 5, Sp. 1128 f. - 12E. Tesauro:
irgendein Umstand, oder schließlich, der mit ihm derart Il Cannocchiale Aristotelico (Turin 1670), N D hg. v. A. Buck
verknüpft und verbunden ist, daß er ihn unmittelbar dem (1968) 342-364 u. 434-441 - 13C.C. Dumarsais: Traité des tro-
Denken vergegenwärtigt». [38] In der Tat fallen die von pes (1730; Neudr. Paris 1977) 61-80. - 1 4 vgl. Quint. VIII, 6,24 u.
Dumarsais gegebenen Beispiele unter diese Definition Cie. D e or. III, 168; dazu Lausberg Hb. § 568,4). - 1 5 D u m a r s a i s
Fontaniers, in der schon wichtige Aspekte der in der [13] 80-86. - 16ebd. 86-98. - 17vgl. dazu Eggs [11]. - « D u m a r -
modernen linguistischen Pragmatik herausgearbeiteten sais [13] 86. - 1 9 vgl. A. Arnauld, P. Nicole: La logique ou l'art de
penser (1683), Neudr. hg. v. L. Marin (Paris 1970) 130ff.; vgl. T.
impliziten Formen des Sprechens - indirekte Sprechakte Todorov: Théories du symbole (Paris 1977) lOOff. u. Art. (Meta-
wie konversationeile Implikaturen [39] - vorweggenom- pher. Sp. 1135 ff. - 20 Dumarsais [13] 97 f. - 21 P. Ramus: Scholae
men sind. Auch in der Erörterung der Synekdoche, die er rhetoricae (Frankfurt 1581; N D 1965) 148. - 22 A. Talaeus: Rhe-
wie Dumarsais als Individuumsynekdoche klassifiziert, torica e P. Rami praelectionibus observata (Frankfurt 1982)
löst sich Fontanier von diesem, indem er zeigt, daß der 61ff.; A. Fouquelin: La Rhétorique françoise (1555), hg. ν. F.
Fall <Eigenname für Gattungsname) in der Regel als Goyet, in: Traités de poétique et de rhétorique de la Renais-
Metapher zu verstehen ist. [40] sance (Paris 1990) 345-464, 374. - 23vgl. Talaeus [22] 3 u. 38. -

1211 1212
Metonymie Metonymie

24Fouquelin [22] 354. - 25J.C. Gottsched: Versuch einer crit. ches andere [...].» [4] Deshalb erstaunt es nicht, daß Paul
Dichtkunst ('1742), in: Ausgew. Werke, hg. v. J. u. B. Birke, VI, bei der Diskussion der Einzelfälle wieder auf die altbe-
1 (1973) 326. - 26 ebd. 331. - 27 ebd. 332-334. - 28 ebd. 334-340. - kannten Fälle zurückgreift: so der Teil fürs G a n z e (<Ein
29Vossius, Β. IV, p,113ff. u. 117f. - 30ebd. 123-135. - 31ebd. Segel taucht auf>), der typische Gegenstand f ü r den
135-151. - 32G. Vico: La scienza nuova (1744), hg. v. P. Rossi
(Mailand 1977) 285f.; zu Vico vgl. Eggs [11] Sp. 1126. - 33 vgl. N.
Besitzer (<der Rundhut>), Körperliches f ü r Gemütsbe-
Beauzée: Encyclopédie méthodologique, B d . l (Paris 1782) 581. wegungen (<Das Herz schlägt ihm>), Symbole f ü r H a n d -
- 34vgl. Schaubild zu Fontaniers Sprachsemiotik in: Eggs [11] lungen (<auf den T h r o n setzen>), Eigenschaft bzw. Tätig-
Sp. 1138ff. - 35Fontanier 79. - 36ebd. 87. - 37ebd. 79-86. - keit für Träger bzw. Substanz (<Regierung>), Hervor-
38 ebd. 127f. - 39 vgl. J.R. Searle: Indirect Speech Acts, in: P. bringendes f ü r Hervorgebrachtes (<lingua> [ursprünglich
Cole, J.L. Morgan (Hg.): Speech Acts (New York 1975) 59-82; <Zunge>] für Sprache), N a m e des A u t o r s f ü r seine
H.P. Grice: Logic and Conversation, in: P. Cole, J.L. Morgan Werke, Spitznamen (<Beinamen>) f ü r eine Person oder
(Hg.): Syntax and Semantics, Bd. 3 (London 1975) 41-58; allg. ein Tier (<Wauwau> für Hund) etc. Freilich nimmt Paul
O. Ducrot: Dire et ne pas dire (Paris 1972); G. Leech: The Princi-
aufgrund seines spezifischen linguistischen Zugriffs wei-
ples of Pragmatics (London 1983). - 40Fontanier 97f.; vgl. E.
Eggs: Grammaire du discours argumentatif (Paris 1994) 195ff. -
tere Differenzierungen vor, wie etwa die Fälle, in denen
41Fontanier 160. - 42Dumarsais [13] 28. Bezeichnungen von Eigenschaften bzw. Tätigkeiten
nicht auf den Träger oder das Subjekt, sondern auf das
III. 19. und 20. Jh. Die Moderne. Die Ausgrenzung der Objekt übergehen, wobei er «innere Objekte» wie
Katachrese und die damit verbundene Unterscheidung <Stich>, <Holzschnitt> oder <Vertiefung) von «äußeren
zwischen in einer Sprache lexikalisierten und neuen, im Objekten» wie <Saat>, <Durchgang> oder <Kleidung>
unterscheidet. [5] Auffallend ist, daß er die alten Termini
Diskurs hergestellten tropologischen Prozessen durch
<Synekdoche> und <M.> nicht verwendet - im Gegensatz
Beauzée und Fontanier geht wissenschaftsgeschichtlich
zum «auf Ähnlichkeit gründenden bildlichen Ausdruck»,
einher mit der Herausbildung der Sprachwissenschaft als
den er explizit als Metapher bezeichnet. Darmesteter
eigenständiger Disziplin. D e r damit verbundene fort-
hingegen hatte nicht nur die traditionellen Termini f ü r
schreitende Ansehensverlust der Rhetorik erklärt, daß die Kontiguitätstropen verwendet, sondern auch noch
die von der Rhetorik hinterlassenen Problemfelder, die die zentralen Fälle unterschieden: Ursache / Wirkung,
ja fundamentale ontologische, logische und sprachphilo- Enthaltenes / Behälter, O r t / Produkt, Zeichen / Bezeich-
sophische Fragen betreffen, zwar übernommen, aber netes, Abstraktes / Konkretes für die M., A r t / Gattung,
nicht mehr systematisch diskutiert wurden. Auffallend Einzahl / Mehrzahl, Teil / Ganzes, Eigennamen / Gat-
ist, daß trotz der Abkoppelung der Rhetorik in linguisti- tungsnamen (= Antonomasie) für die Synekdoche. [6]
schen Abhandlungen die in der Rhetorik unterschiede- Neu bei Darmesteter ist die Unterscheidung komplexer
nen Relationstypen im wesentlichen bis in die aktuelle tropologischer Prozesse in Ausstrahlung (rayonnement)
Forschung ü b e r n o m m e n werden. D e r in der Historischen - das sind m e h r e r e metaphorische Übertragungen mit
Sprachwissenschaft etwa bei R E I S I G (1839) und später bei der gleichen Basis (<Wurzel> auf Zahnwurzel, Wurzel des
DARMESTETER (1887) [1] noch gegebene explizite Bezug Übels, usw.) - und Verkettung (enchaînement): in diesem
zur traditionellen Tropenlehre - beide sehen die Meta- Fall, dem alle Tropen zugrunde liegen können, operieren
pher, die M. und die Synekdoche als wesentliche Pro- Bedeutungsveränderungen auf vorgängig lexikalisierten
zesse des Bedeutungswandels an - , wird dann E n d e des Bedeutungsveränderungen. Identische Beobachtungen
19. Jh. aufgegeben. D a s läßt sich exemplarisch an der finden sich ein Jh. später bei LAKOFF. [7]
Bearbeitung von Reisigs Bedeutungslehre durch H E E R -
DEGEN (1890) zeigen. Basis der Klassifikation Heerde- D i e schon bei Paul angelegte Reduzierung des Bedeu-
gens sind nämlich nicht mehr die genannten rhetorischen tungswandels auf Ähnlichkeit und Kontiguität wird dann
Tropen, sondern die wortsemantische Unterscheidung in bei U L L M A N N mit Bezug auf die Strukturalisten D E S A U S -
zwei Formen der Bedeutungsveränderung: (i) Bedeu- SURE und H J E L M S L E V explizit vorgenommen. Deshalb
tungsübertragung oder Translation; (ii) Bedeutungsver- wendet er diese Unterscheidung auf den Signifikanten
engerung (sie!) oder Determination. Z u r ersten Form (name) und das Signifikat (sense) an. Es gibt somit ein-
gehört nicht nur die Metapher, sondern auch die M. So ist m a l Namensähnlichkeit (Hut, Mut, tut) und Namenskon-
nach Heerdegen etwa die Verwendung des ursprünglich tiguität (Damen/jwf, Wwrmacher), also Lautähnlichkeit
'abstrakten' lateinischen magistratus (<Amt>) in der 'kon- und syntagmatische Beziehung eines Wortes zu anderen
kreten' Bedeutung als <Amtsträger> oder <Beamter> Wörtern; zum andern gibt es Sinnähnlichkeit (Hut,
«eine Übertragung, welche die Rhetorik unter die Mütze, H e l m ) und Sinnkontiguität (Hut, Kopf, Hals). [8]
Rubrik M. einzureihen pflegt». [2] Z u r zweiten Form D a die M e t a p h e r zur Sinnähnlichkeit, die M. (einschließ-
gehören Determinationen wie z.B. lateinisch orare von lich der Synekdoche) hingegen zur Sinnkontiguität
<reden> über <bitten> hin zu <beten>.[3] Im begriffslogi- gehört, wäre es aus der Sicht der traditionellen Rhetorik
schen Sinne handelt es sich offenbar um Ausdifferenzie- exakter, statt von <Sinnkontiguität> von Referenzkonti-
rungen von Art begriffen. guität zu sprechen. Dies auch deshalb, weil Üllmann bei
Die gleiche wortsemantische Fragestellung findet sich der Darstellung der «Sinnberührung», d.h. der M. und
etwa bei P A U L (1908). Für Paul kann neben dem «bildli- der Synekdoche, die bei Paul und der rhetorischen Tradi-
chen Ausdruck» auch die okkasionelle Bedeutung eines tion unterschiedenen Fälle ohne Anspruch auf Systema-
tik auflistet. [9] JAKOBSON wird diese Verallgemeinerung
Wortes, die «mit d e m usuellen Bedeutungsinhalt nach
der Termini <Metapher> und <M.> noch weiter f ü h r e n , da
allgemeiner E r f a h r u n g räumlich oder zeitlich oder kau-
er auch paradigmatische Selektionsprozesse und syntag-
sal verknüpft ist», zu einem sprachlichen Bedeutungs-
matische Kontiguitätsverknüpfungen als <metaphori-
wandel führen, sofern dieser von der jeweiligen Sprach-
sche> und <metonymische> Wege bezeichnet. [10] Diese
gemeinschaft ü b e r n o m m e n und habitualisiert wird. D a ß Verschiebung des Metapher- und Metonymiebegriffs hin
Paul der damit angesprochene Bezug zur traditionellen auf den Signifikanten bildet gleichsam die wissenschafts-
elocutio noch gut bekannt ist, zeigt die daran anschlie- geschichtliche Voraussetzung f ü r die Bestimmung der M.
ßende Bemerkung: «Hierher gehört die aus der Lateini- bei LACAN, der sie als «mot à mot» (Wort an Wort), also
schen Stilistik als pars pro toto b e k a n n t e Figur, wie man-

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Metonymie Metonymie

bloß noch als Kontiguität von Signifikanten bestimmt; tioneller Rhetorik nimmt etwa SCHIPPAN vor, die einer-
die Metapher wird dementsprechend als reine Substitu- seits M. und Metapher als «semantische Grundfiguren»
tion von Signifikanten definiert. [11] Obwohl sich Lacan bestimmt, andererseits bei der Behandlung der «Be-
selbst auf die traditionelle Rhetorik beruft, stellt seine zeichnungsübertragung» durch die M. die großen tradi-
<Umbenennung> den sicher radikalsten Bruch mit der tionellen Listen aufführt, also auch Substanz / Akzidens
rhetorischen Tropenlehre dar. (sie spricht von «begleitenden Merkmalen» einer Sache)
Die Arbeiten von Ullmann, Jakobson und Lacan ste- und Materie / Form (die sie als «Stoff / Produkt aus die-
hen exemplarisch für die bis in die 80er Jahre dominie- sem Stoff» bezeichnet); auch die referenzlogische Beson-
rende Forschung, die gleichsam fächerübergreifend die derheit der M. kommt in den Blick: bei der M. handelt es
tropischen Prozesse auf die Metapher und M. - mit fast sich «um eine Bezeichnungsübertragung auf Grund tat-
ausschließlichem Blick auf die Metapher - reduziert. Das sächlich gegebener Zusammenhänge zwischen Bedeu-
zeigt sich schon äußerlich in einer Fülle von Publikatio- tungen und den in ihnen widergespiegelten Objek-
nen zur Metapher und einer bedeutend geringeren ten». [21] Deshalb repräsentiert die zuerst 1900 erschie-
Anzahl von Abhandlungen zur M. und Metapher. [12] In nene, inzwischen in der sechsten Auflage vorliegende
der Regel wird zwar die Synekdoche als ein besonderer Untersuchung zum «Bezeichnungswandel» von D O R N -
Fall der M. bestimmt, die M. selbst aber gegenüber der SEIFF immer noch den vorherrschenden Forschungs-
Metapher als kategorial verschiedenes Verfahren begrif- stand. Dornseiff liest sich wie eine rhetorische Abhand-
fen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Tropen lung zum Bezeichnungswandel, in der die alten Fälle in
wird in strukturalistisch orientierten Untersuchungen als freilich veränderter Form als Klassifikationskriterien
der zwischen auf Ähnlichkeit vs. Kontiguität beruhenden fungieren: Raum für Bewohner, Eigenschaft für Träger,
Prozessen bestimmt. Oft, wie etwa von L E G U E R N oder Abstracta für Einzelwesen, Mittel für Produkt, Eigen-
LAKOFF / JOHNSON, [13] wird auch der Aspekt betont, daß schaft für Mittel, Aktion für Ergebnis, Aktion für Objekt
die M. extensional als referentielle Verschiebung, die oder Ort, Aktion für Mittel, Ergebnis für Mittel, Ding für
Metapher hingegen intensional als neue Bedeutungsge- Handlung, das Drum und Dran für die Sache. [22] Man
bung verstanden werden kann. Nicht durchgesetzt haben erkennt leicht, daß hier u.a. das alte Verursachendes /
sich Auffassungen, die beide Tropen gleich behandeln: Verursachtes> in mehrere Fälle ausdifferenziert wird,
so etwa die von HENRY, für den die Metapher «auf einen und natürlich, daß mit dem «Drum und Dran» die
doppelten Metonymiemechanismus gegründet» [14] ist, schwerfälligen <Akzidens> oder <Accessoire> für die
oder die der <groupe μ>, die M. wie Metapher als dop- <Substanz> auf leicht verständliche Weise formuliert wer-
pelte Synekdochen analysieren. In strukturalistischen den. Von hier aus überrascht es nicht, daß Dornseiff
Abhandlungen wird die M. (genauso wie die Metapher) nicht mehr explizit von der Synekdoche spricht, sondern
in der Regel als Substitution begriffen. So stützen sich nur pars pro toto untersucht (eine Benennung, in der «ein
etwa nach PLETT die «Kontiguitätstropen (Metonymien) charakteristischer Teil stellvertretend für das zugehörige
[...] auf die semantische Nachbarschaft (Kontiguität) der Ganze gesetzt wird» [23]). Man muß daraus schließen,
Substitutionselemente». [15] Auffallend ist, daß in daß für Dornseiff die von der rhetorischen Tradition
deutschsprachigen Untersuchungen, die in der Tradition unterschiedenen Fälle Einzahl / Mehrzahl und Art / Gat-
der Rhetorik stehen, wohl aufgrund des Einflusses von tung für die 'Rhetorik der Sprachgeschichte' irrelevant
Lausberg, die Substitutionstheorie vertreten wird, [16] sind. Sein kluger und umsichtiger Umgang mit der Tradi-
während in Frankreich durch die über Dumarsais und tion erklärt, daß er auch die M. als «Übertragung» oder
Fontanier vermittelte Tradition und die Kritik der Sub- «Verschiebung» einer Bezeichnung bestimmt. [24]
stitutionstheorie durch RICCEUR [17] nicht nur die Meta- Auch neuere Klassifikationen verlassen nicht den
pher, sondern auch die M. in der nicht-strukturalisti- durch die rhetorische Tradition gesetzten Rahmen. So
schen Forschung als Übertragung (oder als <Umbenen- ändert etwa KUBCZAK die alte Klassifikation nur
nung> im Sinne der Herennius-Rhetorik) verstanden dadurch, daß er die Relationen verbal formuliert, also
wird. Dies gilt selbst für sprachwissenschaftliche Ab- etwa statt <Ursache / Wirkung): «... ist bewirkt von ...»
handlungen: so bestimmt etwa G U I R A U D die M. und setzt. [25] BLANK nimmt eine vorsichtige und kluge
die Metapher als «Sinnübertragungen» (transfers de Uminterpretation und Erweiterung vor und gruppiert
sens). [18] Da beide Theorien die Diskussion in Frank- die verschiedenen Fälle in die drei Gruppen der tempora-
reich bestimmten, erklärt sich, daß in der Jakobson ver- len, räumlichen und kausalen Kontiguität. [26] Insgesamt
pflichteten Stillehre von BACRY eine <Mischtheorie> ver- lassen sich ähnliche Tendenzen wie in der rhetorischen
treten wird, da die Metapher als Substitution, die M. Tradition beobachten. So reduziert etwa SCHIFKO die
dagegen als Verschiebung (déplacement) definiert Liste auf Zeit, Ort, Kausalität und Instrument, wobei er
wird. [19] jedoch bei der Kausalität die mittelalterlichen Formen
Erstaunlich ist, daß selbst in linguistischen Abhand- der Ursache (causa materialis, formalis, efficiens, finalis)
lungen, die sich von der traditionellen Rhetorik abgren- berücksichtigt. [27] Umgekehrt und sehr eng an die fran-
zen, bei der Detailanalyse der M. immer wieder auf die zösische Tradition gebunden geht BONHOMME vor, indem
alten Unterscheidungen zurückgegriffen wird. So unter- er weitere Unterscheidungen hinzufügt, die er in die
scheiden etwa Lakoff / Johnson Teil für Ganzes, Herstel- Gruppen (I) situative und (II) aktantielle Metonymien
ler für Produkt, benutzter Gegenstand für Benutzer, Ort einteilt. Zu (I) gehören: zeitliches und räumliches
für Ereignis oder Institution, Institution für die Verant- Zusammen, Zugehörigkeit, Evaluierung (Gewicht und
wortlichen (<Der Senat hat beschlossen)) und Verant- Preis: <ein 30-Tonner>; <Da liegen fünf Millionen) für
wortliches für den Handelnden (<Ein Mercedes hat ihn Schmuck), Disposition (<Warteschlange von Pleitem für
umgefahren>). [20] Im Gegensatz zur traditionellen Rhe- Pleitemacher)·, zu II: Ursache, Quelle, aktantieller Rah-
torik wollen die Autoren diese Relationen jedoch als men (frz. <un Damas> für ein in Damaskus hergestellter
ICM (Idealized Cognitive Models), kognitive Modelle Säbel), Instrument, Prozeß, Herausführung (efférence:
also, die Wirklichkeit organisieren, verstanden wissen. z.B. <Dauerfeuer> für Ofen), Ziel. Zusätzlich unterschei-
Eine Synthese zwischen moderner Linguistik und tradi- det er, die Diskussion bei Dumarsais, Fontanier und Le

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Metonymie Metonymie

Guern aufgreifend, drei «Peri-Metonymien», nämlich habe mir doch den Grass gekauft), <Er schreibt nicht
die Metalepse-, die Symbol- und die Synekdochemetony- schlecht, aber er ist doch kein Grass>. Da alle Verwen-
mie. [28] dungsweisen gängig sind und somit auch keine Verständ-
Von diesem 'konservativen' und zugleich vorsichtigen nisprobleme hervorrufen dürften, ist die Rede von <der
Umgang mit der Tradition ist die strukturalistische A l l - referentiellen Polysemie oder Unbestimmtheit) offenbar
gemeine Rhetorik> (1970) von D U B O I S u.a. (<groupe μ>) nur dann sinnvoll, wenn man die Referenzausdrücke <die
weit entfernt. Die Autoren setzen nämlich Art / Gattung Zeitung) oder <Grass> isoliert behandelt. Im Gegensatz
und Teil / Ganzes, also zwei Formen der Synekdoche, als dazu ist eine Äußerung wie <Der Grass ist schon ver-
Basis sämtlicher tropischen Prozesse. Im ersten Fall spre- staubt) mehrdeutig, da sie metaphorisch oder metony-
chen sie von «logischer Summe Σ» (Baum = Eiche oder misch (im Sinne von <Das Buch von Grass im Regal>)
Pappel oder Birke ...), im zweiten hingegen von «logi- verstanden werden kann; formuliert man hingegen
schem Produkt Π» (Baum = Wurzel und Stamm und <Mein Grass ist schon verstaubt) oder gar <Mein Grass,
Zweige ...). In beiden Fällen kann die Synekdoche gene- den ich erst vor zwei Wochen ins Regal gestellt habe, ist
ralisierend (<Baum> statt <Pappel> oder <Stamm>) oder, schon verstaubt), wird eher, im zweiten Fall fast eindeu-
umgekehrt, partikularisierend sein. Dies führt zur Erklä- tig, die metonymische Lesart nahegelegt. Doch kann in
rung einer Metapher wie <Birke> für <junges Mädchen> beiden Fällen nicht ausgeschlossen werden, daß es sich
als doppelte Synekdoche nach dem Modus Σ: zunächst um eine Statue von Grass handelt. Damit ist eine Reihe
eine generalisierende Synekdoche (<biegsam> für von Problemen angedeutet, welche die aktuelle For-
<Birke>) danach eine partikularisierende Synekdoche schung bestimmen: (i) offenbar sind einige M. wie <Die
(<biegsam> für <junges Mädchen>). Diese Erklärung, die Zeitung hat ihn gefeuert) oder etwa <Die Uni hat ihn
offenbar der traditionellen Auffassung, daß Metaphern doch eingestellt) schon lexikalisiert oder zumindest usu-
ein tertium comparationis zugrundeliegt, entspricht, ver- eller als andere; (ii) einige metonymische Projektionen
stehen die Autoren zudem als Semanalyse, da <Birke>
(etwa <Autor für Werk>) sind gängiger als andere (<Name
und <junges Mädchen> das Sem (Bedeutungsmerkmal)
für Bild oder Statue>); (iii) der Grad der Eindeutigkeit
<biegsam> teilen. [29] Auch M. werden nach diesem
Schema als doppelte Synekdochen interpretiert. So lie- der Interpretation hängt von der syntaktischen, textuel-
gen für die Autoren der M. <Nehmen Sie den Cäsar in die len und situativen Umgebung ab. Punkt (i) formuliert
Hand> (etwa die Schrift <De bello Gallico>) folgende Syn- das zentrale, von Fontanier offengelassene Problem des
ekdochen nach dem Modus Π zugrunde: zunächst eine Übergangs neuer Tropen oder Metonymien zu usuellen
generalisierende (<Cäsar> für <Alles, was das Leben und lexikalisierten sprachlichen Bedeutungen. Die
Cäsars betrifft> [= Totum]), dann eine partikularisie- Historische Sprachwissenschaft hat zwar die allgemeinen
rende (<Totum> für <De bello Gallico>). [30] Mit dieser Bedingungen (eine M. muß von allen Sprachteilnehmern
Semanalyse werden offenbar nicht nur die wesentlichen akzeptiert werden) und die besonderen Formen (d.h.
Unterschiede zwischen Synekdoche, M. und Metapher verschiedenen Kontiguitätsbeziehungen) dieses Über-
verwischt, sondern auch die in der Tradition formelhaft gangs bestimmt, aber nicht gesehen, daß es in jeder Spra-
wiederholte Erkenntnis, daß hier eine Umbenennung che ein Kontinuum von als neu empfundenen über mehr
von <Autor für sein Werk> vorliegt. [31] oder weniger konventionalisierte bis hin zu lexikalisier-
ten M. gibt. So gehört etwa die M. <Autor für Werk> zu
Die skizzierte Forschungslage macht verständlich, daß einer konventionalisierten Form des Sprechens bzw. Dis-
neue Fragestellungen und Einsichten nicht in der der kursregel. [35] Kleiber hat gezeigt, daß bestimmte M. (zu
Rhetorik oder der historischen Sprachwissenschaft ver- denen er auch die Synekdoche zählt) so sehr in die Spra-
pflichteten Forschung entwickelt wurden, sondern in che integriert sind, daß der eigentliche Ausdruck unge-
sprachwissenschaftlichen und sprachphilosophischen wöhnlich ist («Prinzip der integrierten M.»). So würde es
Untersuchungen zur Referenz. Von großer Bedeutung sicher als bizarr empfunden werden, statt <Peter ist ganz
sind die Untersuchungen von F A U C O N N I E R zu den braun> die Formulierungen <Peters Haut ist ganz braun>
<Gedankenräumen>, die Überlegungen zur Referenz von oder gar <Peters Kopf ist ganz braun> (wenn Peter beklei-
N U N B E R G und, daran anschließend, von K L E I B E R . [32] det ist) zu wählen. Nicht möglich sind dagegen solche glo-
Fauconnier begreift die M. als Sonderfall der verschobe- balen Aussagen in Fällen wie <*Peter ist grün>, wenn
nen Referenz, die er im Anschluß an Nunberg wie folgt damit auf dessen grüne Augen Bezug genommen wird.
bestimmt (leicht vereinfacht): <Wenn zwei Objekte (im Kleiber erklärt dieses Phänomen - wie schon Vico - so,
allgemeinsten Sinn) a und b durch eine pragmatische daß globale metonymische Prädikationen nur bei einer
Funktion F verbunden sind, kann eine Deskription von a, «saillance perceptive» (hervorstechendes Wahrneh-
nämlich d a , benutzt werden, um sein Gegenstück zu iden- mungsmerkmal) möglich sind. Im Anschluß an Faucon-
tifizieren.) Dieser Verbindung können psychologische, nier zeigt er zudem, daß <George Sand steht auf dem lin-
kulturelle oder an die Redesituation gebundene Gründe ken Regal. Sie ist eine glänzende Schriftstellerin) möglich
zugrundeliegen. [33] Dies ist offenbar eine allgemeinere ist, nicht aber <*Das Omelett ist weg, ohne zu bezahlen.
Formulierung der Definition der M. in der Herennius- Es war ungenießbar). Möglich wird dieser Satz nur, wenn
Rhetorik. Nunberg hat gezeigt, daß solche Beschreibun-
sich das anaphorische Pronomen auf den gemeinten
gen bzw. zur Referenz dienenden Ausdrücke in der
Referenten, also den Gast, bezieht: <Das Omelett ist weg,
Regel mehrdeutig sind. So bezieht sich etwa <die Zei-
tung) in <Die Zeitung wiegt ein Pfund> und <Die Zeitung ohne zu bezahlen. Er hatte kein Geld). Man kann daraus
hat Peter gefeuert) einmal auf ein singuläres Zeitungs- folgern, daß <Autor für Werk) eine stärker konventiona-
exemplar, zum andern auf die Verlagsleitung dieser Zei- lisierte Diskursregel darstellt als bestellte Speise für
tung. [34] Eine wiederum andere Referenz ist in <Diese Gast). [36] Zur Erklärung der skizzierten Phänomene hat
Zeitung lese ich nicht mehr> oder <Die Zeitung spielt Nunberg zusätzlich zur perzeptiven <Salienz> das Krite-
heute keine zentrale Rolle mehr> gegeben. Die gleiche rium der noteworthiness (für den oder die Kommunika-
referentielle Unbestimmtheit zeigt sich auch bei Eigen- tionsteilnehmer besonders beachtenswert) eingeführt:
namen: <Gestern habe ich Günther Grass gesehen), <Ich ein Maler kann nämlich durchaus metonymisch von sich
sagen: <Ich bin im Whitney-Museum>, nicht aber <*Ich

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Metonymie Metonymie

bin in der Transportkiste >. [37] Gegen diese Analyse ser mit <Wo sind denn bloß die Elsässer?> beziehe, diese
kann man natürlich einwenden, daß eine empörte Äuße- Frage als metonymisch oder metaphorisch (im Sinne des
rung des gleichen Malers wie <Warum bin ich immer weiten Metaphernbegriffs bei Aristoteles) bezeichnen
noch in dieser Transportkiste?> - kurz vor einer geschäft- wollen. [40] Damit bildet nur die Umbenennung nach
lich vereinbarten Ausstellung seiner Bilder - durchaus dem Teil / Ganzes-Modus einen Tropus bzw. eine Synek-
nachvollziehbar ist. doche. Diese Feststellung entspricht der aufgezeigten
Die gegebenen Beispiele zeigen, daß die Frage, ob Tendenz in der aktuellen Forschung, nur noch das pars
eine Äußerung als ungewöhnlich erfahren wird, nicht pro toto zu berücksichtigen.
allein davon abhängt, ob sie metonymisch ist, sondern Das letzte Beispiel, in dem vorausgesetzt ist, daß die
auch von einer Reihe weiterer Aspekte wie Art der M., gemeinten Elsässer bekannt sind, kann eine weitere, bis-
Grad der Konventionalisierung, Häufigkeit und Ver- her in der Forschung noch nicht systematisch diskutierte
bindlichkeit einer Diskursregel oder perzeptive und Besonderheit der M. verdeutlichen: In jeder M. muß
kommunikative <Salienz>. Hinzu kommt, daß die Akzep- nämlich das eigentlich gemeinte Referenzobjekt schon
tanz auch vom syntaktischen, textuellen und situativen, vor der metonymischen Äußerung den Diskursteilneh-
besonders aber auch vom (individual-)geschichtlichen mern bekannt oder vorher erwähnt worden sein. Die
Kontext bestimmt wird. So kann man sich in einem indi- unmittelbare Evidenz dieser Feststellung mögen Bei-
vidualgeschichtlichen Kontext etwa mit <Der Quintilian spiele wie <Ich habe mir einen Grass gekauft>, <Die Uni
kann auch kein Spanisch> durchaus auf einen Studenten hat ihn eingestellt oder <Die transalpinischen Lanzen
beziehen, der nicht wußte, daß Quintilian der bekannte greifen an> verdeutlichen. Die gleiche Beobachtung ist
und berühmte Verfasser der <Institutionum Oratoriarum sinngemäß auch von PAPAFRAGOU gemacht worden, die
libri XII> war. Da in solchen 'transparenten' Situationen im Anschluß an die Relevanztheorie von SPERBER / W I L -
die Art der realisierten Relation und der Grad der Kon- SON die M. als «Echo-Gebrauch» - in einer korrigierten
ventionalisierung offenbar eine nur geringe Rolle spielt, Fassung spricht sie von «interpretativem Gebrauch» -
kann man durchaus eine folgende Akzeptanzregel for- analysiert hat. Damit ist gemeint, daß sich ein Ausdruck
mulieren: <Je transparenter eine Situation, um so gerin- 'echoartig' auf etwas bezieht, was vorher gesagt oder
ger die Bedeutung und der Grad der Konventionalisie- gedacht wurde. Wesentlich ist, daß damit zugleich zu die-
rung der zugrundeliegenden Relationen bzw. Diskursre- ser Sache «eine Haltung» ausgedrückt wird. [41] Das ent-
gelm. Gegen die skizzierte Forschung ist zudem einzu- spricht der alten rhetorischen Einsicht, daß mit Tropen
wenden, daß einige Analysen dadurch falsch oder zumin- ein Gegenstand herausgehoben, reliefartig hervorgeho-
dest ungenau werden, daß sie, dem aktuellen Trend ent- ben und oft auch moralisch oder emotional bewertet
sprechend, mit einem recht vagen Begriff der M. (der die wird. Auch ihr wichtiger Hinweis, daß solche für Perso-
Synekdoche und die Antonomasie einschließt) arbeiten. nen verwendeten metonymischen Echoausdrücke zu
Man kann nämlich zeigen [38], daß die genannten Spitznamen mit eindeutiger Referenz werden kön-
Akzeptanzkriterien auch davon abhängig sind, ob eine nen [42], gehört zum Wissensbestand der Rhetorik.
individuelle Antonomasie (<Das ist doch kein Grass>) Betrachtet man nun die verwendeten Referenzaus-
oder eine M. mit Eigennamen (<Ich habe den Grass doch drücke, so fällt auf, daß an der Subjektstelle in der Regel
gekauft>) vorliegt. Dies impliziert, daß man nicht nur ein definiter Ausdruck (<ich>, <der / dieser N>, <Peter>,
zwischen prädikativem und referentiellem Gebrauch usw.) steht, der per se eine spezifische Referenz garan-
eines Ausdrucks, sondern auch zwischen singulärer und tiert; an der Objektstelle sind auch indefinite Ausdrücke
generischer Referenz unterscheidet (so wird etwa in (a) möglich, die freilich immer eine spezifische Lesart erhal-
<Die Zeitung spielt heute keine zentrale Rolle mehr> die ten. Damit läßt sich der Prozeß der Rekonstruktion der
Zeitung generisch verwendet). Dies deshalb, weil M. verschobenen Referenz bei der M. - im Gegensatz zur
(und Synekdochen) weder prädikativ noch in generischer schiefen Referenz bei der Metapher [43] - an einem ein-
Referenz verwendet werden können. Deshalb ist (a) fachen Beispiel in groben Umrissen wie folgt rekonstru-
keine metonymische Äußerung, sondern eine generische ieren: In einer Äußerung wie <Das Omelett ist weg, ohne
Behauptung zur <Zeitung-in-der-heutigen-Zeit>. Auch zu bezahlen> wird (i) zunächst <Omelett> die Standardre-
eine Äußerung wie <Elsässer trinken Bier> ist eine zwar ferenz zugewiesen; (ii) diese Zuordnung wird durch den
nicht absolut wahre, wohl aber typisierende allgemeine syntaktischen Kontext enttäuscht; (iii) da dieser Kontext
Behauptung und damit keine M. Nach Kleiber gilt aber auf einen Sachverhalt verweist, der für Menschen typisch
für diese Aussage sogar das Prinzip der integrierten ist, wird ein Referenzobjekt gesucht, für das dieses Krite-
M. [39] Diese Interpretation als M. (genauer wäre Synek- rium zutrifft und das in einem realen Zusammenhang mit
doche) resultiert daher, daß Kleiber der französischen dem Omelett steht; (iv) da dieser Zusammenhang als
rhetorischen Tradition entsprechend offenbar dieses gegeben und damit auch als bekannt vorausgesetzt wer-
Beispiel als <Vieles für Weniges> (Anzahl) - möglich den kann, wird <das Omelett> als verschobene Referenz
wäre auch: <das Ganze für den Teil> - begreift. Diese für der Gast, der das Omelett bestellt hat, interpretiert.
Relation steht, wie wir jetzt sagen können, im Gegensatz Je höher die Transparenz und der Grad der Konventio-
zum Begriff der M. (oder Synekdoche) selbst, da im nalisierung, um so automatischer werden die Prozesse
strengen Sinn keine Umbenennung vorliegt: man kann ablaufen. Da alle Schritte prinzipiell nur als kognitive
sich ja auf einige, wenige, viele oder alle der gemeinten Operationen ablaufen, die wiederum eine bestimmte
Personen mit dem gleichen Namen, eben <Elsässer>, Struktur und Form der Wissensorganisation vorausset-
beziehen. Ebenso ist die von Quintilian eingeführte und zen, darf dieses Modell nicht im Sinne eines naiven Rea-
von vielen Rhetoriken übernommene Umbenennung lismus verstanden werden.
der Art durch die Bezeichnung der Gattung (und umge- Unsere Rekonstruktion sollte auch deutlich machen,
kehrt) kein Tropus, sondern ein gängiges anaphorisches daß das Verstehen von Metonymien notwendig den syn-
Verfahren: <Gestern sind meine drei Freunde aus Straß- taktischen Äußerungskontext einbeziehen muß. Von
burg angekommen. Die Elsässer waren sehr müde>. hier aus überrascht es, daß die 'Syntax der M.' erst in
Genauso wenig wird man, wenn ich mich auf diese Elsäs- neueren Untersuchungen wie bei Nunberg oder systema-

1219 1220
Metonymie Metonymie

tischer bei WALTEREIT [ 4 4 ] (freilich vornehmlich für lexi- Wärme einen Zustand darstellt, der wiederum als Sach-
kalisierte M.) in den Blick kommt. Doch die Satz- oder verhalt dargestellt werden kann, stellt sich zudem die
Äußerungsebene genügt nicht, um den gemeinten Tro- Frage, wie sich diese Zustande- oder Sachverhaltsmeto-
pus identifizieren zu können. Daß auch M. - wie Meta- nymien von den Metonymien mit einem individuierten
phern - letztlich nur auf der Textebene identifiziert wer- und abzählbaren Referenten abgrenzen lassen. Dies
den können, mag folgendes Beispiel verdeutlichen: <Das setzt offenbar nicht nur voraus, daß man das zeitliche,
Omelett ist auf einen Schlag verschwundene Dies kann kausale oder logische Vorher und Nachher unterschei-
wörtlich oder metonymisch gemeint sein. Der erste Fall det, sondern auch, daß man die mit der Metalepse
liegt bei einem Text vor wie <Das Omelett ist auf einen gestellten Probleme, die ja auch die kommunikative
Schlag verschwunden. Es hat auch so gut geschmeckt>, Ebene betreffen, löst. All dies läßt sich auch als einfaches
der zweite Fall, wenn ein Satz wie <Er hatte kein Geld> Forschungsprinzip formulieren: Man muß die in der rhe-
folgt. Offenbar haben die anaphorischen Pronomen das torischen Tradition festgestellten, oft nur vage und sogar
gleiche grammatische Geschlecht wie die Namen der widersprüchlich analysierten Probleme nur zur Kenntnis
jeweils gemeinten Referenzobjekte. Ebenso mehrdeutig nehmen und sich fragen, warum sie nicht gelöst werden
ist etwa <Das Omelett ist runtergefallen>, da es nicht nur konnten. Das wiederum setzt voraus, daß man eine bes-
wörtlich, sondern auch metaphorisch gemeint sein kann, sere Theorie hat.
dann nämlich, wenn <das Omelett> ein Spitzname ist:
<Das Omelett ist einfach runtergefallen. Warum muß der Anmerkungen:
auch so viel essen? > I C h . K. Reisig: Vöries, über lat. Sprachwiss., Τ. II: Semasiolo-
Unsere Darstellung sollte deutlich machen, daß die gie, hg. v. F. Haase (1839) 286-307, neubearb. v. F. Heerdegen
von der Allgemeinen Grammatik- und Tropenlehre (1890); A. Darmesteter: La Vie des mots étudiée dans leurs
unterschiedenen Worttropen Metapher, Antonomasie, significations (Paris 1887), zit. η. d. Ausg. Paris 1979; vgl. auch H.
Hatzfeld: Leitfaden d. vergleichenden Bedeutungslehre (21928).
M. und Synekdoche notwendig sind, um den Gebrauch - 2 Reisig [1] (1890) 120.-3ebd. 57ff. u. 133 ff. - 4 H . Paul: Prinzi-
von Wörtern im Diskurs und in der Wortgeschichte pien der Sprachgesch. (51920) 83. - 5 ebd. 97-100. - 6 Darmeste-
erklären zu können. Ob auch die in der rhetorischen und ter [1] 47-51. - 7ebd. 68ff.; G. Lakoff: Women, Fire, and Dange-
linguistischen Tradition unterschiedenen Relationsty- rous Things (Chicago 1987); vgl. dazu E. Eggs: Art. <Metapher>,
pen notwendig sind, ist umstritten. So argumentieren in: HWRh, Bd. 5, Sp. 1154ff. - 8S. Ullmann: The Principles of
etwa Papafragou und Waltereit, daß die bisherigen Semantics (Glasgow 1951); zit. n. d. dt. Ausg. Berlin 1967,204ff.
Listen nicht nur zu heterogen, sondern auch viel zu - 9ders.: Semantics. An Introd. to the Science of Meaning
unvollständig seien, um alle möglichen ad /loc-Metony- (Oxford 1962), zit. n. d. dt. Ausg. Frankfurt 1973, 274ff. - 1 0 R.
Jakobson: Der Doppelcharakter d. Sprache (dt. Übers.), in: J.
mien beschreiben zu können. Dem ist - bezogen auf Ihwe (Hg.): Literaturwiss. und Linguistik I (1971) 328; zuerst in:
transparente Kontexte - sicher zuzustimmen. Je weniger R.J., M. Halle: Fundamentals of Language, Part II (Den Haag
freilich diese Transparenz gegeben ist, um so mehr wird 1956) 2 u. 5. - 11J. Lacan: L'instance de la lettre dans l'incons-
eine Berücksichtigung der Relationstypen notwendig. cient ou la raison depuis Freud (1957), in: Ecrits I (Paris 1966)
Nur so lassen sich sprachgeschichtlich wesentliche For- 263ff.; vgl. ausführlich Eggs [7]. - 12vgl. A. Henry: Métonymie
men und Prozesse der Lexikalisierung von Tropen erklä- et métaphore (Paris 1971); M. Le Guern: Sémantique de la
ren. Dies gilt auch für kognitiv-psychologische Prozesse, métaphore et de la métonymie (Paris 1973); L. Goossens:
Metaphtonymy. The Interaction of Metaphor and Metonymy,
denen offenbar ebenfalls verschiedene Relationsmuster in: L. Goossens, P. Pauwels u.a. (Hg.): By Word of Mouth
zugrundeliegen. Das bestätigt letztlich auch Waltereit, (Amsterdam 1995) 159-174, 169f.; H. Kubczak: Metaphern u.
da er in seinen konkreten Untersuchungen im Gegensatz M. als sprachwiss. Untersuchungsgegenstände, in: ZDPh. 105
zu seinen prinzipiellen Behauptungen zwischen einer (1986) 83-99; R. Dirven: Metonymy and Metaphor: Different
«Ε-metonymischen» (das ist die Teil / Ganzes-Bezie- Mental Strategies of Conceptualisation, in: Leuvense bijdragen
hung) und einer «E-Kontiguitätsbeziehung» (das ist die 82 (1993) 1-28. - 1 3 L e Guern [12] 27ff.; G. Lakoff, M. Johnson:
M.) unterscheidet. [45] Metaphors We Live By (Chicago 1980) 35ff. - 14Henry [12] 66.
Welche Unterscheidungen sinnvoll und notwendig - 15H.F. Plett: Textwiss.u. Textanalyse (1975) 267; idem J.
sind, läßt sich aufgrund des aktuellen Diskussionsstandes Dubois u.a.: Rhétorique générale (Paris 1970) 49; P. Blumen-
thal: Semantiche Dichte (1983) 92ff.; Preminger 783f. - 16H.F.
nicht eindeutig entscheiden. Aus der Geschichte der Plett.: Einf. in die rhet. Textanalyse ( 2 1973) 77. - 17P. Ricoeur:
Auseinandersetzung um die M. ergeben sich jedoch La métaphore vive (Paris 1975) 63ff. - 18P. Guiraud: La séman-
einige methodologische und forschungspraktische Kon- tique (Paris 51966) 43; idem H. Suhamy: Les figures du style
sequenzen. Zur Bestimmung der relevanten Typen wird (Paris 1981) 46ff.; O. Reboul: La rhétorique (Paris 21986) 42ff.;
eine Konkretisierung hin zur persönlich-subjektiven M. Aquien: Dictionnaire de poétique (Paris 1993) 179. - 19P.
Erfahrungswelt und gesellschaftlichen Wirklichkeit so- Bacry: Les figures de style (Paris 1992) 47ff. u. 84ff. - 20Lakoff,
wie zugleich eine Verallgemeinerung hin zu logischen Johnson [13] 37ff. - 21T. Schippan: Einf. in die Semasiologie
(21975) 182ff. - 22F. Dornseiff: Bezeichnungswandel unseres
Strukturen und Verstehensprinzipien notwendig sein. So Wortschatzes (61966) 71-87. - 23ebd. 88. - 24ebd. 73. -
legen die gegebenen Restaurantbeispiele, die leicht 25 Kubczak [12] 97. - 2 6 A. Blank: Prinzipien des lexikal. Bedeu-
durch Beispiele aus anderen Dienstleistungsbetrieben tungswandels am Beispiel der roman. Sprachen (1997) 250ff. -
ergänzt werden können, nahe, eine Relation erbrachte 27P. Schifko: Die M. als universales sprachl. Strukturprinzip, in:
Dienstleistung für Nutznießen anzusetzen. Umgekehrt Grazer Linguistische Studien 10 (1979) 240-264. - 28 M. Bon-
müssen neben substanzlogischen auch aussagenlogische homme: Linguistique de la métonymie (Bern 1987) 60ff. -
Prinzipien, aber auch topische Schlußverfahren berück- 29Dubois [15] 98ff. u. 108ff. - 30ebd. 118. - 31 vgl. die Kritik in
Ricoeur [17] 173ff.; N. Ruwet: Synecdoques et métonymies, in:
sichtigt werden. So basiert etwa <Wir sollten die Hitze Poétique 6 (1975), zit. n. d. dt. Ubers, in: A. Haverkamp (Hg.):
abstellen. Sonst führt das zu einer Explosion> im Sinne Theorien der Metapher (1983); H. Bredin: Metonymy, in: Poe-
von den Ofen abstellen auf Topoi wie <Je größer die Ener- tics Today 5 (1984) 45-58; Bonhomme [28] 3ff.; vgl. dagegen
giezufuhr und Wärme in einem Ofen, desto größer die K.B. Basilio: La mécanique et le vivant. La métonymie chez
Gefahr einer Explosion> und <Die Energiezufuhr läßt Zola (Genf 1993) 85ff.; R. Waltereit: M. und Grammatik. Konti-
sich an Öfen des Typs χ durch Betätigung der Aggregate guitätsphänomene i. d. frz. Satzsemantik (1998).-32G. Faucon-
a, b oder c regeln>. Da in diesem Beispiel der Referent nier: Espaces mentaux (Paris 1984); G.D. Nunberg: The Non-

1221 1222
Metrik Metrik

Uniqueness of Semantic Solutions: Polysemy, in: LPh 3 (1979) Füllung hergestellt, hält das metrum sozusagen das
143-184; G. Kleiber: Les nominales (Paris 1994). - 33Faucon- äußere Schema für den R h y t h m u s als Innenleben bereit.
nier [32] 16; N. Nunberg: The Pragmatics of Reference (Indiana Dabei ist - historisch gesehen - für die antike Theorie der
1978). - 34 vgl. Nunberg [32] 148. - 35 zu diesem Begriff Walte-
reit [31] 27. - 36Kleiber [32] 136-159, 151ff. - 37G. Nunberg: ρ υ θ μ ό ς (rhythmós) allgemein jeder durch zeitliches
Transfers of Meaning, in: Journal of Semantics 12 (1995) 109- Regelmaß gegliederte Bewegungsablauf, das μέτρον der
132,113ff.; vgl. Waltereit [31] 29ff. - 38zum folgenden vgl. Kri- an das sprachliche Material gebundene Versrhythmus,
tik des Verf. zu Kleiber [32] in: Zs. f. frz. Sprache u. Lit. 107 während das Mittelalter mit rhythmi akzentuierende
(1997) 235-250. - 39Kleiber [32] 155; dazu Eggs [38] 246ff. - (lateinische und volkssprachliche) Dichtungen im Unter-
40 dazu E. Eggs: Grammaire du discours argumentatif (Paris schied zu den quantitierenden (lateinischen) carmina
1994) 191 ff. - 41 A. Papafragou: On Metonymy, in: UCL wor- metrica, mithin verschiedene Versprinzipien bezeich-
king papers in Linguistics (London 1965) 141-175,153ff. (korr.
Fassung in: Lingua 99 [1966] 169-195, 179ff.); allg. D. Sperber, nete. [6]
D. Wilson: Relevance (Oxford 1986). - 42ebd. 159. - 43s. Eggs II. Rhetorische Aspekte der M. D e n Stilisierungsmög-
[7], Sp. 1177. - 4 4 vgl. Waltereit [31], -45ebd. 22ff„ 116ff, 134ff.lichkeiten dichterischer Sprachform durch das Versmaß
stellt im 5. Jh.v.Chr. der R h e t o r GORGIAS von Leontinoi
E. Eggs eine Prosa gegenüber, deren Rhythmus (bei syntaktisch
einfacherer Textgestalt) durch formale wie inhaltliche
—> Color —» Figurenlehre > Metalepsis —> Metapher -> Proprie - Responsion bestimmter σχήματα (schémata, <Figuren>)
tas / Improprietas -> Synekdoche -> Tropus wie antithetischer Parisosis (Isokolie, Parallelismus),
Alliteration und Homoioteleuton [7] erreicht wurde. Die
Übertragung dieser <gorgianischen Figuren> auf komple-
Metrik (griech. μετρική τέχνη, metriké téchnë; lat. [ars] xere Satzgebilde führt im 4. Jh.v.Chr. namentlich durch
metrica; engl, metrics; frz. métrique; ital. metrica) den R e d n e r THRASYMACHOS von Chalkedon zur Ausbil-
A. Def. -1. Metrum und Rhythmus. - II. Rhet. Aspekte der M. - dung der kunstvollen, nach Kolon und Komma geglie-
B. Hist. Entwicklung. -1. Antike. - II. Mittelalter. - III. Neuzeit. derten Periode [8] und zur Rhythmisierung bestimmter
Α . M. ist die Lehre von den Versmaßen und struktur- ihrer Abschnitte, insbesondere der Kadenz, durch eine
bildenden Gesetzmäßigkeiten der Dichtersprache.fi] festgelegte Abfolge langer und kurzer Silben. [9]
Für die rhetorische Kunstprosa gewinnt die Verslehre In dichterischen Einheiten entspricht der Periode die
insofern Bedeutung, als metrische P h ä n o m e n e hier (bis zu vierzeilige) Strophe, dem Kolon der Einzelvers
bewußt zur klanglichen Untermalung oder Verstärkung und d e m Komma ein durch Zäsur abgetrennter Vers-
des auszudrückenden Gedankens herangezogen werden. teil. [10] Die Abgrenzung formuliert ARISTOTELES: τό δέ
Im System der Rhetorik somit Bestandteile des ornatus σχήμα τής λέξεως δει μήτε εμμετρον elvai μήτε
(Redeschmuck) - hier: in verbis singulis [2] - , sind diese α ρ ρ υ θ μ ο ν [...] ό δέ του σχήματος τής λέξεως άριθμός
in den Arbeitsgängen des Redners als Tugend der elocu- ρ υ θ μ ό ς έστιν, οΰ κ α ί τ ά μέτρα τμήματα· διό ρυθμόν δεί
tio, der sprachlichen Ausformulierung und Stilisierung, εχειν τον λόγον, μέτρον δέ μή· ποίημα γ α ρ εσται. [11]
sowie der actio oder pronuntiatio, d e m Vortrag, zuzuwei- (Die Beschaffenheit des sprachlichen Ausdrucks darf
sen. weder in metrischer Bindung noch im Fehlen des Rhyth-
I. Metrum und Rhythmus. Innerhalb der M. als umfas- mus bestehen [...] Das Zahlsystem für die Beschaffen-
sender Vers- und Strophenlehre bezeichnet μέτρον/ heit des sprachlichen Ausdrucks aber ist der Rhythmus,
metrum in einem weiteren Sinne das Aufbauprinzip des wovon die einzelnen Metra Abschnitte sind. D a h e r muß
Verses nach Quantität oder Akzent, bestehend aus einer die Prosarede einen Rhythmus haben, jedoch kein
regelmäßigen Abfolge von Versfüßen (pedes), in einem Metrum; sonst wird sie nämlich zum Gedicht.). CICERO:
engeren Sinne diese pedes selbst als kleinste strukturge- «Denn auch die Dichter haben die Frage an uns herange-
b e n d e Einheiten poetisch gebundener Sprache. Die tragen, was jenes denn sei, wodurch sie sich selbst von
wichtigsten Gliederungsprinzipien der M. sind das quan- den R e d n e r n unterschieden: zuvor schienen sie das
titierende (nach langen und kurzen) der griechisch-latei- durch Rhythmus [numerus] und Versmaß [versus], nun
nischen M. und das akzentuierende (nach betonten und aber hat sich bei den R e d n e r n ebendieser Rhythmus
unbetonten Silben) der deutschen und englischen M.; das bereits ausgebreitet. D e n n was auch immer unter ein mit
silbenzählende der romanischen Metriken sowie das den O h r e n wahrnehmbares M a ß [aurium mensura] fällt,
akzentzählende Prinzip bilden die rhythmische Gestalt auch wenn es sich vom Vers fernhält - denn das jedenfalls
des Verses durch eine feste Anzahl von Silben überhaupt ist in der Rede ein Fehler - wird <Numerus> genannt, wel-
bzw. betonten Silben. Über die M. hinaus führt die Beob- cher auf Griechisch <Rhythmus> heißt.» [12] Wenngleich
achtung, daß (im Griechischen und Lateinischen) jede man sich also zur Erzeugung des Prosarhythmus (neben
sprachliche Ä u ß e r u n g in «einer irgendwie gearteten der Periodik im Stile eines Isokrates oder Demosthenes)
Abfolge von langen und kurzen Silben» besteht [3], metrischer Strukturen bedient, sind dennoch 'poetisch'
deren kunstgemäße Gestaltung sowohl die ars poetica als klingende Rhythmen wie daktylische oder jambische zu
auch die ars rhetorica zum Gegenstand haben. D e r vermeiden, da diese den gängigen Sprechversen allzu
Unterschied zwischen den beiden artes besteht darin, daß nahe kommen. Empfohlen wird hingegen der Paion.
die poetica die gesamte sprachliche Ä u ß e r u n g in eine Uneinigkeit besteht in der antiken Theorie über die
regelmäßige Abfolge von Versfüßen faßt und damit das Grenzen dessen, was metrisch in der Prosa erwünscht
metrum konstituiert [4], die rhetorica dagegen in einer oder auch nur zulässig sei [13]; eine Rede aber überhaupt
freieren A n o r d n u n g quantitierender oder akzentuierter ohne numeri gilt als «ungebildet und bäurisch» [14],
Silben ihr sprachliches <Rohmaterial> durchgliedert, Neben rhythmuserzeugenden Metren, die in der
besonders aber das Kolon- bzw. Periodenende metrisch Kunstprosa als zu 'versmäßig' verpönt sind, treten in der
fügt (Klausel) und so für den oratorius numerus, den Dichtung auch bestimmte Stilmittel wegen des Vers-
Prosa-Rhythmus sorgt. [5] In der Dichtung wird Rhyth- zwanges häufiger auf als in der Prosa: Dies sind die gram-
mus durch die Spannung zwischen wiederkehrender matischen, insbesondere die syntaktischen Figuren wie
metrischer Festlegung und wechselnder sprachlicher das Hyperbaton [15] (Sperrung) - auch in seiner zur obs-

1223 1224
Metrik Metrik

curitas führenden Häufung als Synchysis [16] oder als und QUINTILIAN.[31] Nach der Stilhöhe der drei Versge-
Tmesis [17] - und die Enallage bzw. Hypallage[ 18] (Be- schlechter weist Cicero das jambische dem genus subtile,
zugsverschiebung) . das paionische dem genus grande und das daktylische
Gerade das Hyperbaton kann zusammen mit der beiden genera zu, und Quintilian bemerkt, daß HOMER
<Sperrungszäsur> der Betonung von Begriffen oder Sach- die Stilarten mit der typischen Redeweise seiner Helden
verhalten dienen [19], mithin rhetorisch eingesetzt wer- verbunden habe [32].
den. Weitere, rhetorischen Absichten entsprechende B. Historische Entwicklung. I. Antike. In der quantitie-
Gestaltungen des Versmaßes - und diese keineswegs nur renden M. der Antike ist der Vers bemessen nach einer
in den ausgesprochenen Redesituationen der Dichtungs- sich in Hebung und Senkung teilenden Abfolge von lan-
gattungen, wie dem Agon in Epos und Drama, der fikti- gen und kurzen Silben. Die wichtigsten Maße [33]: Dak-
ven Rede in der Lyrik, dem Gedicht als 'Ansprache' tylus - υ υ und Anapäst υ υ -; Jambus υ - und Trochäus
etc. [20] - sind beispielsweise das Verhältnis von Vers- - u ; Bakcheus υ — und Kretikus - υ -; Jonikus υ υ —
grenze und Ende eines Satzes oder Gedankens; ihr (a minore) oder - - υ υ (a maiore) [34] und Chorjambus -
Zusammenfallen, in zu dichter Abfolge als spannungs- u υ - [35]; Dochmius υ - - u - [36] und Hypodochmius -
arm und ermüdend empfunden, wird bevorzugt von υ - υ - . Die wechselseitige Ersetzbarkeit von einer
Catull und Lukrez, von Vergil seit der <Aeneis> eher Länge und zwei Kürzen ergibt als weitere Formen Spon-
gemieden [21]; dieser baut, unter dem Einfluß der Prosa deus — und Prokeleusmatikus u u u u , Tribrachys υ υ
Ciceros, als erster römischer Dichter rhythmisch ausge- υ sowie den Molossus ; der Pyrrhichius υ υ ist die
wogene und übersichtliche Perioden [22]. Das Übergrei- Auflösung einer langen Silbe, der Päon - υ υ υ {primus)
fen des grammatischen Satzes über das Versende oder υ υ υ - (posterior) [37] eine Variante des Kretikus.
(Enjambement) trägt zu rhythmischem Gleichmaß bei; Das anapästische, das jambische und trochäische
die Versgrenze gibt dem folgenden Demonstrativum Metrum wird von je zwei Füßen gebildet. Die Hebung
eine Emphase Stellung, erzeugt Spannung durch Tren- liegt auf der exspiratorisch stärker betonten Länge, ihre
nung einer Wortgruppe, wirkt (mitunter sperrend) als Abfolge konstituiert den Versiktus (Taktschlag), die
Symmetrieachse [23]. Häufungen von Längen vermitteln Senkung bezeichnet den unbetonten Teil des Versfußes.
neben einer gewissen Statik auch Gewicht und Bedeu- Die äolischen Maße (benannt nach Sappho und Alkaios
tung: «Álbaníque patrés atque áltae moénia Rómae» von Lesbos in der kleinasiatischen Aiolis) werden nur in
([daher] die Stadtväter von Alba Longa und die Mauern lyrischer Dichtung (Anakreon, Horaz) verwandt; Urmaß
des hochragenden Rom) [24], eine Vielzahl von Kürzen ist der Glykoneus x x - u u - u - , benannt nach (nicht
dynamische Bewegung [25], Ebenso werden auch Aufre- erfunden von [38]) dem alexandrinischen Dichter GLY-
gung, Spannung, Lebendigkeit klanglich abgebildet - KON und bestehend aus der <äolischen Basis>, einem
jeweils mit entsprechender Wirkung auf das Publikum Chorjambus und einem jambischen Fuß. Der Hipponak-
im Sinne des Rhetors: «auditorem benevolum, attentum, teus x x - u u - u - x i s t eine Verlängerung, der Pherekra-
docilem parare» (den Zuhörer wohlwollend, gespannt teus χ χ - υ υ — eine Verkürzung dieser Grundform.
und aufnahmebereit machen) [26]. Die Emphase als eine
Figur 'uneigentlichen Sprechens' verleiht bei gleichzeiti- Neben der stichischen, den Einzelvers wiederholenden
gem Wortabzug der Formulierung inhaltliche Dichte und Anordnung sind das (elegische) Distichon und die Epode
dient der perspicuitas (Deutlichkeit) [27], (Archilochos, Horaz) sowie strophische Systeme aus
gleich oder verschieden gebauten Verszeilen in der Lyrik
Die vorplatonische Musiktheorie (DAMON aus Athen) (asklepiadeische, sapphische und alkäische Strophen)
weist einzelnen Arten von Metra entsprechende Verfas- und in den Gesangspartien des Dramas (Chorlieder) zu
sungen der menschlichen Seele zu. ARISTOTELES unter- unterscheiden. Das Asynarteton umfaßt zwei an sich
scheidet drei Rhythmengeschlechter nach dem (zeitli- selbständige, durch Dihärese getrennte metrische Ein-
chen) Teilungsverhältnis im Versfuß: das heroisch-dak- heiten in einer Zeile (Eupolideus, Priapeus, Elegiambus /
tylische (1:1), das jambisch-trochäische (2:1) sowie das Jambelegus u.a.). Ein weiteres Merkmal des Verses bil-
paionische (l ,5:1) [28] und bewertet diese nach ihrer den Einschnitte als Sprechpausen und Mittel der Gliede-
Ausdrucksqualität·. «Unter den Rhythmen aber ist das rung entweder zwischen Metren (Dihärese) oder inner-
heroische Metrum feierlich, für die Prosaredeweise nicht halb eines Metrons / Fußes (Zäsur), wobei neben Anfang
geeignet und ohne melodischen Tonfall. Das jambische und Ende eines Verses diese Teilungsstelle besondere
dagegen entspricht gerade der Redeweise der Massen. Betonung erhält; die häufigsten Zäsuren sind - als Bei-
Daher bringt man von allen Metren beim Reden vor- spiel im daktylischen Hexameter - die Pent-hemi-meres
nehmlich Jamben zum Ausdruck. Nun soll aber der (nach dem fünften), die Hepht-hemi-meres (nach dem
sprachliche Ausdruck würdevoll sein und sich von der siebten) und die Trit-hemi-meres (nach dem dritten
gewöhnlichen Redeweise entfernen. Der Trochäus ist zu Halbfuß), in bukolischer Dichtung beliebt die Dihärese
sehr nach Art des [der Alten Komödie zugehörigen und nach dem vierten Fuß.
ausserhalb dieser als unsittlich und würdelos geltenden] Der Daktylus ist als Hexa-(scchs)-metron das Vers-
Kordaxtanzes. [29] Das veranschaulichen die Tetrame- maß des Epos, des (epischen) Lehrgedichts (Hesiod;
ter; denn die Tetrameter sind ein schnell dahinrollender Lukrez) und - verbunden mit dem Penta-(füni)-metron -
Rhythmus [...] Es ist aber der Päan ein dritter Rhythmus der Elegie (u.a. Tyrtaios, Solon; Properz, Tibull); er
[...] Die anderen Rhythmen nun muß man [...] wegen gehört nach Aristoteles [39] aufgrund seiner Feierlich-
ihres metrischen Charakters beiseite lassen. Den Päan keit (σεμνότης, semnótes) zur erhabenen Dichtung,
dagegen muß man anwenden; denn von all den genann- ursprünglich zu Hymnen und Preisliedern, sodann zu den
ten Rhythmen entsteht aus ihm allein kein Metrum. Heroendichtungen Homers. Diesen gegenüber stehen
Folglich bleibt er am ehesten unentdeckt.» [30] Rüge-(/nvefcí¿ve) und Spottgedichte in jambischen Ver-
In der lateinischen Redetheorie finden sich diese Vor- sen, so daß Ιαμβιζειν (iambízein) synonym für <verspot-
gaben für die Anwendung von Metren in der Kunstprosa ten> wird. Der dramatische Gehalt des Epos führt zur
sinngemäß wieder, so mit vorsichtiger, gleichwohl grö- Tragödie, das ίαμβεΐον (iambeíon) als Spottvers zur
ßere Freiheiten einräumender Zustimmung bei CICERO Komödie. Der Jambus, welcher auch in der Sprache der

1225 1226
Metrik Metrik

alltäglichen Unterhaltung häufig gebildet wird, dem Umgestaltung der <ambrosianischen Strophe> durch
gewöhnlichen, dem wahren Leben also am nächsten SEDUUUS weist Mitte des 5. Jh. eine Vorstufe des Reims
kommt (Cicero spricht von der similitudo veritatis), löst (in Form der vokalischen Assonanz, also des Anklingens
als Sprechvers (iambischer Tri- [drei]-meter) für die Tra- gleicher Vokale) auf. [45] Dieser ist zunächst eine Neue-
gödie den trochäischen Tetra-[\iei]-meter wegen dessen rung der nachantiken metrischen (daktylischen) Poesie:
Herkunft aus dem Spottlied und seiner Nähe zum Tanz so reimt im - vom Redeschmuck der Kanzleiprosa Papst
ab; dieser verbleibt in der Komödie. Die übrigen Maße LEOS d. Gr. (440-461) hergeleiteten - <leoninischen
finden sich vorwiegend im Singvers. Reim> die Zäsur nach der dritten Hebung des Hexame-
Neben der respondierenden Anordnung von Stro- ters mit dem Versschluß. [46] Als rhetorisches Mittel fin-
phen, insbesondere der triadischen aus Strophe, Anti- det der Reim sich bereits in der klassischen Kunstprosa
(Gegen)Strophe und Epode ('Nachgesang') in der Chor- (in korrespondierenden Satzgliedern: Homoioteleuton),
lyrik [40] (Pindar, Bakchylides), sind Beispiele vorgege- aber auch in den Vershälften des ovidischen Distichon
bener Versschemata für bestimmte dramatische Situatio- oder in der Asklepiadeischen Strophe des Horaz [47],
nen die Zuspitzung des Agons in der Tragödie durch die jedoch nicht als Endreim. Dieser wird, zunächst einsilbig,
Stichomythie, in der Komödie durch das Pnigos: indem sodann von der letzten Hebung an [48], um 870 mit
zum Ende des tragischen Agon die Konfrontation an OTFRIDS von Weissenburg Evangelienharmonie (anstelle
ihren Höhepunkt gelangt, kulminiert diese im affekti- des Stabreims oder Alliterationsverses) in der althoch-
schen Einzel-(auch Halb- oder Doppel-)vers-Stakkato deutschen, seit dem 10. /11. Jh. auch in der mittellateini-
der Kontrahenten; nicht anders übersteigert im epirrhe- schen Dichtung üblich.
matischen Agon der Komödie das Pnigos mit einer Folge Der Gesangescharakter rhythmischer Dichtung im
von Kurzversen, welche dem Sprecher keine Pause zum Mittelalter schafft zwei große, anfangs im religiösen
Atemholen, sein Schmähen in der Erregung 'ersticken' Bereich ausgebildete Formengruppen:
(πνίγειν, pnígein) läßt, zum Abschluß jeweils Rede wie 1) die Sequenz teilt (in freier Stimmführung) das lange
Gegenrede. [41] Melisma über dem Schluß-a des Alleluia der Messe in
Häufig zeigen auch poetische Passagen Strukturen, die Abschnitte, die, je zweimal hintereinander gesungen, mit
der rhetorischen τέχνη entnommen sind: so gestaltet der einem Prosatext als Gedächtnisstütze unterlegt werden:
römische Komiker TERENZ im Jahre 160 v.Chr. die päd- doppeltem Melodieteil entspricht somit zweifach gleich-
agogische Programmrede zu Beginn seiner <Adelphoe> gebauter Textteil (Doppelstrophen); ursprünglich zu
ganz nach den Bauregeln der Redetheorie, wie sie im Beginn und am Schluß, finden sich in den entwickelten
(etwas jüngeren) Handbuch des HERMAGORAS VON TEM- Formen der <Carmina Burana> Einzelstrophen an ver-
NOS niedergelegt waren [42]; die Trugrede des Sinon vor schiedenen Liedstellen. [49] Aus der Zweigliedrigkeit
den Trojanern im zweiten wie das Rededuell zwischen der Sequenz (in Deutschland dichtet NOTKER BALBULUS
Venus und Iuno zu Beginn des zehnten Buches von VER- [9. Jh.] als erster Sequenzen zu Weihnachten und Pfing-
GILS <Aeneis> sind rhetorisch stark ausgebildet, und auch sten) geht der Leich mit strophisch wechselndem Bau
OVID zeigt sich in seiner dem Pythagoras in den Mund und durchkomponierter, nicht wiederholter Melodie
gelegten, popularphilosophischen Suasorie aus dem letz- hervor [50] und mündet Ende des 12. Jh., mit rhythmi-
ten Buch der <Metamorphosen> deutlich unter dem Ein- scher Textgestalt und Reim versehen, in den deutschen
fluß schul- und zunftgemäßer Rhetorik [43], Minnesang [51], insbesondere nachdem die einseitige
II. Mittelalter. Zum Ende des 4. nachchristlichen Jh. Ausrichtung des unstrukturierten Textes an der Melodie
beginnt die lateinische Dichtung, das quantitierende einer originären und eigenständigen Wort- wie Lied-
Prinzip (nach Silbenlängen) durch das akzentuierende zu komposition gewichen ist.
ersetzen, den Vers nicht mehr <metrisch>, sondern 2) Unter den vielgestaltigen rhythmischen Strophenlie-
<rhythmisch> nach Wortakzenten zu bauen; frühestes dern andererseits sind die bekanntesten die <Vaganten-
Beispiel ist AUGUSTINS <Psalmus contra partem Donati>, strophe> aus vier Vagantenzeilen (trochäische endbe-
in der metrischen Theorie wird dies erstmals niederge- tonte vierhebige Siebensilbler plus dreihebige Sechssilb-
l e g t b e i BEDA VENERABILIS ( 6 7 3 - 7 3 5 ) . [44] D e r Z u s a m - ler mit Dihärese nach der 4. Hebung) mit Endreim [52]
menfall der natürlichen Wortbetonung, welche in der sil- sowie die (sechszeilige) <Stabat-mater-Strophe> aus
benmessenden antiken Metrik zugunsten des Versiktus (zweimal gesetzt) zwei akatalektischen und einem kata-
zurücktritt, mit dem Versakzent (schon bei Vergil in der lektischen trochäischen Dimeter [53]. Vielfach gliedert
Kadenz, also den letzten 3^1 Silben eines Verses, einge- Refrain (Kehrreim der Gruppe) den (Einzel-)Gesang
halten) kommt volkssprachlichem Dichten entgegen, oder aber unterstreicht das Anliegen des Dichters. [54]
und die Länge- und Kürze-Zeichen der nunmehr rhyth- Parallel dazu verläuft die Entwicklung einer genuin
mischen Versmaße> stehen nur noch für betonte bzw. deutschen Verslehre: am Beginn steht der Stabreimvers
unbetonte Silben. Trochäische Rhythmen gelten als fal- etwa des altgermanischen <Hildebrandliedes> aus der
lend, jambische als steigend, so daß man je nach Silben- Zeit der Völkerwanderung oder des altsächsischen
zahl eines Verses auch von <steigenden> oder fallenden <Heliand> (zwischen 822 und 840), in welchem der Reim
Achtsilblern> u. dgl. spricht. Gelegentliche Differenzen durch den anlautenden Konsonanten der betonten (nach
zwischen Wort- und Verston werden durch die Melodie den Akzentregeln der germanischen Sprachen der
überspielt. Stamm- bzw. ersten) Silben der Nomina gebildet wird (=
Während spätantike Dichter wie PRUDENTIUS (348- Stab, als Stilfigur in der Rhetorik Alliteration), so daß die
nach 404) und BOETHIUS (480-524) noch dieselben anti- natürliche Betonung der Prosasprache stärker als im
ken lyrischen Systeme wie Horaz und Seneca verwenden, alternierenden (d.h. jambischen oder trochäischen) Vers
wird bestimmend für die geistliche wie weltliche Dich- besonders der romanischen Dichtung gewahrt bleibt. Je
tung des Mittelalters die von dem Kirchenvater AMBRO- zwei Verse ergeben durch Stab der ersten und zweiten
SIUS (Bischof von Mailand seit 374) begründete Hymnen- Haupthebung (im Anvers) mit der dritten (im Abvers)
strophe aus je vier (akatalektischen) jambischen Dime- eine Langzeile, wobei die eher fallende rhythmische
tern, deren acht wiederum den Hymnus bilden. Die Linie durch die Hervorhebung der bedeutungsschweren

1227 1228
Metrik Metrik

Wörter im Stabreim den syntaktischen Zusammenhang Endecasillabo (im Deutschen jambischer Fünfheber).
nachzeichnet. Das Sonett, bestehend aus je zwei Quartetten und Ter-
Der Silbenreim, welcher über den Hymnus zu allge- zetten (Reimschema abba cdc), wird von der Aufklärung
meiner Verbreitung gefunden hatte, wird zum einen gemieden, von den Romantikern zu Beginn des 19. Jh.
nach Art und Zahl der gebundenen Silben unterschieden erneut aufgenommen.
in den rührenden (Gleichklang auch der Konsonanten Im Epos des 18. Jh. wird der Alexandriner vom Hexa-
der reimenden Silbe), den identischen (neben Laut- auch meter, im Drama vom (aus der englischen Dichtung des
Bedeutungsgleichheit), den erweiterten (mehrsilbigen) 16. Jh. kommenden) Blankvers, einem reimlosen jambi-
Reim, den Schüttelreim (Vertauschung der den mehrsil- schen Fünfheber, abgelöst. Überhaupt beginnt die Dich-
bigen Gleichklang einleitenden Konsonanten), den tung, sich vom Reim zu befreien; es kommt im Zuge der
grammatischen (durch verschiedene Formen oder Ab- <Klopstockschen Reform> zu einer Neubelebung antiker
leitungen vom gleichen Wortstamm) oder den gebroche- Versmaße und reimloser Strophenformen (Oden), die
nen Reim (der erste Teil eines Wortes bildet Versende über die Anakreontik des Rokoko (um 1740-1770) mit
und Gleichklang mit dem Ende des folgenden Verses). ihren aus der italienischen Dichtung des 14. Jh. entlehn-
Die Stellung des Reimes innerhalb des Verses ergibt zum ten Madrigalioimcn in die vielfältig variierbaren <Freien
anderen den Binnenreim (bei unmittelbarer Folge der Rhythmen> des lyrischen Sprechverses bei Goethe, HÖL-
gleichklingenden Wörter Schlagreim), den Anfangsreim, DERLIN, NOVALIS, HEINE u.a. ausläuft. [58] Zur gleichen
den Pausenreim (Gleichklang von Anfangs- und End- Zeit werden metrische Formen der Volksliteratur und
wort) sowie den übergehenden Reim (Reimbindung zwi- der altdeutschen Dichtung wiederentdeckt, im Sturm
schen Schlußwort und dem Beginn der neuen Zeile). Der und Drang und beim jungen Goethe aber bereits nach
Endreim schließlich markiert Versgruppen und gliedert entsprechenden Stoffen differenziert. [59]
die vielfältigen Strophenformen (u.a. Nibelungen-, Hil- Wie die Verskunst der Klassik zeichnet sich auch die
debrands-, Kudrun-Strophe) als Paarreim (aa bb cc dd), Romantik (BRENTANO, VON ARNIM, UHLAND, EICHEN-
als Kreuzreim (ab ab cd cd), als Zwischen- oder Schwei- DORFF u.a.) nicht durch originäre Neuschöpfung als viel-
freim (aab ccb) oder als umarmender Reim (abba cddc). mehr durch Experiment und individuelle Nachbildung
Die mittelhochdeutsche Epik des 12. und 13. Jh. (HART- vorhandener metrischer Formen aus. Dem Naturalismus
MANN VON AUE, WOLFRAM VON ESCHENBACH, GOTTFRIED des ausgehenden 19. Jh., der jeden metrischen Form-
VON STRASSBURG) übernimmt unter romanischem Ein- zwang sprengt, steht im Übergang zum 20. Jh. die Form-
fluß (CHRÉTIEN DE TROYES) das Prinzip der Alternation, strenge und -Vielfalt der lyrischen und dramatischen
die Forderung des reinen Reimes sowie die Reimbre- Dichtung GEORGES und HOFMANNSTHALS entgegen; Auf-
chung, bei welcher sich die syntaktische Einheit Satz und lösungserscheinungen wiederum bei RILKE weisen für
die metrische Einheit Verspaar überschneiden; Grund- das 20. Jh. schließlich auf diese beiden Tendenzen dichte-
maß ist der Vierheber. [55] In der Lyrik, welche sich rischer Gestaltung voraus. Wesentlich für die Interpreta-
neben dem Leich in Spruch und Minnesang des 12. bis 14. tion metrisch-rhythmischer Gebilde bleibt gleichwohl -
Jh. zeigt und in die Meistersangstrophe des 15. / 16. Jh. vor dem Hintergrund, daß metrische Formen und Inhalte
führt, tritt neben die metrisch-rhythmische Form der grundsätzlich beliebig miteinander verknüpfbar sind -
Lieddichtung - wie schon in den Strophenformen des das Verhältnis zwischen Metrum als künstlerischer Form
Helden- oder im höfischen Reimpaarepos - als gleichzei- und der Aussageabsicht des Dichters in ihrem geistigen
tig gestaltendes Element, nicht freilich gebunden an wie historischen Kontext, bleibt die Bindung der Form
an einen Inhalt in diesem Sinne ein Problem der Rheto-
einen bestimmten Inhalt, die Melodie.
rik ebenso wie der Poetik.
III. Neuzeit. Im 16. Jh. stehen das alternierende und sil-
benzählende Versprinzip im Meistersang und im stren-
gen Knittelvers (einer Fortsetzung des paarweise gereim- Anmerkungen:
ten Vierhebers des Mittelalters) der Schwänke, Satiren 1 vgl. Sachwtb. der Lit., hg. von G. v. Wilpert ( 7 1989) s.v. <M.>; A.
Binder u.a.: Einf. in M. und Rhet. ( 5 1987); Metzler Lit.-Lex., hg.
und Fastnachtsspiele (HANS SACHS u.a.) mit ihrer eher
von G. u. I. Schweikle ( 2 1990) s.v. <M.>. - 2 vgl. Lausberg Hb. § 540.
monotonen Stilisierung dem akzentuierenden Prinzip im - 3 so Lausberg Hb. §977 mit Quint. IX, 4,61. - 4 vgl. Arist. Rhet.
metrisch variableren Volks- und Gesellschaftslied und 1408b 21; Quint. IX, 4,45f.; Lausberg Hb. §979. - 5 Arist. Rhet.
im freien Knittelvers gegenüber, bis mit M. OPITZ' <Buch 1408 b 29 ρυθμός; Cie. Or. 67; Quint. IX, 4, 54; Lausberg Hb.
von der Deutschen Poeterey> (1624) in der neuhochdeut- §980, Lausberg El. §459. - 6 Arist. Poet. 1447a 21 ff., dazu Fuhr-
schen Versdichtung den natürlichen Betonungsverhält- mann Dicht. 16f. ; vgl. Arist. Rhet. 1408b 28-32; Cie. D e or. III,
nissen der Sprache durch das akzentuierende Prinzip 186; Hephaistion, Περί μέτρων, ed. M. Consbrueh (1906) p. 76,
19ff. u. 83,1 ff; ferner <Versus Rufini ... de compositione et de
entsprochen wird (anfangs vorwiegend in den alternie-
metris oratorum>, in: Rhet. Lat. min., p. 575-584; P. von der
renden Maßen Jambus und Trochäus). Mtthll: Der Rhythmus im antiken Vers (Aarau 1918); U. v. Wila-
In der Dichtung des Barock (Opitz, A. GRYPHIUS, mowitz-Moellendorff: Griech. Verskunst (1921; N D 1975) 26f.;
ANGELUS SILESIUS) setzt sich als Versmaß von Drama Ch. S. Baldwin: Medieval Rhetoric and Poetic (to 1400) (New
und Lyrik der Alexandriner durch (ursprünglich aus der York 1928); E. Vandvik: Rhythmus und Metrum, Akzent und
französischen Alexanderepik des 12. Jh., im Deutschen Iktus (Oslo 1937); H. Drexler: Rhythmus und Metrum, in: Glotta
ein jambischer Sechsheber mit Mitteldihärese nach der 3. 29 (1941) 1-28; A. Schiaffini: Tradizione e poesia nella prosa
d'arte italiana dalla latinità medievale a G. Boccaccio ( R o m
Hebung und einer dem Versbau entsprechenden Nei- 2
1943); A. Dihle s.v. <Prosarhythmus> (Griech.) und J.W. Hal-
gung zu inhaltlicher Antithetik, nach der Reimstellung porn id. (Latein.) in LAW; W. S. Allen: Accent and Rhythm. Pro-
aa bb heroisch, ab ab elegisch) [56], während der Knittel- sodie Features of Latin and Greek (Cambridge 1973); M. van
vers sich in volkstümlichen Formen behauptet, bis er in Raalte: Rhythm and Metre: Towards a Systematic Description of
der 2. Hälfte des 18. Jh. insbesondere durch GOETHE eine Greek Stichic Verse (Assen 1986); D . Norberg: Les vers latins
literarische Renaissance erlebt [57], In der ursprünglich iambiques et trochaïques au moyen âge et leurs répliques rhyth-
italienischen, vor allem durch PETRARCA bekannten Stro- miques (Stockholm 1988); v. Wilpert u. Metzler Lit.-Lex. [1] s.v.
<Rhythmus>; D. Attridge: Poetic Rhythm - an Introd. (Cam-
phenform des Sonetts ersetzt der Alexandriner nun den
bridge 1995) sowie die entspr. Kap. in den Metriken (s. Literatur-
dort - wie in der achtzeiligen Stanze - herkömmlichen

1229 1230
Metrik Mimesis

hinweise). - 7 Arist. Rhet. 1410a 24-b 5; Gorgias, Helena 7 (VS 82, - Die Lieder der Benediktbeurer Hs., nach der krit. Ausg. von A.
Β 11; Radermacher Β VII, 39). - 8 Arist. Rhet. 1409a 2 u. 35ff.; Hilka, O. Schumann u. B. Bischoff [1930-1970], Übers, der lat.
1409b 5f., 8f. (zur περίοδος), 13-32 (zum κώλον); Cie. Or. 211 u. Texte von C. Fischer, der mhd. voti Η. Kuhn, Anm. u. Nachw. von
223 (zu membrum und incisuml κόμμα); Quint. IX, 4,122-130. - G. Bernt (Zürich / München 1974; ND 1979). - 45 Ambrosius,
9Thrasymachos in: Radermacher ΒIX, 14-17. - lOCic. Or. 223; Text 1 (Weihnachtshymnus);Sedulius,Text 4 (Hymnus abeceda-
Quint. IX, 4,125; Lausberg Hb. § 927. - 1 1 Arist. Rhet. 1408b 21 f. / rius) bei Klopsch [44]; Venantius Fortunatus (6. Jh.), Hymnus an
28-31. -12Cie. Or. 66-68 ; vgl. ferner Quint. IX, 4,52-57 u. 72ff. - das Kreuz. -46in gereimten Distichen die beiden Troja-Gedichte
13 Arist. Rhet. 1408b 32-1409a 9 sowie u. [31]; zur Fortführung Carm. Bur. [44] 101 (12. Jh.) u. 102 (Aeneis). - 47 Auct. ad Her.
der Theorie des Prosarhythmus in hellenistisch-röm. Zeit s. Ps.- IV, 28; Cicero, In Catilinam II, 1; Pro Caelio78; Ovid, Ars amandi
Demetr. Eloc. 186-189; Dion. Hal. Comp. c. 11 u. 17f.; Hermog. 1,59 u. 64; II,5 u. 8; III, 235 u. 238; Horaz, Carmina III, 9,18; IV, 5,5
Id. p. 223ff. Rabe. - 1 4 Quint. IX, 4,56; zum rhythm. Satzschluß im u. 11 ; zur Gesch. des Reims s. Norden, Bd. 2,810-908. - 48 Anony-
einzelnen s. P. Dräger: Art. <Klausel>, in: HWRh, Bd. 4 (1998) mus, Pfingstsequenz (Anf. 13. Jh.): Veni, Sancte Spiritus (End-
Sp. 1088-1104. - 15 Auct. ad Her. IV, 44; Quint. VIII, 6, 62-67; silbe betont); Thomas v. Aquin (Í3. Jh.): Lauda, Sion, Salvato-
Homer, Ilias IV, 75; XI, 684; Odyssee XVII, 197; Verg. Aen. VI, rem; Thomas von Celano (13. Jh.): Dies Irae (vorletzte Silbe
137; 862 u.ö.; Lausberg Hb. §§716-718. - 16Quint. VIII, 2, 14 betont). - 49 Carm. Bur. [44] 36 (Grundform), 100 (Dido), 60 (11.
mixtura verborum mit Verg. Aen. 1,109. - 1 7 Homer, Ilias 1,39f.; /12. Jh., mit Drei-u. Vierfachstrophe), 63 (Petrus v. Blois, 12. Jh.;
98; II, 413; Odyssee X, 201; XI, 599f. u.ö.; Ennius, Annales, ed. O. Refrain nach jeder Strophe). - 5 0 Carm. Bur.[44] 26 u. 27 (Philipp
Skutsch (1985) fr. spur. 5; Vergil, Geórgica III, 381. - 18 Vergil, der Kanzler, 13.Jh.); strenger Leich in Carm. Bur. 43 (12. Jh.) u.
Eclogae IX, 46; Aen. 1,7; III, 411; IV, 494; VI, 30; IX, 269f.; XI, 61: Wiederholung einer Folge verschieden gebauter Strophen. -
654; XII, 267; 859 u.ö.; Horaz, Carmina 1,15,19f.; Ovid, Amores 51so Walthers v.d. Vogelweide (12. /13. Jh.) Marien-Leich. -
III, 7,21; dazu Lausberg Hb. §685, 2; zur terminol. Frage sowie 52 Carm. Bur. [44] 191: <Vagantenbeichte> des Archipoeta (um
den versch. Spielarten der Hypallage W. Görler: Beobachtungen 1165) u. 219: <Ordenslied der Vaganten». - 53Text 98, in Klopsch
zu Vergils Syntax, in: Würzburger Jb. f. Altertumswiss., N.F. 8 [44], 13. Jh., Jacopone di Todi (?). - 54Carm. Bur. [44] 1 u. 3 (12.
(1982), hier 76-81. - 1 9 Homer, Ilias 1,69 mit 75; Verg. Aen. II, 3; Jh., Walther v. Châtillon); 180 (11. /12. Jh.), 181 (12. Jh.), 182; 200,
VII, 483; X, 245. - 20z.B. Homer, Ilias I, 122-244; Sophokles, 204f. u.a. - 5 5 z.B. Gottfried (t um 1210), Tristan 12279-12302.-
Antigone 446-525, Electra 516-633; Aristophanes, Nubes 952- 56z.B. Gryphius (1616-1664): Abend; aber auch noch in Goethes
1104; Menander, Epitrepontes 230-362; Catull 29; Horaz, Car- Faust II, 10849-11042. - 57 u. a. in <Hans Sachsens poetischer Sen-
mina I, 15; Sappho, in: Poetarum Lesbiorum fragmenta, ed. E. dung), in Teilen des Ur-Faust, im <West-Östlichen Divan> oder
Lobel, D. Page (Oxford 1955; ND 1968) Frg. 31 mit Catull 51. - den Epigrammen der <Zahmen Xenien>; auch im ersten Teil von
21 Catull 64,1-30; Lukrez 1,1^9; Verg. Aen. 1,1-11;VII, 37-45. - Schillers Wallenstein-Trilogie (<Das Lagen, 1798). -58z.B. Les-
22 dagegen Lukrez VI, 58-66; hierzu im ganzen W. Görler s.v. sing: Die eheliche Liebe; Goethe: Faust 1,2011ff. (<Faustverse>).
<Eneide: 6. La lingua>, in: Enciclopedia Virgiliana, hg. von F. - 5 9 so im Ur-Faust, vgl. [57], zur Diskussion um Gestaltung der
Deila Corte, Bd. 2 (Rom 1985) 274. - 2 3 D. Korzeniewski: Griech. Verszeile und Reimbindung seit dem beginnenden 17. Jh. vgl. A.
M. (1968) 17f. (ausführl. Beispielslg.) und 29 (zum epischen Binder, M. Schluchter, G. Steinberg: Aspekte neuhochdeutscher
Hexameter). - 24Verg. Aen. I, 7; Homer, Ilias I, 1 (dagegen Verse, in: H. Brackert, J. Stückrath (Hg.): Literaturwiss. Ein
Odyssee 1,1), 102,145; XI, 130 (Bittflehen); XXIII, 221 (Trauer); Grundkurs (1992) 101-117.
Odyssee XV, 334 (Last). - 25vgl. Homer, Ilias I, 600 (der keu-
chende Hephaistos) gegenüber VI, 511 oder Odyssee XI, 598 Literaturhinweise:
(Rollen des Sisyphos-Felsens: Dion. Hal. Comp. 20); II. 1,530; XI, Metriken in Auswahl: griech.·. P. Maas: Greek Metre, transi, by
113f.; XXIII, 116; Od. XVII, 529 (die Aufregung Penelopes); H. Lloyd-Jones (Oxford 1962). - Β. Snell: Griech. M. ("1982). -
Quint. IX, 4,83. - 26 Auct. ad Her. 1,11; Cie. Top. 97; Quint. IV, M.L. West: Introd. to Greek Metre (Oxford 1987). -C.M.J. Sik-
1,5. - 27 Quint. VIII, 2,11; 3,83-86; Verg. Aen. II, 262 u. III, 631; king: Griech. Verslehre (1993). - lat.: F. Crusius: Römische M.,
vgl. Lausberg Hb. §§ 578 u. 905. - 2 8 VS 37 Β 9 = Plat. Pol. 400ab; neubearb. von H. Rubenbauer (81992). - H. Drexler: Einf. in die
Arist. Rhet. 1409a 4-6; Quint. IX, 4,46f.-29Cic. Or. 193; Quint. rom. M. (31980). - P. Klopsch: Einf. in die mlat. Verslehre
IX, 4,88. - 30 Arist. Rhet. 1408b 32ff.; Poet. 1449a 21-28. - 31 Cie. (1972). - M.P. Schmude: Materialien zur röm. M. (1994). -1tal.:
Or. 188-196; De or. III, 182f.; Quint. IX, 4, 87-92; vgl. auch Ps.- W.Th. El wert: Ital. M. (21984). - span.: R. Baehr: Span. Vers-
Demetr. Eloc. 38-43; R. Kassel (Hg.): Aristotelis Ars rhetorica lehre auf hist. Grundlage (1962). - frz.: Th. Spoerri: Frz. M.
(1976) p. 162f. - 32 Cie. Or. 196f.; Quint. XII, 10,64f. zu Homer, (1929). - W.Th. Elwert: Frz. M. (41992). - H.G. Coenen: Frz.
Ilias III, 213-15 (Menelaos: subtile), 1,249 (Nestor: medium) und Verslehre (1998). - engl.: M. Kaluza: Engl. M. in hist. Entwick-
III, 221-23 (Odysseus: grande)·, Lausberg Hb. § 1079. -33Cic. Or. lung (1909). - J.Raith: Engl. M. (1962). - E. Standop: Abriß der
215-218; Quint. IX, 4, 79-82. - 34Marius Victorinus (4. Jh.) in: engl. M., mit einer Einf. in die Prosodie der Prosa (1989). - dt.:
Gramm. Lat., Bd. 6, p.42, 20-24 und 89, 17 - 96, 8; Martianus A. Heusler: Dt. Versgesch. mit Einschluß des altengl. und alt-
Capeila (5. Jh.) in: Rhet. Lat. min, p. 477,23 f. - 35 Hephaistion [6] nord. Stabreimverses, 3 Bde. (1925-29). - W. Hoffmann: Altdt.
c. 9; Victorinus [34] p. 47,18-20. - 36 Quint. IX, 4,97. - 37Thra- M. (21981). - S. Beyschlag: Die M. der mhd. Blütezeit in Grund-
symachos [9] Β I X 12f. (Erfinder); Arist. Rhet. 1409a 10-21; Cie. zügen ("1961). - O. Paul, I. Glier: Dt. M. (81970). - H. Blank:
De or. III, 183; Quint. IX, 4,47 und 96. - 38gegen Hephaistion [6] Kleine Verskunde - Einf. in den dt. u. roman. Vers (1990). - Chr.
c. 10,2. - 3 9 Arist. Poet. 1448b 24-1449a 6 u. 20-28; Cie. Or. 191. - Wagenknecht: Dt. M. - eine hist. Einf. (31993). - D. Breuer: Dt.
40 Sophokles, Aias 172-200; Trachiniae 497-530; Electra 472- M. und Versgesch. (31994). - E. Arndt: Dt. Verslehre. Ein Abriß
515; Oedipus Coloneus 1211-1250. - 41Sophokles, Aias 1120- ("1996). - L . L . Albertsen: Neuere dt. M. (21997).
1162, Antigone 726-765; Aristophanes, Vespae 621-630, 719-
724; dazu W. Jens: Die Stichomythie in der frühen griech. Tragö- M.P. Schmude
die (1955); B. Seidensticker: Die St., in: W. Jens (Hg.): Die Bau-
formen der griech. Tragödie (1971) 183-220; Th. Geizer: Der -> Ars poetica -> Cursus -> Dichtkunst —» Gebundene / unge-
epirrhemat. Agon bei Aristophanes (1960). - 42Terenz, Adelp- bundene Rede -> Kadenz —> Klausel —> Licentia —> Lyrik —»
hoe 26-81a, dazu M.P. Schmude: Micios Erziehungsprogramm - Poetik -> Rhythmus
zur rhet. Form von Ter., Adelphoe 1,1, in: Rheinisches Museum
N.F. 133 (1990) 298-310; zu Ad. 855-881 G. Lieberg, in: Grazer
Beiträge 15 (1988) 73-84. - 43 Verg. Aen. II, bes. 77-104; X,
18-95, dazu Görler [22] 275; Ovid, Metamorphosen XV, 75^78. Mimesis (griech. μίμησις, mimesis; lat. imitatio naturae;
dazu der Komm, von F. Börner (1986) 272f. et passim.-44Beda, dt. N a c h a h m u n g der Natur; engl, imitation of nature; frz.
Ars metrica, in: Gramm. Lat., Bd. 7, p.258f.; J. Leonhardt: imitation de la nature; ital. imitazione della n a t u r a )
Dimensio syllabarum. Stud, zur lat. Prosodie- und Verslehre von A. Def. - B. Ästhetik, Poetik. I. Griechische Antike. 1. Vorpla-
der Spätantike bis zur frühen Renaissance [mit einem ausführl. tonische Philosophie, Dichtung. - 2. Piaton, Aristoteles. - II.
Quellenverzeichnis bis zum Jahr 1600] (1989); Lat. Lyrik des MA, Römische Antike, Patristik. - III. Mittelalter. - IV. Humanis-
ausgew., übers.u. komm, von P. Klopsch (1985); Carmina Burana mus, Renaissance. - V. Barock. - VI. Aufklärung. - VII. 19./20.
Jh. - C. Bildende Kunst. - D. Musik.

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Mimesis Mimesis

A. Der griechische Begriff <M.> (μίμησις, mimesis), der Theorien nicht selten in verschränkter Form zu finden.
in der Bedeutung von <Nachahmung der Natur> (imitatio Gleichwohl mag an einer solchen Differenzierung nicht
naturae) in die Rezeption eingegangen ist und hier im nur deutlich werden, daß der Begriff <M.> in der
Unterschied zur Nachahmung literarischer Muster oder Geschichte der Kunsttheorie keineswegs auf <eine>
sittlicher Vorbilder (imitatio auctorum bzw. imitatio durchgängige theoretische Grundlegung rekurriert, son-
morum)[ 1] definiert wird, kennzeichnet eine grundle- dern auch, daß sich erst anhand der je spezifischen Auf-
gende Kategorie abendländischer Kunsttheorie, die in fassung des mimetischen Charakters der Kunst nachvoll-
der geistesgeschichtlichen Entwicklung den Stellenwert ziehen läßt, was theoriegeschichtlich den Gegenstand
eines ästhetischen Paradigmas erhält. Historisch des Streits um Wertschätzung, Verurteilung oder
betrachtet geht die theoretische Fundierung des M.-Kon- Zurückweisung künstlerischer Naturnachahmung aus-
zeptes vor allem auf die Auseinandersetzung in Dich- macht.
tungstheorien, insbesondere unter dem Einfluß der Ari- Die Schwierigkeit, eine eindeutige und umfassende
stotelischen <Poetik>, sowie in rhetorischen Lehrschrif- Definition des Begriffes <M.> zu formulieren, beruht
ten zurück. Die Diskussionen um das Mimesisverständ- nicht zuletzt auf der Vielschichtigkeit von Bedeutungs-
nis im poetologischen Kontext ist wiederum von maß- nuancen, die der griechische Terminus <mimesis> in
geblicher Bedeutung für den weiter gefaßten, kunsttheo- Abhängigkeit von seinem je spezifischen Anwendungs-
retischen Geltungsbereich, d.h. für die Grundlegung von zusammenhang zeigt. Abgeleitet vom griechischen
M.-Theorien in bezug auf Malerei, Plastik oder Musik. μίμος, mimos, womit sowohl der Schauspieler wie die
Angesichts der begriffsgeschichtlich keineswegs dramatische Handlung gekennzeichnet werden kann,
durchgängigen systematischen Verwendungsweise des findet das denominative Verb μιμέϊσΰαι, mimeísthai in
Terminus <M.\ seiner unterschiedlichen Bedeutungs- vorplatonischen Quellen des 5. Jh. in der Bedeutung von
konnotationen sowie der voneinander abweichenden <etwas nachahmen» bzw. <sich etwas ähnlich machen»,
Begründungsansätze einer Theorie der M. erweist sich <nachbilden> oder <darstellen> Verwendung. Wenngleich
eine Begriffsbestimmung als schwierig. Nach wie vor ist die kulturhistorische Herleitung des Mimesisverständ-
die Frage einer adäquaten Übersetzung des griechischen nisses in der Forschung umstritten ist, liegt der Akzent
Begriffs <mimësis> in der Forschungsliteratur umstrit- auf dem Ausdruckscharakter mimetischer Darstellung,
ten. [2] Entsprechend divergent sind die Einschätzungen der sich in Verbindung von Musik, Tanz und dichteri-
der historischen Bedeutungsdimension des Nachah- scher Sprache manifestiert. Hierdurch wird das Ver-
mungsparadigmas in der Geschichte der Dichtungs- bzw. ständnis der Ausdruckskraft und affektstimulierenden
Kunsttheorie. Wirkmacht der Musik in der griechischen Musiktheorie
Im weitesten Sinne definiert steht der Begriff <M.> für maßgeblich geprägt. In Verbindung mit der Ethoslehre
eine Weise künstlerischer Wirklichkeitsauffassung und wird die μουσική, müsiké als Einheit von dichterischer
-darstellung bzw. für einen <mimetischen> Naturbezug Rede, Rhythmik und Melodieführung sowohl bei PLA-
der Kunst, der allerdings nicht schlichtweg auf eine bloß TON wie bei ARISTOTELES als <mimetische> Kunst disku-
abbildliche <Nachahmung> des Sichtbaren zu reduzieren tiert. Als Darstellung oder Nachahmung zum Zwecke
ist, sondern auf ein weitaus komplexer gefaßtes Bedeu- der Affektstimulierung bzw. der sittlichen Erziehung
tungsspektrum verweist. Im Hinblick auf den geistesge- tritt hiermit ein Aspekt künstlerischer Mimese zu Tage,
schichtlichen Bedeutungswandel des M.-Konzeptes im der, in Überschneidung von imitatio naturae und imitatio
Bereich der Kunsttheorie, auf die postulierte Wirk- und morum, wegbereitend für die theoretische Begründung
Mitteilungsfunktion künstlerischer Mimese und auf das dichterischer bzw. rhetorischer M. ist.
der jeweiligen Auffassung zugrundegelegte Erkenntnis- Während M. im vorplatonischen Sprachgebrauch den
modell sei daher zunächst eine, wenn auch vereinfa- Nachahmungs-, Darstellungs- bzw. Ausdruckscharakter
chende, Differenzierung nach zentralen Aspekten vorge- einer Handlung oder Repräsentationsform bezeichnet,
nommen. Es ließen sich demnach als solche Hinsichten ohne auf die <musischen> Künste beschränkt zu sein, tritt
anführen: eine Bestimmung des mimetischen Charakters mit Piaton ein am handwerklichen Tun (τέχνη, téchnë)
der Künste über die Maßgeblichkeit der sinnlich wahr- orientierter Aspekt prinzipieller künstlerischer M. hinzu,
nehmbaren Naturdinge (Nachahmung der sinnfälligen der nachhaltigen Einfluß auf ein verändertes Begriffs-
Natur); die Akzentuierung des künstlerischen Aus- verständnis nimmt, sofern hiermit die Frage nach dem
drucks- oder Darstellungsmodus in produktionsästheti- Verhältnis zum Gegenstand der Nachahmung, nach dem
scher Perspektive; die wirkungsästhetische Betrachtung Wahrheitsgehalt bzw. der Form des Wissens, die das
des intendierten Effektes künstlerischer Wirklichkeits- künstlerisch-mimetische Verhalten begleitet bzw. sich
transformation (Fiktion, Illusion, Simulation, Evokation über die Nachahmung vermittelt, außerordentliches
von Lebendigkeit etc.); ein mimetisches Verhalten der Gewicht erhält.
Kunst, das sich auf eine allgemeine, ideale oder exempla- Neben den kontextgebundenen Bedeutungsvarianten
rische Struktur der erfahrbaren Wirklichkeit bezieht ergeben sich Komplexität und Bedeutungsumfang des
(Nachahmung in dem Möglichen); ein Nachahmungsver- Mimesisverständnisses vor allem aus der korrelativen
ständnis, das sich ausgehend von einer Teilhaberelation Bestimmung des Mimesisbegriffs im Verhältnis zu sei-
auf eine normative, intelligible Natur der sichtbaren phy- nem Bezugsbegriff. Wenn von M. in der Bedeutung von
sischen Welt begründet (Nachahmung einer eidetischen <Nachahmung der Natur> die Rede ist, dann ist nicht nur
Natur); und schließlich ein am Modell <kunstgeleiteten> zu klären, was jeweils unter <Natur> oder <Wirklichkeit>
Herstellens (ποίησις, poiësis) expliziertes Nachah- als dem Gegenstand des mimetischen Verhaltens der
mungsverständnis, d.h. die strukturelle Analogsetzung Kunst zu verstehen ist, sondern gleichermaßen, in wel-
eines natürlichen Entstehensprozesses und des entspre- cher Art dieses Bezugsverhältnis gedacht wird. An dem
chenden Hervorbringungsvorgangs von Artefakten zugrundegelegten Begriff von Natur, also anhand der
(Nachahmung einer prozessualen Genese oder Schöp- Auffassung dessen, worauf sich die künstlerische
fertätigkeit). Die hiermit unterschiedenen Bedeutungs- Mimese bezieht, orientiert sich das Verständnis von M.
hinsichten sind in der historischen Entwicklung von M.- vice versa. Denn gleichermaßen impliziert die jeweilige

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Mimesis Mimesis

Weise eines Naturbezugs der Kunst, sei es im Sinne von handlungen, sitten, art und weise) oder eine sache und
Nachahmung, Darstellung, Vergegenwärtigung etc. ein demgemäsz die nachbildende darstellung sinnlicher oder
spezifisches Naturverständnis. Wegbereitend für die geistiger art sein kann.» (J. u. W. G R I M M ) [3]
rezeptionsgeschichtliche Entwicklung und den Bedeu- Es ist weiterhin kennzeichnend für die geistesge-
tungswandel von M.-Theorien ist insbesondere die Aus- schichtliche Tradierung und Weiterentwicklung der M.-
einandersetzung mit dem mimetischen Charakter der Doktrin, daß nicht nur die unterschiedlichen Aspekte
Künste bzw. die begriffliche Bestimmung künstlerischer der von Aristoteles in den naturphilosophischen Schrif-
Mimese bei Piaton und Aristoteles. ten bzw. in der <Poetik> formulierten Definitionen eine
Die platonische Mimesisauffassung, die über den Verbindung eingehen, sondern ebenso aristotelische und
Begriff der Teilhabe auf die Realisierung einer Idee platonische Theorieansätze miteinander verwoben wer-
bezogen ist, bestimmt in der Rezeptionsgeschichte ein den. Diese Theorieüberlagerungen und dementspre-
Verständnis von Nachahmung im Sinne der Nachschöp- chend voneinander abweichenden Auffassungsweisen
fung eines inneren, geistigen Vorbildes. Eine M.-Theo- des Nachahmungsgedankens zeigen sich bereits in der
rie, die sich auf Piaton beruft, wird daher in erster Linie mittelalterlichen Literatur und prägen die kontrovers
den Gedanken der Orientierung an einer intelligiblen geführten Auseinandersetzungen um den imitativen
<Natur>, d.h. der Darstellung gemäß einer Idee in den Naturbezug der Künste insbesondere in den Poetiken
Vordergrund rücken. und Rhetoriklehren der Renaissance.
Von einem mimetischen Verhältnis der Künste zur Über die Renaissancepoetiken geht die für die
<Natur> ist auch in den naturphilosophischen Schriften gesamte Folgezeit bestimmende formelhafte Wendung
des Aristoteles ausdrücklich im Kontext der Bestim- von der <Kunst als Nachahmung der Natur> in den deut-
mung menschlichen Wissens bzw. wissensgeleiteter Her- schen Sprachraum ein, die in der Dichtungstheorie des
stellungstechniken in Orientierung an der teleologischen 17. und 18. Jh. als maßgebliches kunsttheoretisches Para-
Struktur natürlicher Entstehensvorgänge die Rede. Die digma firmiert. Im Zuge der Aufklärung gewinnt die
künstlerische bzw. dichterische M., die vor allem in der schöpferische Gestaltungskraft des gottähnlichen, mögli-
<Poetik > grundgelegt wird, ist dagegen nach Aristoteles che Welten erzeugenden Dichters an Bedeutung. Die
durch einen Wirklichkeitsbezug gekennzeichnet, der sich Vereinbarkeit von künstlerischer Phantasie, Erfindungs-
nicht auf eine abbildliche Nachahmung der empirischen gabe, subjektiver Ausdruckskraft mit dem Postulat der
Realität reduziert. Vielmehr basiert diese Form der M. Naturnachahmung wird dann im ausgehenden 18. Jh.
auf der Erkenntnis von über die Faktizität des Empiri- zunehmend problematisch und Gegenstand zahlreicher
schen hinausweisenden allgemeinen Realitätsprinzipien. Auseinandersetzungen um den Ähnlichkeits- und Natur-
In der Rezeptionsgeschichte wird das Aristotelische begriff bzw. die Frage einer naturanalogen künstleri-
Mimesisverständnis zum Ansatzpunkt, die dichterische schen Produktivität. So erfährt der Mimesisbegriff im
Phantasie und Gestaltungsfreiheit in Rekurs auf das Kontext der Genie- und Schöpfungsästhetik eine ent-
Mögliche bzw. Wahrscheinliche gegen eine strikt natur- scheidende Umdeutung. An die Stelle eines sinnlich-
getreue Wirklichkeitsdarstellung zu emanzipieren. rezeptiven Wirklichkeits- oder Naturbezugs tritt die
Auf eine veristische oder naturalistische Abbildtheo- Hervorhebung der autonomen künstlerischen Einbil-
rie läßt sich das Verständnis von M. weder vor dem Hin- dungs- und Gestaltungskraft, die schöpferische Ausfor-
tergrund der platonischen noch der aristotelischen mung einer inneren subjektiven Natur und Empfindung.
Grundlegung verkürzen. Für das Verständnis der M.- Nicht zuletzt sind es innerhalb dieser Entwicklung ein
Konzeptionen im Sinne von <Nachahmung der Natur> auf die Präsenz des physisch Sichtbaren reduzierter
bzw. für die Systematisierung historischer Auslegungsar- Naturbegriff wie ein auf die wirklichkeitsgetreue Abbil-
ten ist es daher wichtig, sowohl den zugrundegelegten dung eingeschränkter Imitations- oder Nachahmungsbe-
Natur- oder Wirklichkeitsbegriff zu beachten wie die griff, die zu einer nachhaltigen Diskreditierung künstleri-
jeweils thematisierte Weise einer künstlerischen Bezug- scher Mimese führen.
nahme auf einen Gegenstand, d.h. den Modus mimeti- Mit der endgültigen Abwendung von einem auf die
schen Verhaltens. Hieran scheiden sich in der Rezeption Außenwelt bezogenen Verständnis künstlerischer
und Tradition Ansätze einer eher aristotelisch oder pla- Naturnachahmung in der idealistischen Ästhetik verliert
tonisch fundierten Mimesislehre. Dies gilt gleicherma- die Theorie der M. ihre Rolle als kunsttheoretisches
ßen für die lateinische Übertragung des griechischen Paradigma. Hier setzt eine ästhetische Neuorientierung
Terminus mit der Wendung imitatio naturae bzw. für die ein, die, während die Formel von der <Kunst als Nachah-
Formel ars imitatur naturarti, die sich, geprägt durch die mung der Natur> schal geworden ist, das Verhalten der
lateinische Übersetzung der Aristotelischen <Physik>, als Kunst in Hinblick auf das Verhältnis von Wirklichkeits-
ein Topos in der lateinischen Literatur des Mittelalters und Möglichkeitsbegriff thematisiert und in einem wir-
und der frühen Neuzeit verfolgen läßt. kungsästhetischen Kontext neu begründet, wobei der
Auch der Begriff <Nachahmung>, wenngleich im all- Schein, die künstlerische Fiktion und Illusion von Wirk-
tagssprachlichen Verständnis nicht selten irreführend lichkeit in den Vordergrund treten. Auch im 20. Jh.
und auf ein kopierendes Abbildverhältnis verengt besitzt das mimetische Verhalten der Kunst einen Stel-
gebraucht, ist als Übertragung des griechischen Begriffs lenwert in der ästhetischen Theorie, ohne daß damit eine
mimesis (lat. imitatio) im Z u s a m m e n h a n g m i t d e m V e r - abbildende Wiedergabe der Wirklichkeit impliziert ist.
ständnis von Natur (griech. φύσις, physis, lat. natura) Vielmehr zielt die mimetisch verfahrende Kunst auf
nicht schlichtweg in Einschränkung auf eine veristische Weisen der Wirklichkeitstransformation, -utopie bzw.
Nachbildung definiert. Dem Wortsinn nach ist mit Nach- -transzendierung.
ahmung zunächst einmal die Maßgeblichkeit eines Vor-
bildes bezeichnet. «Die sinnliche bedeutung machvisie- Anmerkungen:
ren, nachmessen> [...] ging über in die abstracte <nach lvgl. den Artikel zum Stichwort <Imitatio>, in: HWRh Bd. 4,
maszgabe, nach einem vorbilde, muster ähnlich darstei- Sp.235 - 303. - 2 vgl. J.H. Petersen: <M.> versus <Nachahmung>.
lem, wobei das vorbild eine person (d.h. deren werke, Die <Poetik> des Aristoteles - nochmals neu gelesen, in: arcadia.

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Mimesis Mimesis

Zs. für Vergleichende Literaturwiss. 27 (1992) 3—46. - 3s. das Merkmale im Vordergrund. Die eingehende Auseinan-
Stichwort <Nachahmung>, in: Grimm Bd. 13, Sp. 17. dersetzung mit dem mimetischen Verhalten der bilden-
den Kunst in den <Memorabilien> Xenophons themati-
Literaturhinweise:
siert die Frage der künstlerischen Wiedergabe von inner-
A . Tumarkin: D i e Überwindung der Mimesislehre in der Kunst-
theorie des 18. Jh., in: H. Maync u.a.: FS S. Singer (1930) 40-55. - seelischen Regungen, Charaktereigenschaften bzw. der
H. Blumenberg: <Nachahmung der Natur>. Zur Vorgesch. der wahren Natur der sichtbaren Dinge in Hinsicht auf ein
Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium Generale 10 geistiges Vorbild. [6] Zusammenfassend betrachtet, steht
(1957) 266-283. - G. Bien: Bemerkung zu Genesis und der Begriff <M.> in der vorplatonischen Verwendungs-
ursprünglicher Funktion des Theorems von der Kunst als Nach- weise für ein Ähnlichkeitsverhältnis in bezug auf ein
ahmung der Natur, in: Bogawus. Forum für Lit., Kunst, Philos. 2 Verhalten oder Handeln [7] bzw. eine lebendige Darstel-
(1964) 26-43. - S.A. J0rgensen: <Nachahmung der Natur>. Ver-
lung typischer Eigenschaften.
fall und Untergang eines ästhetischen Begriffs (Kopenhagen
1969). - G. Gebauer, Chr. Wulf: M. Kultur - Kunst - Ges.
(1998). - J.H. Petersen: M. - Imitatio - Nachahmung. Eine Anmerkungen:
Gesch. der europäischen Poetik (2000). lvgl. H. Koller: Die M. in der Antike. Nachahmung, Darstel-
lung, Ausdruck (1954) 25. - 2vgl. G.F. Else: <Imitation> in the
B.I. Griechische Antike. 1. Vorplatonische Philosophie, fifth Century, in: ClPh 53/2 (1958) 79; vgl. G. Gebauer, Chr.
Wolf: M. Kultur - Kunst - Ges. (1992) 45. - 3 vgl. G. Sörbom: M.
Dichtung. Die frühesten Verwendungsnachweise der and Art. Studies in the Origin and Early Development of an
vom griechischen <mímos> abgeleiteten mimeisthai- Aesthetic Vocabulary (Uppsala 1966) 13, 20, 27, 38. - 4 D e m o -
Wortgruppe im 5. Jh. gehen auf PINDAR wie AISCHYLOS krit D K 68 Β 39; Xenophon, Memorabilien I, Bd. 2,2-3; vgl. Sör-
zurück. Hierauf gründet sich die Deutung H. Kollers, bom [3] 34f. - 5vgl. Stichwort <Imitatio auctorum>, in: H W R h
wonach M. auf den kultischen Hintergrund des rituell- Bd. 4, Sp.239ff. - 6 Xenophon [4] III, 10, 1-8; vgl. Sörbom [3]
orgiastischen Tanzes weist und in frühen Quellen die tän- 78ff. u. 96. - 7 vgl. Demokrit D K 68 Β 154.
zerische Ausdrucksbewegung bezeichnet, mittels derer
der mimos sich dem Göttlichen in Haltung, Gebärde, 2. Platon, Aristoteles. Gekennzeichnet durch das h e r -
Gestik gleichsam anverwandelt, um in rhythmischer vorbringen von Bildern> ist die künstlerische M. bei PLA-
Bewegung, Melodie- und Stimmführung ein göttliches TON als spezifische Form einer Poiesis (ποίησις, poiëG
Geschehen zu vergegenwärtigen. Im Zusammenhang sis) [1] definiert. Die Art und Weise des Ahnlichkeitsver-
mit der Musiktheorie D A M O N S ist M. demnach im Sinne hältnisses und damit des Gegenstands- oder Wahrheits-
von <Darstellung> oder <Ausdruck) zu verstehen. [1] bezugs der <Nachahmungen> steht im Zentrum der kriti-
Diese kulturhistorische Herleitung ist in der Forschung schen Auseinandersetzung mit den mimetischen Kün-
kontrovers dikutiert und revidiert worden. G.F. Else sten. [2] Die durch den Begriff <M.> bezeichnete Ähnlich-
führt die mimos- Wortfamilie auf einen Dramentypus der keitsrelation kann sich bei Piaton auf die leiblich-gesti-
dorischen Tradition zurück und differenziert unter Hin- sche Nachahmung sinnfälliger Phänomene [3], auf die
weis auf die dramatische Aufführungspraxis als Verkörperung einer Person oder Adaption einer Hand-
Ursprungsbereich der Bedeutung von M. zwischen drei lungsweise [4], auf die Darstellung wahrnehmbarer Qua-
grundlegenden Hinsichten: der direkten Repräsentation litäten [5] oder Eigenschaften [6] sowie die sprachliche
(representation) von Aussehen, Handlungen und/oder Repräsentation von Charakteren, Handlungen oder
Außerungsweisen von Menschen oder Tieren in Rede, intelligiblen Gegenständen [7] beziehen. Im <Kratylos>
Gesang und auch Tanz als dramatische oder protodra- kennzeichnet es den mimetischen Charakter der Rede,
matische M.; der nachahmenden Darstellung (imitation) das Wesen (ουσία, üsía) der Dinge in Worte zu fassen. [8]
einer handelnden Person durch eine andere in Hinsicht Im dritten Buch der <Politeia> setzt sich Piaton im Kon-
auf allgemeine Charakteristika (im Unterschied zur phy- text der Diskussion um die sittliche Erziehung in der
sischen Mimikry); und der Nachbildung (replication) Polis mit der charakterbildenden Wirkmacht dichteri-
einer Person, Sache oder eines Bildes über ein materiel- scher Rede (λόγος, lògos) und Darstellungsweise (λέξις,
les Medium. [2] In kritischer Aufnahme dieser Differen- léxis) auseinander. [9] Aufgrund der Gefährdung der
zierung weist der von <mimos> abgeleitete Begriff <M.> Seele durch sittlichkeitsverletzende, die Wahrheit verfäl-
nach G. Sörbom in erster Linie auf eine Handlung (acti- schende dichterische Fiktionen ist darüber zu wachen,
vity of imitating) und steht in Anlehnung an die Darstel- daß sie, vergleichbar einem wirklichkeitsgetreuen
lungsweise des traditionellen Mimen für Formen der Gemälde, das Gute in angemessener Form zur Sprache
lebendigen Repräsentation typischer Eigenschaften bringen. [10] Verfehlt die dichterische Erzählung diese
eines Phänomens oder die Auswahl charakteristischer sittlich normative, nicht-narrative Wahrheit [11], zeugt
Qualitäten. [3] Wenngleich die mimeisthai-Wortgruppe dies von einer schlechten Gesinnung des Dichters, denn
( b e i AISCHYLOS, EURIPIDES, ARISTOPHANES, H E R O D O T , die Reden sind gleichsam bildlicher Ausdruck (ε'ίδωλον,
THUKYDIDES bis hin zu X E N O P H O N ) vornehmlich im eidolon) und Darstellungen (μίμημα, mimëma) einer
außerästhetischen Kontext Anwendung findet, zeichnet seelischen Verfassung. [12] Gleichzeitig besteht die
sich als gemeinsame Grundbedeutung eine eigenschafts- Ambivalenz einer jeden <Nachahmung> für Piaton darin,
bezogene, verlebendigende Verähnlichung in Hinsicht daß sie Gewohnheit werden und in die Natur des Nach-
auf das Typische eines Vorbildes ab. So weist mimeisthai ahmenden übergehen kann, sei es als körperliche, sei es
bei DEMOKRIT auf die Assimilation tugendhafter Charak- als geistige Assimilation. [13] Eingebettet in die Ethos-
tere («Man muß entweder gut sein oder einen Guten lehre ist es die Aufgabe der Dichtung, das Bild eines
nachahmen.») oder kennzeichnet bei Xenophon das guten Charakters (ήθος, ëthos) im Medium der Sprache
Nacheifern in bezug auf ein sittliches Vorbild. [4] Im hervorzubringen. [14] M. steht im Kontext der Erziehung
Sinne einer vorbildorientierten Rede ist der früheste in direkter Verbindung mit einem sittlichen Handeln
Beleg in der rhetorischen Tradition bei ISOKRATES ZU fin- (πράξις, präxis): «sich ähnlich zu machen in Reden oder
den. [5] In den ausdrücklich auf die künstlerische Dar- Taten». [15]
stellungspraxis Bezug nehmenden Quellen steht die Piatons Zurückweisung einer ausschließlich mime-
Wiedergabe typischer Charakterzüge oder allgemeiner tisch verfahrenden Dichtung [16] (Tragödie / Komödie)

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Mimesis Mimesis

steht nicht nur im Zusammenhang mit der betonten iden- lichkeits- bzw. Wahrheitsbezug. [27] Die trugbildneri-
tifikativen Wirkung der Rede, sondern weist bereits auf sche Kunst (φανταστική, phantastiké) der Rhetoren
ein metaphysisches Verständnis von M. Die Forderung aber ist eine auf unsicheres Meinen gestützte Doxomi-
nach wahrheitsgemäßer Darstellung eines nachah- metik (δόξομιμητική, dôxomimëtiké). Unhintergehbare
mungswürdigen Vorbilds verbindet sich mit einem epi- Voraussetzung der adäquaten sprachlichen Präsentation
stemischen Konzept, wonach ein ausweisbares Wissen ethischer Prinzipien ist nach Piaton eine ausweisbare
allein durch die Teilhabe an einer Idee gewährleistet ist. Kenntnis (επιστήμη, epistémë). [28]
Ein Dichter oder Rhetor, der ohne Berücksichtigung In Verbindung mit der Methexislehre etabliert Piaton
des sittlich Schönen beliebige Charaktere nachbildet, einen Ansatz, der als Konzept einer Ideenmimese gefaßt
zielt, so der Vorwurf Piatons, mit äußerem Blendwerk werden kann. Im kosmologischen Mythos <Timaios> bil-
auf die Affektion der Leidenschaften. Desorientierung det der göttliche Demiurg das sichtbare Weltall im Blick
und Fehlleitung der Seelen der Hörenden sind die auf die paradigmatischen Ideen als ein bewegliches
Folge. [17] Auch in der Musik sind Harmonie und Rhyth- Abbild der Ewigkeit gemäß dem Vorbild der ewigen
mus als Ausdrucksformen einer Lebensweise (βίου μιμή- Natur. Das sichtbare All ist dem noetischen Kosmos so
ματα, bíü mimémata) [18] auf Wohlgemessenheit und weit als möglich ähnlich gestaltet in «Hinsicht auf die
Wohlklang zu verpflichten, um, der Rede folgend, einen Nachahmung seiner ewigen Natur» [29]. Diese Art von
besonnenen Charakter zur Darstellung zu bringen. <Naturnachahmung> - im Unterschied zur kritisierten
Im Buch X der <Politeia> schlägt Piaton hinsichtlich Mimese der sichtbaren Phänomene - führt auf einen
des Gehalts, der Darstellungsweise und der Wirkung der eidetischen Naturbegriff. Gemeint ist das Teilhabever-
Dichtung schärfere Töne an. Diese Kritik prägt später hältnis, das zwischen den vorbildlichen ewigen Ideen
die geistesgeschichtliche Auseinandersetzung um die (παραδείγματος είδος, paradeígmatos eidos) und dem
künstlerische M. nachhaltig. Dargelegt am Modell hand- abbildlichen Kosmos (μίμημα παραδείγματος, mimëma
werklichen Herstellens bestimmt Piaton das wissensge- paradeígmatos) besteht. [30] Die Kunsttätigkeit des
leitete Hervorbringen von Artefakten über die Ausrich- Demiurgen steht gleichsam prototypisch für eine ideen-
tung des Verfertigenden an einer Idee (είδος, eidos) oder bezogene Hervorbringungstechnik, die im Platonischen
einem begrifflichen Wissen. Hiervon ausgehend werden Mythos ihre Fortsetzung in einer «Imitation zweiter Ord-
die Produkte künstlerischer M. an ihrem Ideenbezug nung», der vorbildbezogenen Weiterführung der göttli-
gemessen und sowohl, was ihren ontischen wie epistemi- chen Schöpfertätigkeit und -kraft findet. [31] Das Plato-
schen Status angeht, verurteilt. Während Gott als nische Modell einer ideenbezogenen Poiesis ist wegbe-
Wesensbildner (φυτουργός, phyturgós) die eidetische reitend für den kunsttheoretischen Mimesisbegriff bzw.
Natur eines jeden wahrhaft Seienden hervorbringt, fer- dessen platonistische Auslegung im Sinne künstlerischer
tigt ein Handwerker (δημιουργός, demiurgos) seine Ideenmimese, und es birgt den Ansatz einer Analogset-
Werkstücke im Blick auf eine unveränderliche Idee, zung künstlerischer und göttlicher Schöpfertätigkeit.
wohingegen Maler (oder Dichter) als Nachahmer Bei ARISTOTELES kennzeichnet M. in genereller Hin-
(μιμητής, mimëtés) die je schon abbildlichen Artefakte sicht den imitativen Naturbezug einer Kunst (τέχνη,
nachbilden und hierbei lediglich einen aspektiven téchnë), d.h. die strukturelle Analogie zwischen natürli-
Widerschein, eine <Erscheinungsweise> darstellen. Somit chen, auf die Verwirklichung eines Werdeziels ausge-
um das Dreifache von der Wahrheit abstehend [19] sind richteten Entstehenssprozessen und <technischen> Her-
die Werke der mimetischen Maler wie Dichter bloß stellungsvorgängen oder nutzenorientierten Handlun-
äußerliche Abspiegelung vielfältigster Erscheinungswei- gen. Diese Auffassung einer das natürliche Werden imi-
sen, d.h. nichts als trügerische Phantasmen. [20] Der tierenden Technik läßt sich auf Demokrit wie die medizi-
Anspruch eines ideenbezogenen Wissens oder zumin- nische Schrift <De victu> zurückverfolgen. [32] Vor dem
dest richtigen Meinens als Bedingung einer jeden Kunst Hintergrund der Kritik an der Platonischen Ideen-
(τέχνη, téchnë) liefert die argumentative Basis, den lehre [33] tritt bei Aristoteles die Natur (φύσις, physis)
mimetischen Künsten eine der Einsicht entbehrende als Ursache der Entwicklung und des Werdens an die
Trugbildnerei vorzuwerfen. Denn dann sind die «Dichter Stelle des Platonischen Demiurgen. [34] Bei physischen
nur Nachbildner von Schattenbildern der Tugend», ohne Entstehensvorgängen ist es die ursächliche Natur, auf-
die Wahrheit zu berühren, vergleichbar einem Maler mit grund derer sich eine Form in einem materiellen Substrat
Worten, der «Farben gleichsam von jeglicher Kunst in zu einer immanent bereits angelegten Gestalt entfaltet,
Wörtern und Namen auftrage, ohne daß er etwas ver- d.h. ihr natürliches Telos erreicht. [35] Aristoteles expli-
stände als eben nachzubilden». [21] Piaton verurteilt die ziert die Finalität von Naturprozessen an der Zielgerich-
Nachbildnerei (μιμητική, mimëtike) aufgrund ihrer tetheit technischen Herstellens. [36] Ein Technit oder
Wahrheitsferne. [22] Der Täuschungscharakter der Handwerker, der einem Stoff die Form (μορφή, morphë)
Malerei steht vielerorts prototypisch für die durch ihre verleiht und damit einen Gegenstand hervorbringt, trägt
Affektstimulanz verführenden Wortgemälde der Dich- die intendierte Gestalt (είδος, eidos) des zu Verfertigen-
ter und Rhetoren bzw. den problematisierten Wahrheits- den bereits in seiner Seele. [37] Die menschliche Kunst
bezug sprachlicher Darstellungen. [23] Als poietische ahmt die teleologische Struktur natürlichen Werdens
Kunst, die suggeriert, schlichtweg «alles machen zu kön- nach, indem sie Vorgänge der Natur, die auf einer natur-
nen» [24], ist Malerei eine Art von Spielerei, die Täu- immanenten Vernunft (λόγος, lògos) basieren, weiter-
schungen vor Augen stellt. [25] In Parallelführung mit führt oder erst zur Vollendung bringt. [38] Nach Aristo-
der malerischen M. entlarvt Piaton im <Sophistes> das teles liegt in der Natur des Menschen, seiner naturgege-
Scheinwissen der Rhetoren, deren Reden nicht auf einer benen Vernunftfähigkeit, die noetische Voraussetzung
Kenntnis um die Dinge selbst beruhen, sondern die technischen Handelns, die im Akt der Herstellung
mit gesprochenen Bildern (είδωλα λεγόμενα, eidöla (poiësis) realisiert wird. [39] Mit der in der <Physik> gege-
legómena) und rhetorischen Phantasmen operieren. [26] benen Bestimmung, wonach die Kunst die Natur nach-
Beurteilungskriterium der bilderzeugenden (είδωλοποι- ahmt [40], prägt Aristoteles eine Formulierung, die noch
ική , eidôlopoiiké) oder mimetischen Kunst ist der Wirk- vor dem Bekanntwerden der <Poetik> gleichsam als

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Mimesis Mimesis

Topos («ars imitatur naturam») in die Aristotelesrezep- vollen [49] erzeugt eine kathartische Wirkung, d.h. führt
tion des lateinischen Abendlandes eingeht. über die emotional affizierende Darstellung zur Läute-
Die Dichtkunst (ποιητική, poiëtiké) als künstlerische rung.
M. im engen Sinne geht nach Aristoteles auf eine dem Diese erzieherisch-sittliche Funktion künstlerischer
Menschen eigene, natürliche Veranlagung zur Nachah- M. betont Aristoteles in Anknüpfung an die Platonische
mung (mimeisthai) zurück. Im Unterschied zu anderen Ethoslehre in der <Politik> am Beispiel der Musik, die in
Lebewesen ist der Mensch besonders zur Nachahmung Rhythmus und Melodie Charaktereigenschaften oder
befähigt, erwirbt durch die Freude an der Nachahmung Leidenschaften so auszudrücken vermag, daß eine Dar-
seine Kenntnisse. [41] Künstlerische M., speziell die von stellung (mimesis), sofern sie der wahren Natur ähnlich
Aristoteles ins Zentrum gerückte Dichtkunst, bringt ist [50], den Hörenden unmittelbar in eine entsprechende
Charaktere (ήθος, éthos), Leiden (πάθος, pàthos) und Seelenverfassung versetzt. M. ist zweckgerichtet, dient
Handlungen (πράξις, práxis) zur Darstellung, wobei sich der Charakterbildung, erzeugt eine kathartische Wir-
die Gattungen nach dem Darstellungsmedium (Vers, kung und verhilft über die Freude am Genuß zur rechten
Rhythmus, Melodie), dem Gegenstand (Charaktertypus Lebensführung. [51] In der <Rhetorik> betont Aristoteles
eines handelnden Menschen) oder der Art und Weise außerdem den von Staunen begleiteten Lerneffekt, der
der Darstellung (Bericht, Epos, Drama) unterschei- von Werken der nachahmenden Künste (Malerei, Bild-
den. [42] Aristoteles, der in der <Poetik> in erster Linie hauerei, Dichtung) ausgeht, eine Lernfreudigkeit, die
eine Tragödientheorie entwickelt, etabliert die M. als durch das Wiedererkennen des nachgebildeten Gegen-
spezifische Qualität der Dichtung. Die Tragödie ist M. standes ausgelöst wird. [52]
«einer guten und in sich geschlossenen Handlung von
bestimmter Größe, in anziehend geformter Spra- Anmerkungen:
c h e » . ^ ] Die Darstellung einer Handlung (μίμησις 1 Piaton, Symposion 205b-c; Sophistes 265b; Plat. Pol. 599a u.
πράξεως, mimesis práxeos) oder Lebenswirklichkeit 6 0 1 b . - 2 G . Sörbom: M. and Art. Studies in the Origin and Early
(μίμησις βίου, mimesis bíü) im Mythos bzw. der Fabel ist Development of an Aesthetic Vocabulary (Uppsala 1966) 103ff.
das Fundament der dramatischen Dichtung. [44] Ziel die- - 3 Platon, Kratylos 423a-b.-4ders., Hippias maior 287a u. 292c.
ser dichterischen M. ist eine Weise der Geschehnisver- - 5ders., Leges 668a-b; Pol. 400df., Kratylos 423d. - 6ders., Pro-
kettung, die unter Berücksichtigung der handelnden tagoras 342b; Plat. Politikos 306d. - 7 Plat. Politikos 300c4. -
8ders., Kratylos 423e, 424b u. 431d. - 9Plat. Pol. 392c. - lOebd.
Charaktere und ihrer Erkenntnisfähigkeit eine in sich 377e. - U S . Halliwell: The <Republics>. Two Critiques of Poe-
schlüssige Handlungsstruktur darstellt. Der Wirklich- try, in: O. Höffe: Platon. Politela (1997) 319. - 1 2 Plat. Pol. 382b.
keitsbezug der Dichtung besteht nicht in der Nachah- - 13ebd. 395cff. - 14ebd. 401b. - 15ebd. 396a.; Platon, Leges
mung konkreter historischer Personen und Sachverhalte, 668c. - 1 6 Plat. Pol. 392dff. - 17 ebd. 397d-398b u. Platon, Leges
ist keiner detailgetreuen Historiographie des Geschehe- 668bff. - 1 8 P l a t . Pol. 400a, vgl. ebd. 401a. - 19ebd. 597e u. 599a.
nen im Besonderen verpflichtet. M. stellt eine Handlung - 20 ebd. 598b. - 21 ebd. 600e-f. - 22 ebd. 603a-b. - 23 ebd. 472d,
dar, deren Einheit, Folgerichtigkeit und Glaubwürdig- 484c-d, 500-501C, Platon, Kratylos 425a. - 24ders., Sophistes
keit auf allgemeinen, kausalen Prinzipien wirklichen 233d; Plat. Pol. 596c-d. - 2 5 d e r s . , Sophistes. 234b; vgl. Pol. 602b.
Geschehens beruht. Die dichterische M. repräsentiert - 26 ebd. 234cff. - 27 ebd. 236cff. - 28 ebd. 267bff. - 29 Platon,
eine fiktive Wirklichkeit nach Plausibilitätskriterien, d.h. Timaios 39e; vgl. 37dff. - 3 0 e b d . 48e5ff. - 31H.G. Zekl: Einl., in:
Platon, Timaios, hg. u. übers, von dems. (1992) XXXVII; Platon,
stellt ein <mögliches> Geschehen nach den Regeln der
Timaios 41c; 42e. - 32Demokrit, D K 68 Β 154; Corpus Hippo-
Wahrscheinlichkeit (εικός, eikós) oder Notwendigkeit craticum, De victu 1,2ff. - 3 3 Aristoteles, Metaphysik 991blff. -
(άναγκαΐον, anankaíon) dar. [45] Dichterische Fiktion 34 Aristoteles, De generatione animalium 731a 24, De partibus
erhält damit gerade in Abweichung von empirischer Fak- animalium 645a 9,654b32; D e incessu animalium 711al7. - 3 5 A-
tizität eine Legitimation, sofern sie vergleichbar der phi- ristóteles, Protreptikos B l l . - 36F. Solmsen: Nature as a Crafts-
losophischen Erkenntnis auf allgemeine Prinzipien man in Greek Thought, in: ders., Kl. Schriften I (1968) 344f. -
rekurriert. Das Kriterium der Wahrscheinlichkeit oder 37 Aristoteles, Metaphysik 1032a32. - 38ders., Physik 199al5-
eines in sich schlüssigen Kausalzusammenhangs einer 20 u. 199b28ff.; Protreptikos B13, B14, B23, B47-B50. - 39vgl.
dargestellten Ereignisfolge wie das Kriterium der Not- H. Schneider: Das griech. Technikverständnis. Von den Epen
Homers bis zu den Anfängen der technologischen Fachlit.
wendigkeit bzw. unveränderlichen Regularität oder (1989) 188ff. - 40 Aristoteles, Physik 194a21f.; Meteorologica
Wirklichkeitsstruktur garantieren die spezifische Wahr- 381b6f. - 41 Arist. Poet. 4, 1448b5ff. - 42ebd. 1447al3ff. -
heit dichterischer M. und eröffnen eine Möglichkeitsdi- 43 ebd. 1449b24f.-44ebd. 1 4 5 0 a l 6 f . - 4 5 e b d . 1451a 3 6 f f . - 4 6 S .
mension. [46] Halliwell: The Poetics of Aristotle, Translation and Commen-
tary (London 1987) 109. - 47ders. 72. - 48 Arist. Poet. 1454b8ff.
Dichtungs- wie Rhetoriklehren der Folgezeit werden - 49 ebd. 1449b25ff.; 1452alff.; 1453a30ff. - 50 Arist. Pol.
durch den bei Aristoteles angelegten, wirkungspoetisch 1 3 4 0 a l 5 ^ 0 . - 51ebd. 1341b36-1342al. - 52Arist. Rhet.
begründeten Spielraum künstlerischer Invention, Imagi- 1371 b5 ff.; Arist. Poet. 4.1448b8ff.
nation und Wirklichkeitsillusion maßgeblich bestimmt.
Gegen Piaton ist Dichtung keine Vortäuschung, sondern Literaturhinweise:
G. Finsler: Platon und die aristotelische Poetik (1900). - E.
ausdrücklich fiktionale Ausgestaltung eines im Sinne des Stemplinger: M. im philos, und rhet. Sinne, in: Neue Jb. für das
<Möglichen> wirklich wirkenden, aber nicht tatsächlichen klass. Altertum, Gesch. und Dt. Lit. und für Pädagogik, Jg. 16
Geschehens. In ihrer exemplarischen Qualität ist die (1913) 20-36. - W. J. Verdenius: M. Plato's Doctrine of Artistic
dichterische M. der Tragödie ein Medium der morali- Imitation and its Meaning to us (Leiden 1949). - J.L. Dotts: Ari-
schen Belehrung wie der Erkenntnisförderung. [47] Wie stotle. On the Art of Fiction (Cambridge 1953). - P. Moraux: La
ein guter Porträtmaler [48], der einen Charakter ähnlich <mimesis> dans les théories anciennes de la danse, de la musique
und zugleich idealisierend darstellt, bringt die Tragödie et de la poesie. A propos d'un ouvrage récent, in: Les Études
Charaktertypen bzw. entsprechende Handlungsgefüge Classiques 23 (1955) 3-13. - W. Tatarkiewicz: Gesch. der Ästhe-
zur Darstellung, die in ihrem Modellcharakter die Identi- tik I, Die Ästhetik der Antike (1979). - G.F. Else: Plato and Ari-
stotle on Poetry, hg. v. P. Burian (Chapel Hill / London 1986). -
fikationsmöglichkeit des Rezipienten gewährleisten. Der V. Gray: M. in Greek Historical Theory, in: A J Ph. 108/3 (1987)
Eindruck des Lebenswirklichen der Handlung in Verbin- 467-486. - M. Kardaun: Der Mimesisbegriff in der griech.
dung mit der M. des Schaudererregenden und Jammer- Antike. Neubetrachtung eines umstrittenen Begriffes als

1241 1242
Mimesis Mimesis

Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunst- omni re vincit imitationem veritas»), doch weil die
auffassung (Amsterdam 1993). - P. Murray (Hg.): Plato on Poe- Gemütsbewegung, die der Vortrag (actio) auszudrücken
try (Cambridge 1996). und nachzuahmen hat («declaranda aut imitanda»), sich
nur verworren und verdeckt zeigt, ist es Aufgabe des
II. Römische Antike, Patristik. In der ältesten erhalte- Redners, den Charakteristika einer Gemütsregung in
nen römischen Rhetorik, der <Rhetorica ad Herennium>, Miene, Tonfall und Gebärde mittels der Kunst zum deut-
greift der anonyme Autor den Topos der naturnachah- lichen Ausdruck zu verhelfen. [10]
menden Kunst auf: «Imitetur ars igitur naturam, et, quod Nach H O R A Z ' <Ars Poetica>, die in der abendländi-
ea desiderai, inveniat, quod ostendit, sequatur.»[l] Die schen Tradition als Weiterführung der M.-Theorie der
Kunst ahmt die Natur nach, indem sie herausfindet, Aristotelischen <Poetik> und zugleich als rhetorische Stil-
wonach sich diese sehnt, um dem, was die Natur zeigt, zu lehre rezipiert wird, sind die Dichtkunst wie die Malerei
folgen. Der nicht zuletzt stoisch geprägte Naturbegriff entsprechend dem berühmten Diktum «ut pictura poe-
steht hier für die Naturanlage oder natürliche Begabung sis» [11] in ihren Erfindungen sowohl auf das sittlich
(iingenium), die durch Unterweisung (doctrina) zu schu- Angemessene, eine klare Ordnung wie eine der Vernunft
len ist. Die Kunst stärkt und vermehrt die Vorteile der bzw. der Erfahrung nicht widersprechende Darstellung
Natur («ars porro naturae commoda confirmât et verpflichtet. Der kundige Nachahmer («imitator doc-
äuget»). [2] Dies gilt besonders für die Ausbildung des tus») [12] wählt einen vorbildlichen Charakter oder ein
Rhetors. In der rhetorischen Gedächtniskunst (Mnemo- beispielhaftes Leben («exemplar vitae morumque»), um
technik) heißt es, das natürliche Gedächtnisvermögen mit der Dichtung zu nutzen oder zu erfreuen («aut pro-
(memoria naturalis) durch die Kunst auszubilden und desse volunt aut delectare poetae»), [13] Auch für Horaz
gleichzeitig die künstliche Memorierung (artificiosa ist es unabdingbar, eine natürliche Fähigkeit durch
memoria) an der Natur zu orientieren. [3] Weil sich methodische Schulung zu fördern. [14] Voraussetzung,
naturgemäß außergewöhnliche oder neuartige Ereig- um mit der dichterischen Rede fesselnde Wirkkraft und
nisse stark einprägen, wählt der Rhetor Bilder (imagines) damit eine psychagogische Qualität zu entfalten, ist der
von einer Wirkkraft, die einen Sachverhalt lebhaft in authentische Ausdruck einer innerseelischen Verfas-
Erinnerung treten lassen. sung. [15]
Bei CICERO wird der imitative Naturbezug in genereller Für QUINTILIAN zeichnet es den Schmuck (ornatus) der
Hinsicht im Kontext des sittlich Schicklichen (decorum) Rede (narratio) aus, eine Anschaulichkeit (ενάργεια,
diskutiert, das sich im Handeln, in den Worten, in Kör- enárgeia; evidentia) zu entfalten, die einen Gegenstand
perhaltung und Bewegung in Schönheit (formositas), über die Einsichtigkeit (perspicuitas) und das Wahr-
Ordnung (ordo) und Schmuck (ornatus) zeigt. Um des scheinliche (probabilis) hinaus in einer Weise vergegen-
Anstandes willen gilt es der Natur, die diese Kritierien wärtigt, daß er gleichsam greifbar vor dem geistigen
allerorten berücksichtigt, zu folgen. («Hanc naturae tam Auge des Hörers steht. [16] Die Wirkung wird in der
diligentem fabricam imitata est hominum verecun- sprachlichen Darstellung erreicht, wenn die Dinge wahr-
dia.» [4] In Orientierung an der Gesamtnatur («natura scheinlich wirken («si fuerint veri similia»), wobei nichts
universa») ist zunächst einmal die je eigene Natur, nicht hindert, Falsches zu erfinden («licebit etiam falso adfin-
die Nachahmung anderer, der Maßstab und die Regel gere»), sofern es der Erfahrung nicht widerspricht. [17]
jeglichen Studiums. [5] Diese lehrende Natur («natura Um diese höchste Kraft der Rede zu erlangen, gilt es die
docens») mit den Verstandesgaben <nachahmend> («imi- Natur ins Auge zu fassen, ihr Folge zu leisten, («naturam
tata ratio»), d.h. seine individuellen Naturanlagen ausbil- intuemur, hanc sequamur»), d.h. die je eigene Natur
dend, erwirbt der Mensch seine unzähligen Künste und belehrt über die Mittel einer identifikativen Wirkkraft
lebensnotwendigen Fertigkeiten bzw. erlangt die Tugend sprachlichen Ausdrucks. [18] Wie bei Cicero geht es nicht
als zur Vollkommenheit geführte Natur («perfecta et ad um eine tatsachengetreu abbildende, sondern um eine
summum perducta natura»). [6] Die Ausbildung der indi- lebensecht wirkende und damit bewegende Darstel-
viduellen Anlagen steht im Kontext der Rhetorik nicht lungsqualität der Rede.
im Widerspruch zur Nachahmung von literarischen Vor- Als ein bedeutender Vertreter der späten Stoa greift
bildern (imitatio auctorum), sondern wird durch diese SENECA D. J. in Auseinandersetzung mit der Platonischen
unterstützt. Hinsichtlich der Ausbildung des vollkomme- wie Aristotelischen Ursachenlehre den Topos einer
nen Rhetors, der sich als orator sapiens durch eine umfas- Analogie von Naturprozessen und künstlerischen Her-
sende philosophische Bildung auszeichnet, betont Cicero vorbringungsvorgängen auf und entfaltet ihn vor dem
die Entfaltung der je spezifischen Naturgaben. So ist etwa Hintergrund der stoischen Naturphilosophie. Der
bei der Schulung der Stimmführung, die zum Bereich der Gedanke der <Naturnachahmung> steht einerseits im
Körpersprache («quasi corporis quaedam eloquentia») Zusammenhang mit der sittlichen Ausbildung des Men-
gehört und eine wesentliche Bedingung wirkungsvoller schen. Die höchste Tugendhaftigkeit oder Vernunft
Redekunst ist, der Natur zu folgen, die der Kunst die besteht in Übereinstimmung mit der Vernunftordnung
Regeln einer angemessenen Akzentuierung und des der Natur («naturae imitatio»). [19] Andererseits ist die
erfreuenden Wohlklangs vorgibt. [7] Die wirkungsvolle Natur insofern maßgeblich für die künstlerische Hervor-
(ornate) und angemessene (apte) Ausschmückung einer bringung von Artefakten, als jede Kunst auf Nachah-
Rede, die in der Verbindung der Worte auf der rhythmi- mung) der Natur beruht: «Omnis ars naturae imitatio
schen Stellung (conlocatio), der Melodie (modus) und est.» [20] Strukturell entspricht die Herstellung von Arte-
der Ausgewogenheit (forma) (basierend auf Kriterien fakten dem Wirken der göttlichen Erstursache oder der
der Dichtungs- bzw. Musiktheorie [8]) beruht, orientiert alles hervorbringenden Natur der Dinge, denn so wie
sich insofern an den Naturerscheinungen, als auch in die- diese eine Idee («idea») oder ein ewiges Vorbild («exem-
sen eine Ordnung hervortritt, innerhalb derer jedes Teil plar aeternum») verwirklicht, so greift auch ein Maler in
notwendig ist und zur Schönheit des Ganzen beiträgt. [9] Nachbildung eines Vorbildes («exemplar picturae») auf
Zwar besiegt die Wirklichkeit, d.h. der unmittelbare, eine Idee («idea») zurück, um sie als Gestalt («idos» im
natürliche Gemütsausdruck, jede Nachahmung («in Sinne von είδος, eidos) auf sein Werk zu übertragen. [21]

1243 1244
Mimesis Mimesis

Wenngleich theoretisch nicht weiter ausgeführt, findet erhabenen Ausdruck der Natur- und Seelengröße des
bei Seneca die künstlerische Transformation einer vor- Schriftstellers. Die mit rhetorischen Stilmitteln erzeugte
bildlichen Idee, wobei es keine Rolle spielt, ob sie vor Wirklichkeitsillusion sucht eine unmittelbar vergegen-
Augen steht oder im Geiste entworfen wird [22], zur wärtigende, bewegende Wirkkraft zu erzielen, die den
formgebenden Gestalt des Kunstwerkes Betonung. Der Kunstcharakter vergessen läßt.
Künstler verhält sich aufgrund seiner vorbildbezogenen In pädagogischer Hinsicht betrachtet sind die trügeri-
Verfahrensweise mimetisch zur Natur. schen Wirklichkeitsfiktionen und vielfachen Lügen der
Die eklektizistische M.-Auffassung des kaiserzeitli- Dichter [39] für P L U T A R C H kennzeichnend für die als
chen griechischen Autors D I O N Y S I O S VON H A L I K A R N A S - μιμητική τέχνη, mimëtikë téchnê [40] bestimmte dichte-
sos steht in enger Verbindung mit der Nachahmung lite- rische Poiesis. Die wirkungsorientierte dichterische Er-
rarischer Vorlagen (imitatio auctorum) wie der Mímese findung erzeugt, gleich den Farben in der Malerei, eine
vorbildlicher Lebens- und Handlungsweisen (imitatio Illusion des Lebendigen und erfreut dadurch mehr als
morum).[23] In Berufung auf das vielerorts bemühte eine nüchterne Wirklichkeitsschilderung oder Tatsa-
Elektionsverfahren des Malers Zeuxis[24] zeigt Diony- chenbeschreibung. [41] «Dichtung ist», nach dem be-
sios in der Schrift <De imitatione>, daß es gilt, die rhetori- rühmten, Simonides zugeschriebenen Diktum, «ein spre-
schen Stilqualitäten ausgewählter literarischer Vorbilder chendes Gemälde, Malerei ein stummes Gedicht». [42]
aufzunehmen bzw. zum Zweck der Darstellung heraus- Im Unterschied zum Wahrheitsanspruch philosophi-
ragender Charaktere jeweils das Beste nachzuahmen scher Lehren beruht die Anziehungskraft der mimeti-
und in eine neue Zusammensetzung zu überführen, schen Fiktionen gerade auf der Konstruktion lehrreicher
um damit die Vorlagen zu übertreffen (ζήλωσις, Lügen. Denn das Vermögen, gelungene Nachbildungen
zëlôsis). [25] Über diese Synthese fügt sich ein Bild, das hervorzubringen (καλώς μιμεΐσθαι, kalös mimeísthai) -
wahrhafter Ausdruck der eigenen produktiven Natur nicht der Darstellungsinhalt derselben - bzw. die Glaub-
ist. [26] Vorbildlich sind die gelungenen Sittengemälde würdigkeit der Fiktionen lösen Bewunderung aus und
(ηθοποιία, ëthopoiia) des Redners Lysias, dessen M. von sind der philosophischen Anfangserziehung der Jugend,
Charakteren und Affektzuständen Angemessenheit das Wissen um den Lügencharakter vorausgesetzt, för-
(πρέπον, prépon) zeigt, unter großem künstlerischem derlich. [43] Aufgrund einer natürlichen Affinität des
Aufwand den Eindruck von Natürlichkeit (φυσικόν, menschlichen Verstandes zu den Hervorbringungen der
physikón), Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft nachahmenden Künste, deren listenreiche mimetische
vermittelt [27] und dabei vergessen läßt, daß die Kunst Darstellungen (μιμήσει πανουργία, mimësei panurgía)
die Natur nachahmt. [28] Diese dem Vorbild eines Lysias Kunstfertigkeit und Verstand manifestieren, üben diese
oder Homer folgende Qualität künstlicher Wahrheits- Werke mehr Reiz aus als die Wirklichkeit. [44] Die der
darstellung zeichnet einen Dichter oder Redner als Malerei wie der Dichtung eigenen Mittel einer lebendi-
Nachahmer der Natur aus. [29] Die literarische M. des gen Veranschaulichung (γραφική ένάργεια, graphiké
Natürlichen ist bei Dionysios von Halikarnassos einer enárgeia) von Charakteren oder Emotionen zeichnen als
eklektizistischen imitatio auctorum untergeordnet [30], rhetorisches Stilmittel auch eine gelungene Geschichts-
führt aber im Sinne der aemulatio über diese hinaus und schreibung aus. Durch das wirkungsvolle sprachliche
zielt in Verknüpfung mit der imitatio morum auf die Bild eines Geschehens wird der Rezipient gleichsam zum
natürliche Wirkung kunstvoller Charakterzeichnungen. Augenzeugen, vollzieht die dargestellten Leidenschaften
innerlich nach. [45] Sofern die dichterische Fiktion auf
Basierend auf der rhetorischen Affektenlehre mißt die Wirklichkeitsabbildende Geschichtsschreibung zu-
PSEUDO-LONGINUS der wirkungspoetischen Dimension rückgreift, gilt sie als Bilderzeugung zweiten Grades.
der Dichtung in der Schrift <Über das Erhabene* größte Plutarch betont somit den lügnerischen, wirklichkeitsfer-
Bedeutung bei. Die erhabene Rede sucht die Hörer mit- nen Charakter dichterischer Fiktion, legt jedoch den
zureißen, stellt mittels der bilderzeugenden Phanta- Akzent auf die Veranschaulichungsqualität bzw. Illu-
sie [31] eine fiktive, aber dennoch glaubwürdige Welt vor sionswirkung bilderzeugender M. [46]
Augen. Durch die Intensität des leidenschaftlichen Aus-
drucks der inneren Natur (Anlage) und Seelengröße des Eine entschiedene Verteidigung der künstlerischen
Dichters entfaltet die sprachliche Fiktion eine bewe- Wirklichkeitsillusion formuliert F L A V I U S PHILOSTRATUS.
gende, vergegenwärtigende Wirkung. [32] Die Nachah- Jegliche Kunst geht auf eine dem Menschen natürliche
mung literarischer Vorbilder erhält bei Ps.-Longinus den Erfindung, auf die angeborene Fähigkeit zur M.
Charakter einer Inspirationsquelle [33], befördert ein zurück. [47] Das von Natur aus mimetische Verhalten
Schaffen aus eigener Natur in Rekurs auf Vorbilder. (μιμητική έκ φύσεως, mimëtikë ek physeôs) ist zum
Ausbildung und Schulung des künstlerischen Sachver- einen definiert als eine Tätigkeit des Geistes oder der
standes sind notwendig, um der großen Natur (μεγαλο- Phantasie [48], zum anderen als ausgeübte Darstellungs-
φυία, megalophyía) zur Darstellung des Erhabenen zu weise, sei es in Malerei oder Dichtung. M. umfaßt bei
verhelfen. [34] Neben begeistertem Pathos und einer Philostratus das Moment der geistigen Anschauung wie
natürlichen Fähigkeit zur erhabenen Rede sind es die der sinnlichen Umsetzung im künstlerischen Werk. [49]
Mittel der Kunst, rhetorische Figurenlehre, Wortwahl Die praktische Ausführung ist jedoch keine Nachbildung
und -fügung, wodurch der Dichter oder Rhetor das Wir- des Wirklichen im Besonderen, sondern basiert auf dem
ken der Natur nachahmt mit dem Ziel, daß die Kunst als produktiven Vorstellungsvermögen des Geistes, einer
Natur erscheint bzw. die Natur die Kunst einschließt [35], bildlichen Verdichtung in der Darstellung von Charakte-
so daß die rhetorischen Kunstgriffe verborgen blei- ren oder Handlungen. Kunstverstand (σοφία, sophía)
ben. [36] Eine gelungene sprachliche Komposition und ein glücklicher Moment (καιρός, kairós) sind die
gleicht dem organischen Zusammenhang eines Kör- maßgeblichen Kriterien künstlerischer M., die dem
pers. [37] Sofern die erhabene Rede das Niedrige und Wahrscheinlichen bzw. einer «inneren Wahrheit» des
Gemeine meidet, ahmt sie die hervorbringende Natur Wirklichen verpflichtet ist. [50]
nach. [38] M. weist bei Ps.-Longinus auf den durch Kunst-
regeln und Einsicht erst zur Vollkommenheit geführten Der Mimesisgedanke wird in der spätantiken Literatur
einerseits (im Rückgang auf die Lehren der Aristoteli-

1245 1246
Mimesis Mimesis

sehen <Poetik> wie nach rhetorischen Kategorien) in Hin- Kennzeichnend für das assimilative Verhältnis der
sicht auf die vergegenwärtigende Wirkung bzw. den christlichen Apologeten zur antiken Überlieferung ist
Lerneffekt künstlerischer Fiktionen thematisiert. Die die Aufnahme rhetorischer Lehren in christlich amalga-
Wirkintention entbindet die mimetische Darstellung mierter Form. Die Kirchenväterliteratur wird wegwei-
einer konkreten Wirklichkeitsschilderung, verpflichtet send für die Entwicklung einer christlichen Stil- und Aus-
sie aber auf allgemeine Prinzipien der Glaubwürdigkeit legungslehre, indem die Bibel als herausragendes rheto-
bzw. naturkonformen Wahrscheinlichkeit. Andererseits risches Sprachkunstwerk gegen die heidnische Überlie-
wird M. in Rekurs auf Piatons eidetischen Naturbegriff ferung etabliert wird, so daß die Prinzipien antiker Rhe-
oder die Idee diskutiert, die etwa bei Cicero als ein dem torik in den Dienst einer Vermittlung christlicher Lehren
menschlichen Geist innewohnendes Vorbild gefaßt gestellt werden können. [59] Poesie und vor allem Rheto-
wird [51] bzw. den stoischen Ansatz eines Seneca prägt. rik nach antikem Vorbild gewinnen als Formen der alle-
Im Sinne einer Ideenmimese weist diese Auslegung des gorischen, sinnbildlichen oder figuralen Offenbarung
M.-Gedankens auf die produktionsästhetischen Voraus- christlicher Wahrheit in kunstvoller Sprache immense
setzungen künstlerischer Hervorbringungen. Bedeutung. Nach der Auffassung des christlichen Rheto-
So bezieht der Neuplatoniker PLOTIN in Fortführung rikers LACTANZ sind die antiken Dichter keine Lügner,
des ideenmimetischen Konzeptes Piatons künstlerische wie man ihnen irrtümlich vorwirft, denn sie erfinden
M. nicht auf die Abbildung sinnfälliger Naturdinge, son- nicht die Ereignisse selbst («non ergo ipsas res gestas fin-
dern auf die Verwirklichung rationaler Formen (λόγοι, xerunt poetae»), sondern verleihen der Schilderung
lógoi). Keinesfalls sind daher die Künste geringzuschät- historischer Tatsachen durch eine dichterische Farbge-
zen, weil sie in ihrer Erzeugungstätigkeit die Natur nach- bung («poeticus color») eine Ausschmückung. Aufgabe
ahmen [52], sofern die Natur ihrerseits die Weltseele («officium poetae») und Maß dichterischer Gestaltungs-
bzw. den Geist nachahmt, indem sie die intelligiblen For- freiheit («poeticae licentiae modus») bestehen darin,
men in den physischen Dingen verwirklicht. Die Natur wahre Ereignisse im Gewand schmuckvoller Figuratio-
des Alls schafft die körperlichen Dinge als kunstreiche nen in anderer Gestalt vorzustellen, gleichsam zu über-
Nachahmung (μίμησις, mimesis) rationaler Formen, ver- setzen. [60] Die dichterische Einkleidung birgt eine ver-
mittelt wie ein Dolmetscher (έρμηνευτική, hermëneu- hüllte Wahrheit («veritas involuta»). [61] Angesichts der
tikë) zwischen intelligibler und irdischer Welt. [53] Glei- ihrerseits poetisch gefaßten Offenbarungswahrheiten
chermaßen verfährt der menschliche Künstler, indem er der biblischen Schriften kann die Poesie im christlichen
die der Seele innewohnenden Ideen in Artefakten zur Kontext als verborgene Theologie gerechtfertigt werden.
Darstellung bringt. In der Kunst wird <wie> in der Natur Neben Laktanz ist es vor allem A U G U S T I N U S , der die poe-
eine Idee zur Entfaltung gebracht, wobei für Plotin die tische Fiktion als bildliche Darstellung der Wahrheit
innerseelische Tätigkeit der entscheidende Vorgang ist, («figura veritatis») gegen der Vorwurf der Lüge vertei-
nicht die sinnliche Repräsentation. digt, sofern sie auf eine tiefere Wahrheit verweist, wie es
PROKLOS setzt in seinem Kommentar zum Platoni- die heilige Schrift selbst zeigt, deren verborgener Sinn in
schen <Timaios> wie Plotin die Natur als vierte Hypo- poetisch-allegorischen Bildern und Gleichnissen ausge-
stase. Die menschliche Kunst ahmt das Wirken dieser drückt ist, um auf diese Weise die Offenbarung des wah-
hervorbringenden Natur nach, so Proklos in Bezug- ren Gottes zu vermitteln. Eine Erdichtung, die sich auf
nahme auf die Aristotelische <Physik>.[54] Die Verbin- eine Wahrheit bezieht («Fictio igitur quae ad aliquam
dung des Platonischen Schöpfungsmythos mit der Ari- veritatem refertur»), so Augustinus im Kommentar zum
stotelischen Ursachenlehre findet vermittelt über CALCI- Matthäusevangelium, ist eine Rede in bildlicher Einklei-
D I U S als vielzitierte Formel Eingang in die mittelalterli- dung («figura»); lediglich sofern dieser Wahrheitsbezug
che Literatur. fehlt, ist von einer Lüge («mendacium») zu sprechen. [62]
Die christlichen Autoren der Spätantike suchen Augustinus, seinerseits als Rhetoriklehrer Kenner der
zunächst die Einflüsse antiker Dichtung ob ihrer verfüh- antiken Lehre, verschafft der Bibel als Buch höchster
rerischen Wirkung wie der Abweichung von der Wirk- Weisheit wie rhetorischer Kunst (locutio figurata) in <De
lichkeit der göttlichen Schöpfung zurückzudrängen. So doctrina Christiana) höchste Geltung und gibt damit den
verurteilt der frühchristliche Apologet TERTULLIAN nicht für die geistesgeschichtliche Entwicklung folgenreichen
nur philosophische Lehren, die sich von der biblischen Anstoß zur Entstehung einer Fülle von Lehrschriften zur
Offenbarung entfernen, sondern vor allem die pagane christlichen Redekunst. Im Kontext der rhetorischen
Tradition der Schauspiele, Wettstreite und ruchlosen Fundierung christlicher Schriftexegese bzw. der Vermitt-
Spektakel. Die Erstellung von Bild- und Blendwerk ver- lung religiöser Wahrheiten finden poetische Fiktionen
bietet sich vor Gott. Da alles, was entstanden ist, auf die und Gleichnisse, wenngleich zunächst in Einschränkung
göttliche Schöpfung zurückgeht, sind die künstlichen auf die Vermittlung christlicher bzw. moralischer Wahr-
Erzeugnisse Teufelswerk, Ausdruck der Verführung heiten, eine Rechtfertigung.
schlechthin: «Quod nascitur, opus Dei est. Ergo quod ISIDOR diskutiert in den <Etymologiae> den Wirklich-
infingitur, diaboli negotium est.» [55] Der Schöpfer der keitsbezug der überlieferten antiken Dichtungen. Die
Wahrheit liebt nichts Falsches, alle Erdichtung ist ihm Fabeln sind rein sprachliche Fiktionen, leiten sich nicht
Verfälschung: «Non amat falsum auetor veritatis: adulte- von den Tatsachen, sondern vom Hörensagen ab («Fabu-
rium est apud illum omne quod fingitur.» [56] Der großen las poetae a fando nominaverunt, quia non sunt res fac-
Skepsis, mit der die frühen Kirchenväter den Wirklich- tae, sed tantum loquendo fictae»). Anders als historische
keitsfiktionen <heidnischer> Künste, dem verführer- Darstellungen, die sich entweder auf wahre oder zumin-
ischen Täuschungscharakter wie der Eitelkeit der Künst- dest mögliche Geschehnisse beziehen, widerstreiten die
ler [57] begegnen, steht auf der anderen Seite eine große Gegenstände und Handlungen der Fabeln geradewegs
Bewunderung der Ausdruckskraft, des rhetorisch kunst- der Natur: «contra naturam sunt». [63] Dennoch dienen,
vollen Stils und der belehrenden Wirkung der Dichtung wie Isidor anerkennt, Fabeln als dichterische Fiktionen
gegenüber. [58] teils der Ergötzung, teils dem Verständnis der Natur der
Dinge und nicht wenige der moralischen Belehrung. [64]

1247 1248
Mimesis Mimesis

Vor dem Hintergrund der Rhetorizität der biblischen Begriff von ars gemäß dem griechischen téchnë-Ver-
Schriften als Weise der sprachlichen Ausschmückung ständnis. Auf der Basis rationalen Wissens ist eine Kunst
einer verborgenen Wahrheit, deren Gehalt sich weder prinzipiell durch regelgeleitetes Hervorbringen defi-
auf den Literalsinn beschränkt noch an einem histori- niert. [1] Eine wichtige Voraussetzung für die Entwick-
schen Wirklichkeitsbezug zu messen ist, erfahren die lung einer explizit auf die Kunst- bzw. Dichtungstheore-
poetischen Fiktionen eine Aufwertung, sofern sie der tie bezogenen Thematisierung von M. ist die Neubestim-
sittlichen Unterweisung dienen. Diese veränderte Hal- mung des Verhältnisses der Disziplinen des Trivium und
tung zu den fabulae fictae angesichts der Tatsache, daß des Quadrivium innerhalb des mittelalterlichen Wissen-
die Bibel selbst Prototyp einer in dichterischen Allego- schaftssystems und die damit verbundene Wiederbele-
rien, in Erdichtungen und Hüllen («figmentis et velatis») bung des Studiums der Beredsamkeit nach antikem Vor-
offenbarten Lehre ist [65], wird wegbereitend für die mit- bild, womit eine Aufwertung der bis dato als randständig
telalterliche Tradition. betrachteten Dichtkunst einsetzt. In Zusammenhang mit
dem erstarkenden Interesse für die rhetorischen Schrif-
Anmerkungen: ten der Antike in der intellektuellen Kultur des 12. Jh.
1 Auct. ad Her. III, 22, 36. - 2 e b d . III, 16, 28; vgl. Cie. D e or. I, gewinnen, nicht zuletzt in Anknüpfung an die patristi-
113f. - 3 Auct. ad Her. III, 16,29; vgl. Cie. D e or. II, 356ff.; Quint. sche Tradition der Schriftexegese, die dichterischen Fik-
III, 3, 4. - 4 C i c e r o , D e offieiis I, 126-127. - 5 e b d . I, 110. - 6 C i -
tionen als poetische Formen der Wahrheitsvermittlung
cero. D e legibus 1,26. - 7 C i e . Or. 17,55-18,58. - 8 Cie. D e or. III,
174. - 9 e b d . III, 178ff. - lOebd. III, 214ff. - l l H o r . Ars. 361. - an Bedeutung. [2]
12ebd., 318. - 13ebd., 333. - 1 4 e b d „ 408. - 1 5 e b d „ 99ff. - 1. Christlicher Piatonismus. Ein Grundzug der mittelal-
16 Quint. VIII, 3 , 6 1 f. - 1 7 ebd. VIII, 3 , 7 0 . - 1 8 ebd. VIII, 3 , 7 1 . - terlichen, durch einen christlich assimilierten Platonis-
1 9 S e n e c a d. J., Epistulae morales 66, 39ff. - 2 0 e b d . 65, 3. - mus bestimmten philosophischen Ausrichtung des 12.
2 1 ebd. 5 8 , 1 9 f f . - 2 2 e b d . 6 5 , 7 f f . - 2 3 T . Hidber: D a s klassizisti- Jh., die als Schule von Chartres gefaßt wird, ist die Bemü-
sche Manifest des D i o n y s von Halikarnass. D i e Praefatio zu <De hung um eine rationale Fundierung christlicher Theolo-
oratoribus veteribus>. Einl., Übers., K o m m e n t . (1996) 5 6 - 7 4 . -
gie. Eine naturwissenschaftlich-kosmologische Orientie-
24Cie. Inv. II, Iff.; Plinius, Naturalis historia X X X V , 64; X e n o -
phon, Memorabilien III, 10, 1. - 2 5 D i o n y s i o s von Halikarnas- rung auf der Grundlage der quadrivialen Diziplinen geht
sos, D e imitatione, 2 , 1 , 1 - 4 . - 2 6 e b d . , 2 , 2 , 1 . - 27ders., Lysias 10, einher mit dem Postulat einer notwendigen Verknüp-
1. - 28ders., Isocrates 16, 1. - 29ders., Lysias 8, 7. - 3 0 H i d b e r fung mit dem Studium des Trivium. [3] Die durch die
[23] 64. - 31Ps.-Long. Subì. 1 5 , 1 f. - 3 2 U . J . Beil: Rhet. «Phanta- geforderte Verbindung von eloquentia und sapientia ein-
sia». Ein Beitr. zur Archäologie des Erhabenen, in: arcadia. Zs. geleitete Nobilitierung literarischer Gestaltungsformen,
für vergleichende Lit.wiss. 28 (1993), 234ff. - 33Ps.-Long. Subì. ihrer rhetorischen wie dichterischen Qualitäten, legiti-
1 3 , 2 u. 14,1. - 34 ebd. 9,1; 36,3f. - 35 ebd. 22,1. - 36 ebd. 1 7 , 1 ff. -
miert im Kontext einer christlich dominierten Lehrtradi-
37 ebd. 10,1; 2 4 , 1 ; 4 0 , 1 . - 3 8 e b d . 4 3 , 5 . - 39 Plutarch, D e audien-
dis poetis 16 A 10. - 4 0 e b d . 17F. - 4 1 ebd. 16 Β 19f.; Aristoteles, tion die verstärkte Hinwendung zu den Überlieferungen
Metaphysik 1 2 , 983a. - 4 2 P l u t a r c h [39] 17F2ff.; D e gloria A t h e - antiker Schriftkultur. Mit aller gebotenen Vorsicht läßt
niensium 2, 346F. - 43ders., D e audiendis poetis 18D5. - sich diese Tendenz als «humanistischer* Zug charakteri-
44ders., Quaestiones convivales V 1, 673F. - 45ders., D e gloria sieren. [4]
Atheniensium 3 , 3 4 7 C . - 46 ebd. 4 , 3 4 8 B . - 47 Philostratus, Ima- Dieses Wissenschaftsverständnis manifestiert sich
gines I, 1. - 48ders., Vita Apollonii VI, 19. - 4 9 e b d . II, 22. - anhand der Interpretation des Platonischen Dialogs
50ders., Imagines I, 9, 5; Philostratos: D i e Bilder, nach Vorar-
<Timaios>, der als Hauptwerk Platonischer Lehre rezi-
beiten von E. Kaiinka hg., übers, und eri. ν. O. Schönberger
(1968) 55 f. - 51 Cie. Or. 2 , 7 . - 52 Plotin, E n n e a d e n V, 8 , 1 , 3 3 ^ 1 0 . piert wird und in Hinsicht auf die Diskussion der Nach-
- 5 3 e b d . IV, 3, 11, 7 - 2 0 . - 5 4 Proklos, In T i m a e u m 28 A B ; Ari- ahmungsproblematik zentrale Bedeutung gewinnt. Weg-
stoteles, Physik 194a21 ff. - 55 Tertullian, D e cultu feminarum II, bereitend ist hierfür die Tatsache, daß die naturphiloso-
5 , 4 , in: CChr. S L I (1954). - 56ders. ebd.: D e spectaculis 2 3 , 4 - 6 ; phische Kosmologie des Platonischen Mythos für die
vgl. Eusebius, Praeparatio evangelica M G 2 1 , 1 0 6 3 Bff. - 57vgl. Chartreser Philosophen gewissermaßen prototypisch
C l e m e n s Alexandrinus, Cohortatio ad gentes, M G Bd. 8 , 1 4 4 A eine philosophische Weltentstehungslehre in literari-
ff. - 58 ebd. 156 A ff.; Basilius Maximus, S e r m o de legendo, M G
scher Einkleidung (integumentum) darstellt, was in zwei-
B d . 3 1 , 5 6 3 C - 9 0 A . - 59vgl. D y c k 23 u. 142ff. - 60Lactantius,
Divinae institutiones 1,11, M L B d . 6 , 1 7 1 A - B . - 6 1 e b d . 172 f. - erlei Hinsicht von entscheidender Bedeutung ist. Zum
6 2 Augustinus, Q u a e s t i o n u m Evangeliarum Libri D u o II, 51, einen wird damit die geforderte Verbindung von Philo-
M L Bd. 35,1362. - 63Isid. Etym. 1,40. - 6 4 e b d 1,44. - 65Hraba- sophie und Philologie untermauert. Mehrfach weist WIL-
nus Maurus, Allegoriae in universam sacram scripturam, M L HELM VON CONCHES in seinen <Glosae super Platonem>
112,849. daraufhin, daß Piatons Philosophie im <Timaios> in dich-
terischer Metaphorik (more integumento) zur Sprache
Literaturhinweise: kommt. [5] Diese in literarischen Figuren versteckte
Curtius. - Norden. - Borinski. - Ch. Gnilka: Χρήσις. D i e Wahrheit hat bereits MACROBIUS in seinem Kommentar
M e t h o d e der Kirchenväter im U m g a n g mit der antiken Kultur zu Ciceros <Somnium Scipionis> unter Bezugnahme auf
Bd. 1 (1984), Bd. 2 (1993). - Fuhrmann Dicht. - Kennedy Christ. Piatons <Timaios> als entsprechend der Natur verfah-
rende Qualität der Dichtung herausgestellt. [6] Gerade
III. Mittelalter. In den Schriften des lateinischen Mittel- am Platonischen Mythos bzw. an Piatons Weise, über die
alters läßt sich die Auseinandersetzung mit dem Mime- Philosophie in dichterischer Rede zu sprechen («modum
sisgedanken zum einen im Kontext eines christlichen Piatonis loquendi de philosophia per integumenta») [7],
Piatonismus verfolgen, zum anderen findet sie ihren Nie- läßt sich somit das Hand-in-Hand-Gehen rhetorisch-
derschlag in der vorrangig aristotelisch geprägten schola- poetischer Texthermeneutik und philosophischer Ana-
stischen Literatur. In platonischer wie aristotelischer lyse demonstrieren. In latenter Form ist hiermit die Mög-
Rezeptionslinie, die sich nicht durchgängig scharf tren- lichkeit einer Revision des Platonischen Verdikts gegen
nen lassen, bezieht sich die Diskussion des Status der die trugbildnerische Wirklichkeitsmimese der Dichter/
Kunst als imitatio naturae zunächst in einem unspezifi- Rhetoren angelegt, sofern die dichterische Form als Ver-
schen Sinne auf kunstgeleitete, menschliche Herstel- mittlung einer philosophischen Lehre aufgefaßt werden
lungstätigkeiten. Dies entspricht dem weit gefaßten kann. Dieser Wahrheitscharakter poetischer Sprache

1249 1250
Mimesis Mimesis

birgt in Hinsicht auf die spezifisch christliche Interpreta- tätigkeit Gottes, der Natur und des Künstlers («Omne
tion des bei Piaton angelegten Nachahmungskonzeptes opus uel est creatoris, uel naturae, uel artificis») [11], um
einen zweiten bedeutsamen Aspekt. Sie erlaubt es, im zu betonen, daß es sich bei letzterem um eine Weiterfüh-
poetisch verdichteten Platonischen Mythos eine philoso- rung des Operationsmodus der Natur («homo, adiuuante
phische Wahrheit nach christlicher Lesart freizulegen. natura») und damit indirekt der göttlichen Schöpfungs-
Die Tradierung des Platonischen <Timaios> stützt sich und Scheidungstätigkeit handelt. Voraussetzung des
im 12. Jh. (neben MACROBIUS und B O E T H I U S ) insbeson- menschlichen werksetzenden Tuns ist ein rationaler
dere auf eine von C A L C I D I U S vorgelegte lateinische Teil- Nachvollzug des göttlichen Schöpfungswirkens vermit-
übersetzung und Kommentierung, die auf das 4. Jh. telt über die Natur als Werkzeug Gottes («instrumentum
zurückgeht. Der Nachahmungstopos kommt darin an divine operationis») [12], um ausgehend von der
zentraler Stelle zur Sprache. Ausgehend von der bei Pia- Erkenntnis physischer Prozesse bzw. in Aufnahme einer
ton diskutierten Ursachenproblematik trifft Calcidius Verfahrensweise der Natur («opus artificis est imitantis
eine dreifache Unterscheidung ursächlichen Entstehens. naturam») [13] handwerkliche wie künstlerische Fertig-
«Alles was ist, ist entweder ein Werk Gottes oder der keiten zu entwickeln. In Parallelführung von Kunst und
Natur oder des die Natur nachahmenden menschlichen Natur bezieht sich imitatio naturae auf den Vorgang des
Künstlers.» (Omnia enim quae sunt uel dei opera sunt uel Zusammenfügens von Verschiedenem in Rückgang auf
naturae uel naturam imitantis hominis artificis.) [8] ein Vorbild. Der imitative Naturbezug wird durch die
Damit wird zwischen dem überzeitlichen Schöpfungswir- Parallelsetzung eines operativen Vorgangs in Hinblick
ken Gottes, einem innerzeitlichen Wirken der Natur, auf die Aktualisierung rationaler Formen oder eines
welche die der Materie in Form von Seminalgründen eidetischen Potentials thematisiert. In dieser Hinsicht
innewohnen Ideen in der Weise eines permanenten Wer- verstanden ahmt die menschliche Kunst über die
dens hervortreten läßt, und einem menschlichen, die Erkenntnis der Naturordnung letztendlich die göttliche
natürlichen Entstehensvorgänge imitierenden Hervor- Kunst nach.
bringen differenziert. Calcidius rekurriert auf die Aristo- Deutlich tritt diese Auslegung einer Ideenmimese im
telische Formulierung eines mimetischen Verhältnisses sogenannten <Librum Hunc>, einem anonymen Kom-
der Kunst zur Natur wie auf den Timaioskommentar des mentar zu Boethius' <De trinitate>, hervor. [14] Der Drei-
Neuplatonikers Proklos. Platonische und Aristotelische schritt einer Unterscheidung des Werkes Gottes, der
M.-Konzeption sind also bereits in diesem Kommentar- Natur bzw. des imitativ vorgehenden Künstlers kehrt in
werk in einer gewissen Verschränkung zu finden. Die zeitgenössischen Texten unter verschiedener Schwer-
von Calcidius geprägte Formel bestimmt Nachahmung punktsetzung vielfach wieder. D A N I E L VON MORLEY greift
als Orientierung der Kunst an einem von intelligiblen ihn im <Liber de naturis inferiorum et superiorum> in
Formen ausgehenden, gestaltgebenden Hervorbringen Anknüpfung an die Timaiosinterpretation bei Wilhelm
der Natur. Wilhelm von Conches knüpft in seinem von Conches aus naturphilosophischer Deutungsper-
<Timaios>-Kommentar an die bei Calcidius grundgelegte spektive auf. «Jedes Werk ist nämlich entweder das
Dreigliederung an. «Jedes Werk ist entweder ein Werk Werk Gottes oder das Werk der Natur oder das Werk
des Schöpfers oder der Natur oder des Künstlers, der die des die Natur nachahmenden Künstlers. [...] Jedes Werk
Natur nachahmt.» (Omne opus vel est opus Creatoris, vel aber bezieht seine Qualität von seinem Werkmei-
opus nature, vel artificis imitantis naturam.) [9] Der pla- ster». [15] Die Natur ist als prokreative Kraft und kunst-
tonische Demiurg wird als christlicher Schöpfergott reiche Dienerin («velut artificiosa ministra») bzw. als
interpretiert, die Natur ist die den Dingen innewohnende Instrument Gottes definiert [16], die am handwerklichen
fortzeugende Kraft, vermittels derer Ähnliches aus Ähn- Herstellen explizierte Nachahmung der Natur wiederum
lichem entsteht («est natura vis rebus insita similia de als zusammenfügende bzw. verbindende Tätigkeit auf
similibus operans»), die menschliche Kunstfertigkeit, die der Basis einer Erkenntnis natürlicher Gesetzmäßigkei-
in ihrem Verfahren die Natur nachahmt («in omnibus ten, die ihrerseits auf eine intelligible göttliche Schöp-
que agit naturam imitatur»), umfaßt in erster Linie hand- fungsordnung zurückgehen. In der von der Chartreser
werkliche Tätigkeiten. Philosophie beeinflußten literarischen Tradition tritt die
Wenngleich sich die Bestimmung des mimetischen Natur, gegenüber der creatio prima Gottes als weltimma-
Naturbezugs vor allem auf <technische> Herstellungsvor- nente creatio continua gefaßt, vielfach als personifizierte
gänge bezieht, sind die Weise der Nachahmung wie der Künstlerin und Vorbild schöpferischer Gestaltungskraft
zugrundegelegte Naturbegriff für die spätere kunst- bzw. auf. [17]
sprachtheoretische Mimesisa-Auslegung von Bedeu- Eine Modifikation des dreistufigen Modells formuliert
tung. Das abbildliche Werk («effigiatum opus») steht in H U G O VON ST. VIKTOR in seinem <Didascalicon>. Die
einer Ähnlichkeitsrelation zu einem idealen Vorbild Unterscheidung zwischen dem Werk Gottes, der Natur
(«ad similitudinem exempli») und verweist auf die gei- und dem naturnachahmenden Künstler wird in aus-
stige Potenz des hervorbringenden Künstlers. Vor dem drücklichem Bezug auf die mechanischen Künste thema-
Hintergrund der platonischen Ideenlehre artikuliert sich tisiert wird. («Sunt etenim tria opera, id est, opus Dei,
ein Ansatz, der das Verhältnis von göttlichem Schöp- opus naturae, opus artificis imitantis naturam.») [18] Die
fungswirken bzw. dessen Vermittlung über die fortzeu- mechanischen Künste, die als künstlich nachmachende
gende Natur und menschlicher Hervorbringungsfähig- (adulterina) nicht auf die Natur, sondern den erfindungs-
keit thematisiert und sich auf das Verhältnis von Vorbild reichen menschlichen Verstand zurückgehen, ahmen
/ exemplum und Ausgestaltung / opus konzentriert. So dennoch die Natur nach («opera artificium, etsi natura
wie sich nach dem Vorbild der göttlichen Weisheit non sint, imitantur tarnen naturam»), sofern sie der
(«divina sapientia») die kreatürliche Welt ausformt, Natur als Beispiel in Hinsicht auf Gestaltungsprinzipien
ebenso ist die menschliche Weisheit («humana sapien- folgen. [19] Charakterisiert ist dies wiederum durch das
tia») ein Vorbild für die kunstgeleiteten Hervorbringun- Zusammenfügen des Getrennten bzw. die Trennung des
gen. [10] In der Schrift <Dragmaticon philosophiae> Verbundenen. Auf der Basis eines rationalen Nachvoll-
unterscheidet Wilhelm von Conches zwischen der Werk- zugs natürlicher Konstitutionsprinzipien, d.h. entspre-

1251 1252
Mimesis Mimesis

chend dem opus naturae, aber durchaus in Abweichung Natur. [26] M. als Weise einer naturanalogen poietischen
von den naturgegebenen Dingen, bringt die menschliche Hervorbringung, die auf das menschliche Verstandesver-
Erfindungsgabe ihre Werke hervor, «so daß wir neben mögen zurückgeht, dieser Gedanke prägt auch die aristo-
der Natur nicht minder auch den schaffenden Menschen telische Tradition.
mit Bewunderung betrachten.» [20] Die Erfindungsgabe 2. Mittelalterlicher Aristotelismus. Obwohl die aristoteli-
der menschlichen Vernunftnatur erhält hiermit beson- sche <Poetik> im 13. Jh. in der lateinischen Übersetzung
dere Dignität. Während die bildenden Künste im Kon- von W I L H E L M VON MOERBEKE vorliegt bzw. bereits im 12.
text der mechanischen Inventionen Behandlung finden, Jh. Ansätze aristotelischer Dichtungstheorie über den
wird die Dichtkunst lediglich als Anhang zu den Künsten sogenannten <Mittleren Kommentar) des AVERROES zur
erwähnt. Schauspielkunst in Umlauf kommen, formiert sich die
Über V I N Z E N Z VON BEAUVAIS, der die Auslegung des Tradierung und Rezeption der Aristotelischen Mimesis-
Viktoriners im <Speculum maius>, der Enzyklopädie der lehre zunächst über die Definition in den naturwissen-
mittelalterlichen Wissenschaften des 13. Jh., verschie- schaftlichen Schriften. Zwar entstehen im Übergang vom
dentlich aufgreift, aber auch die Chartreser Philosophie 12. zum 13. Jh. eine Reihe von Werken zur Rhetorik wie
darstellt, wird dieses Verständnis von imitatio naturae zur Dichtungslehre, die eine poetria nova zu begründen
zum Allgemeingut. [21] Zugleich dokumentiert dieses suchen. [27] Eine Auseinandersetzung mit der dichteri-
enzyklopädische Werk eine veränderte Haltung zu den schen M. gemäß der Definition der Aristotelischen <Poe-
fabulae fictae der Dichtung im Dienste sittlicher Beleh- tik> setzt aber erst in Dichtungs- und Rhetoriklehrbü-
rung, die auf die Etablierung von Rhetorik und Dichtung chern der Renaissance ein. Die mittelalterliche Auffas-
im 12. Jh.zurückweist. sung eines mimetischen Verhältnisses der Kunst zur
Wegbereitend ist insbesondere das durch Ansätze der Natur legt ein alle <poietischen> artes einbegreifendes
Wissenschaftslehre Hugos von St. Victor wie die Weiter- Modell von Herstellungswissen («recta ratio factibi-
führung der Chartreser Philosophie geprägte <Metalogi- lium») [28] zugrunde, das für die regelgeleitete Formung
con> des JOHANNES VON SALISBURY . In dieser Apologie eines geistigen Materials, beispielsweise der rhetorischen
der logischen Wissenschaften erhält der Nachahmungs- Disposition eines Stoffes, wie für die künstlerische
gedanke als sprachliche imitatio naturae einen neuen Gestaltung eines materiellen Substrats gilt. Mit den Ari-
Geltungsbereich. Innerhalb der Logik, bestehend aus stoteleskommentaren des T H O M A S VON A Q U I N geht die
der ratio disserendi (Rhetorik und Dialektik) und der M.-Definition der <Physik> in die Scholastik ein. Die
Grammatik, erhält letztere als Wissenschaft vom richti- Kunst ahmt die Operationsweise der Natur nach. («"Ars
gen Sprachgebrauch («scientia recte loquendi scribendi- enim" in sua operatione, "imitatur naturam".) [29] Der
que») und Basis der gesamten Philosophie [22] einen Modus der M. wird in Analogie zur teleologischen Struk-
immensen Stellenwert. Wenngleich menschliche Ein- tur von Naturvorgängen gefaßt. Die sinnlich wahrnehm-
richtung, ist gerade die Grammatik durch ein imitatives baren Naturdinge können deshalb mittels der Kunst
Verhältnis zur Natur gekennzeichnet («si naturalis non nachgeahmt werden, weil sie auf ein geistiges Prinzip ver-
sit naturam imitatur») [23], sofern sie sich auf ein natur- weisen, das in der gesamten Natur eine finale Ordnung
konformes Verfahren sprachlicher Unterscheidung, Dif- gewährleistet. In Entsprechung zu diesem Werk der
ferenzierung und Begriffsbildung gründet. In der struk- Natur, das auf eine jegliches Hervorgehen auf ein Ziel
turellen Ausformung sprachlicher Mittel und ihrer gram- hinordnende Intelligenz zurückgeht («ut sic opus
matikalischen Ordnung tritt der menschliche Verstand naturae videatur esse opus intelligentiae»), verfährt die
gleichsam in die Fußstapfen der Natur [24] und setzt die Kunst in der Weise ihrer Hervorbringungen («quod
generative Formungskraft der Natur auf sprachlicher etiam in operando ars imitatur»), [30] Die Kunst basiert
Ebene fort. Als Fundament jeglicher Rede (sermo) auf der Regelhaftigkeit eines zielgerichteten Prozesses,
begreift sie auch die Naturnachahmung in der Dicht- dessen Voraussetzung die Idee im Geiste des Künstlers
kunst ein («in poetica naturam imitatur») [25], sofern die ist. Auch Thomas unterscheidet ein dreifaches Werk:
Grammatik dem Dichter die Regeln und rhetorischen «Wie das Kunstwerk das Werk der Natur voraussetzt, so
Mittel an die Hand gibt, in Habitus, Gestus und Wort- setzt das Werk der Natur das Werk des erschaffenden
wahl, eine natürliche Lebendigkeit zu evozieren und Gottes voraus.» [31] Die der Natur innewohnende göttli-
darin der Natur selbst zu folgen. In Berufung auf Horaz che <Kunst> («ratio artis divinae») ist es, kraft derer alle
formuliert Johannes von Salisbury ein Verständnis von Naturvorgänge durch die Hinordnung auf ein definites
Naturnachahmung, das sich auf eine sprachliche Aus- Ziel bestimmt sind. Alle Formen, die sich in der materiel-
druckskraft bezieht, deren Formenreichtum in der len Welt in den Arten ausprägen, präexistieren im göttli-
Grammatik grundgelegt ist. In der Dichtkunst drückt chen Intellekt, «so wie die Formen der Kunstwerke im
sich dieses mimetische Verhalten zur Natur in einer Verstand des Künstlers im voraus bestehen und aus die-
Gestaltungsweise aus, die wie die Naturdinge, einen sen in Wirkungen übergehen.» [32] Die aristotelische
lebendigen Eindruck vermittelt, Stimmungen hervor- Naturteleologie verbindet sich mit einem platonisch
ruft, eine Gemütsverfassung <natürlich> wiedergibt. gefaßten Begriff intelligibler Vorbilder, die nach der
Kraft der Rhetorizität ihrer Ausdrucksmittel bringt die christlichen Deutung des Aquinaten im Geist des Schöp-
Dichtkunst die innere Natur des Künstlers zur Sprache. fers präexistieren. Der Primat der Natur und damit indi-
Imitatio naturae meint hier sowohl die regelgeleitete rekt Gottes gegenüber jeglicher Hervorbringung qua
Ausbildung eines naturgegebenen Talents (ingenium) Kunst bleibt unangetastet. «Ars imitatur naturam, in
wie einen sprachlichen Modus der Ausgestaltung analog quantum potest.» (Kunst ahmt die Natur nach, soweit sie
dem schöpferischen modus operandi der Natur. Die poe- es vermag.) [33] Mit einer servilen Nachbildung von kon-
tisch-rhetorische Gestaltkraft der Sprache ist gewisser- kreten Naturdingen hat diese Setzung nichts gemein. Die
maßen ein Pendant zur schöpferischen Vitalität und verstehensgeleitete Orientierung an natürlichen Vor-
Varietät der Natur. Der allegorische Verweischarakter gängen vollzieht sich in künstlerisch-technischen wie gei-
der Kunst entspricht einer gleichermaßen als sinnbildli- stigen Verfahrensweisen im Zusammenfügen oder Ver-
che Manifestation göttlichen Wirkens interpretierten binden.

1253 1254
Mimesis Mimesis

Die sprachlichen Repräsentationen der Dichtung mentaren Bestandteilen hervorgehen, ist auch die Rede-
rekurrieren auf einer zusammengesetzte Vorstellung, die kunst (ars dicendi) durch die Kombination und den
aus unterschiedlichen Gegenständen der sinnlichen Zusammenklang der Worte bestimmt. So wie Gott ver-
Wahrnehmung gewonnen, durch die Einbildungskraft mittels der Natur die Vielfalt der Dinge ausformt, bildet
(phantasia) verbunden werden. Sie ist gleichsam die der Mensch aus den Zeichen und Worten für die Dinge
Schatzkammer («quasi thesaurus quidam formarum per seine Wissenschaft und er fügt «Schmuck und Überein-
sensum acceptarum») [34] sinnlicher Eindrücke, aus stimmung, Schönheit, Kraft und Tugend der Kunst der
deren Verbindung sich die künstlerischen Fiktionen Rede (ars orationis) zu den Worten hinzu, indem er die
speisen. Anders als im Kontext der Chartreser Schule Natur nachahmt (naturam imitando). Ebenso fügt er der
achtet Thomas von Aquin den Modus dichterischer Grammatik die Rhetorik bei, die Dichtkunst, Musik,
Rede (modus poeticus) nicht als Übermittler einer ver- Logik und die anderen Künste, welche Künste alle Zei-
borgenen Wahrheit; er steht geradezu für den niedrig- chen der Natur sind.» [42] Der menschliche Geist trans-
sten Lehrgehalt (infima doctrina). [35] formiert gewissermaßen die sinnlich wahrnehmbare
Diese Ansicht wird bei D A N T E revidiert. Unter dem Welt in der Sprachkunst und offenbart darin eine der
Einfluß des Aquinaten wie in Anknüpfung an den aristo- göttlichen Schöpfungstätigkeit ähnliche Produktivität,
telischen Mimesisbegriff stellt Dante in der <Comedia> deren er sich in seinen geistigen Erzeugungen bewußt
die Natur als Tochter der göttlichen Kunst und Weisheit wird. [43] Die Kunst ist wie die Natur eine Ausdrucks-
vor, die nachzuahmen der Kunst, gleichsam Enkelin form der göttlichen ars infinita. Im Geist des Menschen
Gottes («a Dio quasi è nepote»), aufgegeben ist. [36] setzt sich damit letztendlich eine göttliche Schöpfungsbe-
Während die trügerischen, die Natur nachäffenden wegung fort.
Techniken zu verurteilen sind [37], wird der Erfindungs- Das Cusanische Verständnis von imitatio naturae im
reichtum der Dichtkunst bei Dante, in Rekurs auf Horaz, Sinne einer produktiven, begrifflich erzeugenden Kraft
nobilitiert, sofern die Poesie vermittels der rhetorischen des menschlichen Geistes ist wegweisend für das Denken
Fiktionen (fictio rhetorica) einen gleichermaßen erfreu- der Renaissance.
enden wie lehrreichen Charakter besitzt. [38] Anknüp-
fend an Dante unterstreicht BOCCACCIO den Nutzen der Anmerkungen:
Dichtkunst als Vermittlung einer verborgenen Theolo- l v g l . Cassiodor, D e artibus ac disciplinis liberalium litterarum,
gie. Die poetische Fabel ist definiert als exemplarische M L 70, Praef., 559 C; Isid. Etym. I, 2, 73. - 2vgl. J. Fried (Hg.):
bzw. durch Erdichtungen demonstrierende Rede Dialektik u. Rhet. im früheren und h o h e n M A (1997) XI. - 3vgl.
Thierry d e Chartres: Prologus in Eptatheucon, ed. E. Jeauneau,
(«fabula est exemplaris seu demonstrativa sub figmento
in: M S X V I (1954) 174; vgl. W i l h e l m v o n Conches: D e philoso-
locutio»), welche die Absicht des Erzählenden in fikti- phia mundi; unter H o n o r i u s Augustodunensis: Opera, pars I,
vem Gewand zeigt. [39] Der Dichter ist demnach keine M L 172, lib. I , Praef. u. lib. IV, c. 4 1 , 1 0 0 ; vgl. ders.: In B o e t i u m
Lügner, sondern im positiven Sinne ein «Affe der d e Consolatione, Paris 6406, f o l . 7 , in: J.M. Parent: La Doctrine
Natur» [40], der wie diese eine verborgene göttliche de la Création dans L ' É c o l e d e Chartres, Études et textes (Paris/
Wahrheit erfindungsreich in sinnbildlicher Form dar- Ottawa 1938) 21; vgl. J o h a n n e s von Salisbury: M e t a l o g i c o n 1,1,
stellt. Auf diese wie PETRARCAS Verteidigung der Dicht- M L 199, 827 B. - 4vgl. K. Flasch: D a s philos. D e n k e n im M A .
V o n A u g u s t i n zu Machiavelli (1986) 228. - 5 Guillaume [Wil-
kunst werden die Renaissancepoetiken sich vielfach
helm] d e Conches: G l o s a e super Platonem, T e x t e critique avec
beziehen. introduction, notes et tables par E. J e a u n e a u (Paris 1965) 209. -
Eine philosophische Rechtfertigung des Erfindungs- 6 vgl. Petrus Abaelardus: Introductio ad T h e o l o g i a m , M L 178,
reichtums menschlicher Kunst in Verbindung mit der 1023 Β u. 1024 A; Bernardus Silvestris: C o m m e n t u m q u o d dici-
Betonung individueller menschlicher Gestaltungskraft tur Bernardi Silvestris super sex libros E n e i d o s Vergilii, ed. J.W.
prägt die Definition der Kunst als imitatio naturae in den Jones, E.F. J o n e s ( L o n d o n 1977) II, 70ff. - 7 E . Jeauneau:
Schriften des NIKOLAUS VON KUES. Entsprechend der L'usage d e la notion d'<integumentum> travers les gloses d e
Guillaume d e Conches, in: A r c h i v e s d'histoire doctrinale et litt-
göttlichen Schöpfung, Gottes ontologischer Entfaltung
éraire du m o y e n âge X X I V (1957) 3 5 - 1 0 0 , hier: 53. - 8 T i m a e u s a
in den existierenden Dingen bzw. den Formen des Natür- Calcidio translatus c o m m e n t a r i o q u e instructus, ed. J.H. Was-
lichen («creator entium realium et naturalium forma- zink, in: Plato Latinus, ed. R. Klibansky, V o l . IV ( L o n d o n 1962)
rum») bringt der menschlichen Geist die Begriffe oder C o m m e n t . 73. - 9 G u i l l a u m e [Wilhelm] de C o n c h e s [5] 104. -
die Formen der künstlichen Dinge hervor («rationalium 10 ebd. 105. - 1 1 ders: D r a g m a t i c o n Philosophiae 1,7, cura et stu-
entium et formarum artificialium»), [41] Im Verhältnis dio I. R o n c a , CChrCM, Bd. 1 5 2 , 3 0 . - 1 2 ders.: G l o s e s sur la con-
zum divinen creator mundi ist der menschliche Künstler solation d e B o è c e , in: Parent [3] 28. - 1 3 Guillaume [Wilhelm ]de
C o n c h e s [12] 128. - 1 4 vgl. Κ. Flasch: A r s imitatur naturam. Pla-
ein creator artium. Unter Natur versteht der Cusaner in
tonischer Naturbegriff und ma. Philos, der Kunst, in: Parusia,
platonistischer Tradition eine weltimmanente, formver- Stud, zur Philos. Piatons und zur Problemgesch. des Piatonismus
leihende und bewegende Kraft, vermittels derer sich die (1965) 277f. - 1 5 D a v i d von Morley: Liber d e naturis inferiorum
Einheit des göttlichen Geistes in der Vielheit von et superiorum nach der Hs. C o d e x A r u n d e l 377 des Britischen
Gestaltgebungen ausfaltet. Die Imitation der Natur mit- M u s e u m s z u m Abdruck gebracht von K. Sudhoff, in: Archiv für
tels der menschlichen Kunst besteht in einer entspre- die Gesch. der Naturwiss. und der Technik Bd. 8 (1917) 12. -
chenden Produktivität des menschlichen Geistes. 1 6 D a v i d von Morley [15] 17f. - 17vgl. G . D . E c o n o m o u : T h e
G o d d e s s Natura in Medieval Literature (Cambridge, Mass.
Grundlage hierfür ist einerseits die Erforschung der
1972); M. Modersohn: Natura als Göttin im M A , Ikonogr. Stud,
Naturkräfte, anderseits eine dem Menschen eigene zu Darstellung der personifizierten Natur (1997). - 1 8 H u g o von
Erfindungsgabe. Der schöpferische göttliche Geist Sankt Viktor: Didascalicon d e studio legendi, Studienbuch,
(mens divina) liegt qua Teilhabe auch dem menschlichen übers, u. eingel. v. Th. O f f e r g e i d (1997) lib. I, c. IX, 138. - 1 9 Hu-
Tun zugrunde und manifestiert sich im menschlichen gonis d e Sancto Victore: Didascalicon de studio legendi. A criti-
Geist in den Gestaltungen der begrifflichen Welt. Die cal text by Ch. H. Buttimer ( W a s h i n g t o n 1939) lib. I., c. IV, 11;
Vorstellung eines geistigen Konzipierens, Verbindens vgl. c. IX, 16 f. - 2 0 H u g o von Sankt Viktor [18] 143. - 2 1 vgl. Vin-
centius Bellovacensis: S p e c u l u m Quadruplex sive Speculum
und Zusammenfügens tritt in den Vordergrund. Bei-
maius, V o l . I: Speculum naturale ( D o u a i 1624; N D Graz 1965)
spielhaft hierfür ist der Bereich der Sprache. Wie in der 35. - 2 2 J o a n n i s Saresberiensis: Metalogicon, ed. J.B. Hall
Natur anmutige und anregende Verbindungen aus ele-

1255 1256
Mimesis Mimesis

(Turnhout 1991) CChrCM Bd.98, cap. 13, 32. - 23ebd. cap. 14, spezifisch dichterische Mitteilungsform des W a h r e n zu
33. - 24ebd. cap. 14, 34. - 25ebd. cap. 17, 41 f. - 26vgl. U. Eco: etablieren.
Kunst und Schönheit im MA (1993) 107. -27vgl. Farai; Murphy Wegbereitend ist ferner die Neubestimmung der
ME. - 28 Sancti Thomae Aquinatis Opera omnia iussu impensa- Dichtkunst als ars oder facultas poetica innerhalb des
que Leonis XIII, tomus VI (Rom 1891) 57, 4. - 29Thomas von
Aquin: Summe gegen die Heiden/Summae contra Gentiles libri Systems der Künste. Als eigenständige Diziplin wird die
quattuor, hg. u. übers, ν. Κ. AUgaier, Bd. 3 (1990) Teil 1, Kap. 10, Poetica den diskursiven Künsten des Trivium bzw. der
40; vgl. Aristoteles, Physik II 2. - 30 Sancti Thomae Aquinatis rationalen Philosophie zugeordnet. Insbesondere die
[28] tomus II (Rom 1884): Commentarla in octo libros Physico- enge Beziehung zwischen Rhetorik und Poetik ist prä-
rum Aristotelis, lib. II, lect. IV, c. II, 6. - 31 Thomas von Aquin gend f ü r die Dichtungstheorien und Poetik-Kommen-
[29] lib. III, 65, S.271. - 32ders. [29] lib III, 24, S.93. - 33ders. tare der Renaissance. G r o ß e n R a u m nimmt die Diskus-
[28] tomus I (Rom 1882): In Anal. post. I, 1, 5. - 34ders. [28] sion um die Zweckbestimmung der Dichtung, d.h. die
tomus V (Rom 1889) Summa theologiae I, 78, 4. - 35ders. [28] Gewichtung von Unterhaltungs-, Lehr- und Erziehungs-
tomus IV (Rom 1888) Summa theologiae 1,1,9. - 3 6 Dante Alig- funktion ein. D i e rhetorischen Prinzipien der sprachli-
hieri: Die göttliche Komödie, ital./dt., übers, v. H. Gmelin (1949) chen Überzeugungskraft der R e d e (delectare, movere,
Bd. 1, Inferno 11, 99ff. - 37ebd. Inferno 29,139. - 38ders.: De
vulgari eloquentia, II, 4. - 39 G. Boccaccio: Genealogie deorum docere), die Angemessenheit von Gegenstand und
gentilium, ed. V. Romani, Vol. 1.2 (Bari 1951) lib. XIV, cap. IX, sprachlichen Stilmitteln (decorum ), die publikumsbezo-
706. - 40Boccaccio [39]; vgl. G. E. B. Saintsbury: A History of gene Effektivität (evidentia) und die von Cicero gefor-
Criticism and Literary Taste in Europe from the Earliest Texts derte universalwissenschaftliche Bildung des vollkom-
to the Present Day, vol. 1 (Genf 1971) 462. - 41Nikolaus von menen Redners fließen in die Legitimation der Dicht-
Kues: Über den Beryll, in: Philos.-Theol. Sehr., hg. von L. kunst ein. Nicht zuletzt die rhetorische Exempla-LehTC
Gabriel, übers, v. D. u. W. Dupré, Bd. 3 (Wien 1989) cap. 6,8. - wird vielfach herangezogen, um das Aristotelische M.-
42ders.: Compendium, in: [41] Bd. 2,713. -43ebd. 707. Konzept, wonach der Dichter im Unterschied zu histori-
schen Tatsachenbeschreibungen etwas Allgemeines
Literaturhinweise: (universale) nach Kriterien des Möglichen (possibile)
Farai. - E. de Bruyne: Etudes d'esthétique médiévale, 3 Bde., darstellt, mit der Platonischen Ideenlehre in Verbindung
(Brügge 1946) - R. Bachem: Dichtung als verborgene Theol. Ein zu bringen und den Wahrheitsgehalt des Fiktiven zu
dichtungstheoretischer Topos vom Barock bis zur Goethezeit begründen. D a s Verhältnis der Dichtung zur Wirklich-
und seine Vorbilder (1956). - Borinski.
keit, d.h. die Problematisierung des Fiktiven in Ausle-
gung des begrifflichen Spektrums von Wahrscheinlich-
IV. Humanismus, Renaissance. Mit der von Italien aus- keit (verisimile), Glaubwürdigkeit (probabile) und Not-
gehenden humanistischen Bewegung gewinnt die Mime- wendigkeit (necessarium) bildet eine zentrale, kontro-
sislehre in der Renaissance sowohl für die theoretische vers diskutierte Thematik der Renaissancepoetiken.
Grundlegung der Dichtkunst wie für die Kunst- und
Musiktheorie zentrale Bedeutung. In den dichtungstheo- Die Auseinandersetzung mit d e m Mimesisbegriff
retischen Schriften gilt die Diskussion u m die Rolle und prägt auch die Schriften zur Malerei, Bildhauerei und
Bewertung künstlerischer M. (imitatio naturae) vor allem Musik. Die emanzipativen Bestrebungen, Malerei und
einer Rechtfertigung der Dichtkunst. Gegen den tradier- Bildhauerei als wissenschaftliche Disziplinen zu etablie-
ten Vorwurf der moralisch verwerflichen, wahrheitsfer- ren, manifestieren sich einerseits in einer methodischen
nen bzw. sinnlich-verführerischen Wirkung fokussiert Grundlegung gemäß den quadrivialen Wissenschaften.
sich die theoretische Auseinandersetzung auf die Kennzeichnend ist andererseits die Orientierung an rhe-
Bestimmung der Kriterien des sittlich Angemessenen, torischen Kompositions- und Gestaltungsprinzipien
auf den Schönheits- und Wahrheitsbegriff wie die psy- (inventio, compositio, copia, varietas, elocutio). Im Hin-
chologische Wirkung. [1] tergrund steht stets das vielzitierte Horazische D i k t u m
Stützt sich die Verteidigung der Poesie zunächst maß- einer Entsprechung von Malerei und Dichtung (ut pic-
geblich auf H o r a z ' <Ars poetica>, so erhält die Auseinan- tura poesis). Auch die Neubestimmung der Musik als
dersetzung mit dem Bekanntwerden der Aristotelischen theoretische wie praktische Wissenschaft orientiert sich
<Poetik> um die Mitte des 16. Jh. eine neue Stoßrichtung. an den diskursiven Künsten Poetik und Rhetorik. [2]
Das Mimesisverständnis der Aristotelischen Dichtungs- U n t e r d e m Einfluß der Dichtungstheorie steht die verän-
lehre wird zur entscheidenden Grundlage einer Apolo- derte Grundlegung der Musiktheorie im 16. Jh., die sich
gie der Dichtung gegen die platonistische Tradition der auf die musikalische A f f e k t e n l e h r e und ihre sittlich-
Dichterkritik. Die Konsequenz hieraus ist allerdings erzieherische Wirkkraft stützt. D i e Virulenz dieser
Ansätze im Kontext der Emanzipationsbemühungen der
keine strikte Polarisierung platonischer und aristoteli-
Künste schlägt sich nicht zuletzt in einem Rangstreit der
scher Lehren. Die Betonung der sittlich-erzieherischen,
Künste (Paragone) nieder, der sich durch kunst- wie
moralisch läuternden Funktion dichterischer Fiktionen
dichtungstheoretische Schriften zieht. [3]
macht es möglich, Piaton geradezu als Gewährsmann für
die Dignität der Dichtung heranzuziehen. Bedingt durch D a ß der Mimesisbegriff keineswegs ausschließlich im
die intendierte Harmonisierung von Begründungsansät- engen Sinne einer Abbildtheorie oder Tatsachenschilde-
zen läßt sich in den Renaissancekommentaren daher oft- rung diskutiert wird, läßt sich schließlich anhand der
mals nicht von einer Divergenz aristotelischer bzw. pla- D e u t u n g der immer wieder bemühten Zeuxisanekdoten
tonischer Positionen sprechen, sondern eher von der verfolgen. Als T o p o s der kunsttheoretischen Literatur
Dominanz einer Interpretationstendenz. A n die Begrün- wird hieran die idealisierende, die Natur übertreffende
dungsansätze der humanistischen Tradition (Petrarca, Qualität auswählender Darstellungsverfahren (electio)
Boccaccio) anknüpfend, wird die Inspirations- oder wie die Illusionswirkung künstlerischer Gestaltungen
Begabungslehre in den Renaissancepoetiken immer wie- thematisiert. In B e r u f u n g auf die D e u t u n g Ciceros [4]
der aufgegriffen, um den Dichter als Künder philosophi- gewinnt die auf eine geistige Form gegründete M. der
scher bzw. göttlicher Wahrheiten in allegorischer Ein- sinnfälligen Dinge richtungweisende Bedeutung. [5]
kleidung {poeta theologus) gegen den Vorwurf trügeri- 1. Renaissancepiatonismus. Nach der philosophischen
scher Wirklichkeitsdarstellung zu verteidigen bzw. eine Lehre des Platonikers M. F I C I N O zeugen die Hervorbrin-

1257 1258
Mimesis Mimesis

gungen der menschlichen Künste von einer gottähnli- ist nicht die Kraft der Ähnlichkeit oder der Imitation,
chen Würde. Keineswegs als ihr Sklave, sondern die was die Dichtung ausmacht.» (Le poesie non sono imita-
Natur gleichsam übertreffend («non servi simus naturae, zioni [...] non è la forza della rassomiglianza, o imita-
sed aemuli») imitiert die menschliche Kunst die Werke zione, che faccia la poesia.) [18] Was den Dichter aus-
der göttlichen Natur und vollendet, korrigiert und ver- macht, ist weder der Äusdruck eines Beispieles, das er im
bessert so die niedere Natur («homo omnia divinae Geiste trägt, noch ist er Imitator oder stellt Ähnlichkei-
naturae opera imitatur et naturae inférions opera perfi- ten her («imitatore e rassomigliatore»). Er bringt seine
d i , corrigit et emendai»). [6] Der kunsttätige Mensch Phantasie zum Ausdruck («espressore della sua fanta-
gleicht hinsichtlich seiner Vermögen (phantasia, cogita- sia»). [19] Das eigentliche Charakteristikum des Dichters
trix ratio, ingenium), durch die er unzählige Künste erfin- ist die Hervorbringung von Fiktionen. Er ist ein Schöpfer
det, nahezu der göttlichen Natur [7], sofern die Seele («fattore e facitore») und Gestalter («fingitore e forma-
kraft der ihr innewohnenden intelligiblen Formen her- tore»), sofern er in seinen Dichtungen Wunderbares her-
vorbringend tätig wird. Einen herausragenden Status vorruft («facitore del mirabile») und durch Transforma-
besitzt neben der Musik die Dichtung. Während die tion seines Gegenstandes neue Gestalten erzeugt. [20]
musikalischen Rhythmen in ihrer Wohlgemessenheit die Patrizi wertet die dichterische Fiktion als eine spezifische
göttliche Sphärenharmonie zum Ausdruck bringen Fähigkeit, das Wahre im Gewand des Fingierten mitzu-
(«coelestem Musicem imitantur»), teilen die Worte der teilen, auf. Grundlage dieser dichterischen Befähigung
Dichtung die Idee der Schönheit in wirkungsvollster ist wiederum göttliche Inspiration: der Enthusiasmus
Darstellung der kosmischen Harmonie mit. («efficacissi- oder «furore poetico». [21] Kennzeichnend für die Dich-
mam harmoniae coelestis imitatricem»), [8] Die Seele tungstheorien aus der platonistischen Tradition - hier
des Dichters wird durch eine Form göttlicher Begeiste- ließe sich auch auf G. B R U N O verweisen - ist der Versuch,
rung zu einer höheren Erkenntnis erhoben, die Ficino in der Dichtung einen spezifischen Wahrheitsstatus zu ver-
Kommentierung der Platonischen Inspirationslehre [9] leihen und die individuelle dichterische Befähigung
als «furor poeticus» faßt. [10] In der humanistischen Tra- gegen eine an der Aristotelischen Dichtungslehre ausge-
dition des 14. Jh. gilt die dichterische Begabung in Beru- bildete normative Regelpoetik zu setzen.
fung auf Cicero [11] als Begeisterung durch göttliche 2. Horaz-Rezeption. Die maßgebliche Grundlage der
Inspiration ( a f f l a t u s divinus). Im 15. Jh. verleiht L. B R U N I dichtungstheoretischen Diskussionen im Cinquecento ist
in seiner Phaidros-Übersetzung dem von göttlichem die Aristotelische <Poetik>. Noch bevor die Auseinander-
Furor ergriffenen Geist (ingenium) als Quelle dichteri- setzung mit der Aristotelischen Mimesislehre jedoch
scher Begabung unbedingte Priorität gegenüber einer Eingang in die Poetiktraktate findet, ist es die Horazi-
wissenschaftlichen Dichterausbildung. sche <Ars poetica>, die als Lehrbuch regelgeleiteter
G. FRACASTORO unternimmt in der Schrift <Naugerius Dichtkunst großen Einfluß nimmt und, so die Lesart der
sive de poetica dialogus> (1555) den Versuch, den Aristo- Kommentatoren, auf einer rhetorischen Systematik
telischen M.-Begriff mit der Platonischen Ideenlehre zu basiert. Der große Einfluß der Rhetorik als paradigmati-
verbinden. Die mimetische Dichtkunst («imitatoria ars») scher Wissenschaft für die Dichtkunst im Sinne des poeta
kann als eine Form der Vergegenwärtigung («repraesen- rhetor wird hieran deutlich.Vermittelt durch die Edition
tare» bzw. «repraesentatio») bestimmt werden. [12] Hin- spätantiker Horaz-Kommentare und Scholien von H E L E -
sichtlich des Gegenstands «materia propria»/«res» dich- N I U S A C R O N und PORPHYRIO wie durch die Kommentare
terischer «repraesentatio et imitatio» bzw. ihres «modus von C. L A N D I N O und I.B. A S C E N S I U S findet diese rhetori-
dicendi» bestehen Aufgabe und Zielsetzung des Dichters sche Grundlegung Eingang in die später einsetzende Ari-
(«poetae officium ac finem»)[13] in der Betrachtung stotelesrezeption. Die Sprache der Dichtung, so Acron in
eines Allgemeinen («poeta vero universale conside- Kommentierung des Horazischen Diktums von der
ret») [14], um die Dinge im Ausgang von der universalen innerlich formenden Natur [22], erzeugt dann eine bewe-
und schönsten Idee so nachzubilden, wie sie sein sol- gende Wirkung auf die Hörerschaft, wenn sie in fiktiver
len. [15] Während es den Philosophen entspricht, nach Darstellung von Leidenschaften einen natürlichen
den Ursachen der Dinge zu forschen, so Fracastoro in Gefühlszustand in glaubwürdiger, wahrscheinlich wir-
<Turris sive de Intellectione>, suchen die göttlich inspi- kender Weise zum Ausdruck bringt. [23]
rierten Dichter, von der Schönheit der Dinge ergriffen, C. Landino begründet die besondere Fähigkeit der
diese nachzubilden («imitari») und auszudrücken Dichter in seinem Horaz-Kommentar (1482) auf der
(«explicare»). Die dichterische Fiktion zeigt die Dinge in Grundlage der platonischen Tradition des furor poeticus.
größerer Vervollkommnung, die Dichter erfreuen sich In Vereinigung höchster Weisheit und Eloquenz [24]
gewissermaßen am Erzeugen («poetae quasi parere gau- hüllt der inspirierte Dichter («divino furore afflatus»),
dent»). Über die Begründung dieser dichterischen analog der Schöpfung Gottes, der die Welt wie ein Poet
Naturanlage zur Imitation («Poetae vero ad imitandum gleichsam als göttliches Gedicht hervorgebracht hat,
magis [nati sunt]») [16] etabliert Fracastoro ein Mimesis- seine tiefe Einsicht in schmuckreiche, allegorische Fik-
verständnis, wonach in den dichterischen Fiktionen die tionen. Der göttlichen creatio ex nihilo ähnlich, bringt der
Idee der Schönheit eine Wiedervergegenwärtigung Dichter seine Fiktionen («figmenta») nahezu aus dem
(repraesentatio) erfährt. Nichts («pene ex nihilo») hervor. [25] Landino hebt den
F. PATRIZI weist in <Della poetica> (1586) ausgehend Sonderstatus der Erdichtungen hervor, indem er zwi-
von der Frage, ob die Dichtung Imitation sei («si la poe- schen dem Falschen («falsum»), dem Fiktiven («fictum»)
sia sia imitazione»), die Aristotelische Definition der und dem nichtigen Schein («vanum») differenziert. [26]
Dichtung als M. (imitatio) ob ihrer Vieldeutigkeit Das Fiktive ist Ausdruck eines spezifisch dichterischen
zurück. [17] Unzureichend ist ihm auch eine in Berufung Vermögens, ruft durch die Varietät der dichterischen
auf Piaton formulierte Definition der Poesie als bilder- Ausdrucksmittel Gefallen und Entzücken hervor. Vor
zeugende Kunst («idolopoetica») in Hinsicht auf das dem Hintergrund des rhetorischen Prinzips des decorum
Ähnlichkeitsverhältnis («rassomiglianza») zu einem gilt die Verpflichtung der Künste auf einen imitativen
Vorbild. «Die Dichtungen sind keine Imitationen [...] Es Naturbezug («omnis ars naturam imitetur»[27]) im

1259 1260
Mimesis Mimesis

Sinne der Wahrung von Wahrscheinlichkeit und Glaub- oder der regelgeleiteten Schulung nach rhetorischem
würdigkeit, d.h. eine der Naturordnung gemäße Entfal- Vorbild (ars) die Priorität zuzuerkennen ist. B.
tung dichterischer Fiktion. Landino sucht die platonisti- D A N I E L L O , dessen Dichtungslehre <Della Poetica> (1536)
sche Vorstellung einer göttlich inspirierten, dem divinen vor allem an Horaz anknüpft, aber ebenso Einflüsse der
Schaffen verwandten dichterischen Gestaltungskraft [28] Aristotelischen <Poetik> zeigt, weist ausgehend von der
mit den rhetorischen Kriterien der Eloquenz zu verbin- Formulierung, daß die Kunst die Natur imitiert und ihr
den. folgt («che essendo essa natura dall'arte imitata e
Für P. GAURICO, der in seinem Kommentarwerk seguita») [36], die Meinung zurück, wonach dichterische
<Super Arte poetica Horatii> (Erstdruck 1510) eine rhe- Kunst allein auf Naturanlage beruht und keiner Ausbil-
torische Kategorisierung der <Ars poetica> vorlegt, steht dung bedarf. Vielmehr imitiert die Kunst als Ausdruck
es den Dichtern wie Malern frei zu erfinden, solange sie der intellektuellen Fähigkeit des Menschen nicht ledig-
die Grenzen des Natürlichen und damit des Glaubwürdi- lich die Natur («non pure imita la natura») [37], sondern
gen nicht überschreiten, nicht von der Natur abweichen die natürlichen Voraussetzungen (ingenium) werden
(«a natura non recedant») und diese Übereinstimmung vielmehr erst durch die Kunst kultiviert und vervoll-
(iconveniencia) in der Wahl der Stilmittel wahren. «Derje- kommnet. [38] Ausbildung wie die Schulung an beispiel-
nige Stil ist als der beste anzusehen, der die Natur einer haften Vorbildern sind Grundlage für das dichterische
Sache, von der er handelt, imitativ darstellt.» (Optimum Schreiben («descrivere poeticamente»), dessen Gegen-
illum videri stilum: qui eius rei de qua agitur naturam imi- stand die ausgewogene Mischung von Wahrem und Fik-
tabitur.)[29] Ausdrücklicher noch führt G. BRITANNICO tivem («mescolar le cose vere, con le false e fitte») ist,
DA BRESCIA in seinem umfassenden Horaz-Kommentar um die Hörer durch Wunderbares und Neues zu
die normative Bedeutung der Natur im Hinblick auf die erfreuen. [39] Der Dichter genießt das außerordentliche
dichterischen Gestaltungen aus. «Die kunstvolle dichte- Privileg der fingierten, vom Tatsächlichen (ordo natura-
rische Fiktion muß die Natur nachahmen.» (Debet enim lis) abweichenden, durch Imagination und Erfindungen
fictio artificiosa naturam imitari.) [30] Die Dichtung ver- ausgeschmückten Darstellung von Handlungen (ordo
mag dann zu erfreuen, wenn sie Natürliches oder Wahr- artifìcialis), solange der Lehreffekt durch den Anschein
scheinliches repräsentiert. In Hinsicht auf Angemessen- des Wahrscheinlichen (verisimile) gewährleistet ist.
heit (decorum) und Stimmigkeit (convenientia) ist eine Das Verhältnis von Natur und Imitation ist Hauptge-
den Gesetzen der Natur nicht widersprechende Natur- genstand des Traktates <De Imitatione> (1541) von B.
konformität zu berücksichtigen, um zu überzeugen, zu RICCI. Die Natur als alle natürlichen Dinge erzeugende
gefallen und zu nutzen. [31] Kraft ist das Vorbild aller Künste und Prinzip des
In den Horaz-Kommentaren steht die Forderung nach menschlichen Ingeniums. Ricci weist einen zweifachen
einer imitatio naturae in unmittelbarem Zusammenhang Imitationsbegriff aus: einerseits im Sinne einer der eige-
mit dem decorum, bestimmt als Verhältnis der Angemes- nen Natur imitativ folgenden Entfaltung von angebore-
senheit von Gegenstand (res) und Sprache (verba/ora- nen Fähigkeiten («sua tantum natura, quancunque nacta
tio). Bedingung einer durch Glaubwürdigkeit überzeu- sit, imitanda»[40]), andererseits im Sinne der imitatio
genden, bewegenden Rede ist eine nicht gegen die auctorum als vollkommene Angleichung an Vorbilder,
Naturzusammenhänge verstoßende Wahrscheinlichkeit und sucht beide Imitationsbegriffe ineinander zu über-
(verisimilie) der fiktiven Darstellungen. führen. Daß nahezu alle Künste der Natur als Führerin
In diesem Sinne formuliert A. G. PARRASIO, daß «die folgen und diese Lehrerin imitieren («artes fere omnes
Dichtkunst nichts anderes ist als eine Imitation der naturam ducem sequi atque imitari magistram») schließt
Natur» (poetica nihil aliud est, quam imitatio nicht die gezielte Ausbildung und Schulung von Fähig-
naturae) [32], was heißt, eine Repräsentation des Lebens keiten aus. [41] Vergleichbar der Kultivierung natürli-
und der Sitten («imitatio vitae et morum»), deren Auf- cher Kräfte im Ackerbau (ein Topos zur Erklärung der
gabe es ist, die Hörer mit rhetorischen Mitteln zu affizie- Relation ars - natura) ist die imitative Ausrichtung an
ren, um sie zu einem sittlichen Leben zu führen. Krite- Stil- und Ausdrucksformen bedeutender Vorbilder gera-
rium der Angemessenheit (decorum) der dichterischen dezu eine Anleitung zur Entfaltung der individuellen
Rede (oratio) ist es, daß die Fiktionen der Dichter dar- Fähigkeiten. [42]
stellen, was in die Natur fällt, ihre Ordnung nicht durch- Die Verbindung der rhetorischen imitatio auctorum
einanderbringen («ut quae in naturam cadunt fingantur, mit einem Imitationsverständnis, das sich auf die je
illius ordo non perturbetur»). [33] eigene Naturanlage bzw. den gesetzmäßigen Naturzu-
Auch die einflußreiche Dichtungslehre <De arte poe- sammenhang insgesamt als normativen Horizont dichte-
tica> (1527) von M . H . V I D A basiert wesentlich auf der rischer Fiktionen beruft, verdeutlicht in charakteristi-
<Ars poetica* des Horaz in Verbindung mit Ansätzen scher Weise eine Zusammenführung rhetorischer und
rhetorischer Lehren (Cicero, Quintilian). Die Kunst ver- poetologischer Konzepte in Dichtungstheorien des 16.
sucht nichts anderes, als sich der Natur ähnlich zu Jh. Ein solcher supplementärtheoretischer Ansatz [43] in
machen («nil conarier artem, Naturam nisi ut assimu- Verbinung von Rhetorik und Poetik kennzeichnet auch
let»)[34], weshalb der Dichter stets den Spuren der die Kommentare zur Aristotelischen <Poetik>, die vor
Natur, seiner Lehrmeisterin («magistra») folgen muß, dem Hintergrund der Horazischen Lehre rezipiert wird.
will er in einer dem Gegenstand angemessenen 3 . Aristoteles-Rezeption. F. ROBORTELLO legt mit seinen
(«aptum») sprachlichen Gestalt ein der Natur entspre- <In Librum Aristotelis de Arte Poetica Explicationes>
chendes Bild unterschiedlicher menschlicher Charakter- 1548 das erste umfassende Kommentarwerk zur Aristo-
eigenschaften oder Haltungen geben. [35] Die sprachli- telischen <Poetik> vor. Die spezifische Qualität der
che Nachbildung der Natur mißt sich an der <natürlichen> Dichtkunst (poetica facultas) als eine Form der Rede
Wirkung, nicht an der Abbildung konkreter Phänomene. (oratio), die am weitesten von der Mitteilung des Wahren
Eine wichtige, vieldiskutierte Komponente der Dis- abweicht [44], ist die «oratio ficta et fabulosa», eine fik-
kussion um den Imitationsbegriff ist die Frage, ob der tive, fabelhafte und lügenreiche Rede («oratio menda-
dichterischen Naturbegabung (natura bzw. ingenium) ciorum plena») [45] in bezug auf Dinge, die sind, die sein

1261 1262
Mimesis Mimesis

können oder über althergebrachte Auffassungen der phiam q u a n d a m moralem esse.») [53]. Ziel des nach
Menschen vermittelt sind. Es charakterisiert den Dich- Regeln geformten sprachlichen Kunstwerkes ist es, die-
ter, entweder eine wahre Handlung aufzugreifen oder jenigen Handlungen, Affektzustände und Sitten in wohl-
unter Berücksichtigung des Möglichen zu erfinden [46], gemessener R e d e imitativ darzustellen («suavi sermone
so daß diese im R a h m e n des Möglichen («possibile») imitationem»), die zu einer guten und glücklichen
gemäß d e m Wahrscheinlichen oder Notwendigen Lebensweise beitragen [54] und den menschlichen Geist
(«secundum verisimile, aut necessarium») in sich stim- vervollkommnen. G e m ä ß dieser unbedingten ethischen
mig ist. In Unterscheidung eines zweifachen Modus zu Ausrichtung ist der Gegenstand der Dichtung die Dar-
fingieren und zu lügen («duplici m o d o fingere, et men- stellung des Exemplarischen gemäß der Wahrscheinlich-
tiri»), gibt es neben naturgemäßen («secundum keit und der Notwendigkeit («verisimile et necessa-
naturam») Darstellungsweisen eine über die Natur der rium»), und damit letztendlich die Natur der Dinge, denn
Dinge hinausführende («praeter naturam») Form von die Natur ist etwas Allgemeines. («Natura vero quidpiam
Fiktionen, die gegen das Kriterium des in der natürlichen universale est.») [55]. Dichtung, verstanden als imitatio,
Wirklichkeit Möglichen verstoßen (z.B. Götter- und ist hier nicht etwa Nachbildung der Wirklichkeit, son-
Heldengeschichten), die aber dennoch durch die Über- dern in sprachlich wohlgeformter Darstellungsweise
lieferungstradition gewissermaßen eine kulturelle («suavi sermone scrivere») der methodengeleitete ange-
Glaubwürdigkeit besitzen. [47] Sucht der R h e t o r vermit- messene Ausdruck («aptè imitando») einer exemplari-
tels der Rede zu überzeugen («sermo persuadens»), so schen Wesensnatur oder Handlung zwecks moralischer
will der Dichter durch die imitierende R e d e («sermo imi- Läuterung. [56]
tans») erfreuen, um so auch zu nutzen. In B e r u f u n g auf Im Kontrast zu dieser moralphilosophischen Ausle-
Cicero ist Dichtung eine fiktive Darstellung des Lebens gung steht die Position, die L. CASTELVETRO in seinem ita-
(«imitatio vitae»), ein Spiegel kultureller Lebensformen lienischen K o m m e n t a r <Poetica d'Aristotele vulgariz-
(«spéculum consuetudinis») bzw. ein Bild der Wahrheit zata, et sposta> (1570) vertritt. Nach Castelvetro dient
(«imago veritatis») [48] und stellt d e m H ö r e n d e n ein Dichtung der Ergötzung des Publikums, bewirkt durch
mögliches Geschehen (nach dem rhetorischen Prinzip die Neuartigkeit dichterischer Erfindungen. D e r Dichter
der evidentiä) gleichsam sichtbar vor Augen. D a b e i muß erfindet oder imaginiert seine Gegenstände kraft des
die Darstellung einer in sich geschlossenen Handlung die Ingeniums [57] zum Zweck der Unterhaltung und Ent-
Natur zum Vorbild nehmen («Oportet, ut ars imitetur spannung («per dilettare et per ricreare») und richtet sich
naturam.») Analog der finalen Struktur von Naturvor- an das gemeine Volk, das keine subtilen Vernunft-
gängen beruht die Einheit der Handlung («imitatio actio- schlüsse und A r g u m e n t e versteht. [58] U m die Menge zu
nis integrae.») auf der in sich stimmigen («conveniens»), erfreuen werden Fabeln erfunden, die dem Historischen
angemessenen («apte») Verbindung von Teilen zu einer ähneln, vor allem aber durch Neuartigkeit und Wunder-
zielgerichteten Handlung. [49] Die dichterische Reprä- bares begeistern. [59] Castelvetro setzt an Stelle des
sentation einer handelnden Person orientiert sich an Begriffes imitatio/imitazione den italienischen Terminus
einem allgemeinen Charaktertypus («versari circa uni- «rassomiglianza» bzw. «rassomigliare» (Ähnlichkeit,
versale»), In Berufung auf die Forderung Pia tons an die ähneln). Die Dichtung beansprucht lediglich eine Ähn-
Maler, sich an einer Idee zu orientieren («ad Ideam respi- lichkeit zum Empirisch-Faktischen.
cere»), heißt dies nach Auslegung Robortellos, idealty- Eine strikte Unterscheidung einer spezifischen dichte-
pisch darzustellen. [50] D e r Dichter richtet sich auf die rischen Wahrheit von einer historischen Tatsachenbe-
Natur und das vollkommene Vorbild der Sitten («ad schreibung betont auch A. PICCOLOMINI. D e r Dichter ver-
naturam ipsam, et perfectum exemplar morum»), auf bindet das Allgemeine, oder das, was sein soll, mit dem
das, was sowohl Piaton wie Cicero Ideen nennen. Robor- Wahrscheinlichen und d e m der Wirklichkeit Nachgebil-
tello verteidigt damit die dichterische Fiktion gegen die deten zu etwas Neuem, das den Beurteilungskriterien
Platonische Kritik. Dichtung bringt, rhetorischen Krite- von wahr und falsch entzogen ist. [60]
rien folgend, indem sie sich von der Wirklichkeitsbe- In einer Zusammenschau der dichtungstheoretischen
schreibung löst , im R a h m e n des Notwendigen bzw. f ü r Positionen von Robortello, Maggi, Lombardo, Castelve-
die H ö r e r Wahrscheinlichen etwas Exemplarisches zur tro und Piccolomini etabliert P. TORELLI in seinem b r a t -
Darstellung. «Vermittels der dichterischen Lügen wer- tato della poesia lirica> (1594) mit Nachdruck die moral-
den falsche Grundlagen f ü r wahr genommen, und aus philosophische Zielsetzung der Dichtkunst: Die Dichter
diesen werden wahre Schlußfolgerungen gezogen.» [51] sind Lehrer und korrigieren die Lebensführung («I poeti
In ähnlicher Argumentationsführung wird in einem sono e maestri e correttori della vita.») [61] Aufgabe der
anonymen Fragment zur Aristotelischen <Poetik>, das L. Dichtung ist, die A f f e k t e zu mäßigen, die Seele von den
GIOCOMINI zugeschrieben wird, die dichterischen Imita- Leidenschaften zu reinigen, die widerstreitenden Seelen-
tion als bilderzeugende Rede bestimmt. Die Dichtung ist teile zu harmonisieren, um so die Seele zu Gott zu füh-
eine fiktive und lügnerische Rede, die nicht wahrheitsge- ren. [62] Dies vermag die Dichtung mittels der Imitation.
treu erzählt, sondern mit einer gewissen Lüge und Torelli weist sowohl die Vorstellung einer Ideenmimese
Falschheit die wahren Handlungen und Dinge imitiert. im Sinne Piatons zurück wie eine Definition der Dicht-
(«E a d u n q u e la poesia orazione finta et mendace, la kunst gemäß der Setzung, daß alle Künste die Natur imi-
quale con l'orazioni non vere da se narrate, et con qua- tieren («immitano l'arti la natura»), indem sie analog der
lunque mendacio e falsità imita le vere azzioni et le cose zielgerichteten Wirkkraft einer produktiven Natur ope-
veraci.») [52] rieren. [63] Die Dichtkunst, insbesondere die von Torelli
In Reaktion auf Robortellos K o m m e n t a r akzentuie- herausgehobene Lyrik, ist eine imitative, durch die
ren V . M A G G I und Β . LOMBARDI in d e m gemeinsamen lebendige, effektvolle Darstellung von Charakteren auf
Kommentarwerk <In Aristotelis Librum de poetica com- die sittliche Erziehung gerichtete Kunst. Torelli etabliert
munes explicationes> (1550) den sittlich-erzieherischen damit die bildlich-imitative Darstellungsweise als Cha-
Nutzen als A u f g a b e der Dichtkunst. Die Dichtung ist rakteristikum der Dichtung («Presupponiamo dunque
eine F o r m der Moralphilosophie («Poesim verá philoso- che altro non sia immitare che un esprimere con rappre-

1263 1264
Mimesis Mimesis

sentare.») bzw. die Hervorbringung von Bildern, die dem realisiert der Dichter in seinem W e r k die Ideen der
W a h r e n ähnlich sind («simile al vero») [64], aber nicht an Dinge («rerum ideae»), worunter das Exemplarische,
ihrem Wahrheitsgehalt, sondern an ihrem Wirkgehalt Idealtypische zu verstehen ist, im Sinne einer Transfor-
gemessen werden, d.h. ihrem sittlich-erzieherischen Nut- mation von Prinzipien und Gesetzmäßigkeiten des
zen. Naturzusammenhangs sowie einer methodisch d e m kau-
Entschiedener noch verteidigt G . A. V I P E R A N O in <De salen Naturgeschehen vergleichbaren regelgeleiteten,
Poetica libri tres> (1579) die Wirklichkeitsabweichungen zielgerichteten Erzeugungstätigkeit. [72] D a s von Scali-
dichterischer Fiktionen, sofern die Dichtungen gerade ger explizierte Verständnis einer imitatio naturae wird
durch das W u n d e r b a r e und Neue auf wirkungsvollste dem Prinzip der imitatio auctorum untergeordnet. «Was
Weise erfreuen und belehren. Ein Dichter ahmt in gewis- in der Natur existiert, muß im Schöße der Natur aufge-
ser Weise Gott nach («Deum videtur imitari»), indem er, spürt werden, dann davon abgetrennt und der menschli-
nahezu aus dem Nichts schaffend, staunenerregende chen Betrachtung unterworfen werden. U m dies so
Dinge hervorbringt («paene ex nihilo confingendo admi- zweckmäßig wie möglich zu tun, müssen wir bei d e m
rabilia quaedam producit») bzw. Neues darstellt, Bilder Dichter Beispiele suchen, der als einziger diesen N a m e n
von Dingen vor Augen ruft, die nicht existieren bzw. exi- verdient. Ich meine Vergil [...].» [73]
stente Gegenstände in schönerer Weise veranschau- Diese Konzeption einer indirekten imitatio naturae
licht. [65] Viperano rechtfertigt die dichterischen Fiktio- durch die Rückwendung auf antike Vorbilder (imitatio
nen über ihre moralphilosophische Funktion («docere auctorum) bestimmt die Diskussion der Barockpoetiken
simul et delectare»). [66] Mit der Darstellung menschli- und ist wegbereitend für die Formalisierung der dichteri-
cher Handlungen («humanarum actionum imitatione») schen Stillehre in den klassizistischen Dichtungstheorien
fungiert die «poësis» als philosophische Lehre der rech- bzw. die B e m ü h u n g e n um eine Regelpoetik. Im Zeichen
ten Lebensführung («ratio vivendi») und des sittlich einer Orientierung an der Stil- und F o r m e n l e h r e antiker
Angemessenen. [67] Als grundlegende Bedingung der Literatur steht nicht zuletzt die Etablierung der volks-
Glaubwürdigkeit gilt es entweder Dinge darzustellen, die sprachlichen Literatur im ausgehenden 16. Jh. D i e über
sind, oder von denen die Sage ist, daß sie auf solche die lateinischen Dichtungslehren des Renaissancehuma-
Weise gewesen sind oder von denen man glaubt, daß sie nismus vermittelten Prinzipien rhetorischer Eloquenz,
auf diese Weise sind («atque imitari debet ea quae vel die Nachahmung antiker Stilmuster wie die Gattungs-
sunt, vel fama est ita fuisse, vel ita esse creduntur»). lehre gemäß der Aristotelischen <Poetik> bilden die
Unter dieser Voraussetzung ist die Erdichtung von Wun- Grundlage, um einen normativen Kanon von Dichtungs-
derbarem («mirabilia fingendi»), nicht zuletzt angesichts regeln f ü r die Literatursprachen aufzustellen. [74]
des doppelten Effekts von Belehrung und Erfreuen, ein D e r große Einfluß des italienischen Renaissancehu-
wesentliches Mittel der Dichtung. [68] Die moralphiloso- manismus auf die Dichtungstheorien in England ist in
phische Einbettung und die Akzentuierung der wir- exemplarischer Weise anhand der Schrift <The D e f e n c e
kungspoetischen Dimension erlauben es, ein Mimesis- of Poetry> (1595) von S I R P H . S I D N E Y zu verfolgen. Sidney
verständnis zu etablieren, das den Spielraum künstleri- knüpft u.a. an die dichtungstheoretischen Ansätze Scali-
scher Fiktion ausweitet. gere an, verbindet A r g u m e n t e der rhetorischen Horaz-
Als einflußreichste Renaissancepoetik gilt das enzy- Interpretation mit Elementen aristotelischer wie platoni-
klopädisch angelegte Werk <Poetices libri septem> (1561) scher Lehre. Als sprechendes G e m ä l d e verfolgt Dich-
von J . C . S C A L I G E R . [69] Scaliger begreift Philosophie, tung das Ziel, zu belehren und zugleich zu erfreuen («to
Rhetorik und Dichtkunst als Gattungen der Sprachkunst teach and delight»). [75] Kraft seiner Erfindungsgabe
(oratio) und verbindet hiermit eine Drei-Stadien-Theo- über die physische Wirklichkeit erhaben, geht der Dich-
rie kultur- bzw. zivilisationshistorischer Entwicklung der ter H a n d in H a n d mit der Natur («he goeth hand in hand
Menschheit. Die Dichtkunst fügt dem W a h r e n Erfunde- with nature»), indem er Dinge verbessert, die die Natur
nes hinzu oder stellt das W a h r e durch Fiktionen imitativ hervorgebracht hat, neue Gestalten entstehen läßt, die in
dar («aut addit ficta veris aut fictis vera imitatur». Dich- der Natur nicht existieren, vermöge seines Ingeniums
tung (poesis), die sowohl Gegenstände, die sind, wie sol- («wit») die W e r k e der Natur in der dichterischen Dar-
che, die nicht sind, in einer Weise repräsentiert, als ob sie stellung in anziehender Schönheit präsentiert. [76] Auf
seien bzw. wie sie sein können oder müssen, beruht ganz Imitation und Fiktion («imitation or fiction») b e r u h e n d
auf <Nachahmung> («tota in imitatione sita fuit») zum sind diese Gestaltungen Ausdruck einer Idee («idea»)
Zweck der mit dem A n g e n e h m e n verbundenen Beleh- oder eines p r o f u n d e n Wissens («conceit») u n d nicht
rung («docendi cum delectatione»), [70] etwa, so Sidney, rein imaginative Luftschlösser («Castles
Der Dichter schafft nicht nur eine zweite Natur in the aire»). Als Inbegriff der Gottebenbildlichkeit des
(«natura altera»), sondern eine Fülle neuer Lebens- Menschen ist der Dichter nach Sidney ein durch göttliche
schicksale und besitzt so den Status eines zweiten Schöp- Inspiration begabter Schöpfer («maker»), der in seinen
fergottes («deus alterus»), «Dessen nämlich, was der Dichtungen gleichsam eine zweite Natur («second
Erschaffer aller Dinge hervorgebracht hat [omnium opi- nature») hervorbringt. «Dichtung ist deshalb eine Kunst
fex condidit], sind die anderen Wissenschaften sozusagen der Imitation [Poesie therefore, is an A r t of Imitation],
Darsteller [reliquae scientiae tamquam actores sunt]; die wie Aristoteles es mit der Bezeichnung <M.> definiert,
Dichtkunst dagegen, da sie das, was ist, ansehnlicher vor- d.h. eine Fähigkeit der Repräsentation, der Nachahmung
führt und den Schein dessen, was nicht ist, hervorruft, oder, um es metaphorisch auszudrücken, der figurativen
scheint nicht, wie die anderen Künste, einem Schauspie- Darstellung [a representing, counterfeiting, or figuring
ler vergleichbar, einfach wiederzugeben [quasi histrio forth to speake Metaphorically].» [77] A u c h bei Sidney
narrare], sondern sie wie ein zweiter Gott zu erschaffen ist die moralphilosophische Funktion der Dichtung Legi-
[velut alter deus condere].» [71] Die dichterische Darstel- timation ihrer schöpferähnlichen fiktiven Hervorbrin-
lung (imitatio) ist eine Weise der <Naturnachahmung>, gungen. [78]
die in idealisierender Darstellung über das Gegebene In Frankreich schlägt sich die Auseinandersetzung mit
hinausgeht. Wie in der Bildhauerei oder der Malkunst der italienischen Dichtungstheorie u m die Mitte des

1265 1266
Mimesis Mimesis

16. Jh. bei den Begründern der Pléiade, P. RONSARD, J. Dichters, der nach den Gesetzen von Zahl, Harmonie
PELETIER und J. Du BELLAY nieder. Du Beilays <Deffence und Wohlklang das Werk des Schöpfers in der dichteri-
et illustration de la langue francoyse> (1549) ist in erster schen Sprache nachformt. Dichtung sucht die Erhaben-
Linie eine Verteidigung des Französischen als Literatur- heit der Natur in schmuckvollster Weise auszudrücken,
sprache, verbunden mit der Forderung, die Dichtung in um durch die bewußte Verschleierung der Naturwelt wie
französischer Sprache durch die Nachahmung herausra- die verschlüsselte Rede von den göttlichen Dingen
gender Vorbilder der antiken Literatur zu befördern. besonderen Reiz auszuüben. Der Dichter ist Nachahmer
Ausgehend von der rhetorischen Trias inventio, disposi- der Natur («poeta naturae est imitator»), trachtet
tio, elocutio ist für Ronsard die Invention die zentrale danach, vermöge seiner qua göttlicher Inspiration verlie-
Voraussetzung der Poesie. Die Erfindung («l'inven- henen Gabe, «alles Erdenkliche bildend darzustel-
tion»), so Ronsard, ist nichts anderes als ein natürliches len».^]
Vermögen oder das gute Naturell einer Einbildungskraft Wenngleich die Poetiken der Renaissance wie des
(«bon naturel d'une imagination»), das die Ideen oder Barock durchgängig auf rhetorischen Kategorien basie-
Gestalten aller möglichen, vorstellbaren Dinge einbe- ren, ist dies ein wiederholt bemühtes Differenzkriterium,
greift, um sie hernach zu vergegenwärtigen, zu beschrei- um den Poeten vom Rhetor zu unterscheiden.
ben und nachzubilden («représenter, descrire, et imi-
ter»), Ziel des Dichters ist es, so Ronsard in Modifikation Anmerkungen:
der Aristotelischen Formulierung, Dinge, die sind, sein 1J.E. Spingarn: A History of Literary Criticism in the Renais-
können oder von den Alten für glaubwürdig gehalten sance (New York 1899) 3ff. - 2C.V. Palisca: The Poetics of
wurden, nachzubilden, zu erfinden und zu repräsentie- Music, in: Humanism in Italian Renaissance, Musical Thought
ren. («D'imiter, inventer, et représenter les choses qui (New Haven/London 1985) 369-407. - 3E. Zilsel: Der Para-
sont, qui peuvent estre, ou qui les anciens ont estimé gone, in: Die Entstehung des Geniebegriffs (Hildesheim/New
York 1972) 150ff. - 4vgl. Cie. Or. 2,7. - 5vgl. E. Panofsky: Idea.
comme véritables.») [79] Der Begriff der imitatio, in Ein Beitrag zur Begriffsgesch. der älteren Kunsttheorie (1960)
unmittelbarem Zusammenhang mit der rhetorischen 9ff. - 6Marsile Ficin [M. Ficino]: Théologie Platonicienne de
inventio betrachtet, steht für die sprachliche Darstellung l'Immortalité des Âmes (Paris 1964) torn. II, lib. XIII, cap. 3,
einer dichterischen Idee, die auf der natürlichen Einbil- 223. - 7ebd. 224. - 8ders.: De divino furore, in: Opera (Paris
dungskraft basiert. In Hinsicht auf die lebendige Wir- 1641) I, 599f.; vgl. A. Buck: Ital. Dichtungslehren vom MA bis
kung dichterischer Rede bzw. Ausdrucks- und Stilmittel zum Ausgang der Renaissance (1952) 90. - 9 Piaton, Ion 534;
(«l'elocution») empfiehlt Ronsard ausdrücklich Natur- Plat. Phaidr. 245a, 265b. - 10M. Ficino: Über die Liebe oder Pia-
tons Gastmahl [De amore] übers, v. K.P. Hasse, hg. u. eingeh v.
vergleiche und -beschreibungen, wobei es gilt, neben der P.R. Blum (1984) 253f. ; vgl. ders. [8] 599f. - 11 Cicero, Pro
Hinwendung zu den natürlichen Phänomenen die stilisti- Archia Poeta 8,18. - 12 G. Fracastoro: Naugerius, sive de poe-
schen Darstellungsqualitäten der Dichtungen eines tica dialogus, fol. 114v, in: Hieronymi Fracastorii Veronensis
Homer nachzuahmen. [80] Auch Peletier fordert, daß Opera Omnia (Venedig 1574). - 13ebd. fol.H5r. - 14ebd.
der Dichter ein Nachahmer der Natur sei («que le Poète fol. 115v. - 15ebd. fol. 116r. - 16ders.: Turris sive de Intellectione
soit imitateur de la Nature») [81], womit wie bei Ronsard II, fol. 148r, in: Opera Omnia [12], - 17F. Patrizi: Della poetica.
die Ausbildung der natürlichen dichterischen Begabung La deca disputata, edizione critica a cura di D.A. Barbagli, Voi.
2 (Florenz 1969) 61-71. - 18ebd. voi. 3 (1971) ebd. 8 5 f . - 19ebd.
gemeint ist, und betont die Betrachtung der lebendigen 88. - 20ebd. vol 3 (1971) 19. - 21Patrizi [17] 25. - 22Hor. Ars
Naturphänomene als eine wesentliche Vorausset- 108. - 23 F. Hauthal: Acronis et Porphyrionis commentarii in Q.
zung. [82] Der direkte Bezug zur Lebenswirklichkeit Horatium Flaccum (1864) Bd. 2,594; Β. Weinberg: A History of
bzw. zur sinnfälligen Natur als Voraussetzung einer Literary Criticism in the Italian Renaissance (Chicago 1961)
lebendigen Darstellung natürlicher Phänomene gewinnt Bd. 1, 77. - 24 A. Chastel: M. Ficin et l'Art (Genf 1975) 132. -
bei den Dichtern der Pléiade, sei es direkt oder indirekt 25Quintus Horatius Flaccus, Opera (Venedig 1490) Kommen-
über die Orientierung an den Stilmustern antiker Litera- tar Porphyrio, Landino, fol. 145r. - 26ebd., fol. 145v. - 27ebd.
fol. 145v; vgl. Horatii Flacci Opera cum interpretatione C. Lan-
tur, an Bedeutung. dini (Venedig 1486) zit. Weinberg [23] B d . l , 79ff. - 28 Chastel
In Deutschland steht die Entwicklung der Dichtungs- [24] 129ff. - 2 9 P . Gaurico: Super Arte poetica Horatii, in: Wein-
theorie im 15. und 16. Jh. maßgeblich unter dem Einfluß berg [23] 89. - 30 G. Britannico da Brescia [Ioannes Britannicus
der Horaz-Rezeption und -imitation. Die humanistische, Brixianus]: Quintii Horatii Flacci poemata (Mailand 1518)
durch rhetorische Prinzipien fundierte Ausrichtung der CXXXVI, in: Weinberg [23] 93. - 3 1 Weinberg [23] 93. - 3 2 A.G.
Dichtung auf eine moralisch-erzieherische Funktion wie Parrasio: In Q. Horatii Flacci Artem Poeticam Commentarla
eine affizierende Wirkqualität bestimmt die Poetiken (1531) 78, in: Weinberg [23] 99. - 33 ebd. 7; in: Weinberg [23] 99.
- 34 [Marcus Hieronymus Vida:] The De arte poetica of Marco
der Neulateiner. In der <Ars versificando (1486) fordert Girolamo Vida, translated with commentary, & with the text of
K. CELTIS, daß der Poet eine philosophische Welter- 1517 edited by R.G. Williams (1976) 72. - 35ebd. 66. - 36B.
kenntnis besitzen muß, um gemäß dem ciceronischen Daniello: La Poetica (1536; ND 1968) 4. - 37 ebd. 5. - 38 ebd. 6. -
Ideal einer Verbindung von eloquentia und sapientia 39ebd. 41. - 40Bartholomaei Riccii De Imitatione Libri Tres
«durch geschmückte und anmutige Gewebe von Rede (Venedig 1545) fol.3v, in: Β. Weinberg: Trattatti di poetica e
und Gedicht Verhaltensweisen, Handlungen, Geschich- retorica del Cinquecento (Bari 1970) B d . l , 419ff. - 41 ebd. -
ten, Gegenden, Völker, die Lage von Ländern, Flüsse, 42ebd. f o l . l l r u. 13r. -43Weinberg [23] 102. - 4 4 F . Robortello:
In librum Aristotelis De arte poetica explicationes. Paraphrasis
den Lauf der Gestirne, die Eigenschaften der Dinge und in librum Horatii, qui vulgo De arte poetica ad Pisones inscribi-
die Bewegungen von Geist und Seele mit übertragenen tur (Florenz 1548; ND 1968) 1 . - 4 5 ebd. 2 . - 4 6 e b d . 8 6 . - 4 7 e b d .
Zeichen nachzubilden». Der Dichter soll das wahre Bild 86 f.. - 4 8 ebd. 2. - 4 9 ebd. 80. - SOebd. 91. - 5 1 ebd. 2. - 5 2 Wein-
der Dinge durch das geeignete Versmaß bzw. passende berg [23] 63. - 53 Β. Lombardi, V. Maggi: In Aristotelis Librum
Figuren «schön abmalen», um der Rede hierdurch de poetica communes explicationes (1550; ND 1969) 16. -
Lebendigkeit zu verleihen. [83] J. VON WATT greift in <De 54ebd. 9 . - 5 5 e b d . 131.-56ebd. 1 3 . - 5 7 L . Castelvetro: Poetica
Poetica et carminis ratione> (1518) den Topos auf, d'Aristotele vulgarizzata e sposta (1570; ND 1967) fol.lór. -
58ebd. fol. 16v.-59ebd. fol. 17r.-60Buck [8] 149. 61P.Torelli:
wonach Gott der Schöpfer/Poet die Welt als sein maßvol- Trattato della poesia lirica (1594), in: Weinberg [40] Bd. 4 (1974)
les Gedicht entstehen läßt. In Entsprechung hierzu sieht 245. - 62ebd. 259. - 63ebd. 275. - 64ebd. 273 u. 275f. - 65G.
er die Tätigkeit des gottebenbildlichen menschlichen

1267 1268
Mimesis Mimesis

Antonii Viperani [A.Viperano] De Poetica libri tres (Antwer- tuum) [4] gerechtfertigt. Das so begründete Wirkziel der
pen 1579; ND 1967) 15 - 66ebd. 21. - 67ebd. 6. - 68ebd. 47. - Mäßigung durch Affekterregung wird von aristotelisch
69Scaliger Bd. 1 (1994) Einl. XXXIIff. - 70 Scaliger Lib. I, cap. I, orientierten Theoretikern wie etwa D.G. M O R H O F und A.
60 (la). - 7 1 ebd. Lib. I, cap. 1,70f. (3a-b). - 7 2 e b d . Lib. Ill, cap.
C H R . ROTTH aufgegriffen. [5]
IUI, 100 (85b). - 73ebd. Lib. Ill, cap. II, 80 (83a). - 74vgl. Buck
[8] 117f. - 75Sir Ph. Sidney: The Defence of Poesie, hg. v. W. Im Unterschied hierzu stellt G. J. Vossius in den <Trac-
Clemen (1950) l l . - 7 6 e b d . 1 0 . - 7 7 e b d . l l . - 7 8 e b d . 2 9 . - 7 9 P . tatus philologici de Rhetorica, de poetica, de artium et
de Ronsard: Abbrege de L'Art Poétique Francoys (1565); Art scientiarum natura ac constitutione) (1643) die mora-
Poétique Francoys (1585; Genf 1972) fol.5v. - 80 ebd. fol.6v; A. lisch-belehrende Wirkdimension der Dichtung über die
Py: Imitation et Renaissance dans la Poésie de Ronsard (Genf Darstellung sittlicher Handlungen. In modaler Unter-
1984) 11. - 8 1 P y [80] 24. - 82 A. Boulanger: L'Art Poétique de J. scheidung steht der Begriff der imitatio nach Vossius für
Peletier du Mans (1555). Publié d'après l'édition unique avec
das Verhältnis zum Gegenstand, während fictio die dich-
introduction et commentaire (Paris 1930) Introduction 41 f. u.
Lib. II, 92. - 83 C. Celtis: Ars versificandi et carminum (Leipzig terische Darstellung selbst bezeichnet. «Die Dichter
1486) fol.7r, in: E. Schäfer: Dt. Horaz. Conrad Celtis. Georg ahmen menschliche Handlungen nach [imitantur actio-
Fabricius. Paul Melissus. Jacob Balde. Die Nachwirkung des nes humanas], aber sie fingieren Fabeln, mit denen sie
Horaz in der Neulat. Dichtung Deutschlands (1976) 9. - 84Joa- menschliche Handlungen ausdrücken [sed fingunt fabu-
chim Vadianus [J. von Watt]: De poetica et carminis ratione, las, quibus exprimunt actiones humanas]. Die Handlung,
krit. Ausg. mit dt. Übers, und Kommentar v. P. Schäffer, Bd. 1 die sie nachahmen, ist wahr [vera est actio, quam imitan-
(1973) 237.
tur], die fingierte Handlung ist dem Wahren ähnlich
[verae similis est actio, quam fingunt].» [6] Die solcher-
Literaturhinweise: maßen wahrscheinenden dichterischen Fiktionen, so
M. T. Herrick: The Fusion of Horatian and Aristotelian Literary
Criticism, 1531-1555 (Urbana 1946) - G. Saintsbury: A History
Vossius in Bezugnahme auf Augustinus, sind bildliche
of Criticism and Literary Taste in Europe from the Earliest Darstellungen der Wahrheit. («Fictio igitur [...] figura
Texts to the Present Day, 3. Vol. (Edinburgh 1961). - B. Hatha- est.») [7] Die Charakterisierung dichterischer Fiktionen
way: The Age of Criticism. The Late Renaissance in Italy (New als Ausdruck des Wahrscheinlichen (verisimile) in
York 1962). - W.J. Kennedy: Rhetorical Norms in Renaissance Rekurs auf den aristotelischen Möglichkeitsbegriff wie
Literature (New Haven 1978). - C.C. Greenfield: Humanist and rhetorische Anforderungen an eine überzeugende,
Scholastic Poetics, 1250-1500 (Lewisburg 1981). - T . M . Greene: glaubwürdige Darstellung geht in das Imitations- bzw.
The Light in Troy. Imitation and Discovery in Renaissance Poe-
try (New Haven 1982). - M.W. Ferguson: Trials of Desire.
Fiktionsverständnis der Barockpoetiken ein .Verisimile
Renaissance Defenses of Poetry (New Haven 1983). - Murphy steht vor allem für innerliterarische Qualitäten wie Fol-
RE. - P. Brooks: The Cambridge History of Literary Criticism gerichtigkeit, Schlüssigkeit bzw. Klarheit und Angemes-
(Cambridge 1997). senheit (aptum), d.h. bezieht sich auf die Konsistenz
einer fiktiven Rede im Sinne des ordo artificialis. Die
V. Barock. Über die lateinischen Humanistenpoetiken dichterische Imitation löst sich von der Wirklichkeit, bil-
findet die in den italienischen wie französischen Dich- det nicht ab, besitzt aber dennoch einen Wahrheitsbezug
tungstheorien des Cinquecento geführte Diskussion des im Sinne des Möglichen bzw. eine Glaubwürdigkeit nach
Mimesisbegriffs im beginnenden 17. Jh. Eingang in die den Konventionen des kulturell Überlieferten. [8] Nach
deutschen Barockpoetiken. Nach den <Poeticarum insti- der Definition von J. M A S E N kennzeichnet der Begriff
tutionum libri tres> (1594) des Jesuiten J. P O N T A N U S ist «verisimiliter» ein Ähnlichkeitsverhältnis, das nicht auf
die Aufgabe der Dichtung die mit Gefallen einherge- die historische Wahrheit («veritas histórica») verpflich-
hende Belehrung durch die Nachahmung menschlicher tet. Vielmehr steht es dem Dichter als Mittel deutlicher
Handlungen in gebundener Rede. Die Dichtkunst ist Vergegenwärtigung frei, Gegenstände und Begleitum-
eine Kunst der Hervorbringung («ars faciendi»), spezifi- stände kraft seines Ingeniums dem Wahren ähnlich zu
ziert als fiktive bzw. imitative Kunst («[ars] fingendi sive erdichten («ad veri similitudinem effingere»). [9] Nach
imitandi»), d.h. der Dichter ist gleichermachen ein «fac- rhetorischen Vorgaben definiert auch O . A I C H E R das
tor» oder «fictor» bzw. «imitator». [1] Die Begriffe imi- Wahrscheinliche («verisimile») als Darstellungweise
tari, fingere, effingere sind nahezu als Synonyme zu ver- eines Gegenstandes, die auf eine bewegende Wirkung
stehen. Die imitierende Rede der Dichtung stellt über angelegt ist und in angemessener wohlklingender Erzäh-
die Hervorbringung von Bildern ein Ähnlichkeitsver- lung einen glaubwürdigen Gegenstand vorstellt («aptè
hältnis zu einem existenten oder möglichen Gegenstand concinnata narratio rem probabilem enuntiet»). In
her und läßt gewissermaßen aus dem Nichts im Rahmen Akzentuierung der Wirkdimension rückt der Dichter als
des Möglichen Neues und Wunderbares entstehen. «factor», «fictor» und «imitator» von der Wahrheit ab
Der niederländische Scaliger-Schüler D. H E I N S I U S , («poeta verÉ abstrahlt à veritate»), um im Modus der
dessen Werk großen Einfluß auf Opitz und dessen Nach- wahrscheinlichen Rede Wirkung zu erzielen. [10]
folger nimmt, folgt in seiner Schrift <De tragoediae Con- In den deutschen Barockpoetiken findet die rhetori-
stitutione liber> (1611) der Aristotelischen <Poetik>. sche Fundierung der Dichtkunst in Anknüpfung an die
Heinsius definiert die Dichtung prinzipiell als Imitation Horaz- bzw. Aristoteles-Interpretationen des Cinque-
(«Tota poesis imitatio est.»). [2] Ziel der Tragödie ist cento bzw. auf der Basis der klassischen Rhetorik eine
nicht die nackte Repräsentation von Tatsachen («nec Fortsetzung. Gleichzeitig artikuliert sich im 17. Jh.
nude explicat res gestas»), sondern die imitative Darstel- immer stärker der Anspruch, die muttersprachliche
lung von Personen und Handlungen, um die Seele durch Dichtkunst als eigenständige Literatursprache und als
die Erregung von Schrecken und Mitleid von der Schwä- gleichberechtigte Sprachkunst über die Äufstellung von
chung («defectus») durch die Affekte bzw. einem Über- Dichtungsregeln, Form- und Topoilehren zu etablieren.
maß («excessus») der Leidenschaften zu reinigen Auch kommt eine ausdrücklich christliche Zweckbe-
(«expiare»/«purgare») und in einen Zustand der Ausge- stimmung der Dichtung zum Tragen. So formuliert etwa
glichenheit («mediocritas») zu versetzten. [3] Dichteri- der Nürnberger S. VON B I R K E N , anders als in der heidni-
sche Imitation bzw. Fiktion ist als Mittel zum Zweck der schen Dichtung müsse bei den Christen «die Ehre Got-
Temperierung der Leidenschaften {palaestra affec- tes» die erste Stelle vor dem Belehren und Erfreuen ein-

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Mimesis Mimesis

nehmen. [11] In Weiterführung des Horazischen Dik- können / der Himlischen und irrdischen / die Leben
tums ut pictura poesis gilt die Dichtkunst den Barock- haben und nicht haben / welche ein Poete ihm zue
theoretikern vor allem als eine Wortmalerei oder eine beschreiben und herfür zue bringen vornimpt» [17], so
farbige Ausgestaltung mittels sprachlicher Figuren, Rät- Opitz in Aufnahme einer Formulierung Ronsards. In der
sel, Allusionen und Gleichnisse. Poesie ist wesentlich «disposition oder abtheilung» läßt der Dichter aus, «was
eine Sinnbildkunst oder allegorische Darstellungsweise sich nicht hinschicken will» bzw. integriert das, was
und Klangmalerei. Das Verständnis poetischer Imitation «newe und unverhoffet ist [...] zue erweckung der Ver-
weist nicht auf eine Abbildungsqualität, sondern auf die wunderung in den gemütern», wobei die Darstellung
Ausdruckskraft und -Steigerung (amplificatio) bzw. die nicht realen Geschehnissen folgt, sondern auf eine dich-
Varietät (varietas ) sinnbildlicher Bezüge und ihre verle- tungsimmanente <natürliche> Wirkung zielt. [18]
bendigende Repräsentation. Entsprechend der gottge- In Parallelisierung mit der Malkunst sieht J . P . T I T Z in
schaffenen sinnlichen Welt, die in ihrer Vielfältigkeit und seinem Werk «Zwey Bücher Von der Kunst Hochdeut-
ihrem Reichtum als Allegorie einer intelligiblen göttli- sche Verse und Lieder zu machen» (1642) in den Dich-
chen Wahrheit begriffen werden kann, führen die far- tungen Nachahmungen eines Dinges «wie es ist / seyn
benreichen, lautmalerischen Wendungen sprachlicher köndte oder sollte». Die in poetischer Art verfaßte imita-
Gemälde eine allegorische Weltsicht vor Augen, stehen tiv darstellende Rede kennzeichnet ein «Nachmachen /
im Dienst der Tugendlehre und führen letztendlich zur nachthun / nachfolgen» [19], wobei es sich nicht um die
christlichen Gottesfurcht. Der «Schmuckwille» steht in bloße Wiedergabe der faktischen Wirklichkeit handelt,
direktem Zusammenhang mit der Wirkungsabsicht. [12] sofern der Poet «auch das / was nicht ist / durch seine
Dabei bleibt der Spielraum sinnbildlicher dichterischer Göttliche Kunst machet / wie es seyn köndte / oder solte /
Fiktionen bzw. die Wirklichkeitsabweichung imitativer fürstellet.» [20] Diese gottähnliche Dignität dichterischer
Wortmalerei in Berufung auf die Aristotelische <Poetik> Erfindungsgabe zeigt sich in der Ausgestaltung des nach
an die Auslegung des Möglichkeitsbegriffs, an die Wah- Wahrscheinlichkeitskriterien Möglichen. Die in sprach-
rung von Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit lich anmutigen Malereien ausgestaltete poetische Fik-
gebunden. Das Naturgemäße oder die Natürlichkeit der tion, die über das Seiende hinaus ein «Sein-Können» zum
imitativen Darstellung steht in direktem Zusammenhang Gegenstand macht, ist gerechtfertigt, soweit sie hiermit
mit rhetorischen Vorschriften einer angemessenen Dar- einem «Sein-Sollen (Moral- und Idealforderung)» [21]
stellung, wobei der Begriff des Angemessenen in den zum Ausdruck verhilft.
Barockpoetiken aus einer christlichen Weltsicht be- Ein auf die poetische Invention gegründetes Verständ-
stimmt ist. Mittels der Sprache gilt es den göttlichen ordo nis von Imitation im Sinne einer wahrscheinlichen,
der Welt zum Zwecke christlicher Unterweisung zur schicklichen und darin naturähnlichen malerischen Fik-
Darstellung zu bringen, nicht als Abschilderung des Tat- tion der Wirklichkeit prägt auch A. B U C H N E R S Schrift
sächlichen, sondern in Hinführung auf eine in der wahr- <Kurzer Weg-Weiser zur Deutschen Ticht-Kunst> (1663).
nehmbaren Welt verdeckte höhere Wahrheit. [13] Dane- Dichtung sucht von jeher die Dinge mit «bunten und
ben gewinnen im Zuge der Bestrebungen, die deutsche glatten Worten gleich als lebendigen Farben» auszu-
Sprachkunst in ihrer Eigenständigkeit zu entfalten, die schmücken, um ihre Gegenstände «fast schöner / als sie
Klangfarbe, der Anspielungsreichtum neuer Bilder, die für sich selbst waren» [22] vor Augen zu stellen. Aus-
Eleganz sinnenreicher Erdichtungen und die unmittel- schmückung (ornatus) bzw. Vervollkommnung (auxesis)
bar aufreizende Vergegenwärtigungsqualität figuraler zum Zwecke der Vergegenwärtigung (evidentia) kenn-
Rede zunehmende Bedeutung. Das «Empfinden des [...] zeichnen die Fabeln eines Dichters, der Tugend und
Sprechers» und die Sichtweise einer veränderlichen Welt Weisheit lehrt, «in dem er nicht allein die in Wahrheit
erhalten größeres Gewicht neben oder gegenüber einer wesende Sachen / fast herrlicher / als sie für sich selbst
normativen Theorie sprachlicher Richtigkeit bzw. Wahr- beschaffen / darstellete / sondern auch die niemals gewe-
heit als angemessener Darstellung einer objektiv unver- sen / gleich als weren sie ihme fürbracht». [23] Buchner
änderlichen Weltordnung. [14] betont insbesondere diesen schöpferischen Charakter
In der ersten deutschsprachigen Poetik, dem <Buch der Dichtkunst, ein «Schaffen», das «nichts anders ist / als
von der Deutschen Poeterey> (1624), beruft sich M. entweder ein neuerfundes oder nach einem andern
O P I T Z , eingedenk der Tatsache, daß die Poeterey «anfan- gefertigtes Werck zu Liecht bringen [...] was es entweder
ges nichts anders gewesen als eine verborgene Theolo- ist / sein soll oder mag». [24] Wenngleich die Dichtkunst
gie» [15], auf die sittlich-konstitutive Funktion der Dich- in den Barockpoetiken in Hinsicht auf Aufgabe und Ziel
tung, um in Aufnahme dieses Dignitätstopos den Status bzw. die dichterischen Mittel (Stillehre, Topik) die prae-
dichterischer Wirklichkeitsfiktionen, insbesondere in cepta der Rhetorik aufnimmt, so daß HARSDÖRFFER beide
Hinblick auf Erbauung und Hinführung zu christlicher als Schwesterdiziplinen bezeichnen kann [25], gilt die
Gottesfurcht zu betonen. Die Dichtung zeigt deshalb dem divinen Schöpfungsakt ähnliche Weise dichteri-
nicht in jeder Hinsicht eine Übereinstimmung mit der schen Erfindens, die sich ihrerseits auf eine höhere göttli-
Wahrheit oder dem Empirisch-Faktischen, weil «die che Begabung gründet, als entscheidendes Differenzkri-
gantze Poeterey im nachäffen der Natur bestehe / und die terium zwischen dem Rhetor und dem Poeten, dem eine
dinge nicht so sehr beschreibe wie sie sein / als wie sie größere Freiheit (licentia poetica) zugestanden wird.
etwan sein köndten oder solten.» [16] Opitz verbindet Dennoch darf die als Spezifikum des Poeten herausge-
diese Begründung der dichterischen <Nachahmung der stellte Erfindungsgabe nicht als Ausdruck des Individu-
Natur> - der Ausdruck «nachäffen» weist auf eine nach- ellen oder subjektiver Schöpferkraft im Sinne des 18. Jh.
bildende Aneignung als Grundlage dichterischer Trans- interpretiert werden. [26] In den Erfindungen und
formation des Faktischen ins Fiktive - mit der rhetori- Erdichtungen kommt etwas Wahrscheinliches, etwas der
schen inventio-Lehre. Im Unterschied zur Rhetorik Wirklichkeit Verwandtes und in Absicht auf die Glaub-
beruht die dichterische Erfindungsgabe auf der Einbil- würdigkeit Exemplarisches zum Vorschein. Die dichteri-
dungskraft. «Die erfindung der dinge ist nichts anders als sche Fabel präsentiert, so Buchner, Exempla dessen,
eine sinnreiche faßung aller sachen die wir uns einbilden «was zu thun oder zu lassen sey» [27] in ebenso angeneh-

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Mimesis Mimesis

mer wie angemessener Darstellungsform. [28] Wie die auf ihre darstellerischen Mittel wie den situativen Kon-
Malerei soll die Dichtung «der Natur nachahmen», d.h. text einem geschichtlichen Wandel R e c h n u n g zu tragen.
eine naturgemäße Stimmigkeit im Sinne einer Verhält- Für S. VON BIRKEN ist die göttliche Begeisterung die
nismäßigkeit der Wertigkeit von Gegenstand und entscheidende Grundlage dichterischer Befähigung, was
sprachlicher Gestaltung wahren. [29] Wie ein Maler wird allerdings keineswegs die Belehrung überflüssig macht.
der Dichter seiner A u f g a b e gerecht, «wann er etwas so D e r rechte Poet bedarf, um «von allen Dingen zu poeti-
abgebildet / daß mans erkennen kan / was es sey / O b sieren», universaler wissenschaftlicher Kenntnisse,
gleich die innerlichen Beschaffenheiten und sein gantzes besonders der natürlichen und himmlischen Dinge, um
Wesen nicht angedeutet ist». A n d e r s als bei einem Philo- wie «Mahler / durch den Pinsel des Verstandes / mit
sophen genügen «äuserliche E r k ä n d n ü ß » und «gemeine Wortfarben ausbilden [zu] k ö n n e n / alle Dinge nach
Erfahrung», u m etwas in sinnlich-anschaulicher Präsenz ihrem Wesen und Gestalt [...] und alle deren Handlun-
wie in einem Sittenspiegel vor Augen zu führen. [30] gen / also daß es gegenwärtig scheine». [41] Die lebendi-
G. P H . HARSDÖRFFER teilt die Rechtfertigung des Fikti- ge Vergegenwärtigung als Wirkziel der Dichtung erhält
ven oder E r s o n n e n e n zum Zwecke der sittlichen Beleh- bei von Birken besonderes Gewicht. Diese Fähigkeit wie
rung, zeigt jedoch deutliche Vorbehalte gegenüber der das Erdichten neuer Gegenstände geht nicht allein auf
affektstimulierenden Verführungskraft. In Absehen auf die göttliche Naturgabe eines «hurtigen Geistes / als
Nutzen und Belustigung [31], hat sich ein Poet an die einer redefärtigen Z u n g e oder Feder» zurück, zugleich
Schranken des christlich Ziemlichen zu halten. Dies vor- m u ß «ein Poet seyn Scharfsinnig», denn das «das Dichten
ausgesetzt, zeichnet es ihn aus, in «sinnreichen G e d a n - / hat den N a m e n vom D e n k e n / und fließet aus den
cken» fernab des Gesehenen und Bekannten gleichsam G e d a n k e n in Worte». [42] In der Scharfsinnigkeit (acu-
«aus dem / was nichts ist / etwas» zu machen oder ausge- men), der pointenreichen, ironischen, durch Sprachwitz
hend vom Gegebenen etwas «wie es seyn könte / kunst- und überraschende E f f e k t e spitzen R e d e zeigt sich der
zierlich» zu gestalten. [32] Das Aussinnen oder Erdichten ingeniöse Dichter. D a s Vermögen, «durch Spitzfindig-
folgt den rhetorischen A n f o r d e r u n g e n an eine reizvoll keit die W o r t e zu drehen», so K. STIELER in der Schrift
ausgeschmückte (ornatus) und zugleich angemessene <Teutsche SekretariatsKunst> [43], kennzeichnet bei von
(aptum) und darin natürliche Rede, sofern der Poet «die Birken in besonderem M a ß e die Kunstfertigkeit des
natürlichen Farben / ich will sagen die poetischen Wörter Dichters. D e r scharfe Verstand findet auch in der 1667
/ zierlich und wolschicklich» anbringt. [33] Durch die unter der Verfasserschaft von G. NEUMARK erschienenen
figurenreiche Ausmalung mit «kunstschicklichen Wort- Schrift <Poetische Tafeln> (Verfasser des umfangreichen
farben» [34] aber erzielt die Dichtung eine gefallenerre- Kommentarteils ist M. K E M P E ) besondere Betonung.
gende und bewegende Qualität der Vergegenwärtigung Nach K e m p e reicht das Gebiet der <Poetery> so weit, als
(evidentia). [35] Einerseits betont Harsdörffer den ex- «sich die Schärffe unsers Verstandes ausbreitet». [44] Die
m'Mo-Charakter [36] und die Sinnbildlichkeit der «ver- Kunst ist nicht in die engen Schranken der Tatsachenbe-
künstelte[n] Poeterey», die eher bemüht ist, «das natürli- schreibung verwiesen, sondern zeichnet sich durch ihren
che Wesenbild zuverstellen / als vorzustellen», d.h. ihre Erfindungsreichtum aus, durch die sinnlich-anschauliche
Gegenstände in dichterischer Ausmalung anders zeigt, Qualität der Erdichtungen wie durch «anmuthige Ver-
als sie sind oder trachtet «das zu erfinden / was nir- blümungen» [45] der Rede. Wie Vossius unterscheidet
gendwo befindlich ist». [37] Z u m anderen ist die «Nach- K e m p e Nachahmen und Erdichten als zwei Hinsichten
ahmung deß Poeten» an die gegebene Wirklichkeit dichterischen Hervorbringens und stützt sich in der
gebunden, d.h. sie transformiert die resfactae, denn « O b Rechtfertigung bildhafter R e d e als F o r m der Vermitt-
nun wol der Poet bemühet ist neue Erfindungen an das lung einer höheren Wahrheit im Dienst der christlichen
Liecht zu bringen / so kan er doch nichts finden / dessen Gottesverehrung auf die Kirchenväter, die in der
Gleichheit nicht zuvor gewesen / oder noch auf der Welt Barockpoetik immer wieder zur Rechtfertigung «christ-
wäre». [38] liche [r] Unterweisung in rhetorisch-kunstvollem Stil»
Mit Nachdruck betont J.G. SCHOTTELS <Ausführliche herangezogen werden. [46] W e n n Kempe, dessen dich-
Arbeit Von der Teutschen Haubt-Sprache> (1663), daß tungstheoretische A u s f ü h r u n g e n exemplarisch für maß-
nicht die Kunst bzw. die Fülle wissenschaftlicher Lehren gebliche Tendenzen der Barockpoetik stehen können,
und literarischer Beispiele den befähigten Poeten her- Einfallsreichtum und Verstandesschärfe hervorhebt, ist
vorbringen, sondern eine vorausgehende göttliche Bega- damit nicht die Forderung nach der Entfaltung einer
bung unbedingte Voraussetzung ist, denn ein «Poeti- individuellen Künstlernatur oder eines subjektiven dich-
scher Geist, ist von sich selbst von Sinnreichen anmuthi- terischen Erlebens im dichterischen Werk verbunden.
gen Einfallen / voll Feuers / steiget unnachfölgig / kekkes Ingenium und Erfindungsgabe gehören «zum Idealbild
Unternehmens / flügelt sich mit Göttlicher V e r n u n f t / des Barockpoeten» [47], sind aber der anhand rhetori-
übertrifft die Alltags-Erfindungen / und übersteigt das / scher Darstellungsregeln formulierten A u f g a b e und
was nur erlernet wird». [39] Vor jeder regelgeleiteten Zielsetzung der Dichtung verpflichtet. Dichterische
Ausbildung liegt in der inventiven Fähigkeit, Neues sinn- Erfindung bleibt an das verisimile gebunden und ist
reich wie sinnfällig zu erdichten, die eigentliche Bega- einem christlichen Wahrheitsbegriff unterstellt. [48]
bung des poetischen Geistes. Bei Schottel steht diese A u c h wenn die Forschungsliteratur weitgehend darin
Hervorhebung der poetischen Begabung im Zusammen- übereinstimmt, daß die Barockpoetiken, in der Tradition
hang mit der Etablierung der deutschen Dichtkunst, des Cinquecento und vor allem der Rhetorik stehend,
deren Beförderung er über eine am weltgeschichtlichen k a u m neue Ansätze zeigen, sind doch zumindest Akzent-
Lauf auszurichtende künstlerische Naturnachahmung verschiebungen hinsichtlich der überlieferten Nachah-
untermauert. D e n n so wie sich die Welt verändert hat, mungslehre zu erkennen. Dies betrifft etwa die christli-
«Also m u ß auch die Kunst / die Nachäffin der Natur / sich che Konnotation des Begriffs der Angemessenheit, die
nach der itzigen Natur der Welt richten » und daß heißt starke Betonung der sinnbildlich-allegorischen und sinn-
Abstand n e h m e n vom «Handgekläpper der Griechen lich-vergegenwärtigenden F o r m sprachlicher Malerei als
oder Römer». [40] Dichterische Imitation hat in bezug spezifisch dichterischer Weise der <Naturnachahmung>

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Mimesis Mimesis

und nicht zuletzt den manieristischen Zug in Betonung dung <Nachahmung der Natur>, der in Dichtungs- und
der ingeniösen Spitzfindigkeit. [49] Kunsttheorie nach wie vor zentrale Bedeutung zu-
kommt, formieren sich divergierende ästhetische Kon-
Anmerkungen: zeptionen. Die allmähliche Ablösung der Nachahmungs-
1J. Pontanus: Institutio Poetica (Ausz.), in: J. Buchler: Thesau- doktrin im ausgehenden 18. Jh. steht im Zusammenhang
rus phrasium poeticarum (Köln 1617) 3. - 2Danielis Heinsii [D.
mit einer theoretischen Neubestimmung der Begriffe
Heinsius]: De Tragoediae constitutione liber. In quo inter cae-
tera, tota de hac Aristotelis sententia delucide explicatur (Lei- <Nachahmung> bzw. <Natur>. [1] Wegbereitend für die
den 1611) 15. - 3Heinsius [2] 29f. - 4H. Wiegmann: Palaestra Neuorientierung der Diskussion sind die Rezeption des
affectuum. Unters, zum Einfluß der Tragödienlehre der Renais- von England ausgehenden Empirismus und des französi-
sancepoetik auf die Romantheorie des Barock, in: GRM 3 schen Rationalismus. Prinzipiell kennzeichnet die enge
(1976). - 5 vgl. D.G. Morhof: Unterricht von der Teutschen Beziehung von philosophischer Theoriebildung und
Sprache und Poesie / Deren Ursprung / Fortgang und Lehrsät- Literaturkritik bzw. Dichtungstheorie die systemati-
zen / Sampt dessen Teutschen Gedichten (Lübeck/Frankfurt
schen Entwicklungen im 18. J h . bis hin zur Begründung
1700); A. Chr. Rotth: Vollständige Dt. Poesie / in drei Theilen
(Leipzig 1688) Vorrede, III. Teil, fol.7v. - 6Gerardi Joannis der Ästhetik als eigenständiger Wissenschaft.
Vossii [G.J. Vossius]: Tractatus philologici de rhetorica, de poe- Leitbegriffe der Auflärungsphilosophie, die Betonung
tica, de artium et scientiarum natura ac constitutione (Amster- der Vernunft (ratio, raison) bzw. des gesunden Men-
dam 1697) 44. -7ebd. 45. - 8 L . Fischer: Gebundene Rede. Dich- schenverstandes (sensus communis, bon sens), die Eta-
tung und Rhet. in der lit. Theorie des Barock in Deutschland blierung der Kategorie des Geschmacks als Urteilsver-
(1968) 68. - 9J. Masen: Palaestra eloquentiae ligatae (Köln mögen (goût), Prinzipien rationalistischer Erkenntnis-
1661) Pars 1,4; Fischer [8] 68. - lOO. Aicher: Iter poeticum Quo
intra Septem dierum spatium tota ferè Ars Poetica absolvitur theorie wie Ordnung und Klarheit, das Verständnis einer
(Salzburg 1674) 2f.; Fischer [8] 69. - IIS. von Birken: Teutsche kausalen, rational faßbaren Gesetzmäßigkeit der Natur
Rede-bind- und Dicht-Kunst (Nürnberg 1679; ND 1973) 185. - in Entsprechung zu den Regeln der Vernunft gehen in
12 vgl. Dyck 16; Dockhorn 53. - «Fischer [8] 264ff.; Dyck 112. - die Konzeption des Nachahmungsverständnisses ein.
14 vgl. Fischer [8] 269f. - IS M. Opitz: Buch von der dt. Poeterey, Neben den rationalistischen Tendenzen beeinflussen
hg. v. R. Alewyn (1624, ND 1963) 7. - 16ders. ebd. 11 - 17ders. Ansätze des Empirismus und des Sensualismus die The-
ebd. 17. - 18ders. ebd. 20. - 19J.P. Titz: Zwey Bücher Von der matisierung der konstitutiven Rolle von Sinneserfah-
Kunst Hochdeutsche Verse und Lieder zu machen (Danzig
1642) fol. Ai v. - 20ebd. fol. Ai r. - 21B. Markwardt: Gesch. der rung, Empfindung und Einbildungskraft und verleihen
dt. Poetik, Bd. 1: Barock und Frühaufklärung (1937) 66. - 22 A. der subjektiven Erfahrung immensen Stellenwert. Die
Buchner: Kurzer Weg-Weiser zur dt. Dichtkunst (Jena 1663, ND Frage nach einer Verhältnisbestimmung von vernunftbe-
1977) 7. - 23ebd. 11. - 24ebd. 23. - 25G.Ph. Harsdörffer: Poeti- stimmter Regularität künstlerischer Wirklichkeitsmi-
scher Trichter. Die Teutsche Dicht- und Reimkunst ohne Behuf mese im Sinne der Repräsentation einer objektiven
der Lat. Sprache / in VI Stunden einzugiessen (1648-53, ND Hil- Wahrheit und sinnlich-imaginativer Produktivität des
desheim/New York 1971) Teil III, fol. III v. - 26 G. Fricke: Die poietischen Vermögens in Rekurs auf die subjektive
Bildlichkeit der Dichtung des A. Gryphius (1932) 19f.; Dyck 50.
Empfindung von Schönheit gewinnt im 18. Jh. im Kon-
- 27 Buchner [22] 25 f. - 28ebd. 44. - 29 ebd. 45. - 30 ebd. 22-24. - text der Diskussion des Geschmacksbegriffs an Virulenz.
31 Harsdörffer [25] Teil 1,7. - 32ebd. Teil 1,4. - 33ebd. Teil 1,6. Anstoßgebend hierfür ist insbesondere die Rezeption
- 34 ders. [25] Teil II, 33 u. 37; Teil III, 36 ff., dazu Markwardt [21 ] der dichtungstheoretischen Auseinandersetzungen der
77; vgl. auch Frauenzimmer Gesprächspiele / so bey Ehr- und
Tugenliebenden Gesellschaften / mit nutzlicher Ergetzlichkeit / französischen Klassik bzw. des englischen Klassizismus.
beliebet und geübet werden mögen, hg. von J. Böttcher (1644 ff., 1. Klassizistische Voraussetzungen (früh)aufklärerischer
ND 1968) Bd. 4, 157ff., Bd.8, 208ff. - 35ders. [25] Teil I, 6. - Dichtungstheorie. In Frankreich manifestiert sich die
36ebd. Teil 1,101. -37ebd. Teil III, Vorrede, fol. III rf. - 38ebd. Auseinandersetzung um das M.-Verständnis bzw. die
Teil II, 8. - 39 J.G. Schottel: Ausführliche Arbeit Von der Teut- Situierung und Definition künstlerischer M. im Bezugs-
schen Haubt-Sprache, hg. von W. Hecht, II. Teil, Poetica Ger- rahmen von Vernunft (raison), Gefühl (sentiment),
manica, Teutsche Verskunst oder Reimkunst (1967) 800f. - Geschmack (goût) nicht zuletzt in einem Streit um die
40Schottel [39] Bd. 1,109. - 41Birken [11] 185f. - 42ebd. 170. -
Vorbildlichkeit und Verbindlichkeit der Antike für die
43 K. Stieler: Teutsche SekretariatKunst (Nürnberg 1681) 173. -
Moderne, der <Querelle des Anciens et des Modernes>,
44 G. Neumark: Poetische Tafeln oder Gründliche Anweisung
zur Teutschen Verskunst aus den vornehmsten Authorn in fünf- die im ausgehenden 17. Jh. ihren Höhepunkt erreicht
zehen Tafeln zusammen gefasset und mit ausführlichen Anmer- und große Wirkung auf die kunst- bzw. dichtungstheore-
kungen erklähret, hg. v. J. Dyck (1667; ND 1971) 31. - 4 5 ebd. 38. tischen Diskussionen im 18. J h . zeitigt. [2]
- 46 Dyck 23. - 47Dyck 65. - 48 H. Wiegmann: Gesch. der Poetik. G e m ä ß der doctrine classique gelten Formstrenge,
Ein Abriß (1977) 50. - 49ebd. Regelhaftigkeit und die strukturelle Einheit der dichteri-
schen Form, insbesondere in Anwendung auf die Theo-
Literaturhinweise: rie der Tragödie, als die Kriterien einer nach Maßgabe
J. Dyck: Philosoph, Historiker, Orator und Poet. Rhet. als Ver-
der Vernunft systematisch zu befolgenden Dichtungs-
ständnishorizont der Literaturtheorie des XVII. Jh., in: Arcadia
4 (1969) 1-15. - Barner. - K. Dockhorn: Affekt, Bild und Verge- theorie. Garant einer der Naturwahrheit adäquaten, ver-
genwärtigung in der Poetik des Barock, in: GGA 225 (1973) 135- nunftbestimmten Reglementierung bzw. objektiven, d.h.
156. - J. Dyck: Rhet. Argumentation und poetische Legitima- zeitlos gültigen Richtigkeit dichterischer Regeln ist die
tion. Zur Genese und Funktion zweier Argumente in der Litera- Auffassung einer ihrerseits nach Vernunftgesetzen
turtheorie des 17. Jh., in: H. Schanze (Hg.): Rhet., Beiträge zu strukturierten natürlichen Wirklichkeit. Die Vertreter
ihrer Gesch. in Deutschland vom 16.-20. Jh. (1974) 69-86. - H.- der Anciens berufen sich auf antike Vorbilder einer nach
G. Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im
Vernunftregeln in idealtypischer Weise nachgeahmten
Säkularisierungsprozeß. Problemgesch. Stud, zur dt Lyrik im
Barock und der Aufklärung, 2 Bde. (1981). - R. Baur: Didaktik Natur. Als einer der einflußreichsten Repräsentanten
der Barockpoetik. Die deutschsprachigen Barockpoetiken von der Position der Anciens sei stellvertretend N. B O I L E A U -
Opitz bis Gottsched als Lehrbücher der <Poeterey> (1982). DESPRÉAUX genannt, der in der <Art poétique> (1674) für
die klassizistische Doktrin regeltreuer Dichtung eintritt.
VI. Aufklärung. Im 18. Jh. vollzieht sich ein weitrei- B e i Boileau ist die menschliche Vernunft (raison) die
chender Wandel der Mimesiauffassung. Unter der Wen- Instanz der Bestimmung von Darstellungskriterien und

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Mimesis Mimesis

-formen in Korrespondenz mit dem gesunden Men- Addison zeichnet sich das natürliche Genie (natural
schenverstand (bon sens). Oberste Forderung an die genius), prototypisch ist neben Homer Shakespeare,
Dichtung ist die Wahrung der bienséance, einer ange- durch eine nicht an Regeln gebundene Individualität und
messenen bzw. geschmackvollen Darstellungsweise, Originalität aus. [7] Von großem Einfluß auf die Ent-
sowie der Wahrscheinlichkeit (vraisemblance), Folge- wicklung der Genieästhetik im 18. Jh. ist A.A. E A R L OF
richtigkeit und Klarheit dargestellter Handlungszusam- SHAFTESBURY. Nach platonischer Auffassung sind die
menhänge unter Ausschluß des Phantastischen oder Mannigfaltigkeit der sinnfälligen Schönheit, die Wunder
Übersteigerten. Diese als Regel der Naturnachahmung der sichtbaren Welt nach Shaftesbury Schatten einer
gefaßte vernunftgeleitete Darstellung einer Naturwahr- ersten Urschönheit, abbildliche Mitteilungen einer gött-
heit, wobei Natur für das Schickliche, der Konvention lichen Vernunftnatur. [8] Dieser «göttlichen Natur» des
entsprechende steht, sieht Boileau in der Dichtung der «allumfassenden, regierenden Genius (universal and
Antike in vollendeter Weise verwirklicht. Zugleich for- souvereign Genius)» [9] gilt es innezuwerden. Der sittli-
muliert Boileau mit dem Prinzip des Geschmacks (goût) che Künstler, der diese wahre Schönheit als seiner Seele
einen Ansatz, der auf eine uneinholbare Komponente (Je innewohnende Idee kraft seiner Imagination schaut,
ne sais quoi) dichterischer Gestaltungskraft hinführt und ahmt in der künstlerischen Hervorbringung die göttliche
über die bloße Regelgebundenheit der Dichtung hinaus- Schöpfung nach. «Ein solcher Dichter ist in der Tat ein
weist. zweiter <Schöpfer> [...] Wie jener allerhöchste Werkmei-
An der Frage der Gültigkeit der überlieferten Regeln ster oder jene allgemein bildende Natur (Piastick
antiker Dichtungstheorie für die Beurteilung zeitgenös- Nature) schafft er ein Ganzes, stimmig und wohlausge-
sischer Literatur entzündet sich ein Streit, der schließlich wogen in sich selbst.» [10]
in Abkehr vom starren Akademismus den unbedingten In Deutschland wird die Aufklärungsphilosophie
Vorbildcharakter der antiken Vorbilder aufhebt. Den- Leibniz-Wolffscher Prägung bestimmend für die dich-
noch bewahren Grundlagen der doctrine classique auch tungstheoretischen Auseinandersetzungen. Wenn L E I B -
bei den Kritikern des Akademismus nachhaltige Gültig- NIZ Gott als den Schöpfer der besten aller möglichen
keit. [3] Eine wesentliche Komponente dieser Entwick- Welten bestimmt, und damit die Möglichkeit anderer,
lung ist die Emanzipation einer historischen Sichtweise. über das Bestehende hinaus möglicher Welten impli-
Die Position der Modernes ist gekennzeichnet durch die ziert, ist hiermit eine Möglichkeitsdimension eröffnet,
Zurückweisung der strikten Bindung literarischer Pro- die Legitimationsbasis dichterischen Schaffens wird. Mit
duktion an ein starres Regelsystem verbunden mit der Leibniz' Bestimmung der intelligenten monadischen
Infragestellung des postulierten Vollkommenheitsan- Substanzen, die als lebendige Spiegel des Universums
spruchs der antiken Vorbilder, um mit den Kategorien nach dem Bilde des göttlichen Geistes geschaffen, «mit
des guten Geschmacks, der Vernunft bzw. des freien Erkenntnis auf die Nachahmung der göttlichen Natur
Urteils über das nunmehr in relativer Hinsicht Schöne hinwirken können» [11], findet das individuelle Ver-
(beau relatif) eine «historische Relativierung ästheti- nunftvermögen und seine freie, schöpferische Kraft
scher Normen» einzuleiten. [4] Betonung. «Der Mensch ist also gleichsam ein kleiner
Nach J.B. Abbé D U B O S ist der Endzweck der Poesie, Gott in seiner eigenen Welt oder seinem Mikrokosmos,
zu rühren und zu gefallen. In den <Réflexions Critiques den er nach seiner Weise regiert: er schafft Wunder-
sur la Poésie> (1719) stellt er die wirkungspoetische Ziel- werke darin und oft ahmt seine Kunst die Natur
setzung über die Einhaltung dichterischer Regeln. Dich- nach.» [12] Dieser metaphysische Ansatz wirkt sich in
tung sucht durch die Nachahmung geeigneter Objekte Applikation auf die Dichtungstheorie des 18. Jh. als
künstliche Leidenschaften hervorzurufen, die wie die Rechtfertigung einer Schöpfung in dem Möglichen, der
natürlichen Dinge affizierend wirken. [5] Die Erregung Hervorbringung des Wunderbaren vermöge der Einbil-
subjektiver Empfindungen wird zur Beurteilungsinstanz dungskraft aus. [13]
künstlerischer Werke. Nicht die Vernunft ist der Probier- 2. Gottsched und die Schweizer. Der vollständige Titel
stein, sondern allein ein inneres Gefühl, vermöge dessen der beiden ersten Auflagen von J. C H R . GOTTSCHEDS
alle Menschen ohne Kenntnis künstlerischer Regeln <Versuch einer Critischen Dichtkunst) (1730,1737) weist
wahrnehmen können, was an einem Werk gelungen in programmatischer Weise darauf hin, <Daß das innere
ist. [6] Wesen der Poesie in einer Nachahmung der Natur
Wichtige Anstöße für die frühaufklärerischen Dich- bestehe>. Kriterien einer gelungenen, auf moralische
tungstheorien gehen vom englischen Klassizismus aus. J. Wirkung angelegten dichterischen Nachahmung der
D R Y D E N hebt im <Essay on Dramatic Poesy> (1688) die Natur sind die Wahrung der Wahrscheinlichkeit und die
Dichtung eines Shakespeare gegen die Nachahmung der innere Widerspruchslosigkeit. Voraussetzungen hierfür
Alten hervor. A. P O P E betont im <Essay of Criticism> ist eine weitläufige philosophische Gelehrsamkeit sowie
(1711) Regelhaftigkeit, Klarheit und Ordnung als Vor- eine durch die Unterweisung in Geist- und Sitten-
aussetzung einer Dichtung, die den Prinzipien der Natur- lehre [14] fundierte Menschenkenntnis des Dichters. Um
ordnung Folge leistet, ohne die dichterische Abweichung die «unsichtbaren Gedanken und Neigungen menschli-
vom Regelkanon als Ausdruck subjektiver künstleri- cher Gemüther nachzuahmen» [15] muß er so dichten,
scher Eigenleistung zu verkennen. Pope verbindet Krite- «daß es noch einigermaßen gläublich herauskomme, und
rien der klassizistischen Dichtungstheorie mit der Quali- der Natur ähnlich sey». [16] Das angeborene dichterische
tät des individuellen geistigen Vermögens des Künstlers Naturell (ingenium), eine lebendige Einbildungskraft,
(wit, Witz), einer künstlerischen Produktivität, deren natürlicher Witz und Scharfsinn sowie eine «gesunde
Entfaltung die vernünftige Naturordnung als Struktur- Vernunft und gute Einsicht in philosophische Wissen-
prinzip aufnimmt. schaften legen den Grund zur wahren Poesie». Der
Durch J. A D D I S O N S <Spectator>-Beiträge bzw. R. STEE- «Poet ist ein Nachahmer der Natur, wenn ich so sagen
LES <Tatler>-Aufsätze wird die Diskussion um die Indivi- darf: und zwar soll er ein gelehrter Nachahmer
dualität künstlerischer Darstellung vermöge des produk- seyn». [17] Der Dichter muß die Gesetze der Natur ken-
tiven Geistes (wit) in weiten Kreisen publik. Nach nen, die ihre Entsprechung in den Regeln der Vernunft

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Mimesis Mimesis

finden, denn sie «haben ihren G r u n d in der unveränder- genwärtigt bzw. Dinge aus dem Bereich der Möglichkeit
lichen Natur der Dinge selbst; in der Uebereinstimmung in die Wirklichkeit versetzt, ihnen den Schein des Wirkli-
des Mannigfaltigen, in der O r d n u n g und Harmonie. chen verleiht. «Diese A r t der Schöpfung ist das Haupt-
Diese Gesetze [...] bleiben unverbrüchlich und feste ste- w e r k der Poesie [...], daß sie die Materie ihrer Nachah-
hen». [18] Gottsched vermittelt diese Konzeption einer mung allezeit lieber aus der möglichen als aus der gegen-
Entsprechung von Natur- und V e r n u n f t o r d n u n g mit wärtigen Welt nimmt.» [29] Auf der Basis der Leibniz-
d e m rhetorischen Prinzip einer (im Sinne des decorum/ schen Metaphysik kann sich die Dichtkunst auf die
aptum) <natürlichen> Darstellungsweise. [19] Die Ver- Dimension des Möglichen berufen und wird in der Aus-
nunftorientierung wird zum Korrektiv dichterischer gestaltung neuer Z u s a m m e n h ä n g e , des Erstaunlichen
Erfindungen und Fiktionen bzw. zur Beurteilungsinstanz und Wunderbaren, als wohlerfundene Historie aus einer
über Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit, gemes- anderen Welt legitimiert. Das Verständnis der Nachah-
sen an der gesetzmäßigen O r d n u n g der Natur. Gott- mungsdoktrin verschiebt sich bei den Schweizern in
sched unterscheidet drei Gattungen poetischer Natur- Richtung auf eine Natürlichkeit, die als Wirkungssteige-
nachahmung. Während die erste als bloße Beschreibung rung nicht vorrangig durch eine an Vernunftregeln orien-
und lebhafte Schilderung einer natürlichen Sache defi- tierte Glaubwürdigkeit gewährleistet wird, sondern auf
niert ist, fällt die zweite als Repräsentation einer Person eine den Naturkräften entsprechende Weise der Affek-
in den Bereich der theatralischen Poesie, wobei Natür- tion angelegt ist. D i e Regeln hierfür sind in der
lichkeit in der Wirkung gegen das Gekünstelte, gegen «würckenden Natur» selbst aufzusuchen. [30] Die
übertriebenes Pathos und Schwulst gesetzt ist. D i e dritte, genaue Kenntnis, Untersuchung und Auffassung einzel-
eigentliche poetische Nachahmung besteht darin, «gute ner Gegenstände sowie der Erfahrungsreichtum [31] ver-
Fabeln zu erfinden», was für Gottsched nicht allein eine leihen der Einbildungskraft die Fähigkeit, eine lebendig-
stimmige Fügung von W a h r e m und Falschem (Fiktivem) affizierende, gemäß dem rhetorischen Prinzip der Verge-
umfaßt, sondern vor allem darauf zielt, eine moralische genwärtigung (evidentia) [32] natürlich wirkende Poesie
Lehre einzukleiden. Die Fabel, das Herzstück der Poe- hervorzubringen. Durch überzeugende Nachahmungen
sie, muß «was Wahres und was Falsches in sich haben: wird der Rezipient herausgefordert, einen Vergleich der
nämlich einen moralischen Lehrsatz, der gewiß wahr Kraft und Wirkweise auf das G e m ü t zwischen Urbild
seyn muß; und eine Einkleidung desselben in eine und dichterischer Fiktion anzustellen. Diese innerpsychi-
gewisse Begebenheit, die sich aber niemals zugetragen schen Momente als Wirkungen auf die Einbildungskraft
hat, und also falsch ist.» [20] Gegen den Sinnenreichtum erhalten immenses Gewicht.
barocker Allegorik begreift Gottsched die Fabel in A n die Stelle der rationalistischen Dominanz des Ver-
B e r u f u n g auf die Leibniz-Wölfische Metaphysik [21] als nunftprinzips tritt die Einbildungskraft als Quelle leben-
«Erzählung einer unter gewissen U m s t ä n d e n möglichen, diger Naturerfahrung und dichterischer Wirklichkeits-
aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter transformation. In der Darstellung des Neuen, der «Mut-
eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt. Phi- ter des Wunderbaren», vermag das «poetische Wahre»
losophisch könnte man sagen, sie sey ein Stücke von unmittelbares Gefallen auszulösen. Dieser «hell leuch-
einer andern Welt.» [22] Nach dieser Maßgabe diskutiert tende [...] Strahl des Wahren» ist das «poetisch
Gottsched die Berechtigung des W u n d e r b a r e n in der Schöne». [33] Das W u n d e r b a r e geht über das Neue, das
Poesie. Die «glückliche Nachahmung der Natur» gestal- sich in den Grenzen der Wahrscheinlichkeit hält, noch
tet das W u n d e r b a r e in den Schranken der Natur, um hinaus, es tritt geradezu in Widerstreit mit dem Bekann-
«noch natürlich und glaublich» zu sein. [23] Natürlichkeit ten, setzt das G e m ü t in Verwirrung, erzeugt den Schein
weist gemäß tradierter rhetorischer Auffassung auf eine von Falschheit, des Unmöglichen und Unwahren. Und
wirkungspoetische Qualität der Dichtung, nicht auf eine doch ist dies «nur ein Schein», durch den das Wunder-
Abbildlichkeit zur vorfindlichen Wirklichkeit. Bei völlig b a r e seine besondere Wirkkraft auf das Gemüt entfal-
realitätsfernen Fiktionen, etwa den Lehrfabeln eines tet. [34] Das W u n d e r b a r e bedarf des Scheins von Wahr-
Äsop, ist eine bedingte oder «hypothetische Wahr- heit, um zu bewegen, zugleich muß dieses Wahrscheinli-
scheinlichkeit» [24] dann gegeben, wenn die Vorausset- che den Z a u b e r des W u n d e r b a r e n tragen, um A u f m e r k -
zungen, unter denen etwas in einer anderen Welt in die- samkeit zu erzeugen. «Folglich muß der Poet das Wahre
ser Weise möglich und wahrscheinlich sein könnte, als wahrscheinlich und das Wahrscheinliche als wunder-
benannt sind. Innerliterarische Widerspruchslosigkeit bar vorstellen.» [35] Dichterische Erfindung bewegt sich
und eine zumindest durch die kontextuelle Verankerung in den Grenzen einer poetischen Wahrscheinlichkeit,
gewährleistete Glaubwürdigkeit bilden die Kriterien stützt sich logisch auf den Satz des Widerspruchs wie den
dichterischer Nachahmung der Natur. Satz vom zureichenden G r u n d , wahrt den Schein einer
Bei J . J . B O D M E R und J . J . BREITINGER (genannt die Übereinstimmung mit herrschenden Meinungen und
<Schweizer>) wird die Anwendung der Leibniz-Wolff- Erkenntnissen. Quelle des W u n d e r b a r e n in der Poesie ist
schen Philosophie auf die Dichtungstheorie zur Basis, letztlich die unerschöpfliche Natur, sofern die Kunst
dem W u n d e r b a r e n in der Poesie größte Geltung zu ver- nichts anderes ist als eine Verwandlung dessen, was die
schaffen. Das Hauptwerk der Dichtung besteht nach Natur als Mögliches birgt. Dies ist die Nachahmung in
Breitinger in einer «Nachahmung der Natur in d e m Mög- d e m Möglichen im eigentlichen Sinne. [36] Mit dieser
lichen» [25]. Die Kunst ist «nichts anders [...], als eine Begründung, daß die dichterische Naturnachahmung vor
nachgeahmte Natur» [26], doch eingedenk des zugrunde- allem abstractio imaginationis, «Abgezogenheit der Ein-
gelegten Natur- bzw. Gottesbegriffs bezieht sich das bildung» [37] von der wirklichen Welt ist, um auf diesem
«poetische Wahre» [27] auf eine zweite Gattung des Wege durch neuartige und wunderbare Bilder die leb-
W a h r e n in der Natur, auf die unzähligen möglichen Wel- hafteste Wirkung auf das Vorstellungsvermögen des
ten, die in der Kraft des Schöpfers bzw. der Natur Rezipienten zu erzielen, wird das Wunderbare als Form
gegründet sind. Ebensoweit wie die Natur «erstrecket einer möglichen Naturwahrheit etabliert. Die Schweizer
sich das Vermögen seiner Kunst». [28] D e r Dichter ist entwickeln damit nicht allein eine «psychologisch fun-
eine A r t Schöpfer, sofern er Unsichtbares sinnlich verge- dierte Wirkungspoetik» [38], sondern verleihen dem

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Mimesis Mimesis

dichterischen Schaffen über die Betonung der Einbil- bildungskraft ausgelöst wird. Deshalb ist es für Schlegel
dungskraft eine subjektive Komponente. kein Fehler, die tatsächlichen Sachverhalte zu vernach-
3 . Ästhetik. Mit A . G . B A U M G A R T E N S wissenschaftlicher lässigen, sondern «ein Kunststück, Unähnlichkeit in die
Grundlegung der Ästhetik wird erstmals eine klare Nachahmung zu bringen». [47] Schlegel bindet Nachah-
begriffliche Distinktion zwischen dem rationalen und mung als Erschaffung von Bildern an das ästhetische
dem sinnlichen Erkenntisvermögen vorgenommen. Das Erleben des Subjektes.
Gedicht (poema) ist nach Baumgarten eine vollkom- Nach Ch. Β Α Τ Γ Ε Υ Χ , dessen in verschiedenen Überset-
mene sensitive Rede (oratio sensitiva perfecta), eine zungen publizierter <Traité des beaux arts réduit à un
sprachliche Vermittlung sensitiver, d.h. auf das sinnliche même principe* (1746) großen Einfluß auf die deutschen
Erkennen (cognitio sensitiva) zurückgehender Vorstel- Poetiken nimmt [48], besteht der Zweck der schönen
lungen (Empfindungen, Einbildungen). [39] Je klarer, Künste (beaux arts) allein darin, Vergnügen (plaisir) her-
anschaulicher es dem analogon rationis solche Vorstel- vorzurufen. Der Geist des Künstlers («génie») erweist
lungen repräsentiert, je mehr es das Publikum zu affizie- sich nach Batteux nicht darin, etwas zu erdichten, was
ren vermag, desto vollkommener ist ein Gedicht. Wie die nicht sein kann, sondern ausfindig zu machen, was
Schweizer hebt Baumgarten im Kontext der psychologi- bereits in der Natur angelegt ist. [49] Der menschliche
schen, wirkungspoetischen Kraft der Dichtung das Wun- Geist wird zum Schöpfer («créateur»), wenn er ein
derbare hervor. [40] Neben wahren Erdichtungen (fig- genauer Beobachter («observateur») der Natur ist. [50]
menta vera), deren Gegenstände in der existierenden Die schönen Künste der Natur, imitieren sie durch Nach-
Welt möglich sind, kann die Dichtung auf Vorstellungen, bildung («imiter, c'est copier un modèle.»), d. h. kopieren
deren Gegenstände in anderen Welten als möglich vor- ein Original oder Muster («original», «prototype»), des-
gestellt werden können (heterocosmica) zurückgreifen, sen Züge durch ein Nachbild («copie») repräsentiert
während utopische Vorstellungen (utopica), die sich auf werden. Dieser Prototyp oder all das, was sein kann oder
absolut Unmögliches gründen, nicht in den Bereich der leichthin vorstellbar ist, das ist die Natur («La Nature
Poesie fallen. [41] Der Dichter ist «gewissermaßen ein [...] voilà le prototype ou le modèle des Arts.»), die
Schaffender, ein Schöpfer», d.h. er sucht eine möglichst sowohl die existierende physische, politische, moralische
lichtvolle Verknüpfung von Vorstellungen, eine Ord- oder bürgerliche Welt, wie die historische Welt, die Welt
nung, die ein Thema in größtmöglicher Anschaulichkeit der Fabelwesen («monde fabuleux») und eine ideale
(extensiver Klarheit) vermittelt. In diesem Sinne muß oder mögliche Welt («le monde idéal ou possible»), in
«ein Gedicht [...] gleichsam eine Welt sein». [42] Wenn der gleichsam allgemeine Muster möglicher künstleri-
Baumgarten die Dichtung als <Nachahmung der Natur> scher Ausgestaltungen im Besonderen existieren,
bestimmt, wobei <Natur> als das innere Prinzip der Bewe- umfaßt. [51] Künstlerisches Genie zeigt das Ideale oder
gung und Veränderung des Universums definiert ist, Schöne im Schein des Natürlichen. Die Künste müssen so
bezieht sich dies auf die Ähnlichkeit in der Wirkung. nachahmen, daß man die Natur erblickt, jedoch nicht so,
«Wenn ein Gedicht eine Nachahmung der Natur oder wie sie an sich ist, sondern so, wie sie sein kann und sich
eine von Handlungen heißen soll, so wird verlangt, daß für den Geist vergegenwärtigen läßt («une imitation, où
seine Wirkung denen der Natur ähnlich sei.» [43] on voie la Nature, non telle qu'elle est en elle-même,
mais telle qu'elle peut être, & qu'on peut la concevoir par
Daß dichterische Nachahmung keine Widerspiege- l'esprit»). [52] Dies ist die schöne Natur («belle Nature»)
lung der sichtbaren Wirklichkeit verfolgt, daß die «Nach- oder das Wahre, wie es sein könnte («le vrai qui peut
ahmung der Sache, der man nachahmet, zuweilen unähn- être»). [53] Imitation der schönen Natur («imiter la belle
lich werden müsse» [44], mit dieser Setzung stößt J.E. Nature») bzw. der Ausdruck der Natur in ihrer Schönheit
SCHLEGEL eine kritische Neubestimmung der M.-Doktrin («l'expression de la Nature dans son beau») ist das Prin-
an. Schlegel stellt die wirkungspoetische Zielsetzung, das zip aller schönen Künste: eine idealisierende Darstellung
Vergnügen (delectare) als Endzweck der Poesie, über die des Naturschönen.
belehrende Funktion. [45] Indem Nachahmung, be-
stimmt als bilderzeugende Handlung, nicht darauf fest- In den anonym in Verbindung mit der Batteux-Über-
gelegt wird, ein Vorbild lediglich abzuschildern, sondern setzung Einschränkung der schönen Künste auf einen
ihren Gegenstand vielmehr von neuem erschafft, löst er einzigen Grundsatz* (1751) publizierten Abhandlungen
die Poesie von der Darstellung einer Naturwirklichkeit von J. A. S C H L E G E L wird die Position Batteux', Dichtung
weitgehend ab und etabliert eine Eigenständigkeit poeti- sei gleichsam ein Auffinden und Nachahmen des in der
scher Wahrheit, die sich an der Wirkung auf die subjek- Natur idealtypisch Verborgenen, entschieden zurückge-
tive Vorstellungswelt des Rezipienten bemißt. «Derje- wiesen. Für Schlegel ist die Poesie ein von der Wirklich-
nige, welcher nachahmet, muß sich nach den Vorstellun- keit der Naturdinge unabhängiger Bereich und die dich-
gen derer richten, die das Bild vergnügen soll. Das ist, terische Nachahmung ein schöpferischer Prozeß, der,
wenn sie eine andere Vorstellung von dem Vorbilde lediglich an eine hypothetische Wahrscheinlichkeit
haben, als es in der That beschaffen ist; muß er nicht gebunden, eine in sich gefügte poetische Wirklichkeit
mehr die Sache selbst, die er nachahmet, sondern die entwirft und «seinen Wahrheitsgehalt nicht mehr auf-
Begriffe derer, denen zu gefallen er sein Bild verfertigt, grund irgendeines Zusammenhanges mit einer Wahrheit
zu seinem Vorbilde nehmen, und sein Bild muß der jenseits des Werkes, mit der realen Wirklichkeit, sondern
Sache unähnlich werden, damit es desto eher mit den durch eine innere Konsequenz, eine werkimmanente
Begriffen derselben über ein komme.» [46] Damit fließen Ordnung» [54] gewinnt.
in der Nachahmungsdoktrin ein wirkungspoetisches und
D . D I D E R O T S Auseinandersetzung mit der Weise dich-
ein rezeptionsästhetisches Moment zusammen. Die Ein-
bildungskraft des Nachahmenden bezieht sich in erster terischer imitatio naturae, die für die deutsche Spätauf-
Linie auf diejenige des Rezipierenden, auch wenn dessen klärung wichtig wird, mündet in eine Theorie der Illusion
Begriff oder Vorstellung von der Wahrheit abweicht, bzw. des ästhetischen Vergnügens an einer mittelbaren
sofern das Vergnügen an der Nachahmung durch ein Erkenntnis des Natürlichen über die bewußte Wahrneh-
Gegeneinanderhalten von Vorbild und Bild in der Ein- mung dichterischer Kunst als Täuschung. Nicht die Wirk-
lichkeitsdarstellung sondern die vollkommene Wirklich-

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Mimesis Mimesis

keitsillusion bzw. der Schein von Wahrheit bestimmen M . MENDELSSOHN hebt in seinen ästhetischen Schrif-
das Verständnis von Naturnachahmung. [55] ten den Täuschungscharakter künstlerischer Nachah-
4. Spätauflclärung. Eine Verschiebung des Nachah- mungen und ihre die Präsenz der konkreten Naturdinge
mungsbegriffs im Sinne einer naturhaften Schöpfung, die übertreffende Wirkkraft hervor. Vor allem Ansätze von
Betonung des subjektiven Charakters poetischen Schaf- Shaftesbury und Dubos weiterführend wird die Wirkung
fens wie des ästhetischen Erlebens und die hiermit ein- auf die Psyche des Rezipienten, die Empfindung des
hergehende Verselbständigung der poetischen Wahrheit Schönen, zu einem maßgeblichen Kriterium. Batteux'
prägt die Verwendung der Nachahmungsformel in der Grundsatz, «Nachahmung der Natur sey das allgemeine
Spätaufklärung. G.E. LESSINGS <Hamburgische Drama- Mittel, dadurch uns die schönen Künste gefallen», ist für
turgie) (1767/69) erteilt der klassizistisch-rationalisti- Mendelssohn unzulänglich, sofern dieser außer acht
schen Tradition eine Absage. Dichtung ist nicht auf den läßt, wodurch die Empfindung des Schönen in der Seele
Vergleich von Wirklichkeit und Darstellung angelegt, sie mittels der Kunst im Unterschied zur Natur geweckt
lebt vielmehr aus dem Reiz der Täuschung, entwirft eine wird. «Diese ursprünglichere Naturgesetze müssen wir
Welt der Illusion, die im Drama auf die Erregung von aufsuchen, die so wohl den allervollkommensten Erfin-
Furcht und Mitleiden zielt. Wenn Lessing dennoch kon- der, als den Nachahmer verbinden, so bald sie den Vor-
statiert, «nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachah- satz haben, zu gefallen.» [65] Schönheit, definiert als
mung der Natur ist» [56], oder mit Diderot fragt: «Gibt es vollkommene sinnliche Vorstellung, «bezaubert uns in
denn auch eine andere Regel, als die Nachahmung der der Natur, wo wir sie ursprünglich, aber zerstreuet
Natur?» [57], stehen diese Äußerungen im Zusammen- antreffen; und der Geist des Menschen hat sie in Wer-
hang mit der Forderung nach einem einheitlichen, ken der Kunst nach zu bilden und zu vervielfältigen
schlüssigen Handlungsaufbau in der Tragödie, die als gewußt.»[66] Schönheit ist hiernach nicht Eigenschaft
gelungene künstlerische Illusion ihren fiktiven Charak- eines Gegenstandes, sondern beruht als Empfindung des
ter vergessen läßt und die Rezipienten ganz in ihre Welt Gefallens auf einer subjektiven Sinnestätigkeit. Auf-
zieht, so daß «wir es nicht als das Produkt eines einzeln gabe der schönen Künste ist es, vermöge einer «durch
Wesens, sondern der allgemeinen Natur betrach- die Kunst vorgestellten sinnlichen Vollkommenheit»,
ten.» [58] Es genügt, wenn Handlungen aufgrund einer d.h. mittels der ästhetischen Illusion die Sinne so leben-
inneren Konsistenz «poetisch wahr sind», d.h. wahr- dig zu affizieren, daß «wir die Sache selbst zu sehen glau-
scheinlich wirken. [59] Das Genie komponiert eine nach ben» und zugleich erinnert werden, «daß wir nicht die
individuellen dichterischen Schöpfungsprinzipien geord- Natur selbst sehen». [67] Diese Spannung zwischen den
nete Welt [60], zeigt Charaktere und Geschehnisse, «ob oberen und den unteren Seelenkräften, dem Urteil der
sie schon nicht aus dieser wirklichen Welt sind, sie den- Vernunft und der Empfindung, macht das Vergnügen an
noch zu einer andern Welt gehören könnten» und läßt den Nachahmungen aus. «Soll ein Nachahmung schön
Handlungen in moralisch-belehrender Absicht als wirk- seyn, so muß sie uns ästhetisch illudiren; die obera See-
lich in Erscheinung treten, damit sie für möglich erkannt lenkräfte aber müssen überzeugt seyn, daß es eine Nach-
werden können. [61] Die «Welt eines Genies» entspricht ahmung, und nicht die Natur selbst sey.» [68] Die Voll-
in der kausalen Verbindung von Ursachen und Wirkun- kommenheit eines produktiven Geistes schlägt sich in
gen der Ordnung der bestehenden Welt, um somit «das der Natur wie der nachahmenden Kunst, in der Mannig-
höchste Genie [Gott] im Kleinen nachzuahmen», denn faltigkeit der Teile bei gleichzeitiger Ordnung und
die poetisch wahre Welt, «das Ganze dieses sterblichen Regelmäßigkeit nieder. Einheit im Mannigfaltigen ist
Schöpfers sollte ein Schattenriß von dem Ganzen des das Grundprinzip des Schönen bzw. Voraussetzung
ewigen Schöpfers sein». [62] <Nachahmung> ist nicht einer vollkommenen sinnlichen Vorstellung. Die Kunst
zuletzt eine Weise der symbolischen Verdichtung mora- erreicht diesen Endzweck, indem sie sich über die sinn-
lischer Kategorien mit Mitteln der Wirklichkeitsillusion. fälligen Naturgegenstände erhebt, die angesichts des
Anhand des Wirklichkeitsüberschreitenden, transitori- unermeßlichen Planes der Natur lediglich anteilhaft von
schen Momentes unterscheidet Lessing im <Laokoon> einer idealischen Schönheit zeugen können. Aufgabe
zwischen dichterischer und malerischer Nachahmung. des künstlerischen Genies ist es nicht, Vorbilder zu
Der Poesie obliegt die fortschreitende Nachahmung kopieren, sondern , «das idealisch Schöne aus den Wer-
einer Handlung in der Zeit. [63] Verwandlung des kör- ken der Natur zu abstrahiren». Diese idealische Schön-
perlich Gleichzeitigen in eine Folge, der Reiz des Schö- heit, die in der gottgeschaffenen Mannigfaltigkeit der
nen in der Bewegung, diese transitorische Wirkung sichtbaren Welt in einer alles umspannenden Ganzheit
kennzeichnet die poetische Illusion. «Zeitfolge ist das gegenwärtig ist, sucht der Künstler in einem einge-
Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des schränkten Bezirke vorzustellen. «Was sie [die Natur] in
Malers.» [64] Damit wird nicht nur die tradierte Formel verschiedenen Gegenständen zerstreuet hat, versam-
ut pictura poesis einer kritischen Revision unterzogen. melt er in einem einzigen Gesichtspunkte, bildet sich ein
Mit dem Begriff <Nachahmung> faßt Lessing vorrangig Ganzes daraus, und bemühet sich, es so vorzustellen, wie
eine gottähnliche poietische Tätigkeit der Einbildungs- es die Natur vorgestellt haben würde, wenn die Schön-
kraft, die eine Welt der Illusion hervorbringt. heit dieses begränzten Gegenstandes ihre einzige
Die starke Tendenz der Verinnerlichung oder Psycho- Absicht gewesen wäre.» Dies ist nach Mendelssohn die
logisierung der künstlerischen Produktion wie ihrer eigentliche Bedeutung von «die Natur verschönern, die
Wirkweise in der Literatur- und Kunsttheorie des 18. Jh. schöne Natur nachahmen». [69] Endzweck der Kunst ist
führt zu einer tiefgreifenden Änderung in Hinsicht auf die Intensivierung eines ästhetischen Erlebens nach
den Wirklichkeitsbezug der Kunst und mündet in eine Maßgabe einer «poetischen Idealschönheit». [70] Nach-
Trennung der Sphären des Natur- bzw. Kunstschönen. ahmung zeigt einen Gegenstand «wie ihn Gott geschaf-
Mit der Fokussierung auf die innere Natur (Genie) als fen haben würde, wenn die sinnliche Schönheit sein
Ort künstlerischer Einbildungs- und Schaffenskraft ver- höchster Endzweck gewesen wäre». [71] Mit der Kon-
liert der Nachahmungsgedanke zunehmend an Bedeu- zentration des Idealschönen in der künstlerischen Illu-
tung. sion ist die Naturnachahmungsdoktrin in gewisser Hin-

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Mimesis Mimesis

sieht überwunden. Die sinnlich vollkommene Schönheit Insbesondere in Anknüpfung an Addison, Shaftesbury
subjektiven Empfindens bleibt jedoch gebunden an eine und Young definiert J.G. S U L Z E R in der <Allgemeine[n]
objektiv verständliche Vollkommenheit der göttlichen Theorie der Schönen Künste> (1771-74) den «Original-
Weltordnung. [72] geist» im Unterschied zum Nachahmer als einen Erfin-
5 . M. und Geniegedanke. E. Y O U N G etabliert mit seiner der, der «nicht aus Nachahmung, sondern aus Trieb des
Schrift <Conjectures on original composition) (1759, dt. eigenen Genies Werke der schönen Kunst verfertiget»,
Erstübersetzung 1760), die unbedingte Priorität schöpfe- wofür eine außergewöhnliche Lebhaftigkeit der Phanta-
rischer Originalität und prägt damit eine Entwicklung, sie und der Empfindung neben einem ausgeprägten
die im europäischen Kontext zur Emanzipation des Gefühl für das Schöne die naturgegebenen Vorausset-
Geniegedankens führt. Young unterscheidet zwischen zungen sind. [80] Sulzer kritisiert die gebräuchlichen
zwei Arten von Nachahmung (<imitation>) [73]: «In eini- Übersetzungen des griechischen Mimesisbegriffs («Imi-
gen wird die Natur, in andern werden die Autoren nach- tation» und «Nachahmung»), die der eigentlichen
geahmet. Wir nennen die erstem <Originale> [<originals>] Bedeutung des Terminus kaum gerecht werden und zu
und behalten den Namen der Nachahmung [<imitation>] Fehldeutungen der Grundsätze der Schönheits- und
nur für die letztern.» [74] Mit dem Terminus <imitation> Geschmackslehre geführt haben. [81] Sulzer gibt die tra-
(<Nachahmung>), der ausschließlich für die imitatio auc- ditionsreiche aristotelische Doktrin, die Kunst sei eine
torum steht, hebt Young gegenüber denjenigen Dich- <Nachahmung der Natur> nicht auf, sondern korrigiert
tern, die in Ermangelung eigenen Genies durch Fleiß und eine auf das Abschildern und damit auf eine äffische
das Studium literarischer Vorbilder Duplikate («duplica- Spielerei verengte Verständnisweise. Der Grundsatz der
tes») ins Werk setzen, die naturanalogen Hervorbringun- Nachahmung der Natur bewahrt seine Gültigkeit für die
gen der Originalschreiber («original writer») als die schönen Künste, wenn der zugrundegelegte Naturbegriff
eigentliche dichterische Kunst hervor. «Man kann von richtig interpretiert wird. «Da der Künstler ein Diener
einem <Originale> sagen, daß es etwas von der Natur der der Natur ist, und mit ihr einerley Absicht hat, so brauche
Pflanzen an sich habe: es schießt selbst aus der beleben- er auch ähnliche Mittel zum Zwek zu gelangen. Da diese
den Wurzel des Genies auf; es <wächset> selbst, es wird erste und vollkommenste Künstlerin zur Erreichung
nicht durch die Kunst <getrieben>.» [75] Neben solchen ihrer Absichten so vollkommen richtig verfährt, daß es
Pflanzenmetaphoriken, anhand derer Young die natur- unmöglich ist, etwas besseres dazu auszudenken, so
wüchsige Produktivität und Entfaltung des individuellen ahme er ihr darin nach.» Es gilt die Mittel, wodurch die
dichterischen Genies verdeutlicht, verwendet er topo- Natur die Empfindung des Vergnügens oder Mißvergnü-
graphische Metaphern zur Betonung der Wirkkraft dich- gens, des Schönen und Guten in den Gemütern weckt,
terischer Originalität. Das Genie berichtet gleichsam aus wirkungspsychologisch zu erkunden, um eine intendierte
einem fremden Land, weicht von ausgetretenen Pfaden Wirkweise adäquat hervorrufen zu können. In wirkungs-
ab, weckt über den Reiz des Neuen Erstaunen und poetischer Absicht ist «die Natur [...] die wahre Schule,
Bewunderung, so daß der Rezipient in imaginäre Reali- in der er die Maximen seiner Kunst lernen kann, und wo
täten entführt wird. [76] «Das Genie ist eine angebohrne, er durch Nachahmung ihres allgemeinen Verfahrens die
uns ganz eigenthümliche Wissenschaft [genius is Regeln des seinigen zu entdeken hat.» [82] Der Dichter
knowledge innate, and quite our own]», es besitzt eine zeigt seinen Gegenstand nicht «wie er in der Welt vor-
Weisheit, die gleichsam nicht von dieser Welt ist. «In handen ist, sondern wie sein fruchtbares Genie ihn bil-
dem bezauberten Lande der Einbildungskraft kann das det, wie seine Phantasie ihn schmüket, und was sein emp-
Genie wild umher schweifen; da hat es eine schöpferische findungsvolles Herz noch dabey empfindet, läßt er uns
Gewalt, und kann willkührlich über sein Reich von Chi- mit genießen.» [83] Die Intensität des subjektiven Erle-
mären herrschen. Auch liegt das weite Feld der Natur bens und Empfindens ist Voraussetzung dichterischer
ihm offen; hier kann es unbegränzt umher irren, soviel Wirkkraft. Das Genie erweist sich an der Fähigkeit sinn-
Entdeckungen machen, als es nur kann, über ihre unend- licher Vergegenwärtigung verbunden mit Qualität einer
lichen, nie ganz durchforschten Gegenstände sich Wahrscheinlichkeit in der Wirkung. «Sobald die Erdich-
erfreuen, so weit als die sichtbare Natur sich erstrecket, tung wahrscheinlich ist, so begreifen wir die Möglichkeit
und diese Gegenstände so reizend malen, als es nur der erdichteten Sache.» [84] Das Hervorbringen einer
will.» [77] Die Frage des Wirklichkeitsbezugs bzw. der solchen als-ob-Wirklichkeit zeichnet den Dichter als
Wahrscheinlichkeit der Dichtung spielt keine entschei- einen zweiten Schöpfer aus, denn das dichterische Genie
dende Rolle mehr. Young betont die schöpferische ahmt im eigentlichen Verständnis die bildende Kraft der
Potenz und Spontaneität der individuellen Einbildungs- allgemeinen Natur oder den göttlichen Künstler nach.
kraft, ihre eigenständige kompositorische Kraft, denn Diese Interpretation der Naturnachahmungsdoktrin
die Natur «bringt uns alle als <Originale> auf die Welt», so im Sinne einer Entfaltung der je eigenen subjektiv-
daß ein äffischer Nachahmer den Naturabsichten zuwi- schöpferischen Natur ist charakteristisch für die Genie-
derhandelt. [78] Die Grenzenlosigkeit des innerseeli- ästhetik im ausgehenden 18. Jh. Wichtig für diese Ent-
schen Vermögens manifestiert sich in der Hervorbrin- wicklung ist der Einfluß KLOPSTOCKS (für Sulzer der Pro-
gung von imaginären, «unbekannten Welten» weit über totyp eines Originalgeistes), der in Rekurs auf Young die
das wirklich Existierende hinaus. «Solche ganz originale innerseelische Empfindungstiefe als Quelle wahrer
Schönheiten können wir paradisische Schönheiten - Dichtkunst betont. Klopstocks Begeisterung für die
Ohne Saamen entsprossene Blumen - nennen.» [79] Das Schönheit der göttlichen Schöpfung und die Gefühls-
Original <imitiert> die Natur lediglich insofern, als es ver- stärke dichterischen Naturerlebens, wie sie sich im
gleichbar der Produktivität der Natur schöpferisch tätig <Messias> ausdrückt, ist von großem Einfluß auf die sub-
wird. In der Entfaltung des je eigenen Genies setzt sich jektivistische Ausprägung der zeitgenössischen Dich-
gewissermaßen die individuierende Kraft der Natur fort. tungsauffassung und die entschiedene Betonung indivi-
Vor dem Hintergrund dieses Naturbegriffs gewinnt die dueller Schöpfungskraft. Für Klopstock ist die lebendige
tradierte Nachahmungsauffassung eine völlig andere Stimme des Herzens die Quelle dichterischer Wirkmacht
Bedeutung. auf die Gemüter. Das subjektive Erleben und tiefe

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Mimesis Mimesis

Gefühl läßt den Dichter Wirklichkeitserfahrungen in Verwendung. So ist der sinnlich-lautmalerische, gefühls-
Absicht auf eine hinreißende, erregende Wirkung fügen. bestimmte Reichtum der ältesten Sprache in seiner poe-
Um Begeisterung und die Empfindung des Schönen, tie- tischen Kraft eine «Nachahmung der tönenden, handeln-
fes Erschauern wie innerseelische Erregung zu wecken, den, sich regenden Natur», d.h. Ausdruck des innerseeli-
ahmt der Dichter «der Religion» nach [...] wie [...] in schen Erlebens der vieltönenden göttlichen Natur, die
einem nicht viel verschiedenen Verstände der sich vermöge der Innigkeit von Fühlen und Denken in
Natur» [85], die gleichsam Ausdruck einer göttlichen klingender Poesie ausspricht: «Ein Wörterbuch der Seele
Poesie ist. Wie diese sinnliche Offenbarung Gottes in der [...] Was ist Poesie anders?» [93]
Natur trachtet das poetische Genie in gottähnlicher Geprägt durch die Rezeption Youngs wie Hamanns
Schöpfungtätigkeit danach, durch eindrückliche, in tiefe spricht H.W. VON GERSTENBERG an Stelle von «Nachah-
Rührung versetzende Sprache des Herzens unmittelbare mung» von einer «Nachbildung» der Natur, wobei hier-
Wirksamkeit zu erlangen. mit die innere Natur des Menschen gemeint ist, deren
6. Sturm und Drang, Klassik. Daß die Poesie als Form emotionale Kraft sich in den poetischen Illusionen einer
einer verborgenen Theologie einen Offenbarungscha- produktiven Einbildungskraft manifestiert. [94]
rakter besitzt, eine göttliche Wahrheit sinnlich erlebbar Weil die Natur nichts Sinnfälliges ist, so SCHILLER, son-
vergegenwärtigt und in der Ursprünglichkeit ihrer dern eine Idee unseres Geistes, ist es Aufgabe der Kunst,
sprachlichen Welterzeugung den Akt der göttlichen diese in idealisierender Form zur sinnlichen Erscheinung
Schöpfung im Wort nachahmt, dieser Gedanke prägt ins- zu bringen. Schönheit, definiert als Freiheit in der
besondere das Dichtungsverständnis von J.G. H A M A N N . Erscheinung, ist in Hinsicht auf das Kunstschöne von
Nach Hamann ist die Schöpfung «eine Rede an die Krea- zweierlei Art: «a) Schönes der Wahl oder des Stoffes -
tur durch die Kreatur», deren Sinnzusammenhang verlo- Nachahmung des Naturschönen, b) Schönes der Darstel-
ren gegegangen ist, denn «wir haben an der Natur nichts lung oder der Form - Nachahmung der Natur.» [95]
als Turbatverse und disiecti membra poetae zu unserm Erstere bezieht sich auf die Beschaffenheit des Gegen-
Gebrauch übrig. Diese zu sammeln ist des Gelehrten; sie standes künstlerischer Darstellung. «Schön ist ein Natur-
auszulegen, des Philosophen; sie nachzuahmen - oder produkt, wenn es in seiner Kunstmäßigkeit frei
noch kühner! - sie in Geschick zu bringen, des Poeten erscheint.» Letztere kennzeichnet die Art und Weise
bescheiden Theil.»[86] Während die wissenschaftlich- künstlerischer Darstellung. «Schön ist ein Kunstprodukt,
rationalistischen Abstraktionen die Natur ihrer sinnlich- wenn es ein Naturprodukt frei darstellt.» [96] Der Nach-
affizierenden Kraft entkleidet haben, ist es Aufgabe der ahmungsbegriff steht in unmittelbarem Zusammenhang
Poesie, die «ausgestorbene Sprache der Natur» [87] in mit der freien Darstellung, bezeichnet die Weise, einen
ihrer gleichnishaften Sinnlichkeit und ihrem bildreichen Gegenstand der Einbildungskraft als durch sich selbst
Offenbarungscharakter wieder zum Leben zu erwecken. bestimmt vorzustellen. Sofern aber das «Kunstschöne
In diesem Sinne ist die Poesie die Muttersprache des [...] nicht die Natur selbst [ist], sondern nur eine Nachah-
menschlichen Geschlechts und eine «Nachahmung der mung derselben in einem Medium, das von dem Nachge-
schönen Natur» [88], d.h. der sinnlich-gleichnishaften ahmten materialiter ganz verschieden ist», kann die
Offenbarung Gottes in der Chiffrenschrift der Natur, Nachahmung, sieht man von der Beschaffenheit des Dar-
deren Wahrheit die Poesie in Gleichnissen und Bildern stellungsmediums wie der Eigenart des Künstlers ab,
übersetzt. [89] «Natur und Schrift also sind die Materia- allein auf einer <formalen> Ähnlichkeit beruhen. [97]
lien des schönen, schaffenden, nachahmenden Gei- Künstlerische Nachahmung, will sie einen Gegenstand
stes». [90] Die Poesie ist ihrerseits gleichnishaftes Offen- frei darstellen, muß ihren Stoff wie den ausführenden
barwerden einer unaussprechlichen Wahrheit, wie sie die Künstler ganz vergessen machen. Voraussetzung hierfür
Natur birgt, und der Dichter gottähnlicher Schöpfer ist die Vermeidung jeglichen heteronomen Einflusses
einer poetischen Welt. Wenngleich die Betonung der wie subjektiver Einmischungen (Manier) zugunsten
dichterischen Originalität den Gedanken der Nachah- einer rein objektiven Vergegenwärtigung der Form
mung schließlich völlig verdrängt, ist es doch der poieti- (Stil). Wenn Natur als dasjenige zu begreifen ist, bei dem
sche Aspekt des tradierten Mimesisbegriffs, der dieser inneres Prinzip der Existenz und Form (Autonomie und
Entwicklung zum Durchbruch verhilft. Dichtung ist Heautonomie) eins ausmachen müssen, um Schönheit
gewissermaßen eine naturhafte Schöpfung, Fortbildung hervorzubringen, so ist es der Kunst aufgegeben, diese
einer schöpferischen Tätigkeit der Gesamtnatur (im idealische Einheit in der Erscheinung hervorzurufen.
Sinne der natura naturans), deren Kräfte sich vermöge «Natur [...] ist schön, wenn sie aussieht wie Kunst; Kunst
des dichterischen Genies individuell ausformen. Der ist schön, wenn sie aussieht wie Natur» [98], so Schiller in
Begriff der Naturnachahmung führt, gerade wenn man Anlehnung an K A N T S <Kritik der Urteilskraft», wonach
dieses Naturverständnis zugrundelegt, auf die Entfaltung die regelgeleitete Zweckmäßigkeit bzw. Intentionalität
der subjektiv-schöpferischen Natur des Einzelnen und in den Hervorbringungen der schönen Kunst von allem
stützt damit den Geniegedanken. «Wie anders spricht die Zwange willkürlicher Regeln frei scheinen muß, «als ob
Natur Jedem, der in ihrer Ansicht, in ihrem Genuß und es ein Produkt der bloßen Natur sei». [99] Auf diesen
Gebrauch Verstand und Herz verbindet!» [91], so HER- Schein der Absichtslosigkeit eines Kunstwerkes, dessen
DER, für den die panentheistisch gefaßte Gottnatur sich Hervorbringung gleichwohl auf künstlerische Zweckset-
im Menschen in den Formen der Kultur ausprägt. zung in Übereinstimmung mit Regeln basiert, gründet
Menschliches Tun und Denken, seine Schöpfergabe ist sich Kants Grundlegung des Geniekonzeptes. «Genie ist
eine «Nachahmung der Gottheit!». [92] Diese gottähnli- das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regel
che Schöpferkraft beseelt die Dichtung, die <der>, nicht gibt». [100] Dieses angeborene produktive Vermögen
<die> Natur nachahmt. Das dichterische Genie ist für des Genies, die «Natur im Subjekte» [101] gibt der Kunst
Herder wie für Shaftesbury ein zweiter Prometheus, die Regel, woraus folgt, «daß Genie dem Nachahmungs-
Ebenbild des göttlichen Poeten. Der Begriff <Nachah- geiste gänzlich entgegen zu setzen sei». [102] Die Origi-
mung> verliert im Kontext der Genieästhetik zunehmend nalität des Genies als Talent zur schönen Kunst beruht
an Bedeutung, findet aber bei Herder durchaus noch gerade darauf, daß in der künstlerischen Produktion die

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Mimesis Mimesis

Naturgabe selbst als regelgebende wirksam wird. Was R a u m genug haben, um sich einander nicht verdrängen
das Genie ausmacht, ist nach Kant zum einen die Einbil- zu dürfen.» [109] D a s bildende Genie empfindet a h n e n d
dungskraft als produktives Erkenntnisvermögen, ver- das Ganze der Natur und dieses Naturgefühl, alle die in
möge derer das Genie in der Lage ist zur «Schaffung ihm schlummernden Verhältnisse jener großen H a r m o -
gleichsam einer andern Natur aus d e m Stoffe, den ihr die nie, sucht es bildend u n d schaffend aus sich heraus zu
wirkliche gibt», wobei diese sinnliche Vorstellung als stellen. Dies ist f ü r Moritz die B e d e u t u n g einer bilden-
ästhetische Idee in keinem Begriff adäquat gefaßt wer- den Nachahmung des Schönen.
den kann. [103] Z u m anderen die glückliche Verbindung
der Einbildungskraft mit d e m Verstand, dessen Begrif- Anmerkungen:
fen sie «ungesucht, reichhaltigen unentwickelten 1 vgl. H.R. Jauß (Hg.): Nachahmung und Illusion. Vorlagen und
Stoff» [104] liefert. Frei von Anleitungen und Regeln der Verhandlungen (1964). - 2T. Pago: Gottsched und die Rezep-
Nachahmung ist es die Originalität der Natur im Sub- tion der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland
jekte, die sich im freien Gebrauch der Erkenntnisvermö- (Frankfurt a.M./Bern/New York/Paris 1989) 151ff. - 3H. Dieck-
mann: Die Wandlung des Nachahmungsbegriffes in der frz.
gen zeigt. Ästhetik des 18. Jh., in: Jauß [1] 33. - 4G. Gebauer, Chr. Wulf.:
GOETHE unterscheidet in der Schrift <Einfache Nach- M. Kultur - Kunst - Ges. (1998) 1 6 2 . - 5 J.B. DuBos: Réflexions
ahmung der Natur, Manier, Stil> (1789) die einfache critiques sur la Poésie et sur la Peinture (1719, ND Genf 1976)
Nachahmung als detailgetreue Nachbildung von Natur- 27. - 6U. Hohner: Zur Problematik der Naturnachahmung in
gegenständen in ihrer sinnfälligen Präsenz von einer der Ästhetik des 18. Jh. (1976) 164ff.-7vgl.The Spectator, Lon-
durch die subjektive Auffassungsweise geprägten Nach- don 1826, Nr. 160 u. Nr.417; Hohner [6]138ff.-8A.A.-C. Earl of
ahmung (Manier) und einer über die äußere Wahrneh- Shaftesbury: Ein Brief über den Enthusiasmus. Die Moralisten.
Übers, von M. Frischeisen-Köhler, hg. v. W. Schräder (1980)
mung der Dinge hinausgehenden, das innere Wesen oder 185.-9ebd. 151.-10ders.: Soliloquy, in: Sämtliche Werke, ausg.
die urbildliche Natur der Dinge begreifenden Nachah- Briefe und nachgelassene Sehr, engl.-dt. v. G. Hemmerich u. W.
mung (Stil). Eine solche geistig-organische Schöpfung ist Benda, Bd. 1 (1981) 1,3, 111. - 11G.W. Leibniz: Kleine Sehr, zur
die eigentliche Bestimmung der Kunst - nicht die äußer- Metaphysik, III. Metaphysische Abh., in: Philos. Sehr. Bd. 1, hg.
liche Abbildung von Naturphänomenen, sondern deren v. H.H. Holz (1985) 160f. - 12ders.: Theodizee, in: [11] Bd. 2/1,
geistige Durchdringung als Voraussetzung einer ideali- hg. v. H. Herring, 459. - 1 3 vgl. J. Schmidt: Die Gesch. des Genie-
sierenden Hervorbringung. «Ein vollkommenes Kunst- gedankens in der dt. Lit., Philos, und Politik 1750-1945, Bd.l
(1995) 12. - 1 4 Gottsched Dichtk., zit. n. der Ausgabe von 1742,
werk ist ein Werk des menschlichen Geistes, und in die- 53; vgl. IV §5, 200. - ISebd. II §14, 154. - 16ebd. 92. - 17ebd.
sem Sinne auch ein Werk der Natur. A b e r indem die zer- 87f. -18ebd. III § 8,174. - 19vgl. H.P. Herrmann: Naturnachah-
streuten Gegenstände in eins gefaßt, und selbst die mung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der dt. Poetik von
gemeinsten in ihrer Bedeutung und W ü r d e aufgenom- 1670 bis 1740 (1970) 135; J. Bruck, E. Feldmeier, H. Hiebel, K.-
men werden, so ist es über die Natur.» [105] Goethe faßt H. Stahl: «Der Mimesisbegriff Gottscheds und der Schweizer».
das künstlerische Genie als Inbegriff der schöpferischen Krit. Überlegungen zu H.P. Herrmann: Naturnachahmung und
Gesamtnatur, denn: «Jedes schöne Ganze der Kunst ist Einbildungskraft. Zur Entstehung der dt. Poetik von 1670-1740,
in: ZDPh 90 (1971) 565. - 20Gottsched Dichtk. 1742 [14] IV §7-
im kleinen ein A b d r u c k des höchsten Schönen, im gan- 8, 202f. - 21G. Kaiser: Von der Aufklärung bis zum Sturm und
zen der Natur. D e r geborne Künstler begnügt sich nicht, Drang, 1730-1785 (1966) 23. - 22 Gottsched Dichtk. 1742 [14] IV
die Natur anzuschauen; er m u ß ihr nachahmen, ihr nach- §9,204. - 2 3 ebd. IV §25-26,246f. - 24 ebd. VI §3,256. - 25 J.J.
streben. [...] D e r Horizont der tätigen Kraft muß bei dem Breitinger: Crit. Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey
bildenden Genie so weit wie die Natur selber sein.» [106] in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit
Die eigengesetzliche Sphäre der Kunst mißt sich nicht an Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuen erläutert
einer Ähnlichkeit mit d e m Sichtbaren und doch ist wird. Mit einer Vorrede eingeführet von J.J. Bodmer, hg. von
W. Bender, Bd. 1. (1740; N D 1966) 57. - 26 Bodmer [25] X2 v. -
gerade bei G o e t h e die Kunst ein Organ der Vermittlung 27Breitinger [25] 61. - 28ebd. 57. - 29J.J. Bodmer: Crit.
lebendiger Naturerfahrung, denn der Künstler gibt Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen
«dankbar gegen die Natur, die auch ihn hervorbrachte, Verbindung mit dem Wahrscheinlichen in einer Vertheidigung
ihr eine zweite, aber eine gefühlte, eine gedachte, eine des Gedichtes J. Miltons von dem verlohrnen Paradiese; Der
menschlich vollendete zurück». [107] beygefüget ist J. Addisons Abhandlung von den Schönheiten in
K. P H . MORITZ' Schrift <Über die bildende Nachah- demselben Gedichte, hg. von W. Bender (1740, ND 1966) 32;
mung des Schönem (1788) reagiert auf die Diskussion vgl. Breitinger [25] 60. - 30 Bodmer [25] X5 v. - 31 Th. Vetter
(Hg.): Discourse der Mahlern 1721-22, Erster Teil (Frauenfeld
des nunmehr nahezu als Gegensatz künstlerischer Auto- 1891) 91; vgl. Herrmann [19] 164. - 32ebd. 168. - 33Breitinger
nomie geltenden Nachahmungsbegriffes. Für Moritz ist [25] 110,112.-34 ebd. 131.-35ebd. 139.-36ebd. 2 6 8 . - 3 7 ebd.
<Nachahmen> im Sinne eines Nachstrebens oder Wettei- 286. -38K.-H. Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegen-
ferns zu verstehen. Die künstlerische Nachahmung ist, stand der dt. Poetik des 17. und 18. Jh (1975) 174. - 39A.G.
wie von G o e t h e aufgegriffen, ein Abdruck des höchsten Baumgarten: Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad
Schönen im Ganzen der Natur, «welche das noch mittel- Poema Pertinentibus 1735, in: H. Boetius, (Hg.): Dichtungs-
bar durch die bildende H a n d des Künstlers nacher- theorien der Aufklärung (1971) §9, 31. - 40Stahl [38]182ff. -
41 Baumgarten [39] §51-51, 36f. - 42ebd. §68, 37f. - 43ebd.
schafft, was unmittelbar nicht in ihren großen Plan § 109, 39. - 44 J.E. Schlegel: Abhandlung, daß die Nachahmung
gehörte». [108] D e m Künstler ist von der Natur ein Sinn der Sache, der man nachahmet, zuweilen unähnlich werden
für die höchste Schönheit eingepflanzt, eine Bildekraft, müsse, in: Boetius [39]. - 45ders: Abh. von der Nachahmung,
vermöge derer er das Schöne f ü r die Einbildungskraft Zweyter Abschnitt, Von den Eigenschaften und Regeln der
faßbar bzw. f ü r die Sinne anschaulich an einem Gegen- Nachahmung, in so weit ihr Endzweck das Vergnügen ist, in:
stande ausformt. «Der Horizont der thätigen Kraft aber Beiträge zur Crit. Historie der Dt. Sprache, Poesie und Bered-
m u ß bei d e m bildenden G e n i e so weit, wie die Natur sel- samkeit, hg. von einigen Liebhabern der dt. Litteratur, Bd. 8/31
(Leipzig 1743) §16, 372. - 4 6 e b d . §20, 388f. -47ders. [44] 61. -
ber, seyn: das heißt, die Organisation muß so fein gewebt 48vgl. I. v. der Lühe: Natur und Nachahmung (1979). - 49Ch.
seyn, und so unendlich viele Berührungspunkte der all- Batteux: Les Beaux Arts réduits à un même principe (1773; N D
umströmenden Natur darbieten, daß gleichsam die Genf 1969) 31f. - 50ebd. 32. - 51 ebd. 33. - 52ebd. 45. - 53ebd.
äußersten Enden von allen Verhältnissen der Natur im 47. - 54Stahl [38] 190. - 55vgl. Dieckmann [3] 47ff. - 56G.E.
Großen, hier im Kleinen sich neben einander stellend,

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Mimesis Mimesis

Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: Werke, hg. v. H.G. der Welt der Künstler gar kein höherer, der A n b e t u n g
Göpfert (1996), Bd. 4, Dramaturgische Sehr. 69. St., 552. - würdigerer Gegenstand als: - ein ursprünglich Original!
57gbd. 84. St., 621. -58ebd. 36. St., 398; W. Preisendanz: M. und - Mit emsigem Fleiße, treuer Nachahmung, klugem
Poiesis in der dt. Dichtungstheorie des 18. Jh., in: W. Rasch et al.
(Hg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570 und 1730, FS G.
Urteil zu arbeiten - ist menschlich, aber das ganze Wesen
Weydt (1972) 548. - 5 9 Lessing [56] 2. St., 243. -ÖOStahl [38] 202. der Kunst mit einem ganz neuen A u g e zu durchblicken,
- 61 Lessing [56] 34. St., 386; vgl. 21. St., 330. - 62 ebd. 34. St., 386; es gleichsam mit einer ganz neuen H a n d h a b e zu erfassen
79. St., 598. - 63G.E. Lessing: Laokoon, in: Werke [56] Bd. 6, - ist göttlich.» [2] Das gottähnliche Genie des Künstlers
Kunsttheoretische und kunsthist. Sehr. (1996) 10 u. 102. - orientiert sich weder an der sichtbaren Wirklichkeit noch
64 ebd. 116. - 65 M. Mendelssohn: Ueber die Hauptgrundsätze an Vernunftregeln. Aus der Tiefe der Empfindung, Ein-
der schönen Künste und Wiss., in: Ästhetische Sehr, in Auswahl, bildungskraft und visionären Phantasie entspringt sein
hg. v. O.F.Best (1974) 175.-66ebd. 174.-67ebd. 177.-68ders.: Schaffen. Eine solchermaßen als poietisch begriffene
Von der Herrschaft der Neigungen, in: Ästh. Sehr. [65] § 12,170.
-69ders.: Hauptgrundsätze [65] 181.-70ebd. 199. - 71ebd. 181. Kunst, die, wie bereits bei H a m a n n und H e r d e r formu-
- 72ders.: Über die Empfindungen, in: Ästh. Sehr. [65] 44f. - liert, vor allem in der Ursprünglichkeit der Poesie gegen-
73 E. Young: Conjectures on Original Composition, in: ders.: wärtig ist, ahmt nichts Vorhandenes nach, sondern ist
The complete Works, Poetry and Prose, Vol. 2 (1854; ND 1968) ähnlich der ihrerseits poietischen Natursprache Gottes
551. - 74ders.: Gedanken Uber die Original-Werke. Aus dem sinnbildreiche Erschaffung einer dichterischen Welt.
Engl, von H.E. von Teubnern (1760; N D hg. von G. Sauder NOVALIS weist eine Nachahmung der Natur als Darstel-
1977) 15. - 7 5 ebd. 17; ders. [73] 552. -76ders. [74] 18; [73] 552. - lung des Wirklichen an b e r ü h m t e r Stelle zurück. «Ja
77ders. [74] 36f.; [73] 559f. - 78ders. [74] 40 [73] 561. - 79ebd. keine Nachahmung der Natur. Die Poesie ist durchaus
60f.; ders. [74] 570. - 80Sulzer, Stichwort <Originalgeist>, 625. -
81ebd., Stichwort <Nachahmung>, 491. - 82ebd„ Stichwort das Gegenteil. Höchstens kann die Nachahmung der
<Nachahmung>, 488f. - 83ders. Bd. 1, Stichwort <Dichtkunst, Natur, der Wirklichkeit nur allegorisch [...] gebraucht
Poesie>, 619f. - 84ebd. Stichwort <Dichtungskraft>, 684. - werden. Alles muß poetisch sein.» [3] Quell der Poesie
85F.G. Klopstock: Ausg. Werke, 2 Bde., hg. v. K.A. Schleiden und Ort der Erfahrung einer urbildlichen Natur ist die
(1981) 1007f. - 86J.G. Hamann: Sokratische Denkwürdigkei- Seele, nicht die Außenwelt. «Was brauchen wir die trübe
ten, Aesthetica in nuce, mit einem Kommentar hg. von S.-A. Welt der sichtbaren Dinge mühsam zu durchwandern?
J0rgensen (1968) 87. - 87ebd. 129. - 88 ebd. 111. - 89 ders.: Bibli- Die reinere Welt liegt ja in uns, in diesem Quell. Hier
sche Betrachungen eines Christen, in: Sämtliche Werke, hg. v. J.
Nadler, Bd. 1 (1949) 112. - 90ders. [86] 127. - 91J.G. Herder: offenbart sich der wahre Sinn des großen, bunten, ver-
Früchte aus den sogenannt-goldnen Zeiten des achtzehnten Jh., wirrten Schauspiels», die Natur in ihrem verborgenen
in: Sämtliche Werke, hg. v. B. Suphan, Bd.23 (1891; ND 1967) Sinn, die durch die Empfindung erfahrbar wird. [4] D e r
311. - 92ders.: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts in: Dichter, so A . W . SCHLEGEL, ist nicht an die Gegenstände
Sämtliche Werke Bd. 6 [91] 250; vgl. O. Walzel: Das Promet- gebunden, sondern konstituiert in der Sprache eine Welt,
heussymbol von Shaftesbury zu Goethe (1968) 29. - 93 J.G. Her- wodurch sich das Innere im Ä u ß e r n offenbart. [5] Kunst
der: Abh. über den Ursprung der Sprache, hg. v. H.D. Irmscher soll die Natur nicht nachahmen, sondern wie die Natur
(1985) 51. - 94G. Sauder: Nachwort, in: [74] 43f. - 9 5 F . Schiller:
Kallias oder über die Schönheit. Über Anmut und Würde, hg. v. schaffend, selbständig bildend lebendige Werke hervor-
K.L. Berghahn (1979) 56. -96ebd. 5 7 . - 9 7 ebd. 58. -98ebd. 4 5 . - bringen. «Alle heiligen Spiele der Kunst sind nur ferne
99 Kant KU, §45, A177. - 1 0 0 ebd. §46, Β 181. - 1 0 1 ebd. §46, Β Nachbildungen von dem unendlichen Spiele der Welt,
182. -102ebd. §47, Β 183. - 103ebd. §49, Β 193. - 104ebd. §49, dem ewig sich selbst bildenden Kunstwerk» [6], heißt es
Β 198. - 105J.W. v. Goethe: Über Wahrheit und Wahrschein- bei F. SCHLEGEL, Allegorien der Schönheit, die eine
lichkeit der Kunstwerke. Ein Gespräch, in: Sämtliche Werke in unaussprechliche Wahrheit versinnbildlichen. Poesie ist
18 Bd., hg. v. E. Beutler u.a. (1977) Bd. 13, 180. - 106ders.: im unmittelbaren Wortsinne eine Schöpfung, die ihre
Moritz-Rezension, in: [105] Bd. 13, 73. - 107 ders. [105] 210. -
108K.Ph. Moritz: Über die bildende Nachahmung des Schönen, Voraussetzung in der subjektiven Phantasie hat. D e r
in: Dt. Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jh. in Neudrucken, Nachahmungsbegriff, sofern hierin die Orientierung an
hg. v. B. Seuffert, Bd. 31 (1888, ND Nendeln; Liechtenstein einer äußeren Instanz gesetzt ist, sei es in Hinsicht auf ein
1968) 14. -109ders. ebd. 17. literarisches Vorbild oder auf Bedingungen der Wirk-
lichkeit bzw. Wahrscheinlichkeit, widerstrebt dem
Literaturhinweise: romantischen Poesiekonzept. A u c h steht der Naturbe-
A. Köster: Die allg. Tendenzen der Geniebewegung im 18. Jh. griff nicht für die sinnfällige Wirklichkeit noch für eine
(Leipzig 1912). - J. Bruck: Der aristotelische Mimesisbegriff und mit Verstandeskräften rational faßbare Vernunftord-
die Nachahmungstheorie Gottscheds und der Schweizer (1972). nung. Die Wahrheit der unmittelbaren, schaffenden
- H.-G. Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung
Natur, die in der sichtbaren Welt lediglich chiffrenhaft,
im Säkularisierungsprozeß. Problemgesch. Stud, zur dt. Lyrik in
Barock und Aufklärung (1981). - H.-M. Schmidt: Sinnlichkeit als stumme Bilderschrift und geheimnisvolles Rätsel auf-
und Verstand. Zur philos, und poetologischen Begründung von scheint [7], wird im ahnenden Gefühl, in T r a u m und
Erfahrung und Urteil in der dt. Aufklärung (Leibniz, Wolff, Vision erfahrbar und in der Poesie sinnlich gegenwärtig.
Gottsched, Bodmer und Breitinger, Baumgarten) (1982). - U. «Was wir Natur nennen», so SCHELLING im <System des
Möller: Rhet. Überlieferung und Dichtungstheorie im frühen tranzendentalen Idealismus> (1800), «ist ein Gedicht, das
18. Jh. Stud, zu Gottsched, Breitinger u. G. Fr. Meier (1983). - in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt. [...]
H.O. Horch, G.-M. Schulz: Das Wunderbare und die Poetik der
Die Natur ist d e m Künstler nicht mehr, als sie dem Philo-
Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer (1988). - N . Rath:
Zweite Natur. Konzepte einer Vermittlung von Natur und Kul- sophen ist, nämlich nur die unter beständigen Einschrän-
tur in Anthropologie und Ästhetik um 1800 (1996). kungen erscheinende idealische Welt, oder nur der
unvollkommene Widerschein einer Welt, die nicht außer
VII. 19., 20. Jh. Wenngleich insbesondere der poieti- ihm, sondern in ihm existiert.» [8] HÖLDERLIN faßt die
sche Aspekt des Mimesisgedankens in der Romantik Kunst als eine Vollendung der lebendigen Natur, womit
weiterwirkt, etwa bei W . H . WACKENRODER, der in den nicht ein subjektives künstlerisches Schaffen gegen oder
<Herzensergießungen> (1797) den Künstlergeist als ein über die naturierende Natur gesetzt ist, sondern Kunst
die ganze Natur empfangendes Werkzeug faßt, welches als <Natur in der Natur> vielmehr aus einer wiederzuge-
diese in schöner Verwandlung wiedergebiert [1], wird der winnenden Einheit mit dieser zu begreifen ist. [9] JEAN
Begriff der Nachahmung endgültig verdrängt. «Es ist in P A U L , der den Nachahmungsgedanken in der <Vorschule

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Mimesis Mimesis

der Ästhetik) (1804) noch einmal aufgreift, versteht sind, denn dieses Vergnügen wird man nicht an den Ori-
unter poetischer Nachahmung eine Prozeß der Ver- ginalen finden, wie ununterscheidbar Original und Nach-
wandlung, eine «Brotverwandlung ins Göttliche», die ahmung auch immer sein mögen.» [20]
sich über die subjektive Aneignung und Darstellung voll- Wenngleich das 'tradierte' M.-Paradigma im 20. Jh.
zieht, d.h. indem «eine doppelte Natur zugleich nachge- endgültig als obsolet gilt, spielt es im Kontext von Ästhe-
ahmt wird, die äußere und die innere, beide ihre Wech- tik wie Sprachtheorie in vielerlei Hinsicht als Folie einer
selspiegel» werden. [10] Dichtkunst ist keine Wiederho- Auseinandersetzung mit rezeptions-, produktions- wie
lung der Wirklichkeit, sondern eine Weise der Entziffe- wirkungsästhetischen Fragen weiterhin eine Rolle.
rung eines verborgenen Sinns. [11]
In der Kunst- und Literaturtheorie des 19. und 20. Jh. Anmerkungen:
spielt die <Nachahmung der Natur> begrifflich keine 1W.H. Wackenroder, L. Tieck: Herzensergießungen eines
Rolle mehr, wenngleich literarische Strömungen wie kunstliebenden Klosterbruders (1983) 70. - 2 ebd. 79. - 3 Nova-
lis: Brief an den Bruder Karl, März 1800 in: Novalis Werke,
etwa der sogenannte bürgerliche Realismus> bzw. der Tagebücher und Briefe F. v. Hardenbergs, hg. v. H.-J. Mahl u. R.
<Naturalismus> im 19. Jh. oder der sozialistische Realis- Samuel (1999) Bd. 1, 737 - 4 Novalis: Die Lehrlinge zu Sais
mus) im 20. Jh. eine je spezifische Weise des literarischen (1798), 2. Die Natur, in: [2] 212 - 5 A.W. Schlegel: Briefe über
Wirklichkeits- bzw. Naturbezugs zur Grundlage machen. Poesie, Silbenmaß und Sprache, in: Krit. Sehr, und Briefe, hg. v.
Weder im Kontext der Naturlyrik noch in der Roman- E. Lohner, Bd. 1 (1962) 152ff. - 6 F . Schlegel: Gespräch über die
theorie ist von Naturnachahmung die Rede. Ebenso ver- Poesie (1799), in: ders.: Charakteristiken und Kritiken I, hg. v.
liert der Begriff in der ästhetischen Theorie seine Bedeu- H. Eichner, Krit. F. Schlegel-Ausg., hg. v. E. Behler u.a. (Mün-
chen/Paderborn/Wien/Zürich 1967) Bd. 2, 318. - 7 d e r s . : Philos,
tung. H E G E L thematisiert die künstlerische Nachahmung der Gesch. (1828), in: ders. [6] Bd. 9 , 3 0 , 1 3 . - 8F. J.W. Schelling:
in der <Ästhetik> nur am Rande, mißt ihr keinerlei System des transzendentalen Idealismus, hg. v. R.-E. Schulz
Bedeutung zu und trennt überdies die Bereich des Natur- (1957) 297. - 9 N . Rath: Zweite Natur. Konzepte einer Vermitt-
und Kunstschönen endgültig. Nur die Kunst ist als das lung von Natur und Kultur in Anthropologie und Ästhetik um
«sinnliche Scheinen einer Idee» objektiver Ausdruck 1800 (1996) 83 ff. - 10W. Preisendanz: M. und Poiesis in der dt.
einer Idee des menschlichen Geistes und schön zu nen- Dichtungstheorie des 18. Jh., in: W. Rasch, G. Geulen, K.
nen. [12] Die Widerspiegelungstheorie von G. L U K Á C S Haberkamm (Hg.): Rezeption und Produktion zwischen 1570
und 1730, FS G. Weydt (1972) 547. - 11J. Paul: Vorschule der
faßt das Kunstwerk als etwas, das über das bloß empi- Ästhetik, Programm § 1-5, in: ders.: Sämtliche Werke, Abt. I,
risch Wirkliche hinausweisend ein «Abbild von etwas, Bd.5, hg. v. N. Miller (2000). - 12G.W.F. Hegel: Ästhetik, 2
das immer und nie da ist» gibt und darin die Qualität Bde., hg. v. F. Bassenge (1976) 19. - 13G. Lukács: Ästhetik,
einer utopischen Vergegenwärtigung eines Kommenden Bd. 2 (1972) 22f. - 1 4 vgl. E. Bloch: Ästhetik des Vor-Scheins I,
birgt. [13] E. B L O C H begreift das Kunstwerk als Vor- hg. v. G. Ueding (1974) 20. - 15Th. W. Adorno: Ästhetische
schein eines Noch-Nicht der Realität, von Tendenzen Theorie, in: Gesamm. Sehr. 7 (1972) 86. - 1 6 W. Benjamin: Über
und Latenzen des Wirklichen, die im Kunstwerk als das mimetische Vermögen, in: Gesamm. Sehr., hg. v. R. Tiede-
mann u. H. Schmeppenhäuser, Bd. 2 , 1 , 210-213 (1980). - 17J.
Antizipation möglicher, ungelebter Wirklichkeiten zur Derrida: Economimesis, in: ders. u.a.: Mimésis des articulations
Darstellung kommen. [14] In der ästhetischen Theorie (Paris 1975) 55-93, 67; Übers, zit. G. Gebauer, Chr. Wulf: M.:
T H . W . ADORNOS spielt die der Kunst «immanente Dia- Kultur - Kunst - Ges. (1992) 417. - 18N. Goodman: Sprachen
lektik von Rationalität und Mimesis» [15] eine entschei- der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie (1997) 41; vgl. zum
dende Rolle für die Begründung der Funktion der Kunst Begriff <Nachahmung> ebd. 17ff. - 19ebd. 42. - 20 A.C. Danto:
als Form einer Reflexion und des Eingedenkens der Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philos, der Kunst
Natur. W. BENJAMIN thematisiert das mimetische Ver- (1984) 148.
halten im Kontext der Sprach- und Erfahrungstheo-
rie. [16] Auch J. DERRIDA begreift M. weder als Nachah- Literaturhinweise:
mung noch als Darstellung, sondern als «Produktion J. Leineweber: Mimetisches Vermögen und allegorisches Ver-
eines Produkts der Natur durch ein Produkt der Kunst. fahren. Stud, zu W. Benjamin und seiner Lehre vom Ähnlichen
[...] Der Künstler ahmt nicht die Dinge in der Natur, d.h. (1978). - J. Früchtl: M. Konstellation eines Zentralbegriffs bei
Adorno (1986). - W. Burwick, W. Pape (Hg.): Aesthetic Illu-
in der natura naturata nach, sondern die Handlungen der sion. Theoretical and Historical Approaches (Berlin / New York
natura naturans, die Operationen der Physis.» [17] Nach 1990). - W. Jung: Von der M. zur Simulation. Eine Einf. in die
der Symboltheorie N. GOODMANS beruht der Begriff Gesch. der Ästhetik (1995). - A. Kablitz, G. Neumann (Hg.): M.
<Nachahmung> im Sinne einer Abbildtheorie auf einem und Simulation (1998).
zu kurz gegriffenen Verständnis von Repräsentation. A. Eusterschulte
Die Gegenstandswahrnehmung ist keine Widerspiege-
lung, sondern erzeugt ihr Objekt vielmehr erst, ist krea- C. Bildende Kunst I. Definitorisches. D e r altgriechische
tiv, d.h. der Gegenstand ist «nicht vorgefertigt, sondern Begriff <M.>, der für die bildende Kunst mit PLATON und
das Ergebnis der Art und Weise, wie wir die Welt verste- ARISTOTELES für die Ausformulierung der Aufgaben und
hen.» [18] Die wirkungsvolle künstlerische Repräsenta- Möglichkeiten des Bildes grundlegend wird, scheint
tion und Beschreibung beruht auf Erfindung, Klassifika- bereits mit seiner lateinischen Übersetzung imitatio, die
tion und Organisierung, einer Formung und Verbindung ins Italienische und Französische abgeleitet den kunst-
von Bezugsobjekten. «Die Natur ist ein Produkt aus theoretischen Diskurs seit der Renaissance bis zur Klas-
Kunst und Diskurs.» [19] A.C. DANTOS Theorie künstle- sik wesentlich bestimmte, von verschiedenen Bedeutun-
rischer Weltrepräsentation bestimmt den ästhetischen gen überlagert zu sein. Die kunsthistorische Grundan-
Rezeptionsakt als Kriterium für die Bestimmung eines nahme, die sich eher mit der Begriffsbildung der imitatio
Werkes als Kunst, wobei die Unterscheidbarkeit von als mit der der M. deckt, die Geschichtlichkeit der Nach-
Kunst und Gegenstandswelt in Berufung auf den Mime- ahmung, ist weder von Piaton noch von Aristoteles
sisgedanken aristotelischer Prägung konstitutiv ist. «Wir bedacht. Die imitatio auctoris als bewußte Wahl eines
sind doch von Anfang an von der Einsicht des Aristoteles künstlerischen Vorbildes reflektiert das kulturelle Erbe
betroffen gewesen, daß das Vergnügen an Werken der der Darstellungskonventionen, die immer schon die
Mimesis das Wissen voraussetzt, daß sie Nachahmungen künstlerische Sicht auf Natur vorstrukturieren. Das Ver-

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Mimesis Mimesis

hältnis von ars-natura bestimmt sich demnach in jeder des, in der Rhetorik unter der actio der Vortragskunst
Epoche und jeder Kunstgattung neu. [1] Auf die akade- verhandelt, sind die wirkungsmächtigsten, die Sympathie
mische Unverbrauchtheit des Begriffs <M.>, der im stren- des Betrachters am stärksten affizierenden Mittel der bil-
gen Sinne nur die antiken Grundlagentexte der Nachah- denden Kunst, da sie ein Sujet unmittelbar vor Augen
mungstheorie betrifft, richtet sich aber das Interesse, das stellen. Die stumme Gestik wird dem Redner als rhetori-
in neueren Untersuchungen gerade ihm «als ein in diszi- sches Mittel nahegelegt, da die Gesten in ihrer persuasi-
pliniertes Denken hineingeholten Wildes» [2] und eben ven affektiven Kraft die Wirkung des bloßen Wortes
nicht dem theoriebefrachteten Begriff imitatio entgegen- übersteigen. [8] Als natürliche Äußerungsformen, die
gebracht wird. Die Verwurzelung des Begriffs <M.> in unmittelbar die inneren Affekte symptomatisch ausdrük-
einer magischen Bildpraxis, die einer Logik der Spur im ken, können die Gesten, rhetorisch genutzt, in ein kon-
Sinne der Aufspürung einer materiellen Teilhabe folgt, ventionelles Vokabular überführt werden, wobei die
wird mit dem Begriff imitatio nicht aufgefangen, mit wel- symbolische Kommunikation auf die Effektivität der
chem seit der Renaissance verstärkt die Genealogie der unmittelbaren Anteilnahme, die die körperlichen
Kunst aus der Kunst bestimmt wird und vor dessen Folie Gefühlsäußerungen beim Betrachter bzw. Zuhörer aus-
die Nachahmung der Natur als technische Leistung ohne lösen, setzt. Der Begriff des decorum (ital. convenevo-
tieferen Bezug zum Dargestellten betrachtet wird. lezza, frz. bienséance) im Sinne der würdigen Angemes-
Die Funktion der M. als menschliche Grundierung der senheit des Dargestellten in Bezug auf Haltung, Gesten,
Wirklichkeit ist in der anthropologischen Fundierung Kleidung und Verortung der Handlung ist rhetorische
des Begriffs faßbar, der sich aus einer spannungsvollen Leitkategorie, aufgrund welcher die Versprachlichung
Absetzung von <Mimikry> (Anverwandlung) und und Konventionalisierung des klassischen Bildes betrie-
<Methexis> (Teilhabe) bildet, und mit welcher der Hori- ben wird und gegen die sich schließlich die Moderne rich-
zont von M. über die technische Nachahmung des Natur- tet.
vorbilds, deren künstlerischer Wert schon in der Antike Das Verhältnis zwischen bildender Kunst und Rheto-
fragwürdig ist, hin zu einer schöpferischen Aneignung rik ist wechselseitig: der Versprachlichung des Bildes
von Welt eröffnet wird. [3] M. mit Nachahmung der respektive des Historienbildes über eine Orientierung
Natur im Sinne einer Abbildung abzutun verkennt, daß der Bildstrategien an Rhetorik und Poesie steht eine
von Anbeginn der Begriffsgeschichte M. nicht nur eine Verbildlichung der Vortragskunst, die ihre mimetischen
äußerliche Vorbildlichkeit der Natur für die Kunst Verfahren dem Bild respektive der Malerei abgeschaut
bezeichnete, sondern vielmehr eine ursächliche Ablei- hat, gegenüber. Auch das Ornat des rhetorischen Bildes
tung des Kunstprinzips aus dem Naturprinzip im Auge sollte durch Farbe und Relief bestechen, um die Auf-
hatte. M. kann unter dieser Auslegung derart definiert merksamkeit des Betrachters zu fesseln. [9] Diese Elo-
werden, daß der Begriff ebenfalls das Kunstprinzip der quenz der Farbe, die als ureigene Bildmagie, die unmit-
nonfigurativen Kunst bezeichnen kann, welche die Nach- telbar Gefühle im Betrachter hervorzurufen vermag, sich
ahmung der Natur als Paradigma der Kunst aufkün- der Versprachlichung entzieht, ist wirkungsmächtiger
digt. [4] Denn auch wenn abstrakte Bilder nicht vorder- Grenzbereich der Rhetorik.
gründig mimetisch die Realität abbilden, betreiben sie - II. Geschichte. 1. Antike. Die Bedeutung der Rhetorik
wenn sie unter die Kategorie des Bildes fallen und nicht für die Ausformulierung des Mimesisbegriffs zeigt sich
reine Kunst-Objekte sind - «Stoffwechsel mit der Wirk- bereits in der 'Geburtsstunde' der Seinsfrage des Bildes,
lichkeit». [5] Gegen die tradierte, enge Definition der M. wenn PLATON in seinen Dialogen <Politeia> und <Sophi-
als naturgetreue Nachahmung gewendet, für die die stes> eine Parallele zwischen Sophistik und bildender
Kategorie der veristischen Ähnlichkeit der zentrale Qua- Kunst zieht, um dieser schließlich aufgrund der Analogie
litätsmaßstab ist, stellt H . - G . G A D A M E R den Begriff «Dar- mit der täuschenden, die Seele verwirrenden Redekunst
stellung», der das performativ Schöpferische in der den Anspruch auf Wahrheit abzusprechen. [10] Piaton
Repräsentation mitzubedenken erlaubt, ins Zentrum sei- differenziert hier zwischen zwei Arten der Nachahmung:
ner Überlegung zur Seinsvalenz des Bildes. Er bezeich- μίμηισς εικαστική, mimesis eikastiké bietet gleichsam
net ihn als «Seinszuwachs» - womit der Kunst selbst als eine Kopie der Realität, während μίμησις φανταστική,
ihr wesentlich das Moment von Kreatürlichkeit zuge- mimesis phantastiké mit unlauteren, sophistischen Mit-
sprochen wird - von Repräsentativität des Urbildes, das teln wie der die Augen täuschenden perspektivischen
erst in der Repräsentation konkret faßbar und somit Verkürzung in der Skulptur und der schmeichlerischen,
wirklich wird. [6] die Wirkungen von Dreidimensionalität in der Bildflä-
Die Bedeutung der Rhetorik für die Ausbildung der che suggerierenden Farbe arbeitet. [11] Die für den
Mimesistheorie der bildenden Kunst liegt in der Anvisie- ästhetischen Diskurs folgenschwere, da das Kunstwerk
rung dieses Mehrwerts des Kunstwerks im Verhältnis unter das Vorzeichen der täuschenden Scheinhaftigkeit
zum Vorbild als erklärtes Ziel der künstlerischen Dar- stellende Definition, wonach das Bild etwas zur Darstel-
stellung. Das unmißverständliche Mehr-Begreifen über lung bringt, was es selbst nicht ist, «scheinbar [...], jedoch
die Evidenz der Darstellung wird durch eine Literalisie- nicht in Wahrheit seiend» [12], exemplifiziert Piaton am
rung der bildenden Kunst im Sinne einer Anverwand- Bild des Künstlers als Spiegelträger, der «auf gewisse
lung des Horazischen Mottos «ut pictura poesis» vorbe- Weise alle diese Dinge verfertigt, auf andere aber wieder
reitet, welche die Lesbarkeit des Bildes in der Gattung nicht.» [13] Die Gefahr der bildenden Kunst liegt jedoch
der <Historia> fordert, die, entsprechend der aristoteli- weniger in dieser Seinsdefizienz des eikastischen Abbil-
schen Forderung für die M. der Tragödie, den Menschen des, das Piaton als dreifach von der Wahrheit abstehen-
als Handelnden zeigt. [7] Die Theorie der Eloquenz des des Schattenbild bezeichnet [14], sondern vielmehr in der
stummen Bildes ist am Modell der Rhetorik geschult, Täuschungskraft des phantastischen, die Einbildungs-
welches affektive Wirkungsstrategien im Sinne des kraft des Betrachters überlistenden Trugbildes, das die
movere und delectare des Betrachters bereithält, um ihn Trennung von Urbild und Abbild außer Kraft setzt, um
zu belehren (docere). Mimik und Gestik als Elemente gleichsam, nicht über die Wirklichkeit als Abbild dieser
einer wortlosen, jedoch codifizierbaren Sprache des Bil- Ideen vermittelt, sondern mit «Farben und anderem

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Mimesis Mimesis

sterblichen Flitterkram» die Transzendenz des «göttlich Dichtungen des E m p e d o k l e s herausstellt. [21] D e r ent-
Schöne(n)» [15] zu verunreingen, indem es sich als scheidende Einschnitt des aristotelischen Mimesisbe-
Repräsentanz der Idee behauptet. Die Gefährlichkeit griffs liegt in der fundamentalen Umdefinierung der
der die Sinne betäubenden Farbe, die mit dem griechi- Áhnlichkeitsbeziehung, die ihre Äußerlichkeit verliert,
schen Begriff φ ά ρ μ α κ ο ν , p h á r m a k o n angezeigt ist, der vielmehr tiefer gelegt wird, um das Verhältnis von ars
die Färbemittel in die Dialektik von «Gift» - «Arznei» und natura über die oberflächliche Abbildlichkeit hinaus
einspannt, liegt in der Erzeugung eines künstlichen Trug- prinzipieller zu denken. Aristoteles verknüpft in seiner
bildes, das dem Betrachter etwas «vorgaukelt», was nicht Physikvorlesung ars und natura auf struktureller E b e n e ,
da ist. Diesem moralisch verwerflichen Bild setzt Piaton wenn er daraufhinweist, daß «in der Struktur des
Grenzen, wenn er ihm die als archaisch zu bezeichnende menschlichen Hervorbringens die Struktur der Natur-
Vorstellung eines Ebenbildes entgegenhält, das, als produktion wiederkehrt und also von der N a t u r gelten
Schattenbild bezeichnet, seine M. der Natur abgeschaut muß, was vom menschlichen Herstellen gilt» [22], um
hat. Diese Fundierung der künstlerischen M. in der die jeweiligen Produktionsprozesse begreifbar zu
natürlichen Bildproduktion n e h m e n später P L I N I U S und machen. [23] Doch diese wechselseitige Verwiesenheit
Q U I N T I L I A N in ihre Schilderung der Ursprungslegende
von Kunst und Natur in der Gleichsetzung ihrer Produk-
der bildenden Kunst aus der Schattenrißzeichnung tionsstruktur, die beide Begriffe als unverfügbare, hypo-
auf. [16] thetische ausweist und damit eine gewisse Bodenlosig-
A R I S T O T E L E S nimmt auf die eikastische M. bezug, wenn keit in der Ableitung der Kunst aus der Natur zu erken-
er in den beiläufig in seiner Poetik eingefügten Beispie- nen gibt, wendet das Oppositionsverhältnis in eines der
len für die M. der bildenden Kunst, die der Poetik als Affinität, das durch die Analogie gestiftet wird. In Abset-
Vorbild dienen, in diesen der abzubildenden Wirklich- zung der hergestellten Dinge von den N a t u r p r o d u k t e n ,
keit sich anpassenden Bildern das Ziel der Kunst die in sich selbst das Prinzip ihrer Genese tragen, unter-
erblickt. Die Produktivität des aristotelischen M.- scheidet Aristoteles im zweiten Buch der <Physik> vier
Modells liegt in der E r ö f f n u n g eines künstlerischen Ursachen der Skulptur: das Erz als Stoff, die Bildhauerei
Mehrwerts des Bildes im Vergleich zum Original. W e n n als Kunst, den menschlichen Körper als F o r m und den
Aristoteles vom «guten» Porträtmaler fordert, den Dar- A u f t r a g als Beweggrund f ü r die Herstellung der Skulp-
gestellten «ähnlich und zugleich schöner» [17] zu gestal- tur.
ten, dann ist in dieser Addierung zweier durchaus quer S E N E C A nimmt später den aristotelischen G e d a n k e n
zueinander stehender Beurteilungskritierien die künstle- auf. Seine Pointe besteht in der unmittelbaren Übertra-
rische Herausforderung der Überbietung der Natur in gung der göttlichen Kreation auf die bildende Kunst, die
ihrer Nachahmung formuliert. Einige antike Künstlerle- Piaton mit der Beschreibung des Demiurgen als H a n d -
genden, welche zu kunsttheoretischen Allgemeinplätzen werker und eben nicht als Künstler zu umgehen ver-
ausgebildet durch die J a h r h u n d e r t e hindurch, als Mime- suchte. Seneca, der in seinem 65. Brief an Lucilius Aristo-
sisexempla tradiert, in der kunsttheoretischen Literatur teles' M.-Konzept griffig definiert: «Omnis ars naturae
einen autoritativen Status erhalten, um auf zeitgenössi-
imitatio est» (jede Kunst ist Nachahmung der
sche Künstler bezogen zu werden, veranschaulichen die
Natur) [24], fügt den aufgelisteten vier Ursachen der
geforderte Idealisierung in der Gattung des Porträts.
Skulptur als f ü n f t e Ursache die platonische Idee hinzu.
Während der Bildhauer D E M E T R I O S f ü r seine übertrie-
D o c h nicht nur in dieser Erweiterung, sondern auch in
bene Sorgfalt in der minutiösen Nachahmung gescholten
wurde [18], ist es beispielsweise der Kunstgriff des Malers der den aristotelischen Analogieschluß paraphrasieren-
A P E L L E S , in welchem die Einlösung der beiden ambiva-
den Formulierung «deshalb übertrage das, was ich über
lenten Forderungen wieder und wieder in der Kunst- die Welt insgesamt gesagt habe, auf das, was vom Men-
theorie gefeiert wird, der entgegen der Bildtradition des schen gestaltet werden muß» [25], zeigt sich der Versuch,
frontal ausgerichteten Bildnisses den einäugigen Antigo- die aristotelische Vorstellung von der künstlerischen
nos im Profil darstellte, um den Makel zu verbergen. [19] Produktion mit dem platonischen Modell der Weltent-
Aristoteles gewinnt selbst der eikastischen, d.h. naturge- stehung, wie es im Dialog <Timaios> entwickelt ist, zu ver-
treuen M. eine ästhetische Dimension ab. Die Paradoxie binden. Auch C I C E R O bezieht sich im <Orator> nicht auf
des ästhetischen Genusses am Abstoßenden «in einer Piatons bildkritische M.-Konzeption im <Staat> als viel-
möglichst getreuen Abbildung», welcher die Imitation mehr auf den <Timaios>, um das Wissen der platonischen
von dem Imitierten als selbständige G r ö ß e abtrennt und Ideenwelt, das Piaton d e m Künstler abspricht, im schöp-
die Kunst an sich, als das, was an der Darstellung des ferischen Geist des Künstlers selbst zu verorten. Cicero,
Abstoßenden anzieht, zu beurteilen erlaubt, erklärt Ari- der die M. einer die sinnliche W a h r n e h m u n g überschrei-
stoteles mit dem D r a n g des Betrachters zu lernen. [20] tenden, idealschönen Gestalt problematisiert[26],
D e r ästhetische Mehrwert, d.h. Lustgewinn gründet sich erklärt zur Grundlage ihrer künstlerischen Erzeugung
auf das platonische Skandalon des Bildes: sein Nicht- ein inneres Bild. Dieses transzendente Bild, das gleich-
Sein. D a ß Aristoteles sich neben abstoßenden Tieren als sam als Verinnerlichung der platonischen Idee im Geist
Bilder, die «Freude» erregen, Leichname ausmalt, wirft des Künstlers begriffen werden kann, beschreibt Cicero
ein Licht auf die künstlerische Obsession für anatomi- als «erhabene Vorstellung der Schönheit», nach welcher
sche Studien, die von dieser gewissermaßen lustvollen der Künstler «Kunst und Hantierung lenkt». [27]
Faszination am G r a u e n e r r e g e n d e n zeugen - womöglich Bezeichnenderweise entwickelt Cicero diese Vorstel-
weil das Abzubildende die eigenen Phantasien übersteigt lung in Anbetracht der Frage, auf welcher Grundlage
bzw. anheizt. Diese Abbildungen medizinischer oder Phidias die Götterbilder des Zeus und der A t h e n e schuf.
naturwissenschaftlicher Dinge erheischen nicht nur, Ciceros Schilderung der Herstellung des legendären
indem sie die Wißbegier des Betrachters am Unansehnli- Helenabildes des antiken Malers Z E U X I S f ü r die Stadt
chen erregen, Bewunderung und Gefallen an der künst- Kroton, der von den schönsten Jungfrauen fünf Modelle
lerischen Darstellung, sie erheben den Künstler in den auswählte, um aus deren jeweils vorbildlichsten Körper-
Rang eines Naturforschers, wie Aristoteles anhand der teilen die ideale Gestalt von weiblicher Schönheit zusam-
menzusetzen, erklärt die künstlerische Freiheit mit d e m

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Mimesis Mimesis

Prinzip der Wahl. (Abb. 1) Das Idealisierungsverfahren tuen begründet sich mit der Referenzlosigkeit der künst-
der electio, das Cicero auf die Auswahl künstlerischer lerischen M., weshalb, so die Fundamentalkritik, der
Vorbilder bezieht und das im Klassizismus zur Doktrin Künstler selbst sich zum Schöpfer der Götter erheben
erhoben werden wird, ist Paradigma für die Überlegen- kann. [31] Den als blasphemisch verdammten, «von
heit der Kunst über die Natur in deren empirisch begrün- Menschenhand gefertigten» [32] Idolen setzt das Chri-
deter Nachahmung. [28] Die Zurückweisung der platoni- stentum das Wunder der vera icon (des wahren Abbilds)
schen Bildkritik im <Staat> ist ausdrücklich in Ciceros entgegen, eine Tuchreliquie, die später als <Schweißtuch
Umwertung des Verhältnisses des Künstlers zum Hand- der Veronika> bekannt wird, auf der Christus «eigenhän-
werker faßbar, wenn er im <Brutus> ausruft: «[...] ich für dig» sein Gesicht abgedrückt haben soll. Dieses Bildmo-
meinen Teil möchte lieber Phidias sein als der beste Zim- dell des άχει,ροποίητος, acheiropoiëtos (nicht von Men-
mermann!» [29] schenhand gefertigt) hat jedoch bereits antike Vorläufer.
Bereits in der Antike gilt <Phantasie> als Gegenbegriff Cicero bezeichnet ein Gemälde der Ceres, welches vom
zur M. PHILOSTRAT D . Ä . feiert in der Lebensbeschreibung Himmel gefallen sein soll, als «non humana manu-
des <Apollonios von Tyana>, wo nach den Vorbildern der factum» (nicht von Menschenhand gefertigt). [33] Die
Götterbilder des Phidias und des Praxiteles gefragt ist, Unverbürgtheit der Himmelsgabe fängt das Christentum
die Phantasie als künstlerisches Prinzip, das er über die mit der Entwicklung einer eigenen Bildursprungsle-
Nachahmung stellt, da diese an das Sichtbare gebunden gende auf. Theologische Grundlage dieser Erdung des
ist, während jene in den Bereich der wahrhaften Ideen himmlischen Bildes ist die Inkarnation Gottes in Christus
vorstoßen kann. [30] als seinem Bild, die das Bilderverbot des Alten Testa-
2. Mittelalter. Der künstlerische Freiraum, der den anti- ments aufhebt. P A U L U S ' Bezeichnung des Sohnes als
ken Künstlern in der Schaffung der Götterbilder einge- άπαύγασμα, apaúgasma (Abglanz) der Herrlichkeit
räumt wurde, wird im Mittelalter Anstoß zu einer christ- Gottes und als χαρακτήρ, charaktë (Abdruck) seiner
lichen Mimesisvorstellung, die die künstlerische Phanta- Person [34] scheint einer Bildvorstellung den Weg geeb-
sie stark beschränkt, wenn nicht gar den Künstler als net zu haben, welche im unkünstlerischen, die künstleri-
Instanz in der Herstellung des Bildes vollständig auszulö- sche Intervention auslasscnden und daher Authentizität
schen gedenkt. Die Verurteilung der antiken Göttersta- beanspruchenden Abdruck der <Veronika> von St. Peter

Abb. 1: F. A. Vincent (1746-1816): Zeuxis, die schönsten Mädchen von Kroton als Modelle auswählend (Paris, Louvre).
Copyright: Photo RMN.

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Mimesis Mimesis

(einem Gemälde) bzw. in deren syrischem Vorläufer, das die christliche Selbstvervollkommnung als Annähe-
dem Mandylion, seine dogmatisch verbindliche Form rung an das idealschöne, d.h. sündenfreie Menschenbild
findet. Die Haftung des Originals für den Abdruck beschreibt, die künstlerische Praxis als geistiges Tun
nimmt das Platonische Modell der eikastischen M. auf, gewürdigt. [40] Doch sollte erst der Renaissance-Künst-
welche das Bild platonisch gesprochen als Abbild des ler Michelangelo, genannt <il divino>, diese Idealisierung
Abbildes des Urbildes kreditiert; zugespitzt und umge- der künstlerischen Technik als nobilitierendes Konzept
wendet wird die Bildkritik Piatons, wenn Methexis und seiner Bildhauerei nutzen.
nicht mehr M. die Grundlage des Abbildungsvorgangs 3. Neuzeit. Die M. der bildenden Kunst der Neuzeit
ist. Die Vervielfältigung der vera icon wird als automati- steht unter dem Vorzeichen der superatio (Überhebung)
scher Reproduktionsvorgang beschrieben. Im schützen- der Kunst über die Natur. Die künstlerische Vervoll-
den Tuch drückt sich das Gesicht auf wunderbare Weise kommnung des Naturvorbildes, die sich an einem Mehr-
ab. Diese materielle Teilhabe des Abdrucks am Original wert bemißt, sei es die Naturerkenntnis bei Leonardo,
verleiht dem Tuchbild als «physisches Dokument» [35] das künstlerische Temperament bei Michelangelo, die
den Status einer Berührungsreliquie. [36] Während das sensuelle Erfahrung an der Malerei bei Tizian, um nur
Bild als <charaktér> den dokumentarischen Wert der vera die drei repräsentativsten Künstler für die grundlegende
icon als Zeugnis der Existenz Christi bestimmt, ist es das Veränderung des Mimesisbegriffs in der Neuzeit zu nen-
<apaúgasma>, welchem das Bild seine Anbetungswürdig- nen, wird zur Nobilitierungsstrategie. Der Beiname <il
keit, die sich auf Christus als Bild Gottes richtet, ver- divino>, am ausdrücklichsten auf MICHELANGELO ge-
dankt. Die magische, auratische Wirkung des «wahren» münzt, wird zum favorisierten Qualitätssiegel der Kunst-
Bildes wird in der Verschleierung der <Veronica> in St. kritik der Renaissance. Die «wahrhaft göttliche Kraft»
Peter faßbar, die die Unsichtbarkeit, d.h. die Unmöglich- der Malerei spricht bereits der Kunsttheoretiker L.B.
keit des Anblicks Gottes im Antlitz Christi für den ALBERTI ihrer Funktion zu, die Lebendigkeit des Darge-
menschlichen Blick ansichtig macht. Die Minderwertig- stellten über den Tod hinaus für die Nachwelt zu erhal-
keit des eikastischen Schattenbildes Piatons wird aufge- ten. [41] Der neuzeitliche Künstler ahmt die Natur nicht
hoben durch das <apaúgasma>, die <gratia> des Bildes, die demütig und einfältig nach, sondern begreift sich im
sich in der Heilswirkung auf den Betrachter, wie in der Wettstreit mit ihr [42], wenn er LEONARDO zufolge selbst
Legende auf den Kaiser Tiberius bzw. auf den syrischen Fiktionen von Natur schafft, Ausdruck eines kreativen
König Abgar, äußert. JOHANNES VON DAMASKUS, der die Vermögens, mit welchem Leonardo die Gottähnlichkeit
Entstehung des «wahren Bildes» beschreibt, erklärt den des Malers begründet. [43] Doch die Kunst hat die Natur
Mißerfolg des Porträtmalers, den Abgar zu Christus bei diesem Wetteifern scharf im Auge zu behalten. Leo-
schickte, mit dem für das menschliche Auge unerträgli- nardo erklärt das Abhängigkeitsverhältnis der künstleri-
chen göttlichen Glanz, der das Gesicht Christi erstrahlen schen Einbildung von der Wirklichkeit mit dem Ver-
ließ. Doch kraft dieses Glanzes lichtete schließlich Chri- gleich des schattenwerfenden Körpers. [44] Der schöpfe-
stus selbsttätig das eigene Portât, sein Gesicht mit dem rische Freiraum verdankt sich keiner Abkehr von der
Mantel bedeckend, um sein Bild darin abzudrücken, im Natur, sondern vielmehr einer vollständigen Internalisie-
Mandylion ab und bezeugte hiermit seine Gottsohn- rung. [45] Die Verfügungsgewalt über die Natur im Bild-
schaft. [37] denken erwächst aus einer notwendigen Unterordnung
im gründlichen Studium, die im Bild des Spiegels als
Die von Piaton kritisierte, für das Bild konstitutive Abbildungsparadigma illustriert ist. [46] Die Positivwen-
Verflechtung von Seiendem und Nichtseiendem wird in dung eines in Piatons Sinne minderwertigen, hinter das
der christlichen M. zur Bedingung der Möglichkeit der Naturvorbild ontologisch zurückfallenden Spiegelbildes
Darstellung des Undarstellbaren. Gerade im Scheitern gelingt mit der Unterfütterung dieser rein technischen
der christlichen Ikone als repräsentatives Bild offenbart eikastischen M. mit Erkenntnis. Der naturwissenschaftli-
sich das für menschliche Augen Unsichtbare. Im Gegen- che Rang, den Leonardo der Malerei zuspricht [47], ist in
satz zum heidnischen Idol, in welchem Gott als präsent seinem Ratschlag greifbar, das Ausdrucksspektrum des
gedacht ist, durchwirken sich im Tuch des «wahren Bil- Gesichts und der Hände in Mimik und Gestik, die die
des» die Erinnerung an die Vergangenheit der histori- inneren Seelenbewegungen anzeigen, an der Körper-
schen Person Jesu Christi, von dem die Spuren auf der sprache der Stummen zu studieren, um in der Malerei die
vera icon zeugen, und die Erwartung seiner Erscheinung, geistige Verfassung des Menschen zu ergründen.
die im blendenden Glanz angezeigt ist. Die Verhüllung (Abb. 2) Ohne diese Gefühlsvermittlung, denn die
des Bildes, im Sinne des eingetrübten Spiegelbildes im Affektübertragung auf den Betrachter belebt das Bild
Paulinischen Gleichnis, die den Betrachter vor einem rückwirkend, ist nach Leonardo die Malerei doppelt
direkten Anblick von Angesicht zu Angesicht schützt, tot. [48] Der Hofmaler von Ludwig XIV., L E B R U N , wird
verleiht dem präsentierten Antlitz Christi eine endzeitli- schließlich in einem Vortrag, betitelt <Conférence sur
che Zukünftigkeit und öffnet dieses auf eine Vision des l'expression des passions> (1668), systematisierend die
inneren Auges des gläubigen Betrachters hin, der erst Affektstudien Leonardos fortsetzen, um eine lesbare
eigentlich die M. leistet. [38] Die Illusion des Codifizierung der Mimik zur Steigerung der Eloquenz
<apaúgasma> resultiert also nicht aus einer täuschenden des Historienbildes zu erstellen.
Ähnlichkeit des Abdrucks mit dem Original, sondern
setzt sich von dieser verisimilitudo (illusionären Wahr-
Die Epoche der Frührenaissance läßt sich an der ratio-
scheinlichkeit) in ihre Überblendung ab.
nalen Durchdringung der M. bestimmen. B R U N E L L E -
Während die Theologen des Mittelalters die Nachah- SCHIS Entwicklung der Zentralperspektive, die den Bild-
mung der Natur in der bildenden Kunst zunehmend raum vereinheitlicht [49], kann ebenso als epochaler Ein-
abschätzig als bloß äußerliche, «tote» Verdoppelung der schnitt begriffen werden, wie die Rhetorisierung der
im Bild unerreichbaren Schöpfung Gottes beurtei- Bildsprache in Albertis Traktat <De Pictura> (1435/36),
len [39], wird jedoch bezeichnenderweise im tradierten, der im decorums-Begriff, der dann in der gegenreforma-
u . a . v o n PSEUDO-DIONYSIUS AREOPAGITA u n d MEISTER torischen Kunstkritik zur Disziplinierung der künstleri-
ECKHART aufgegriffenen Bildhauergleichnis des PLOTIN, schen Freiheit benützt wird, seine moralische Tragweite

1301 1302
Mimesis Mimesis

erklärt sich in der Frührenaissance weniger wie später im


ästhetizistischen Klassizismus des 18. Jh. durch den
<Geschmack/ grand goût>, den die antiken Skulpturen
beispielhaft verkörpern, als durch das Künstlerwissen,
das ihrer Bildung zugrunde liegt und welches aus der Per-
spektive der Renaissance betrachtet im Mittelalter ver-
schüttet wurde. Polyklets <Kanon> (die Regel), ein Titel,
der signifikanterweise sowohl die Skulptur wie ihre theo-
retische Grundlegungsschrift bezeichnet, ist ein Werk,
dem pythagoreische Zahlenspekulationen zugrunde-
liegen. Die <Geometria> als Schlüssel für das Geheimnis
der vollendeten Proportion empfiehlt D Ü R E R im
Anschluß an seinen <Meistersatz>: «Denn wahrhaft
steckt die Kunst in der Natur, wer sie heraus kann reißen,
der hat sie.» [54]
Die <generelle> Natur, die zu erforschen Aufgabe der
Kunst ist, wird zunehmend mit der Kategorie der Schön-
heit besetzt. Als Beurteilungskriterium des Kunstwerks
ausgebildet richtet sie sich schließlich gegen die Natur als
deren Anderes, das allein aus der Kunst gebildet ist. Der
Kontur, dessen Abmilderung Leonardo zugunsten des
s/wmato-Effekts, der Volumen in der Fläche suggeriert,
empfiehlt, wird in der neoklassizistischen Kunsttheorie
zum Kunstprinzip erhoben. Daß die Regeln der Kunst
nicht mehr den Gesetzen der Natur folgen, wird J.J.
Abb. 2: Leonardo da Vinci, Kopf eines Kriegers. Studie zur
WINCKELMANN schließlich Mitte des 18. Jh. mit der
Schlacht von Anghiari, 1503-1504 (Budapest, Museum of Fine
Künstlichkeit des Kontur erklären: «Könnte auch die
Arts). Copyright: Museum.
Nachahmung der Natur dem Künstler alles geben, so
würde gewiß die Richtigkeit im Kontur durch sie nicht zu
erhält. [50] Alberti vergleicht das Bild mit einem geöffne- erhalten sein; diese muß von den Griechen allein erlernet
ten Fenster, wodurch das Dargestellte gesehen wird, und werden.» [55]
schließt an diese Vorstellung die Darlegung der Perspek- Die Begriffsopposition <imitare-ritrarre> des Bildhau-
tivkonstruktion an. [51] Diese Einzeichnung einer Tie- ers V. D A N T I , die sich auf Aristoteles' Differenzierung
fendimension in die Flächigkeit des Bildträgers bindet dreier Nachahmungsweisen beruft, privilegiert das imi-
das Bild an den imaginativen Akt, den der Betrachter in tare als künstlerische M. gegenüber dem technischen
der Realisierung des Dargestellten immer schon geleistet ritrarre (darstellen). Die die äußere Wirklichkeit und
hat. Diese Konstruktion, die den Betrachter hinter das künstlerische Vorbilder kopierende M. wird unter dem
Bild führt, um ihn von der Präsenz des Dargestellten zu Begriff ritrarre verhandelt [56], terminus technicus der
überzeugen, bringt eine Doppelbödigkeit in das Konzept naturgetreuen Nachahmung, die in der niederen, da als
des neuzeitlichen Bildes, das erst dann im klassischen unkünstlerisch eingestuften Gattung des ritratto (Por-
Sinne als gelungen betrachtet werden kann, wenn es sich trät) am stärksten gefordert ist. In Absetzung vom
selbst, d.h. seine konstitutive Begrenzung auf zwei ritrarre wird die Leistung des imitare in der geistig durch-
Dimensionen, durchkreuzt, um eine scheinhafte Welt zu drungenen Aneignung der Wirklichkeit verortet, die im
eröffnen. Alberti, der als erster eine umfassende Kunst- Sinne einer Intervention des Künstlers zwischen der indi-
theorie entwickelte, hat bereits zwanzig Jahre nach Wie- viduellen, konkreten Natur und einer generellen, ideellen
derauffindung der rhetorischen Hauptschriften Ciceros, Natur die Partikularitäten der Erscheinungswelt hinter
<De oratore>, <Orator>, <Brutus>, diese für seine Konzep- sich läßt, um eine ideelle Vorstellung von ihr zu entwik-
tion der bildlichen <Historia> rezipiert. [52] Ausdrücklich keln, am stärksten gefordert für die hohe Gattung des
empfiehlt er dem Maler das Studium der antiken Rheto- Historienbildes, in welcher der Maler sich als Poet ausbil-
rik. Albertis Rezeption der Poetik des Aristoteles für die det. Daß beide Arten der M. notwendigerweise in einem
Ausbildung einer Sprachkompetenz der stummen spannungsvollen Antagonismus relational verbunden
Werke der bildenden Kunst wird später von F. BOCCHI sind, illustriert ein Kupferstich G.P. BELLORIS aus seinem
aufgriffen, um auf der Grundlage des Horazischen Leit- Buch <Le vite de' Pittori, Scultori et Architetti moderni»
spruches «ut pictura poesis» auf eine konforme Analogie (1672) einem Werk, mit welchem er bedeutend auf den
gebracht zu werden. [53] Die in der Kunsttheorie prakti- akademischen Diskurs über bildende Kunst einwirkte.
zierte, mit Albertis Schrift ihren Anfang nehmende (Abb. 3) Eine <Imitatio sapiens>, eingegraben auf den
Angleichung der bildenden Kunst an Rhetorik und Geo- steinernen Sockel, auf dem die weibliche Allegorie der
metrie ist als Nobilitierungsstrategie zu verstehen, die die Weisheit sitzt, ist nicht denkbar ohne die Unterjochung
bildende Kunst in den Rang einer freien Kunst erhebt. der sklavischen Nachahmung, für die der A f f e sinnbild-
Während noch C . C E N N I N I in seinem <Libro dell'arte> lich steht. Auf diesen 'fußend' erdet sich die geistige
dem Künstler praktische Hilfestellungen zur mimeti- Reflexion, d.h. wird konkret. Eine eindeutig pejorative
schen Illusionserzeugung in der Malerei bietet, weist sich Besetzung des Affenbildes, welches für eine veristische
Albertis Abhandlung in Aufbau und Tonfall als wissen- Nachahmung steht [57], läßt sich spätestens mit dem
schaftliche Studie aus, die der Kunst eine diskursive Anspruch der bildenden Künste auf Nobilitierung, der
Kompetenz unterstellt. nicht zuletzt mit der Gründung der <Accademia del Dis-
Die paradigmatische Vorbildlichkeit der Antike ins- egno> 1562 in Florenz manifest geworden ist, feststel-
besondere in der Darstellung des menschlichen Körpers len. [58] Doch nicht allein die naturgetreue Abbildung,

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Mimesis Mimesis

Abb. 3: G. Bellori, Imitatio sapiens (Paris, Bibliothèque d'art et d'archéologie Jacques Doucet). Copyright: Bibliothek.

auch die einfältige, unoriginelle «Nachäffung» eines ist, verdeutlicht die Definition der <bella maniera> des
künstlerisches Vorbild wird mit der Belegung dieses Kunsthistoriographen G. V A S A R I , der sie als die Gewin-
Tierbildes verurteilt, wenn beispielsweise L. D O L C E von nung einer idealschönen Figur, die aus dem steten Kopie-
den «Affen des Michel Angelo» [59] spricht. Als Gegen- ren der schönsten Dinge sich ausbildet, bezeichnet. [64]
bild zum Affen, jedoch weit weniger prominent in der Entsprechend folgert G.B. A R M E N I N I , daß Zeuxis nur
Kunsttheorie vertreten, steht die Biene metaphorisch für aufgrund einer besonderen Manier (singular maniera)
eine geistreiche Nachahmung der Natur im Sinne des die verschiedenen Züge, die er ihrer Schönheit wegen bei
imitare. Senecas in der Dichtungstheorie häufig rezi- den verschiedenen Mädchen ausgewählt hat, in Einklang
pierte Aufforderung, die Bienen in ihrer Sammeltätig- bringen konnte. [ 6 5 ] Eine R A F F A E L zugeschriebene Er-
keit und Honiggewinnung nachzuahmen [60], wird von klärung besagt, daß er sich für die electio einer bestimm-
A. F É L I B I E N , Historiograph von Ludwig XIV., pointiert, ten Idee bedient, die ihm aus dem Geiste kommt. [66]
wenn er die mit Vorsicht formulierte Vermutung Sene- Die <bella maniera> ist das künstlerische Vermögen, die
cas, daß es sich in der Gewinnung des Honigs um einen aus der electio verschiedener Naturvorbilder gewonnene
Verdauungsvorgang handelt, in welchem etwas Neues Figur durch die Kraft des disegno (Zeichnung, Entwurf)
gewonnen wird, als Gewißheit setzt und es zur Transfor- in sich stimmig zu machen, jedoch weniger im materiel-
mationsleistung, die aus bitteren Pflanzen süßen Honig, len Sinne einer künstlerischen Handschrift, die den Kon-
d.h. aus Häßlichem Schönes macht, zuspitzt. [61] Schon tur umreißt, als im transzendenten Sinne eines künstleri-
Dürer greift das Bienengleichnis in seinen < Vier Büchern schen Ingeniums, das die Vorbilder gut 'verdaut' hat, um
von menschlicher P r o p o r t i o n auf, um in Anlehnung an aus ihrer Substanz die Essenz für die Bildung einer neu-
die Zeuxisanekdote das künstlerische Verfahren der artigen Figur zu gewinnen, in der sich Naturwahrheit
electio der schönsten Körperteile zu beschreiben. [62] konzentriert.
Der Michelangelo-Biograph A. C O N D I V I nimmt diese Vasaris Definition des disegno, den er aus dem Intel-
Verbindung des Bienengleichnisses mit der Legende der lekt hervorgehen läßt, als «Vater» der drei Künste:
krotonischen Jungfrauen auf. Bezeichnend ist dort Architektur, Skulptur, Malerei und die Bestimmung sei-
jedoch der Wortlaut der Nacherzählung der Zeuxisanek- ner Äußerungsform als <cavare> (graben, herausneh-
dote: Die künstlerische Lösung der Aufgabe, 'eine' men) eines <giudizio universale) (Allgemeinurteils) aus
Venus zu malen, kann dann als geglückt betrachtet wer- vielen Dingen [67], welches einer Form oder einer Idee
den, wenn der Künstler sie als 'seine' Venus sich aneig- gleicht, ruft das Bildhauergleichnis Plotins in Erinnerung
net. [63] Inwieweit mit dieser idealisierenden Form der und erklärt die Sonderstellung, die dem Bildhauer
Nachahmung die Grenze des Mimesisbegriffs angezeigt Michelangelo, der alle drei Künste beherrscht, in Vasaris

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Mimesis Mimesis

Kunstgeschichte als Meister der Zeichnung zugespro- dürfe «auf keinerlei Weise nach dem Stein
chen wird. Auch scheint Vasari das Paragone-Argument schmecke(n)» [76], eine Beobachtung die auch schon
des Bildhauers, wonach dessen Kunst im Gegensatz zur Dolce formuliert, wenn er bemerkt, «daß viele ein
lügenhaften Malerei allein Anspruch auf Wahrheit hat, Fleisch malen, das an Farbe und Härte wie Porphyr aus-
zu bestätigen. Michelangelos provokante Aussage: «Man sieht». [77] Der <rilievo> (plastische Wirkung), der in der
zeichnet mit dem Hirn und nicht mit der Hand, und wer Bildfläche die Illusion eines erhabenen Körpers evoziert,
keinen freien Geist haben kann, bedecke sich mit von Leonardo als erste Aufgabe der Malerei formu-
Scham» [68], die sich vor der Folie des Paragone-Diskur- liert [78], wird im 16. Jh. zunehmend als malerisches und
ses, dem Wettstreit der Künste, als Entkräftung des nicht nur als Problem des korrekten disegno erkannt. Die
Arguments Leonardos liest, der die Vorherrschaft der Beobachtung des Florentiner Kunstgelehrten F. BOCCHI
Malerei mit der Mühsal des bildhauerischen Handwerks an der <Madonna del Sacco> des A. D E L SARTO, «daß die
erklärt [69], verdeutlicht die Doppelbödigkeit des di- Kunstfertigkeit in Lebendigkeit und die Farben in
segwo-Begriffs, der nicht nur die Zeichnung, sondern Fleisch übergegangen sind», führt ihn zur Schlußfolge-
auch den <concetto> (Entwurf) im Geiste des Künstlers rung, daß diese suggestive Wirkung des Bildes den
bezeichnet, eine Zweiteilung, die in F. ZUCCAROS theorie- Betrachter unmittelbar auf das dargestellte Geschehen
bildender Differenzierung zwischen disegno esterno und lenkt, da sich die Kunst «selbst in Vergessenheit bringt»,
disegno interno gipfelt. Während die «äußere» Zeich- im Sinne der antiken Forderung der Rhetorik: ars est
nung in die Lehre der Natur geht, ist es die «innere» celare artem, die auch schon Dolce als Ziel der Malerei
Zeichnung, mit welcher der Künstler, seinerseits die anerkennt, wenn er urteilt, daß es eine Kunst ist, die
Natur bemeisternd, sie übersteigt. [70] Mit der Abspal- Kunst zu verdecken. [79] Die Darstellung der Fleischlich-
tung der bloß äußerlichen Zeichnung, d.h. der Technik keit und der Weichheit, die den geforderten Eindruck
von der Kunst, begründet der Dichter P. A R E T I N O sein von Lebendigkeit hervorruft, wird jetzt zur ausgezeich-
Künstlerlob, wenn er über Michelangelo äußert, er male neten malerischen Aufgabe. Wenn Pino Tizians künstle-
mit der «maestà del giudizio» (Herrlichkeit des Urteils) rische Leistung mit der Variation der Hauttöne
und nicht mit der «meschino del'arte» (Kleinlichkeit der («carni»), die dem Zustand des Körpers entsprechen,
Kunstfertigkeit). [71] Michelangelo selbst betreibt in sei- erklärt [80], ist die Farbe gleichsam das Fleisch selbst.
nen schriftlichen Äußerungen eine Vergeistigung seines Diese wesentliche Zweideutigkeit des Inkarnats, Farbe
Handwerks. Er unterscheidet zwei Vorgehensweisen in und zugleich Fleisch bzw. Hautoberfläche zu sein und
der Bildhauerei: das «per via di porre» (Weg des Hinzu- nicht nur darzustellen, spiegelt sich bereits in dem
fügens) grenzt er als plastische Modellierung, die der Bedeutungsspektrum des Begriffs <chromata>, der
Malerei in ihrer Technik ähnelt, von der eigentlichen sowohl die Haut, die Oberfläche des Körpers wie die
bild-«hauerischen» Tätigkeit ab, die über den Weg des Fleischfarbe bezeichnet. Die Aufhebung einer Trennung
Wegnehmens, «per via di levare», die Skulptur hervor- zwischen Medium und Darstellung in der sinnlichen
bringt. In seinem wohl bekanntesten Gedicht: «Non ha Wahrnehmung zeigt auch der Begriff der <morbidezza>
l'ottimo artista alcun concetto» [72] beschreibt er die (Weichheit) an, der eine Qualitätsbestimmung der Male-
Tätigkeit des Bildhauers als das Freilegen eines im Mar- rei wie auch des Fleisches selbst ist und mehr noch als
mor, in der Materie also selbst, enthaltenen «concetto», eine optische Erfahrung eine taktile Empfindung
der durch die vom Geist des Künstlers geleitete Hand bestimmt. [81] Auf diese Indifferenz in der Bezeichnung,
ausgeführt wird. die Piaton mit der Stigmatisierung der Farbe als
Aus der Kritik dieser Profilierung der maniera gegen- <phármakon> verurteilt, gründet sich deren <vaghezza>
über der M., die im Manierismus ihre stilistische Ausfor- (Lieblichkeit, Unbestimmtheit). Diese Beurteilung der
mulierung findet, entwickelt sich bald eine die Malerei Farbwirkung, die im lebensweltlichen Bezug mit <Weib-
im Verhältnis zur Zeichnung stärkende Kunsttheorie, lichkeit> konnotiert wurde, wird zur ästhetischen Kate-
die dem künstlichen Kontur die natürliche Farbe entge- gorie, die insbesondere für die kunstkritische Bestim-
genhält und die Bindung der Malerei an die Natur erneu- mung der Eigenart der venezianischen Malerei benutzt
ert. Die Definition der Malerei des venezianischen wurde, um den verführerischen Zauber der Gemälde zu
Schriftstellers P. PINO als eine Form der Naturphiloso- bezeichnen. Diesen bedenkend, erklärt Pino die legen-
phie, die in ihrem Anspruch an die Ideale der Frührenais- däre illusionistische, die Augen täuschende M. der anti-
sance anschließt [73], sowie Dolces Einschränkung, daß ken Maler mit der «vera alchimia della pittura». [82]
nur der Maler tatsächlich <Maler> genannt zu werden ver- Michelangelo, Aristoteles' Anthropologisierung der
dient, dessen Werk der Kategorie der Ähnlichkeit Form als «männlich» und des Stoffes als «weiblich» auf-
genügt [74], formulieren das erneute Interesse an einer nehmend, diffamiert die Ölmalerei, deren Technik
sich durch Naturnähe auszeichnenden M. Die Aufmerk- Vasari «Fleiß und Liebe» zuschreibt [83], als «weiblich»,
samkeit, welche dabei gerade der venezianischen Male- um ihre Formlosigkeit im Fehlen des disegno zu verurtei-
rei entgegengebracht wird, respektive T I Z I A N , kann als len. [84] Die spezifisch coloristische Wirkung der vene-
Zurechtweisung der Kritik Vasaris begriffen werden, die zianischen Malerei, in Anbetracht derer das Auge weni-
den Mangel an disegno konstatiert, den dieser aus dem ger als Erkenntnis-, denn als Sinnesorgan ausgebildet
fehlenden Antikenstudium erklärt. Der Maler A. CAR- wird, beschreibt der ihr anerkennend zugewandte R. DE
RACCI wird Vasari in seinen Randbemerkungen zur Vita PILES als Ziel der M., denn dieses besteht in der «Verfüh-
Tizians im Exemplar seiner Viten als «goffo» (Tölpel) rung», d.h. in der Täuschung der Augen. [85] De Piles dif-
und «bestia» (Esel) beschimpfen, weil er es für angemes- ferenziert in seiner Malereitheorie die Kategorie der
sener hält, die Natur in der antiken Skulptur als in ihrer «beauté», welche durch die Regeln gefällt, von der
eigentlichen Form zu studieren. Doch solle man nach sei- «grâce» (Grazie), die regellos gefällt, und definiert diese
ner Ansicht nicht die zweiten Dinge, sondern «le prime e als das, was unmittelbar, ohne den Verstand ins Spiel zu
principalissime», die also, welche lebendig sind, nachah- bringen, das Herz erobert. [86]
men. [75] Ähnliche Bedenken äußert R U B E N S gegenüber Am Ende des 17. Jh. wird der beherrschende Gesamt-
dem Antikenstudium, wenn er anmerkt, die Malerei eindruck des Bildes, der über die Tonalität des Kolorits

1307 1308
Mimesis Mimesis

das Gemüt des Betrachters auf die Affektlage des Sujets gischen Sicht auf Natur ein neues Kapitel in der
einstimmt, zum Kritierium der Bildbetrachtung. Die Geschichte der Kunst als eine Art der Naturwissenschaft
Sensibilisierung der Kunstanschauung, die die affektiven auf.
Wirkungsstrategien der Malerei in den Blick nimmt, Wenn im 19. Jh. im großen französischen Wörterbuch
betrifft jedoch weniger die mimetisch-expressiven als <Larousse> unter dem Stichwort «trompe-l'œil» steht:
zunehmend die rationalen, eine bildimmanente Ordnung «Die Realität so nachzuahmen, daß eine Illusion ent-
aufbauenden Aspekte der Malerei, um in ihnen die hohe steht, daß das Auge des Betrachters getäuscht wird -
Kunst zu entdecken. Diese Wahrnehmung des Bildes als darin besteht für den gemeinen Mann das höchste Ziel
in sich stimmiger Organismus, der abgezogen vom darge- der Kunst. Leute von Geschmack fordern etwas anderes
stellen Sachverhalt an sich Gegenstand des ästhetisches [...]» [92], dann wird gegen die Täuschungskraft der bil-
Genusses schon ist, wird mit De Piles' ästhetischer Kate- denden Kunst der «grand goût» als ästhetisches Urteils-
gorie des «toute-ensemble», dessen Einheitlichkeit sich vermögen behauptet. Nicht zuletzt ist mit der techni-
über künstlerische Mittel bestimmt, vorbereitet. De Piles schen Entwicklung der Photographie der künstlerische
wendet sich gegen die Literalisierung der Malerei im Wert einer möglichst naturgetreuen Darstellung frag-
französischen akademischen Diskurs mit einer auf ihre würdig geworden. Die Kultivierung der Kunstanschau-
spezifischen Visualisierungsstrategien gerichteten ung bereitet die «ästhetische Unterscheidung» [93] vor,
Kunsttheorie. [87] De Piles Trennung von «véritables die es erlaubt, die künstlerische Leistung, abgezogen von
couleurs» und «couleurs artificiels» erlaubt den ästheti- der Dignität des Sujets, für sich zu würdigen. Die im
schen Genuß des Bildes in den bildeigenen, autonomen, Laufe des 19. Jh. zunehmende Entfesselung der bildneri-
d.h. nichtmimetischen Aspekten zu verorten. «Le schen Mittel aus ihrem repräsentativen Soll betrifft
général du Tableau» (das Ganze des Bildes) wird durch
neben der Farbe gleichermaßen die Zeichnung, die aus
das auf der Grundlage der artifiziellen Farben entwik-
der Begrenzung der Linie auf den Kontur ausbrechend
kelte «clair-obscur» bestimmt, das nicht nur den einzel-
nen Gegenständen Plastizität gibt, sondern vielmehr das Fluchtlinien in Form von Arabesken zieht, um im Orna-
Bild als in sich geschlossenes System herstellt. [88] In die- ment als Kunstform neue Wurzeln zu schlagen. [94] Der
sem das Ganze des Bildes beherrschenden Hell-Dunkel mit dem Beginn der Moderne fragwürdig gewordene
verortet De Piles den ästhetischen Genuß, der sich im Bezug zur Natur erneuert sich mit der Absage an eine
«repos» (Erholung) ergötzt. Im 20. Jh. wird der Maler H. naturgetreue Darstellung durch die Fundierung des
MATISSE von einer Kunst des Gleichgewichts, der Rein-
kreativen Prinzips auf der Grundlage eines dynamischen
heit und der Ruhe träumen, «[...] die für jeden Geistesar- Naturbegriffs im Sinne der «natura naturans» (das pro-
beiter ein Beruhigungsmittel», ein <phármakon> also duktive Prinzip) im Gegensatz zur «natura naturata» als
ist. [89] die generierte Gestalt, die nur äußerliches Vorbild sein
kann. Der Momentaneität des atmosphärischen Natur-
Die klassische Gattungshierarchie, wonach das Histo- eindrucks wird im Impressionismus mit einer flüchtigen
rienbild die höchste, das Stilleben, da es bloß unbewegli- Malweise entsprochen, die sich aus einzelnen Pinselstri-
che, tote Gegenstände abbildet, folglich die niederste chen - «taches» (Flecken, Fehler) - bildet. C É Z A N N E , der
Gattung darstellt, löst sich im Zuge des 18. Jh. auf. Die einzig die Natur als Lehrmeisterin anerkennt und sich
Bindung an die Poetik der Literatur im Sinne der «ut pic- damit des Ballastes der bildnerischen Tradition entle-
tura poesis» wird aufgekündigt, um eine eigene bildim- digt, überbietet in seinem Konzept der M. die Forderung
manente «Poesie» auszubilden, die ekphrastisch zu nach Wahrscheinlichkeit im Sinne der Ähnlichkeit mit
umschreiben Schriftsteller wie beispielsweise D I D E R O T dem quasi philosophischen Anspruch auf Wahrheit.
und BAUDELAIRE als Herausforderung begreifen, die Gegen den die täuschende Illusion von Tiefe in der Bild-
Grenzen des eigenen Sprachsystems zu erweitern. Dide- fläche erzeugenden Kunstgriff der Perspektivkonstruk-
rot bezeichnet schließlich den Maler C H A R D I N als größ- tion, der seit der Renaissance das formale Gerüst für das
ten Magier, d.h. aus der Perspektive Piatons als größten klassische Bild darstellt, setzt Cézanne die Modulation
Sophisten, um die koloristische Kraft dieses Malers zu der Farben, in welchen sich die Sichtbarkeit der Wirk-
rühmen, der in der niedersten Gattung des Stillebens sich lichkeit, die er in einem malerischen Äquivalent einzu-
zum «Sklaven der Natur» macht, um sich in ihr zum fangen versucht, artikuliert - seinem Leitsatz entspre-
«Herrn der Kunst» zu erheben. [90] chend, daß Bild habe eine «Harmonie parallel zur Natur»
4. Moderne. Während in der Neuzeit der Ausdruck von aufzubauen. [95] (Abb. 4) Auch der sensuellen Hervor-
Lebendigkeit in den illusionserzeugenden Mitteln der rufung von taktilen Empfindungen durch die Illusion von
künstlerischen Medien, die sich darin selbst in Verges- greifbarer Stofflichkeit des Dargestellten, wie sie in der
senheit bringen, gefeiert wird, bezieht sich die geforderte venezianischen Malerei gefeiert wurde, entsagt Cézanne,
Lebendigkeit in der modernen Kunsttheorie nicht mehr
wenn er das Bild aus einem, die Bildfläche in toto bedek-
auf das Dargestellte als vielmehr auf die Darstellung
kenden Stoff bildet, der sich nun nicht mehr mit der Vor-
selbst. Die schillernde opake Undurchdringlichkeit der
Bildoberfläche rückt zunehmend ins Augenmerk der täuschung einer Variation von anderen Materialien ver-
Betrachtung. Die Gefangennahme des Betrachters wird hüllt: die Farbe.
durch die Anteilnahme an der Realisierung des Darge- Der Aufbau eines Bildorganismus, der, um mit H.
MATISSE ZU sprechen, gleichsam eine eigene «neue [...]
stellten erreicht, durch welche das Auge des Betrachters
sich mit dem Blick des Künstlers vertraut macht, um mit lebendige Welt» [96] schafft, um auf dieser Ebene der
dessen Augen die Welt neu zu entdecken. [91] Der Analogie sich der Natur erneut zu versichern, ist ein in
Impressionismus als radikale Absage an die kulturelle den Äußerungen zur modernen Kunst oft beschriebenes
Perspektivierung von Wirklichkeit durch tradierte Bild- Phänomen. [97] Der Schweizer Maler P. K L E E , der die
konventionen entdeckt in den ureigenen Grundlagen der Autonomie der Bildes mit seiner Eigengesetzlichkeit
Malerei - Licht und Farbe - die Bedingung der Möglich- erklärt, beschreibt diese mit einer Analogie zur Anato-
keit von Wahrnehmung überhaupt, und schlägt mit die- mie des menschlichen Körpers: «Wie der Mensch, so hat
ser im «plein air» - Studium entwickelten phänomenolo- auch das Bild Skelett, Muskeln und Haut.» Aus diesem
Vergleich heraus, der die Kunst durch die strukturelle

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Mimesis Mimesis

Abb. 4: P. Cézanne, Straße mit Bäumen am Bergeshang, ca. 1904 {Rieheti/Basel, Fondation Beyeler).

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Mimesis Mimesis

Annäherung von ars und natura aus ihrer Abbildungs- Freien Univ. Berlin (1996-2000). - 2G. Gebauer, Chr. Wulf: M.
pflicht entläßt, schlußfolgert Klee, daß der menschliche Kultur-Kunst-Ges. (1992) 425. - 3s. W. Benjamin: Lehre vom
Akt nicht «menschlich-anatomisch», sondern «bild-ana- Ähnlichen u. Über das mimetische Vermögen, in: ders.: Ges.
tomisch» zu gestalten sei. [98] In den Schriften zur Sehr. 11,1, hg. v. R. Tiedemann, H. Schweppenhäuser (1977) 204-
213. - 4 B . Recki: M.: Nachahmung der Natur. Kleine Apologie
modernen Kunst wird häufig die semantische Spannung eines mißverstandenen Leitbegriffs, in: Kunstforum internatio-
zwischen Kunst und Natur als produktive Zündung der nal (1991) Bd. 114,116ff. - 5 G . Boehm: «Zuwachs an Sein. Her-
künstlerischen M. forciert. Diese in den Blick nehmend meneutische Reflexion und bildende Kunst», in: H.-G. Gada-
erarbeitet T H . W. A D O R N O in seiner «Ästhetischen Theo- mer (Hg.): Die Moderne und die Grenzen der Vergegenständli-
r i o eine Entgrenzung des Mimesisbegriffes[99], die die chung (1996) 106. - 6H.-G. Gadamer: Wahrheit und Methode.
Kunst von dem bildkritischen, auf Piaton zurückgehen- Grundzüge einer philos. Hermeneutik, GW Bd. 1 (1986); C.L.
den Vorwurf ihrer täuschenden Scheinhaftigkeit frei- Hart-Nibbrig (Hg.): Was heißt <Darstellen>? (1994); H. Feld-
spricht, ohne jedoch die Referenz auf Natur damit einzu- mann: M. und Wirklichkeit (1988). - 7R. Lee: Ut pictura poesis.
büßen, die vielmehr tiefer gelegt wird, wenn er schreibt: The Humanistic Theory of Painting (New York 1967). - 8vgl.
Quint. XI, 3,67. - 9 vgl. Cie. De or. III, 96. - 1 0 Plat. Pol. 596d. -
«Je strenger die Kunstwerke der Naturwüchsigkeit und 11 Platon, Sophistes 236b, 264c; Pol. 602 c-d, vgl. R. Preimesber-
der Abbildung von Natur sich enthalten, desto mehr ger: <C. Plinius Secundus der Ältere: Ähnlichkeit (77n. Chr.), in:
nähern sich die gelungenen der Natur.» [100] Von der ders., Η. Baader, Ν. Suthor (Hg.): Porträt (1999) 127ff. -12Plat.
Natur, als das «Andere der Kunst» begriffen [101], muß Pol. 596e. - 13ebd. 596d. - 14ebd. 599c. - 15Piaton, Symposion
das Kunstwerk sich abgrenzen, um zu ihr auf einer prinzi- 21 le. - 1 6 Plinius, Naturkunde XXXV, 21-23,150f.; Quint. X, 2,
pielleren Ebene zurückzufinden. Das Verhältnis von ars- 7, vgl. V.l. Stoichita: A Short History of the Shadow (London
natura als eines der wesensmäßigen Differenz in der vor- 1997). - 1 7 Arist. Poet. 1545b. - 18Quint. XII, 10, 9. - 19Quint.
getäuschten Identität des Bildes mit dem Dargestellten, II, 13, 12-13; Plinius [16] 70f.; vgl. Preimesberger [11] 134ff. -
wie es Piaton in seiner bildkritischen M.-Konzeption ent- 20 Arist. Poet. 1448b, 9-17; vgl. Arist. Rhet. 1371b, 23. - 21 Arist.
wirft, wendet Adorno in ein Verhältnis der Identität, als Poet. 1447b, 18-22. - 22ebd. - 23 Aristoteles, Physik II, 2,194 a,
die innere Gesetzlichkeit, die Kunst und Natur als identi- 21 f., übers, ν. H. Wagner: Aristoteles: Physikvorlesung (1967). -
sche Systeme ausweist, die sich aus einer äußersten Dif- 24Seneca, Briefe an Lucilius, hg. u. übers, v. R. Rauthe (1990)
VII, 65,3. - 25 ebd. - 26 Cie. Or. 2. - 27 ebd. - 28 Cie. In v. 2,1. -
ferenz zwischen Natur und Kunst heraus aufbaut. Mit der 29 Cie. Brut. 257. - 30 Philostratus, The Life of Apollonios of
Aufkündigung einer verbindlichen Weltordnung, deren Tyana, Vol. II (Cambridge 1960) VI, XIX. - 31 vgl. Athenago-
sinnvoller Zusammenhang vom logos, der die transzen- ras, Legatio pro Christianis, in: BKV. Frühchristi. Apologeten
dente Welt der Ideen geschaffen hat, gestiftet wurde, hat und Märtyrerakten (1913) 35. - 32Apg 19, 23. - 33 E. v. Dob-
die Natur ihre Vorbildlichkeit für die M. der bildenden schütz: Christusbilder. Unters, zurchristl. Legende (1899) Beleg
Kunst verloren, ohne jedoch ihre Verbindlichkeit einzu- 37c. - 34Hebr 1, 3. - 35H. Belting: In Search of Christ's Body.
büßen. Diese besteht in der metaphorischen Umschrei- Image or Imprint?, in: H. Kessler, G. Wolf (Hg.): The Holy Face
bung des Schöpfungsvorgangs der Kunst mit einer der and the Paradox of Representation (Rom 1998) 3. - 36H. Bel-
Naturbeschreibung entlehnten Begrifflichkeit. Der schil- ting, Bild und Kult (1991) 66. - 37Johannes von Damaskus,
Genaue Darlegung des orthodoxen Glaubens IV, Kap. 16: «Von
lernde Begriff «Natur», der von der Bezeichnung der den Bildern>, übers, von D. Stiefenhofer, in: BKV Bd. 44 (1923)
äußeren Wirklichkeit abgezogen wird, steht vielmehr 229; vgl. G. Wolf: Innozenz III.: Veronika. Paradoxien des wah-
funktional für das Enigma des unbegründbaren Schöpfe- ren Bildes (1216) in: Preimesberger, Baader, Suthor [11] 150ff. -
rischen in der Kunst ein. Dieser Kunstgriff, der Natur 38 J. Trilling: The Image Not Made by Hands and the Byzantine
und Kunst auf einer prinzipiellen, rein gedanklichen Way of Seeing, in: Kessler, Wolf [35] 122f. - 39T. Lentes: Auf
Ebene gleichsetzt, dient jedoch keiner Fortschreibung der Suche nach dem Ort des Gedächtnisses. Thesen der Umwer-
der exemplarischen Mustergültigkeit der Natur für die tung der symbolischen Formen in Abendmahlslehre, Bildtheo-
Kunst, sondern ganz im Gegenteil wird mit ihm die rie und Bildandacht des 14.- 16. Jh., in: K. Krüger, A. Nova
(Hg.): Imagination und Wirklichkeit. Zum Verhältnis von men-
«Umkehrung des Piatonismus» eingeläutet. [102] Die talen und realen Bildern in der Kunst der frühen Neuzeit (2000).
klassische Vorrangigkeit des Urbildes, dem das Abbild
sich in der Nachahmung unterordnet, wird aufgelöst und - 40Plotin, Enneaden, in: Plotins Sehr, la, übers, v. R. Harder
das Bild erhebt den Anspruch auf Originalität. Es selbst (1956) 23; vgl. zu Meister Eckhart und Ps. Dionysios Areopa-
gita: Lentes [39]. - 4 1 L.B. Alberti's Kleinere kunsttheoretische
produziert aus sich heraus eine Resonanzbeziehung zur Schriften, hg. u. übers, v. H. Janitschek (1970) 88f. -42vgl. Leo-
Wirklichkeit, die sich demnach vielmehr von der Kunst nardo da Vinci: Die Sehr, zur Malerei, hg. u. komm. v. A. Cha-
her ableitet. In der Epoche der Romantik bereits hat stel, übers, v. M. Schneider (1990) 162. - 43ebd. 146. - 44Leo-
F.W.J. SCHELLING, der sich gegen die Naturnachahmung nardo da Vinci: Das Buch von der Malerei, nach dem Codex
als Kunstprinzip ausspricht, in seinem <System des trans- Vaticanus (Urbinas) hg. u. übers, v. H. Ludwig (Wien 1882) §2.
zendentalen Idealismus> (1800) das Verhältnis der - 45ders. [42] 164. - 46ebd. - 47ders. [44] §7. - 48ders. [44]
Ableitung umgewendet, wenn er folgert, daß die Kunst Bd. 1, 373; vgl. zur scheinhaften Lebendigkeit der Bilder: H.
der Natur die Beurteilungskriterien für deren bloß kon- Baader: Sehen, Täuschen, Erkennen. Raffaels Selbstbildnis aus
tingente Schönheit vorgibt. [103] Der Realitätseffekt der dem Louvre, in: C. Göttler u.a.: Diletto e Maraviglia. Ausdruck
Bilder, der zu einer Verkehrung des ars-natura- Verhält- und Wirkung in der Kunst von der Renaissance bis zum Barock
(1998). - 49F. Büttner: Rationalisierung der M. Anfänge der
nisses in der M . führt, hat H . BLUMENBERG zufolge konstruierten Perspektive bei Brunelleschi und Alberti, in: A.
erkenntnistheoretische Konsequenzen: «Nicht zufällig Kablitz, G. Neumann (Hg.): M. und Simulation (1998) 55ff. -
hat die Kunst in der Philosophie seit dem Idealismus 50vgl. K. Patz: Zum Begriff der <Historia> in L.B. Albertis <De
überall dort, wo man nach dem, was "Sein" ist, glaubt fra- Pictura», in Zs. f. Kunstgesch. 49 (1986) 269ff; U. Müller-Hof-
gen zu können, eben den exemplarischen Rang einge- stede: Malerei zwischen Dichtung und Skulptur - L.B. Albertis
nommen, den in der Antike und der von ihr abhängigen Theorie der Bilderfindung, in: Wolfenbüttler Renaissance-Mit-
Metaphysik die Natur innehatte». [104] teilungen 2 (1994) 56-73; K.W. Forster, H. Locher (Hg.): Theo-
rie der Praxis. L.B. Alberti als Humanist und Theoretiker der
bildenden Künste (1999). - 5 1 vgl. Alberti [41] und Büttner [49].
- 52vgl. Patz [50] 270. - 53vgl. A.C. Gampp: Diletto e maravi-
Anmerkungen: glia, piacere e stupore. Donatellos hi. Georg aus der Sicht des F.
1 vgl. die Buchreihe: Die Gesch. der klass. Bildgattung in Quel- Bocchi, in: Göttler [48] 253-271. - 54A. Dürer, <Aus den Vier
lentexten und Kommentaren, hg. v. Kunsthist. Institut der Büchern von menschlicher Proportion», in: Sehr, und Briefe, hg.

1313 1314
Mimesis Mimesis

v. E. Ullmann (1989) 232. - 55J.J. Winckelmann: Gedanken Literaturhinweise:


über die Nachahmung der griech. Werke in der Malerei und E. Battisti: Il concetto d'imitazione nel Cinquecento, in: Com-
Bildhauerkunst (1991) 12. - 5 6 vgl. R. Preimesberger: V. Danti: mentari 7 (1956) 86ff., 249ff. - J.R. Spencer: Ut pictura rheto-
Das Allgemeine, nicht das Besondere - <imitare> statt <ritrarre> rica. A study in Quattrocento Theory of Painting, in: Journal of
(1567) in: ders., Baader, Suthor [11] 273ff. - 57H.W. Janson: the Warburg and Courtauld Institute, 20 (London 1957) 26-44. -
Apes and Ape Lore. In the Middle Age and the Renaissance M. Baxandall: Giotto and the Orators. Humanistic observers of
(London 1952) 293. - 58 W. Kemp: Disegno. Beitr. zur Gesch. painting in Italy and the discovery of pictorial composition 1350-
des Begriffs zwischen 1547 und 1607, in: Marburger Jb. für 1450 (Oxford 1971). - G. Le Coat: The Rhetoric of The Arts,
Kunstwiss. 19 (1974) 219-240. - 59 L. Dolce: Aretino oder Dia- 1550-1650 (Bern u.a. 1975). - M. Kemp: From «Mimesis» to
log über Malerei, übers, v. C. Cerri (Wien 1871) 13. - 60 Seneca, «Fantasia». The Quattrocento Vocabulary of Creation, Inspira-
Briefe an Lucilius [24] Buch VIII, 84, 3; vgl. K. Irle: Der Ruhm tion and Genius in the Visual Arts, in: Viator 8 (1977) 347-398. -
der Bienen. Das Nachahmungsprinzip der ital. Malerei von Raf- D. Summers: Michelangelo and the Language of Art (Princeton
fael bis Rubens (1997). - 61 A. Félibien: Entretiens sur les Vies 1981). - C. Goldstein: Rhetoric and Art History in the Italian
et sur les Ouvrages des plus excellens Peintres anciens et moder- Renaissance and Baroque. Art Bulletin (Dec. 1991), LXXIII/ 4,
nes, dixième entretien (1725), hg. v. Mortier (London 1705) Vol. 645-652. - O. Bonfait (Hg.): Peinture et rhétorique. Actes du
IV, 341. - 62 Dürer [54] 162. - 63 A. Condivi: Das Leben des colloque de l'Académie de France à Rome (Paris 1994). - R.
Michelangelo Buonarroti, übers, v. R. Valdek (1874) 89. - 64 G. Williams: Art, Theory, and Culture in Sixteenth-Century Italy.
Vasari: Le Vite de'più eccellenti Pittori Scultori ed Architettori, From Techne to Metatechne (Cambridge 1997). - C. Göttler
hg. v. G. Milanesi (Florenz 1878) 4,8. - 65 vgl. A. Blunt: Kunst- u.a.: Diletto e Maraviglia. Ausdruck und Wirkung in der Kunst
theorie in Italien 1450-1600 (1984) 105. - 6 6 L . Dolce: Lettere di von der Renaissance bis zum Barock. Fs. R. Preimesberger
diversi eccellentissimi huomini (Venedig 1559), zit. E. Panofsky: (Emsdetten 1998). - V. v. Rosen: M. und ihre bildkünstlerische
IDEA. Ein Beitr. zur Begriffsgesch. der älteren Kunsttheorie Reflexion. Stud, zum venezianischen Malereidiskurs (2000).
(1985). - 67Vasari [64] 1,168-9. - 68G. Milanesi: Le lettere di
Michelangelo (Florenz 1875) 489. - 69Leonardo da Vinci [42] N. Suthor
147. - 70 vgl. Panofsky [66] 47ff. - 71P. Aretino, Brief vom 24.
Nov. 1537 in: Lettere sull'arte di Pietro Aretino, hg. v. E. Came- D. Musik. I. Allgemeines. In der musikwissenschaftli-
sasca (Mailand 1957) I, 88 (S. 82). - 72 M. Buonarroti: Rime, hg. chen Lexikographik der neueren Zeit taucht der Begriff
v. E.N. Girardi (Bari 1960) Nr. 151. - 73 P. Pino, Dialogo di Pit-
<M.> vornehmlich im Zusammenhang mit der Erläute-
tura (1548), in: P. Barocchi (Hg.): Trattati d'Arte del Cinque-
cento. Fra Manierismo e Controriforma, Vol. I: (Bari 1960) 109. rung der lateinischen Übersetzung als imitatio auf und
- 74Dolce [59] 20. - 75G. Perini: Gli scritti dei Carracci (Bolo- dort im Zuge der unumgänglichen Vorstellung der A u f -
gna 1990) 161. - 76P.P. Rubens: Über die Nachahmung ..., zit. fassungen vor allem bei PLATON und ARISTOTELES. [ 1 ]
M. Warnke: P.P. Rubens. Leben und Werk (1977) 193f. - Erscheint der Begriff <M.> als eigenständiges Stichwort, so
77Dolce [59] 66. - 78Leonardo da Vinci [42] 18. - 79F. Bocchi: wird an ihm lediglich ein Ausschnitt der Bedeutungsge-
Le Bellezze della Citta di Fiorenza (Florenz 1591, N D 1971) schichte dargestellt. [ 2 ] B e i J . G . WALTHER ( 1 7 3 2 ) wird das
229ff.; Dolce [59] 14. - 80 Pino [73] 117. - 81J. Lichtenstein: La
L e m m a in kurzer, jedoch problematischer Erläuterung
couleur éloquente, Rhétorique et peinture à l'âge classique
(Paris 1989) 61,73,181. - 8 2 Pino [73] 123.-83Vasari-Bettarini- aufgeführt, da er sogleich die lateinische Übersetzung
Barocchi: Le Vite Testo (Florenz 1966) Vol. 1,133; vgl. R. Prei- (,imitatio) bringt und deren Bedeutung rein musikalisch-
mesberger: Vasari, Ursprungslegende eines Selbstporträts satztechnisch versteht: «heisset in einer Composition:
(1550), in: ders., Baader, Suthor [11] 262ff. - 84vgl. Ph. Sohm: wenn ein gewisses thema in einer Stimme immer wieder-
Gendered Style in Italian Art Criticism from Michelangelo to holt wird.» [3] D i e Bedeutungsbreite v o n M. als musika-
Malvasia, in: Renaissance Quarterly Vol. XLVIII, Nr. 4 (1995) lisch-klangliche Nachahmung einerseits und musiktheo-
760. - 85 R. de Piles: Cours de Peinture par Principes, hg. v. Th.
retisch-satztechnisches Phänomen andererseits wird auf
Puttfarken (Nîmes 1990) 202. - 86 R. de Piles: L'idée du peintre
parfait (London 1707, ND Paris 1993) 22; vgl. zur Vorgesch. die- die musikalisch-rhetorische Figur der repetitio eingeengt.
ser Trennung: U. Müller-Hofstede, Κ. Patz: Bildkonzepte der Versucht man den Begriff <M.> in der Musikauffassung
Verleumdung des Apelles, in: W. Reinink, J. Stumpel (Hg.): lediglich mit Nachahmung zu übersetzen, so wird schnell
Memory & Oblivion. Proceedings of the XXIX th International deutlich, daß sowohl in theoretisch-ästhetischen Betrach-
Congress of the History of Art (Dordrecht 1999) 293-254. - tungen als auch in musikimmanenter Analyse die B e d e u -
87vgl. Th. Puttfarken: Roger de Piles' Theory of Art (Yale tung zu eng g e n o m m e n ist. E i n e Übersetzung als Darstel-
Univ. Press 1985). - 88vgl. H. Körner: Von der Composition
lung und gesteigert als Ausdruck, erst danach Nachah-
der Körper> zur Bildkomposition, in: ders.: Auf der Suche nach
der <wahren Einheit>. Ganzheitsvorstellungen in der frz. Male- mung, wie es neuerdings häufiger vorgeschlagen wird,
rei und Kunsttheorie (1988). - 89 H. Matisse: Über Kunst käme d e m ursprünglichen Sinn sicherlich näher. [4] B e -
(Zürich 1992) 75. - 90 D. Diderot: Salon 1769. Ästhetische Sehr. merkenswert in diesem Z u s a m m e n h a n g ist, daß H. KOL-
Bd. 2, hg. v. F. Bassenge (1984) 265. - 91 vgl. P. Picasso: «Alle LER [5] den Mimesisbegriff insgesamt aus der griechischen
Vorstellungen, die wir von der Natur besitzen, verdanken wir Musiktheorie her versteht, wie sie sich im kultischen Tanz
Malern. Wir sehen sie durch ihre Augen.,» in: ders.: Über Kunst manifestiert, der als «Gesamtkunstwerk» aufgefasst wird,
(Zürich 1988) 27. - 92zit. nach P. Mauriès: Trompe-1'œil. Das
bestehend aus Musik, Gebärde und Tanzfiguren, aber
getäuschte Auge, übers, v. H. Faust (1998) 255. - 93 vgl. Boehm
[5]. - 94vgl. W. Busch: Die notwendige Arabeske. Wirklich- auch Wort. [6] A b g e s e h e n von dieser unsicheren Herlei-
keitsaneignung und Stilisierung in der dt. Kunst des 19. Jh. tung der Wortbedeutung kann von einer einheitlich-
(1985). - 95M. Doran (Hg.): Gespräche mit Cézanne (Zürich inhaltlichen A n w e n d u n g des Mimesisbegriffs bereits in
1982) 137; vgl. K. Badt: Die Kunst Cézannes (1952); G. Boehm: der griechischen A n t i k e nicht ausgegangen werden.
Montagne Sainte-Victoire (1988). - 96Matisse [89] 115. - 97vgl. II. Bedeutungsgeschichte des Mimesisbegriffs. 1. Der
Recki [4], - 98F. Klee (Hg.): Tagebücher von Paul Klee 1898- musikalische Mimesisbegriff in der Antike. D i e ambiva-
1918 (1957) 241. -99vgl. J. Früchtl: M. Konstellation eines Zen-
lente Einschätzung der M. bei PLATON, wie er sie vor allem
tralbegriffes bei Adorno (1986). - lOOTh.W. Adorno: Ästheti-
sche Theorie (1990) 129. - 1 0 1 ebd. 17. - 102Begriff Nietzsche's, in seiner <Politeia> III und X darstellt, erscheint in allen
der von G. Deleuze aufgegriffen wird in: Deleuze: Logik des heutigen Erläuterungen. E i n e Erweiterung des Verständ-
Sinns (1993) 311ff.: «Platon und das Trugbild». - 103F.W.J. nisses von Piaton, vor allem auch, was die Musik betrifft,
Schelling: Texte zur Philos, der Kunst (1982) 115. - 104H. Blu- findet sich im <Kratylos>-Dialog, eine Stelle, die bislang
menberg: Nachahmung der Natur, in: ders.: Wirklichkeiten, in nicht beachtet wurde. Zunächst weist Sokrates daraufhin,
denen wir leben (1981) 64. daß mit Hilfe der M. G e g e b e n h e i t e n wie <unten> bzw.
<schwer> und <oben> bzw. <leicht> verdeutlicht werden

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Mimesis Mimesis

können, ein laufendes Pferd und andere Tiere aber auch wie das Künstlerische [13] zu verstehen ist, die Natur
z.B. durch Körperbewegungen. M. wird in diesem Falle als (φύσις, physis) nachahmen oder darüber hinaus «zu Ende
'Körpersprache' aufgefaßt. Aber auch mit der menschli- führen» kann. [14] Mit dieser Mimesisdeutung ist ein Pro-
chen Stimme können irgendwelche Dinge oder Phäno- blem umrissen, das später vor allem in Renaissance und
mene nachgeahmt werden. Sokrates: «Das Wort also ist Neuzeit Grundlage ästhetischer Diskussionen wurde.
[...] eine Nachahmung der Stimme [stimmliche Nachah- 2. Affekt und M. in der Musikanschauung des Mittelal-
mung] dessen, was es nachahmt und derjenige benennt ters. Parallele antike Gedanken finden sich bei A U G U S T I -
etwas, der, was er nachahmt, mit der Stimme nachahmt?» NUS, allerdings in christliche Zusammenhänge übernom-
Sein Gesprächspartner bejaht dies. [7] Sokrates fährt fort, men, wenn er fordert, daß die «nachahmende Tätigkeit
indem er herausstellt, daß Nachahmung keinerlei Benen- des Künstlers [...] in erster Linie auf die göttlichen Prin-
nung durch die Stimme darstellt und erkennt dabei für die zipien und Ideen ausgerichtet sein» muß. [15] Der
Musik, daß sie zwar einerseits in der Lage ist, bestimmte Mensch-aríí/ex ist in diesem Verständnis derjenige, der
Dinge nachzuahmen - gewissermaßen eine äußerliche in seinen Werken den Deus-artifex nachahmt, der der
klangliche Darstellung - , aber andererseits darüberhinaus Schöpfer der schönen Natur ist, wobei jedoch zwischen
das Wesen der nachgeahmten Dinge verklanglichen kann beiden der existentielle Unterschied besteht, daß Gott
bzw. verklanglichtes Sein darstellt, da für ihn Musik und die Schönheit aus dem Nichts erschafft, der Mensch-arii-
Malerei gleichfalls eine eigene Seins-Wirklichkeit besit- fex jedoch eine bestehende Schönheit nachahmt, die die
zen («[...] hat nicht zuerst gleich Farbe und hat nicht Schönheit Gottes ist. [16] Neben diesem Mimesisver-
Stimme selbst jedes sein Wesen? Und so alles, dem über- ständnis der Darstellung des Makrokosmos (harmoni-
haupt diese Bestimmung, das Sein, zukommt?» [8]). M. sche Ordnung im Weltall) im Mikrokosmos durch den
wird in diesem Zusammenhang als das Mittel angesehen, und im Menschen (musica mundana - musica humana) -
die Wirklichkeit des Seins, das Wesen der Dinge darzustel- jetzt jedoch in christlicher Deutung - , der konstitutive
len («[...] wenn eben dies, das Wesen eines jeden Dinges, Grundlage jeglichen Musikverständnisses des Mittelal-
jemand nachahmen und darstellen könnte durch Buchsta- ters ist, tritt früh der Gedanke der Wirkung der Musik in
ben und Silben, würde er dann nicht kundmachen, was Erscheinung. Schon bei I S I D O R VON S E V I L L A (um 560-
jedes ist [...] ». [9] Mit Hilfe der M. vermag die Musik also 636) findet sich die Feststellung: «Musica movet affectus
nicht nur 'nachzuahmen', sondern indem sie nachahmt, et provocai in diversum habitum sensus» (die Musik
gleichfalls das Wesen der 'nachgeahmten' Dinge und bewegt die Gefühle und bringt das Gemüt in eine neue
Phänomene 'darzustellen' und damit zu verdeutlichen. Stimmung) [17], was auf die Fähigkeiten der musica
Eine Bedeutungserweiterung erhält der musikalische humana hinweist, auf die psychologische Gestimmtheit
Mimesisbegriff bei A R I S T O T E L E S , da er zwischen den Mit- des Menschen einzuwirken. [18] Konkret wird in der
teln, Gegenständen und der Art der Nachahmung unter- <Musica enchiriadis> (9. Jh.) gefordert, daß der Gesang
scheidet, die durch dreierlei z.T. nur der Musik zugehö- stets den Affektgehalt des Textes darstellen müsse:
rige Elemente vollzogen wird: Rhythmus, Wort und Har- ruhige Melodien zeichnen ruhige Inhalte nach, lebhafte,
monie [10], wobei letztere natürlich als ein proportiona- melismatische, kurznotige sollen zur Darstellung von
les Phänomen und nicht als vertikale Mehrstimmigkeit bewegten, erregten Texten benutzt werden. Ähnliche
aufzufassen ist. Desweiteren bedeutet für Aristoteles M. Forderungen finden sich ferner bei G U I D O VON A R E Z Z O
nicht nur eine besondere Qualität der «Teilhabe» (Ähn- in seinem <Micrologus> (um 1025): «[...] ut rerum eventus
lichkeit mit dem Wahren), sondern ferner eine Darstel- sic cantionis imitetur effectus, ut in tristibus rebus graves
lung der inneren «Wahrscheinlichkeit» (εικός, eikós) sint neumae» ([...] daß die Durchführung des Gesangs
eines Dinges oder einer Begebenheit, womit er sich in die Begebenheiten so nachahme, daß bei traurigen
gewissem Sinne der Auffassung Piatons nähert. Den Gegenständen die Melodie tief ist.) [19]
Schritt weiter jedoch vollzieht Aristoteles, wenn er in der Einige Beispiele aus dem Repertoire des Greogoriani-
M. ein Mittel sieht, Wirkung im Sinne von Katharsis im schen Gesangs seien aufgeführt, da das Phänomen der
Hörer zu erzielen. mimetischen Darstellung noch nicht eingehender er-
In der Musik braucht die M. nicht durch Analogie- forscht wurde. Im <Quinque prudentes virgines» (No-
schluß von Abbild und Urbild vollzogen zu werden, da tenbeispiel 1) wird an der Stelle media autem nocte der
z.B. konkret klanglich-praktisch und mathematisch, phy-
sikalisch-theoretisch die ganzzahligen Proportionsver-
hältnisse der Naturtonreihe an einer schwingenden Saite a . . i «V i
oder einer Glocke demonstriert werden können ( P Y T H A - •
Β •· ' *
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GORAS), wodurch man die Darstellung einer kosmischen y . Quinqué pru- dénies v i r - g i ncs acce- pérunt ó-
Harmonie auf Erden erreicht zu haben glaubte. Noch
subtiler muß der Mimesisbegriff im Zusammenhang des a
i 2 " Π. » , 1
Resonanzphänomens gewertet werden, das A R I S T E I D E S • Γ··% » · * · , » 1

QUINTILIANUS[11] anführt, um Methoden der Ethos- le- um in va-sis su- is cum lampíi- di-bus : mè di- a au-
lehre, Psychagogie und Musiktherapie zu verdeutli- ..... 1 «·. » . •«. - ,..
i• . ÎJ^ ·· ! s " » T V 1 ¡i 1 ·!•,·· 1 1«, 1«.
chen. [12] Gemeint ist mit dem Phänomen die Naturer- -
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scheinung, daß ein Verursacher-Ton mit seiner ihm cha- tem no- cte cla-mor factus
rakteristischen Frequenz einen Fremdgegenstand mit
gleicher oder annähernd gleicher Frequenz zum Schwin- à ". *.. ι
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gen und damit zum Tönen bringen kann. ». !
Diese Naturgesetzlichkeit in ihrer Nachahmung, Dar- est Ecce sponsus ve- nit ! e x - i- te (5b- vi- a m
stellung und Interpretation ist ein konkreter Teil der
musikalischen M., die darüberhinaus beteiligt war an der ./: , g •· 1 v.. 1 ϊΓ"Τ~ΊΓ
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Auffassung (Aristoteles), daß eine bestimmte Kunstfer- »»·-'•·1 3
tigkeit (τέχνη, téchnë), worunter sowohl das Künstliche Christo * Dfl- mi no.

1317 1318
Mimesis Mimesis

Gesang syllabisch in ruhigen Notenwerten gestaltet, um dieser von instrumentalen Beeinflussungen freien
dann aber bei clamor in ein vielnotiges erregtes Melisma Vokalmusik neben den noch älteren, gewissermaßen
überzugehen. [20] Ferner sei hingewiesen auf die formel- selbständigen Melodiemodellen (z.B. Alleluia) und
hafte, fast notengetreue unmittelbare Wiederholung des musikalischen Wendungen ein inniges Wort- Ton-Ver-
c/amor-Beginns, dessen Ende als Abstieg im Hexachord- hältnis in gegenseitiger Bedingtheit entwickelt hat, wie es
Umfang zweimal am Ende dieses communio-Gesangs im in der Musikgeschichte in dieser Ausprägung nicht wie-
Schlußmelisma des Dominus wieder erscheint, womit der erscheint. Grundsätzlich schöpft der Gregorianische
insgesamt die inhaltliche Gegebenheit des Textes durch Choral alle zu Gebote stehenden Mittel der Interpunk-
äußerlich-musikalische Topoi mimetisch dargestellt tion, Affektbehandlung, Verdeutlichung musikalischer
wird. Ein weiteres Beispiel stellt der Weihnachts-Introi- Gestik, Leitmotivtechnik und sogar programmatische
tus <Dominus dixit> [21] (Notenbeispiel 2) dar, in dem die Veranschaulichung aus. Allerdings herrscht in allen
mimetischen Nachahmungen eher die Kontemplation als
die Aktion vor. Sämtliche Texte sind so eng mit der
Musik verknüpft, daß sie in keinem Falle von dieser
getrennt werden können. Der aristotelische Naturnach-
0- Ml- NUS "di- xit ad nie : ahmungstopos, wie er bei E L I A S SALOMO [23] noch
erscheint («ars imitatur naturam, in quantum
potest» [24]), findet sich z.B in der Vorstellung des von
den Engeln geschaffenen Lobgesangs Gottes, aber auch
in der Äußerlichkeit z.B der proportio tripla (Dreizeitig-
keit des Tactus) in der mittelalterlichen Mehrstimmig-
keit, wodurch nicht nur ein musikalisches Ordnungsprin-
zip erscheint, sondern gleichzeitig die christliche Dreiei-
nigkeit zur Darstellung kommt. Diese hier begründete
melodische Führung bei Dominus und ego (hodie genui Tradition findet sich noch z.B. bei H. SCHÜTZ (1585-
te) identisch ist, so daß mit Hilfe der M. die grundlegende 1672, Konzert <Fürchte dich nicht, ich bin mit dir>, wo
christliche Glaubenslehre zur Darstellung kommt (wei- jeweils bei <ich bin mit dir> ein Wechsel vom geraden zum
tere Beispiele: Communio <Passer invenit sibi domum, et Dreiertakt erfolgt) bis hin zu J.S. B A C H (1685-1750) (z.B.
turtur nidum>[22] - der Flügelschlag der Taube wird im Gloria der h-Moll-Messe: <Gloria in excelsis Deo>
durch Aufschwünge von der Hauptnote nachgezeichnet steht im Dreier-Takt, der unmittelbar folgende Teil <et in
(Notenbeispiel 3); Responsorium <Plange, quasi virgo> - terra pax hominibus> im geraden Vierviertel-Takt, wobei
die proportio sesquiáltera - 3 zu 2 (das Zeitmaß von 3
Achteln dauert nur noch 2 Achtel) den Wechsel von
Comm. himmlischer und irdischer - göttlicher und menschlicher
I
- Sphäre verdeutlicht.). - Die musikalische M. war im
Asser · iuvé-nit si-bi üomura, et turtur ni duru, u-bi Mittelalter das Mittel, christlich-theologische Wesenhei-
ten einerseits durch naturwissenschaftliche Gegebenhei-
ten der Musik konkret nachvollziehbar zu spiegeln,
s · andererseits durch Nachahmung Inhaltliches augen-
rcp6- nat pul-los su- os: alti- ri-a lu-a Dòmi-ne scheinlich werden zu lassen.
3. Das Mimesisprinzip in der Renaissance und im Früh-
barock. a. Wandlungen im Verständnis von M. In der
Textstelle <ululate, pastores>; Alleluia: <Veni Domine>; Musik der Renaissance-Zeit - man könnte nach J O H A N -
Offertorium Jubilate Deo>; Communio <Fili, quid feri- NES TINCTORIS den stilistischen Wandel um 1430 anset-
sti); Antiphon <Domine, tu mihi> (Notenbeispiel 4) - Fuß- zen [25] und sie musikwissenschaftlich exakter 'franko-
flämische Musik' nennen - ist allgemein ein autonomeres
Verständnis des Mimesisbegriffs bzw. eine vom mittelal-
« W :
terlichen Gebrauch der M. unterscheidbare Auffassung
D Orni-ne, ' t u mi-hi la- vas pe- des? Respúndit
und Verwendung zu konstatieren. Einerseits ist es sicher-
lich die sich schon vorher ankündigende Instrumental-
* . H musik, aber dann ebenfalls die größere Eigenständigkeit
qCE gegenüber der kirchlichen Gebundenheit der Musik all-
[e-sus et di-xit e- i : Si non iáve-ro ti- bi pe- des, gemein, die in der Freiheit der neuen Musiksprache und
des selbstbewußteren Kompositionswillens neue musi-
kalische Ausdrucksweisen hervorbrachte. Hinweise auf
waschungszene am Gründonnerstag, die Stelle <lavas> eine mimetische Übernahme von außermusikalischen
(das Wasserschöpfen ist in der Bewegung nachgezeich- Ereignissen finden sich früh in der musikalischen Litera-
net); Communio zu Pfingsten <Factus est repente) Quinte tur, denkt man an Satzbezeichnungen wie caccia (Jagd)
hinauf und herunter.) im italienischen Trecento oder die Geschehen nach-
Der liturgische Gesang der lateinischen Kirche, der zeichnende battaglia (Schlacht, Kampf), die auch in der
gemeinhin als Gregorianischer Choral bezeichnet wird, Vokalmusik des 15. Jh. vorkommt. Darüberhinaus wer-
aus dem heraus die Musik des Abendlandes gewachsen den die Texte antiker Autoren gelesen und in zahlrei-
ist, verdankt Entstehung und Entwicklung seiner älte- chen Veröffentlichungen zu Gewährsleuten herangezo-
sten konstitutiven Elemente den kultischen Bedürfnis- gen. Der bereits erwähnte Tinctoris zitiert in seinem
sen einer rhetorischen bzw. deklamatorischen Erschlie- <Complexus effectuum musices> (vermutlich 1473/74)
ßung der Schriftlesungen, sowie dem Psalmen- und Hym- Piaton, Sokrates, Aristoteles und aus römischer Zeit u.a.
nen vortrag. Daher kann nicht verwundern, daß sich in Quintilian. [26]

1319 1320
Mimesis Mimesis

Die Darstellung außermusikalischer Ereignisse als 4. M. in der Diskussion der musikalischen Nachah-
eine Form der plakativen Mimetik wird frühzeitig kon- mungsästhetik seit Beginn des 17. Jh. Im gesamten 17. Jh.
trovers beurteilt, gar als «Nachäffung» aufgefaßt: ars sind grundlegende Erkenntnisse zur Mimesisbezogen-
simia naturae (die Kunst ist der Affe der Natur) erscheint heit, wie sie in der griechischen Antike gedacht wurden,
als Schlagwort. [27] Trotz dieser kunsttheoretischen Her- weiterhin lebendig. Das Diktum ή τέχνη μιμείται τήν
abwürdigung sind Kompositionen dieser Art äußerst φύσιν: Die Kunst stellt die Natur dar (Aristoteles) [32],
zahlreich und zeichnen sich häufig durch besonders behält seine Bedeutung, da Natur Vorbild und Urbild
hochstehende Könnerschaft aus. In der heutigen Litera- der Kunst, «die Kunst [...] Abbild und Nachbild der
tur werden solcher Werke dem Genre «Tonmalerei» Natur» ist. [33] Mattheson verweist in diesem Zusam-
zugeordnet, eine Bezeichnung, die den Umfang von M. menhang auf 7 Cembalo-Suiten (verlorengegangen) von
jedoch in keinem Falle erreicht, zum anderen den abwer- D. B U X T E H U D E (1637-1707), in denen «Natur und Eigen-
tenden Beigeschmack der minderen Qualität der Äußer- schafft der Planeten [...] artig abgebildet wurden». [34]
lichkeit bereits in der Konjunktion des aus beiden Kün- Musik als M. kosmischer Spiegelung findet sich als Kon-
sten neugebildeten Hilfsworts beinhaltet, der in der spä- strukt bei J. K E P L E R (1571-1630; <Harmonices mundi»,
teren ästhetischen Diskussion bis zur Gegenwart hin Linz 1630) [35], A. KIRCHER (1601-1680; <Musurgia uni-
virulent ist. Diesem Genre zugehörig sind zahlreiche versalis>, Rom 1650) [36] bis hin zu A. WERCKMEISTER
vier- und fünfstimmige Chansons von C L É M E N T J A N E - (1645-1706) [37], praktisch wohl auch noch in J.S. B A C H S
QUIN (um 1472-75, gest. um 1559/60), was sich in Titeln
(1685-1750) <Clavier-Übung> III, in der eine intendierte
Abbildung 1. der «himmlische(n), übernatürliche(n)
wie <Chant des oiseaux>, <La Guerre>, <La Chasse>,
[supranaturale(n)] Welt», 2. «[...] des Makrokosmos,
<L'alouette>, aber auch <Las povre coeur> (um 1528), <Le
also der außermenschliche(n) Natur mit der wiederum
rossignol) (1537) leicht ablesen läßt. Die vermeintliche höchsten Rangstufe der Gestirnwelt» und 3. des «Mikro-
Vordergründigkeit eines so gearteten Mimesisverständ- kosmos, d.h. der Welt des Menschen» [38] gesehen wird.
nisses erhält spätestens bei C. MONTEVERDI (1567-1643)
eine andere zusätzliche Bedeutungsebene, wenn er in Abgesehen von diesem Traditionsstrang bildet sich
einem Brief anführt; «Wie, lieber Herr, kann ich die jedoch im 17. Jh. ein neuartiges Mimesisverständnis her-
Sprache der Winde imitieren, wenn sie nicht sprechen?» aus, das nach Serauky (1929) als <Nachahmungsästhetik>
(Come, caro Signore, potr' io imitare il parlar de' venti, se schlagwortartig gekennzeichnet wird. Serauky betrach-
non parlano?) [28] In seinem <11 Combattimento di Tan- tet hier «die musikalische Nachahmung der Natur» unter
credi e Clorinda> (1624) werden äußere klangliche Gege- den Aspekten der «Nachahmung der menschlichen
benheiten wie Pferdegetrappel und Kampfeslärm einge- Affekte, der Sonorlaute aus beseelter wie unbeseelter
bunden in die Darstellung des inneren Geschehens der Natur, [...] der 'Inflexionen der Sprache'». [39] Bei dem
dramatischen Szene, so daß es bereits hier zu einem neuartigen Verständnis geht es im Grunde nicht mehr
Mimesisverständnis kommt, das später bei BEETHOVEN in um ein <Gedankenkonstrukt>, um Mimesistheorien, son-
der 6. Symphonie von ihm als «mehr Ausdruck der Emp- dern um konkretes Abbilden und Darstellen von außer-
findung als Malerey»beschrieben wird. Hierdurch ist ein musikalischen Begebenheiten, Phänomenen klanglicher,
Verständnis geschaffen, das für die spätere Opernent- bildlicher wie charakterlicher Erscheinungen, was wie-
wicklung von großer Bedeutung werden sollte, derum den Terminus <Tonmalerei> aufbringt. Eine späte
b) M. als musikalisch-rhetorische Figur. Μ. wird in der theoretische Grundlage wird durch C H . BATTEUX (1715—
Kompositionslehre des 17.-18. Jh. zur musikalisch-rheto- 1780) in seiner Schrift <Les Beaux Arts réduits à un
rischen Figur, worunter einerseits nach BURMEISTER même principe» [40] geschaffen, dessen Grundsatz sämt-
licher Kunstproduktion in der Forderung der imitation
(1606) eine Aufeinanderfolge zweier Noemata (Gedan-
der belle nature gipfelt. [41] Nach Sachs [42] formuliert
ken) verstanden wird - im polyphonen Satz die Hervor-
G O E T H E die gesamte Problematik dahingehend, daß Bat-
hebung eines textlichen Höhepunkts durch einen homo- teux «Apostel des halbwahren Evangeliums der Nachah-
phonen konsonanten Abschnitt (aus dem Noema abge- mung der Natur» sei, «das allen so willkommen ist, die
leitete Figuren: Analepsis, Anadiplosis, Anaploke) - , bloß ihren Sinnen vertrauen und dessen was dahinter
zum anderen die Figur der Hypotyposis (Abbildung, liegt sich nicht bewußt sind». [43]
Vorbild, Muster), die in der Nachfolge von L. Lossius'
<Erotemata> (1544) das «musikalische Abzeichnen» Beispiele für diese vermeintlich lediglich deskriptive
(Hypotyposis vel descriptio) dessen meint, «was hinter Nachahmungsästhetik reichen von J. J. W A L T H E R (1650-
dem Text verborgen ist». [29] Als Figur der musica poe- 1717), der in seinen <Scherzi da Violino solo> (1676) eine
tica bezeichnet die Hypotyposis das veranschaulichende Sonate <Imitatione del Cuccu> nennt, H . I. F. VON BIBER
Abbilden des Sinn- und Affektgehalts von Wörtern, (1644-1704), der seine nachahmende Inspiration in den
indem musikalische Figuren und sämtliche musikalische <15 Mysterien aus dem Leben Mariae> (ca. 1676) mit vor-
Mittel adäquat demTextinhalt geformt werden (Freude, angestellten Vignetten verdeutlicht, bis zu J. K U H N A U
Schmerz, Seufzen, Trauer, Wasser, Gewitter, Himmel- (1660-1722), der den Kampf zwischen David und Goli-
fahrt, Höllensturz, Pauken, Trompeten usw.). Nach ath in einer Cembalo-Komposition verbildlicht. J. J. FRO-
CHRISTOPH B E R N H A R D (1627-1692) soll «das freudige, BERGER (1616-1667) <malt> die Himmelfahrt der Seele
freudig, das traurige, traurig, das geschwinde, geschwind, des verstorbenen Ferdinand IV. mit einer <Jakobsleiter>
das langsame, langsam etc. machen». Zur Klasse der genannten Anabasis-Figur, bei den französischen Clave-
Hypotyposis-Figuren gehören als musikalische Verbild- cinisten wie F. COUPERIN (Le Grand, 1668-1733) erhalten
lichung weitere Formen wie Anabasis, Katabasis, Circu- Suiten-Sätze Überschriften, die z.B Namen von Gön-
lado, Tirata, Passus duriusculus, Suspiratio u.a. [30] nern, Freunden oder wie auch immer gearteten Zeitge-
In der Tradition Quintilians stehend bedeutet M. bei nossen sein können, wodurch ein musikalisches Portrait
einigen Theoretikern des 1 8 . Jh. wie SPIESS ( 1 7 4 5 ) und entsteht (in Couperins Kompositionen finden sich dar-
überhinaus sämtliche Arten einer verbildlichenden M.).
GOTTSCHED ( 1 7 5 0 ) «Nachahmung» mehr im Sinne von
In den Opern G. F R . H A N D E L S (1685-1759; z.B.
«Nachäffen», erhält also einen pejorativen Sinn [31], wie
<Rinaldo>, 1711, Arie <Augeletti che cantate, zefirelli che
es schon im 15. Jh. z.T. aufgefaßt wurde.

1321 1322
Mimesis Mimesis

spirate> [44]) werden Gefühle und äußere Gegebenhei- und Stoff bestimmt, wozu aber noch die Erweiterung hin-
ten wie Vogelstimmen u.ä. durch Melodik, Satzkunst, zutritt: Sie ist die Kunst, durch mannigfaltige Verbindun-
Tempo und musikalisch-rhetorische Figuren dargestellt, gen der Töne das Gefühl zu rühren, die Fantasie zu bele-
was zum selbstverständlichen Wesen dieser Gattung ben, und das Gemüth zu Ideen des Schönen und Erhabe-
schlechthin gehört. Einen besonders umfangreichen nen zu stimmen.» [58]
Katalog an Darstellungs-Möglichkeiten durch Musik Neben der allgemeinen gedanklichen Auseinanderset-
verwendet A. VIVALDI (1678-1741) in seinen sog. <Quat- zung mit der M. innerhalb der Nachahmungs- bzw.
tro staggioni», vier Violin-Konzerten, in denen Ereig- Gefühlsästhetik des 18. Jh. erkennt z.B. CHR. FR. D.
nisse der vier Jahreszeiten musikalisch 'berichtet' wer- SCHUBART (1739-1791) eine konkret musiktheoretische
den, aber auch in Konzerten, die Titel tragen wie <11 gar- Verknüpfung, indem er in der Sonatenform die mime-
dellino> [45], <La tempesta di mare> [46], <La notte> [47], tisch-klangliche Darstellung eines Gesprächs sieht: «Die
<11 ritiro [48] usw. Sonate ist mithin musikalische Conversation, oder Nach-
Das Moment der «Darstellung) ist in der Musik des 18. äffung des Menschengesprächs mit todten Instrumenten,
und 19. Jh. allgegenwärtig, sei es in Opern, Sinfonien wobei die Stimmen eben so viel Freunde (sind), die sich
( H A Y D N S Tageszeiten-Sinfonien [49] <11 terremoto>; letz- im traulichen Chore mit einander unterhalten.» [59]
ter Satz aus dem Oratorium <Die sieben letzten Ähnliche Gedanken finden sich später in A. REICHAS
Worte>[50], BEETHOVENS <Wellingtons Sieg oder die (1770-1836) Kompositionslehre (1833), in der er die
Schlacht bei Vittoria» [51]), in der Kammermusik (z.B. Melodie «eine Nacheinanderfolge von Tönen, [...] wie
F.J. FREYSTÄDTLER (1768-1841): <Die Belagerung Bel- das Gespräch eine Reihe von Worten» nennt. [60] Ein
grads, eine Historisch, Türkische Fantasie, oder Sonata zutiefst romantischer Geist spricht aus den Adaptionen
für das Clavier mit Begleitung einer Violino) bis hin zu und der Interpretation des Mimesisbegriffs des sächsi-
den Sinfonischen Dichtungen z.B. bei F. LISZT ( 1 8 1 1 — schen Komponisten, Freund Beethovens und später
1886), M . MUSSORGSKIS <Bilder einer Ausstellung» (1874) dann Musikkritikers und Mitarbeiters der Allgemeinen
für Klavier und den Sinfonien G . M A H L E R S (1860-1911) Musikalischen Zeitung» in Wien F. A. K A N N E . Im Unter-
oder sei es in den ästhetisch-theoretischen Untersuchun- schied zum Maler muß der Musiker durch Töne nicht nur
gen von C H R . G . K R A U S E (1719-1770), G . W E B E R (1779- Äußeres nachbilden, sondern durch sie die gesamte
1839), J.J. E N G E L (1741-1802), F R . L . S E I D E L (1765- menschliche Vorstellungskraft befriedigen, damit der
1831), F. A. K A N N E (1778-1833), A.B. M A R X (1795-1866) Hörer existenziell ergriffen wird: «Der Mahler wird [...]
u.a. bis hin zu den Versuchen einer Versprachlichung in Betrachtung der Natur und vorhandenen Körperwelt
(Hermeneutik= «Dolmetschkunst») von z.T. vermeint- sein Ideal suchen, der Musiker aber das seine aus einer
lich mimetischen Bezügen in der Instrumentalmusik bei weit geistigeren Anschauung erschaffen müssen, weil er
H. KRETZSCHMAR (1848-1924) [52] u.a. nichts körperliches vorhandenes vorfindet, wie jener,
Bei C H R . G. K R A U S E nimmt die M. als Nachahmung in durch dessen Nachahmung er seinem Bilde Gestalt
der Musik keine nur negative Stellung ein. Die «Schilde- geben könnte; sondern er muss auf dem entgegengesetz-
rung eines Sturms», «das Rieseln eines Baches», «das ten Wege zu Werke gehen, und wie der Mahler alles vor
Lispeln eines Zephyrs», aber auch «den Gesang einer seiner Seele verkörpert nach den Gesetzen des ihm
Nachtigall» [53] vermag Musik wie ein «Landschaftsma- gerade innewohnenden Schönheitsinnes - so muss er alle
ler» nachzuahmen, ein Bild, das Piaton bereits im <Kraty- Gestalt und Bewegung der Welt, die er anschaut, entkör-
los> benutzt. Musik vermag aber nach seiner Überzeu- pern, im Gemüthe auffassen, und in Tönen gleichsam
gung durch diese Nachahmungen, den Zuhörer zu rüh- vergeistern oder beseelen.» [61] Noch deutlicher spricht
ren («Die Schildereyen in Noten sind gar nicht das Kanne das Weiterbestehen von Nachahmungs- und
Hauptwerk der Tonkunst, und nur in so weit musikalisch, Empfindungsästhetik in seinem Aufsatz <Über die musi-
als sie zur Erregung eines Affects oder eines besonderen kalische Mahlerey» (1818) aus: der Musiker könne «sich
Wohlgefallens etwas beytragen.» [54]). Krauses Gedan- mit dem darzustellenden Gegenstande vermählen, und
ken basieren teils auf denjenigen von Batteux und sich darstellen, vor Furcht bebend, wie er den Wasserfall
Dubos, aber vor allem auch auf denen der englisch-schot- rauschen hört, und schnell die Maske vertauschen, und
tischen Philosophen Shaftesbury, J. Addison und A. den Wasserfall selbst mahlen in seinem Stürzen, Rau-
Smith, bei denen die Loslösung von der M. zugunsten schen und Donnern; denn derselbe ist freylich zu sehen
einer reinen Ausdrucksästhetik innerhalb einer neuarti- durch das Auge, aber auch zu hören durch das Ohr». [62]
gen Genieästhetik erstrebt wird. Bei D. W E B B (1718/ Zur Schilderung der formalen Gestaltung von Musik
19-1798), der in seinen Observations on the correspon- bezieht sich Kanne auf rhetorische Traditionen: «Wie in
dence between poetry and music> [55] die Wirkung der der rhetorischen Kunst, wo der Hauptsatz durch alle
Musik zwar innerhalb seiner «Bewegungstheorie» Künste der schönen Rede dargestellt, und durch Fragen
anders erklärt, aber die Bedeutung des mimetischen Ver- und Antworten, durch selbst erregte Zweifel und deren
mögens anerkennt («Die Musik hingegen wirkt auf eine natürliche Auflösung, durch Vergleichung und bildliche
zwiefache Art, als eine Kunst des Eindrucks sowohl, als Versinnlichung, durch Anhäufung der Gründe, durch
der Nachahmung»), findet sich ein Beispiel für eine spe- Steigerung des Feuers bis zur höchsten Klarheit und zur
zielle Aufführung, die z. T. auf A. Gerards zurückzuge- evidentesten Kraft geführt wird, bis der Redner plötzlich
hen scheint. [56] C H R . F. MICHAELIS (1770-1834) lehnt die innehält, und durch dieses Stratagem seine Zuhörer
reine Nachahmung des Außermusikalischen in der gleichsam elektrisirt, und nach dem daraus gewonnenen
Musik ab («Was für eine armselige Kunst würde sie seyn, Vortheile der in allen Zuhörern erregten höchsten Auf-
wenn sie nichts wäre, als eine Wiederholung der Töne, merksamkeit - nun wieder ruhig seine Schlussfolge
welche die leblose oder lebendige Welt ohne alle Kunst- macht, welche die Wahrheit in höchster Schönheit ver-
regeln hören läßt!» [57]), definiert aber die Musik als eine klärt darstellt - eben so verfährt der Tonkünstler in sei-
mimetische Kunst an sich: «Sie [die Musik, Verf.] besteht nem Satze und bringt sein Thema in immer neuer
in modificirter Darstellung der hörbaren Natur, dem Gestalt, und immer glänzender Farbenmischung der har-
Gesetz der vereinigten Mannigfaltigkeit gemäß in Form monischen Kunst zum Vorschein, bis es sich nach zusam-

1323 1324
Mimesis Mimesis

mengedrängter Recapitulation in seiner interessantesten tisch-philosophischen Theorie, wofür z.B. die <Wider-
Verbindung, und in höchster Wahrheit und Schönheit spiegelungstheorie» von G. Lukács [70] Zeugnis ablegen
der Seele des Zuhörers eingeprägt, und mit derselben mag.
verschmolzen hat.». [63] Die tiefere Bedeutung der
Nachahmung außermusikalischer Klanggegebenheiten Anmerkungen:
stellt A.B. MARX heraus [64], wenn er darlegt, daß eine lvgl. K.-J. Sachs: Art. <Imitation>, Sachteil, in: MGG 2 Bd. 4,
Theatermaschine zwar Sturm und Donner nachahmen Sp.511-526. - 2vgl. Art. <M.>, in: W. Gurlitt (Hg.): Riemann
kann, was aber nur ein «todtes Geräusch» darstellt, Musik Lex. (121967) 573. - 3vgl. J.G. Walther: Musicalisches
Lex. oder musicalische Bibliothec (1732) 406; zur Bedeutungs-
«während das Orchester die Vorstellung des Künstlers trad. dieser Auffassung s. II, 4. - 4vgl. R. Kasel: Art. <M.>, in:
von ihrem Leben in lebendigem Abbilde giebt». [65] Der LAW Sp. 1961; ferner Sachs [1] Sp. 511. - 5 vgl. H. Koller: Die M.
bremische Hauptschullehrer W. CHR. M Ü L L E R ( 1 7 5 2 - in der Antike. Nachahmung, Darstellung, Ausdruck (Bern
1831) sieht den Sinn von Naturlautnachahmungen durch 1954), zit. Sachs [1] Sp. 511.-6 auf erhobene Kritik einer solchen
Musik auch darin, daß sich der Ungebildete daran Herleitung und Übersetzung durch G.E. Else 1958 und G. Sör-
erfreuen kann, während der Denkende in ihnen «Ideen bom 1966 macht Sachs [1] Sp.511 aufmerksam. - 7vgl. Piaton,
und Stoff zu Ideen» sieht. [ 6 6 ] Bei W . A . AMBROS ( 1 8 1 6 - Kratylos 423b, übers, von F. Schleiermacher. - 8 ebd. 423e. -
1876) wird Instrumentalmusik in manchen Fällen als 9ebd. - 10vgl. Sachs [1] Sp.512. - llAristeides Quintiiianus:
Περί μουσικής II, 18, in: R. Schäfke (Hg.): Aristeides Quintilia-
Mimesis psychologischer Prozesse gedeutet und an Bei- nus. Von der Musik (1937); vgl. auch R. Schäfke: Gesch. der
spielen vornehmlich von Beethoven [67] und Schumann Musikästhetik in Umrissen (1934) 302f. - 12 vgl. Sachs [1]
erläutert. [68] Sp. 512. - 1 3 vgl. H. Blumenberg: <Nachahmung der Natur». Zur
Mit der verbalen Deutbarkeit von absoluter Musik, die Vorgesch. der Idee des schöpferischen Menschen, in: Studium
generale 10 (1957) 266-283, hier 266. - 1 4 vgl. Sachs [1] Sp. 512. -
er eine «redende Kunst» nennt («die Laien reden von 15 vgl. G. Pochat: Gesch. der Ästhetik und Kunsttheorie von der
Tondichtungen, von Tonsprache» [69]) beschäftigte sich Antike bis zum 19. Jh. (1986) 100, zit. Sachs [1] Sp.514. -16vgl.
H. KRETZSCHMAR, der große Hermeneutiker der Musik R. Assunto: Die Theorie des Schönen im MA (1963; 21987) 40. -
und Mitbegründer der universitären Musikwissenschaft, 17vgl. H. Hüschen: Art. <Isidor von Sevilla», in: MGG Bd. 6,
zu Beginn des 20. Jh. In Werken wie seinem <Führer Sp. 1436. - 18 vgl. Assunto [16] 93, nach Guido von Arezzo,
durch den Konzertsaab (1887-90) versucht er auf diese Otloh von St. Emmeran und Absalon von Springiersbach. -
Weise, Musik bildhaft und verständlich zu machen. 19zit. Sachs [1] Sp.514. - 20Graduale romanum sacrosanctae
Romanae Ecclesiae de tempore et de Sanctis (Paris/Tournai/
Das mimetische Darstellen durch Musik wird allge- Rom 1938) 416. - 21ebd. 27. - 22ebd. 126. - 23vgl. E. Salomo:
mein als Mittel angesehen, Außermusikalisches durch Scientia artis musicae (1274), in: M. Gerbert (Hg.): Scriptores
Klang zu verdeutlichen, wobei nicht nur das musikalische ecclesiastici de musica sacra, 3 Bde. (St. Blasien 1784; ND Graz
Nachgestalten als vordergründiges Klangereignis be- 1905 u. Mailand 1931) Bd.3, 35a-b, zit. nach Sachs [1] Sp.514. -
deutsam ist, sondern auch die Tatsache, daß absolute 24ebd. - 25 vgl. H.H. Eggebrecht: Musik im Abendland (1991)
Musik 'verstanden' werden kann und durch sie Empfin- 277. - 26 vgl. J. Tinctoris: Complexus effectuum musices (1476)
dungen erregt werden können. Neuausg. hg. v. A. Seay, in: Corpus scriptorum de musica, Bd. 22
(1975) 161-177, hier: 165/168. -27zit. nach Sachs [1] Sp.514, der
5. Das Mimesisverständnis in der Neuen Musik. Zu sich auf H.W. Janson: Apes and Ape Lore in the Middle Ages
Beginn des 20. Jh. findet sich ein intensives Eingehen auf and the Renaissance (London 1952) 287-325 bezieht. - 28 vgl. C.
die mimetische Ästhetik vor allem in impressionistischen Monteverdi: Lettere, a cura di V. Lax, in: Studi e testi per la sto-
Kompositionen, z.B. C L . DEBUSSYS <Prélude à l'après- ria della musica, Bd. 10 (Florenz 1994) 19. -29vgl. Art. <Hypoty-
midi d'un faune> (1895), <La mer> (1905), <Childrens Cor- posis», in: Riemann [2] 386. - 30 vgl. D. Bartel: Hb. der musikali-
ner) (1906-08) und in zahlreichen anderen Klavierkom- schen Figurenlehre (1985) 210,196; umfassend: H. Krones: Art.
positionen; M. RAVELS ( 1 8 7 5 - 1 9 3 7 ) <Jeux d'eaux» ( 1 9 0 2 ) , «Musik und Rhet.>, in: MGG 2 , Bd. 6, Sp. 814-852. - 3 1 vgl. Bartel
<Oiseau tristo aus <Miroir> ( 1 9 0 6 ) ; A . WEBERNS ( 1 8 8 3 - [30] 213.-32 Aristoteles, Physik II 2,194; vgl. R. Dammann: Der
1945) <Im Sommerwind» (1904). Die Darstellung von all- Musikbegriff im dt. Barock (1967) 412, Anm.54. - 33 vgl. Dam-
mann [32] ebd. - 34ebd. 412; J. Mattheson: Der vollkommene
täglich in der Umwelt wahrzunehmenden Klängen und Kapellmeister (1739) Faks. hg. v. M. Reimann (1954) 130, § 73. -
Geräuschen (D. M I L H A U D ( 1 8 9 2 - 1 9 7 4 ) : <Les machines 35 vgl. Dammann [32] 405. -36ebd. 406ff. - 3 7 ebd. 405. -38ebd.
agricoles>, 1 9 1 9 ; A . HONEGGER ( 1 8 9 2 - 1 9 4 5 ) : <Pacific 231> 410f. - 39vgl. Sachs [1] Sp.518; W. Serauky: Die musikalische
( 1 9 2 3 ) , A . MOSSOLOW ( 1 9 0 0 - 1 9 7 3 ) : <Die Fabrik (Eisen- Nachahmungsästhetik im Zeitraum von 1700 bis 1850 (1929)
gießerei)» 1 9 2 6 , D. SCHOSTAKOWITSCH ( 1 9 0 6 - 1 9 7 5 ) : <14. XIII; Kritik durch Sachs [1] Sp.518. - 40vgl. Ch. Batteux: Les
Sinfonie» (1969) u.a.) wird als konstitutives Moment in beaux arts réduits à und seul principe (Paris 1746), dt. Übers,
das Komponieren aufgenommen. Die Vogelstimmen- von J. A. Schlegel unter dem Titel: <Batteux' Einschränkung der
Kompositionen O. MESSIAENS ( 1 9 0 8 - 1 9 9 2 , betitelt: schönen Künste auf einen einzigen Grundsatz» (1759). - 41 ders.
<Oiseaux exotiques», 1952; <Catalogue d'oiseaux», 1956- zit. Sachs [1] Sp.518. - 42ebd. Sp.518. - 43Goethe: Anm. zu
Rameaus Neffe, in: Sämtliche Werke nach Epochen seines
58; <Chants d'oiseaux», 1951) stellen nach tiefgläubigem Schaffens (Münchner Ausg.) Bd.7 (1991) 658. -44G.F. Händel:
christlichen Verständnis des Komponisten das Wunder Werke, Bd. 58, hg. v. F. Chrysander (1874) 31; eine Battaglia
der göttlichen Schöpfung dar, eine Haltung, die sicher- ebd. 109ff. - 45 vgl. P. Ryom: Verz. der Werke A. Vivaldis (1974)
lich durch die gesamte Musikgeschichte ähnliche Bedeu- 428. - 46ebd. 433. - 47ebd. 439. - 48ebd. 294. - 49vgl. A.v.
tung hatte. Eine Ausweitung ins Darstellerische erhält Hoboken: J. Haydn: thematisch-bibliogr. Werkverz. (1957
der Mimesisbegriff im Werk K.H. STOCKHAUSENS, wenn 1978) 6,7, 8. - 50ebd. XX, 2. - 51L. van Beethoven: op.91, vgl.
in instrumentalen Kompositionen zum klanglichen Vor- G. Weber: Über Tonmalerei, in: Cäcilia, eine Zs. für die musika-
trag der Ausübende tänzerische Gestik und Mimik aus- lische Welt, 3. Bd. (1825) 125-172, hier 156ff. - 52ebd. 168. -
führen muß (z.B. <Harlekin> 1975), ein Mimesisverständ- 53 vgl. Chr. G. Krause: Von der musikalischen Poesie (1752) 53.
- 54ebd. 54. - 55 vgl. D. Webb: Observations on the correspon-
nis, wie es oben für die griechische Antike erläutert dence between poetry and music (London 1769, dt.: J.J. Eschen-
wurde, aber auch schon in den Balletten I. STRAWINSKIS burg, 1771). - 56ebd. 22 u. 93; vgl. dazu auch: Ν. de Palézieux:
(1882-1971) im Zusammenwirken von Musik, Tanz und Die Lehre vom Ausdruck in der engl. Musikästhetik des 18. Jh.
Bühnenbild als gesamt-mimetisches Unternehmen kon- (1981) 17,19.- 57vgl. Chr.F. Michaelis: Über das Idealische der
zipiert erscheint. Wie in der musikalischen Praxis das Tonkunst, in: Allg. Musikalische Ztg. (1808) Sp. 449-452, hier:
mimetische Moment weiterbesteht, so auch in der ästhe- 449; C. Dahlhaus: Klass. und romantische Musikästhetik (1988)

1325 1326
Mimik Mimik

17. - 58 vgl. Chr. F. Michaelis: Über den Geist der Tonkunst kation>. [1] Deren Umfang <von Kopf bis Fuß> bzw. noch
(1800) 39. - 59 vgl. Chr. F. D. Schubart: Ideen zu einer Ästhetik darüber hinaus (Kleidung, Duft, u.a.) spezifiziert er
der Tonkunst (Wien 1806) 360. - 60zit. J. Buzga: Art. <J. Rei- durch präzise Lokalisation: <M.> umfaßt nämlich in ganz-
cha>, in: MGG, Bd. 11, Sp. 149. - 6 1 vgl. F.A. Kanne:: Der Zau- heitlicher Sichtweise die (festen) Teile und die (bewegli-
ber der Tonkunst, in: Allg. Musikalische Ztg. 34 (1821)
Sp.264ff., hier: Sp.265. - 62 ebd. Sp.385. - 63 ebd. Sp.282; Kro- chen) Organe des menschlichen (und, analog dazu
nes [30] Sp. 843. - 64 vgl. A.B. Marx: Ueber Malerei in der Ton- gemeint, des tierischen) Kopfes, die durch direktes
kunst (1828).-65 ebd. 6 3 . - 6 6 W . Chr. Müller: Aesthetisch-hist. Ansehen des Gegenüber im Blick sind (d.h. also das
Einl. in die Wiss. der Tonkunst (1830) 328. - 67W.A. Ambros: Ensemble des Vorderkopfes, das Gesicht): (1) Stirn, (2)
Quartett op.18,6 letzter Satz: Malinconia. - 68 vgl. ders.: Die Augenbrauen, (3) Augen (mit der zentralen Funktion der
Grenzen der Musik und Poesie (1872) 132f. - 69vgl. H. Kretz- Blickkommunikation; s.u. Β. IV. 4.), (4) Nase, (5) Wan-
schmar: Anregungen zur Förderung musikalischer Hermeneu- gen, (6) Mund und (7) Unterkiefer (Kinn) sind im Gesicht
tik, Jahrbuch Peters (1902) 172. - 70 vgl. Sachs [1] Sp.518; A.
Riethmüller: Die Musik als Abbild der Realität. Zur dialekti- die Orte mimischen Ausdrucksrepertoires [2], deren
schen Widerspiegelungstheorie in der Ästhetik, in: Beih. zum Rahmenbedingung für eine ganzheitliche Beurteilung
Archiv für Musikwiss. 15 (1976). mimischen Verhaltens die (8) Kopfhaltung ist, wie ent-
sprechende Experimente in den frühen achtziger Jahren
Literaturhinweise: mit sukzessiven Kippungen des Kopfes von Gemäldefi-
J.J. Walther: Scherzi da Violino solo (1676), Neuausg. in: Das guren bei gleichbleibender Miene erwiesen haben. Die
Erbe dt. Musik, Bd. 17 (1941) 57. - J. Kuhnau: Musicalische Vor- seitliche Kippbewegung des Kopfes war schon seit
stellung einiger Biblischer Historien in 6 Sonaten auff dem Kla- Anfang der siebziger Jahre Gegenstand gezielten For-
viere zu spielen (1700, 2 1710; ND 1973). - F. Kanne: Über die
musikalische Mahlerey, in: Allg. Musikalische Ztg. 2 (1818)
schungsinteresses in Frankreich (Besançon) und in der
Sp. 385. - H. Kretzschmar: Führer durch den Konzertsaal, 3 Bde. Schweiz (Bern): deren Signalkraft reicht als Eindrucks-
(1887-90). - J.J. Froberger: Lamento sopra la dolorosa perdita qualität für den Partner von <überheblich> zu f r e u n d -
della Real Maiestà di Ferdinando IV .... in: G. Adler (Hg.): lich), von <empfindsam> bis zu <kalt>. Die Experimente an
Denkmäler der Tonkunst in Österreich 6, 2 (Wien 1899; ND Frauenfiguren in der Malerei, deren Kopfhaltung syste-
Graz 1959) 32-33. - J. Müller-Blattau: Die Kompositionslehre matisch variiert wurde, lassen bei gleichbleibender M.
H. Schützens in der Fassung seines Schülers Chr. Bernhard z.B. dieselbe Maria aus einer Verkündigungsszene
2
(1926, 1963). - W. Flemming: Der Wandel des dt. Naturgefühls
vom 15. zum 18. Jh. (1931). - H. Unverricht: Hörbare Vorbilder
«demütig, ehrlich, folgsam und nachgiebig» erscheinen,
in der Instrumentalmusik bis 1750. Unters, zur Vorgesch. der mit demselben, nun aber leicht gehobenen Kopf dagegen
Programmusik (Phil. Diss. 1954, mschr.). - M. Ruhnke: J. Bur- «hochmütig, stolz, kritisch und abweisend». So gründet -
meister. Ein Beitr. zur Musiklehre um 1600 (Kassel/Basel 1955). als ein Ergebnis solcher Kippungsexperimente - das als
- G. Else: <Imitation> in the Fifth Century, in: Classical Philology rätselhaft empfundene Lächeln der Mona Lisa in ihrer
53 (1958) 73-90. - H. Koller: Musik und Dichtung im alten Grie- Kopfhaltung (ein Erklärungsangebot an die Kunstwis-
chenland (Bern 1963). - G. Sörbom: M. and Art. Studies in the senschaft). Im übrigen gibt es hierzu noch durchaus auf-
Origin and Early Development of an Aesthetic Vocabulary fällige Differenzierungen je nach dem Geschlecht der
(Uppsala 1966). - H. Kretzschmar: Ges. Aufsätze der Musikbi- betrachtenden und die Eindrucksqualität entscheiden-
bliothek Peters, hg. v. K. Heller (1973). - H. Koller: Art. <M.>, in:
HWPh Bd. 5 (1980) Sp. 1396-1399. - F. Reckow: Zwischen
den Person (s. u. Β. V. 1. b). [3]
Ontologie und Rhet.: die Idee des movere ánimos und der Über- Die festen Teile, die durch die Formen der Schädel-
gang vom Spätma. zur frühen Neuzeit in der Musikgesch., in: W. knochen vorgegeben sind (wie Stirnverlauf, Augen[höh-
Haug, B. Wachinger (Hg.): Traditionswandel und Traditions- len]abstand, Nasenhöcker, Wangenknochen, Kinn), bie-
verhalten (1991) 145-178. - M. Kardaun: Der Mimesisbegriff in ten den Rahmen (oder die <Bühne>) für das sog. Mienen-
der Antike: Neubetrachtungen eines umstrittenen Begriffes als spiel, die Miene, d.h. für die Ausdrucksbewegungen, die
Ansatz zu einer neuen Interpretation der platonischen Kunst- von den beweglichen, weichen Teilen und Organen des
auffassung (Amsterdam 1993).
Gesichts ausgeführt werden. Diese sind als manifeste
D. Guthknecht
Regungen abhängig von situativen Gegebenheiten, auf
Ästhetik —> Fiktion —» Idee —> Imitatio —» Klangrede -» Laut- die spontan reagiert wird und wodurch sich - kaum wil-
malerei -> Manierismus —> Personifikation —> Poetik —> Reprä- lentlich gesteuert - die aktuelle Befindlichkeit des Men-
sentation -> Rhetorik —> Similitudo -»Wahrheit, Wahrschein- schen kundtut; sie sind aber auch, ebenfalls wieder situa-
lichkeit tionsbezogen, bewußt und kontrolliert einsetzbar, als
intendierte Ausdrucksbewegungen, um auf den Partner,
Mimik (lat. vultus; engl, facial expression; frz. mimique; der diese M. sieht, Eindruck zu machen und auf dessen
ital. mimica) reaktives Handeln einzuwirken (beide Vorkommens-
Α. Begriffliche Klärungen. - I. Lokalisierungen von M. - II. weisen können sich in primären Kommunikationssitua-
Begriffsgesch. - III. Begriffliche Dimensionen. - IV. Funktio- tionen zeigen, können aber auch in sekundären [abgelei-
nale Gesichtsbereiche. - V. M. als Teil des kommunikativen teten, dargestellten] auftreten, wie sie schauspielerisch,
Körpers. - B.I. Affine Disziplinen. - 1 . Physiognomik. - 2. Phre- als Imitation, somit gelernt, auf der Theaterbühne ablau-
nologie. - 3. Pathognomik. - 4. Pantomimik. - II. Kulturgesch. fen). Im Englischen wird diese Ambivalenz aufgelöst
der Μ. - 1 . M. in der Gesch. der Bildenden Kunst. - 2. M. in der durch terminologische Trennung: <M.> in primären Kom-
lit. Gattungstrad. - 3. M. und Maske. - 4. Römische Ganzheit- munikationssituationen ist facial expression (to express
lichkeit. - III. Rhet. Systematik und Praxis. - 1 . Pronuntiatio. - 2 .
Wirkungsnormen. - 3. Die M. in der Affektenlehre. - IV. Die M. s.th. facially), in s e k u n d ä r e n mimicry ( A d j . mimic). [4]
in den Wiss. - 1. Inhalte, Disziplinen, Methoden. - 2. M. und Die biologisch konstanten Gegebenheiten (Vorder-
Emotionen. - 3. Analyseinstrumentarien und -methoden. - 4. schädel mit Stirnverlauf, Augenhöhlen, Nasenbein,
Blickkommunikation. - V. Enkodierung und Dekodierung als Wangenknochen, Kinn) und das situationsabhängig fle-
Kulturpraxis. - 1 . Intrakulturelle Normen und Interpretationen. xible, dynamisch ablaufende Gesichtsverhalten (mus-
- 2. Interkulturelle mimische Verhaltensweisen. kelngesteuertes Mienenspiel, kommunikatives Gesicht)
A . Begriffliche Klärungen. I. Lokalisierungen von M. gehören also bei <M.> begrifflich zusammen und werden
Der Begriff <M.> gehört in den komplexen Zusammen- auch als <Gesichtsausdruck> gefaßt. [5] Dennoch liegt der
hang von <Körpersprache> bzw. <Nonverbaler Kommuni- Primat der Eindrucksqualitäten klar bei den Prozessen

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Mimik Mimik

im Gesicht, bei den Regungen der Gesichtssegmente, eigen, die (1) dazu verhilft, von sich und seiner aktuellen
wie sie sich als Muskelbewegungen (z.B. in der Mund- Disposition etwas kundzutun (z.B. Stimmungslagen,
partie: Verziehen, Spannen, Spitzen, Öffnen, u.a., stark Angst, Zärtlichkeit), oder/und die (2) dazu eingesetzt
verbunden mit der Wangenmuskulatur) und als verän- wird, etwas zu erreichen - und zwar meist: eine Reaktion
derliche Hautfaltungen (wie auf der Stirn, stark verbun- des Gegenüber anzuregen; somit ergibt sich zwangsläu-
den mit den Bewegungen der Augenbrauen) nach außen fig:
zeigen. (c) die Partnergerichtetheit: (1) Signal an den Gegen-
II. Begriffsgeschichte. <Gesicht> (Körperteil) und <M.> über, er soll den wahrgenommenen Gesichtsausdruck
(<Miene[n]>, <Gesichtsausdruck>, kommunikatives Ge- verstehen, d.h. dazu die Leistung des Ersehens, der Inter-
sicht>) sind durch eine komplexe Begriffsgeschichte pretation des gesehenen Gesichts erbringen; und er soll
geprägt, die im Lateinischen mit einem differenzierten darauf reagieren und dies möglichst entsprechend den
Wortfeld einsetzt [6]: (1) facies (Aussehen, Äußeres, Intentionen des anderen. Es ist dabei eine fundamentale
Anblick, Angesicht), das meistverbreitete Wort, stammt, Erfahrung, daß man selbst seine eigene M. gar nicht
etymologisch nicht sicher geklärt, von facere (machen, wahrnehmen kann, weil das Gesicht zu den wenigen Kör-
verfertigen, herstellen, schaffen, bewirken) oder von der perteilen gehört, die der Mensch ohne Hilfsmittel an sich
Wurzel fa (erscheinen) ab; auf dieser semantischen selbst nicht sieht; die eigene Ausdruckskraft und deren
Ambivalenz fußt die Tradition physiognomischer Inter- Kontrolle (und Schulung) sowie die Wirkung des
pretationsbemühungen; im Frz. la face bis zum 17. Jh., in mimisch aktiven eigenen Gesichts mißt sich somit an der
dem dann le visage eingeführt wird und so den Gesichts- (körperlichen sowie sprachlich-begrifflichen [Typ: <mach
sinn favorisiert. - (2) vultus (Gesichtsausdruck, Gesichts- nicht so ein ernstes/erstauntes/dummes Gesicht>]) Reak-
züge, Miene, Blick), das in der klassischen Zeit und in der tion des Partners, was mit zunehmendem Alter einen
rhetorischen Analyse, insbesondere im Bereich der pro- kontinuierlichen Erfahrungsprozeß aufbaut, der seiner-
nuntiatio (Vortragsweise), Verwendung findet (s.u. B. seits gesellschaftsgebunden und somit kulturspezifisch
III. 1.), bot sich wohl über seine Herkunft aus velie (wol- ist.
len, wünschen) mit der intentionalen Semantik dafür an. Es verwundert somit nicht, daß (2) die Spiegelung - das
- (3) visio, visus (Sehen, Ansehen, Anblick, Blick, Spiegelbild (Wasser) und der Spiegel (als kulturelle
Erscheinung) lenkt das Verstehen dagegen über videre Artefakte, beginnend mit Metall [7] und Glas) - ein zen-
(sehen) auf den Gesichtssinn, der auch im Deutschen trales Motiv der Mythen und des Volksaberglaubens
dominant ist, dabei auch die Miene (vultus ) mit einbe- (z.B. zerbrochener Spiegel als Omen für siebenjähriges
zieht (vgl. «ein saures/langes Gesicht machen»). - (4) os Unglück), der Kunst [8], der Psychologie (Narzißmus),
(Gen. oris) (Antlitz, Gesicht, Mund; metonym. Mund- der Theologie und moralisierenden Gesellschaftslehre
werk, Aussprache) ist eher organisch ausgerichtet und {speculum mundi oder vitae; vanitas [Eitelkeit]), der Phi-
bestimmt den Teil für das Ganze. losophie und der Literatur (poetisches Motiv [9] mit Wei-
Die Idiomatiken und die Sprichwörter oder Redensar- terentwicklungen wie <Doppelgänger> oder <Fenster>)
ten der Einzelsprachen mit <Gesicht> (Ort der M.) und darstellt; der Blick in den Spiegel gilt seit Jahrhunderten
mit <Miene> (als dem Mittel des Gesichts zur M.) sind als eine Metapher für Bewußtwerdung über das eigene
reich und nuancieren die M. der erlebten und mitgeteil- Ich, für Identitätsfindung und Ich-Projektionen.
ten Welt unter pragmatischen, funktionalen - nicht unter (d) Der Partnerbezug - s. o. (c) - spielt sich in dialogi-
analytischen - Aspekten: «sein wahres G. zeigen», «jdm. schen Situationen ab, in denen (1) das Mienenspiel, die
nicht ins G. blicken können», «den Tatsachen ins G. M., wahrgenommen werden kann; (2) dort hat sie eine
sehen», «zu G. stehen», «im G. geschrieben stehen», sprachersetzende (d.h. als praktisch allein verwendetes
«sein G. verlieren», «Miene machen, etw. zu tun», «gute Kommunikationsmittel gegenüber der Verbalsprache
Miene zu bösem Spiel machen» und viele weitere, auch in überwertige) oder eine sprachbegleitende (d.h. in Bezug
den Fremdsprachen. auf die Verbalsprache gleichwertige) Funktion inne; (3)
ΠΙ. Begriffliche Dimensionen. Das dominante Merk- sie erfüllt mit diesen Funktionen verhaltens(mit)steu-
mal der Lokalisation im Gesicht, d.h. auf der Vorderseite ernde Aufgaben.
der Schädeloberfläche, wird noch durch komplementäre (e) Die Medialität, in der diese Austauschprozesse
Aspekte ergänzt, die im Begriff <M.> grundsätzlich mit- ablaufen, ist die Mündlichkeit; die Schriftlichkeit ist kein
schwingen: genuines Medium der Körpersprache (dorthin gehört,
(a) die Momentgebundenheit, zu der das Erlebte analog zur Körpersprache, das Bild bzw. die Abbildung,
(Gehörte, Gesehene, Empfundene), auch dessen psychi- Skizze, Zeichnung, das Diagramm). Dennoch findet
sche Verarbeitung, gehören; Körpersprache, und hier vorzugsweise die M., die
(b) die Kommunikativität: man will - körpersprach- beschreibende Beachtung von Schriftstellern (z.B.
lich, hier: gesichtskommunikativ - etwas zum Ausdruck außerordentlich reichhaltig im Realismus / Naturalismus
bringen oder seinen Mitteilungswunsch körperlich des 19. Jh.; dies gilt auch für die Trivialliteratur (Liebes-
unterstützen; Abläufe im Gesicht, die organischen Be- romane, Kriminalromane) [10] und Reportagen (z.B. in
dingtheiten unterliegen (z.B. Bewegungen der Wangen- Zeitungsberichten zum körperlichen Verhalten von
muskeln beim Kauen) oder durch Reflexe entstehen Schwerverbrechern bei spektakulären Gerichtsverhand-
(z.B. bei Lichteinfall Augenlider zusammenkneifen und lungen), die auf diese Weise Leserreaktionen steuern.
Abschatten durch Aufwulsten der Augenbrauen nahe IV. Funktionale Gesichtsbereiche. Die körpersprach-
der Nasenwurzel) sowie konstante Beobachtbarkeiten lich wichtigen Teile (fest) und Organe (weich, flexibel),
wie Sommersprossen, starke Altersfaltung der Haut, die die kommunikativen Bereiche des Gesichts, den Ort
Aknepickel, Hohlwangen u.a. sind von sich aus nicht der M., des Mienenspiels, bestimmen, lassen sich taxono-
kommunikativ (sie können aber natürlich als Kommuni- misch aufzählen (s.o. A.I.) und funktional kurz charakte-
kationsanlässe, z.B. für medizinische Diagnosen, für den risieren [11]:
Gegenüber dienen) und gehören deshalb nicht zur M.; (a) Die Stirn hat sich in der Evolution durch die starke
vielmehr ist der M. eine dynamische Ausdruckspotenz Vergrößerung des Hirns gegenüber dem Volumen bei

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Mimik Mimik

den Menschenaffen herausgebildet und wirkt als kom- ( e ) Die Wangen, der weichste Teil des Gesichts, brin-
munikative Fläche in Verein mit der Behaarung des gen die Gesichtsfarbe als kommunikative Qualität in die
Kopfes (Flächenwirkung) sowie dem Aussehen und der M. ein: Erröten und Erbleichen werden speziell in dieser
Dynamik der Region wahrgenommen und entsprechend interpretiert
(b) Augenbrauen (medizinisch Supercilia). Deren (1) (Schamhaftigkeit, Zorn, Entsetzen u.a.). Die Glattheit
Senken - in aggressiven wie auch in defensiven Situatio- oder Zerfurchung sind wichtige Determinanten, ebenso
nen - hat physiologische Konsequenzen für die Stirn Grübchen beim Lächeln oder Lachen, wenn die M. eines
(Furchenbildung) und für die Eindrucksqualität der Menschen als Anzeichen für Gefühlszustände bewertet
Augenpartie (Verengung). Deren (2) Anheben wirkt sich wird.
ebenfalls, aber in anderer Erscheinungsweise und somit ( f ) Der Mund wirkt zusammen mit den Zahnreihen,
anderer Signalkraft, auf Furchenbildung der Stirn und der Zunge, dem gelegentlich sichtbaren Rachenraum
Augenöffnung aus. (3) Sie sind körperkommunikative sowie den Lippen (die sich unter den Primaten allein
Geschlechtssignale (weibliche Augenbrauen sind deut- beim Menschen nach außen gekehrt haben) als ein neben
lich weniger buschig; bei Männern wirken starke Augen- den Augen dominanter Gestalter der M. Spannung und
brauen maskulin und attraktiv) und als solche kulturspe- Entspanntheit, Freude oder Ärger (charakteristische
zifischen Wertungen und Behandlungen (Zeitgeist, Mundlinien des Smiley-Piktogramms), Lächeln und
Mode, Bräuche, Schönheitsideale u.a.) unterworfen. Lachen, Aggressivität und Libido sowie das die Aggres-
(c) Die Augen, die die eigene Orientierung im Lebens- sion des Partners hemmende Schmollen [12] werden hier
umfeld ermöglichen, begleiten oder steuern auch die mimisch signalisiert, wobei die Wangen mit einbezogen
Kommunikation als außerordentlich ausdrucksvolle und sind (Hautfalten durch Verändern der Mundwinkel).
für die Partnerbindung zentrale Organe, (s.u. Β. IV. 4.). Die Kulturen haben zum Teil divergierende eigene Prä-
(1) Hier spielt das Weiß beidseitig der farbigen Iris sentationsformen und Interpretationsweisen entwickelt.
(Regenbogenhaut) im menschlichen Auge ( A f f e n z.B. Die Evolutionsbiologie und die Vergleichende Etholo-
zeigen dort Braun) eine wichtige Rolle bei der Orien- gie (hier insbesondere: Verhalten von Menschen und von
tierung: an dessen Stellung bestimmt nämlich der Schimpansen als deren engste Verwandten) haben vier
Gesprächspartner die Blickrichtung (und somit die Auf- mimische Gegensatzpaare herauskristallisiert, über die,
merksamkeit) seines Gegenüber. (2) Auch die Größe der wie auch Beobachtungen bei Blindgeborenen beweisen,
schwarzen Pupille (Sehloch), die sich physiologisch als jeder Mensch anatomisch und Uppen- bzw. mundmi-
Blendenkorrektur der Iris je nach Lichteinfall verengt misch je nach emotionaler Lage verfügt; diese Grundmu-
oder erweitert, übt je nach ihrer Größe unterschiedliche ster können dann vielfältig kombiniert und im Laufe der
Wirkung auf den Partner aus (von <warm und zärtlich* Ontogenese kulturspezifisch überformt oder verfeinert
bei weiter Pupille bis <kalt und hart* bei kleiner). (3) Die werden [13]: (1) <offen - geschlossen*; (2) <vorgestülpt -
üblich erwartete Bewegung im Blickverhalten kann sich zurückgezogen*; (3) <nach oben - nach unten gezogen*;
kommunikativ unangenehm und bedrohlich entwickeln, (4) <angespannt - schlaff*. [14]
wenn es zu direktem Auge-in-Auge und zum Anstarren V. M. als Teil des kommunikativen Körpers. Auch wenn
wechselt. (4) Der Mensch kann aufgrund seiner physiolo- die M. eine körperlich klar festlegbare Position (Kopf,
gischen Möglichkeit (Tränendrüsen) vor Rührung oder Gesicht) und in der mündlichen Kommunikation eine
bei Schmerz weinen (was kein Tier vollbringen kann), so herausragende Funktion nonverbaler Signalgebung
dienen seine Augen als ein auffälliger und direkt beein- sowie im verfügbaren Mitteilungsspektrum die höchsten
druckender Ort für Gefühlsbekundung und Emotionen- organischen Differenzierungsmöglichkeiten [15] inne-
deutung. (5) Augen werden beredt, also aussagestark und hat, kann sie als Mittel nonverbaler Kommunikation
spezifisch interpretierbar, wenn sie eine als normal nicht isoliert betrachtet werden; sie funktioniert als Teil
(somit neutral) empfundene Blickweise auffällig verän- der Körpersprache, die ganzheitlich abläuft und auch
dern: so Augen aufreißen/zusammenkneifen, Schielen, ganzheitlich wahrgenommen und interpretiert wird.
mit einem Auge schauen, Augenzwinkern, Augenrollen, (a) Zunächst sei auf die (gern vergessene [16]) Artiku-
Abschweifen u.a., mit denen bestimmte Haltungen oder lation (Intonation, Akzentuierung, Emphatisierung,
Verhaltensweisen (Gelangweiltsein, Erstaunen, Haß, Lautstärke) hingewiesen, also die Funktion der Stimme
Flirten, u.a.) in den verschiedenen Kulturen kodiert sind. in Verein mit der M. hervorgehoben, ein gegenseitiges
(6) Zum Ausdrucksrepertoire der Augen steuern auch Verhältnis, das sich im Theater und im Bereich der Rhe-
die Augenlider bei, deren Schnitt ethnische Informatio- torik (hier schon in der Herennius-Rhetorik klassifizie-
nen (z.B. aus europäischer Sicht die sog. <Schlitzaugen>) rend beachtet, dann bei CICERO und QUINTILIAN (XI, 3)
liefern und die den Größeneindruck der Augen bestim- mit jeweils eigenen Kategorien systematisiert [17]), bei
men sowie mit der Art und Frequenz der Lidschläge der Predigt und in der Politik immer wieder pragmatisch
Rückschlüsse zulassen (Nervosität, Flirtverhalten u.a.). bewähren muß. [18]
(7) Auch die Wimpern prägen Einschätzungen, die bei (b) Dann vor allem die Hände und Schultern (Gestik,
langen, dichten, schwarzen Wimpern nach europäischem Gebärden), die komplementäre Signalträger im Verlauf
Schönheitsempfinden den Augen Sanftmut und Aus- des mimischen Ausdrucksverhaltens sind; M. und Gestik
drucksstärke verleihen, bei schwacher Sichtbarkeit bilden als zwei Regionen mit spezifischen Ausdruckswei-
(blonde Wimpern) oder Fehlen (Asiaten) dagegen kühl sen eine kommunikative Einheit des Oberkörpers. [19]
und irritierend wirken. (c) Dabei können sich Arme und Hände stark partner-
(d) Die Nase spielt wegen ihrer Festigkeit als ein mimi- gerichtet engagieren: im Berührverhalten, der Haptik, zu
sches Kommunikationsmittel nur eine geringe Rolle der natürlich auch wieder eine entsprechende M., ihrer-
(Naserümpfen, angewidertes Schnauben, ängstliches seits partnergerichtet, mit einem den Gegenüber
Zucken oder Zornesbeben der Nasenflügel, Schnüffeln anschauenden Gesicht, gehört.
als Reaktion auf Geruchsreizung u.a.); sie unterliegt eher (d) Hierzu verbleiben Rumpf und Beine, verantwort-
physiognomischen Einschätzungen (Größe, Form) und lich für die Haltung des Körpers, seine Stellung im Raum
prägt auch den ethnischen Gesamteindruck des Gesichts. und seine Bewegung, nicht starr, so daß ein wiederum

1331 1332
Mimik Mimik

zum kommunikativ agierenden Oberkörper entspre- ner Reflexionen, Theorien und angewandter Kunst
chend sich haltender und bewegender Unterkörper das geworden, die im Umfeld von <M.> zu unterscheiden sind:
Bewegungsverhalten steuert und die Gesamthaltung 1. Physiognomik. Die harten, unveränderlichen Schä-
mitbestimmt (Kinesik). delmaße - das Gesicht in Ruhe mit seinen permanenten
(e) Wie zentral der kinetische Eindruck gewertet wird, Merkmalen - und deren (wertende, dabei vorzugsweise
zeigt sich in der Bemessung der Abstandswahrung, der auf das Profil bezogene) Beurteilung durch den Betrach-
partnerbezogenen Bewegung auf ihn zu oder von ihm ter sind Gegenstand der Physiognomik [1] (insbes. J.C.
weg in der Kommunikation: das Distanz- und Nähever- LAVATER [ 1 7 4 1 - 1 8 0 1 ] ) , so daß man die M. dazu als Pen-
halten (Proxemik) unterliegt dabei neben situativen und dant ausdrucksvarianter Kommunikation verstehen
persönlichen auch dominanten kulturellen Konventio- kann.
nen; und auch die mißfällige Reaktion auf Normverstöße 2. Phrenologie. Eng mit der Physiognomik verbunden
fällt ganzheitlich aus: Körperbewegung, spezifische ist um 1800 die Phrenologie, die sich - mit außerordentli-
Gebärde(n) (z.B. Sperrung durch spreizende Armhal- cher gesellschaftlicher Resonanz im 19. Jh. - speziell mit
tung) und Abwehrmimik spielen hier zusammen, als kör- der Vermessung des Schädels beschäftigt (F.J. G A L L
persprachliche Orchestrierung einer kommunikativ wir- [1758-1828] und sein Schüler K. S P U R Z H E I M ) [2], um aus
kenden Eindrucksqualität (z.B. <bleib mir vom Leibe> der Schädelform Rückschlüsse auf den Charakter und
oder <ich fühle mich wegen des kühl wirkenden Abstands die Anlagen des Menschen'ziehen sowie Prognosen zu
unwohl>). seinem Werdegang aufstellen zu können. [3]
3. Pathognomik. Was die weichen Teile des Kopfes
betrifft, die sich ja im Gesicht (mit den Ohren) befinden
Anmerkungen: und dessen Lebendigkeit ausmachen und damit die
Is. H. Kalverkämper: Art. <Körpersprache>, in: HWRh, Bd.4
(1998) Sp. 1339-1371. - 2vgl. z.B. T. Nummenmaa: The Kommunikativität des Gesichts, die M., überhaupt erst
Language of the Face (Jyväskylä 1964); Κ. Leonhard: Der ermöglichen, so gerieten sie, als Gegengewicht zur Phy-
menschliche Ausdruck in M., Gestik und Phonetik (1976). - 3 zu siognomik des 18. Jh. konzipiert, mit der sog. Pathogno-
den Experimenten s. S. Frey: Die nonverbale Kommunikation mik (auch Pathognomie oder Pathognostik) in den analy-
(1984). - 4 vgl. Begriffsgesch. in Abschnitt A.II. - 5 vgl. ζ. Β. K. R. tischen Blick (insbes. G.C. LICHTENBERG [ 1 7 4 2 - 1 7 9 9 ] ) ; in
Scherer, H.G. Wallbott (Hg.): Nonverbale Kommunikation: dieser älteren Bedeutung - später wird diese medizi-
Forschungsberichte zum Interaktionsverhalten (21984) Kap. nisch, im Sinne der Krankheitserkennung durch Sym-
A.I.; s. auch <Gesichtssprache> wie in der dt. Übers, des Titels ptome, spezialisiert - beschäftigt sie sich mit dem
<Emotions in the Human Face> (1971) von P. Ekman, W. V. Frie-
sen, Ph.C. Ellsworth (Hg.): Gesichtssprache. Wege zur Objekti- geschulten Erkennen psychischer (insbesondere emotio-
vierung menschlicher Emotionen (Wien u.a. 1974). - 6 hierzu J. naler, speziell affektiver) Zustände, wie sie aus den Aus-
Renson: Les dénominations du visage en français et dans les drucksweisen des Gesichts (aber auch weiter verstanden:
autres langues romanes. Étude sémantique et onomasiologique, der Gestik oder Gebärden und der Körperhaltung)
2 vol. (1962); K.E. Georges: Ausführliches lat.-dt. Handwtb., 2 ablesbar sind [4]; sie nimmt sich auch des expressiven
Bde. (81913; ND 1995); vgl. auch G. de Zordi: Die Wörter des Gesichtsausdrucks auf der Theaterbühne an (insbes. J.J.
Gesichtsausdrucks im heutigen Englisch (Diss. Zürich) (Bern E N G E L , LESSING, LICHTENBERG - sie deuten M . und
1972). - 7L. Baiensiefen: Die Bedeutung des Spiegelbildes als
ikonographisches Motiv in der antiken Kunst (1990) 16. - 8 ebd. Gestik als die äußeren Zeichen unsichtbarer innerer
- 9nach singulärem Auftauchen in der griech. Lit. (Apollonios Gemütszustände) und gibt differenzierte Beschreibun-
Rhodios [ca. 295-215 v.Chr.] dann bei den Römern mit Ovid (43 gen von mimischen (sowie gestischen und körperlichen)
v.Chr. - 1 8 n.Chr.) und Statius (t ca. 96 n.Chr.); vgl. Baiensiefen Ausdruckswirkungen für den Schauspieler, der Affekte
[7] 15-18; vgl. auch Artikel <Spiegel>, in: H.S. Daemmrich, I. im Drama (Tragödie, Komödie) beherrschen will. [5]
Daemmrich: Themen und Motive in der Lit. Ein Hb. (1987; 4. Pantomimik. Die Pantomimik (oder Pantomime,
2
1995). - lOvgl. H. Kalverkämper: Lit. und Körpersprache, in: dies zuerst für den Ausführenden^ den Schauspieler,
Poetica 23 (1991) 328-373. - H i n solcher Weise segmentierend:
D. Morris: Körpersignale. Bodywatching (1986) (engl. Orig.: Tänzer; griech. παντομίμας, pantomimos - alles Nachah-
Bodywatching. A field guide to the human species, London mender) ist von der M. insofern zu trennen, als
1985). - 121. Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. (a) sie eine Kunstform ist (dem Tanz verwandt und
Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhal- dem Theater nahestehend), die den Körper als Erzähl-
ten (51984) 99,133f. - 13s. dazu Morris [11] 108. - 14ebd. 94. - medium einsetzt; als μίμος, mimos (Nachahmer, Nachah-
15 die hochdifferenzierten Muskelorganisationen des Gesichts mung, Schauspieler) nachweisbar seit dem 6. Jh. v.Chr. in
referiert vor dem Hintergrund einschlägiger Unters. I. Eibl- der griechischen Antike (als literarische Gattung zuerst
Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grund-
riß der Humanethologie (31995) 622-665; in der Tradition von bei Aristoteles, <Poetik> 1447b 10); dann sehr beliebt -
Leonardo da Vinci, die Erkenntnisse der Wissenschaft (Anato- und seit der Zeitenwende auch so bezeichnet - in der
mie) und das Vermögen der Kunst in harmonischen Einklang zu römischen Kaiserzeit (31 v.Chr. - ca. 6. Jh. n.Chr., Verbot
bringen, steht G. Bammes: Die Gestalt des Menschen (91999) durch Iustinianus [oström. Kaiser 527-565]); im Mittelal-
Kap. 10: <Kopf> mit detaillierten Muskelstudien zu emotionalen ter durch Autoritäten wegen der körperlichen Darstel-
Gesichtsausdrücken. - 16 vgl. aber W. Wundt: Stimmlaute als lung als obszön empfundener Inhalte bekämpft (Karl der
Ausdrucksbewegungen, in: K.R. Scherer, A.S. Stahnke, P.W. Große; Konzilsbeschlüsse); dann im 16. Jh. über den
Winkler: Psychobiologie (1987) 292-297. - 17vgl. B. Steinbrink:
Art. <Actio> in: HWRh, Bd.l (1992) Sp. 46-51. - 18 Leonhard Weg des Volkstheaters - vermittelt über spanische und
[2]; K.-H. Göttert: Gesch. der Stimme (1998). - 19vgl. C. italienische Komödianten und als Gattung bestens geeig-
Schmauser, Th. Noll (Hg.): Körperbewegungen und ihre Bedeu- net für Aufführungen in fremden Sprachgebieten
tungen (1998); C. Müller: Redebegleitende Gesten. Kultur- (Frankreich) - konstitutiv (und ergänzt durch improvi-
gesch. - Theorie - Sprachvergleich (1998). sierte Texte eines grob strukturierten Handlungssche-
mas [scenario]) für die Commedia dell'arte (Commedia
all'improvviso·, frz. Comédie italienne, Arlequinade sau-
B.I. Affine Disziplinen. Der Kopf, das Gesicht, die M. tante-, Stegreifkomödie); im 17. und 18. Jh. als eigene Gat-
sind als hochkommunikativ wirkende Körperbereiche tung entwickelt (im 18. Jh. als Ersatz für verbotene Sing-
im Laufe der Kulturgeschichte Gegenstand verschiede- und Sprechtheater), um dann im 19. Jh. in Konkurrenz

1333 1334
Mimik Mimik

zum Ballett und schließlich, ab Beginn des 20. Jh., ver- geres Pleistozän) - Zeit (vor 30.000 bis 35.000 Jahren)
bunden über die Musik sogar in Partnerschaft mit ihm mimisch indifferent gehalten sind, entweder mit Andeu-
(frz. ballet-pantomime, mit Vorläufern im Frankreich des tung der gesichtsausprägenden Orientierungspunkte
18. Jh.) zu treten (als bekannte Vertreter der Pantomi- (Augen, Nase, Mund), oder als Votiv- und Magie-Skulp-
menkunst des 20. Jh. gelten z.B. Jean Louis Barrault, turen (z.B. Venus-Figuren als Fruchtbarkeitssymbole)
Marcel Marceau, Samy Molcho u.a.). ganz ohne gestaltete Gesichter. Erst am Ende der letzten
Das mit dem beginnenden 20. Jh. entstehende Eiszeit (Würm-Glaziale) vor ca. 10.000 Jahren lassen sich
Medium Film nimmt im Stummfilm mimische und gesti- dann Portraitdarstellungen des paläolithischen Men-
sche Elemente der Pantomimen-Tradition - zum Teil mit schen nachweisen.
neuartiger künstlerischer Wirkung überzeichnend - auf, Die Kunstgeschichte weiß für die einzelnen Epochen
bis sie sich mit der Entwicklung des Tonfilms wieder dar- und Kulturkreise Vorlieben, ästhetische Grundsätze und
aus lösen; die Wirkung der M. (auch der Gestik) wird nun künstlerische Arbeitsweisen zu benennen, so auch zwi-
durch ausgefeilte Kameraführung (Nahaufnahmen, sze- schen griechischer und römischer Plastik und Skulptur-
nische Details) und eher wieder am Theater, an der Büh- kunst, die sich im Prinzip zwischen realistischer und idea-
nenspielweise orientiert in Szene gesetzt; lisierender Darstellung insbesondere des Gesichts und
(b) sie versteht sich, wenn auch in ihrer Geschichte in des mimischen Ausdrucks bewegt. [1] Die hohe Zeit des
wechselnder Weise - s. o. (a) - als alleiniges kommunika- mimisch interessanten Gesichts ist die Renaissance,
tives Ausdrucksmittel, ohne die Verbalsprache (worin zudem mit deren Königin der Künste (nach dem Urteil
sich sicherlich ein Teil des künstlerischen Anspruchs des Leonardo da Vinci: <Trattato della pittura>; 1498),
begründet): als eine stumme Darstellungskunst und visu- der Malerei: die Gattung des Porträts (<Bildnis>) entwic-
elle Dramenform; kelt sich ab 1420 und entfaltet sich bis zur Mitte des 17.
(c) sie bezieht den ganzen Körper als Ausdrucksmittel Jh. Es tritt aber auch schon in den Spätstufen der Kunst
mit ein, auch mit M., wenngleich sie vorzugsweise die von vorhergegangenen Kulturen auf, so in der altägypti-
Arme und Hände, also die Gestik (Gebärden) verwen- schen Amarna-Zeit (14. Jh. v. Chr.), im Hellenismus
det, aber auch die Körperhaltung und Schrittweisen, z.T. (Kulturepoche seit der Zeit Alexanders d. Gr. [356-323
akrobatisch, mit einsetzt (mit Musik als Tanz). v. Chr.] bis Augustus [63 v. Chr.-14 η. Chr.], dann als
spätrömisches Mumienbildnis oder, im Mittelalter, als
Anmerkungen: Grab- und Stifterfigur. Die Psychologie der Fremdbeob-
Is. H. Kalverkämper: Art. <Körpersprache>, in: HWRh, Bd.4 achtung wie auch, bei den Selbstporträts (von denen die
(1998) Sp. 1339-1371. - 2E. Clarke, Κ. Dewhurst: Die Funktio- über 100 Selbstbildnisse Rembrandts [1606-1669] als
nen des Gehirns. Lokalisationstheorien von der Antike bis zur
Seelenstudien berühmt sind), die affektbezogene Indivi-
Gegenwart (1973); St.J. Gould: Der falsch vermessene Mensch
(1983). - 3 s. F.J. Gall: 1758-1828, Naturforscher und Anthropo- dualität machen den Reiz dieser Malgattung aus, die im
loge; ausgew. Texte, eingeh, übers, und kommentiert von E. 17. Jh. tatsächlich mit den zeitgenössischen Affektenleh-
Lesky (1979). - 4G.Chr. Lichtenberg bestimmt sie in seinem ren Verbindungen eingeht und zu physiognomischen
berühmten Essay <Über Physiognomik) [1778] (in: ders.: Apho- Studien Anlaß gibt; «das Gesicht - als Zentrum der Per-
rismen - Essays - Briefe. Hg. v. K. Batt, "1985, Zitat 350) als son - wird als symbolisch-expressive Repräsentanz von
«Semiotik der Affekten». - 5 vgl. das zweibändige Werk von J. J. Gefühlen begriffen». [2]
Engel: Ideen zu einer M. (1785-1786); ebenso G. Austin: Die
Im 18. Jh. und der folgenden Zeit lenken Karikatur
Kunst der rednerischen und theatralischen Declamation nach
altern und neuern Grundsätzen über die Stimme, den Gesichts- und Bildergeschichte (Vorläuferin des Comic) als zeich-
ausdruck und die Gesticulation aufgestellt..., dt. Übers, d. engl. nerische Kunstgattungen neue Aufmerksamkeit auf das
Orig. <Chironomia or a treatise on rhetorical delivery .. .>, Lon- Gesicht und seine Verfremdung, meist Überzeichnung
don 1806 (1818; faks. N D 1969); J. Jelgerhuis (1770-1836): Les- mimischer Verhaltensweisen und physiognomischer wie
sons on the theory of gesticulation and mimic expression. Given auch pathognomischer (theatralischer) Auffälligkeiten.
to students enrolled in classes for the training and instruction of Zeichner wie der Engländer W. H O G A R T H (1697-1764),
dramatic artists (engl. Übers, d. holländ. Orig. »Theoretische les-
der Schweizer R. TOEPFFER (1799-1846) oder die Franzo-
sen over de gesticulatie en mimiek>, Amsterdam 1827) als Teil
von: A.S. Golding: Classicistic acting. Two centuries of a perfor- sen C H . L E B R U N (1619-1690; <Méthode pour apprendre
mance tradition at the Amsterdam Schouwburg (New York, à dessiner les passions, proposée dans une conférence sur
London 1984); A. Vincent-Buffault: Histoire des larmes. XVIII e l'expression générale et particulière), Paris 1698; faks.
- XIX e siècles (Paris/Marseille 1986); D. Barnett: The Art of ND d. Ausg. Amsterdam 1702: Hildesheim, Zürich, New
Gesture: The practices and principles of 18th century acting York 1982), H. D A U M I E R (1808-1879) und G. D O R É
(1987). (1832-1883) oder der Deutsche W. B U S C H (1832-1908)
schaffen das neue Genre des Bilderromans; zu ihm
II. Kulturgeschichte der M. Die Kunst, hier zuerst die gesellt sich die Karikatur, die sich aufteilt in die politische
darstellende, und zwar speziell die theatralische Kunst - Karikatur und die Sittenkarikatur und deutlich vom
dann aber auch die bildende Kunst (zuerst die attische Mimischen aus kritisch weiter ausgreift auf Gestik, Hal-
[Vasen-JMalerei: menschliche Antlitze [Polygnotos, tung und generelle Verhaltensweisen.
nach Mitte 5. Jh. v.Chr.]; ihr folgt die Bildhauerei: Skulp- Das 20. Jh. verfremdet das Gesicht und schafft damit
turen) - führt dazu, daß das Kommunikationsmittel und neue Aussagen, die auch die Funktion der M. durch Mit-
Wirk(ungs)instrument M., das dem Menschen naturge- tel der künstlerischen Umbrüche neu befragen lassen.
geben ist, aber darüber hinaus in bestimmten Zügen auch Expressionismus, Kubismus, Picassos Köpfe, Salvador
erziehungsgeleitet, somit letztlich kulturgebunden ist, Dali, René Magrittes Verweigerung individueller
wirkungssystematisch beachtet und dann auch erlernt Gesichtszüge und situativer Emotionen durch persönli-
wird. che M. in seinen Portraits - die moderne Kunstgeschichte
1. M. in der Geschichte der Bildenden Kunst. Die Bil- wäre unter dem Aspekt, ob und gegebenenfalls wie das
dende Kunst hat diesen Weg insofern mitvollzogen, als kommunikative Gesicht wahrgenommen und wiederge-
die ersten Zeugnisse von Malerei und skulpturalem geben ist, zu sichten, woraus sich die Frage nach der
Schaffen in prähistorischer - d.h. hier: eiszeitlicher (jün- neuen Sinnstiftung ergibt.

1335 1336
Mimik Mimik

2. M. in der literarischen Gattungstradition. Im Bereich nur ein angedeutetes Lächeln, und es gibt «bis Mitte 5.
der Kunstprosa bildet sich in der Antike eine eigenstän- Jh. v.Chr. nur geringe Versuche, Schmerz und Leiden-
dige literarische Gattung(stradition) (mit den Sizilianern schaft durch Stirnfalten und vorgeschobene Lippen wie-
Sophron aus Syrakus, um 430 v.Chr.; Theokritos aus derzugeben». [7] Der Mund ist anfänglich wenig geöff-
Syrakus, Anfang 3. Jh. v.Chr.) als Mimus (μίμος, mimos) net, wird dann aber immer offener und «nahm in röm.
heraus, die volkstümliche, oft derbe Stoffe aus dem All- Zeit groteske Formen an». [8]
tag monologisch und dialogisch verarbeitet. Sie darf - Es ist naheliegend, daß sich hier physiognomische
anders als die hohen dramatischen Gattungen <Tragödie> Typisierungen festsetzen, z.B. signalisieren «sehr hohe
und <Komödie> - ohne Maske gespielt werden und Augenbrauen Frechheit». [9] Für charakteristische
gewinnt nach dem Rückgang des Interesses an den vor- Typen (wie Satyr, Hetäre, Sklave, Heroe, Gott), Lebens-
nehmen Gattungen vom 4. Jh. v.Chr. an eine wachsende, alter oder gesellschaftliche Status bilden sich (insbeson-
mit dem 3. Jh. v.Chr. eine beherrschende Stellung auf dere ab der italischen Zeit [ca. 4. Jh. v.Chr.]) wiederer-
den Bühnen, beliebt im römischen 1. Jh. v.Chr. (was die kennbare mimisch-physiognomische Masken gerade für
soziale Stellung der im antiken Griechenland gering den Typenvorrat der Komödie heraus (z.B. «knollige
geachteten mimi bzw. mimae [hier durften Frauen als Nase, gierige, runde Augen», «die Sklaven unten aufge-
Schauspieler mitwirken] deutlich anhebt); bis ins 6. Jh. bogene, an der Wurzel stark eingedrückte Nasen» [10]).
n.Chr. hält sich die Gattung, deren als unliterarisch gel- Später, in der italienischen Renaissance ab dem 16. Jh.,
tende Texte nicht überliefert sind, da Stegreif, Situa- sind die Typen und Rollen in der Commedia dell'arte (bis
tionsposse, Improvisation und Tageskomik ein locker Ende 18. Jh. in ganz Europa verbreitet) kanonisiert, ins-
strukturiertes Gerüst ausfüllen. [3] Tanz und Musik besondere bei den Dienerfiguren (Zanni). [11]
sowie Gestik (Gebärdenspiel) und M. als ausdrucksvolle
4. Römische Ganzheitlichkeit. Die Römer sublimieren
Darstellungsweisen beherrschen die theatralische Wir-
die Typisierung des theatralischen Gesichtsausdrucks
kung. Diese kommt speziell durch das Fehlen der Maske
auf, was dem individuellen Ausdruck mehr Freiheit und die Starrheit der Masken-M. auf der Bühne mit einer
schafft, indem dieser dem Schauspieler anheimfällt, nicht sorgfältig beachteten Gebärdenkunst, zu der sich auch
dem Dichter, der in den hohen Gattungen mit ihren Mas- (dramen-)gattungsspezifische Regeln entwickeln und es
ken vielmehr auf die Illusionsfähigkeit des Publikums schauspielerische Anweisungen gibt. [12] Der Auftritt
setzen muß und, wenn auch mit gelegentlichen Hinwei- mit M., Gestik und gesprochenem Text wird als ganzheit-
sen, für das Spiel nur σχήματα (schemata; Haltungen, liche Ausdruckseinheit gesehen.
Stellungen, Gebärden, Benehmen) und κινήσεις
(kinéseis; Bewegungen, Veränderungen) [4] verwenden Anmerkungen:
kann. lvgl. J. Boardman (Hg.): Reclams Gesch. der antiken Kunst
(1997); K. Fittschen (Hg.): Griech. Porträts (1988). - 2N.
3. M. und Maske. Die Maske (πρόσωπον, prosöpon; Schneider: Porträtmalerei. Hauptwerke europäischer Bildnis-
kunst 1420 - 1670 (1992) 113; Rembrandts Selbstbildnisse (Aus-
Gesicht, Miene, Blick, Auge, Aussehen, Person, Maske, stellungskatalog London, Den Haag) (1999); L. Goldscheider:
Rolle; lat. persona) als artifizielles Gesicht mit starr Fünfhundert Selbstporträts von der Antike bis zur Gegenwart
mimischem Ausdruck gibt es in fast allen Kulturen (aus- (Plastik, Malerei, Graphik) (Wien 1936). - 3 vgl. H. Wiemken:
genommen der islamischen, die die Abbildung von Men- Der griech. Mimus. Dokumente zur Gesch. des antiken Volks-
schen verbietet) - sie darf durchaus als «face of culture» theaters (1972); K. Vretska: Art. <Mimus>, in: K1P Bd.3 (1979)
gelten [5] - und stammt aus alten religiös-magischen 1309-1314. - 4C. Fensterbusch: Art. <Mimik>, in: KIP Bd.3
Bräuchen (Tiermasken der Jäger schon in Höhlenmale- (1979) 1308. - 5 vgl. J. Nunley, C. McCarty: Masks. Faces of Cul-
reien des Paläolithikums [mehr als 1. Mill. Jahre-ca. 8000 ture (St. Louis, Houston 1999). - 6 Art. <Maske>. in: O. Hiltbrun-
v. Chr.], der Altsteinzeit in Europa, vor 20.000 Jahren). ner: Kleines Lex. der Antike (61995); vgl. auch C. Fensterbusch:
Art. <Maske>, in: KIP B d . 3 (1979) 1063-1065. - 7Fensterbusch
Als (1) kultische Tanzmaske (aus der sich die Theater- [6] 1063. - 8ebd. - 9ebd. - lOebd. 1064. - 11 vgl. z.B. M. Sand:
und Karnevalsmasken entwickelten), als (2) Totenmaske Masques et buffons. Comédie italienne (Paris 1862); W. Krä-
oder als (3) Kriegsmaske sollte sie dem Träger ein neues mer: Die ital. Commedia dell'arte (1976,21987); D. Esrig (Hg.):
Wesen verleihen, indem die eigene Identität verdeckt, ja Commedia dell'arte. Eine Bildgesch. der Kunst des Spektakels
versteckt wird (diese nimmt also schon vorgeschichtlich (1985). - 12Fensterbusch [4],
am erkennbaren Gesicht und der individuellen M. ihr
Maß [so ist, gerade prähistorisch, der Maskierte durch- III. Rhetorische Systematik und Praxis. 1. Pronuntiatio.
aus ansonsten nackt], was bis heute gilt). Die römische Bewertung (s.o. B. II, 4) ist deutlich durch
In Europa (gegenüber z.B. der japanischen, afrikani- die mit der Schauspielkunst wetteifernde Redekunst
schen oder präkolumbianischen Tradition) in Griechen- beeinflußt, deren Brückenschläge (als zwei praktische
land aus dem Dionysos-Kult hervorgegangen, behält das Künste, artes in agendo positae [1]) - nämlich (1) Schau-
griechische Theater von Anfang an (etwa 500 v.Chr.) die spieler/Redner, (2) Bühne/Forum, (3) Öffentlichkeit, (4)
Maske für die Schauspieler der Tragödie (sowie des gesprochener Text, (5) körperliche Präsenz, (6) Wirkung
Satyrspiels) und der Komödie bei: somit können sie in auf das Publikum - eine gegenseitige Befruchtung in
verschiedene Rollen schlüpfen und auch Frauenrollen theoretischer Reflexion und praktischer Erprobung
(als männliche Darsteller) übernehmen. Mit asymme- (Empirie) ermöglichen (wobei Q U I N T I L I A N - auch aus
trisch gestalteten Masken, die der Schauspieler den der Rhetoriktradition her resümierend - feststellt, der
Zuschauern zuerst von der einen, dann von der anderen Vortrag einer Rede dürfe nicht zur Schauspielerei entar-
Hälfte zuwendet, wird ein Wechsel des Gesichtsaus- ten, denn: «[...] varias manus, diversos nutus actor adhi-
drucks, eine Art binäre M., erreicht. [6] Die stuckierte bebit. aliud oratio sapit nec vult nimium esse condita:
Leinenmaske ist (gemäß gewissen Regeln) bemalt actione enim constat, non imitatione»; der Schauspieler
(Augenbrauen, Lippen, Weiß der Augen, Hautfarbe) wird wechselnde Handbewegungen und verschiedene
und mit Haaren und (bei Männermasken) mit Bart Kopfbewegungen anbringen. Einen anderen Geschmack
beklebt. Der Gesichtsausdruck zeigt bei dem ersten gro- verlangt die Rede; sie wünscht keine so starke Würze:
ßen Tragiker Athens, Aischylos (525-456 v.Chr.), wohl denn ihr Wesen liegt im Vortrag bei der Verhandlung,

1337 1338
Mimik Mimik

nicht im Nachahmen). [2] Doch schon ARISTOTELES emp- gelassen, stolz, wild, sanft oder hart, wie es der Vorgang
fiehlt in der <Metaphysik>, nur dem Gesichtssinn als dem verlangt). [12] Für das rhetorische Anliegen sei es dage-
verläßlichsten aller menschlichen Sinne zu trauen; das gen prinzipiell unstatthaft («numquam esse debebunt»),
Sehen und das Gesehenwerden (d.h. die Wirkung auf das «starr und aufgerissen oder matt und glasig oder glot-
insbesondere Uber die Augen wahrnehmende Publikum) zend, ungezügelt, umherirrend, schwimmend und
stehen als zentrale Komponenten sozialer Beeinflussung gleichsam wollüstig oder schielend und sozusagen in
neben dem Reden und dem Hören der Rede. Liebesglut oder etwas fordernd oder verheißend» [13]
So findet auch die M. des Redners in der <Rhetorik> zu sein.
des Aristoteles mit seinem Begriff der ίιπόκρίσις (b) Dann die Augenlider (palpebrae) und die Wangen
(hypókrisis; lat. actio; Auftreten) ihre Beachtung. Im the- (genae), die den Augenausdruck stark unterstützen («et
matischen Umfeld der Verarbeitungsphasen (tractatio) - ad haec omnia exprimenda in palpebris etiam et in genis
und zwar (nach inventio, dispostilo, elocutio und memo- est quoddam deserviens iis ministerium» [14]).
ria) in der fünften, der pronuntiatio, also dem konkreten (c) Auch die Augenbrauen (supercilia) helfen beim
Halten der Rede mit Stimmführung, M., Gestik (Gebär- funktionalen Aufbau der M.: «sie geben im gewissen
den), Körperhaltung und weiteren Indikatoren (z.B. Grade den Augen ihre Form und beherrschen die
Kleidung) - hat sie als körpersprachliche Äußerungs- Stirn.» [15] Als Fehler (Vitium) bewertet er es, wenn sie
form und somit als bedeutsamer Wirkungsfaktor ihren «entweder völlig unbewegt sind oder allzu beweglich
Platz. Hierzu finden sich die literarischen Analogien, oder von ungleicher Gestalt, so daß sie [...] nicht zusam-
die Aristoteles bereits gezogen hat: im Vortrag der Epen menpassen oder entgegen dem, was wir sagen, gebildet
(pai|><i)deiv, rhapsödein), der Lyrik (διαόειν, diádein) werden» [16]; in der künstlerischen Tradition der thea-
und des Dramas (ή υποκριτική, hë hypokritikë). [3] Für tralischen Masken für das Drama setzt Quintilian eine
die rhetorische Praxis fällt die Körpersprache - und hier Art konditionaler Gleichung fest zwischen dem Aus-
dann auch das mimische Ausdrucksverhalten des drucksträger (Körperteil) und seiner Ausdrucksgestalt
Gesichts - unter die actio (was den Begriff der pronuntia- einerseits und der Ausdrucksbedeutung andererseits
tio eher zum Verbalen hin gewichtet) [4]: Mit Blick auf (Typ: <wenn der Körperteil so und so aussieht, bedeutet
CICERO wird die Metapher von der körperlichen Bered- das> - z.B. Kummer): «Zorn kommt nämlich durch
samkeit (eloquentia corporis) etabliert und der von gerunzelte, Trauer durch gesenkte, Heiterkeit durch ent-
Cicero geprägte Terminus <Körpersprache> (sermo cor- spannte Augenbrauen zum Ausdruck. Auch im Zusam-
poris) übernommen. Stimme, Mienenspiel und nahezu menhang mit dem Zustimmen oder Ablehnen werden sie
alles in der Körperhaltung dienen dazu, intensive gesenkt oder gehoben». [17]
Gefühlswirkungen zu erzielen («adfectus omnes langu- (d) Die Stirn (frons) erhält ihre mimische Ausdrucks-
escant necesse est, nisi voce, vultu, totius prope habitu veränderung durch die Augenbrauen, mit denen sie
corporis inardescunt»[5]). Die forensische Situation - «gerunzelt, gehoben und entspannt» wird («contrahitur,
ein großes Publikum, auf das man einwirken will - schafft attollitur, remittitur» [18]).
in diesem Ensemble der actio dementsprechend Gewich- (e) Nase (nares, plur.) und Lippen (labium, meist plur.
tungen zugunsten einerseits der Stimme (vox), die über labia; auch labrum, plur. labra) gelten in rhetorisch-prak-
die Ohren beeinflußt, und andererseits der Gebärden tischer Hinsicht als mimisch unbedeutend. Sie werden
(gestus), die über die Augen ihre Wirkung ausüben; der jedoch gern benutzt, um «Hohn, Verachtung und
Primat der Sinne, «durch die jede Gefühlsregung in das Abscheu zu kennzeichnen» («naribus labrisque non fere
Innere dringt» («omnis ad animum pénétrât adfec- quicquam decenter ostendimus, tametsi derisus iis, con-
tus» [6]), fällt hier der Stimme zu, weil «dieser sich ja auch temptus, fastidium significan solet.»[19]). Die Gründe
das Gebärdenspiel anpaßt» («cui etiam gestus accommo- dafür, sie nicht zur rhetorischen Wirkung einzusetzen,
datur»[7]); die M. ist auf Distanz zwischen Redner und sind nicht körperkommunikativer, sondern ästhetischer
Publikum nicht mehr gut zu erkennen und somit, gegen- Art: seit Horaz gelte es als «unfein» («indecorum est»)
über den Möglichkeiten der Stimme, nicht ausschlagge- und «unschön» («deforme est») oder «schlecht»
bend wirkungsvoll. («male»), zum Beispiel die Nase krauszuziehen («corru-
2. Wirkungsnormen. Dennoch widmet sich QUINTILIAN gare nares») oder sie zu blähen (inflare), die Nasenlöcher
dem Gesichtsausdruck, der M. (vultus), ausführlich, zu spreizen (diducere), die Lippen hochzuziehen oder
sogar mit dem einleitenden Hinweis auf deren beherr- weit aufzusperren und die Zähne zu entblößen («labra
schende Funktion («dominatur autem maxime vul- adstringuntur et diducuntur et dentes nudant») oder die
tus» [8]), weil sich über das Gesicht die gesamte Aus- Lippen zur Seite und fast bis zum Ohr zu ziehen, sie
druckswelt der vielfältigen Lebensdispositionen abbil- gleichsam in Abscheu aufzuwerfen («in latus ac paene ad
det, von deren Reichtum er Beispiele anführt (u. a. fle- aurem trahuntur et velut quodam fastidio replicantur»),
hend, drohend, schmeichelnd, heiter, stolz, unterwürfig oder auch sie zu lecken oder zu beißen («lambere quoque
erscheinen [9]), was wiederum Analogien zum Theater ea et mordere»), [20] Der Rhetor habe die Lippenmimik
und seinen Gesichtsmasken (personae) mit ihren ver- zugunsten der Mundartikulation dezent zu halten, «wie
schiedenen Gefühlsausdrücken (adfectus) nahelegt. [10] ja schon beim Bilden der Wörter ihre Bewegung nur
Quintilian bietet eine Analyse des Zusammenspiels zurückhaltend sein darf; denn man soll mehr mit dem
funktionaler Ausdrucksteile der M. an, indem er die Mund als mit den Lippen sprechen» («ore enim magis
hauptsächlich beteiligten Gesichtsbereiche isoliert: quam labris loquendum est»). [21] Aus Aspekten der
(a) Die Augen (oculi), denen die größte Ausdrucks- Schicklichkeit (decorum), die als ästhetische Richtlinien
kraft des Inneren nach außen eigen ist («in ipso vultu ja zeitabhängig und gesellschaftsgebunden sind, leiten
plurimum valent oculi, per quos maxime animus ema- sich also mimische Verhaltensweisen ab, die im Rahmen
nai» [11]); sie passen sich dem Ablauf des Redeinhalts der rhetorischen Wirkung als Erwartungsnormen gesetzt
an: «motu vero intenti, remissi, superbi, torvi, mites, werden.
asperi fiunt: quae, ut actus poposcerit, fingentur» (Wenn Und so wird vom Redner für seinen Vortrag, der
die Augen in Bewegung sind, so blicken sie gespannt, gewinnend (geneigt machend), überzeugend und erre-

1339 1340
Mimik Mimik

gend, d.h. auch: unterhaltend sein soll («conciliet, persua- Handlungskontexten, empirisch gestützt, abgeleitet aus
deat, moveat, quibus natura cohaeret, ut etiam delec- Wirkungsbeobachtungen von Sprachverwendung und
tet» [22]), als körpersprachlich angemessene Verhaltens- Körpereinsatz, ausdrücklich kriterienbewußt (somit in
weise in ganzheitlicher Sicht - darin also auch, wie hier diesem Sinne wissenschaftlich) und getrieben von dem
folgend als Ausschnitt zitiert, in Beachtung der M. - ver- Willen zweckgeschulter Menschenführung, eine Aus-
langt: «Die Haltung sei aufrecht, [...], die Schultern ent- druckskunde, Emotionenanalyse und Körpersemiotik
spannt, die Miene ernst, nicht düster, auch nicht starr (kommunikatives Körperverhalten) entwickelt.
oder schlaff, [...].» («vultus severus, non maestus nec stu- Diese Leistung zeitigt einerseits die Herausbildung
pens nec languidus»), [23] einer soziopsychologischen Selbstreflexion des Men-
3. Die M. in der Affektenlehre. Die Forderung an eine schen mit Hilfe von Typisierungen, Klassifizierungen,
kontrollierte M. versteht sich im Rahmen der Aufgaben Kategorisierungen (Physiognomik, Temperamenten-
des Redners ( o f f i c i a oratoris). Er hat drei Redeziele ein- lehre, Charakterologien, Typologien, Konstitutionsleh-
zulösen, um die Zustimmung des Publikums zu erlangen: ren u.a.) und andererseits fundamentale Auswirkungen
belehren, erregen und unterhalten («tria sunt item, quae auf die Literatur und ihre Poetik, deren so gewachsene
praestare debeat orator, ut doceat, moveat, delectet. haec psychologische und psychoanalytische Kategorien (z.B.
enim clarior divisio quam eorum, qui totum opus in res et im literarischen Porträt) das literarische Schaffen Euro-
in adfectus partiuntur.» Als Begründung fügt Q U I N T I L I A N pas seither, bis in die heutige Zeit bestimmten (und sei es
also an: «Denn diese Einteilung ist klarer als die andere, unter dem Signum des Gegenentwurfs, des Antipro-
deren Verfechter die ganze Aufgabe des Redners in gramms, wie zu Anfang des 20. Jh.). Diesem Themen-
Sachfragen und Fragen der Gefühlserregung tei- spektrum widmen sich seit den neunziger Jahren anthro-
len.» [24]). Dies knüpft an den ciceronischen Anspruch pologische Literaturstudien [28] als Vorarbeiten einer
an den Redner an («erit igitur eloquens [...] is qui in foro künftigen Literaturanthropologie.
causisque civilibus ita dicet, ut probet, ut delectet, ut flec-
tat»; der vollkommene Redner spricht auf dem Forum
Anmerkungen:
und in Zivilprozessen so, daß er beweist, unterhält und 1 Lausberg Hb. § 1 0 , 2 und § 1091. - 2 Q u i n t . XI, 3 , 1 8 2 . - 3 Arist.
beeinflußt[25], Cicero begründet diese Reihung konse- Poet. 2 6 , 6 ; vgl. Lausberg Hb. § 1091. - 4 Quint. XI, 3 , 1 ; vgl. auch
quenterweise psychopragmatisch: «Beweisen ist Sache B. Steinbrink: Art. < A c t i o , in: H W R h , Bd. 1 (1992) Sp. 4 6 - 5 1 . -
der Notwendigkeit, Unterhalten eine Frage des Char- 5Cie. D e or. III, 222; Quint. X I , 3 , 2 . - 6 d e r s . XI, 3 , 1 4 . - 7 e b d . -
mes, Beeinflussen bedeutet den Sieg.») und modifiziert 8 d e r s . XI, 3, 72. - 9 e b d . - lOders. XI, 3, 7 3 - 7 4 . - U d e r s . XI, 3,
ihn im Bereich der rational-logischen, intellektuell ange- 75. - 1 2 ebd. - Í 3 d e r s . X I , 3 , 7 6 . - 14ders. XI, 3 , 7 7 . - l S d e r s . X I ,
legten, auf Einsicht des Zuhörers zielenden Darlegungs- 3 , 7 8 . - 16ders. X I , 3, 79. - 1 7 e b d . - 18ders. XI, 3, 78. - 19ders.
weise (das argumentative probare - beweisen um das X I , 3 , 8 0 . - 20ders. XI, 3 , 8 0 - 8 1 . - U d e r s . XI, 3 , 8 1 . - 2 2 ders. X I ,
3 , 1 5 4 . - 2 3 d e r s . XI, 3 , 1 5 9 . - 2 4 d e r s . III, 5 , 2 . - 2 5 C i e . Or. 2 1 , 6 9 .
instruktive docere = belehren); aber im Bereich des
- 26 Arist. Rhet. I, 2, 4ff. und II; w e g e n der K o n s e q u e n z e n für
Affektiven, der Emotionssteuerung, sind einmütig die G a t t u n g e n ( g e n e r a ) und Stile vgl. Lausberg El. §§ 6 7 - 7 0 ; Laus-
Aspekte des (zweckfreien) Erfreuens (delectare) und des berg Hb. §257; zur Begriffsgesch. vgl. d e n Art. <Affektenlehre>,
(zweckgerichteten) Gewinnens (geneigt Machens, in der in: H W R h , Bd. 1 (1992) S p . 2 1 8 f f . ; als Überblick über die G e s c h .
Gesinnung Verbindenden) (conciliare) einerseits und der Philos, der A f f e k t e vgl. z.B.J. Lanz: Art. <Affekt>, in:
des inneren Bewegens (movere, commovere) und Auf- H W P h , Bd. 1 (1971) 8 9 - 1 0 0 . - 2 7 z u m <Ethos> s. Arist. R h e t . II,
stachelns (concitare) andererseits vertreten. 1 2 - 1 7 und Lausberg H b . § § 1 2 2 6 - 1 2 3 0 , §1185, § 2 5 7 . - 2 8 w e i t
vor der Zeit b a h n b r e c h e n d H. Weinrich: D a s I n g e n i u m D o n
Diese beiden Aspekte - (1) delectare und conciliare Quijotes. E i n Beitr. zur lit. Charakterkunde (1956); für die
sowie (2) movere und concitare - werden schon in ARI- aktuelle Zeit vgl. P. v. Matt: « . . . fertig ist das A n g e s i c h t » ; zur
STOTELES' <Rhetorik> einerseits ( 1 ' ) als sanftere Affekt- Literaturgesch. des m e n s c h l i c h e n Gesichts (1983); M. Albert:
U n a u s g e s p r o c h e n e B o t s c h a f t e n ; zur n o n v e r b a l e n K o m m u n i k a -
stufe, dem besänftigenden Ethos (ήθος, éthos; Charak-
tion in den R o m a n e n Stendhals (1987); J. Starobinski: K l e i n e
ter, Denkweise, ruhiger Seelenzustand, sanfte Sinnesart; Gesch. des Körpergefühls (1987); T. Kleinau: D e r Z u s a m m e n -
affectus mites atque compositi) und andererseits (2') als hang z w i s c h e n D i c h t u n g s t h e o r i e und Körperdarstellung in der
heftigere Affektstufe, dem erregenden Pathos (πάθος, frz. Lit. des 17.-19. Jh. (1990); H. Kalverkämper: Lit. und K ö r -
pàthos; Gemütsbewegung, Stimmung, Leidenschaft, persprache, in: Poetica 2 3 (1991) 3 2 8 - 3 7 3 ; Th. K o c h : Lit. M e n -
Affekt; affectus concitati), unterschieden, die der Redner schendarstellung. Stud, zu ihrer T h e o r i e und Praxis (1991); R .
als Überzeugungsmittel einsetzt, um auf die Gemütsver- Behrens, R. Galle (Hg.): L e i b - Z e i c h e n . Körperbilder, R h e t .
fassung (Emotionen, Affekte) der Zuhörer und und A n t h r o p o l o g i e im 18. Jh. (1993); B. Körte: Körpersprache
Zuschauer parteigünstig einzuwirken. [26] Seine ver- in der Lit. T h e o r i e und G e s c h . a m Beispiel engl. Erzählprosa
(1993); R. B e h r e n s , R. G a l l e (Hg.): M e n s c h e n g e s t a l t e n . Z u r
gleichsweise breit angelegten Ausführungen zum Thema
Kodierung des Kreatürlichen i m m o d e r n e n R o m a n (1995); C.
<Pathos> im Buch II [27] beschäftigen sich mit folgenden Schmauser: D i e <Novelas ejemplares> v o n Cervantes. W a h r n e h -
zehn Affekten, die eine Rolle in normalen Redesituatio- m u n g und Perspektive in der spanischen Novellistik der F r ü h e n
nen spielen: Zorn und Verachtung (II, 2), Besänftigung N e u z e i t (1996); C. B e n t h i e n : Im L e i b e w o h n e n . Lit. I m a g o l o g i e
(II, 3), Freundschaft und Liebe bzw. Feindschaft und Ηaß und historische A n t h r o p o l o g i e der H a u t (1998); R. Krüger:
(II, 4), Furcht und Mut (II, 5), Scham (II, 6), Freundlich- Fare le corna: literary and anthropological considerations o n
keit (Wohlwollen, Gunst) (II, 7), Mitleid (II, 8) und sein the e t y m o l o g y o f an Italian gesture, in: C. Müller, R. P o s n e r
Gegensatz: gerechter Unwille (II, 9), Neid (II, 10), Rivali- (Hg.): T h e semantics and pragmatics of everyday's gestures
tät bzw. Eifersucht (II, 11). Seine Hinweise beziehen sich (2000).
allerdings nicht auf mimische Manifestationsweisen,
wenngleich praktisch alle diese Affekte sich primär über
IV. M. in den Wissenschaften. 1. Inhalte, Disziplinen,
das Gesichtsverhalten vermitteln.
Methoden. Was die Künstler - Maler, Bildhauer, Redner,
Dennoch liegt hier die erste Persönlichkeitspsycholo- Literaten, Schauspieler - an sich und den Mitmenschen
gie des Abendlandes (gegenüber den außereuropäischen erkannt und dargestellt haben, wird erst ab der zweiten
Entwürfen des Altertums, so der ostasiatischen Philoso- Hälfte des 19. Jh. in modernem Sinne wissenschaftlich
phie [Laotse, Konfuzius]) vor, die aus den rhetorischen untersucht.

1341 1342
Mimik Mimik

(a) Seitdem - wenngleich in Anknüpfung an die Erfah- gelegt durch die Bindung an das Verhalten des Men-
rungen der antiken Rhetorik und ihrer Tradition (s.o.B. schen, und hier insbesondere durch den Begriff der
III.) sowie ihrer theatralischen Verwertung (s. ο. Β. II. 2.) <Emotion>.
- gilt die M. von Tier und Mensch als ein Kommunika- 2. M. und Emotionen. Zentral dürfte die Rolle der
tionsmittel zwischen Partnern, als äußerlich-körperliche Emotion sein. Sie ist ein komplexes Muster von Prozes-
und somit öffentliche Kundgabeweise der eigenen sen, das physiologische Erregung (neurale, hormonale,
Befindlichkeit an wahrnehmende und interpretierende viszerale und muskuläre Veränderungen), Gefühle
Gegenüber sowie als Appellform an den Kommunika- (affektiver Zustand wie <gut / schlecht oder spezielle
tionspartner und somit Steuerungsmittel seiner (antizi- Disposition wie <Freude> oder <Ekel>), kognitive Pro-
pierten, potentiellen) Reaktion. zesse (Interpretationen, Erinnerungen, Erwartungen)
(b) Diese funktional definierende Beurteilung ergibt und Verhaltensweisen (Weinen, Lächeln, zu Hilfe
sich aus Zentralfragen, die die Zusammenhänge von Rufen) einschließt, «die in Reaktion auf eine Situation
Verhalten, Handeln, Kommunikation, Körper themati- auftreten, welche ein Individuum als persönlich bedeut-
sieren: (1) Persönlichkeit und Verhalten, (2) individuel- sam wahrgenommen hat.» [9]
les und soziales Verhalten, (3) biologische Grundlagen Wenngleich die Emotionen als körperganzheitliche
des Verhaltens, (4) Zeichenstatus, Repertoire und Zei- Anzeichen kundgetan und auch so wahrgenommen und
chenverbund (Sequenzialität) [1] des mimischen Aus- interpretiert werden, hat doch der Gesichtsausdruck, die
drucksverhaltens bei Emotion(alität). M., dabei die zentrale Rolle inne. Er gilt als direkte Mög-
(c) Sie markieren die komplexen Problemkreise, die lichkeit, Emotionen zu zeigen: die M. folgt der emotiona-
sich für Disziplinen herauskristallisiert haben wie (1) len Disponiertheit, den inneren Gefühlsbewegungen
Ethologie (oder Verhaltensbiologie), insbesondere mit (Rückmeldungsfunktion).
ihrem Evolutionskonzept [2]; (2) Wahrnehmungs-, Kom- (a) Diese Zusammenhänge, die aber auch mit dem
munikations-, Emotions-, Persönlichkeitspsychologie Versuch hinterfragt werden, die Anatomie vor die Emo-
(hier insbes. die Theorie der Gestalteigenschaften / Kon- tionen zu setzen (J. Waynbaum, R. Zajonc) [10], haben
stitutionstypen und die Temperamentenlehre) [3] und die Evolutionstheorie und die Ethologie (Verhaltensfor-
Kulturpsychologie [4]; (3) diese beiden Wissenschaftsbe- schung) schon seit ihren Anfängen (CH.R. DARWIN,
reiche (1) und (2) lassen sich integrieren unter dem Eti- 1809-1882) funktional interpretiert: Darwin untersucht
kett <Psychobiologie> [5]: sie beschäftigt sich mit der Evo- die Frage nach den Ursachen spezifischer Gesichtsaus-
lution, den Funktionen und den Kulturfaktoren des Ver- drücke (z.B. weit aufgerissene Augen und angehobene
haltens, somit auch der Kommunikation und der sozialen Augenbrauen und leicht geöffneter Mund bei Überra-
Ordnung; (4) Semiotik[6]; (5) Anthropologie und Kul- schung)); er erklärt in seinem 1872 erschienenen Werk
turanthropologie; (6) außerdem auch: Translationswis- <The expression of emotions in man and animals> [11] die
senschaft (speziell Dolmetschwissenschaft) [7], Kunstge- Emotionen - wie Freude, Furcht, Ärger oder Abscheu/
schichte, Portraitistik, Theaterwissenschaft, Medienwis- Ekel (s.u. (c)) - als phylogenetisch entwickeltes Mittel
senschaft, Literaturanthropologie, Interkulturelle Wirt- zum Überleben. Daß bestimmte Situationen Emotionen
schaftskommunikation, Verhandlungsrhetorik, Journa- bewirken, die ihrerseits mit ihnen gekoppelte Verhal-
lismus (bestimmte Textsorten der Berichterstattung, z.B. tensweisen des Körpers veranlassen (z.B. Übergriff auf
bei spektakulären Gerichtsverfahren). Territorium erzeugt die Emotion <Wut> als körperliche,
(d) Man darf somit M. als ein inzwischen interdiszipli- physiologische Vorbereitung auf den Verteidigungs-
kampf), läßt sich, laut Darwin, aus drei zusammenhän-
när interessierendes Phänomen einschätzen (was natur-
genden Erklärungsprinzipien ableiten:
gemäß für das übergeordnete Phänomen <Körperspra-
che> erst recht gilt [8]), hier insbesondere unter folgenden (1) Prinzip der zweckdienlichen assoziierten Gewohn-
Aspekten: (1) Analyse als mit wissenschaftlichen Krite- heiten («principle of serviceable associated habits»):
rien erarbeitete Segmentierung und Sequenzialisierung Expressive Bewegungen gehen auf Verhaltensweisen
mimischer Abläufe unterschiedlicher Größenordnung zurück, die zu einem nutzbringenden Ziel führten, das,
(von einzelner Aktion wie <Stirnrunzeln> zu Verhaltens- war es erreicht, zu einer Reduktion des Bedürfnisses
einheiten im Gesicht wie <Blickkommunikation> (s. u. B. führte, was wiederum eine entsprechende Empfindung
IV. 4.): also Reduzierung wahrgenommener Komplexi- mit sich brachte; durch Wiederholungseffekt verband
tät im Gesicht auf kommunikativ bedeutsame Elemente sich dann allmählich die Verhaltensweise aufs engste mit
und ihre Beziehungen); (2) Zeichenstatus (Ausdrucks- den (ihren) Empfindungen; aus dem so durch Erfahrung
Inhalts-Relation; Zuweisung von Bedeutungen; vor Erlernten entstand ein genetischer Code, der mit der
allem für die Semiotik interessant); (3) Wirkungspoten- Fortpflanzung weitergegeben wurde: Emotion und Ver-
zen (steuernde Einwirkung auf das reaktive Verhalten haltensweise werden fest assoziiert. - (2) Prinzip des
des Gegenüber; dies ist ein besonders attraktiver Refle- Gegensatzes («principle of antithesis»): In Folge zu (1)
xionsbereich für Rhetorik, Ethologie und Sozialpsycho- entsteht die zu einer solchen festen Assoziation konträre
logie) sowie (4) Vermittelbarkeit (Lehre und Lernen des Emotion in auch entsprechend entgegengesetzten Ver-
mimischen Ausdrucksrepertoires, Didaktisierung unbe- haltensweisen, wobei diese Assoziation dann nicht mehr
wußter oder normorientierter körperlicher - hier spe- eigens gelernt wird; so ist z.B. das mimische Verhaltens-
muster bei <Trauer> - Mund, Mundwinkel, Stirn, Augen-
ziell: gesichtskommunikativer, also mimischer - Verhal-
brauen - analog konträr zu dem bei <Freude>. - (3) Prin-
tensmuster); dies ist wichtig in intrakulturellen, gesell-
zip der direkten Wirkungen des Nervensystems («princi-
schaftsinternen Beziehungen, es ist aber dringend not- pie of direct action of the nervous system»): Bei spezifi-
wendig in interkulturellen, gesellschaftenübergreifenden schen Emotionen werden Nervenregionen in bestimm-
Beziehungen. ten Gesichtsregionen besonders gereizt, was sich im Aus-
Die anzustrebende Interdisziplinarität als wissen- drucksverhalten umsetzt (Wut - Zusammenpressen der
schaftliche, hier speziell methodologische Antwort auf Zähne; innere Anspannung - Erröten; u.a.); diese
ein komplexes Analysefeld wie <Gesicht> wird wohl die physiologischen Zusammenhänge zwischen Ner-
(Human-) Ethologie als Leitdisziplin akzeptieren, nahe-

1343 1344
Mimik Mimik

ven(system), Erregungszustand (engl, arousal) und deutlichsten offenbaren. Gerade hieraus wird auch für
expressivem Verhalten mit Körperteilen bzw. Gesichts- die menschliche M. zwar der ganzheitliche Eindruck (das
regionen oder -Organen werden auch in der modernen Mienenspiel) betont, aber doch gegebenenfalls auf eine
Ethologie anerkannt, indem sie die emotionalen Aus- mögliche funktionale Trennung in den kommunikativen
drucksweisen des Gesichts als genetisch programmiert Augenbereich und Mundbereich Wert gelegt.
erklärt. [12] Die Ausdrucksbewegungen des Menschen Die These, daß Emotionen sich entwickelt hätten, um
liegen entwicklungsgeschichtlich in einer Linie mit das Lebewesen zu veranlassen (zu motivieren), die
bestimmten zweckgerichteten Bewegungen der Tiere; neuen Anforderungen adaptiv zu bewältigen, und daß sie
die Ähnlichkeiten sind nur mit der Evolution zu erklären. somit als die primären motivierenden Kräfte menschli-
So zeigt Darwin neben vielen anderen Fällen des chen Handelns [19] gelten können, findet auch heute
Gefühlsausdrucks, daß z.B. (1) das menschliche Stirn- noch ihre Akzeptanz in der Emotionspsychologie [20]
runzeln - eine M., die entsteht, wenn der Mensch mit und in der Sozialpsychologie [21] sowie in der Kunst- und
einem Problem zu «kämpfen» hat (dies ist schon eine Kulturgeschichte. [22] Mit dieser Meinung postuliert
Metapher jenes Urhandelns) - auf die durch Stirnrun- Darwin die Angeborenheit von Emotionen (anlagebe-
zeln entstehende Schutzverdickung der Augen beim dingt), nicht deren Erlernen aus Erfahrung oder Anlei-
kämpfenden Tier zurückzuführen ist; - oder (2) die M. tung (umweltbedingt).
des weinenden Menschen: sie leitet sich ab aus der (b) Das Zeigen von Emotionen ist an die körperlichen
Gesichtshaltung des Wimmerns oder Schreiens mit ent- Möglichkeiten gebunden: die starke Differenzierung der
blößten Zähnen bei Primaten (Schimpansen); - (3) das Gesichtsmuskeln des Menschen gegenüber anderen, ein-
Spielgesicht (sog. entspanntes Mund-offen-Gesicht>; fachen Lebewesen ermöglicht auch eine hohe Variabili-
engl, relaxed open mouth display) des Menschen [13] tät der emotionalen Verhaltensweisen im Gesicht [23];
zeigt überzeugende Analogien zum Gesichtsverhalten die M. ist so nicht den wenigen schematischen, sondern
des spielerisch balgenden Nachwuchses verschiedener den variabel auftretenden Situationen flexibel und nuan-
Affenarten: sie äußern keine Laute und entblößen nicht ciert angepaßt (vgl. Abb. 1). [24] Der Emotionsausdruck
die oberen Schneidezähne; - (4) das Schmollen als ist also von den organischen Gegebenheiten abhängig;
Aggressionshemmer [14]; - (5) das Lächeln, das ja eine außerdem hängt er mit der körperlichen Entwicklung
entwaffnende, beruhigende, unbedrohliche, freundlich- zusammen: So entsteht z.B. das Lächeln bei den Säuglin-
keitsstiftende Wirkung, eine Kontaktbereitschaft aus- gen aller Kulturen erst nach dem Ausbau der dafür not-
strahlt, geht auf das Furchtgrinsen zurück, das Primaten wendigen Nervenbahnen mit ihren Myelinschichten, d.h.
aufsetzen, um in Unterlegenheitssituationen den Partner etwa ein bis zwei Monate nach der Geburt. [25] Prinzi-
zu beschwichtigen und keine Aggressionshandlung her- piell wird die M. des Menschen «vom limbischen System
aufzubeschwören; - (6) Lachen dagegen ist «nicht angst- und dem Neocortex kontrolliert. Bei Verletzungen der
motiviert, sondern draufgängerisch-freundlich aggres- Hirnrinde kann die Willkürmimik wegfallen, die spon-
siv» [15] (Auslachen). Lachen wird im übrigen - in tane Stammhirnmimik kann dabei durchaus erhalten
Gegenwart anderer Menschen - begleitet von einem bleiben. [...] Die Fähigkeit, die Emotionalität der Mimik
Furchtsignal, einer Geste mit Defensionsfunktion, näm- zu erfassen bzw. emotionell auf sie anzusprechen, ist in
lich dem (wiederholten) Hochziehen (und nach vorne der rechten Hirnhälfte lokalisiert.» [26]
Strecken) der Schultern (vgl. «sich schütteln vor (c) Die These von der Angeborenheit von Emotion
Lachen», «vor Lachen beben»): dies zeigt, daß für das wird kaum bestritten, allerdings ist die zugehörige M. im
Empfinden des Menschen mit Komischem und Humor einzelnen nicht immer unstrittig (so wird <Ekel> und das
auch Furcht und Erschrecken verbunden sind, woraus von ihm veranlaßte <Ekel-Gesicht> auch als abhängig
man zwar erleichtert lachend herauskommt (deshalb das vom Lebensalter und vom kulturellen Lernumfeld einge-
wiederholte Heben und Senken der Schultern, die bei schätzt). R. PLUTCHIK unterscheidet acht prinzipielle
wirklich berechtigter Angst oben blieben), aber die angeborene Emotionen, eingespannt in vier gegensätzli-
Schulterhaltung beschützt immer noch vor einem imagi- che Paarungen: Freude und Traurigkeit; Furcht und Wut]
nären Schlag oder Angriff. [16] Das Lachen als emotio- Überraschung und Vorahnung; sowie Akzeptanz und
nale Gesichts-Laut-Äußerung ohne körperlich-nervliche Ekel. Sie sind ihrerseits eingebunden in ein Kreis-Modell
Reizung («Kitzeln») gehört zu den Spezifika der conditio der «Dimensionen der Emotionen». [27] Alle anderen
humana [17], und so verwundert es nicht, daß es von ver- Emotionen sind demnach Mischungen dieser grundle-
schiedenen Disziplinen in je eigener Weise zum Refle- genden acht. Von diesen Grundemotionen manifestieren
xionsgegenstand erhoben worden ist, was eine reiche und sich sechs zentral über die M., mit denen Menschen ihre
auch kontroverse Tradition in der (hier: abendländi- Befindlichkeit über das Gesicht ausdrücken und die von
schen, aber sicher auch universalen) Kulturgeschichte den Mitmenschen entsprechend auch stabil gedeutet
herausgebildet hat: beteiligt sind vor allem die Philoso- werden und folglich «als natürliche Einheiten ausgewie-
phie, Temperamentenlehre, Literatur(wissenschaft) sen sind», wobei es allerdings auch Alternativvorschläge
(mit entsprechendem Gattungsarsenal, allen voran der gibt, oft über andere methodische Ansätze erarbeitet, die
Komödie), Kunst(wissenschaft), Rhetorik, Theologie, (ähnliche oder mehr) Emotionen festlegen oder aber
Erziehung und Bildung (Konversationsbücher, Benimm- prinzipielle Dimensionen (wie Aufmerksamkeit vs.
vorschriften, Verhaltenskodizes, Höflichkeitsrituale), Zurückweisung* oder <positive vs. negative Emotionen))
Soziologie, Humorforschung, Ethologie, Anthropologie zugrunde legen. [28]:
oder Semiotik. [18] (1) Freude / Glück / Fröhlichkeit - (2) Traurigkeit /
So dürfte die menschliche M. ihre genetische Ver- Trauer- (3) Furcht / Angst - (4) Wut / Zorn / Ärger - (5)
wandtschaft mit Verhaltensweisen der Tiere - hier zeigt Überraschung / Erstaunen - (6) Ekel / Abscheu; diese
sich die Homologie mit den Menschenaffen und anderen Liste der als universell geltenden, genetisch determinier-
Primaten am eindringlichsten - und deren gesichtskom- ten Emotionen des Menschen ist inzwischen um eine
munikativen Organisationsformen des sozialen Um- siebte erweitert worden: (7) Verachtung [29] (vgl. Abb. 2
gangs bei aller evolutionären Veränderung noch am und 3).

1345 1346
Mimik Mimik

horizontale Stirnfalten

Stirnmuskel der Stirnglatze


Deckfalte
Runzier der Stirnglatze Oberlidfalte
Baufett der Schläfengrube
Horizontalfalte der Stirnglatze
Herabzieher der Stirnglatze Krähenfüße
Augenhöhlenfett
mittlerer Nasenlippenheber Unterlidfalte

Lid-Wangen-Furche
Nasenmuskel

äußerer Nasenlippenheber
Eckzahnmuskel Nasenflügelfurche
Fett der Jochbeingrube
kleiner Jochbeinmuskel Baufett zwischen Kieferast und
großer Jochbeinmuskel Nasen-Uppenfurche
Baufett zwischen Kieferast und Kopfwender
Trompetermuskel
vordere Wangenfurche
Lachmuskel
Trompetermuskel Mundwinkellinie
Ringmuskel des Mundes
Bogen des Viereckmuskels der Unterlippe
Dreieckmuskel des Mundes
Viereckmuskel der Unterlippe
Kinnmuskel

Unterkinnfurche
Unterkinnfett

Abb. 1: Muskeln, die die mimische Oberfläche des Gesichts formen

3. Analyseinstrumentarien und -methoden. Im körper- schen Beschreibungen exemplarischer Fälle und Urteile
sprachlichen Ausdrucksrepertoire hat der Gesichtsaus- über die verschiedenen Wirkungsweisen vor. [33] So set-
druck, die M., die zentrale Rolle inne. Dort verläuft zen in diesem Sinne wissenschaftliche Analysen erst im
Kommunikation am effektivsten, sind die Varianz und 19. Jh., mit herausragender Wirkung Darwins (1872), ein:
somit die Bedeutungsbesetzung der sichtbaren Verände- mit theoretischem Konzept, Kriterien und methodischen
rung, die Mienen (oder das Mienenspiel), am differen- Instrumentarien, um die funktionalen Teile der M. zu
ziertesten. Die Primaten steuern noch ihre sozialen Hier- segmentieren, sie in ihren isolierten Sequenzen zu
archien über den emotionalen Ausdruck des Ge- beschreiben, ihnen Bedeutungen zuzuweisen und sie in
sichts. [30] Alle unverzichtbaren nonverbalen Kommuni- ihrer ganzheitlichen Ausdrucksweise, erst recht in
kationsorgane [31] sind ja im Gesicht auf engstem Raum Affekte-Kontexten, zu erfassen. Dabei interessierten
angesiedelt und ermöglichen so ein nuanciertes Zusam- auch die biomechanisch-physiologischen Möglichkeiten
menspiel des Signalisierens an den Partner und eröffnen des Ausdrückens von Emotionen, speziell die funktio-
eine weite, dabei strukturierte Palette des Interpretie- nendifferenzierte Vielfalt der Gesichtsmuskeln (auch im
rens durch den wahrnehmenden Gegenüber, gemein- Kontrast zu den Anlagen bei Tieren, insbesondere der
schaftlich mit stimmlichen Äußerungsweisen; hier zeigt Primaten) - Mienenspiel als Muskelspiel -, womit ein
sich eine emotionsgebundene Beziehung: «die Tatsache, methodisch relativ objektives und somit brauchbares
daß viele mimische Bewegungen, die aufgrund von Emo- Beschreibungsinstrumentarium gefunden zu sein
tionen ausgeführt werden, normalerweise von Vokalisa- scheint, das zwar auch für das Bewegungsverhalten
tionen begleitet sind, deutet auf den Zusammenhang (funktionelle Einheiten) entwickelt worden ist [34], sich
zwischen Mimik und Sprechen hin». [32] aber für die Gesichtsbewegungen als doch deutlich effi-
(a) Während die praktische Rhetorik zwar über eine zienter herausgestellt hat [35]: «Die menschliche Mimik
geschulte Intuition für den Körpereinsatz und eine feine eignet sich für diese Art der Aufzeichnung besonders
Sensibilität für die Wirkung auf den Partner bzw. das gut, da sich die Muskelkontraktionen auf der Gesichts-
Publikum verfügte, schlug sich dieser Erfahrungsschatz fläche deutlich ablesen lassen» (vgl. Abb. 4). [36] Es ver-
nicht so systematisierend in der theoretischen Redelehre hilft dazu, das methodische Problem der impressionisti-
bzw. Anleitungsrhetorik (institutio) nieder; hier herr- schen Begrifflichkeiten aus der Ausdruckspsychologie

1347 1348
Mimik Mimik

(1) (2) (3) ven Gesichtsbewegungen. In Verbindung mit anderen


computergestützten Beschreibungssystemen - so für das
Bewegungsverhalten oder die paraverbalen Äußerungs-
formen [43] - findet es auch in Deutschland weiterver-
wertende Anwendung. [44]
4. Blickkommunikation. Schon C I C E R O hat im Rahmen
seiner Bestimmung «in ore sunt omnia» (vom Gesicht
hängt alles ab) die Augen prädestiniert: «in eo autem ipso
dominatus est omnis oculorum» (im Gesicht selbst herr-
schen aber ganz die Augen vor). Die kommunikative
Gesamtwirkung baut sich über die Beziehungen der drei
verschiedenen Funktionsträger auf: «animi est enim
omnis actio et imago animi vultus, indices oculi» (der
ganze Vortrag ist ja ein Ausdruck des Geistes und sein
Abbild das Gesicht, die Augen seine Zeichen). [45] Mit
(4) (5) (6) den Augen allein kann man Regungen des Gemüts her-
vorbringen, und «es gibt niemand, der das fertigbringt,
wenn er die Augen schließt». [46] Es kommt somit der
Blickkommunikation eine Schlüsselfunktion zu, schafft
sie doch zuerst und allein den kommunikativen Bezug
zum Gegenüber (der seinerseits als ein solcher erst dann
entsteht, wenn er vom Partner angesehen wird); mit der
Blickbrücke wird bestimmt, wer bei der ganzgesichtli-
chen M. als Sender wirkt und wer als Interpretierender
Abb. 2: Grundformen des Gesichtsausdrucks und somit Reagierender gemeint ist: «Öffnen des Gesich-
tes als Zeichen der Zuwendung», «Verschließen des
Gesichtes als Zeichen der Ablehnung». [47] «Tote»,
«leere», starre, maskenhafte Augen irritieren, zerstören
zu vermeiden [37]: diese kondensieren die körperlichen die Kommunikation, lassen aggressiv werden (Anstar-
Bewegungsabläufe (als <Lächeln>, <Lachen>, <Blick>, ren, bis hin zum Drohstarren [48]); verdeckte Augen
<Miene> u.a.) und erfassen die wahrnehmbare Ein- (z.B. maskierte oder dunkel bebrillte Augenpartie, oder
drucksqualität ganzheitlich (als <zornig>, <freudestrah- Balken über den Augen auf Zeitungsbildern) verhindern
lend>, <lächelnd>, <verächtlich> usw.) und komprimieren die Identifizierung und rauben Identität. Dies zeigt sich
beide zu einer Interpretationsformel (Sprechersicht) für auch im Bedecken des Gesichts: z.B. Frauenkleidung in
den Hörer oder Leser [38], der die gemeinte, sprachlich orientalischen Kulturen; Maske mit neuer Identitäts-
umrissene Emotion vor dem Hintergrund seines Erfah- schaffung (s.o. B. II. 3.) bis hin zur Verhüllung des Kop-
rungswissens nachvollziehen soll (als <süßliches fes (Geheimbünde, z.B. Ku-Klux-Klan; Kapuzentracht
Lächeln>, 'abgefeimtes Grinsen>, <haßerfüllter Blick>, bei bestimmten Osterprozessionen, insbesondere im
'freundliche Miene> usw.). mediterranen Kulturbereich; Autodafé der Inquisition
(b) Die Forschungstradition zum mimischen Aus- im Spanien und Portugal des 14./15. Jh.). «Der spre-
drucksrepertoire bei Emotionen [39] zeigt verschiedene chende Ausdruck der Augen ist deshalb wesentlich» [49]
Methoden[40], die (schon von Darwin) angewandt wer- im Blickkontakt. Zudem ist das Auge das einzige Sinnes-
den, um das mimische Kontinuum - Ausdrucksverlauf organ (außer vielleicht noch den Hautsinnen), «das im
(Sender) und linearer mimischer Eindruck (wahrneh- Vollzug seiner Wahrnehmung selbst wahrgenommen
mender Partner) - in seinen (1) relevanten Einheiten werden kann», also neben Sinnesorgan auch Sinnesob-
(wie den mimikgestaltenden Augenbrauen oder den jekt zu sein, was seine zentrale Rolle für die Kommunika-
Mund) und (2) ausdruckstragenden Gesichtspartien (die tion miterklären dürfte. [50]
Segmentierung in die drei Zonen <Stirn>, <Augenbe- Was Cicero anspricht, wird auch in der modernen For-
reich>, cuntere Gesichtshälfte> hat sich seit Mitte der schung (Miremik) im Bereich visuellen Verhaltens (engl.
sechziger Jahre etabliert [41]) sowie den (3) kommunika- visual behavior) oder, dieses Verhalten enger, nämlich
tiven Sequenzen (die z.B. ein <Lächeln> von einem im Sinne des Handelns, verstanden [51]: in der visuellen
<Lachen> abgrenzen) zu erfassen: Beurteilungen von Interaktion (engl, visual interaction) und, noch spezifi-
gestellten oder natürlichen Gesichtsphotographien und scher: in der Augenkommunikation bzw., die Aktion der
Filmausschnitten, Befragungen, Experimente mit Kom- Augen herausstellend: in der Blickkommunikation, aus-
mutationsproben der verschiedenen Gesichtsteile einandergehalten:
(Augenbrauen, Mund, u.a.) zur Beurteilung der Mimik- (a) das Anblicken (engl. gaze[52]), bei dem eine
bedeutungen, mimikbezogene Beobachtungen von Augen-Reaktion des Partners nicht vorhanden ist oder
Säuglingen und Kleinkindern sowie von Taubblind- nicht erwartet wird; ist dieses von beiden Partnern auf-
Geborenen, Vergleiche von Verhaltensweisen zwischen einander gerichtet, entsteht eine kommunikative Wertig-
Primaten und Menschen, interkulturelle Kontrastierun- keit (die für das Wegblicken als kommunikatives Signal,
gen, aufwendige (maschinelle) analytische Beschrei- z.B. des Desinteresses oder des Erwägens bzw. Überle-
bungs- und Synthetisierungs-Codes wie das seit Beginn gens [«deliberatives Wegblicken»] [53], auch nur dann
der siebziger Jahre in den USA entwickelte Facial Action gegeben ist, wenn zuvor ein gegenseitiges Anblicken
Coding System (FACS) [42] mit numerierten Kodie- [engl, mutual gaze [54]], also Blickkontakt gegeben war):
rungsdimensionen und Muskelaktionen (facial action (b) der Blickkontakt (engl, eye contact) (oder Blickaus-
patterns) bzw. physiologischen Aktionseinheiten (action tausch), der gegenseitiges Anblicken, die Blickbrücke
units) zum mimischen Verhalten, also den kommunikati- mit der Blickerwiderung des Partners und somit eine

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Mimik Mimik

(1) (3)
Die gehobene lebensbejahende Stimmung Der entscheidende Anteil der Formung der
breitet sich über das ganze Gesicht insofern Miene liegt im Bereich der Augen, die sich
aus, als sich die Lippen breit öffnen und sich übernormal weit öffnen. Der Mund scheint
die Wangenhaut zu charakteristischer sich für eine Lautgebung «a»! auftun zu
Stauung zusammenschiebt, die hinaufreicht wollen und gibt damit das Unvorher-
bis zu den Augen und den Lidspalt ver- gesehene und nicht Vorausschaubare in
engt. Verbindung mit Furcht zu erkennen.

Die mimischen Zeichen bestehen im


Die nahe beieinanderliegenden Formen der
Klaffen des Mundes, als gelte es, Bitteres
Interessiertheit haben im voll aufgeschlos-
auszuschwemmen durch Hoch- und Herab-
senen Auge ihren sprechendsten Vertreter.
ziehen der Mundwinkel, im Rümpfen der
Das Mitöffnen des Mundes zeigt die gleich-
zeitig willentliche Erschlaffung dieser Zone Nase mit Querfaltung über der Nasenwurzel
und in abwehrender Verkleinerung des Lid-
an und damit den Mangel an unbedingter
Handlungsbereitschaft. spaltes. Eine Miene, die praktisch das ganze
Gesicht erfaßt.

Abb. 3: Beispiele und Erklärungen zu einigen Gesichtsausdrücken

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Mimik Mimik

Abb. 4: Schematische Darstellung des (als Beispiel) erschreckten Gesichtsausdrucks «F2» (nach C. H. Hjortsjö [102]), der sich als
ganzheitlicher Eindruck aus Kontraktionen mehrerer Gesichtsmuskeln (1 + 2, 4, 18 + 19, hier jeweils ohne medizinische Termini)
zusammensetzt

prinzipielle Kommunikativität meint; gegenseitiges Ziel tierte, schizophrene, depressive Personen, u.a.), (6) seine
des Ansehens sind die Augen des Partners, mit dem Zeichenhaftigkeit in den interpersonalen Beziehungen
orientierenden Blickpunkt <Pupillen>, deren qualitativ (Expressivität [Symptom], die sich - experimentell mit
einschätzende Wahrnehmung - wie man experimentell Augenbildern, isoliert vom übrigen Gesicht, erwiesen -
nachweisen kann - mit ihrer Größe und mit dem recht stabil als Emotion der Freude, der Überraschung,
Geschlecht des Sehenden zusammenhängt [55] (das der Verärgerung u.a. mitteilt [59]; Appellativität [Signal]
Ansehen anderer Gesichtsbereiche wirkt irritierend, zu bei Einstellungen wie Sympathie, Aggression, Dominanz
langes Ansehen von Körperteilen außerhalb des oder Intimität [60]; Informativität [Symbol] [61]), (7)
Gesichts während der verbalen Kommunikation wird im seine Orientierungsfunktion in Beziehungen (augenge-
abendländischen Kulturkreis als störend, als Weg- leitete Zuwendung in der Gesicht-zu-Gesicht-Kommu-
schauen, als unhöflich oder als Unsicherheit des Partners nikation zwischen Mutter und Kind, physiologisch ange-
empfunden). legt [62]).
Natürlich läßt sich die prinzipielle Dualität von
<Anblicken> und <Blickkontakt> auch in eine Intensitäts- Anmerkungen:
skala des Blickverhaltens bringen: mit dem (1) Blickkon- l z u dieser Systematik vgl. H. Kalverkämper: Art. <Körperspra-
takt als stärkster Manifestation der Blickkommunikation che>, in: HWRh, Bd.4 (1998) Sp.l346f. (Abschn. B.2.). - 2vgl.
(gegenseitig in die Augen), dann abnehmend (2) gegen- z.B., Bd. D. Franck: Verhaltensbiologie. Einf. in die Ethologie
( 2 1985). - 3vgl. z.B. J.B. Asendorpf: Psychol, der Persönlich-
seitiger Blick (ins Gesicht), (3) einseitiger Blick (was dem keit. Grundlagen (1996) Kap. 4. - 4erste systematische Orien-
<Anblicken> entspricht), (4) Blickbewegung / Blickwech- tierung z.B. bei H. Benesch: dtv-Atlas zur Psychol. Tafeln und
sel, (5) Blickunterlassung (eines Partners), (6) Blickver- Texte. 2 Bd. ( 6 1997). - 5 hierzu K. Immelmann, K.R. Scherer,
meidung (Wegblicken eines Partners), (7) gegenseitige Chr. Vogel, P. Schmoock: Psychobiologie. Grundlagen des Ver-
Blickvermeidung. Diese Typologie kann man noch ver- haltens (1988); vgl. auch K.R. Scherer, A . Stahnke, P. Winkler:
feinern zu einer «umfassenderen Taxonomie der Blick- Psychobiologie. Wegweisende Texte der Verhaltensforschung
kommunikation» [56], wie sie als «Ausdrucksrepertoire von Darwin bis zur Gegenwart (1987). - 6 vgl. z.B. P. Ekman,
W.V. Friesen: The repertoire of nonverbal behavior: Catego-
des Auges» vorliegt. [57] ries, origins, usage, and coding, in: Semiotica 1 (1969) 49-98; W.
Der Blickkontakt hat eine hohe soziale Funktion inne, Nöth: Hb. der Semiotik (1985) Kap. IV, 329-338; Ν. Galley: Die
und viele soziale und kulturelle Variablen bestimmen die Organisation von Augenbewegungen: Fallstudie einer mehrka-
Ausprägung des Blickkontakts [58], (1) seine Intensität, naligen Semiose, in: R. Posner, K. Robering, Th.A. Sebeok
(2) seine Häufigkeit, (3) seinen alters- und generationen- (Hg.): Semiotik / Semiotics. Ein Hb. zu den zeichentheoreti-
abhängigen Einsatz, (4) die sexusspezifische Blickweise, schen Grundlagen von Natur und Kultur (1997) 330-344; R.
(5) das typenbestimmte Vorkommen (intro-/extrover- Luccio: Body behavior as multichannel semiosis, in: ebd. 345-

1353 1354
Mimik Mimik

356. - 7vgl. H. Kalverkämper: Translationswiss. als integrative 192. - 35 bekannt und von Darwin methodisch verwertet: der
Disziplin, in: H. Gerzymisch-Arbogast, D. Gilè, J. House, Α. frz. Neurologe G.B. Duchenne: Méchanisme de la physiogno-
Rothkegel (Hg.): Wege der Übersetzungs- und Dolmetschfor- mie humaine (Paris 1862); C.H. Hjortsjö: Man's face and mimic
schung (1999) 55-76. - 8s. Kalverkämper [1], - 9Ph. G. Zim- language (Malmö 1969); Eibl-Eibesfeldt [13] 628-633; vgl. zu
bardo: Psychol., dt. Übers. (51992) 380. - 10 s. ebd. 394. - 11 Er- FACS: P. Ekman, W.V. Friesen, Ph.C. Ellsworth: Emotions in
stausg. 1872; dt. Übers, von J.V. Carus: Der Ausdruck der the human face. Guidelines for research and an integration of
Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Thieren findings (New York 1971); P. Ekman, W.V. Friesen, S.S. Tom-
(1872). - 1 2 z . B . mit großer Wirkung P. Ekman: Universals and kins: Facial affect scoring technique: A first validity study, in:
cultural differences in facial expressions of emotion, in: J. Cole Semiotica 16 (1971) 37-58; P. Ekman, W.V. Friesen: The facial
(Hg.): Nebraska Symposium on Motivation 1971 (Lincoln 1972) action code: A manual for the measurement of facial movement
207-283; vgl. auch R.J. Andrew: Vom Ursprung des Gesichts- (Palo Alto, Cal. 1978). -36Eibl-Eibesfeldt [13] 162; Abb.4 ebd.
ausdrucks [1965], in: K.R. Scherer, H.G. Wallbott (Hg.) Non- S.628f. - 37vgl. z.B. Th. Piderit: M. und Physiognomik (1867
verbale Kommunikation (21984) 43-50; C.E. Izard: The face of [41925]) 42-52; Ph. Lersch: Gesicht und Seele. Grundlinien
emotion (New York 1971); P. Ekman (Hg.): Darwin and Facial einer mimischen Diagnostik (1932 [61966]) 40-81; K. Leon-
Expression (New York, London 1973); P. Leyhausen: Die phy- hardt: Der menschliche Ausdruck in M., Gestik und Phonetik
logenetische Anpassung von Ausdruck und Eindruck, in; Sche- (1976) 120-136. - 38vgl. H. Kalverkämper: Lit. und Körper-
rer, Stahnke, Winkler [5] 202-220. - 13vgl. I. Eibl-Eibesfeldt: sprache, in: Poetica 23 (1991) 328-373. - 39 vgl. als Überblicks-
Die Biologie des menschlichen Verhaltens (31995) 191-194. - darstellungen z.B. R.G. Harper, A.N. Wiens, J.D. Matarazzo:
14s. ders.: Der vorprogrammierte Mensch (51984). - 15 ders. Nonverbal Communication: The State of the Art (New York
[13] 193; vgl. auch 628. -16vgl. D. Morris: Körpersignale. Body- 1978); Wallbott [28]; Nöth [6]; Eibl-Eibesfeldt [13] Kap. 6.3.1.1.
watching (1986) Kap. <Schultern>, spez. 132f., 136. - 17s. aller- - 40vgl. K.R. Scherer, P. Ekman (Hg.): Handbook of methods
dings Eibl-Eibesfeldt [13] 191, Abb.3.17. - 18nur auswahlweise in nonverbal behavior research (Cambridge/ London/ New
bibliogr. Hinweise, jeweils mit spezifisch weiterführenden Lite- York 1982). - 41T. Nummenmaa: The Language of Face
raturangaben: H. Plessner: Ges. Sehr. VII: Ausdruck und (Jyväskylä 1964); Ekman, Friesen, Tomkins [35], - 42Ekman,
menschliche Natur (1982) Aufs. 6 u. 9; K.-J. Kuschel: Lachen. Friesen, Ellsworth [35]; P. Ekman, W.V. Friesen: Unmasking
Gottes und der Menschen Kunst (1994, ND 1998); L. Fietz, J.O. the face (Englewood Cliffs, N.Y. 1975); Ekman, Friesen [35];
Fichte, H.-W. Ludwig (Hg.): Semiotik, Rhet. und Soziol. des Kurzorientierung bei Wallbott [28] 40 oder Eibl-Eibesfeldt [13]
Lachens. Vergleichende Stud, zum Funktionswandel des 630-640. - 43 vgl. Kalverkämper [1], - 44vgl. S. Frey: Die non-
Lachens vom MA zur Gegenwart (1996); St. Köhler: Différen- verbale Kommunikation (1984). - 45Cic. De or. III, 221. -
tes Lachen. Funktion, Präsentation und Genderspezifik der 46ebd. - 47Eibl-Eibesfeldt [13] 637; Cie. De or. III, 221. -
Ridicula im zeitgenössischen engl. Roman (1997); P.L. Berger: 48 Eibl-Eibesfeldt [14] 133f.; ders. [13] 528-533. - 4 9 Cie. De or.
Erlösendes Lachen. Das Komische in der menschlichen Erfah- III, 221. - 50 H. Wallbott: Einf. zum Kap. <Blickkontakt>, in:
rung (1998). - 19s. dazu S.S. Tomkins: Affect, imagery, conscio- Scherer, Wallbott [12] 59-63, hier 59. - 51 vgl. dazu die Stufung
usness. Vol. 1 (New York 1962); s. auch ders.: The quest for pri- des Handelns in: Kalverkämper [1] Sp. 1340. - 5 2 vgl. M. Argyle,
mary motives: Biography and autobiography of an idea, in: R. Ingham, F. Alkema, M. McCallin: The Different Functions
Journal of Personality and Social Psychology 41 (1981) 306-329. of Gaze, in: Semiotica 7 (1973) 19-32. - 53 s. dazu K. Ehlich, J.
- 20vgl. z.B. Izard [12]; G. Mandler: Mind and emotion (New Rehbein: Augenkommunikation. Methodenreflexion und Bei-
York 1975); R. Plutchik: Emotion: A psychoevolutionary syn- spielanalyse (Amsterdam 1982) Kap. 6. u. 7. - 54 M. Argyle, M.
thesis (New York 1980); Tomkins [19]; P. Ekman: Expression Cook: Gaze and mutual gaze (Cambridge 1976). - 55S.M.
and the nature of emotion, in: K.R. Scherer, P. Ekman (Hg.): Anstis, J. E. Mayhew, T. Morley: The perception of where a face
Approaches to emotion (Hillsdale, NJ 1984) 319-343; H. or television «portrait» is looking, in: American Journal of Psy-
Leventhal: A perceptual motor theory of emotion, ebd. 271- chology 82 (1969) 474-489; Eibl-Eibesfeld [13] 622ff. - 56Noth
291; P. Ekman: Gesichtsausdruck und Gefühl (1988). - 21 vgl. [6] 336. - 57Ehlich, Rehbein [52] Kap.5., mit Aufarbeitung der
R. Sennett: The Fall of Public Man (New York 1974), dt. einschlägigen Forschungslit. bis Anfang der achtziger Jahre. -
Übers.: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyran- 58 vgl. Ph.C. Ellsworth, L.M. Ludwig: Visuelles Verhalten in
nei der Intimität (101999); D. Riesman, R. Denney, N. Glazer: der sozialen Interaktion [1972], in: Scherer, Wallbott [12] 64-86;
The lonely crowd - A study of the changing American character M. Argyle: Bodily communication (London 1975); Wallbott
(New Haven 1950), dt. Übers.: Die einsame Masse. Eine [49] 62f.; Nöth [6] 335. - 59Nummenmaa [41] 26, 46; Argyle,
Unters, der Wandlungen des amerikanischen Charakters. Mit Cook [54] 94f.; Ekman, Friesen [42] 21ff. - 60Argyle, Cook
einer Einführung v. H. Schelsky (1956) und J. Habermas: Struk- [54]; Harper, Wiens, Matarazzo [39] 189-215. - 61 bezogen auf
turwandel der Öffentlichkeit. Unters, zu einer Kategorie der das Organon-Modell von K. Bühler: Sprachtheorie. Die Dar-
bürgerlichen Ges. (1961; ND 1990). - 22dazu F. Saxl: Die Aus- stellungsfunktion der Sprache. Mit einem Geleitwort von F.
drucksgebärden der bildenden Kunst [1932], in: A.M. Warburg: Kainz (21965). - 62Eibl-Eibesfeldt [13] 619, 621.
Ausg. Sehr, und Würdigungen, hg. v. D. Wuttke (31992) 419-
431. - 23s. Eibl-Eibesfeldt [13]. - 24vgl. K.R. Scherer: On the
nature and function of emotion: A component process appro- V. Enkodierung und Dekodierung als Kulturpraxis.
ach, in: Scherer, Ekman [201 293-317; Abb. 1 in: G. Bammes: Das Gesicht gilt in Kulturgeschichte, Rhetorik und Etho-
Die Gestalt des Menschen ('1999) 441. - 25 vgl. Zimbardo [9] logie (hier seit Darwin) als Ausweis der Emotionen und
382. - 26Eibl-Eibesfeldt [13] 663. - 27Plutchik [20], - 28P. als Ort, ihnen primär zu begegnen. Hieran knüpft sich
Ekman: Cross-cultural studies of facial expression, in: P. Ekman
(Ed.): Darwin and facial expression. A century of research in
allerdings die unabwendbare Frage der Dekodierung
review (New York, London 1973) 169-222; Eibl-Eibesfeldt [13] und damit verbunden der Interpretation der wahrge-
663 [Zitat]; s. zu den Alternativen H. Wallbott: Einf. zum Kap. nommenen mimischen Ausdrucksbewegungen.
<Gesichtsausdruck>, in: Scherer, Wallbott [12] 35-42, hier 39. - 1. Intrakulturelle Normen und Interpretationen. Das
29 P. Ekman, W.V. Friesen: A new pan-cultural facial expres- Gesicht als Ort und die M. als Mittel der körpersprachli-
sion of emotion, in: Motivation and Emotion 10 (1986) 159-186; chen Kommunikation unterliegen trotz der körperlichen
Abb. 2 in: T. Landau: Von Angesicht zu Angesicht (1993) 148f.; Präsentation allerdings - wohl gerade wegen ihrer prinzi-
Abb. 3 in: Bammes [24] 438f. - 30vgl. Eibl-Eibesfeldt [14], -
31darüber hinaus vgl. z.B. Eibl-Eibesfeldt [13] Kap. 6.2 und
piellen Öffentlichkeit - einem hohen Maß individueller
6.3.1.2. - 32s. Wallbott [28] 38; Andrew [12], - 33s. B. III. 2. Kontrolle. Diese Normen, Konventionen, Erwartungen
sowie Kalverkämper [1] Sp. 1345. - 34R.L. Birdwhistell: Kine- sollen bei emotional aufgeladenen Situationen die wah-
sics and context. Essays on body-motion communication (Har- ren Gefühle zu verbergen helfen und Interpretationen in
mondsworth, Middlesex 1973); K.R. Scherer, H.G. Wallbott, U. andere, als erträglicher empfundene Bahnen lenken:
Scherer: Methoden zur Klassifikation von Bewegungsverhal- man will über die wirkliche Verfassung hinwegtäuschen
ten. Ein funktionaler Ansatz, in: Zs. für Semiotik 1 (1979) 177— und nicht <das Gesicht verlieren>; das dient der Erleichte-
rung des komplexen sozialen Verhaltens.

1355 1356
Mimik Mimik

(a) Hierbei spielen Darbietungsregeln (engl, display Einschätzung mimischer Gefühlsausdrücke erzeugen die
rules) eine Rolle, die festlegen, in welchen Kontexten es (ältere, seit Darwin gestellte) Frage nach der Angebo-
jeweils sozial angemessen erscheint, bestimmte Gefühle renheit von mimischen Verhaltensweisen.
- welche, wann, wie lange - zu zeigen bzw. zu verber- (a) Sie ist mehrfach an Fällen mit «definierten Bedin-
gen. [1] Ekman nennt dazu vier strukturelle Überfor- gungen des Erfahrungsentzuges» [3], nämlich bei Blind-
mungsprozesse: Abschwächung, Verstärkung, Neutrali- und Taubgeborenen, geprüft worden [4], woraus sich
sierung, Maskierung (d. i. Ersatz durch eine andere Emo- Lächeln, Lachen, Weinen, Angst, Wut (mit senkrechten
tionsangabe). Diese Prozesse der emotionalen Selbst- Stirnfalten und Zusammenbeißen der Zähne) als deutli-
steuerung durch Kontrolle und Überdeckung (um den che emotionale mimische Grundäußerungen ergeben
Begriff der <Täuschung> zu vermeiden) gelten innerhalb haben - wenn auch weniger differenziert als bei Sehen-
einer Gesellschaft - sie werden dort imitiert bzw. erlernt den. Die Liste der sechs oder sieben ethologisch, sozio-
und auch, bei Verstoß, entsprechend sanktioniert - und psychologisch und psychobiologisch erkannten genetisch
finden als persönliche (z.B. undurchsichtiges poker face bestimmten Universal-Emotionen (s. ο. Β. IV. 2. (c)), die
am Spieltisch; Schmerz nicht anmerken lassen) und als über eine lange Evolution aus überlebensnotwendigen
gruppenspezifische Darstellungsregeln (<die Jugend>, Verhaltensweisen (z.B. Zeigen der Zähne durch Lippen-
<die Jungem, <die Frauen>, <die Arzte>, <die Mercedesfah- Öffnen, Augenbrauen-Verdicken, Augen-Aufreißen)
ren usw.) ihren Ausdruck. Sie wirken intrakulturell und abgeleitet und als menschliche M. in neuer Anpassung
liegen - als Phänomen - durchaus nahe an den Klischees, über die Generationen hinweg entstanden sind (s.o. B.
den gedanklichen Mustern, den Vorurteilen, mit denen IV. 2. (a)), setzt als universalistische Hypothese der Ver-
sich der kommunizierende Mensch mentale Erleichte- gleichenden Verhaltensforschung zugleich voraus, daß
rung gegenüber der unübersichtlichen Differenziertheit die Menschen sich emotional gleich oder sehr ähnlich
der Lebenswelt schafft. verhalten und darin dann auch interpretierend in glei-
(b) Eine für die Beurteilung von M. offensichtlich cher Weise verstehen können.
starke intrakulturelle Divergenz gründet in geschlechts- (b) Dieser Auffassung wird von den (anthropologi-
spezifischen Sicht- und Interpretationsweisen: z.B. rea- schen) Vertretern einer relativistischen Auffassung [5]
gieren, experimentell erwiesen, auf die (originale) seitli- mit dem Hinweis auf die Kulturgebundenheit von Kör-
che Kopfhaltung einer Mädchenfigur in einem Picasso- persprache, somit auch des emotionalen Verhaltens in
Gemälde männliche und weibliche Beurteilende recht der M., begegnet; folglich lasse sich M. auch nur als
einhellig mit positiv besetzten Wertungen wie f r e u n d - Erfahrung, als kulturspezifisches Imitat, als erlernte
lich, zärtlich, empfindsam, lieb> u.a.; dagegen divergie- Äußerungsform verstehen. Zum einen ahmen tatsäch-
ren die Beurteilungen einer (durch Montage) aufgerich- lich Säuglinge die ihnen vorgespielten Gesichtsaus-
teten Kopfhaltung des Mädchens außerordentlich: wäh- drücke - wie Erstaunen (geöffneter Mund), Schmollen
rend Frauen die Version positiv werten mit sympa- (vorgestreckte Lippen), Freude (lächelnd geöffnete und
thisch, anteilnehmend, empfindsam, angenehm, zärtlich, geweitete Lippen) u.a. [6] - nach (und belegen damit ihre
freundlich, ehrlich, bescheiden, ruhig, zugewandt, Fähigkeit zum Gesichter Erkennen). Als - ihrerseits
weich, einladend, lieb> (vgl. Abb.5), urteilen hier die auch wieder diskutierte - Erklärung könnte gelten, daß
die Fähigkeit, das Vorbild «im eigenen Verhalten zu
kopieren, und zwar vor individueller Erfahrung», «die
(1) (2) Existenz von Strukturen voraussetzt], die im Grunde
genommen ähnliches leisten, was angeborene Auslöse-
mechanismen bewirken». [7]
(c) Die letzte Aussage kündigt eine Vermittlung zwi-
schen universalistischer und relativistischer Position an.
Die seit den sechziger, verstärkt mit den siebziger Jahren
vorgestellten interkulturellen Analysen - besonders
L λ deutlich in den Blick geraten mit Arbeiten von P.
E K M A N [8] - lassen die Hypothese zu, daß eine «interak-
tionistische» Sichtweise angebracht sein dürfte [9], die
einerseits eine genetische Determiniertheit des mimi-

• Λ
schen Verhaltens annimmt, andererseits die kulturspezi-
fischen Ausformungen dieser Anlagen und deren Erwei-
terung im Rahmen soziokultureller Bedürfnisse einbe-
Abb. 5: Original (1) und Montage (2) zieht: Ekman nennt seinen Entwurf eine neurokulturelle
Theorie der M. [10]
Männer auffallend stark in jeweils gegenteiliger Rich- Hierzu liegt ein Anfang der achtziger Jahre durchge-
tung. Die Schlüsse aus solchen Erkenntnissen sind aller- führter Versuch mit der Fragestellung vor, «inwiefern
dings ebensowenig gezogen wie jene empirisch belegba- kulturell stilisierter Ausdruck (Theatermimik) interkul-
ren Inkongruenzen entsprechend verwertet sind, die turell verstanden wird». [11] Anhand von Mimikphotos
sich über die M. hinaus auch noch für die (divergente) japanischer Kabuki-Schauspieler schätzten japanische
geschlechtsgebundene Wahrnehmung von Gestik und und westeuropäische Probanden deren Ausdrucksgehalt
Haltung in echten Kommunikationssituationen ergeben in einem Fragebogen auf der Basis der sechs Universal-
haben. [2] Hier und hinsichtlich der sozialen Einfluß- Emotionen mit fünf Intensitäten ein. Es treten «mar-
nahme auf Kooperativität und körpersprachliches Ver- kante Unterschiede zwischen Japanern und Europäern
stehen besteht noch weiterer soziopsychologischer For- [...] vor allem beim Deuten der Freude (besonders des
schungsbedarf. Mannes) auf» (vgl. Abb. 6); ansonsten zeigen sich ähnli-
2. Interkulturelle mimische Verhaltensweisen. Die Be- che Deutungen zwischen Japanern und Europäern,
obachtungen zu den intrakulturellen Divergenzen in der wobei «tendenzmäßig» «die Japaner eindeutiger ein[stu-

1357 1358
Mimik Minutio

sen: Pan-cultural elements in facial displays of emotion, in:


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tät des emotionalen Gesichtsausdrucks [1970], in: K.R. Scherer,
H.G. Wallbott (Hg.): Nonverbale Kommunikation (21984)
50-58; Ekman [1]; ders. Cross - cultural studies of facial expres-
sion, in: ders. (Hg.): Darwin and the facial expression. A century
of research in review (New York/London 1973) 169-222; P.
Ekman, W.V. Friesen: Constants across cultures in the face and
emotion, in: Journal of Personality and Social Psychology 17
(1971) 124-129; dies.: A new pan - cultural facial expression of
emotion, in: Motivation and Emotion 10 (1986) 159-186. - 9H.
Wallbott: Einf. zum Kap. <Gesichtsausdruck>, in: K.R. Scherer,
ders. (Hg.): Nonverbale Kommunikation (21984) 41.-10 Ekman
[8] und ders. (Hg.) [8], - 1 1 Eibl-Eibesfeldt [3] 219-226. - 1 2 ebd.
221; Abb. 6 ebd. 225. - 1 3 e b d . - 1 4 E k m a n [1]; vgl. auch Wallbott
[9] 42 und W. Nöth: Hb. der Semiotik (1985) 332 f. - 15 s. dazu
Ekman [10] 229f.

Literaturhinweise:
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Abb. 6: Kulturell stilisierter Ausdruck (Theatermimik) mimische Ausdruck des Denkens (1939). - H. Bergson: Le rire.
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und Gebärden. Analyse des Gebarens (1954). - R. Buser: Aus-
druckspsychol. Problemgesch., Methodik und Systematik der
Ausdruckswiss. (1973). - H. Bouillier: Portraits et miroirs.
fen] als die Europäer». [12] « D a s Spannende an der Études sur le portrait dans l'œuvre de Retz, Saint-Simon, Cha-
Untersuchung v o n Theatermimik liegt darin, daß im teaubriand, Michelet, les Goncourt, Proust, Léon Daudet, Jou-
Gegensatz zur spontanen M. die E l e m e n t e der kulturel- handeau (Paris 1979). - C.E. Izard: Die Emotionen des Men-
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N e b e n e i n a n d e r von Natur und Kultur am Leib selber (1981) (amerikan. Orig.: Human Emotions, New York 1977). -
anschaulich werden.» [13] P. Winkler (Hg.): Methoden der Analyse von Face-to-Face-
Situationen (1981). - H.A. Euler, H. Mandl (Hg.): Emotionspsy-
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chol. Ein Hb. in Schlüsselbegriffen (1983). - J.-J. Courtine, C.
tische Programmierung dürfte mit E k m a n [14] zwar als Haroche: Histoire du visage: exprimer et taire ses émotions; du
physiologisch-neurologische Voraussetzung gegeben XVI e siècle au début du XIX e siècle (Paris, Marseille 1988). - A.
sein, dennoch nutzen die Menschen in ihren Kulturen die Bierach: In Gesichtern lesen. Menschenkenntnis auf den ersten
Gesichtsmuskulatur für ihre affektiven Bedürfnisse in Blick (Genf 1990). - H.G. Wallbott: M. im Kontext. Die Bedeu-
spezifischer Weise. D a b e i können (1) die Ereignisse, die tung verschiedener Informationskomponenten für das Erken-
die E m o t i o n e n auslösen (engl, elicitors), durch Lernpro- nen von Emotionen (1990). - I. Eibl-Eibesfeldt, Chr. Sütterlin:
Im Banne der Angst. Zur Natur- und Kunstgesch. menschlicher
zesse kulturell und individuell unterschiedlicher Art sein;
Abwehrsymbolik (1992). - T . Landau: Von Angesicht zu Ange-
(2) außerdem können Darbietungsregeln (s.o. Β. V. 1. sicht. Was Gesichter verraten und was sie verbergen (1993)
(a)) stark kontrollierenden Einfluß auf die Präsentation (amerik. Orig.: About faces, New York 1989). - H. Kalverkäm-
mimischen Verhaltens ausüben (und entsprechende per: Kultureme erkennen, lehren und lernen. Eine kontrastive
Überwachungstechniken der Gemeinschaft ausprägen); und interdisziplinäre Herausforderung an die Forschung und
(3) schließlich organisieren die Kulturen die Konsequen- Vermittlungspraxis, in: Fremdsprachen Lehren und Lernen 24
zen des emotionalen Verhaltens in jeweils eigener (1995) 138-181. - G. Koch (Hg.): Auge und Affekt. Wahrneh-
mung und Interaktion (1995). - P. Zanker: Die Maske des
Weise. [15]
Sokrates. Das Bild des Intellektuellen in der antiken Kunst
(1995). - E. Bänninger-Huber: M. - Übertragung - Interaktion.
Anmerkungen: Die Unters, affektiver Prozesse in der Psychotherapie (1996). -
lvgl. J.R. Averiii: Emotion and anxiety: Sociocultural, biologi- Y. de Sike: Les masques. Rites et symboles en Europe (Paris
cal, and psychological determinants, in: M. Zuckerman, C.O. 1998). - J. Cole: Über das Gesicht. Naturgesch. des Gesichts und
Spielberger (Hg.): Emotion and anxiety: New concepts, unnatürliche Gesch. derer, die es verloren haben (1999) (ameri-
methods, and applications (Hillsdale, NJ) 87-130; P. Ekman: kan. Orig.: About face, Cambridge/Mass. 1998).
Universale and cultural differences in facial expressions, in: J.
Cole (Hg.): Nebraska Symposion on Motivation 1971 (Lincoln H. Kalverkämper
1972) 207-283; ders.: Gesichtsausdruck und Gefühl (1988). -
2 vgl. Chr. Tramitz: Irren ist männlich. Weibliche Körpersprache -> Actio Affektenlehre -» Chironomie —» Gebärde -> Gestik
und ihre Wirkung auf Männer (1993); Abb. 5 in: S. Frey: Die Körpersprache -» Mimesis -> Nonverbale Kommunikation
nonverbale Kommunikation (1984) 58f. - 31. Eibl-Eibesfeldt: -» Physiognomik -> Pronuntiatio —> Psychologie -> Schauspiel
Die Biologie des menschlichen Verhaltens (31995) 59ff. - 4F.L. Tanzkunst -> Theater
Goodenough: Expression of the emotions in a blind-deaf child,
in: Journal of Abnormal and Social Psychology 27 (1932/33) 328-
333; D.G. Freedman: Smiling in blind infants and the issue of
innate versus acquired, in: Journal of Child Psychology and Minutio (lat. auch diminutio, extenuatio, detractio;
Psychiatry 5 (1964) 171-184; I. Eibl-Eibesfeldt: The expressive griech. μείωσις, meiösis; ταπείνωσις, tapeinösis. -
behavior of the deaf-and-blind-born, in: M. von Cranach, I. Vine
Gegensatz: amplificado / αΰξησις , aùxësis)
(Hg.): Social communication and movement (London 1973)
163-194; ders. [3] Kap. 2.2.1. - 5seit O. Klineberg: Emotional A. Def. - Β. Gesch.: I. Antike - II. Mittelalter. - III. Neuzeit.
expression in Chinese literature, in: Journal of Abnormal and Α . (1) D i e M. (lateinisch auch diminutio[l], ex-
Social Psychology 33 (1938) 517-520. - 6 Forschungsüberblick tenuatio [2], detractio [3]; griechisch μειωσις[4], ταπεί-
bei Eibl-Eibesfeldt [3] 88-93. - 7ebd. 90, mit referierenden Hin- νωσις[5]) ist ein rhetorisches Grundverfahren, welches
weisen zur Diskussion. - 8 P . Ekman, E.R. Sorenson, W.V. Frie- die Wirkung einer R e d e auf die Zuhörer dadurch zu stei-

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