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Entstehung 77

sowohl seine Unruhe, seinen »Aufruhr« mit, wie falsche Personifikationen durchschaubar macht
er auch dort, - eben weil es nicht um den einzelnen (als Verdinglichungen) sowie richtige Personifika-
geht, sondern um das vorbildliche Erkennen ge- tionen (als kollektives Verhalten zum Umsturz der
sellschaftlicher Verhältnisse und ihnen angemesse- Verhältnisse) aufbaut. Brechts Sprache bringt die
nes Verhalten - wo er gewesen ist, Unruhe hin- Verhältnisse zum Sprechen, indem er ihre wider-
terläßt. Er hat sich - und nur so auch ist »er« da - sprüchlichen Prozesse als Prozesse vorführt und
gesellschaftlich mitgeteilt im Sprechen, im Verhal- auf das ihnen entsprechende menschliche Verhal-
ten, eine Mitteilung, die sich den Betroffenen - wie ten hinweist. Gerade die »einfache«, die reduzier-
intensiv immer - eingeprägt hat. Die Personalität te Sprache provoziert dazu - wenn sie (dialekti-
des Revolutionärs resultiert aus seiner kollektiven sches) Resultat realer Prozesse ist -, sie diesen
Kommunikation (im weitesten, beschriebenen Prozessen wieder zu öffnen, sie in die Sprache
Sinn), ein Gedankengang Hegels, dort allerdings eingreifen zu lassen, wie umgekehrt solche Spra-
auf die Sprache beschränkt, wenn er dialektisches che dazu dient, dem Eingreifen in die Realität die
Sprechen als kollektive Wirkung, besser: kollekti- revolutionären Wege zu bahnen.
ves Einwirken, Einprägen »in« den, die anderen Text: Bertolt Brecht, Hanns Eisler: Lieder - Gedichte - Chö-
beschreibt. Brecht ergänzt dies durch die materiali- re. Mit 32 Seiten Notenbeilage. Paris 1934 (S. 82 f., Noten S.
stische Komponente des Verhaltens (vgl. Georg [147-150) der Notenanhang ist nicht paginiert). - wa 9, 466f.
Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des (Text von 1938). - wa 2, 858 f. (Text von 1953).
Geistes. Bamberg und Würzburg 1807. Meiner- Klaus Schuhmann: Der Lyriker Bertolt Brecht 1913-1933.
Ausgabe Hamburg 1952.6. Aufl. S. 229ff. Hegel Berlin 1964 (S. 251-253). - Ulla C. Lerg-Kill: Dichterwort
und Parteiparole. Bad Homburg v.d.Höhe u.a. 1968 (S.
arbeitet die Intersubjektivität der Sprache heraus, 83-85, 246f.). - Edgar Marsch: Brecht-Kommentar zum lyri-
die Tatsache, daß sie eigentlich gar nichts »Subjek- schen Werk. München 1974 (S. 221 f.). - Silvia Volckmann:
tives« mitteilen kann; er zitiert zustimmend Schil- Lob des Revolutionärs. In: Ausgewählte Gedichte Brechts
lers geflügeltes Wort aus den Votivtafeln, Nr. 47: mit Interpretationen. Hg. v. Walter Hinck. Frankfurt a. M.
1978. S. 35-40.
»Sprichtdie Seele, so spricht, ach! schon die Seele
nicht mehr«). Bewußtes Sprechen - »Sprechen
wie die widersprüchliche Wirklichkeit selber« -
und bewußtes Verhalten heben den einzelnen, wie Lieder - Gedichte - Chöre
es die Schlußstrophe noch einmal besagt, auf. Er
fehlt, weil jeder fehlt, der die Revolution vorberei- (1934)
tet, aber er ist auch ersetzbar (das Stück Die Mutter
zeigt dies als schmerzlichen Prozeß, aber mit Hoff-
Entstehung
nung). Er ist Individuum - als solches fehlt er -,
aber er pocht nicht auf (bürgerliche) Individuali- Nach der Flucht aus Hitler-Deutschland leben
tät. Der Revolutionär führt kollektives Verhalten Brecht, seine Familie und seine Mitarbeiter in ver-
vor (als Aufdeckung der Verhältnisse), sein Ziel schiedenen europäischen Städten (Prag, Wien, Zü-
aber ist es, sich persönlich überflüssig zu machen, rich, Berlin), »öfter als die Schuhe die Länder
weil sein Kampf nur dann ein erfolgreicher Kampf wechselnd« (9, 725), bis es möglich wird - durch
sein kann, wenn er der Kampf aller Unterdrückten den Vorschuß auf den Dreigroschenroman - ein
geworden ist. Deshalb gibt er keine Parolen aus, Haus auf der Insel Fünen in Skovsbostrand bei
sondern leitet zum richtigen Verhalten an, das ihn Svendborg (Dänemark) zu erwerben. Im Dezem-
»aufhebt«. ber 1933 wird es bezogen (Familie Brecht sowie
Das Gedicht selbst bringt zur Sprache, was es Ruth Berlau, Margarete Steffin). Konzeption und
inhaltlich vorführt: es reflektiert in seiner Form, auch die Entstehung nicht weniger Gedichte der
die sich als vereinfachte sprachliche Vermittlung Sammlung Lieder-Gedichte-Chöre liegen vor dem
von Verhalten und Verhältnissen vorstellt, die The- Umzug nach Svendborg. Die Hauptarbeit ist für
matik auf einer weiteren Ebene. Wie der Revolu- den September 1933, als Brecht weitgehend in
tionär die Verdinglichungen zum Reden bringt, Paris gewesen ist, anzusetzen; daß Hanns Eisler,
das Schweigen bricht, ebenso verfährt das Ge- der als gleichberechtigter Mitverfasser zeichnet,
dicht. Seine Sprache ist so, daß sie - für den, der direkt bei der Zusammenstellung mitgewirkt hat,
das Gedicht nicht einfach als ideologisch abtut - ist in Einzelheiten nicht bekannt, gilt aber als gesi-
zur gesellschaftlichen Konkretisierung zwingt und chert. Margarete Steffin hat die Verhandlungen
J. Knopf, Brecht-Handbuch
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 1984
78 Lieder - Gedichte - Chöre (1934)

mit dem Exilverlag Editions du Carrefour, den gebend gewesen sein. Die Gedichte des Anhangs
Willi Münzenberg leitete, geführt und war auch bei greifen ebenfalls zurück, ins Jahr 1930 (Gedicht
der Zusammenstellung beteiligt, ebenso wie Elisa- über New York), ins Jahr 1932 (Ballade von der
beth Hauptmann, die an der Schlußredation mit- Billigung der Welt) und eventuell auch noch in die
wirkte. Sicher ist, daß die Schlußredaktion des zwanziger Jahre (Lied der Lyriker; das Lied ist
Bandes im Oktober, wenn nicht erst im November nicht genau datiert, weist aber so große Ähnlich-
oder Dezember erfolgt ist, denn das Gedicht keit mit der Ballade von 1932 auf, daß es sehr
Adresse an den Genossen DimitrojJ, als er vor dem wahrscheinlich auch ins Jahr 1932 zu datieren ist.
Leipziger Gerichtshof kämpfte (Erstausgabe, S. Marschs Vermutung, es sei schon 1927 entstanden
63 f.) kann frühestens nach Georgi Dimitroffs er- - im Zusammenhang mit dem Lyrik-Wettbewerb-
stem mutigen Auftreten im Oktober 1933 geschrie- ist oberflächlich begründet; Marsch, 224). Das
ben worden sein. Dimitroff war im »Reichstags- Deutschland-Gedicht schließlich stammt wieder
brandprozeß« in Leipzig (vom 22. 9. 1933-24. 12. aus dem Jahr 1933. Die Notenbeilage am Schluß
1933) Mitangeklagter, trat aber sehr beherzt (trotz (übrigens ohne weitere Namensnennung) sammelt
sprachlicher Schwierigkeiten - als Bulgare) gegen Liedmelodien zum ersten und zum dritten Teil
das Gericht und vor allem gegen Göring auf, die (entstanden 1931 und 1932).
den Prozeß benutzen wollten, um die wahren Ur- Ende 1932 meldet ein Brief Brechts an Tretja-
sachen für den Brand zu vertuschen (er war ja der kow, daß der Band noch in Paris fertiggestellt
letzte Auslöser für Brechts Rucht geworden). Das worden sei (Briefe, Nr. 193). Die Sammlung er-
Auftreten Dimitroffs führte immerhin dazu, daß scheint im Frühjahr 1934 in Paris in einer Startauf-
die wahren Zusammenhänge zur Sprache kamen lage von 3000; der weitaus größte Teil davon sollte
und daß die Nazis die vorgesehene Verurteilung nach Deutschland verschickt werden. Die Wer-
aller Angeklagten nicht durchzusetzen vermoch- bung dafür war groß, vor allem durch Vorabdruk-
ten. Damit setzte Dimitroff ein Zeichen für erfolg- ke in wichtigen Exilzeitschriften (Neue Deutsche
reichen Widerstand mitten in Deutschland und Blätter, Prag, 15.2.1934; Unsere Zeit, Paris, Basel,
unmittelbar vor den »Größen« der Nazis. Ein, Dez. 1933 u. a.). Wie die tatsächliche Verbreitung
wenn auch begrenzter, Widerstand erwies sich also der Sammlung ausgesehen hat, ist nicht bekannt.
als möglich und aussichtsreich, um zu verdeutli- Eine Überarbeitung der Lieder-Gedichte-
chen, daß die Propaganda sich für ganz Deutsch- Chöre erfolgte 1938 für den vorgesehenen Druck
land zu sprechen anmaßte, durchaus aber nicht der Malik-Ausgabe der Gesammelten Werke (3.
ganz Deutschland hinter den Nazis stand. Die Band). War es der ersten Ausgabe darum gegan-
Erinnerung an diesen Sachverhalt wird Brecht gen, den Weg der Weimarer Republik in die Hitler-
während der ganzen Nazi-(und Exil-)Zeit wach- Diktatur zu zeigen und zugleich die zur Zeit herr-
halten. schende faschistische Diktatur bloßzustellen (in
Da die Sammlung in ihrem ersten Teil be- der Hoffnung auf gesteigerten Widerstand dage-
wußt auf die Geschichte der Weimarer Republik gen), so legte Brecht bei der Neuzusammenstel-
zurückweist, gehen in sie auch Gedichte ein, die lung den Hauptakzent auf den (kommenden) 2.
vor 1933 entstanden sind und bis 1918 zurückrei- Weltkrieg, für den es zu dieser Zeit keinerlei pro-
chen (Legende vom toten Soldaten). Die Gedichte phetischer Künste mehr bedurfte. Brecht läßt am
der zweiten Abteilung (1933) sind, wie die Über- Beginn die Legende vom toten Soldaten aus und
schrift besagt und durchweg auf aktuelle Ereignis- beginnt gleich mit den Gedichten vom Unbekann-
se bezogen, 1933 entstanden. Die Gedichte der ten Soldaten, dessen 2. Gedicht bereits in der Erst-
dritten Abteilung sind wie die Stücke, aus denen ausgabe vor der Gefahr kommender Kriege ge-
sie stammen, 1930-1931 entstanden, durchweg in warnt hatte. Der Zusammenhang von Weimarer
Zusammenarbeit von Hanns Eisler und Brecht. Republik und Hitlerdiktatur war damit nicht ge-
Nicht nur mit diesen Liedern und Chören aus der tilgt, aber die akute Kriegsgefahr deutlicher her-
Maßnahme und der Mutter rechtfertigt sich die ausgestellt. Der» Reichstagsbrandprozeß«, der im
gleichberechtigte Nennung der Verfassernamen, ersten Druck noch aktuelle Gegenwart war, erhält
hat doch Brecht auch auf die Musik, wie umge- nun durch die nach den Hitler-Chorälen im zweiten
kehrt Eisler auf den Text, eingewirkt. Aber auch Abschnitt eingefügte Moritat vom Reichstagsbrand
die Einstellung Brechts, das kollektive Arbeiten zu (in der Werkausgabe nicht innerhalb der Samm-
betonen, dürfte für die Doppelnennung ausschlag- lung; 8, 408-412) den Charakter eines wesentli-

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