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Martin Trebsdorf

Biologie
Anatomie
Ph y siologie
Lehrbuch und Atlas
Der Autor hat alle Anstrengungen unternommen, um sicherzustellen, dass etwaige Auswahl und Dosierungsanga-
ben von Medikamenten im vorliegenden Text mit den aktuellen Vorschriften und der Praxis übereinstimmen.
Trotzdem muss der Leser im Hinblick auf den Stand der Forschung und mit Blick auf die Änderung staatlicher
Gesetzgebungen, mit dem ununterbrochenen Strom neuer Erkenntnisse bezüglich Medikamentenwirkung und
Nebenwirkungen unbedingt bei jedem Medikament den Packungsprospekt konsultieren, um mögliche Ände-
rungen im Hinblick auf Indikation und Dosis nicht zu übersehen.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt
auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-
und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen.

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Autor:
Dr. päd. Martin Trebsdorf
Illustrationsideen und Beratung:
Dipl.-Med. päd. Paul Gebhardt
Zeichnungen:
Sylvana Bardl, Halle
Mark Bitter, Hamburg
Andreas Busse, Suderburg
Steffen Faust, Berlin
Gerhard Schäfer, Bad Bevensen
Layout und Satz:
GS Werbeagentur, Bad Bevensen

Lektorat:
Karin Schanzenbach, Hamburg
Rüdiger Mackenthun, Suderburg

ISBN 3-928537-30-X
7. Auflage 2002
© 1993 by Lau-Verlag GmbH, Reinbek
Alle Rechte vorbehalten
Printed in Germany
Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier
Vorwort 3

Das völlig neue „Gesicht“ der 4. Auflage hat sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern großen
Anklang gefunden, nicht zuletzt weil das bewährte inhaltliche und didaktische Grundkonzept
beibehalten wurde. Das hat uns bewogen, auch die 5. Auflage weiter zu verbessern, was durch viele
neu gestaltete Zeichnungen sichtbar wird.

Bei der Arbeit mit dem Buch ist es deshalb von großer Bedeutung, stets den Text in engster
Verbindung mit den in unmittelbarer Nähe befindlichen Abbildungen und Tabellen zu studieren.
Gerade durch diese enge Nachbarschaft von Text und Bild – lesen und sogleich sehen – hebt sich die-
ses Lehrbuch unmissverständlich von allen anderen ab, zum Vorteil von Lernenden und Lehrenden.
Aufgrund dieser Tatsache war es auch möglich, einfache oder bereits bekannte Sachverhalte, wie
zum Beispiel makroskopische Strukturen, „nur“ aufzuzählen, um dadurch das umfangreiche anato-
mische und physiologische Wissen gerafft wiedergeben zu können.

Das Studieren wird durch den streng logischen Aufbau und eine übersichtliche Anordnung des Stoffes
erleichtert. In Merksätzen wird das Wichtigste immer wieder präzise zusammengefasst.
Wiederholungsfragen am Ende der Kapitel helfen, den Lerneffekt zu überprüfen. Hilfreich dabei ist
auch das umfangreiche Stichwortregister.

Darüber hinaus bietet die neugeschaffene, extra zu diesem Buch konzipierte CD-Rom die
Möglichkeit, mit Hilfe neuer Technik die Inhalte noch präziser anschaulich aufnehmen und erarbei-
ten zu können.

Reinbek, im Juni 2002 Martin Trebsdorf

Die positiven Resonanzen haben uns bewogen, das Konzept unverändert zu lassen. Mit der vorlie-
genden 6. Auflage zählt das Werk im Bereich „Biologie, Anatomie, Physiologie“ bereits zu den
erfolgreichsten Titeln in der Ausbildung der pflegerischen und medizinischen Berufe, was auch auf
die vielen Anregungen von Dozentinnen und Dozenten sowie den Auszubildenden selber zurückzu-
führen ist. Hierfür möchten wir uns bedanken, weil ein gutes und erfolgreiches Buch nur dann Ihren
Ansprüchen gerecht wird, wenn immer wieder Hinweise und Tipps aus der täglichen Praxis berück-
sichtigt werden.

Die mitgelieferte CD gehört selbstverständlich weiterhin zur Ausstattung und wird Ihnen ein hilfrei-
cher Begleiter während Ihres beruflichen Werdeganges sein.

Reinbek, im August 2002 Uwe Hamann


Lau-Verlag, Reinbek bei Hamburg
4 Erläuterungen zu den Abkürzungen und Zeichen

Abk. Fachbez. deutsche Bez. Vorsätze vor Maßeinheiten


A. Arteria Arterie Symbol Faktor Beispiele
Aa. Arteriae Arterien
Art. Articulatio Gelenk Kilo k 1000 (103) 1 kg = 1000 g
Artt. Articulationes Gelenke Dezi d 0,1 (10–1) 1 dm = 0,1 m
Col. Columna Säule Zenti c 0,01 (10–2) 1 cm = 0,01 m
Gl. Glandula Drüse Milli m 0,001 (10–3) 1 mm = 0,001 m
Gll. Glandulae Drüsen Mikro μ 0,000001 (10–6) 1 μm = 0,000001 m
Lig. Ligamentum Band Nano n 10–9 1 nm = 0,000000001m
Ligg. Ligamenta Bänder
M. Musculus Muskel Chemische Elemente
Mm. Musculi Muskeln Element Symbol
N. Nervus Nerv Calcium Ca
Nn. Nervi Nerven Chlor Cl
Proc. Processus Fortsatz Eisen Fe
R. Ramus Zweig, Ast Fluor F
V. Vena Vene Iod I
Vv. Venae Venen Kohlenstoff C
Magnesium Mg
Sonstige Abkürzungen Natrium Na
ADH antidiuretisches Hormon Sauerstoff O
ADP Adenosindiphosphat Stickstoff N
AMP Adenosinmonophosphat Zink Zn
ATP Adenosintriphosphat
BPH benigne Prostatahyperplasie
Chemische Verbindungen
Element Symbol
dB Dezibel (Pegelmaß)
EEG Elektroenzephalogramm, -graphie Kohlendioxid CO2
EPS extrapyramidal-motorisches System Kohlensäure H2CO3
EZF extrazelluläre Flüssigkeit Salzsäure HCl
EZR extrazellulärer Raum Wasser H 2O
HCG Choriongonadotropin
HMV Herzminutenvolumen Funktionelle Gruppen
HPL human placento lactogen (Plazentalaktogen) Element Symbol
IgG Immunglobulin G Aminogruppe NH2
IZF intrazelluläre Flüssigkeit Carboxylgruppe COOH
IZR intrazellulärer Raum Hydroxylgruppe OH
NNM Nebennierenmark Phosphatgruppe PO4
NNR Nebennierenrinde Sulfatgruppe SO4
PNS peripheres Nervensystem
R Molekülrest
ZNS Zentralnervensystem Besonders hervorgehoben sind einzelne Passagen
mit folgenden Markierungen:

Maßeinheiten Merke
μs Mikrosekunde (0,000 001 s)
ms Millisekunde (0,001 s) Diese Merkesätze enthalten wichtige ergän-
μg Mikrogramm (0,000 001 g) zende oder zusammenfassende Informa-
mg Milligramm (0,001 g) tionen der vorangegangenen Inhalte.
μm Mikrometer (0,000 001 m)
nm Nanometer (0,000 000 001 m)
μl
nl
Mikroliter (0,000 001 l)
Nanoliter (0,000 000 001 l)

P Die nachfolgenden Informationen stellen
Pa Pascal (0,0075 mmHg) einen Praxisbezug dar.
mmHg Millimeter Quecksilbersäule (133 Pa = 1,33 mbar)
mbar Millibar (100 Pa = 0,75 mmHg) Allgemeine Symbole
A Ampère (Stromstärke)
= Erhöhung, Anstieg

V Volt (Potential)
= Reduzierung, Abfall

Hz Hertz (= 1/s)
mol Mol ✑ = siehe
Inhaltsverzeichnis 5

Vorwort 3

Vv.
Venae Erläuterungen zu den Abkürzungen und Zeichen 4

1 Der menschliche Körper 11


1.1 Inhalt und Aufgaben der Anatomie und Physiologie 11
1.2 Orientierung am Körper 15

2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe 17


2.1 Bau- und Funktionsstoffe des menschlichen Körpers
und ihre biologische Bedeutung 17
2.1.1 Wasser 17
2.1.2 Mineralstoffe 18
2.1.3 Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße 19
2.2 Zellen und ihr umgebendes Milieu 22
2.2.1 Bau und Funktion der Zelle 23
2.2.2 Flüssigkeitsräume des Körpers und Körperflüssigkeiten 28
2.2.3 Das innere Milieu 28
2.2.4 Säure-Basen-Haushalt 29
2.3 Arten des Stofftransports im Organismus 31
2.3.1 Passiver Transport 32
2.3.2 Aktiver Transport 33
2.4 Physiologie des Stoff- und Energiewechsels 35
2.4.1 Stoff- und Energiewechsel 35
2.4.2 Bedeutung energiereicher Phosphatverbindungen
im Stoff- und Energiewechsel 36
2.4.3 Enzyme 37
2.4.4 Stoffumsatz- und Energiefreisetzung 40
2.5 Genetik (Vererbungslehre) 43
2.5.1 Chromosomen 43
2.5.2 Nukleinsäuren als Trägerstoff der Erbinformation 44
2.5.3 Zellteilung 48
2.5.4 Gesetzmäßigkeiten der Vererbung – Mendel’sche Erbregeln 50
2.5.5 Mutationen 54
2.5.6 Modifikationen 56
Fragen zur Wiederholung 57
6 Inhaltsverzeichnis

3 Gewebe 59
3.1 Epithelgewebe (= Epithel) 60
3.2 Binde- und Stützgewebe 62
3.3 Muskelgewebe 68
3.4 Nervengewebe 69
3.4.1 Bau 69
3.4.2 Grundlagen der Erregungsphysiologie 71
Fragen zur Wiederholung 76

4 Hautsystem (Häute und Drüsen) 77


4.1 Äußere Haut 77
4.1.1 Schichten der äußeren Haut 77
4.1.2 Gefäßversorgung 80
4.1.3 Haut als Sinnesorgan 80
4.1.4 Altersveränderung der Haut 82
4.2 Anhangsorgane der Haut 82
4.2.1 Hautdrüsen 82
4.2.2 Haare (Pili) 83
4.2.3 Nägel 85
4.3 Schleimhaut (Tunica mucosa) 85
4.4 Seröse Haut (Tunica serosa) und seröse Höhlen 86
4.5 Drüsen (Überblick) 86
Fragen zur Wiederholung 88

5 Stütz- und Bewegungssystem 89


5.1 Allgemeine Knochenlehre 89
5.1.1 Aufgaben der Knochen 89
5.1.2 Knochentypen 89
5.1.3 Bau eines Knochens 89
5.1.4 Knochenwachstum 90
5.1.5 Knochenverbindungen 91
5.2 Allgemeine Muskellehre 95
5.2.1 Bau und Hilfseinrichtungen des Skelettmuskels 95
5.2.2 Kontraktion des Skelettmuskels 96
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 104
5.3.1 Wirbelsäule (Columna vertebralis) 104
5.3.2 Brustkorb (Thorax) 109
5.3.3 Schultergürtel und obere Extremität 111
5.3.4 Beckengürtel und untere Extremität 118
5.3.5 Kopf (Caput) 128
Fragen zur Wiederholung 135
Inhaltsverzeichnis 7

6 Leibeswand und Beckenboden 137

6.1 Brustwand 137


6.2 Bauchwand 137
6.3 Leistenregion (Regio inguinalis) 138
6.4 Beckenboden 140
Fragen zur Wiederholung 142

7 Die großen Körperhöhlen 143


7.1 Brusthöhle (Cavitas thoracis) 143
7.2 Bauchhöhle (Cavitas abdominalis) 144
7.2.1 Bauchfell (Peritoneum) 144
7.2.2 Lage der Bauchorgane 146
7.3 Beckenhöhle 148
Fragen zur Wiederholung 148

8 Hals (Collum) 149


8.1 Bau 149
8.2 Leitungsbahnen 149
Fragen zur Wiederholung 152

9 Kreislaufsystem 153
9.1 Aufgaben (Überblick) 153
9.2 Das Blut 153
9.2.1 Blutzellen (Blutkörperchen) 153
9.2.2 Blutplasma 156
9.3 Physiologie des Blutes 156
9.3.1 Transportfunktion 156
9.3.2 Blutstillung (Hämostase) 157
9.3.3 Fibrinolyse 158
9.3.4 Blut und Immunsystem 158
9.3.5 Unspezifische und spezifische humorale und zelluläre
Abwehrmechanismen 165
9.3.6 Verschiedene Immunreaktionen 168
9.3.7 Immunisierung 168
9.3.8 Blutgruppen des Menschen 168
9.4 Das Herz (Cor) 172
9.5 Gefäßsystem 176
9.5.1 Blutgefäßarten 176
9.5.2 Blutkreislauf 178
9.5.3 Lymphgefäßsystem 187
9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 189
9.6.1 Erregung des Herzens 189
9.6.2 Mechanik der Herztätigkeit 191
8 Inhaltsverzeichnis

9.6.3 Funktion der Gefäße 196


9.6.4 Regulation des Blutkreislaufes 202
Fragen zur Wiederholung 205

10 Wärmehaushalt 207
10.1 Körpertemperatur des Menschen 207
10.2 Wärmeproduktion und Wärmeabgabe 208
Fragen zur Wiederholung 212

11 Atmungssystem 213
11.1 Gliederung 213
11.2 Bau der Atmungsorgane 213
11.2.1 Nase (Nasus) 213
11.2.2 Rachen (Pharynx) 214
11.2.3 Kehlkopf (Larynx) 216
11.2.4 Luftröhre (Trachea) 219
11.2.5 Lungen (Pulmones) 220
11.2.6 Brustfell (Pleura) 223
11.3 Physiologie der Atmung 224
11.3.1 Atembewegungen 224
11.3.2 Gasaustausch 228
11.3.3 Atemgastransport 229
11.3.4 Regulation der Atmung 230
Fragen zur Wiederholung 232

12 Verdauungssystem 233

12.1 Mundhöhle (Cavum oris) 234


12.1.1 Lippen und Wangen 234
12.1.2 Zähne, Gebiss 234
12.1.3 Zunge (Lingua, Glossa) 237
12.1.4 Gaumen (Palatum) 238
12.1.5 Große Mundspeicheldrüsen 238
12.2 Speiseröhre (Ösophagus) 239
12.3 Magen (Gaster, Ventriculus) 240
12.4 Dünndarm (Intestinum tenue) 242
12.5 Dickdarm (Intestinum crassum) 244
12.6 Leber (Hepar) 246
12.7 Bauchspeicheldrüse (Pankreas) 250
12.8 Physiologie der Verdauung 252
12.8.1 Verdauungsvorgänge in der Mundhöhle 252
12.8.2 Verdauungsvorgänge im Magen 254
12.8.3 Verdauungsvorgänge im Dünndarm 255
12.8.4 Verdauungsvorgänge im Dickdarm 256
12.8.5 Regulation der Verdauung 257
12.8.6 Funktionen der Leber (Überblick) 259
Fragen zur Wiederholung 262
Inhaltsverzeichnis 9

13 Harnsystem, Funktionen der Niere 263

13.1 Niere (Ren, Nephron) 264


13.2 Harnleiter (Ureter) 267
13.3 Harnblase (Vesica urinaria) 268
13.4 Harnröhre (Urethra) 270
13.5 Physiologie der Niere 271
Fragen zur Wiederholung 276

14 Geschlechtssystem (Genitalsystem) 277


14.1 Männliche Geschlechtsorgane 277
14.1.1 Innere männliche Geschlechtsorgane 278
14.1.2 Äußere männliche Geschlechtsorgane 280
14.2 Weibliche Geschlechtsorgane 281
14.2.1 Innere weibliche Geschlechtsorgane 281
14.2.2 Äußere weibliche Geschlechtsorgane 285
14.3 Fortpflanzung und Individualentwicklung des Menschen
bis zur Geburt (Überblick) 286
Fragen zur Wiederholung 294

15 Hormonsystem (Endokrines System) 295


15.1 Regulationsfunktionen der Hormone 295
15.2 Hormongruppen 298
15.2.1 Hormone des Hypothalamus und der Hypophyse 298
15.2.2 Hormone des Hypophysenvorderlappens 299
15.3 Periphere Hormondrüsen, die durch die glandotropen Hormone
gesteuert werden 301
15.3.1 Schilddrüse und die Hormone
Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) 301
15.3.2 Nebennieren und ihre Hormone 302
15.3.3 Keimdrüsen, Sexualhormone
und Menstruationszyklus 304
15.4 Periphere Hormondrüsen, die nicht durch die glandotropen
Hormone gesteuert werden 307
15.4.1 Pankreashormone und Blutzuckerregulation 307
15.4.2 Hormonelle Regulation des Mineralhaushaltes
(Überblick) 308
Fragen zur Wiederholung 310

16 Sinnessystem 311
16.1 Oberflächen- und Tiefensensibilität 312
16.2 Chemische Sinne (Geschmack und Geruch) 313
16.3 Hör- und Gleichgewichtssinn 315
10 Inhaltsverzeichnis

16.3.1 Gleichgewichtssinn 316


16.3.2 Gehörsinn 318
16.3.3 Physiologie des Hörens 319
16.4 Gesichtssinn 321
16.4.1 Bau des Auges 321
16.4.2 Schutz- und Bewegungsapparat des Auges 323
16.4.3 Physiologie des Sehens 326
Fragen zur Wiederholung 330

17 Nervensystem 331
17.1 Gliederung 331
17.2 Rückenmark (Medulla spinalis) 332
17.2.1 Lage und Form 333
17.2.2 Innerer Bau 333
17.2.3 Rückenmarksegmente 335
17.3 Gehirn (Encephalon) 335
17.3.1 Masse, Lage, Form, Gliederung 335
17.3.2 Endhirn (Telencephalon) 335
17.3.3 Zwischenhirn (Diencephalon) 341
17.3.4 Mittelhirn (Mesencephalon) 342
17.3.5 Brücke (Pons) 343
17.3.6 Kleinhirn (Cerebellum) 343
17.3.7 Verlängertes Mark (Medulla oblongata) 344
17.3.8 Netzsubstanz (Formatio reticularis) und aufsteigendes
retikuläres aktivierendes System (ARAS) 344
17.4 Hirnkammern (Ventriculi encephali) 345
17.5 Schutzeinrichtungen des ZNS 345
17.6 Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit (Liquor cerebrospinalis) 346
17.7 Blutversorgung des Gehirns 348
17.8 Leitungsbahnen des ZNS 349
17.8.1 Sensible aufsteigende Leitungsbahnen 349
17.8.2 Motorische absteigende Leitungsbahnen 350
17.9 Peripheres Nervensystem (PNS) 352
17.9.1 Hirnnerven 353
17.9.2 Rückenmarksnerven (Nn. spinales) 357
17.10 Reflexe 361
17.11 Vegetatives Nervensystem (VNS) 364
17.12 Zusammenwirken der Koordinationssysteme VNS,
animales Nervensystem und Hormonsystem 371
17.13 Wachsein und Schlafen 372
Fragen zur Wiederholung 375

➥ Stichwortverzeichnis 377
11

1 Der menschliche Körper

1.1 Inhalt und Aufgaben der Anatomie und Physiologie ist keine Diagnose
Anatomie und Physiologie (Krankheitsbestimmung) und ohne Diagnose
keine Therapie (Heilverfahren) möglich.
Die genaue Kenntnis des gesunden menschli-
chen Körpers ist eine unabdingbare Vorausset- Anatomische und physiologische Kenntnisse
zung, um pathologische (krankhafte) Verände- sind die erste Voraussetzung für alle Pflege- und
rungen festzustellen. Ohne die Kenntnisse der Gesundheitsfachberufe.

Kopf
(Caput)

Hals
(Collum)

Rumpf
(Truncus)

obere Extremität
(Membrum superius)

Bauch
(Abdomen)

Becken
(Pelvis)

untere Extremität
(Membrum inferius)

Körperbau von Mann und Frau. Abb. 1.1


12 1 Der menschliche Körper

Der Mensch gehört als biologische Art zur röhre (vorn),


Klasse der Säugetiere, von denen er sich aller- • den Anfangsteil der Speiseröhre (hinter der
dings in einigen Merkmalen deutlich unter- Luftröhre und vor der Halswirbelsäule) sowie
scheidet. • Blutgefäße und Nerven, welche zwischen
Dies sind Brusthöhle und Kopf seitlich verlaufen;
– die spärliche Körperbehaarung, – Rumpf (Truncus), der aus der Wirbelsäule, dem
– der aufrechte Gang, Brustkorb und dem Beckengürtel besteht. In
– der Gebrauch der Hände und ihm eingebettet sind die Brusthöhle (Cavitas
– das stark entwickelte Endhirn (Großhirn), thoracis), die Bauchhöhle (Cavitas abdominalis)
welches solche herausragenden Leistungen und der Beckenraum (Regio pelvis), in denen
wie das Denken und Sprechen ermöglicht. viele Organe geschützt untergebracht sind;
Betrachten wir also unseren komplizierten und – obere Extremität (Membrum superius), die
zugleich interessanten menschlichen Körper durch den Schultergürtel mit dem Rumpf
näher. An erster Stelle wenden wir uns zunächst beweglich verbunden ist und sich unterglie-
der äußeren Körpergestalt zu (✑ Abb. 1.1). dert in
• Oberarm (Brachium),
Gliederung des menschlichen Körpers • Unterarm (Antebrachium) und
Der menschliche Körper gliedert sich in • Hand (Manus);
– Kopf (Caput), in dem sich das Gehirn, wichtige – untere Extremität (Membrum inferius), die
Sinnesorgane sowie die Anfangsorgane des durch den Beckengürtel mit dem Rumpf beweg-
Verdauungs- und Atmungstraktes befinden; lich verbunden ist und sich unterteilt in
– Hals (Collum). Er enthält als Verbindungsteil • Oberschenkel (Femur),
zwischen Kopf und Rumpf: • Unterschenkel (Crus) und
• den Kehlkopf und den Anfangsteil der Luft- • Fuß (Pes).

Tab. 1.1 Unterschiede zwischen weiblichem und männlichem Körper.


Unterschiede Körper der Frau Körper des Mannes
Körpergröße kleiner größer
Knochen und schwächer stärker
Muskeln
Körperform abgerundet wegen des stärker aus- weniger abgerundet wegen des dün-
gebildeten Unterhautfettgewebes (be- neren Unterhautfettgewebes, dafür
sonders an Brust, Gesäß und Hüften) treten die oberflächlichen Muskeln
deutlicher hervor
Kopf kleiner, Kiefer und Kaumuskeln größer, stärkere Ausprägung von Ober-
schwächer und Unterkiefer und der Kaumuskulatur
Hals zierlicher, Kehlkopf kleiner, dicker, Kehlkopf größer, deutlich hervor-
Schildknorpel (Adamsapfel) kaum tretender Adamsapfel
vorgewölbt
Schultern stärker abgerundet, leicht abfallend, breiter und kantiger
schmaler
Brustkorb enger, kürzer weiter, länger
Rumpf länger kürzer
Becken breiter schmaler
Beine kürzer, rundlicher, zierlichere länger, oberflächliche Muskeln sind
Fußgelenke deutlicher zu erkennen
Behaarung schwächer stärker; Bartwuchs
Schambehaarung obere Grenze horizontal spitzförmig zum Nabel laufend
1.1 Inhalt und Aufgaben der Anatomie und Physiologie 13

Unterschiede von Mensch zu Mensch Veränderungen der Körpergestalt und


Bereits im Kindesalter erkennen wir, dass jeder Körperproportionen
Mensch eine Reihe äußerer Merkmale besitzt, Nach der Geburt erfolgt das Wachstum des Men-
die ihn deutlich von allen anderen Menschen schen diskontinuierlich und proportional ver-
unterscheiden (Ausnahme eineiige Zwillinge). schieden, was bei einem Vergleich zwischen Neu-
Dazu gehören z. B. geborenem, 6jährigem Kind und Erwachsenen
• Konstitution, • Körpermasse, deutlich zu erkennen ist (✑ Abb. 1.2).
• Körpergröße, • Muskelkraft, Beim Neugeborenen sind Kopf und Rumpf
• Haut- und Haartyp, • Nasen- und Lippenform, relativ groß, Hals und Beine dagegen kurz. Sehr
• Hautleistenmuster, • Verhaltenseigenschaften, gut erkennt man diese Proportionsveränderun-
• Widerstandsfähigkeit gen am Kopf. Während beim Neugeborenen die
gegen Krankheiten Kopflänge 1/4 der Körperlänge ausmacht, sind es
und v. a. m. beim Erwachsenen nur noch 1/8. Der Rumpf ist
Aufgrund der unterschiedlichen biologischen Funk- im Vergleich zu den Extremitäten beim Neuge-
tionen treten deutliche Unterschiede zwischen borenen wesentlich größer. Beim Neugeborenen
weiblichem und männlichem Körper zutage, die in liegt der Nabel, beim Erwachsenen die Sym-
der Tabelle 1.1 gegenübergestellt sind. physe (Schambeinfuge) etwa in der Körpermitte.
Die Brustwirbelsäule des Neugeborenen ist nur

P Die geschlechtsspezifischen Unterschiede leicht nach vorn gekrümmt. Erst mit dem
sind genetisch festgelegt und werden maßgeb- Laufenlernen und dem damit verbundenen auf-
lich durch die Wirkung verschiedener Hormone rechten Gang bilden sich beim Kind die typi-
(auch durch künstliche Hormongaben) beein- schen Krümmungen heraus (✑ S. 104, Kap.
flusst. 5.3). Das diskontinuierliche Wachstum des
menschlichen Körpers zeigt sich sowohl im

1/4

1/4

... der
gesamten
Körpergröße

1/4

1/4

Neugeborenes 6-jähriger Erwachsener

Veränderungen der Proportionen durch Wachstum. Abb. 1.2


14 1 Der menschliche Körper

Längen- als auch im Breitenwachstum. So ist im 3. Embryologie (Lehre von der Embryonalent-
1. und 5. bis 7. Lebensjahr sowie während der wicklung): Dieses Teilgebiet befasst sich mit
Pubertät ein verstärktes Längenwachstum, der Entwicklung des Menschen von der be-
dazwischen und nach der Pubertät ein erhöhtes fruchteten Eizelle bis zur Geburt.
Breitenwachstum zu beobachten.
4. Systematische Anatomie: Sie bietet eine Ein-
Im 5. bis 7. Lebensjahr verändert sich der füllige teilung nach gleichen Funktionen. Auf diese
Kleinkindtyp durch stärkeres Wachstum der Weise wird eine Vereinfachung und bessere
Gliedmaßen, Vergrößerung des Kauapparates, Übersicht des menschlichen Körpers erreicht.
Abnahme des Unterhautfettgewebes und Abfla-
chung des Rumpfquerschnittes in den typischen Das Lehrbuch orientiert sich deshalb an der
Schulkindtyp. Diese Körperformveränderungen systematischen Anatomie und behandelt fol-
werden als 1. Gestaltenwandel bezeichnet. Der gende Organsysteme:
2. Gestaltenwandel vollzieht sich während der • Hautsystem (Häute und Drüsen),
Pubertät und führt zu den endgültigen Körper- • Stütz- und Bewegungssystem,
proportionen des Erwachsenen. In dieser Phase • Kreislaufsystem,
werden auch die Geschlechtsorgane funktions- • Atmungssystem,
tüchtig, und es kommt zur Ausprägung der • Verdauungssystem,
sekundären Geschlechtsmerkmale. • Harnsystem,
• Geschlechtssystem,
Die Regulation des Wachstums erfolgt durch das • Hormonsystem,
Erbgut, das Hormon- und das Nervensystem • Sinnessystem,
sowie durch Umweltfaktoren wie Ernährung u.a. • Nervensystem.

Inhalte des Lehrgebietes Biologie, Anatomie 5. Topographische Anatomie: Sie beschäftigt


und Physiologie sich mit der Lagebeschreibung der Organe.
Im Mittelpunkt des Lehrgebietes steht die Betrach-
tung des Baus von Zellen, Geweben und Orga- Das Ziel der Physiologie besteht darin, die ursäch-
nen des menschlichen Körpers einschließlich lichen (kausalen) Zusammenhänge der Lebens-
ihrer Funktionen. vorgänge zu ergründen. Sie ist ein Teilgebiet der
Biologie und bedient sich naturwissenschaftlicher
Merke Forschungsmethoden.
Biologie ist die Lehre von den Lebewesen; Im vorliegenden Lehrbuch werden im Kapitel
Anatomie die von der Lage, der Form und „Grundlagen“ notwendige physiologische Kennt-
dem Bau der Organe und Gewebe. Mit den nisse und Gesetzmäßigkeiten aufgezeigt, die
Funktionen und Leistungen des menschli- gleichermaßen für alle Organsysteme gelten.
chen Körpers, seinen Zellen, Geweben und In den weiteren Kapiteln werden die anatomi-
Organen befasst sich die Physiologie. schen und physiologischen Sachverhalte der ein-
zelnen Organe anschaulich dargestellt.
Gliederung der Anatomie
1. Makroskopische Anatomie: Das ist die Lehre Merke
der Körperstrukturen, die mit bloßem Auge
wahrzunehmen sind. Anatomie und Physiologie bilden eine
Einheit. Der Bau und die Form einer anato-
2. Mikroskopische Anatomie: Sie befasst sich mit mischen Struktur werden erst verständlich
den Körperstrukturen, die nur mit Lupe und durch die Kenntnis ihrer Funktion. Umge-
Mikroskop wahrzunehmen sind. Die mikro- kehrt lassen sich Funktionen erst richtig
skopische Anatomie umfaßt die Histologie erklären, wenn Bau und Form bekannt sind.
(Gewebelehre) und die Zytologie (Zellenlehre).
1.2. Orientierung am Körper 15

1.2 Orientierung am Längsachse


Körper
Frontalebene
Sowohl in der Anatomie als auch
in der Medizin ist die Lagebe-
schreibung anatomischer Struk-
turen von großer Bedeutung. Um
dies möglichst exakt vornehmen
zu können, verwendet man Körper-
achsen und Körperebenen sowie
eine Reihe von Richtungsbezeich-
nungen. Man kann beliebig viele
Achsen und Ebenen durch den
menschlichen Körper bzw. seine Querachse
Organe legen. Entsprechend den
3 Raumdimensionen werden je- Horizontal- oder
weils 3 Gruppen von Hauptachsen Transversal-
und -ebenen unterschieden. ebene
Pfeilachse
Hauptachsen
1.) Längsachse (Longitudinal- oder
Vertikalachse)
Die Längsachsen verlaufen zwi-
schen cranial und caudal, also
bei aufrechtem Stand senkrecht
zur Standfläche.
2.) Querachse (Horizontal- oder
Transversalachse)
Die Querachsen verlaufen zwi-
schen lateral und lateral, also
von links nach rechts bzw. um-
gekehrt. Jede Querachse steht
senkrecht auf einer Längsachse.
3.) Pfeilachse (Sagittalachse)
Die Pfeilachsen verlaufen zwi- Medianebene
schen ventral und dorsal, also
von der Körperhinter- zur Kör-
pervorderfläche bzw. umge-
kehrt. Die Pfeilachsen stehen Körperebenen. Abb. 1.3
senkrecht zu den Längs- und
Querachsen.
2.) Sagittalebenen
Hauptebenen Die Sagittalebenen liegen parallel rechts und
Körperebenen sind gedachte Schnittflächen durch links zur Medianebene. Durch sie ist der Körper
den Körper in den 3 Dimensionen des Raumes. von medial nach lateral in viele „Längsscheiben“
1.) Medianebene (Sonderfall unter den Sagittal- teilbar.
ebenen) 3.) Frontalebenen
Die Medianebene liegt genau in der Mitte des Die Frontalebene zerlegt den Körper jeweils in
Körpers und teilt ihn in eine rechte und eine einen vorderen und hinteren Abschnitt.
linke Hälfte, die sich spiegelbildlich annähernd 4.) Horizontal- oder Transversalebenen
gleich sind. Es gibt also nur eine Medianebene. Die Ebenen gliedern den Körper immer in einen
oberen und unteren Abschnitt.
16 1 Der menschliche Körper

Merke
Frontalebenen
Es gibt unendlich viele Sagittal-,
Medianebene
Frontal- und Horizontalebenen,
Sagittalebenen aber nur eine Medianebene
(Körpermittelebene).
Die Medianebene ist ebenfalls
eine Sagittalebene.
lateral
medial ventral
dorsal
cranial Richtungsbezeichnungen
Horizontal- caudal Die Richtungsbezeichnungen die-
oder nen ebenfalls der besseren Orien-
Transversal- tierung am Körper. Die wichtigsten
ebene sind in der Tabelle „Lage- und
Richtungsbezeichnungen auf einen
Blick“ verdeutlicht.

Hinzuzufügen ist noch, dass für


cranial häufig superior (= oben)
proximal
distal und für caudal inferior (= unten)
benutzt wird.
In gleicher Weise verwendet man
statt ventral anterior (= vorn) und
statt dorsal posterior (= hinten).
Abb. 1.4 Richtungsbezeichnungen.

Lage- und Richtungsbezeichnungen auf einen Blick


Allgemein Den Schädel betreffend
anterior – vorne basal – in Richtung Schädelbasis
caudal – steißbeinwärts gelegen occipital – in Richtung Hinterhaupt
cranial – kopfwärts gelegen frontal – in Richtung Stirn
dexter – rechts Die Extremitäten betreffend
dorsal – rückenwärts gelegen proximal – rumpfwärts
externus – außenliegend distal – vom Rumpf weg
inferior – weiter unten Arm:
internus – innenliegend radial – auf der Speichenseite gelegen
lateral – seitlich (daumenwärts)
longitudinal – längs verlaufend ulnar – auf der Ellenseite gelegen
medial – zur Mittelebene hin (kleinfingerwärts)
median – in der Medianebene bzw. Hand:
Mittellinie gelegen palmar – hohlhandwärts gelegen
posterior – weiter hinten dorsal – handrückenwärts gelegen
profundus – tief gelegen Bein:
sinister – links
tibial – auf der Schienbeinseite
superficialis – oberflächlich gelegen gelegen
superior – weiter oben fibular – auf der Wadenbeinseite
transversal – quer verlaufend gelegen
ventral – bauchwärts gelegen Fuß:
plantar – fußsohlenwärts gelegen
dorsal – fußrückenwärts gelegen
17
Grundlagen,
2 Bau- und Funktionsstoffe

Der Mensch ist ein Teil der belebten Natur. In der kleinsten lebensfähigen Struktureinheit,
Zwischen allen Lebewesen und der Umwelt be- der Zelle, vollziehen sich durch Wechselwirkung
stehen lebensnotwendige Wechselwirkungen. mit ihrer unmittelbaren Umgebung die für das
Besonders wichtig sind: Leben notwendigen Funktionsabläufe.
1. die ständige Aufnahme und Abgabe von Stof- Im Folgenden beschäftigen wir uns mit allge-
fen und Energie, sowie meinen Grundlagen der Lebensvorgänge.
2. die ständige Aufnahme und Abgabe von Infor-
mationen.
Für jedes Lebewesen sind die aus der Umwelt 2.1 Bau- und Funktionsstoffe des
aufgenommenen Stoffe körperfremd. In den
Zellen werden sie in der Regel in körpereigene menschlichen Körpers und
Stoffe umgewandelt (= Assimilation) oder un- ihre biologische Bedeutung
verändert ausgeschieden.
Alle Zellen bestehen aus organischen Stoffen
Autotrophe Assimilation (Eiweiße, Fette, Kohlenhydrate) und anorgani-
Die grünen Pflanzen sind als autotrophe Lebe- schen Stoffen (Salze, Wasser). Die physikochemi-
wesen in der Lage, im Prozess der Photosynthese mischen Eigenschaften dieser Substanzen bestim-
die anorganischen energiearmen Stoffe CO2 und men ihre biologischen Funktionen in der Zelle.
H2O mithilfe ihres Chlorophylls und unter Nut-
zung der Lichtenergie in den energiereichen orga-
nischen Stoff Glucose (Traubenzucker) umzu- 2.1.1 Wasser
wandeln (= autotrophe Assimilation).
Die Glucose wiederum dient der Pflanze zusam- Der erwachsene Mensch besteht zu 60 % aus
men mit einigen anorganischen Stoffen, z. B. Wasser. Ohne Wasser gibt es kein Leben. Das
Stickstoff (N), Schwefel (S) und Phospor (P), als Wasser ist ein polarisiertes Molekül, das als
Ausgangsstoff für die Synthese der verschiedens- Dipol auf einer Seite positiv, auf der anderen
ten Pflanzeninhaltsstoffe (z. B. Eiweiße, Fette, Molekülseite negativ geladen ist. Diese Polari-
Vitamine, Farbstoffe, Duftstoffe). sierung ermöglicht es, dass sich Wasser an ande-
re elektrisch geladene Teilchen (Ionen) anlagern
Heterotrophe Assimilation kann.
Alle Lebewesen ohne Chlorophyll, also auch der Der Vorgang der Wasseranlagerung wird als
Mensch, nehmen organische energiereiche Stoffe Hydratation bezeichnet (✑ Abb. 2.1, Seite 18).
auf, die letztendlich immer von chlorophyllhalti- Die Hydratation spielt für Wasser- und Elektro-
gen Zellen stammen, und wandeln diese in kör- lytverschiebungen eine wichtige Rolle. Ins-
pereigene Stoffe um (Stoffwechsel). besondere gilt dies für Flüssigkeits- und Stoff-
bewegungen zwischen intrazellulärer Flüssigkeit
Merke (IZF = Flüssigkeit in den Zellen) und extrazel-
lulärer Flüssigkeit (EZF = Flüssigkeit außerhalb
Die Photosynthese ist der wichtigste Assimila- der Zellen in den Zellzwischenräumen). Dieser
tionsprozess auf der Erde, weil durch sie so- Dipolcharakter des Wassers ermöglicht es außer-
wohl die stoffliche als auch die energetische dem, dass Stoffe gelöst und mit der Flüssigkeit
Grundlage für alle heterotrophen Organismen im Organismus transportiert werden können.
geschaffen werden. Außerdem produziert sie den Wasser kommt in Molekülverbänden vor. Auf-
gesamten molekularen Sauerstoff auf der grund seiner inneren Struktur kann es viel
Erde. Wärme aufnehmen und transportieren. Diese
Eigenschaft ist eine wichtige Voraussetzung für
die Regulation der Körpertemperatur.
18 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Wassermolekül positiver Ladungsschwerpunkt


negativer Ladungsschwerpunkt

Ionen mit Wasserhülle

Abb. 2.1 Wassermolekül und Hydratation.

Merke 2.1.2 Mineralstoffe


Wasser dient aufgrund seiner chemischen und Die Mineralstoffe (Salze) liegen entweder disso-
physikalischen Eigenschaften im Organismus ziiert (= Elektrolyte) oder in gebundener Form
– als Baustoff (ca. 60 % des menschlichen vor. Die Elektrolytkonzentrationen sind in der
Körpers besteht aus Wasser), EZF und in der IZF unterschiedlich, wie die
– als Lösungsmittel und Transportmilieu für: Tabelle 2.1 zeigt. Alle übrigen Mineralstoffe
Elektrolyte, Hormone, Glucose, Aminosäu- kommen nur in sehr geringen Mengen vor und
ren, Stoffwechselzwischen- und Stoffwech- werden deshalb als Spurenelemente bezeichnet.
selendprodukte,
– der Temperaturregulation, Spurenelemente (Bedeutung)
– als Reaktionsmedium und Reaktionsteilneh- Eisen: Zentralatom des roten Blutfarbstoffes
mer für die chemischen Reaktionen in der (Hämoglobin).
Zelle. Kupfer: Zentralatom vieler Enzyme.

Tab. 2.1 Elektrolytkonzentrationen.


IZR EZR hauptsächliche Funktion/
Mineralstoffe (mmol/l)1) (mmol/l) biologische Eigenschaften
Natrium (Na+) 10 145 Grundvoraussetzung
Kalium (K+) 155 4 für die Erregbarkeit,
osmotische Regulation.
+
Calcium (Ca2 ) 10-5 2,5 Blutgerinnung,
Muskelkontraktion,
Knochen- und Zahnaufbau,
Herztätigkeit, Erregbarkeit.
+
Magnesium (Mg2 ) 15 1 Bestandteil zahlreicher Enzyme.
Chlorid (Cl-) 8 102 HCl-Produktion im Magen,
osmotische Regulation.
Bicarbonat (HCO3-) 10 25 Pufferung.

1) 1 mol = 6 x 1023 Teilchen


2.1 Bau- und Funktionsstoffe 19

Zink: Bestandteil des Insulins und von Enzy- Stoffwechselvorgängen beteiligt. Außerdem sind
men. sie Bausteine für viele biologisch wichtige
Mangan: Bindegewebs- und Skelettentwicklung, Verbindungen (✑ Tab. 2.2).
Bestandteil von Enzymen. Der eigentliche Energieträger ist die Glucose
Kobalt: Zentralatom des Vitamin B12, Bildung (Traubenzucker). Im Blut gelöst wird Glucose
von Blutzellen. als Blutzucker zu allen Zellen transportiert.
Iod: Bestandteil der Schilddrüsenhormone Durch regulierende Hormone (einerseits Insulin,
Trijodthyronin und Thyroxin. andererseits Glucagon u. a. ) wird der Glucose-
Fluor: Knochen- und Zahnaufbau. spiegel im Blut beim Gesunden zwischen 3,4
und 5,5 mmol/l einreguliert (= 0,6 bis 1 g pro
Merke Liter bzw. als Messwert oft angegeben 60 bis
In allen Körperflüssigkeiten liegen charakte- 100 mg pro 100 ml Serum).
ristische Elektrolytkonzentrationen vor. Die
dominierenden Ionen im IZR sind K+ und

P Vor allem Erythrozyten und Nervenzellen
Eiweißionen, im EZR Na+ und Cl-. sind bei der Deckung ihres Eigenbedarfes auf
Die Mineralstoffe dienen dem Körper als Bau- Glucose angewiesen. Ein Glucoseabfall im
sowie Regelstoffe und sind Bestandteile von Blut unter 3,4 mmol/l führt deshalb zu Ausfall-
Enzymen. erscheinungen des zentralen Nervensystems
(ZNS). Besonders gefährlich ist der hypoglykä-
mische Schock.

P Veränderungen der Mineralstoffkonzentra-
tionen führen zu schweren Funktionsstörungen. Glykogen ist die Speicherform der Kohlenhydrate
im tierischen Organismus. Gespeichert wird es in
der Muskulatur (= Muskelglykogen) und in der
Leber (= Leberglykogen). Der Muskelglykogen-
2.1.3 Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße vorrat ist relativ stabil und beträgt ca. 300 g. Die
Leberglykogenmenge wird mit ca. 100 g angege-
Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße sind energie- ben und ist sehr beweglich. Glykogen kann bei
Bedarf rasch in Glucose umgewandelt werden.
reiche organische Stoffe. Sie werden als Bau-,
Umgekehrt lässt sich Glucose sehr schnell in
Betriebs- und Funktionsstoffe benötigt. Für diese
Glykogen umwandeln.
Stoffe besteht ein Mindestbedarf.
Merke
Kohlenhydrate
Die Kohlenhydrate, die aus den Elementen Kohlenhydrate sind der Energielieferant
Kohlenstoff (C), Sauerstoff (O) und Wasserstoff Nummer eins. Die Möglichkeit der raschen
(H) bestehen, sind die einzigen von den Zellen Umwandlung von Glucose in Glykogen und
ständig benötigten und genutzten Energieliefe- umgekehrt garantiert einen konstanten Blut-
ranten. Sie sind an allen energieabhängigen zuckerspiegel.

Übersicht über wichtige Kohlenhydrate


und ihre biologische Bedeutung im menschlichen Körper. Tab. 2.2
Gruppe Vertreter Biologische Bedeutung

Monosaccharide Glucose (Hexose) Energiespender,


Baustein und Reaktionspartner
Fruktose (Hexose) Reaktionspartner
Ribose (Pentose) Baustein der RNA
Desoxyribose (Pentose) Baustein der DNA
Polysaccharide Glykogen Energiespeicherung
20 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Fette (Lipide)
Fette (bestehend aus den Atomen C, O, H) stel- G Fettsäure-Rest
len eine heterogene Stoffgruppe dar. Alle Fett- l R lipophiler
stoffe sind wasserunlöslich. Für unsere Betrach- y Anteil
c e Fettsäure-Rest
tung kommen infrage: e
– Triglyceride als einfache Lipide, r s
– Phosphatide als zusammengesetzte Lipide, die o t Phoshorsäure-Rest hydrophiler
l (organischer,
zusätzlich Phospor (P) und andere Atome ent- basischer Bestandteil) Anteil
halten,
– Cholesterol (= Cholesterin) als wichtigstes
Sterin des höheren tierischen Organismus und Phosphatide gleichen im Aufbau den Triglyce-
– Steroidhormone. riden, haben aber statt einem der drei Fettsäure-
reste einen Phophorsäurerest gebunden, der sich
Triglyceride sind Verbindungen (Ester) von an Wasser binden kann (hydrophiler Anteil). So
Glycerol mit drei gleichen oder verschiedenen können Stoffe, die sich nicht in Wasser lösen,
Fettsäuren (daher Triester). Dabei kann es sich durch Bindung an Phosphatide wasserlöslich,
um gesättigte Fettsäuren (FS) handeln, die vor und dadurch mit der Blutflüssigkeit transportiert
allem in tierischen Fetten vorkommen, oder um werden. Außerdem werden Phosphatide beim
ungesättigte Fettsäuren mit einer oder mehreren Aufbau von Zellwänden und anderen Bio-
Doppelbindungen, die überwiegend Bestandteil membranen benötigt.
pflanzlicher Fette sind. Ungesättigte Fettsäuren
Cholesterol (oft noch als Cholesterin bezeich-
sind ernährungsphysiologisch günstiger.
net) befindet sich, wie die Phosphatide, in allen
Fettbildung Zellen und wird ebenfalls für den Aufbau der
G + FS G Biomembranen benötigt. Außerdem ist es
Fettsäure-Rest + H2O
l l R Ausgangsstoff für die Steroidhormone und
y y Gallensäuren. Cholesterol kommt in freier
c c e (unveresterter Form) in den Zellen und in gebun-
e + FS e s
Fettsäure-Rest + H2O
dener (veresterter Form) im Blutplasma vor.
r r
o o t Steroidhormone
l + FS l Fettsäure-Rest + H2O

P Ein erhöhter Cholesterolspiegel im Blut
Einige Fettsäuren kann der Körper selbst synthe- (Hypercholesterinämie) zählt neben Überge-
tisieren, andere müssen zugeführt werden. Die wicht zu den ernährungsbedingten Risiko-
wichtigste Fettsäure für den Menschen ist die faktoren für Arteriosklerose mit den möglichen
Linolsäure. Sie ist Ausgangsstoff für die Syn- Folgen eines Herzinfarktes oder Schlagan-
these weiterer Fettsäuren, die bei Mangel von falles.
Linolsäure ebenfalls essentiell werden. Mehrfach
ungesättigte Fettsäuren werden besonders für den
Aufbau von Biomembranen benötigt. (✑ Hormonsystem, Kap. 15.3.3, S. 304).


P Ungesättigte Fettsäuren sind besonders in Merke
pflanzlichen Fetten enthalten. Deshalb sind diese Fette leisten vielfältige und nützliche Auf-
für die Ernährung wertvoller als tierische Fette. gaben, wie z. B.:
• Energiespeicherung
Triglyceride dienen im Organismus als
• Schutz vor Auskühlung Triglyceride
– langfristige Energiespeicher und Reservedepot
• mechanischen Schutz
(Glykogen dagegen ist ein Kurzzeitspeicher);
– Körperfett dem Schutz vor mechanischen Be- und dienen als
lastungen;
– Fettschicht unter der Haut der Isolation und • Bausteine der Biomembranen Phosphatide,
Cholesterol
der Temperaturregelung des Körpers.
2.1 Bau- und Funktionsstoffe 21

Eiweiße (Proteine) Je nach Anzahl der Amino- und Carboxylgrup-


Eiweiße, die neben den Atomen C, O und H pen im Molekül unterscheiden wir:
noch Stickstoff (N) und häufig Schwefel (S) und – neutrale Aminosäuren (Alanin, Threonin,
Phosphor (P) enthalten, sind die kompliziertes- Methionin, Valin, Leucin, Isoleucin),
ten Verbindungen der Lebewesen. Sie stellen den – basische Aminosäuren (Lysin, Arginin),
Hauptanteil der organischen Substanz des – saure Aminosäuren (Asparaginsäure, Gluta-
Menschen dar. Jeder Zelltyp besteht aus spezifi- minsäure).
schen Eiweißen, sodass sich auch jedes Indivi-
duum in der Gesamtheit seiner Eiweiße von den Aminosäuren bilden Ionen, und zwar:
übrigen unterscheidet. – in neutraler Lösung (pH 7): Zwitterionen,
– in saurer Lösung (pH < 7): Kationen,
Aminosäuren als Bausteine der Eiweiße – in basischer Lösung (pH > 7): Anionen.
Die Grundbausteine der Eiweiße sind 20 ver-
schiedene Aminosäuren, von denen Isoleuzin, Die Fähigkeit, überschüssige H+ bzw. OH- che-
Leuzin, Lysin, Methionin, Phenylalanin, Thre- misch zu binden, trägt zur Konstanthaltung des
onin, Tryptophan und Valin essentiell (unent- pH-Wertes der Körperflüssigkeiten bei (✑ auch
behrlich) sind, d. h., diese Aminosäuren können Pufferung, S. 30).
vom menschlichen Organismus nicht syntheti-
siert werden. Eiweißbildung
Aminosäuren verknüpfen sich zu Peptiden bzw.
Aminosäuren sind Stoffe, die im Molekül Eiweißen.
Aminogruppen (-NH2) und Carboxylgruppen
(-COOH) enthalten. Je nach Anzahl der miteinander verbundenen
Aminosäuren unterscheidet man:
Tab. 2.3 Allgemeine Formel der Aminosäuren. – Dipeptide: 2 Aminosäuren,
– Tripeptide: 3 Aminosäuren,
H – Polypeptide: ab 4 Aminosäuren.

R C COOH (= saure Funktion) Merke


Ab einer Kettenlänge von ca. 100 Aminosäu-
ren spricht man von Eiweißen (Proteinen).
NH2 (= basische Funktion)
Eiweiße sind Riesenmoleküle.

Verhalten von Aminosäuren in Lösungen mit unterschiedlichen pH-Werten. Tab. 2.4

Zwitterion
Das H+ der Carboxylgruppe wandert zur Aminogruppe

R - CH - COO-
Protonenübergang
NH3+

Kation Anion
R - CH - COOH R - CH - COO-

NH3+ NH2

Bei H+-Überschuss in saurer Lösung nimmt die Bei OH--Überschuss in basischer Lösung verbindet
Carboxylgruppe ein H+ auf. Es entsteht ein Kation. sich das H+ der Aminogruppe mit dem OH- zu H2O.
Es entsteht ein Anion.
22 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Tab. 2.5 Einteilung der Eiweiße (Übersicht).

Eiweiße

einfache Eiweiße zusammengesetzte Eiweiße


enthalten neben den
nur aus Aminosäuren
Aminosäuren noch andere
aufgebaut
Bestandteile

– Glykoproteine (Schleimstoffe)
Globuläre Gerüst- (Protein + Kohlenhydrat)
Eiweiße eiweiße – Lipoproteine
(Protein + Fett)
– Albumine – Kollagene – Nucleoproteine
– Globuline – Keratine (Protein + Nucleinsäure)
– Phosphoproteine
(Protein + Phosphorsäure)

Räumliche Struktur der Eiweiße allem in Muskelzellen bzw. -fasern,


Die Proteine liegen in verschiedenen Strukturen • Stofftransport durch Transportproteine,
vor, die für ihre biologische Aktivität bedeu- • Festigung und Schutz durch Strukturproteine
tungsvoll sind. Man unterscheidet vier Stufen: (z. B. Kollagen) in Haut, Sehnen, Knorpel,
Primärstruktur: Genetisch festgelegte Aufein- Knochen,
anderfolge (= Sequenz) der Aminosäuren, für die • Pufferung in den Körperflüssigkeiten.
es eine gigantische Fülle von Möglichkeiten gibt.
Sekundärstruktur: Spiralform (= Helixstruk-
tur), lange Peptidketten.
Tertiärstruktur: knäuelartige Aufwindung der 2.2 Zellen und ihr umgebendes
Sekundärstruktur durch intramolekulare Wechsel- Milieu
wirkungen.
Quartärstruktur: räumliche Anordnung mehre- Zellen sind die Grundbausteine des menschlichen
rer Tertiärstrukturen durch weitere intramoleku- Organismus. Ein einziger Blutstropfen enthält ca.
lare Wechselwirkungen. 5 Millionen Blutzellen.
In Anpassung an bestimmte Funktionen haben
Eigenschaften und Funktionen der Proteine lie- sich vielfältige Zellformen herausgebildet, z. B.
gen begründet in ihrer Strukturvielfalt und che- Knochenzellen, Nervenzellen, Epithelzellen,
mischen Reaktionsfreudigkeit. Fettzellen etc.
Die Eiweiße kommen bei Pflanzen und Tieren
vor und sind für die Struktur und für die Gewebe sind Zellverbände aus annähernd
Funktion des menschlichen Organismus von gleichartig differenzierten Zellen und der von
großer Bedeutung. ihnen abgegebenen und sie verbindenden Inter-
zellularsubstanz, z. B. Muskelgewebe, Nerven-
Die wichtigsten biologischen Funktionen sind: gewebe, Epithelgewebe, Binde- und Stütz-
• Baustoff von Zell- und Gewebsstrukturen, gewebe.
• Stoffwechselsteuerung als Enzyme und Hor-
mone, Organe sind Teile des Körpers, die aus verschie-
• Abwehr durch Antikörperbildung, denen Geweben bestehen und eine funktionelle
• Blutstillung durch die Gerinnungsfaktoren, Einheit bilden, z. B. Auge, Herz, Niere, Lunge,
• Bewegung durch kontraktile Eiweiße, vor Leber u. a.
2.2 Zellen und ihr umgebendes Milieu 23

Zellorganelle Zellen
(z. B. Mitochondrium) (z. B. glatte Muskelzellen,
Bindegewebszellen)

Ganzheit
Der Mensch
Gewebe
(z. B. Endothelgewebe
der Lungenbläschen)

Organ
(z. B. Lunge)
Organsystem
(z. B. Atmungssystem)

Viele gleichartige Zellen bilden durch Zusammenschluss Gewebe; unterschiedliche


Gewebe bilden Organe, und Organe schließen sich zu Organsystemen zusammen.
Alle Organsysteme bilden den menschlichen Organismus. Abb. 2.2

Organsysteme sind Funktionseinheiten, die aus Die Zelle ist die kleinste selbständige Bau- und
mehreren Organen bestehen und geordnet zu- Funktionseinheit mit den Kennzeichen des
sammenarbeiten. Das Verdauungssystem z. B. Lebens. Diese sind:
besteht aus den Organen Mund, Rachen, Speise- – Vermehrungsfähigkeit (Fortpflanzung),
röhre, Magen und Darm. – Formwechsel (Wachstum und Entwicklung),
– Informationsaustausch (Aufnahme, Weiter-
Merke leitung, Verarbeitung, Speicherung und Ab-
Der menschliche Organismus besteht aus Zel- gabe von Informationen),
len, Geweben, Organen und Organsystemen. – Stoff- und Energiewechsel.
Beachte: Die Zellteilung wird im Abschnitt 2.5.3
Seite 48 beschrieben.
Zellen sind im Prinzip identisch gebaut. Sie vari-
2.2.1 Bau und Funktion der Zelle
ieren allerdings aufgrund unterschiedlicher
Funktionen vor allem in ihrer Gestalt und ihren
Die Zellenlehre (Zytologie) beschreibt den grund-
funktionellen Bestandteilen.
sätzlichen Aufbau und die Leistungen der Zellen.
24 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Menschliche Zellen Zellmembran (d = 9 nm = 910 = 9 m)


• durchschnittliche Größe: 7,5 μm, Alle Membranen der Zelle sind im Prinzip
• kleinste Zellen: Lymphozyten (5 μm), gleichartig gebaut. Sie sind hauchdünn (wenige
• größte Zelle: Eizelle (150 μm), millionstel Millimeter) und bestehen aus einer
• längste Zelle: Nervenzelle mit Fortsatz (1 m). Phospholipiddoppelschicht mit eingelagerten
Membranproteinen. Jede Phospholipidschicht
besteht wiederum aus einem hydrophilen
Glykoprotein (wasserlöslichen) Anteil (Membranaußen- und
-innenseite) und einem hydrophoben (wasserab-
Proteine weisenden) Anteil (Membranmitte).
Die Membranproteine spielen eine wichtige
Fettsäuren Rolle für den Transport hydrophiler Stoffe durch
Cholesterol die Biomembranen. Man unterscheidet diesbe-
züglich zwischen Transportproteinen und Kanal-
oder Tunnelproteinen. Letztere durchdringen die
gesamte Membran, sodass durch den Kanal ge-
löste Stoffe fließen können.
Die meisten Zellmembranen besitzen an ihrer
Zytoplasma Außenseite spezifische Kohlenhydratketten, wel-
che in ihrer Gesamtheit als Glykokalyx bezeich-
net werden. Die Glykokalyx ist mit Rezeptor-
Wichtige Membranfunktionen
molekülen ausgestattet, z. B. für Hormone und
– Abgrenzung von Zellen und
Antikörper, und hält die Zellen zusammen.
Kompartimenten als selektive Barriere
– Erkennen von:
Kompartimente (membranumhüllte Organellen)
• körpereigenen Zellen
• pathogenen Keimen (Viren, Bakterien) Als Kompartimente werden Reaktionsräume be-
• Botenstoffen durch Rezeptoren zeichnet, die von Membransystemen umschlos-
• Molekülen für deren Aufnahme sen werden. Intrazellulär sind es die Zellorga-
nellen (z. B. Zellkern, Mitochondrien), die vom
Abb. 2.3 Elementarmembran mit Glykokalyx. Zellplasma getrennt sind. Weitere Membran-
systeme bilden das endoplasmatische Retikulum
und den Golgi-Apparat. Sinn dieser Membran-
systeme ist, den Zellinnenraum in eine Vielzahl
Grundbausteine tierischer bzw. von Reaktionsräumen aufzuteilen, damit mög-
menschlicher Zellen lichst viele verschiedene Stoffwechselreaktionen
gleichzeitig ablaufen können. Extrazellulär wer-
den der intravasale Raum (in den Blutgefäßen)
Zellmembran Zellplasma und das Interstitium (die Räume zwischen den
(Plasmalemm) (Zytoplasma)
Zellen, EZR) unterschieden. Die Beziehung der
Flüssigkeitsräume zueinander ist in der Abb. 2.4
zu sehen.
Grundplasma Zellorganellen
(Cytosol) • Zellkern (Nucleus)
Grundplasma (Cytosol)
• Mitochondrien
Das Zellplasma ist ein kolloidales System mit
• endoplasmatisches
Retikulum wechselnder Viskosität (= Zähigkeit) und besteht
• Ribosomen hauptsächlich aus Wasser, Eiweißen, Ionen (vor
• Golgi-Apparat allem Na+, K+, Ca2+, CI-, PO42-, SO42-) sowie
• Lysosomen löslichen Kohlenhydraten und Nukleinsäuren.
• Microbodies Im Cytosol finden wichtige Stoffwechselreak-
• Zytoskelett tionen statt (z. B. Glykolyse, Fettsäuresynthese –
• Zentralkörperchen ✑ S. 40/41). Außerdem dient es dem Stoff- und
Informationsaustausch.
2.2 Zellen und ihr umgebendes Milieu 25

Atmungssystem Verdauungssystem Harnsystem Haut

Schweißdrüse

Blutgefäß

intravasaler Raum

extrazellulärer
Raum (EZR) interstitieller Raum

intrazellulärer Raum (IZR)

Zellmembran Kapillarmembran –
hohe Durchlässigkeit für hohe Durchlässigkeit
Wasser, geringe für Ionen für Wasser und Ionen

Darstellung der Kompartiments-Beziehungen. Abb. 2.4


26 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Zellorganellen und ihre Aufgaben


Zellkern (Nucleus) – d: 3 – 10 μm („Kommandozentrale“ der Zelle)
Wird von einer Doppelmembran abgegrenzt. Im Inneren befinden sich das Chromatin, das Kernkörper-
chen und das Kernplasma. Chromatin und Kernkörperchen bestehen hauptsächlich aus Nukleinsäure
(95 % DNS, 5 % RNS) und Eiweißen; das Kernplasma vorwiegend aus Wasser und Eiweißen.
Hauptaufgaben: Speicherung der Erbinformation und ihre Weitergabe an die Orte der Eiweißsynthese
während des Zellwachstums und der Zellentwicklung, Übertragung der Erbinformation bei der Zell-
teilung.

Mitochondrien – d: 0,5 – 1 μm; l = 1 – 5 μm („Kraftwerke“ der Zelle)


Lang gestreckte Zellorganellen, von zwei Membranen begrenzt (äußere Membran glatt, innere einge-
stülpt), dadurch mehrfache „Kammerbildung“ (Kompartimentierung) und Oberflächenvergrößerung. Ent-
halten Enzyme der Atmungskette, des Zitronensäurezyklus und des Fettabbaus.
Aufgabe: Energiebereitstellung durch Oxidation, Abbau von Nährstoffen.

Agranuläres (glattes) endoplasmatisches Retikulum


Meist schlauchförmig und oft mit Golgi-Apparat verbunden, ohne Ribosomen.
Aufgabe: Bildung der Lipide und Steroidhormone, Entgiftungsfunktion (z. B. Entgiftung von Medika-
menten in Leberzellen).

Granuläres (raues) endoplasmatisches Retikulum


Dreidimensionales, röhren- und bläschenförmiges Hohlraumsystem, Membranen sind mit Ribosomen be-
setzt.
Aufgabe: Synthese der verschiedenen Proteine (z. B. Membranproteine, Glykoproteine, Proteine für den
Aufbau der Lysosomen).

Ribosomen – d: 18 – 20 nm
Kleinste kugelförmige Partikel, die aus ca. 40 % RNA und 60 % Proteinen bestehen, liegen entweder ein-
zeln im Plasma oder am granulären endoplasmatischen Retikulum.
Aufgabe: Eiweißsynthese.

Golgi-Apparat – netzförmig oder Knäuel („Verschiebebahnhof“ der Zelle)


Membranumgrenzte flache Hohlräume (ein Zwischenstapel oder Membranfeld heißt Dictyosom).
Aufgabe: Beteiligung an der Synthese aller sekretorischen Produkte einer Zelle, z. B. der Glykoproteine
zur ständigen Erneuerung der Glykokalyx.

Lysosomen – d: 0,1 – 1 μm – variabel


Vesikel (= Bläschen) meist vom Golgi-Apparat stammend, mit Verdauungsenzymen.
Aufgabe: Intrazellulärer Abbau (Verdauung) organischer Substanzen sowohl aus der Zelle als auch von außen.

Microbodies (Peroxisomen) – d: 0,5 – 1,5 μm („Müll-Recycling-Anlage“ der Zelle)


Rundliche membranbegrenzte Zellorganellen, die durch Abschnürung vom endoplasmatischen Retikulum
entstehen, enthalten verschiedene oxydative Enzyme.
Aufgabe: Mithilfe der Katalase wird z. B. das bei bestimmten Stoffwechselreaktionen entstehende giftige
Wasserstoffperoxid (H2O2) in Wasser (H2O) und Sauerstoff (O2) gespalten. Entgiftungsfunktion.
2.2 Zellen und ihr umgebendes Milieu 27

Zytoskelett
Die das Zytoskelett bildenden Strukturen sind für den Erhalt der Zellform und für die Stabilität der Zellen
zuständig. Man unterscheidet:
• Mikrofilamente, die aus den fadenförmigen Eiweißen Aktin und Myosin bestehen und sich meist in
Bündeln zusammenlagern, welche dann als Fibrillen bezeichnet werden (z. B. Myofibrillen in Muskel-
zellen, Neurofibrillen in Nervenzellen, Tonofibrillen in Epithelzellen).
• Mikrotubuli sind 25 nm dicke, röhrenförmige, vorwiegend aus dem Protein Tubulin bestehende
Strukturen. Sie befinden sich z. B. in Zilien, Geißeln und Mikrovilli und bilden den Spindelapparat
während der Zellteilung.
Aufgaben: Stabilisierung von Form und Festigkeit der Zellen, Transport von Zellbestandteilen (z. B.
Chromosomen bzw. Chromatiden, Vesikel) und Widerlager bei Bewegungsabläufen.

Zentralkörperchen (Zentriol) – l: 400 nm, d: 150 nm


Das Zentriol liegt in der Nähe des Zellkerns und besteht aus 9 Gruppierungen gleich langer Mikrotubuli.
Aufgabe: Die Zentriolen stehen funktionell in enger Beziehung zur geordneten Bewegung der
Chromosomen bei der Zellteilung (Spindelapparat).

Zellkern (Nucleus) Mitochondrien Agranuläres (glattes) Granuläres (raues)


endoplasmatisches endoplasmatisches
Retikulum Retikulum
mit Ribosomen

Ribosomen Golgi-Apparat

Lysosomen Microbodies Zytoskelett Zentralkörperchen

Bestandteile einer Zelle. Abb. 2.5


28 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

2.2.2 Flüssigkeitsräume des Körpers und Bilanzierung


Körperflüssigkeiten
Wasserzufuhr Wasserausscheidung
Flüssigkeitsräume • durch Getränke Harn – Niere
Als Flüssigkeitsräume bzw. Kompartimente wer- • durch feste Nahrung Kot – Darm
den hier die Volumenbereiche des Körpers (z. B. • Oxidationswasser Atemluft – Lunge
Blutvolumen) bezeichnet. Die Abbildung 2.4 Schweiß – Haut
(Seite 25) zeigt die Beziehungen der Komparti- = 2,5 l = 2,5 l
mente untereinander und zur Umwelt. Die
Permeabilität (= Durchlässigkeit) der Barrieren Die temperaturabhängige nicht
(= Kapillar-, Zellmembran) gilt nur für passive wahrnehmbare Wasserabgabe durch Haut
Transportvorgänge (✑ S. 32). und Atmung wird als
Perspiratio insensibilis bezeichnet.
Bei einem Erwachsenen mit einer Körpermasse
von ca. 70 kg ergeben sich bei 60 % Wasser-
gehalt ca. 42 l Wasser, die wie folgt auf die
Flüssigkeitsräume aufgeteilt werden. 2.2.3 Das innere Milieu
l. Extrazellulärer Raum mit extrazellulärer
Flüssigkeit: ca. 14 l Das innere Milieu ist die unmittelbare Umge-
• interstitieller Raum (= Zwischenzell- bung der Zellen, wobei Menge, Verteilung und
raum) mit der interstitiellen Flüssigkeit Zusammensetzung der Körperflüssigkeiten (inne-
(ca. 10 l), res Flüssigkeitsmilieu) und die Temperatur
• intravasaler Raum (= Raum in den wichtige Bestimmungsgrößen sind. Damit alle
Blut- und Lymphgefäßen) mit der Blut- biologischen Reaktionen optimal ablaufen kön-
und Lymphflüssigkeit (ca. 4 l). nen, muss das innere Milieu dauerhaft konstant
2. Intrazellulärer Raum (= Gesamtheit der gehalten werden. Dies wird als Homöostase
Zellinnenräume) mit intrazellulärer Flüs- bezeichnet.
sigkeit: ca. 28 l. Die Regelung der Homöostase des inneren
Die Körperflüssigkeiten sind Lösungen und Milieus umfasst demnach:
bestehen aus dem Lösungsmittel Wasser, in dem 1. die Regulation des inneren Flüssigkeits-
eine Vielzahl an Stoffen enthalten ist. milieus mit
• der Einstellung des normalen Volumens
Wasserbedarf (Isovolämie),
Der Wasserbedarf hängt von den Faktoren Alter, • der Einstellung des normalen osmotischen
körperliche Belastung, Klima und Kochsalzzu- Druckes (Isotonie),
fuhr ab. • der Einstellung des normalen Elektrolyt-
haushaltes (Isoionie) und
Merke • der Einstellung des normalen pH-Wertes
(Isohydrie);
Der Mindestwasserbedarf pro Tag beträgt 2. die Regulation der Körpertemperatur.
1 bis 1,5 Liter.
Die durchschnittliche Wasserzufuhr pro Tag Darüber hinaus spielt die Steuerung des Hor-
sollte ca. 2,5 Liter betragen. monhaushaltes, der Atmung und des Kreislaufes
ebenfalls eine bedeutende Rolle.

P Säuglinge haben wegen ihres gesteigerten Merke
Stoffwechselgeschehens und erhöhter Wasser-
ausscheidung einen im Verhältnis höheren Der Hypothalamus (Teil des Zwischenhirns)
Wasserbedarf und trocknen leichter aus ist das wichtigste Integrationsorgan des inne-
(Lebensgefahr!). ren Milieus. Die Homöostase des inneren
Milieus wird durch das Blut, die Nieren und
die Lunge reguliert.
2.2 Zellen und ihr umgebendes Milieu 29


P Größere Abweichungen des inneren Milieus dische Logarithmus gewählt, sodass ein fallender
können, insbesondere bei Säuglingen und älte- pH-Wert eine höhere Wasserstoffionenkonzen-
ren Menschen, lebensbedrohlich sein. tration bedeutet.
Gründe, die zu solchen Veränderungen führen,
sind z. B.: [H+] in mol/l pH-Wert
– Wasser- und Elektrolytverluste bei extremem
Schwitzen, Durchfällen oder Erbrechen,
1,0 = 100 0
– zu geringe Flüssigkeitszufuhr über längere
0,1 = 10-1 1
Zeit,
0,01 = 10-2 2
– Störungen des Elektrolythaushaltes bei Nieren-
= 10-3

sauer
0,001 3
erkrankungen,
0,0001 = 10-4 4
– Eiweißmangel bei Hunger oder Leberschäden,
0,00001 = 10-5 5
– Einnahme bestimmter Medikamente.
0,000001 = 10-6 6
Wichtig: Bei Verlust größerer Flüssigkeitsmen-
0,0000001 = 10-7 7 neutral
gen für ausreichende Flüssigkeits- und Elektro-
0,00000001 = 10-8 8

alkalisch (basisch)
lytzufuhr sorgen!
0,000000001 = 10-9 9
0,0000000001 = 10-10 10
0,00000000001 = 10-11 11
2.2.4 Säure-Basen-Haushalt 0,000000000001 = 10-12 12
0,0000000000001 = 10-13 13
Für eine normale Stoffwechselfunktion müssen 0,00000000000001 = 10-14 14
die Säure- und Basenkonzentrationen in den
Körperflüssigkeiten immer konstant gehalten
werden. Lösung pH-Wert
Entscheidend für das Säure-Basen-Gleichge- sauer < 7,0
wicht ist die Einstellung einer festen Wasser- neutral = 7,0
stoffionenkonzentration (Isohydrie) mit einem alkalisch bzw. basisch > 7,0
pH-Wert von 7,37 bis 7,43 in der extrazellulären
und 7,28 bis 7,29 in der intrazellulären Flüssig- Magensaft 1,5
keit. Die Isohydrie ist notwendig, weil die En- Urin 4,7 bis 8,0
zyme bestimmte, oft sehr eng begrenzte pH-Werte destilliertes Wasser 7,0
für ihre Wirksamkeit benötigen. Blut 7,37 bis 7,43
Schon eine geringfügige Änderung der Wasser- Bauchspeichel 8,0 bis 9,0
stoffionenkonzentration ist lebensbedrohlich. Darmsaft 8,0
Ammoniak 12,0
Die Isohydrie ist permanent Störungen ausge-
setzt, weil im Stoffwechselgeschehen ständig
u. a. H+, aber auch OH- anfallen. Hauptsäure- Merke
quelle ist der Energiestoffwechsel. Hier entsteht
Der pH-Wert der intra- und extrazellulären
die flüchtige Kohlensäure. Darüber hinaus fallen
Körperflüssigkeiten liegt im schwach alkali-
nichtflüchtige Säuren an, z. B. Milch- und
schen (basischen) Bereich.
Phosphorsäure.

pH-Wert Die Zahlenangabe von 0 bis 14 kommt zustande,


Der pH-Wert ist eine Zahl zur Kennzeichnung weil in sauren, neutralen und basischen Lösun-
der Wasserstoffionenkonzentration [H+] in einer gen das Produkt aus Wasserstoffionenkonzen-
Lösung und somit der Stärke einer Säure oder tration [H+] und Hydroxidionenkonzentration
Base. Der Organismus hält den pH-Wert von [OH–] konstant ist, immer 10-14 mol/l. Sind viele
allen Messgrößen am genauesten konstant. H+-Ionen enthalten (z. B. im sauren Milieu pH 4
Um eine praktikable Anwendung mit einer ein- = 10–4), dann sind weniger OH–-Ionen vorhan-
fachen Zahl zu haben, wurde der negative deka- den (10–10).
30 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Für neutrale Lösungen Nun gibt man nacheinander in beide Reagenz-


[H+] • [OH-] = konstant bedeutet dies: gläser so viel Salzsäure, bis ein Farbumschlag
[10-7] • [10-7] = 10-14 eintritt. Dieser Farbumschlag tritt im Reagenz-
glas II bereits nach wenigen Tropfen, im
Regulation des Säure-Basen-Haushaltes Reagenzglas I erst nach vielen Tropfen Salzsäure
Wie zuvor ausgeführt, muss der pH-Wert in sehr ein.
engen Grenzen konstant gehalten werden. Dies
geschieht durch drei Vorgänge: Erklärung
– Pufferung, Im Blutplasma befinden sich Puffersysteme
– respiratorische Regulation durch Abatmung (Kohlensäure-Bicarbonat-System, Plasmaeiwei-
von CO2 und ße), die durch chemische Bindung der H+ zu-
– renale Regulation durch differenzierte Aus- nächst den pH-Wert konstant halten.
scheidung von H+ bzw. HCO3- über die Nieren. Die große Bedeutung des Kohlensäure-Bicar-
bonat-Puffersystems liegt darin, dass die Kon-
Pufferung zentrationen beider Pufferkomponenten (H+ und
Pufferung bedeutet, dass durch bestimmte Stoffe HCO3-) durch das System Blut – Atmung – Niere
– Puffersubstanzen – überschüssige H+ bzw. weitestgehend unabhängig voneinander verän-
OH- chemisch gebunden und somit Schwan- dert werden können.
kungen des pH-Wertes vermieden werden. Die So zerfällt einerseits die bei H+-Überschuss ver-
Puffersubstanzen befinden sich in den Körper- mehrt gebildete Kohlensäure in H2O und CO2.
flüssigkeiten, z. B. im Blutplasma. Letzteres kann über die Lunge durch Intensivie-
Für die Konstanthaltung des pH-Wertes im rung der Atmung abgegeben werden. Anderer-
menschlichen Organismus sorgen hauptsächlich seits reguliert die Niere die Abgabe von H+ und
drei Puffersysteme: HCO3- (✑ Abb. 2.6).
1. Kohlensäure-Bicarbonat-System,
2. Proteinpuffersysteme, z. B. Hämoglobin, Merke
3. Phosphatpuffersysteme.
Die respiratorische Regulation des pH-
Wertes erfolgt schnell, die renale dagegen
Versuch zum Nachweis der Pufferwirkung des
sehr langsam.
Blutplasmas
Zu diesem Zweck werden zunächst zwei Rea-
genzgläser wie folgt gefüllt: ❑
P Bei den Störungen des Säure-Basen-
Reagenzglas I: 5 ml frisches Blutplasma, Haushaltes unterscheidet man:
2 bis 3 Tropfen Methylorange; – respiratorische und nicht respiratorische
Reagenzglas II: 5 ml destilliertes Wasser, Azidose (= Säureüberschuss) sowie
2 bis 3 Tropfen Methylorange. – respiratorische und nicht respiratorische
Alkalose (= Basenüberschuss).

Tab. 2.6 Regulation des pH-Wertes.

H+ -Überschuß OH- -Überschuß

H+ H2O OH- H+ + OH- H2O

H2CO3 H2CO3

HCO3- CO2 HCO3-


Lunge Niere
2.3 Arten des Stofftransports im Organismus 31

Nahrung und Stoffwechsel

H+ CO2 OH- + CO2

HCO3-
CO2
Niere pH Wert Lunge

Puffersysteme

HCO3- oder H+

Kohlensäure-Bikarbonat-
Proteinpuffersystem Puffersystem Phosphat-Puffersystem
(Hämoglobin) (Bicarbonat) (Phosphat)
HHb H+ + Hb- H2CO3 H+ + HCO3- H2PO4- H+ + HPO42-

Prinzip der Pufferung. Abb. 2.6

2.3 Arten des Stofftransports im lisierung verschiedene Transportformen.


– Passive Transportformen (= Formen, die ohne
Organismus Energie aus dem Stoffwechsel ablaufen):
In die Zellen, innerhalb der Zellen, zwischen den Diffusion, Osmose, Filtration.
Zellen und aus den Zellen muss eine Vielzahl – Aktive Transportformen (= Formen, die Ener-
von Stoffen transportiert werden. Zum Beispiel: gie aus dem Stoffwechsel benötigen): Bläs-
– Nährstoffe, – Mineralstoffe, chentransport, Trägertransport, Konvektion.
– Vitamine, – Atemgase, Eine wichtige Voraussetzung für den geordneten
– Harnstoff, – Hormone. Stofftransport stellen die Biomembranen als Bar-
rieren mit veränderlicher Permeabilität (Durch-
Der vielzellige Organismus nutzt zu dessen Rea- lässigkeit) dar.
32 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

2.3.1 Passiver Transport Merke

Diffusion Unter Diffusion versteht man die Wanderung


In einem Versuch (vgl. Abb. 2.7) geben wir in von Teilchen aufgrund ihrer Eigenbeweglich-
einen Glaszylinder zuerst etwas Wasser und da- keit vom Ort ihrer höheren zum Ort ihrer
nach wenige Kristalle Kaliumpermanganat oder niedrigeren Konzentration bis zum Konzen-
einige Tropfen eines wasserlöslichen Farbstoffes. trationsausgleich. Dieser Transportprozess
Was geschieht? verläuft relativ langsam und setzt deshalb im
Organismus außer dem Konzentrations-
l. Die Farbstoffteilchen bewegen sich vom Ort gefälle hinreichend große Austauschflächen
ihrer höheren zum Ort ihrer niedrigeren Kon- und sehr kurze Wege voraus.
zentration (sichtbar).
2. Die Wasserteilchen bewegen sich ebenfalls Vorkommen:
vom Ort ihrer höheren zum Ort ihrer niedrige- Gasaustausch
ren Konzentration (unsichtbar). – zwischen Atemluft und Blut in der Lunge,
– zwischen Blut und Zellen in den Geweben.
Die Folge: Die Stoffe mischen sich allmählich.
Osmose
Wie auf S. 24 beschrieben, befinden sich die
rote Farbstoffteilchen Inhaltsstoffe einer Zelle in Kompartimenten, die
durch Membranen (= dünne Häutchen) vonein-
ander getrennt sind.
Diese Membranen wirken ähnlich einem Sieb
mit einer bestimmten Porenweite: Kleine Teil-
chen, z. B. Wasser-, Sauerstoff- und Kohlen-
dioxidmoleküle, können diffundieren, größere
Teilchen, z. B. Eiweißmoleküle, nicht.
Membranen, die nicht alle Teilchen hindurchtre-
ten lassen, werden als halbdurchlässige = semi-
permeable Membranen bezeichnet.

Ein Experiment – in Abb. 2.8 dargestellt – soll


Wasserteilchen uns Klarheit über die genaueren Vorgänge an
einer solchen semipermeablen Membran ver-
Abb. 2.7 Diffusion. schaffen:
Reines Wasser wird durch eine semipermeable
Membran von einer Kochsalzlösung getrennt.

hyperton
isoton
hypoton

Abb. 2.8 Osmose.


2.3 Arten des Stofftransports im Organismus 33

Die Kochsalzlösung ist die Lösung mit der höhe-


ren Konzentration1) (= hypertone Lösung) und
entspricht dem Zellplasma. Das Wasser ist die
Lösung mit der niederen Konzentration (= hypo-
tone Lösung) und entspricht der Außenlösung
einer Zelle.

Beobachtung:
Das Flüssigkeitsvolumen im inneren Gefäß
Filtermembran
vergrößert sich allmählich.

Erklärung:
Die semipermeable Membran lässt nur die Was- Niere
serteilchen hindurch, die entsprechend ihrem
Konzentrationsgefälle von außen nach innen dif-
fundieren.

Merke
Wird die Bewegung bestimmter größerer Druck
Teilchen (hier Na+ und Cl-) durch eine halb- hoch niedrig

durchlässige Membran behindert, können Blutkapillare


also nur kleinere Teilchen (hier Wasserteil-
Interstitium
chen) durch die Membran, spricht man von
niedrig hoch
Osmose. Osmose führt immer zu einer Wasser-
zunahme der hypertonen Lösung. Die größeren
Teilchen werden als osmotisch aktive Teil-
chen bezeichnet, der von ihnen hervorgerufe-
ne Druck an der semipermeablen Membran als Zellen (Gewebe)
osmotischer Druck. Verursachen Kolloide (z. B.
Eiweiße) den osmotischen Druck, heißt er kol- Filtration. Abb. 2.9
loid-osmotischer (KOD) oder onkotischer Druck.

Vorkommen: Filtration
Da fast alle Zellen semipermeable Membranen Besteht zwischen beiden Seiten einer Biomem-
als Grenzschichten (Zellmembran, intrazelluläre bran ein Druckunterschied, werden alle Teilchen
Membransysteme) besitzen, spielt die Osmose einer Flüssigkeit, die durch die Poren passen,
bei der Wasseraufnahme der Zelle und beim vom Ort des höheren zum Ort des niederen
Wassertransport innerhalb der Zelle eine bedeu- Druckes gepresst.
tende Rolle.
Vorkommen:
Merke – Stoffaustausch im Gewebe,
– Filtration des Blutplasmas in der Niere.
Voraussetzung für den Ablauf der Körper-
funktionen ist, dass die Körperflüssigkeiten
annähernd isoton (isoton = gleicher osmoti-
2.3.2 Aktiver Transport
scher Druck) sind.
Diese Transportform ist notwendig, um Stoffe
gegen Konzentrationsgefälle und hydrophile
Stoffe, die ansonsten die Biomembran nicht pas-
1) Konzentration bezieht sich auf die Menge der im Lösungsmittel
sieren können, zu transportieren. Hier sollen
Wasser gelösten osmotisch aktiven Teilchen. einige Formen näher beschrieben werden:
34 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

1. Bläschentransport
verschiedene feste Partikel EZR 1) a) Phagozytose (griech.: Fresstätigkeit
einer Zelle)
Zellmembran
Amoeboid3) bewegliche Zellen, z. B.
bestimmte weiße Blutzellen, umfließen
feste Partikel (z. B. Bakterien). An der
IZR 2)
Berührungsstelle der Zellmembran ent-
steht eine Vertiefung, die als Bläschen
Bläschen abgeschnürt wird.
b) Pinozytose (griech.: Trinken einer
Abb. 2.10 Phagozytose. Zelle)
Die Pinozytose läuft prinzipiell ähnlich
der Phagozytose ab. Es wird Flüssigkeit
mit darin gelösten Stoffen aufgenom-
Flüssigkeitströpfchen EZR 1) men. Zur Pinozytose sind im Gegensatz
zur Phagozytose fast alle Zellen fähig.
Zellmembran c) Exozytose (griech.: Ausscheidung
von Stoffen durch eine Zelle)
Verschiedene in der Zelle anfallende
IZR 2) Stoffe, z. B. Sekrete, können ebenfalls
in Bläschen, die meist vom Golgi-
Bläschen Apparat abgeschnürt werden, einge-
schlossen werden. Diese Bläschen ver-
Abb. 2.11 Pinozytose. schmelzen vom Plasma her mit der
Zellmembran und entleeren ihren
Inhalt nach außen.
EZR 1) verschiedene, in der Zelle anfallende Stoffe
2. Trägerstoffe
Die zu transportierenden Teilchen, vor
Zellmembran allem Nähr- und Mineralstoffe, werden
an spezifische Trägermoleküle –
Transporteiweiße (Carrier) – gebunden
IZR 2) (= Trägertransport) und transportiert.
Bläschen Vorkommen:
– Aufnahme der Glucose, Amino-
Abb. 2.12 Exozytose. säuren, Vitamine und Mineralstoffe
in die Darmzellen, von dort in das
Blut und danach in die Körperzellen.

Blutkapillare 3. Konvektion
Unter Konvektion wird Stofftransport
Interstitium
durch Mitführung verstanden.
Die treibenden Kräfte sind Temperatur-
oder Druckdifferenzen.

Beispiele:
– Sauerstoff- und Kohlendioxidtrans-
port bei der Belüftung der Lunge;
Trägermolekül – Stofftransport durch das Blutplasma
Zellmembran Substrat
(Carrier) und durch den Harn.
Abb. 2.13 Trägertransport. 1) Extrazellulärer Raum
2) Intrazellulärer Raum
3) Kriechbewegungen von Zellen ohne feste Zellwand
2.4 Physiologie des Stoff- und Energiewechsels 35

2.4 Physiologie des Stoff- und Stoffaufnahme


– Atmungssystem: Sauerstoff.
Energiewechsels – Verdauungssystem: organische, energiereiche
2.4.1 Stoff- und Energiewechsel Stoffe (Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße), Vita-
mine, Mineralstoffe, Wasser und Ballaststoffe
Alle Lebensäußerungen lassen sich im Prinzip (Letztere gelangen nicht in das Blut oder in
auf chemische Reaktionen im Körper zurück- die Zellen).
führen, die Bestandteile des Gesamt- und Ener-
giestoffwechsels sind. Stofftransport
Herz-Kreislauf-System; Lymphsystem; Blut und
Merke Lymphe als Transportmittel.
Stoff- und Energiewechsel ist die Gesamtheit
der chemischen Vorgänge, die der Aufnahme, Stoffausscheidung
Umwandlung und dem Abbau jener Stoffe – Harnsystem: Harn
dienen, die für die Existenz des Organismus – Atmungssystem: Kohlendioxid, Wasser
und der Aufrechterhaltung seiner Lebens- – Hautsystem: Wasser
funktionen notwendig sind. – Darm: Abbauprodukte des Stoffwechsels

Herz-Kreislauf-System

Atmungssystem Verdauungssystem

O2
Nahrung

CO2
O2

CO2

Nährstoffe

Ausscheidung

Ausscheidung

Harnsystem Haut

Stoff- und Energiewechsel. Abb. 2.14


36 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Zelle

Blutkapillaren

interstitielle Flüssigkeit

Abb. 2.15 Stoffaustausch im Gewebe.

Intermediärstoffwechsel Bau- und Betriebsstoffe aus einfachen Mole-


(Zwischenstoffwechsel) külen unter Energieverbrauch (z. B. Protein-
Intermediärstoffwechsel ist die Gesamtheit der synthese),
in den Zellen ablaufenden chemischen Reaktio- – katabole (abbauende) Stoffwechselwege
nen, denen sowohl die aufgenommenen als auch (= Betriebsstoffwechsel) – Abbau energierei-
die körpereigenen Stoffe unterworfen sind. cher organischer Verbindungen zum Zweck
der Energiefreisetzung für Organleistungen.
Prinzip:
Ausgangs- chemische Um- und End-
stoff Abbauvorgänge produkt 2.4.2 Bedeutung energiereicher Phosphatver-
bindungen im Stoff- und Energiewechsel

Die Stoffe werden einerseits zum Aufbau und zur Energiereiche Phosphatverbindungen fungieren
Erhaltung der Körperstrukturen und andererseits als Überträger Energie verbrauchender und
als Energielieferant zur Aufrechterhaltung der Energie liefernder Prozesse.
Lebensvorgänge benötigt. Jeder Stoffwechsel Die größte Bedeutung hat das Adenosintriphos-
stellt also gleichzeitig einen Energiewechsel dar. phat (ATP). Es besteht aus der organischen Base
Dieser gliedert sich in zwei sich gegenseitig Adenin, dem Zucker Ribose (Adenin + Ribose
bedingende Bereiche: = Adenosin) und drei Phosphatgruppen  P (✑
– anabole (aufbauende) Stoffwechselwege Tab. 2.7).
(= Baustoffwechsel) – Synthese körpereigener
Wird Energie freigesetzt, läuft in der Zelle fol-
Tab. 2.7 Energiereiche Phosphatverbindungen. gender Vorgang ab:

ADP + 
P + Energie ATP
Adenin – Ribose – 
P –
P ~
P
Wird Energie benötigt, kehrt sich der Vorgang um:
Adenosin energie-
reiche ATP ADP + 
P + Energie
Bindung
AMP = Adenosinmonophosphat
Merke

ADP = Adenosindiphosphat ATP ist in allen Zellen die wichtigste ener-


giereiche Phosphatverbindung und einziger
unmittelbarer Energielieferant.
ATP = Adenosintriphosphat
2.4 Physiologie des Stoff- und Energiewechsels 37

2.4.3 Enzyme Katalase1) hinzu, läuft diese Reaktion so schnell


ab, dass man den frei werdenden O2 mit einem
Die chemischen Reaktionen in der Zelle laufen glühenden Holzspan nachweisen kann. Mithilfe
nur in Anwesenheit von Katalysatoren ab. Die der Katalase wird das beim Zellstoffwechsel
Katalysatoren der Zelle heißen Enzyme (= Bio- anfallende Zellgift H2O2 beseitigt.
katalysatoren), die von ihnen umgesetzten Stoffe
Substrate. Alle Enzyme sind Proteine. 2 H2O2 Katalase 2 H 2O + O 2
Die Enzyme ermöglichen die chemischen Um-
setzungen unter äußerst günstigen Bedingungen: Die Katalase ist ein Biokatalysator. Ein einziges
37 °C, Normaldruck, pH 7,4 und wässriges Molekül kann in der Minute bis zu 5 Millionen
Milieu mit relativ hoher Geschwindigkeit. Moleküle H2O2 zerlegen. Dabei geht das Enzym
selbst unverändert aus der Reaktion hervor.
Sinn der Enzyme ist, dass alle notwendigen Reak-
tionen unter Körperbedingungen koordiniert Wie ist das möglich?
ablaufen können. Jede chemische Reaktion benötigt für den Start
einen bestimmten Energieschub. Diese Start-
Bezeichnung der Enzyme energie nennt man Aktivierungsenergie. Sie
Die Enzymnamen enden in der Regel auf -ase.
wird gebraucht, um die Teilchen der Stoffe, die
Für uns sind drei Enzymgruppen bedeutungsvoll
miteinander reagieren sollen, in einen reaktions-
(Einteilung nach dem Reaktionstyp):
1. Hydrolasen – katalysieren hydrolytische Spal- fähigen Zustand zu bringen.
tungen, d. h. Spaltung durch Wasser (z. B. Ver-
dauungsenzyme), Merke
2. Oxidoreduktasen – katalysieren Redoxpro- Katalysatoren – also auch unsere Enzyme –
zesse, d. h. Oxidations- und Reduktionsvor- setzen die Aktivierungsenergie herab, indem
gänge (z. B. Enzyme der Atmungskette), sie die betreffenden Reaktionen in Teilschritte
3. Transferasen – katalysieren die Übertragung zerlegen. Jeder Teilschritt benötigt so wenig
von Stoffgruppen (z. B. Aminogruppen). Aktivierungsenergie, dass die Körpertempera-
tur ausreicht und die Reaktionsgeschwindig-
Enzyme sind substrat- und reaktionsspezifische keit stark erhöht wird.
Funktionseiweiße.
– Substratspezifität: Das Enzym reagiert nur
Es gibt aber auch Reaktionen, die gebremst wer-
mit einem ganz bestimmten Zwischenpro-
den müssen. Die entscheidende Reaktion zur
dukt des Stoffwechsels,
– Reaktionsspezifität: Von den vielen mögli- Energiefreisetzung: O2 (aus der Atmung) + H2
chen Reaktionen, die ein Zwischenprodukt (aus dem Zitratzyklus) zu H2O unter Freisetzung
eingehen kann, wird nur eine katalysiert. von Energie würde unter Normalbedingungen
als Knallgasreaktion ablaufen. Die Enzyme der
Atmungskette sorgen dafür, dass die Energie
Ablauf einer Enzymreaktion
schrittweise übertragen und in Form von ATP
Wasserstoffperoxid (H2O2) zerfällt normalerwei-
gespeichert werden kann (✑ Tab. 2.15, S. 43).
se sehr langsam in Wasser (H2O) und Sauerstoff
(O2). Gibt man einem mit H2O2 gefüllten 1) Katalase ist ein weit verbreitetes Zellenzym. Besonders hohe
Reagenzglas nur wenige Tropfen des Enzyms Konzentrationen sind in Leberzellen und Erythrozyten vorhanden.

Schritte der Enzymkatalyse. Tab. 2.8

+ +
Enzym Substrat Enzym-Substrat- Enzym Reaktions-
Komplex produkte
38 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Herabsetzung der Aktivierungsenergie durch Katalyse

Energie
Aktivierungsenergie
ohne Enzym
mit Enzym
für die Enzym-
Substratverbindung
2 H2O2
metastabiler Ausgangsstoff

2 H2O + O2
energiearme stabile Endstoffe

Wirkungsweise der Carboanhydrase bei der Bildung von Kohlensäure bzw. Wasser,
Wasserstoff- und Bicarbonat-Ionen

H+ HCO3-

H2O CO2
Carbo-
anhydrase
OH-

CA
H2O + CO2 H2CO3 H+ + HCO3- oder
CA
H2O H+ + OH-; OH- + CO2 HCO3-

Wirkungsweise der Verdauungsenzyme (Wirkung der Lipase zur Fettspaltung)

Lipase

G
l
Fettsäure-Rest + Wasser G + Fettsäure
R l
y y
c e c
e Fettsäure-Rest + Wasser
e + Fettsäure
r s
r
o t o
l Fettsäure-Rest + Wasser l + Fettsäure

Lipase

Abb. 2.16 Enzymwirkung.


2.4 Physiologie des Stoff- und Energiewechsels 39

Coenzyme Merke
Für viele Enzymkatalysen sind unbedingt
Coenzyme (= Cosubstrate) notwendig. Dies sind Jedes Enzym wirkt nur in einem bestimmten
niedermolekulare Stoffe (also keine Eiweiße), pH-Bereich.
die im Gegensatz zum Enzym bei der Reaktion Enzyme haben meist eine geringe Temperatur-
verändert und wieder regeneriert werden müs- und pH-Wert-Toleranz. Manche Enzyme müs-
sen. Es handelt sich also nicht um Enzyme. Als sen durch bestimmte Ionen (z. B. Ca2+, Mg 2+,
Bausteine oder Vorstufen für Coenzyme dienen K+) aktiviert werden bzw. benötigen die
verschiedene Vitamine. ATP ist das „Coenzym Anwesenheit eines Coenzyms.
des Energiestoffwechsels“.
Bestimmte Chemikalien (z. B. Kupfer- u. Silber-
Beeinflussende Faktoren der Enzymtätigkeit ionen, Säuren) hemmen bzw. blockieren die
Aus der Eiweißstruktur der Enzyme ergibt sich, Enzymtätigkeit.
dass ihre Aktivität insbesondere von der Tempe-
ratur und vom pH-Wert abhängt. Dies verdeut-
lichen zwei Experimente (vgl. Tabelle 2.9).

Beeinflussende Faktoren der Enzymtätigkeit. Tab. 2.9

1. Experiment: Reagenzglas 1 2 3
Drei Reagenzgläser wer- Stärkelösung 2 ml 2 ml 2 ml
den nach folgendem
Amylaselösung 4 ml 4 ml 4 ml
Schema gefüllt:
Iod-Kaliumjodid-Lösung 1 Tropfen 1 Tropfen 1 Tropfen

Die Reagenzgläser wer-


den in unterschiedliche Reagenzglas 1 in ein Wasserbad von 15 – 20 °C
Temperaturbereiche Reagenzglas 2 in ein Wasserbad von 35 – 40 °C
gebracht: Reagenzglas 3 in ein Wasserbad von 70 – 80 °C

Ergebnis:
Das Temperaturoptimum für die meisten Enzyme liegt zwischen 30 ° und 40 °C, also bei Körper-
temperatur. Temperaturerhöhung über 60 °C zerstört die Enzyme.

2. Experiment: Reagenzglas 1 2 3
Drei Reagenzgläser
werden wie folgt ge- Wasser 0,5 ml 0,5 ml 0,5 ml
füllt: Pufferlösung (pH = 4,8) 1 ml
Pufferlösung (pH = 7,0) 1 ml
Pufferlösung (pH = 8,0) 1 ml
Stärkelösung 0,5 ml 0,5 ml 0,5 ml

Jetzt wird in jedes Reagenzglas 1 ml Amylaselösung (spaltet Stärkemoleküle) gegeben und kurz
geschüttelt. Danach werden aus jedem Glas einige Tropfen in je eine Vertiefung einer Tüpfelplatte
gegeben und mit 1 Tropfen Iod-Kaliumjodid-Lösung (verfärbt sich bei Vorhandensein von Stärke
kräftig blau) auf Stärke geprüft.
Ergebnis: Unterschiedliche Färbungen lassen erkennen, dass sich im Ansatz 2 (pH 7) kaum noch
Stärke befindet, d. h., bei einem pH-Wert 7 ist der Substratumsatz optimal.
40 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

2.4.4 Stoffumsatz und Energiefreisetzung Glykolyse. Tab. 2.11


In diesem Abschnitt werden die wichtigsten Glucose (C6-Körper)
Reaktionswege der Kohlenhydrate, Fette und
Eiweiße in vereinfachter Form dargestellt. Glykolyse
Pyruvat (C3-Körper)
Abbau- und Synthesewege der Kohlenhydrate
Die Glucose (= Traubenzucker) ist das wichtigs- anaerob aerob
te Kohlenhydrat für den menschlichen Organis- (ohne O2) (mit O2)
mus. Nervenzellen und Erythrozyten können
Energie nur durch Glucoseabbau bereitstellen. Lactat (C3-Körper) CO2 + H2O
Eine Voraussetzung hierfür ist ein geregelter (Milchsäure)
Blutzuckerspiegel. ^ 2 ATP)
135 kJ (= ^ 38 ATP)
2847 kJ (=
Der Blutzuckerspiegel wird hauptsächlich durch Vorkommen:
vier Faktoren beeinflusst (✑ Tab. 2.10). • Erythrozyten • alle Gewebszellen
• Muskelfasern • Muskelfasern
Faktoren, die den • Krebszellen • Mikroorganismen
Tab. 2.10 Blutzuckerspiegel beeinflussen.
Glykogen Glukoneogenese
Was geschieht bei Erschöpfung der Glykogen-
reserven?
Der Organismus hat in einem solchen Fall die
Blutzuckerspiegel Möglichkeit, in der Leber aus „Nicht-kohlenhy-
drat-Material“ Glucose zu synthetisieren. Dies
nennt man Glukoneogenese.
Nahrung Oxidativer
Abbau Folgende Ausgangsstoffe stehen zur Verfügung:
Glukoneogenese l. Lactat (aus Erythrozyten ständig, aus Musku-
latur bei Überbeanspruchung),
2. Glycerol (aus eingeschmolzenen Fettvorräten),
Glykolyse
3. glucoplastische Aminosäuren (durch Eiweiß-
Die Glykolyse ist die wichtigste Stoffwechsel-
abbau verfügbar).
reaktion der Glucose und leitet deren Abbau zum
Zwecke der Energiefreisetzung ein.
Abbau und Synthese der Triglyceride (Neutral-
fette)
Die Glucose wird hierbei zu Pyruvat (= Brenz-
Fettabbau
traubensäure) abgebaut, das bei Anwesenheit
Die Fette werden im Dünndarm zunächst in
von Sauerstoff (aerob) im Zitratzyklus weiter bis
Glycerol und Fettsäuren zerlegt.
zum CO2 und H2O oxidiert wird (= Hauptab-
Glycerol kann zwecks Energiefreisetzung zu
bauweg).
CO2 und H2O abgebaut werden, oder es dient als
Anaerob (ohne O2) entsteht aus dem Pyruvat in
Ausgangsstoff für die Bildung von Glucose
Anwesenheit des Enzyms Lactatdehydrogenase
(siehe Glukoneogenese).
(LDH) Milchsäure.
Verstoffwechslung des Glycerols. Tab. 2.12

P Lebererkrankungen, Herzinfarkt, perniziöse
Anämie, akute Hämolysen und Erkrankungen Glycerol
der Muskulatur verändern die LDH-Konzen- ATP
tration im Serum. LDH-Bestimmungen dienen
deshalb sowohl der Diagnosestellung als auch ADP
der Verlaufskontrolle dieser Erkrankungen.
Pyruvat Glucose
2.4 Physiologie des Stoff- und Energiewechsels 41

Die Fettsäuren bilden eine wichtige Energie- Fettaufbau


quelle. Sie werden in den Mitochondrien zu- Die Tabelle 2.13 zeigt in stark vereinfachter Form
nächst in C2-Einheiten zerlegt und dann weiter die Synthese der Fettsäuren bzw. Fette (✑ S. 20).
zu CO2 und Wasser abgebaut.
Abbau der Aminosäuren

P Beim Fettsäureabbau in der Leber entstehen Der Stoffwechsel der Proteine beginnt mit der
Ketonkörper (= Aceton, Acetessigsäure, -Hy- Zerlegung des Eiweißmoleküls (im Verdauungs-
droxybuttersäure) als Stoffwechselprodukte, trakt) in Aminosäuren. In der Leber dienen die
die normalerweise in den peripheren Organen Aminosäuren entweder dem Aufbau körpereige-
abgebaut werden. Bei Hunger und beim ner Proteine oder sie werden abgebaut. An dieser
Diabetes mellitus mit extremer Mobilisierung Stelle werden drei mögliche Reaktionswege
der Fettreserven kommt es zu einer über- stark vereinfacht beschrieben:
schießenden Produktion dieser Ketonkörper. 1. Transaminierung
Sie werden dann mit dem Urin ausgeschieden Transaminasen (ASAT = Aspartat-Amino-Trans-
(Obstgeruch!). Außerdem führen sie zu einer ferase, ALAT = Alanin-Amino-Transferase) über-
azidotischen Stoffwechsellage (✑ S. 230). nehmen die NH2-Gruppe einer Aminosäure und
geben sie an ein anderes Kohlenstoffskelett ab.
Fettspeicherung Auf diese Weise wird der Aminostickstoff in den
Triglyceride können in Fettzellen und begrenzt ausscheidungsfähigen Harnstoff überführt.
auch in der Leber gespeichert werden. Über-
schüssige Kohlenhydrate können leicht in ❑
P ASAT und ALAT spielen eine wichtige
Triglyceride umgewandelt und so ebenfalls zur Rolle in der Leberenzymdiagnostik. Erhöhte
Auffüllung der so genannten Fettdepots (z. B. Konzentrationen im Blutserum deuten auf
Bauch, Oberschenkel, Oberarm) dienen. einen Leberschaden hin.

Merke
Decarboxylierung. Tab. 2.14
Auch aus Kohlenhydraten können Fettdepots
gebildet werden. Decarboxylase


P Fettsucht (Adipositas) und das damit ver- Aminosäure CO2 + biogenes Amin
bundene Übergewicht sind eine der häufigsten
Ursachen für Herz-Kreislauf-Erkrankungen 2. Decarboxylierung
und Erkrankungen des Bewegungsapparates. Spezifische Enzyme (Decarboxylasen) spalten
von Aminosäuren CO2 ab.
Tab. 2.13 Synthese von Fettsäuren und Fetten. Dadurch entstehen die
biogenen Amine, welche
CO2 im Organismus vielfältige
Aufgaben erfüllen, z. B.
Glucose Pyruvat C2-Körper Fettsäuresynthese durch
als Bausteine von Coen-
zymen oder Vorstufen von
Verketten der C2-Körper
Hormonen (✑ Tab. 2.14).
3. Oxidative Desaminie-
im Mitochondrium im Zellplasma rung
Mit Glycerol können Fettsäuren Triglyceride oder Durch Aminosäure-Oxida-
Phosphatide bilden sen wird in der Leber von
Aminosäuren die NH2-
Triglycerid Phosphatid Gruppe abgespalten. Dabei
entsteht Ammoniak, der
FS FS
unter Energieverbrauch in
Glycerol FS Glycerol FS Harnstoff umgewandelt
FS Phosphat + Alkohol wird.
42 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Der Harnstoff besitzt folgende Eigenschaften, die Bei der Energiefreisetzung sind folgende bioche-
seine Ausscheidung mit dem Urin problemlos er- mische Vorgänge zu erkennen (✑ Tab. 2.15):
möglichen. Er ist ungeladen, nicht toxisch und – Pyruvat und C2-Körper sind zentrale Stoffe im
kann gut durch die Biomembranen diffundieren. Energiestoffwechsel, wobei, wie bereits gesagt,
99 % aus der Glykolyse stammen.
Merke – Alle C2-Körper werden in den Zitratzyklus
eingeschleust und weiter abgebaut, wobei
Die wenigen nicht als Baustoff oder Funk-
Wasserstoff (wird an Coenzyme gebunden)
tionsstoff benötigten Aminosäuren werden vor
und CO2 (wird abgegeben) entstehen.
allem in der Leber zur Energiefreisetzung
abgebaut.
Die Endprodukte des Aminosäureabbaus sind:

P Die zentrale Stellung des Zitratzyklus im
Intermediärstoffwechsel kommt darüber hinaus
• Wasser • Kohlendioxid • Ammoniak. beim Fettsäure-, Aminosäure-, Glucosestoff-
wechsel und bei der Synthese körpereigener

P Fast jede Erkrankung verursacht mehr oder Stoffe (z. B. Häm) zum Ausdruck.
weniger deutliche Veränderungen des Eiweiß-
stoffwechsels. Bei Schwerkranken und Schock- Biologische Oxidation des Wasserstoffs
patienten ist immer darauf zu achten, dass aus- Unter biologischen Bedingungen werden Was-
reichend Harnstoff ausgeschieden wird. serstoff und Sauerstoff stufenweise in ihrer
Reduktions-Oxidationsenergie angenähert, so-
Stoffwechselwege zur Energiefreisetzung dass es nicht zur Knallgasreaktion kommt. Die
(Überblick) bei der biologischen Oxidation hintereinander
Der Mensch benötigt zur Aufrechterhaltung sei- geschalteten Redoxreaktionen bezeichnet man
ner Lebensvorgänge (wie z. B. Informationsaus- als Atmungskette. Zuerst wird der Wasserstoff
tausch, Stoffsynthesen, Bewegung, gleichmäßige (enthält die Energie) ionisiert. Die dabei entste-
Körpertemperatur) ständig Energie, die durch henden energiereichen Elektronen werden so-
Abbau energiereicher Stoffe in den Zellen be- gleich über die Atmungskette, die aus Oxido-
reitgestellt werden muss. reduktasen besteht, „bergab“ transportiert. Das
Als energiereiche Stoffe kommen infrage heißt, es kommt zu einer schrittweisen Energie-
– Kohlenhydrate: 99 %. abgabe. Die freigesetzte Elektronenenergie wird
– Fette: Geringe Beteiligung, aber die sofort durch ATP-Bildung in chemische Bin-
langkettigen Fettsäuren lie- dungsenergie umgewandelt (✑ S. 36). Zum
fern bei hohem O2-Verbrauch Schluss werden die energiearmen Elektronen auf
viel Energie. molekularen Sauerstoff übertragen. Der so ioni-
– Eiweiße: Spielen normalerweise keine sierte Sauerstoff verbindet sich mit den entstan-
Rolle. denen Wasserstoffionen (H+) zu Wasser.

Im Folgenden wird in einfacher Form darge- Merke


stellt, wie die chemische Energie dieser Stoffe
Das CO2 entsteht im Säurekreislauf, der O2
freigesetzt wird. Grundsätzlich erfolgt der Abbau
wird zur Wasserbildung verbraucht und nicht
schrittweise mithilfe von Enzymen, wobei drei
zur Oxidation von Kohlenstoff zu CO2.
grundlegende Schritte zu erkennen sind:

1. Zerlegung der Makromoleküle in ihre Grundbausteine (✑ Kap. 12.8, S. 252): Die beschrie-
Amylasen benen Abbau-
• Kohlenhydrate Lipasen
Monosaccharide, wege zur Ener-
• Fette Glycerol + Fettsäuren, giefreisetzung
Proteasen und Peptidasen
• Eiweiße Aminosäuren. sind in allen
2. Zerlegung der Grundbausteine in C2-Körper. Zellen gleich.
3. Oxidation der C2-Körper zu CO2 + H2O, wobei die Hauptmenge der Energie
schrittweise freigesetzt wird.
2.5 Genetik 43

Biochemische Vorgänge bei der Energiefreisetzung. Tab. 2.15

Eiweiße Kohlenhydrate Fette

Aminosäuren Glucose Glycerol Fettsäuren

Pyruvat

C2-Körper

Zitrat-
zyklus

CO2
Energie


H2
Oxydo- 38 ADP + 38 
P 38 ATP
reduk- oxidative Phosphorylierung
tasen
2e-

O2-
1
2H+ + 2 O2

H2O

2.5 Genetik (Vererbungslehre) 2.5.1 Chromosomen

Bei der Fortpflanzung einer Organismenart ent- Die nur während der Zellteilungsphase sicht-
stehen immer wieder Nachkommen, die in ihren baren Chromosomen gehen aus dem Chromatin
wesentlichen Merkmalen den Eltern gleichen. hervor und nach Abschluss der Zellteilung wie-
Diese relative Konstanz der Arten wird durch die der in dieses über.
Konstanz spezifischer Eiweiße gewährleistet. Die
„Anweisungen“ für die Bildung der Eiweiße sind Merke
in der DNA gespeichert, welche sich in den
Die Chromosomen stellen die „Transportform“
Chromosomen befindet. Bei der geschlechtlichen
der Erbinformation während der Zellteilung
Fortpflanzung werden sie von den Eltern auf die
dar. Das Chromatin ist die „Funktionsform“,
Nachkommen übertragen und bei der Zellteilung
die im Stoffwechsel der Zelle wirksam wird
an die Tochterzellen weitergegeben. Man sagt,
und sich verdoppelt. Struktur und Anzahl der
sie werden vererbt, und bezeichnet sie als Erb-
Chromosomen sind artspezifisch.
information oder genetische Information.
Alle Merkmale eines Lebewesens sind von sei-
ner Erbinformation abhängig. In der DNA sind ❑
P Veränderungen der Chromosomenstruktur
die Informationen für die einzelnen Eiweiße hin- und Chromosomenzahl haben meist Krank-
tereinander angeordnet. heiten (Erbkrankheiten) zur Folge.
44 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Bei allen höheren Lebewesen, also auch beim Feinbau


Menschen, ist die arttypische Chromosomen- Jedes Chromosom ist gekennzeichnet durch sei-
zahl in allen Zellen zweimal vorhanden. Sie sind ne Länge und die Lage seines Zentromers.
diploid. Nur ihre reifen Keimzellen sind haploid,
d. h., sie besitzen nur den einfachen Chromoso- ❑
P Der unterschiedliche Bau ermöglicht die
mensatz. Einordnung der Chromosomen in Karyogram-
me.1)
Merke
Im doppelten (diploiden) Chromosomensatz Ein Chromosom (✑ Abb. 2.17) besteht aus
sind immer 2 Chromosomen in Form und 2 Chromatiden (= Längshälften, Halb- oder
Größe gleich. Sie heißen homologe Chromo- Tochterchromosomen), die am Zentromer (Spin-
somen. delfaseransatzstelle) miteinander verbunden sind.
Eine Ausnahme bilden die Geschlechts- Jede Chromatide besteht aus einem doppelsträn-
chromosomen. Sie werden als X- und Y-Chro- gigen DNA-Molekül.
mosomen bezeichnet und sind nicht gleich
(✑ S. 49). Merke
In einem Chromosom ist die Erbinformation
vierfach gespeichert. Die Chromosomen be-
stehen aus:
– DNA (enthält die genetische Information),
Zentromer – RNA (ermöglicht die Umsetzung der
genetischen Information, ✑ S. 45),
Chromatiden – Eiweiße (haben Stütz- und regulatorische
Funktionen).

DNS-Doppelhelix 2.5.2 Nukleinsäuren als Trägerstoff der


Erbinformation

G
Bei je0der Zellteilung wird gewährleistet, dass
C die Tochterzellen die vollständige Erbinforma-
A tion der Mutterzelle erhalten (✑ S. 48). Die
Matrix T Nukleinsäuren sind hierfür die stoffliche Grund-
C lage. Sie besitzen die für diese Funktion notwen-
G
digen drei Eigenschaften:
T – relativ stabil zu sein,
A
– zahlreiche Informationen speichern zu können,
– sich identisch zu verdoppeln.
Abb. 2.17 Bau des Chromosoms.
Aufbau der Nukleinsäuren
Für das Vererbungsgeschehen kommen zwei
unterschiedliche Nukleinsäuren in Frage:
Menschliche Keimzellen (sowohl Eizellen als – Desoxyribonukleinsäure (DNS) oder (englisch)
auch Samenzellen) enthalten 23 Chromosomen; Desoxyribonucleinacid (DNA),
die bei der Befruchtung entstehende befruchtete – Ribonukleinsäure (RNS) oder (englisch)
Eizelle (Zygote) und alle aus ihr hervorgehenden Ribonucleinacid (RNA).
Körperzellen besitzen 46 Chromosomen (✑
S. 49). Jede dieser Nukleinsäuren besteht aus vielen
miteinander verbundenen Nukleotiden als Bau-
stein. Deshalb werden sie auch als Polynukleotid
1) Bildliche Darstellung der Chromosomen eines Organismus
bezeichnet.
2.5 Genetik 45

4 verschiedene Nukleotide Doppelhelix

Phosphor- Desoxy- organische


säurerest ribose stickstoffhaltige
Base

P Adenin
Stickstoffbase

Desoxyribose
P Thymin

Phosphorsäure
P Guanin
Wasserstoff-
brückenbindung

P Cytosin

DNA. Abb. 2.18

Ein Nukleotid setzt sich zusammen aus: RNA


– Zuckermolekül, Die RNA wird ebenfalls aus vier verschiedenen
– Phosphorsäuremolekül, Nukleotiden gebildet. An der Stelle von Thymin
– organischer Stickstoffbase. steht Uracil im Nukleotid und die Desoxyribose
ist durch Ribose ersetzt (✑ Abb. 2.19).
DNA
Die DNA wird aus vier verschiedenen Nukle- Die Speicherung der Erbinformation erfolgt ver-
otiden gebildet (✑ Abb. 2.18). schlüsselt durch Anzahl und Reihenfolge der ver-
Ähnlich den Proteinen sind auch bei der DNA schiedenen Nukleotide in der DNA bzw. RNA.
verschiedene Strukturen zu unterscheiden: Die spezifische Aufeinanderfolge der Nukleotide
– Primärstruktur (= Nukleotidsequenz), beinhaltet die Anweisung für die Synthese der
– Sekundärstruktur (= Doppelstrang), Eiweiße.
– Tertiärstruktur (= Raumstruktur, rechtsdrehen-
de Doppelhelix). Merke
Die Aminosäuresequenz der Eiweiße wird
Merke
durch die Basensequenz der DNA verschlüs-
Aufgrund der Molekülstruktur können sich selt (codiert) gespeichert.
durch Wasserstoffbrücken nur Adenin mit
Thymin und Guanin mit Cytosin verbinden. Triplett-Code
Die Aminosäuren werden durch Nukleotidbasen-
Die sich im Doppelstrang gegenüberstehenden tripletts codiert. Zur Codierung der 20 vorkom-
Basen heißen komplementäre Basen (= sich menden Aminosäuren gibt es aufgrund vier ver-
ergänzende Basen). Der Doppelstrang lässt sich schiedener Basen 43 = 64 Kombinationsmög-
längs der Wasserstoffbrücken in zwei komple- lichkeiten. Das heißt, für die meisten Amino-
mentäre Einzelstränge spalten. Dies besorgen säuren gibt es mehrere Tripletts. Die Speicherung
bestimmte Enzyme. der Erbinformation ist bei allen Lebewesen gleich.
46 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Desoxyribose
Ribose

Kernmembran
Information
Kernpore
RNA

DNA
Proteinsynthese

Ribosom
Uracil

Abb. 2.19 Merkmale DNA – RNA.

Identische Verdopplung (= Reduplikation) wird durch Enzyme gesteuert und verläuft in


der DNA mehreren Phasen. Die Abbildung 2.20 stellt den
Die identische Verdopplung des genetischen komplizierten Vorgang schematisch dar.
Materials bei Zellteilungen ist die Voraussetzung 1. Mittels Enzymen werden die Wasserstoff-
für die unveränderte Weitergabe und die Erhal- brückenbindungen zwischen den komplemen-
tung artspezifischer Merkmale. Nur dadurch ist tären Basen gelöst. Der Doppelstrang öffnet
es möglich, dass bei der Zellteilung zwei völlig sich wie ein Reißverschluss. Es entstehen zwei
gleiche Zellen mit identischen Eigenschaften Einzelstränge.
und gleicher Erbinformation entstehen. Ohne 2. An die Basen jedes Einzelstranges lagern sich
den Mechanismus der identischen Reduplikation die jeweils passenden freien Nukleotide aus
wäre kein Wachstum und kein gleichwertiger dem Zellstoffwechsel an und verbinden sich
Ersatz abgestorbener Zellen möglich. in der bereits bekannten Weise miteinander.
Die identische Reduplikation beruht darauf, dass Es sind zwei genetisch identische Doppel-
die beiden Polynukleotidstränge eines DNS- stränge entstanden, halb aus altem und halb
Moleküls aufgetrennt werden und sich dann die aus neuem Material.
jeweils passenden Nukleotide aus dem Umfeld
so anlagern, dass eine völlig gleiche Kopie des
Ausgangsmoleküls entsteht (komplementäre
Paarung der organischen Basen). Dieser Vorgang
2.5 Genetik 47

Realisierung der Erb-


information
(Eiweißsynthese) DNA-Doppelstrang
In den Abschnitten 2.1.3
(✑ S. 21 – 22) und 2.4.3
(✑ S. 37) ist die Bedeu-
tung der Eiweiße als Bau-
und Funktionsstoffe dar- organische
gestellt. Schon der Ausfall Stickstoffbasen
eines einzigen Enzyms Wasserstoff-
führt zu einer gestörten brücken-
Zellfunktion oder gar bindungen
zum Zelltod. Deshalb
kommt der Eiweißsyn-
these eine zentrale Be-
deutung zu.
Die Realisierung der Erb- Desoxyribose
information besteht in der
Synthese der individual-
spezifischen Eiweißstoffe Phosphorsäure
(= Genprodukte). Dabei
wird derjenige Abschnitt
der DNA, der die Syn-
these eines bestimmten
Eiweißstoffes steuert, als
Gen (= Erbanlage) be-
zeichnet (✑ S. 50).

Der Ablauf erfolgt in zwei


Stufen:
l. Informationsabgabe im freie Nukleotide
Zellkern aus dem
(= Transkription) Zellstoffwechsel
Die Information der
DNA (Gen) wird in die
Nukleotidsequenz einer
m-RNA (m-RNA =
Messenger-RNA: Bo-
ten-RNA) umgeschrie-
ben. Dies geschieht
Tochterstrang Elternstrang Tochterstrang
wie folgt:
– Aufspaltung des DNA-
Doppelstranges durch Identische Reduplikation der DNA. Abb. 2.20
Lösen der Wasserstoff-
brücken,
– komplementäre Anlage
rung der m-RNA-Nukleotide, Aminosäuresequenz eines Proteins wird ent-
– Ablösen der m-RNA und Wanderung durch schlüsselt. Der Proteinaufbau erfolgt mithilfe
die Kernporen zu den Ribosomen im Cytosol. der t-RNA (= Transfer-RNA) in folgenden
Schritten:
2. Entschlüsselung am Ribosom (= Translation) – Anlagerung der m-RNA an ein Ribosom,
Die genetische Information der m-RNA als – komplementäre Basenpaarung zwischen
48 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

m-RNA und t-RNA und Verknüpfung der • Das Chromatin formt sich zu den Chromo-
Aminosäuren, somen um (✑ Abb. 2.17, S. 44), und die
– Lösen des neu gebildeten Eiweißes (Gen- Chromatiden werden sichtbar (Längsspalt).
produktes) von der t-RNA. • Das Zentriol teilt sich.


P Sowohl durch äußere Einflüsse (z. B. radio-
Zentriol
aktive Strahlen, Röntgenstrahlen, Zellgifte,
Viren) als auch durch innere Einflüsse (z. B.
Erbeinflüsse) kann die DNA verändert werden.
Auf diese Weise können Zellen entarten und
beispielsweise Krebszellen entstehen, die
außerhalb der Regulations- und Steuervor-
gänge des Organismus liegen.
Hieraus lässt sich das weitgehend ungehemm-
te Wachstum von bösartigen Tumoren er-
klären.
Chromatin Chromosomen

Prophase. Abb. 2.21


2.5.3 Zellteilung

Die Zellteilung ist ein Grundvorgang, der bei Metaphase


den Lebewesen zur Zellvermehrung führt. So • Auflösung der Kernmembran wird abge-
können sich aus einer Zelle vielzellige Lebe- schlossen.
wesen entwickeln. Die entstehenden Tochterzel- • Bildung des Spindelapparates aus kontrakti-
len sind mit der Mutterzelle genetisch identisch. len Plasmafäden und
• Verbindung der Chromosomen am Zentromer
Entscheidend bei jeder Zellteilung ist, dass die mit den Plasmafäden.
Erbinformation, die im Zellkern der Mutterzelle • Die Chromosomen werden in die Äquatori-
gespeichert ist, fehlerfrei auf die Tochterzellen alebene verlagert und geordnet (die Chromo-
übertragen wird. somenarme zeigen polwärts).
Die Zellteilung ist die Grundlage für das
Wachstum und die Vermehrung der Organismen
sowie die Regeneration abgestorbener Zellen.
Anordnung der
Formen der Zellteilung Chromosomen
in der
1. Mitose Äquatorialebene
Als Mitose bezeichnet man die „indirekte Kern-
teilung“ im Sinne des Wachstums- und Zell-
erneuerungsprozesses. Sie kann in verschiedene
Phasen untergliedert werden, die ohne deutliche Metaphase. Abb. 2.22
Grenzen ineinander übergehen.

Die Kernteilung geht stets der Zellteilung vor-


aus. Anaphase
• Die Zentromere werden geteilt und die
Prophase Chromatiden mithilfe der Spindelfasern an
• Die spezifischen Zellfunktionen werden ein- die Zellpole transportiert. Bei diesem Vorgang
gestellt und viele Zellorganellen sowie die kommt es darauf an, dass die beiden Chromati-
Kernmembran beginnen sich aufzulösen. den eines jeden Chromosoms getrennt werden.
2.5 Genetik 49

• Grundlage der Wundheilung:


Bei Verletzungen werden bestimmte Zellen
wieder zur Mitose angeregt.
Transport der
Chromatiden 2. Polyploidie (✑ Abb. 2.25)
mithilfe des
Im Zellkern entstehen Chromatiden, aber die
Spindelapparates
an die Zellpole Kernmembran bleibt erhalten und die Zelle teilt
sich nicht.
Ergebnis: Zellen mit vielfachen Chromosomen-
sätzen (= polyploide Zellen).
Abb. 2.23 Anaphase. Vorkommen: Megakaryozyten des Knochen-
marks, bösartige Tumorzellen.

3. Amitose (= direkte Kernteilung)


Telophase Hierbei wird nur der Zellkern einfach geteilt,
• Spindelapparat löst sich auf. ohne dass eine geordnete Aufteilung der Chro-
• Neubildung der Kernmembran. matiden erfolgt (✑ Abb. 2.25).
• Bildung des Chromatins. Ergebnis: Zellen mit zwei Zellkernen.
• Zwischen den beiden Tochterkernen bildet Vorkommen: Leberzellen und Harnblasenepithel-
sich eine neue Zellmembran. zellen.
• 2 neue Tochterzellen sind entstanden.
4. Meiose (✑ Abb. 2.26)
Tochterkern Bildung der Tochterzellen Die Meiose dient der Bildung der Geschlechts-
zellen (= Keimzellen = Gameten). In den Hoden
werden die Samenzellen (Spermien) und in den
Eierstöcken die Eizellen gebildet.
Die Körperzellen des Menschen besitzen einen
doppelten Chromosomensatz (✑ S. 44). Sie sind
diploid (= 2n).
In jeder menschlichen Körperzelle befinden sich
22 Autochromosomenpaare und 1 Gono- oder
Geschlechtschromosomenpaar (2n = 46).
Abb. 2.24 Telophase.
Chromosomensatz der Frau:
22 Autochromosomenpaare
+ 2 gleich gestaltete Geschlechtschromosomen,
Merke die X-Chromosomen.
Chromosomensatz des Mannes:
Bei der Mitose entstehen genetisch „gleichwer- 22 Autochromosomenpaare
tige“ Zellen. Der Chromosomensatz der Toch- + 2 ungleich gestaltete Geschlechtschromoso-
terzelle entspricht dem der Mutterzelle. In der men, ein X- und ein Y-Chromosom.
auf die Mitose folgende Interphase (= Phase Damit dieser Chromosomensatz auch in den
zwischen den Kern- bzw. Zellteilungen) erfolgt Folgegenerationen erhalten bleibt, findet bei der
die identische Verdopplung der DNA (✑ S. 46). Bildung der Geschlechtszellen eine Halbierung
statt. Die Samen- und Eizelle besitzen demnach
Bedeutung der Mitose einen einfachen Chromosomensatz. Sie sind
• Grundlage des Wachstums (= Zellteilungs- haploid (= n).
wachstum): In jeder reifen menschlichen Keimzelle befinden
Ausgehend von der befruchteten Eizelle sich somit 23 Chromosomen (n = 23), in den
(= Zygote) entstehen alle Körperzellen durch Samenzellen 22 Autosomen plus 1 Y- oder
Mitosen, besitzen also das gleiche Erbmaterial 1 X-Chromosom und in den Eizellen 22 Auto-
wie die Zygote. somen plus in jedem Fall 1 X-Chromosom.
50 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Trifft bei der Be-


fruchtung eine Sa- Mitose Polyploidie Amitose
menzelle mit einem
X-Chromosom auf
die Eizelle, so ent- direkte
Kerndurch-
steht ein weiblicher schnürung
Organismus (XX).
Eine Samenzelle mit
einem Y-Chromo-
som bewirkt bei der
Verschmelzung das 1 Zelle mit
männliche Geschlecht 2 genetisch
(XY) (✑ S. 288). ungleichen
Zellkernen

Ablauf der Meiose


(= Reifeteilung)
Die Meiose läuft in Vergleichende Übersicht der Zellteilungsformen. Abb. 2.25
zwei aufeinander
folgenden Teilungs-
schritten (Reifeteilungen) ab: Bedeutung der Meiose
1. Grundlage für die Konstanz der artspezifi-
Meiose I (1. Reifeteilung) schen Chromosomenzahlen.
Prophase I 2. Grundlage für die Neukombination des gene-
Paarung der homologen Chromosomen (je tischen Materials zwischen den Generationen.
1 mütterliches mit dem entsprechenden väter- Bei Trennung der homologen Chromosomen
lichen Chromosom). Während der Paarung hängt es vom Zufall ab, welche mütterlichen
kann es zum Austausch einzelner homologer bzw. väterlichen Chromosomen in die eine
Bruchstücke bei Nichtschwesterchromatiden oder andere Tochterzelle gelangen. Beim
kommen („crossing over“). Dadurch können Menschen sind demnach 223 = 8.388.610
Veränderungen im Erbgut entstehen. verschiedene Kombinationen möglich. Dies
Metaphase I wird noch erweitert durch den möglichen
Anordnung der homologen Chromosomen in Austausch homologer Bruchstücke von Nicht-
der Äquatorialebene zufallsgemäß. schwesterchromatiden in der Prophase I.
Anaphase I
Die mütterlichen und väterlichen Chromosomen
gelangen entsprechend der zufallsgemäßen 2.5.4 Gesetzmäßigkeiten der Vererbung –
Anordnung an die Zellpole. Mendel’sche Erbregeln
Telophase I
Bildung von 2 haploiden Tochterzellen. Im 19. Jahrhundert stellte Gregor Mendel durch
Meiose II (2. Reifeteilung) zahlreiche Kreuzungsversuche als Erster das
Die Meiose II ist eine Mitose. Auftreten von Gesetzmäßigkeiten in der Verer-
Beim Menschen entstehen: bung fest. Er legte damit den Grundstein für die
– 4 haploide plasmaarme Spermien (Mann) bzw. moderne Genetik. Im Folgenden wollen wir uns
– 1 haploide plasmareiche Eizelle plus 3 haploi- mit einigen seiner wichtigsten Erkenntnisse, den
de plasmaarme Polkörperchen (Frau). Mendel’schen Erbregeln, genauer auseinander
setzen.
Merke
Zum besseren Verständnis der Erbgänge werden
Bei der Meiose entstehen aus diploiden Ur- zunächst einige wichtige Fachbegriffe erklärt.
keimzellen in zwei Teilungsschritten haploide Gen (= Erbanlage): Ein Abschnitt der DNA, der
Geschlechtszellen. die Information für den Aufbau eines bestimm-
ten Eiweißes enthält, heißt Gen (✑ S. 47).
2.5 Genetik 51

1. Reifeteilung (Reduktionsteilung)

Bildung der Chromosomen Trennung der Bildung der


und Paarung der homologen Chromosomen haploiden Tochterzellen
homologen Chromosomen

2. Reifeteilung (Mitose)
haploide Tochterzellen haploide Geschlechtszellen

Samenzelle
(Spermium)
– haploid –

unbefruchtete Eizelle befruchte Eizelle


– haploid – (Zygote)
– diploid –

Meiose – Bildung der Geschlechtszellen und Befruchtung. Abb. 2.26


52 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Jedes Gen hat eine spezifische Erbinforma- – zwei ungleiche Buchstaben für mischerbig,
tion gespeichert. Die Gesamtheit der Gene zum Beispiel aB, AB, bA.
eines Lebewesens werden als seine Erban-
lagen bezeichnet. An der Ausbildung eines Bei der Durchführung von Kreuzungen werden
Merkmals (z. B. Augenfarbe) sind in der für die Kreuzungspartner die folgenden Bezeich-
Regel Genpaare beteiligt, d. h. je ein Gen vom nungen benutzt:
Vater und von der Mutter. P = Elterngeneration (Parentalgeneration),
Genotyp: Gesamtheit der in den Genen verschlüs- V = Vater,
selten Erbinformation. M = Mutter,
Phänotyp: Äußeres Erscheinungsbild eines Fl = 1. Tochtergeneration (l. Filialgeneration),
Individiums, welches sich aus allen Merk- F2 = 2. Tochtergeneration (2. Filialgeneration)
malen zusammensetzt. usw.
Reinerbig (homozygot): Für die Ausbildung
eines Merkmals sind zwei gleiche Gene oder 1. Mendel’sche Erbregel (Uniformitätsregel)
Gengruppen vorhanden. Kreuzt man reinerbige Individuen, die sich in
Mischerbig (heterozygot): Für die Ausbildung einem oder mehreren Merkmalen unterschei-
eines Merkmals (z. B. Augenfarbe) sind zwei den, sind alle Fl-Bastarde gleich (= uniform).
verschiedene Gene oder Gengruppen vorhan-
den. Diese Individuen mit 2 verschiedenen Beispiel: Vererbung der Blutgruppen
Anlagen für ein Erbmerkmal werden als
Hybride oder Bastarde bezeichnet. a) Dominant-rezessiver Erbgang
Solche gleichen oder auch unterschiedlichen AA = Blutgruppe A (Vater)
Zustandsformen von Genen, die in homologen oo = Blutgruppe 0 (Mutter)
Chromosomen den gleichen Platz einnehmen,
werden als allele Gene oder Allele bezeichnet.
Monohybrider Erbgang: Kreuzung, bei der sich V
P: AA x oo A A
die Eltern in einem Allelpaar unterscheiden. M
Dihybrider Erbgang: Kreuzung, bei der sich die o Ao Ao
Eltern in zwei Allelpaaren unterscheiden. (F1)
Dominant: Ein Gen oder eine Gengruppe herrscht Keimzellen: A o o Ao Ao
in der Merkmalsausprägung vor.
Rezessiv: Ein Gen oder eine Gengruppe tritt in
der Merkmalsausprägung zurück. Ergebnis: Alle Nachkommen haben die Blutgruppe
Intermediär oder kodominant: Zwei Gene oder A und sind mischerbig.
Gengruppen sind in der Merkmalsausprägung
gleich stark. b) Intermediärer Erbgang
Autosomaler Erbgang: Ein an die Autosomen AA = Blutgruppe A (Vater)
(normale Chromosomen, nicht Geschlechts- BB = Blutgruppe B (Mutter)
chromosomen) gebundener Erbgang.
Geschlechtsgebundener Erbgang: Ein an die Ge-
schlechtschromosomen (Heterochromosomen) V A A
gebundener Erbgang. P: AA x BB M
B AB AB
Bei der Darstellung von Erbgängen werden zur (F1)
Vereinfachung Buchstaben verwendet: Keimzellen: A B B AB AB
– ein großer Buchstabe für dominant, zum Bei-
spiel B;
– ein kleiner Buchstabe für rezessiv, zum Bei- Ergebnis: Alle Nachkommen haben die Blutgruppe
spiel b; AB und sind mischerbig.
– zwei gleiche Buchstaben für reinerbig, zum
Beispiel BB, bb;
2.5 Genetik 53

2. Mendel’sche Erbregel (Spaltungsregel) Beispiel: Vererbung der Blutgruppe und des


Kreuzt man Fl-Bastarde, die in einem Merkmal Rhesusfaktors.
mischerbig sind, so ist die F2-Generation in dem AAdd (Vater) x ooDD (Mutter)
betreffenden Merkmal nicht einheitlich, sondern A = Blutgruppe A o = Blutgruppe 0
spaltet sich in einem bestimmten Zahlen- d = rh- D = Rh+
verhältnis auf.
Bei dominant-rezessiven Erbgängen: P: AAdd x ooDD
3:1 = 75 % : 25 %
Bei intermediären Erbgängen:
1 : 2 : 1 = 25 % : 50 % : 25 % Keimzellen: Ad oD
Fl AoDd
Beispiel: Vererbung der Blutgruppen Keimzellen: AD, Ad, oD, od

a) Dominant-rezessiver Erbgang
Ao = Blutgruppe A (Vater) M V AD Ad oD od
Ao = Blutgruppe A (Mutter)
AD AADD AADd AoDD AoDd
V
A o Ad AADd AAdd AoDd Aodd
P: Ao x Ao M (F2)
A AA Ao oD AoDD AoDd ooDD ooDd
(F1)
Keimzellen: A,o A,o o Ao oo od AoDd Aodd ooDd oodd

Ergebnis: Blutgruppe A = 3x, Blutgruppe o = lx;


Spaltungsverhältnis = 3 : 1.
Ergebnis:
4 Phänotypen:
A, Rh+; A, Rh-; 0, Rh+; 0, Rh- im Verhältnis
b) Intermediärer Erbgang 9:3:3:1.
AB = Blutgruppe AB (Vater)
A, Rh+ (reinerbig):
AB = Blutgruppe AB (Mutter)
A, Rh+ (mischerbig):
1
8
}9
A, Rh- (reinerbig):
P: AB x AB M
V A
B
A, Rh- (mischerbig):
1
2
}3
A AA AB 0, Rh+ (reinerbig): l
Keimzellen: A,B A,B
(F1) +
0, Rh (mischerbig): 2
}3
B AB BB
0, Rh- (reinerbig):
-
l
0, Rh (mischerbig): –
}1
Ergebnis: Blutgruppe A = 1x, Blutguppe AB = 2x,
Blutgruppe B = 1x; Spaltungsverhältnis = 1 : 2 : 1.
9 Genotypen:
AADD, AADd (2x), AoDD (2x), AoDd (4x),
3. Mendel’sche Erbregel (Neukombinationsregel) AAdd, Aodd (2x), ooDD, ooDd (2x), oodd.
Kreuzt man Bastarde, die sich in mehreren
Merkmalen unterscheiden, so werden die Merk- Die Genotypen AADD und oodd stellen rein-
male unabhängig voneinander nach der Spal- erbige Neukombinationen dar.
tungsregel vererbt, soweit sie nicht gekoppelt auf
einem Chromosom lokalisiert sind.
54 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

2.5.5 Mutationen Autosomal rezessive Erbgänge (typisch für


Stoffwechseldefekte)
Mutationen sind spontan entstandene Verän- A = gesundes Gen, dominant;
derungen der Erbinformation. Das betroffene a = krankes Gen, rezessiv.
Individuum heißt Mutante.
Beispiel 1:
Arten
Genmutationen betreffen ein Gen, sind also Heterozygote Merkmals-
Veränderungen innerhalb der Basenfolge der träger, klinisch gesund
DNA.
Beispiele: – Sichelzellanämie,
– Phenylketonurie und V
M A a
– Hämophilie.
P: Aa x Aa A AA Aa
Chromosomenmutationen sind Strukturverän- (F1)
derungen einzelner Chromosomen. a Aa aa
Beispiel – Katzenschrei-Syndrom. Keimzellen: A,a A,a

Genommutationen sind Änderungen der Chro- Ergebnis: aa (25 %) homozygot, klinisch krank;
mosomenzahl. AA (25 %) homozygot, klinisch gesund;
Beispiele: – Trisomie 21 oder Langdon-Down- Aa (50 %) heterozygote Merkmalsträger; klinisch
Syndrom (Chromosom Nr. 21 ist gesund.
3x vorhanden),
– Klinefelter-Syndrom: 44 + XXY,
– Turner-Syndrom: 44 + X. Beispiel 2:
V
Ursachen:– energiereiche Strahlen, z. B. Rönt- a a
M
genstrahlen,
– Chemikalien, z. B. LSD, Nikotin, P: aa x AA A Aa Aa
Salpetersäure, bestimmte Industrie- (F1)
abgase, A Aa Aa
– Temperatur, z. B. Kälte- und Wärme- Keimzellen: a A
schocks,
Ergebnis: Aa (100 %): heterozygot, klinisch gesun-
– Viren.
de Merkmalsträger.

Merke
Beispiel 3:
Mutationen in den Keimzellen können zu Erb- V
krankheiten führen. A a
M
Mutationen in den Körperzellen hingegen
führen zu veränderten Zellverbänden und P: Aa x aa a Aa aa
damit zu Fehlbildungen des Individuums (z. B. (F1)
Krebs), werden aber nicht direkt vererbt. a Aa aa
Keimzellen: A,a a
Ergebnis: Aa (50 %): heterozygot, klinisch gesunde
Merkmalsträger; aa (50 %): homozygot, klinisch
krank.
2.5 Genetik 55

Autosomal dominanter Erbgang (typisch für Beispiele sind Hämophilie, Rotgrünblindheit


Missbildungen) und Sehnervenatrophie. Es bedeutet:
a = gesundes Gen, rezessiv; X = gesundes Gen,
A = krankes Gen, dominant. XK = krankes Gen.

Beispiel 1: Beispiel 1:
V V
a a X Y
M M
P: aa x Aa A Aa Aa P: XY x XXK X XX XY
(F1) (F1)
a aa aa Keim- XK XXK XKY
Keimzellen: a a zelle: X,Y X,XK

Ergebnis: aa (50 %): homozygot, klinisch gesund; Ergebnis: XX (25 %): homozygot, klinisch gesund;
Aa (50 %): heterozygot, klinisch krank. XXK (25 %): klinisch gesund, heterozygote Kon-
duktorin;
XY (25 %): klinisch gesund;
Beispiel 2: XKY (25 %): klinisch krank.

V A a
M
Beispiel 2:
P: Aa x Aa A AA Aa
(F1) V
XK Y
M
a Aa aa
Keimzellen: A,a A,a P: XKY x XX X XXK XY
(F1)
Ergebnis: AA (25 %): homozygot, klinisch krank; Keim- X XXK XY
Aa (50 %): heterozygot, klinisch krank; zelle: XK,Y X
aa (25 %): homozygot, klinisch gesund.
Ergebnis: XY (50 %): klinisch gesund;
XXK (50 %): klinisch gesund, heterozygote Kon-
Beispiel 3: duktorin.
V
A A
M
P: AA x aa a Aa Aa Beispiel 3:
(F1) V X
a Aa Aa K Y
M
Keimzellen: A a
P: XKY x XXK X XXK XY
Ergebnis: Aa (100 %): heterozygot, klinisch krank. (F1)
Keim- XK XKXK XKY
zelle: XK,Y X,XK
Geschlechtsgebundener Erbgang
Das defekte Gen liegt auf dem X-Chromosom Ergebnis: XXK (25 %): klinisch gesund, heterozy-
und wird bei Vorhandensein eines Normalgens gote Konduktorin;
(heterozygote Frauen) von diesem unterdrückt. XKXK (25 %): klinisch krank;
Das Y-Chromosom des Mannes besitzt dieses XY (25 %): klinisch gesund;
XKY (25 %): klinisch krank.
Gen nicht, sodass es sich bei der Konstellation
X-Chromosom mit defektem Gen plus Y-Chro-
mosom um klinisch kranke Männer handelt.
Heterozygote Frauen werden als Kondukto-
rinnen bezeichnet.
56 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

2.5.6 Modifikationen Die Ursache der Unterschiedlichkeit (Variabi-


lität) zwischen den Menschen sind Modifikatio-
Kein Mensch gleicht völlig dem anderen. Selbst nen und Mutationen.
eineiige Zwillinge mit weitgehend identischen
Erbanlagen sind nie völlig gleich. Die Unter-
schiede (körperliche und geistige Merkmale)
nehmen mit fortschreitendem Alter zu. Der
Grund liegt darin, dass selbst bei gemeinsamem
Aufwachsen die Umweltbedingungen nicht ab-
solut gleich sind.

Wird bei Individuen mit gleichen Erbanlagen


infolge unterschiedlicher Umweltfaktoren ein
Merkmal verändert, spricht man von einer
Modifikation. Dadurch wird die Erbanlage nicht
beeinflusst, d. h. in der Folgegeneration können
diese Veränderungen wieder fehlen.


P Beim Menschen können auch soziale Fakto-
ren verändernd auf die Ausprägung körperli-
cher und psychischer Merkmale wirken.

Sinn der Modifikationen ist, dass sich die Orga-


nismen innerhalb eines bestimmten erblichen
Spielraumes – der Reaktionsnorm – an verän-
derte Umweltbedingungen anpassen können.

Nicht alle Merkmale sind gleichermaßen modi-


fizierbar. So gibt es beim Menschen:
– umweltstabile Merkmale, die nicht modifi-
zierbar sind, z. B. die Blutgruppen;
– umweltlabile Merkmale mit geringer Reak-
tionsnorm, z. B. Haarfarbe, Größe und Masse
des Körpers;
– umweltlabile Merkmale mit großer Reak-
tionsnorm, z. B. Intelligenz, handwerkliche
Geschicklichkeit und andere Begabungen.


P Jeder Mensch besitzt andere Reaktions-
normen. Um das Gleiche im Leben zu errei-
chen, muss derjenige mit der ungünstigeren
Reaktionsnorm mehr tun.

Der überwiegende Teil der Merkmale wird beim


Menschen durch das Zusammenwirken von Erb-
anlagen und Umweltfaktoren geprägt.

Änderung von Merkmalen können durch die


Gestaltung entsprechender Entwicklungsbedin-
gungen (Umwelt) niemals über die Grenzen der
genetisch festgelegten Reaktionsnorm erfolgen.
2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe 57

Fragen zur Wiederholung

l. Beschreiben Sie die chemischen und physikalischen Eigenschaften des Wassers und seine
Bedeutung für den menschlichen Organismus.
2. Nennen Sie die intra- und extrazellulären Elektrolytkonzentrationen, und geben Sie
wesentliche Funktionen der jeweiligen Elektrolyte an.
3. Erläutern Sie die Hauptfunktionen der Kohlenhydrate, Fette und Eiweiße im menschlichen
Organismus.
4. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) Zelle,
b) Gewebe,
c) Organ,
d) Organsystem.
5. Skizzieren Sie aus dem Gedächtnis eine menschliche Zelle und ordnen Sie den einzelnen
Bestandteilen die entsprechenden Funktionen zu.
6. Beschreiben Sie den Aufbau der Zellmembran. Welche Eigenschaften und Aufgaben hat
sie?
7. Nennen Sie Vorkommen und Funktion der Kompartimente.
8. Erstellen Sie eine Übersicht über Menge und Verteilung der Körperflüssigkeiten.
9. Was versteht man unter der Homöostase des inneren Milieus?
10. Was versteht man unter dem pH-Wert? – Nennen Sie den Normbereich des Blutes.
l l. Begründen Sie, warum schon geringfügige Abweichungen vom normalen pH-Wert lebens-
bedrohlich sind.
12. Wie erfolgt die Regulation des Säure-Basen-Haushalts? Erläutern Sie exakt die Pufferung.
13. Erläutern Sie die Notwendigkeit des Stofftransportes im menschlichen Körper.
14. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) passiver Transport,
b) Konzentrationsgefälle,
c) Diffusion,
d) Osmose,
e) osmotischer Druck,
f) kolloidosmotischer Druck,
g) aktiver Transport,
h) Phagozytose,
i) Pinozytose,
j) Trägertransport,
k) Konvektion!
15. Überlegen Sie, was passiert, wenn rote Blutzellen
a) in eine hypotone,
b) in eine hypertone Lösung gebracht werden.
16. Erläutern Sie den Begriff Stoff- und Energiewechsel und die wichtigsten Teilprozesse.
17. Was ist ATP und welche Bedeutung hat es?
18. Unterscheiden Sie Enzyme und Coenzyme.
19. Beschreiben Sie den Ablauf einer Enzymreaktion.
Welche Bedeutung haben Enzyme im Stoffwechsel?
20. Erklären Sie die Begriffe Glykolyse und Glukoneogenese.
21. Nennen und erläutern Sie die drei grundlegenden Schritte der Energiefreisetzung.
22. Worin liegt die besondere Bedeutung der biologischen Wasserstoffoxidation?
58 2 Grundlagen, Bau- und Funktionsstoffe

Fragen zur Wiederholung

23. Erklären Sie folgende Begriffe:


a) Chromosom,
b) Chromatin,
c) Chromatide,
d) DNA, m-RNA, t-RNA,
e) Nukleotid, Polynukleotid,
f) Reduplikation.
24. Was versteht man unter dem Triplett-Code?
25. Beschreiben Sie die Eiweißsynthese.
26. Beschreiben Sie die Mitose und ihre Bedeutung.
27. Erläutern Sie Ziel und Ablauf der Meiose.
28. Vergleichen Sie Mitose und Meiose.
29. Was versteht man unter der relativen Konstanz einer Art?
30. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) Erbinformation,
b) Gen,
c) Allel,
d) Genotyp,
e) Phänotyp,
f) homozygot,
g) heterozygot,
h) dominant-rezessiver Erbgang,
i) intermediärer Erbgang.
31. Erläutern Sie die drei Mendel’schen Gesetze anhand konkreter Beispiele.
32. Mutter und Kind haben Blutgruppe 0. Kann der Vater Blutgruppe A haben?
Begründen Sie Ihre Antwort.
33. Unterscheiden Sie Mutationen und Modifikationen. Welche Bedeutung haben sie?
34. Was verstehen Sie unter
a) autosomal-rezessiven Erbleiden?
b) autosomal-dominanten Erbleiden?
35. Was verstehen Sie unter X-chromosomal-rezessiver Vererbung?
59

3 Gewebe

Gewebe sind Verbände von Zellen mit annä- b. geformte Interzellularsubstanzen (= Fasern)
hernd gleichem Bau und gleicher Funktion ein- Die Fasern ermöglichen als wichtiger Bestandteil
schließlich der von ihnen abgegebenen Inter- des Körpers den Zusammenhalt und die Festig-
zellularsubstanz. keit der Organe.

Interzellularsubstanzen Bei den geformten Interzellularsubstanzen spre-


Die Interzellularsubstanzen (Zwischenzellsub- chen wir von drei Faserarten:
stanzen) sind Stoffe, welche in die Zwischenzell- 1. Retikuläre Fasern
räume eingelagert werden und vor allem für die Sie bilden Fasernetze um Zellen und um Blut-
Binde- und Stützgewebe von besonderer Be- gefäße. Außerdem kommen sie im retikulären
deutung sind. Bindegewebe vor.
Zu den Interzellularsubstanzen gehören
a. ungeformte Interzellularsubstanzen 2. Kollagenfasern
– Flüssigkeiten: Blut- und Lymphflüssigkeit, Die Kollagenfasern sind die zugfesten Bauele-
interstitielle Flüssigkeit sowie mente in den Bändern, Gelenkkapseln und Seh-
– amorphe Grundsubstanz: Hierbei handelt es nen. Kollagen heißt „leimgebend“. Aus diesen Fa-
sich um ein Gel unterschiedlicher Konsistenz, sern entsteht beim Kochen eine leimartige Masse.
das sich hauptsächlich zusammensetzt aus:
• Proteinen, 3. Elastische Fasern
• Polysacchariden, Dieser Fasertyp verhält sich wie ein Gummi-
• anorganischen Verbindungen (z. B. Calcium- band. Wir finden ihn vor allem in häufig bean-
salze) und spruchten Organen (z. B. Wände der großen
• wechselnder Menge Wasser (wenig); Arterien, Lunge und Gallenblasenwand). Elas-
tische Fasern bilden ebenfalls Fasernetze.

retikuläres straffes elastisches


Bindegewebe Bindegewebe Knorpelgewebe

Kollagenfasern
(Sehne)

Retikulozyten 1)
retikuläre Fasern Knorpelzellen
weiße Blutzellen elastische Fasern
1) netzförmig angeordnete Zellen in den lymphatischen Organen

Geformte Interzellularsubstanz (= Fasern). Abb. 3.1


60 3 Gewebe

Der menschliche Organismus besteht aus vier 3.1 Epithelgewebe (= Epithel)


Haupttypen von Geweben:
1. Epithelgewebe, Das zellreiche Epithelgewebe ist praktisch in
2. Binde- und Stützgewebe, allen Körperorganen anzutreffen. Es erfüllt sehr
3. Muskelgewebe, unterschiedliche Aufgaben, wie z. B.:
4. Nervengewebe. – mechanischen Schutz,
– Einschränkung der Verdunstung,
Jeder Typ hat mehrere Untergruppen, die an- – Abgabe und Aufnahme von Stoffen sowie
schließend beschrieben werden. – Reizaufnahme.
Jedes Organ ist aus mehreren Gewebearten zu- Den Aufgaben entsprechend zeigen Epithel-
sammengesetzt (vgl. S. 22). Diejenigen Zellen, zellen ganz unterschiedliche Formen.
die für die spezielle Organleistung der kompak- Nach ihrer Funktion werden die Epithelien in
ten inneren Organe verantwortlich sind, werden drei Gruppen eingeteilt:
als Parenchymzellen bezeichnet. • Deckepithel,
Diese Zellen bilden also das eigentliche Organ- • Drüsenepithel (✑ Drüsen, S. 86),
gewebe (Parenchym), z. B. Leber-, Pankreas- • Sinnesepithel (✑ Sinnesorgane, S. 311),
und Nierenparenchym. Epithelgewebe sind fast ohne Interzellularsub-
stanz.

Tab. 3.1 Gliederung der Epithelgewebe.

Epithelgewebe

Deckepithel Drüsenepithel Sinnesepithel

einschichtig mehrschichtig

Plattenepithel unverhorntes Plattenepithel


kubisches Epithel verhorntes Plattenepithel
Zylinderepithel Zylinderepithel
mehrreihiges Flimmerepithel
Übergangsepithel (Urothel)

mehrreihiges Flimmerepithel Darmepithel

Flimmerhärchen Zellen Mikrovilli


(Cilien)
Zellkerne

Basalmembran

Abb. 3.2 Funktionell bedingte Ausstülpungen der Zellmembran.


3.1 Epithelgewebe 61

Plattenepithel
(mehrschichtig,
unverhornt)
Plattenepithel (einschichtig)

Hornschicht
kubisches Epithel (einschichtig)

Becherzellen

Plattenepithel
(mehrschichtig, verhornt)
Zylinderepithel Flimmerepithel
(einschichtig) (mehrreihig)

Übergangsepithel (mehrreihig, gedehnt) Übergangsepithel (mehrreihig, ungedehnt)

Tastkörperchen Hörsinnes-
zellen
Licht-
sinneszellen

Sinnesepithelien

Formen der Epithelgewebe: Deck- und Sinnesepithelien. Abb. 3.3


62 3 Gewebe

Deckepithel (= Schutzepithel) b) Nach der Zahl der Zellenlagen


Das Deckepithel bedeckt als flächiger, in sich – Einschichtige Epithelien (die ein- oder mehr-
geschlossener Zellverband die Körperober- reihig sein können)
fläche und kleidet die Hohlorgane (z. B. Verdau- 1.) Einschichtiges einreihiges Plattenepithel
ungstrakt, Harnwege) aus. Es ruht mit einer • als Auskleidung der Blutgefäße und Lun-
Grenzmembran (= Basalmembran) auf dem dar- genbläschen (hier heißt es Endothel),
unter liegenden Bindegewebe. Entsprechend den • als Epithel der serösen Häute (hier heißt
Funktionen weisen die Deckepithelien verschie- es Mesothel).
dene Merkmale auf. Man unterscheidet: 2.) Einschichtiges einreihiges kubisches Epithel
a) Nach der Zellform • als Auskleidung der kleinen Bronchien.
– Plattenepithel mit abgeflachten Zellen, 3.) Einschichtiges einreihiges Zylinderepithel
– isoprismatisches (kubisches) Epithel mit an- • als Auskleidung des Magens und Darmes.
nähernd würfelförmigen Zellen, 4.) Einschichtiges mehrreihiges Flimmerepithel
– hochprismatisches Epithel (Zylinderepithel) • als Auskleidung der Atemwege. Nicht
mit hohen Zellen, alle Zellen erreichen durch unterschiedli-
– Flimmerepithel: Bewegliche Plasmastrukturen che Größe die Oberfläche, aber alle Zellen
in der Schleimhaut der Atemwege sowie Eileiter sind mit der Basalmembran verbunden.
dienen dem Transport von Staub bzw. Eizelle. Da die Zellkerne in verschiedenen Ebenen
Die freie Oberfläche der Zellen kann verschiede- liegen, wird von Mehrreihigkeit gespro-
ne Strukturen tragen. chen.
Beispiel: Bürstensaum; feinste Fäserchen (= Mi- 5.) Einschichtiges mehrreihiges Übergangs-
krovilli) der Dünndarmepithelzellen, die an der epithel (Urothel)
Zelloberfläche entspringen und der Oberflächen- • kleidet überwiegend die harnableitenden
vergrößerung und damit der besseren Stoffauf- Wege aus. Bedingt durch unterschiedliche
nahme dienen. Druck- und Dehnungszustände ist die
Anzahl der Zellreihen verschieden.
– Mehrschichtige Epithelien
1.) Mehrschichtiges Plattenepithel:
• unverhornt als Auskleidung von Mund-
tubulär
höhle, Speiseröhre, Scheide und Bede-
ckung der Lippen,
• verhornt als Bedeckung der Körperober-
fläche (= Epidermis).
2.) Mehrschichtiges Zylinderepithel als Aus-
kleidung der männlichen Harnröhre.

alveolär
3.2 Binde- und Stützgewebe
Das Binde- und Stützgewebe gibt dem Körper
Festigkeit und Halt und verbindet seine Teile
untereinander.

Zum Binde- und Stützgewebe gehören:


• Bindegewebe,
tubulo- • Knorpelgewebe,
alveolär • Knochengewebe.
Binde- und Stützgewebe besitzen im Unter-
schied zum Epithelgewebe relativ wenig Zellen,
Abb. 3.4 Formen der Drüsenepithelien. dafür reichlich Interzellularsubstanz.
3.2 Binde- und Stützgewebe 63

Bindegewebsformen Tab. 3.2


Bindegewebe fixe Zellen freie Interzellular- Vorkommen und
Zellen substanz Aufgaben
Embryonales Binde- sternförmige selten flüssig bildet Füllgewebe des
gewebe, Mesenchym Zellen zu Embryos, Ausgangs-
einem material für alle anderen
räumlichen Binde- und Stützgewebe
Gitterwerk
angeordnet

Retikuläres Bindegewebe, Retikulum- sehr flüssig bildet das Grundgerüst


netzförmiges Bindegewebe zellen viele (= Gewebs- von Knochenmark, Milz,
flüssigkeit) Lymphknoten und Lymph-
Verfestigung follikeln.
durch Retikulum- und freie Zellen
Retikulinfasern sind zur Phagozytose und
Speicherung befähigt

Fettgewebe zahlreiche keine Grundsubstanz Baufett: bildet druckelasti-


• weißes: Fetttropfen im Zyto- Fettzellen mit wenig sche Polster (z. B. Gesäß,
plasma als Bau- und Speicherfett
im Körper verteilt
Fasern Augenhöhle, Wange) und
• braunes: Fettzellen des Neugebo- hält Organe in ihrer Lage
renen mit kleinen Fetttröpfchen (z. B. Niere)
und Mitochondrien; zur zitterfreien
Wärmebildung Speicherfett: wirkt v. a. als
Bestandteil des Unterhaut-
fettgewebes als Wärme-
isolator; außerdem stellt
es eine Energiereserve dar
und spielt eine wichtige
Rolle bei der Regulation
des Wasserhaushaltes

Lockeres Bindegewebe Fibrozyten viele, Gewebsflüssig- füllt Lücken zwischen


z. B. keit mit einge- den Organen und
Plasma- lagerten verbindet sie beweglich,
zellen, retikulären liegt zwischen den
Histio- Kollagen- und Parenchymzellen der
zyten elastischen Organe,
Fasern speichert Flüssigkeit,
erfüllt Abwehraufgaben

Straffes Bindegewebe wenig selten sehr viel in baut Lederhaut,


Fibrozyten dichten Geflech- Sehnen, Bänder und
ten oder paral- Gelenkkapseln auf
lel angeordnete
Kollagenfasern,
die von elasti-
schen Fasern be-
gleitet werden
64 3 Gewebe

Bindegewebe hyaline Knorpel zeichnet sich durch hohe


Das Bindegewebe bezeichnet eine Gruppe recht Druckfestigkeit, aber nur geringe Zugfestig-
unterschiedlicher Gewebsformen. Dazu gehören keit aus. Es ist die am häufigsten vorkommende
das embryonale, retikuläre, lockere und straffe Knorpelart.
Bindegewebe sowie auch das Fettgewebe. Das Vorkommen: Skelettanlage, Rippenknorpel,
Bindegewebe erfüllt diverse Aufgaben; es Nasenscheidewand, Knorpelspangen der Luft-
– umhüllt und verbindet die Organe, röhre, Schild-, Ring- und Stellknorpel des Kehl-
– bildet das Grundgerüst der Organe, kopfes, Gelenkknorpel (ohne Perichondrium).
– erfüllt Stoffwechselfunktionen und
– speichert Fett.
Neben den fixen Zellen (= jeweilige Bindege- Hyaliner Knorpel
webszellart) kommen oft sog. freie, teilweise zur
Wanderung befähigte Zellen vor, die Abwehr-
funktionen ausüben (✑ Tab. 3.2).

Merke
Das Bindegewebe zeigt in seiner Ausbildung
eine große Mannigfaltigkeit und übt im Orga-
nismus vielfältige Funktionen aus. Grund-
substanz

Knorpelgewebe und Knochengewebe Knorpelzelle Knorpelkapsel


Knorpel- und Knochengewebe sind die Stütz-
gewebe im engeren Sinn. Sie geben dem Körper
durch ihre besondere Festigkeit seine Form. Das Knorpelzelle
Elastischer Knorpel
formgebende Prinzip ist die geformte und unge-
formte Interzellularsubstanz. Letztere wird als
Grundsubstanz bezeichnet.

Knorpelgewebe, Knorpel
Das Knorpelgewebe geht aus dem Mesenchym
hervor. Es bildet auch beim Menschen zunächst
das Knorpelskelett, welches sich durch den Pro- Grund-
zess der Knochenbildung in das Knochenskelett substanz
umwandelt. Der Knorpel besteht aus den Knorpel-
zellen (Chondrozyten), die von einer gallertartigen elastische Fasern
Grundsubstanz mit eingekitteten Kollagenfasern
umgeben werden. Die Knorpelzellen liegen in Ein-
oder Mehrzahl in den Knorpelhöhlen (= Ausspa- Faserknorpel Knorpelzelle
rungen der Interzellularsubstanz). Die Wand der
Knorpelhöhlen heißt Knorpelkapsel. Mit Aus-
nahme der Gelenkknorpel werden alle übrigen von
einer Knorpelhaut (Perichondrium) überzogen,
von der aus die Versorgung des Knorpels erfolgt.

Eigenschaften
• hohe Druckelastizität, • geringe Zugfestigkeit. Grund-
Beim Menschen tritt der Knorpel in 3 Formen auf: substanz
1. Hyaliner Knorpel
kollagene Fasern
Die Interzellularsubstanz wird etwa zur Hälfte
von amorpher Grundsubstanz und kollagenen
Knorpelarten. Abb. 3.5
Fibrillen (kleinste Fäserchen) gebildet. Der
3.2 Binde- und Stützgewebe 65

2. Elastischer Knorpel Knochengewebe, Knochen


Der elastische Knorpel ist dem hyalinen sehr Das Knochengewebe zeichnet sich durch seine
ähnlich. Außer von kollagenen Fibrillen ist er besondere Druck- und Scherbelastbarkeit bei rela-
von elastischen Fasern durchsetzt. Er ist zug- tiv geringer Masse aus. Diese Eigenschaften sind
fester, dafür weniger druckfest als der hyaline. auf die Zusammensetzung und Anordnung der
Vorkommen: Ohrmuschel, Ohrtrompete, Kehl- reichlich vorhandenen Interzellularsubstanz
deckel. zurückzuführen.
3. Faserknorpel
Der Faserknorpel hat große Ähnlichkeit mit Merke
dem straffen Bindegewebe. Die Kollagen- Die Interzellularsubstanz enthält große Men-
fasern überwiegen gegenüber der amorphen gen Calciumphosphat und reichlich kolla-
Grundsubstanz deutlich. Er zeichnet sich des- gene Fasern, wodurch dem Knochengewebe
halb durch eine hohe Zugfestigkeit aus. Druckfestigkeit und Elastizität verliehen wer-
Vorkommen: Zwischenwirbelscheiben, Disci, den. Die Anordnung des „Baumaterials“ ist
Minisci. den Belastungen angepasst.

P Der Gelenkknorpel hat keine eigene Blut-
versorgung. Die stoffliche Versorgung erfolgt ❑
P Mit zunehmendem Alter nimmt die Knochen-
durch Diffusion über die Gelenkinnenhaut und elastizität ab. Das Knochengewebe wird sprö-
den unter dem Knorpel liegenden Knochen. der (= Ursache für häufigere Knochenbrüche).
Diese ohnehin nicht optimale Versorgung rea-
giert zudem sehr empfindlich auf unterschied- Die Struktur des Knochengewebes ist bei seiner
lichste Störfaktoren. Die Folge sind Abnutzun- Entstehung zunächst unregelmäßig und bildet
gen des Knorpels, die als Arthrose (= degene- die ursprünglichen Geflechtknochen (✑ Abb.
ratives Gelenkleiden) der entsprechenden 3.6, S. 66). Im Zuge des Wachstums wandelt sich
Gelenke in Erscheinung treten. Da die Zellen diese in Anpassung an die Belastung in eine
des erwachsenen Knorpels außerdem ihre lamellen- oder schalenförmig geordnete
Teilungsfähigkeit verloren haben, ist die Knochenstruktur um und bildet die endgültigen
Arthrose irreversibel. Lamellenknochen (✑ Abb. 3.7, S. 66).

Knochengewebe. Tab. 3.3

Bestandteile des Knochengewebes

Knochenzellen Interzellularsubstanz

• knochenbildende Zellen ungeformte


(Osteoblasten) (amorphe) anorganische Fasern
Grundsubstanz Substanzen
• Knochenzellen
(Osteozyten) • Calciumphos- • kollagene
phat (ca. 85 %) Fibrillen
• knochenabbauende Zellen
(Osteoklasten)
Elastizität Festigkeit Elastizität

Der anorganische Bestandteil beträgt 50 % und der organische 25 %. Der Rest ist Wasser. Die
Knochenzellen liegen in Knochenhöhlen. Untereinander sind sie durch Plasmaausläufer
innerhalb feiner Knochenkanälchen verbunden.
66 3 Gewebe

Knochenzellen
(Osteozyten)

Interzellularsubstanz

Kollagenfasern

Abb. 3.6 Geflechtknochen.

Knochenbildung (Ossifikation) Die Verknöcherung der „Knorpelknochen“ er-


Die Bildung der einzelnen Knochen beginnt in folgt sowohl von der Knorpelhaut, also von außen
der Fetalzeit (ab 3. Monat der Schwangerschaft) (perichondrale Ossifikation) als auch von innen
und erfolgt auf zwei verschiedenen Wegen. (enchondrale Ossifikation).
Bei den langen Röhrenknochen entsteht zu-
1. Chondrale Ossifikation nächst im mittleren Bereich der Diaphyse außen
Bis auf wenige Ausnahmen werden die Knochen um den Knorpel eine Knochenmanschette. Diese
zunächst aus Knorpelgewebe (geht aus dem wird allmählich nicht nur dicker, sondern wächst
Mesenchym hervor) vorgebildet („Knorpelkno- auch in Richtung der beiden Epiphysen (✑ Abb.
chen“). Bereits vor der Geburt beginnt der Ab- 3.8). Gleichzeitig bildet sich innerhalb der Kno-
bau des Knorpels und sein Ersatz durch unge- chenmanschette die Markhöhle, und die Knorpel-
ordnetes Knochengewebe, sodass zuerst Geflecht- haut wird zur Knochenhaut.
knochen entstehen. Die Epiphysen verknöchern enchondral, d. h., im

Havers-System
(Osteon)

Knochenbälkchen
(Substantia spongiosa)
Blutgefäße

Havers’scher Knochenhaut
(Periost)
Kanal mit
Bindegewebe,
Blutgefäßen, äußere Lamellen
Nerven und
freien Zellen
Volkmann-Kanal
mit Blutgefäßen

Abb. 3.7 Lamellenknochen.


3.2 Binde- und Stützgewebe 67

Gelenkknorpel
endochondraler
Knochenkern Epiphyse

Hyaliner
Knorpel

Markhöhle

Diaphyse

Knochen-
manschette
einwachsende
Gefäße
Epiphyse
Metaphyse oder
Epiphysenfuge

Knochenbildung. Abb. 3.8

Inneren entsteht ein sog. Knochenkern, der durch Mesenchym Knorpel Geflechtknochen
allmählichen Abbau des Knorpelgewebes größer Lamellenknochen
wird. Am Ende ist das Knorpelgewebe bis auf
den Gelenkknorpel und die Epiphysenfugen voll- 2. Desmale Ossifikation
ständig in Knochengewebe umgebaut. Unter desmaler Ossifikation versteht man die
Die Ossifikation der einzelnen Knochen ge- Bildung von Knochengewebe direkt aus dem
schieht zeitlich verschoben. So sind zum Zeit- Mesenchym.
punkt der Geburt lediglich Rippen, Schädel- Beispiele: Schädeldach, Schlüsselbein.
knochen, Wirbelkörper, Hüftbeine und Diaphy- Mesenchym Knochen
sen der Röhrenknochen verknöchert. In den
übrigen Knochen sind entweder Knochenkerne Aufbau des Lamellenknochens (✑ Abb. 3.7)
(z. B. Epiphysen der Röhrenknochen, Fersen- Diese Knochenart ist durch ein lamelläres Ord-
bein) vorhanden oder sie bilden sich zu einem nungsprinzip der Interzellularsubstanz charakte-
späteren Zeitpunkt in einer ganz bestimmten risiert. Die 5 – 10 μm dicken plattenförmigen
Reihenfolge. Knochenlamellen werden aus parallel zueinan-
der verlaufenden kollagenen Fibrillen und Kitt-
Merke substanz gebildet. Zwischen den Lamellen lie-
Mit dem Längenwachstum der Knochen gen die pflaumenkernförmigen Knochenzell-
(✑ S. 90) bildet sich der Geflechtknochen in höhlen, welche die Knochenzellen (Osteozyten)
den Lamellenknochen um. enthalten.
68 3 Gewebe

Die Knochenzellhöhlen sind durch enge Kno- Bruchspalt eine „Knochenmanschette“ legen
chenkanälchen untereinander verbunden, in (= knöcherner Kallus).
denen sich die Ausläufer der Osteozyten befin- – Jetzt, nach Fixierung der Bruchstücke, ver-
den. knöchert das Bindegewebe im Spalt.
– Zum Schluss des Heilungsprozesses wird die
Osteone (= Havers-System) Knochenmanschette abgebaut.
Durch die konzentrische Anordnung der Kno-
chenlamellen entstehen dünne mehrere Zenti-
meter lange Zylinder, die Osteone.
Wie in Abb. 3.7 zu erkennen, verlaufen die
Lamellen um eine Aussparung, die als Haver’- 3.3 Muskelgewebe
scher-Kanal bezeichnet wird. Er enthält die ver-
sorgenden Blutgefäße und Nerven. Senkrecht zu Das Muskelgewebe besitzt im besonderen Maße
den Haver’schen Kanälen verlaufen die Volk- die Fähigkeit zur Kontraktion, wodurch die Be-
mann-Kanäle, in denen die Arterien, Venen und wegung der Körperteile ermöglicht wird. Verant-
Nerven von der Knochenhaut (✑ S. 89) kom- wortlich für die Kontraktilität sind die Myofibril-
mend in das Zentrum der Osteone gelangen. len. Das sind feinste Fäserchen, bestehend aus
den kontraktilen Eiweißen Aktin und Myosin.

P Bei der Frakturheilung legt der Organismus Zwischen den Myofibrillen befindet sich ein
um den Bruchspalt einen stützenden Verband Netz feinster Kanälchen (= Tubuli).
in folgender Art und Weise an: Nach morphologischen und funktionellen Ge-
– Zunächst wächst vor allem vom Periost ge- sichtspunkten gliedert man das Muskelgewebe
fäßreiches Bindegewebe in und um den in drei Muskelgewebearten:
Bruchspalt (= bindegewebiger Kallus). 1. glattes Muskelgewebe,
– Im Bindegewebe entstehen knochenbildende 2. quer gestreiftes Muskelgewebe,
Zellen (= Osteoblasten), welche um den 3. Herzmuskelgewebe.

glattes Muskelgewebe quer gestreiftes Herzmuskelgewebe


Muskelgewebe
(Teil einer Muskelfaser)

balkenförmige
Herzmuskelzelle
mit zentral
liegendem
Zellkern

lockeres
Bindegewebe
Glanzstreifen

lang gestreckte, Muskelfasermembran


spindelförmige Muskelzellen Zellkerne Myofibrillen

Abb. 3.9 Muskelgewebearten.


3.4 Nervengewebe 69

1. Glattes Muskelgewebe Eigenschaften:


Bauelement des glatten Muskelgewebes ist die • ist dem Willen unterworfen (= willkürliche
spindelförmige glatte Muskelzelle mit zentral Muskulatur),
gelegenem ovalen Kern. Glattes Muskelgewebe • kontrahiert schnell,
zeigt keine Querstreifung. • entfaltet viel Kraft, d. h., benötigt deshalb viel
Energie und
Eigenschaften: • ermüdet schnell.
• ist nicht dem Willen unterworfen (= unwill-
kürlich), Steuerung durch das vegetative Vorkommen:
Nervensystem, • Gesamte Skelettmuskulatur (= 45 % der
• kontrahiert langsam, Körpermasse) sowie in der Zungen- und
• kann einen bestimmten Spannungs- bzw. Rachenmuskulatur.
Dehnungszustand über längere Zeit aufrecht-
erhalten, ermüdet also kaum, Aufgaben:
• entfaltet nur geringe Kraft und benötigt des- • Bewegungen der Extremitäten, des Rumpfes,
halb nur wenig Energie. der Augäpfel, Atembewegungen; auch für die
Stimmbildung im Rachen wird die willkür-
Vorkommen: liche Muskulatur eingesetzt.
• Verdauungstrakt,
• Atmungstrakt, 3. Herzmuskelgewebe
• Harnleiter, Harnblase, Bau- und Funktionselemente des Herzmuskel-
• Gebärmutter, gewebes sind die quer gestreiften „Herzmuskel-
• Blutgefäße. fasern“. Sie werden aus einer Kette hintereinan-
der geschalteter Herzmuskelzellen gebildet und
Aufgaben: von einer gemeinsamen Membran umgeben.
• Bewegungen der Hohlorgane sichern. Untereinander sind die Fasern durch Plasma-
ausläufer miteinander verbunden. Die Zell-

P Besonders hohe Anforderungen führen zur
grenzen innerhalb einer Faser werden durch die
Hypertrophie (= übermäßige Vergrößerung der sog. Glanzstreifen (= typisches Kennzeichen)
Zellen). So kann im schwangeren Uterus die als Verzahnungsstellen sichtbar.
Zellgröße auf das Achtfache gesteigert werden.
Vorkommen:
2. Quer gestreiftes Muskelgewebe • Herzmuskel.
Bauelement des quer gestreiften Muskelgewebes
ist die quer gestreifte vielkernige Muskelfaser, Aufgaben:
die eine Länge von wenigen Millimetern bis zu • Spezifisch differenzierte Herzmuskelzellen
10 Zentimetern erreicht. (fibrillenarm, glykogenreich) garantieren die
Die reichlich vorhandenen Myofibrillen durch- Erregung des Herzmuskels;
ziehen die Faser als parallele Eiweißfäden in • die Arbeitsmuskelzellen (fibrillenreich) sind
Längsrichtung. Sie lassen unter dem Mikroskop für die Kontraktion verantwortlich.
helle und dunkle Streifen erkennen, die meist in
gleicher Höhe liegen – daher die Querstreifung.
Um die Myofibrillen bildet das endoplasmati- 3.4 Nervengewebe
sche Retikulum (hier sarkoplasmatisches Retiku-
lum) ein netzförmiges Röhrensystem, das bei der 3.4.1 Bau
Erregung eine wichtige Rolle spielt.
Das Nervengewebe ist das am höchsten ent-
Muskelfaserbündel wickelte Gewebe. Es dient dem Informations-
Mehrere Muskelfasern werden zu Primärbün- austausch. Zusammen mit der Neuroglia oder Glia
deln und diese wiederum zu Sekundärbündeln (✑ S. 71) bildet es das zentrale und periphere
zusammengeschlossen. In ihrer Gesamtheit bil- Nervensystem. Hauptbestandteil des Nervenge-
den diese Faserbündel den Muskel. webes sind die Nervenzellen (= Neurone).
70 3 Gewebe

Merke
Nissl-Schollen Dendriten
Neurone leiten Erregungen schnell
über weite Strecken weiter.
Neurolemm
Neuron
Das Neuron setzt sich zusammen aus
Synapse
dem Zellkörper (Perikaryon), dem
Stoffwechselzentrum, und den von ihm
ausgehenden Fortsätzen (Dendriten,
Neuriten). Die meisten Neurone des
Zellkern Menschen sind multipolar, d. h., sie
besitzen mehrere Dendriten (baumartig
verzweigt) und einen längeren Neurit
(= Axon). Das Axon zweigt sich am
Ende zum Endbäumchen (Telodendron)
Axoplasma mit Zellkörper auf. Die Enden verdicken sich keulen-
Neurofibrillen (Perikaryon, Soma) förmig (= Endknopf).
Neurone sind funktionell bipolar, d. h.,
Nervenfaser Ursprungskegel
(Axon, Neurit) man unterscheidet einen Rezeptorpol zur
Informationsaufnahme und -weiterleitung
in das Perikaryon und einen Effektorpol
zur Informationsabgabe über das Axon.
Ranvier’scher Neurone besitzen ein stark ausgeprägtes
Schnürring granuläres endoplasmatisches Retiku-
lum, welches als Nissl-Schollen oder
Tigroidsubstanz bezeichnet wird, und
Axolemm
zahlreiche Mitochondrien und Lysoso-
men im Perikaryon. Außerdem enthält
das Perikaryon eine größere Anzahl von
Neurofibrillen, die sich in das Axon
fortsetzen. Sie dienen dem Transport von
Vesikeln und Mitochondrien in die synap-
tischen Endknöpfe.

Nervenfaser und Hüllen


Der Neurit bildet zusammen mit einer
Gliahülle die Nervenfaser. Die Gliahülle
wird im ZNS (zentrales Nervensystem)
von Oligodendrozyten und im PNS (peri-
pheres Nervensystem) von Schwann-
Zellen gebildet. Ein Oligodendrozyt
kann mehrere Neuriten umhüllen, eine
Schwann-Zelle immer nur einen. Man
unterscheidet je nach Beschaffenheit der
Gliahülle 2 Nervenfaserarten.
synaptische • Markhaltige Nervenfasern: Die Glia-
Endbäumchen Endknöpfchen zellen wickeln sich lamellenartig um
(Telodendron) das Axon, sodass eine isolierende
Fetthülle entsteht. Diese wird als Mark-
Abb. 3.10 Nervenzelle (Neuron). oder Myelinscheide bezeichnet. An
den Kontaktstellen von 2 benachbar-
3.4 Nervengewebe 71

ten Gliazellen fehlt das Myelin, wodurch eine


Einschnürung erfolgt. Diese heißt Nerven- Nervenfasern Nervenfaser-
faserknoten oder Ranvier’scher Schnürring. bündel
• Marklose Nervenfasern: Mehrere Axone wer-
den einfach in eine Gliazelle eingeschlossen,
sodass nur sehr wenig isolierendes Myelin vor-
liegt und keine Nervenfaserknoten entstehen.

Merke
Nach der Menge des Myelins (= Mark) unter-
scheidet man markhaltige (myelinreiche) und
marklose (myelinarme) Nervenfasern. Endo-
neurium
Epineurium (lockeres Binde-
Einteilung der Nervenfasern nach ihren funk- (lockeres gewebe um die
tionellen Eigenschaften: Bindegewebe, das Perineurium Nervenfasern,
den Nerven umhüllt (straffes Binde- mit Blut- und
• Afferente (= sensible, aufsteigende) Nerven- und seine Verbin- gewebe um die Lymph-
fasern leiten die Information von der Periphe- dung zur Um- Nervenfaserbündel) kapillaren)
gebung herstellt)
rie zum ZNS.
• Efferente (= motorische, absteigende) Nerven- Peripherer Nerv (Querschnitt). Abb. 3.11
fasern leiten die Informationen vom ZNS zur
Peripherie.
Merke
Faszikel und periphere Nerven
Die Nervenfasern sind zu Nervenfaserbündeln Die wesentlichen Aufgaben der Neuroglia
zusammengefasst. Im Gehirn und Rückenmark sind:
werden diese als Faszikel bezeichnet, außerhalb – Stützfunktion,
bilden sie den Hauptanteil der peripheren – Isolationsfunktion,
Nerven (✑ Abb. 3.11). Die peripheren Nerven – Beeinflussung des Nervenzellstoffwechsels.
sind überwiegend gemischte Nerven, weil sie
afferente und efferente Fasern enthalten.

P Gliazellen füllen Defekte in der Hirnsubstanz
Neuroglia (Glia) aus. Es entstehen die sog. Glianarben.
Außer den Neuronen befinden sich sowohl im
ZNS als auch im PNS noch die Gliazellen, die in
ihrer Gesamtheit als Neuroglia bezeichnet wer- 3.4.2 Grundlagen der
den. Je nach Funktion unterscheidet man ver- Erregungsphysiologie
schiedene Gliazelltypen.
Zentrale Glia: Das Nervengewebe sichert den Informationsaus-
– Astrozyten. Dies sind verzweigte Zellen, die tausch, der in fünf Schritten dargestellt werden
die Neurone mit den Blutgefäßen verbinden kann:
und den Stoffaustausch ermöglichen. Sie bil- 1. Informationsaufnahme durch Sinneszellen
den den Hauptanteil der Neuroglia. (= Rezeptoren),
– Oligodendrozyten. Diese sind weniger ver- 2. Informationsleitung durch afferente Nerven-
zweigt und bilden die Markscheiden im ZNS. fasern zum Zentralnervensystem,
– Ependymzellen. Sie kleiden Hirnventrikel und 3. Informationsverarbeitung und -speicherung
Zentralkanal des Rückenmarks aus. im Zentralnervensystem,
Periphere Glia: 4. Informationsleitung durch efferente Nerven-
– Schwann-Zellen. Sie umhüllen die peripheren fasern zum Muskel bzw. zur Drüse (= Effek-
Neuriten. toren),
– Mantelzellen. Sie umgeben die in den Gan- 5. Informationsabgabe an die Umwelt durch
glien liegenden Perikaryen. Muskelleistung und Drüsensekrete.
72 3 Gewebe

extrazellulär
K+ [K+ ] 4 mmol/l Na+
[Na+ ] 140 mmol/l

Natrium-Kalium-Pumpe

intrazellulär
K+ [K+ ] 160 mmol/l Na+
[Na+ ] 10 mmol/l

Abb. 3.12 Ruhepotential.

Grundlage für den Informationsaustausch ist die relativ gut durchlässig. Entsprechend der unter-
Erregung der Nervenzellen. Im Folgenden wer- schiedlichen Durchlässigkeit der Membran
den beschrieben: die Erregungsbildung, die Er- diffundieren im Ruhezustand ständig relativ
regungsleitung und die Erregungsübertragung. viele K+ von innen nach außen und wenige Na+
im umgekehrten Richtungssinn;
Erregungsbildung • ein aktives Transportsystem (= Natrium-Kali-
Die Bildung einer Erregung bedeutet, dass von um- Pumpe) sorgt dafür, dass es nicht zum
einer erregbaren Zelle eine Information aufge- Konzentrations- und damit auch Ladungsaus-
nommen und in elektrische Impulse transfor- gleich kommt.
miert worden ist. Eine wichtige Voraussetzung
dafür ist das Ruhepotential. Letztendlich überwiegen in der intrazellulären
Flüssigkeit einige wenige Anionen (negativ gela-
Ruhepotential dene Teilchen) und in der extrazellulären
Flüssigkeit einige Kationen (positiv geladene
Merke Teilchen). Dies führt dazu, dass die Innenseite
Die Spannung (= Potential), die bei einer der Membran im Ruhezustand gegenüber der
nicht gereizten Zelle zwischen Zellinnerem Außenseite negativ geladen ist. Sie ist polari-
und der Außenseite der Membran herrscht, siert.
bezeichnet man als Ruhepotential der Zelle
(Innenseite negativ, Außenseite positiv). Sie Erregung (Aktionspotentialbildung)
ist eine wichtige Voraussetzung für die Erregung einer Zelle bedeutet die Umwandlung
Erregungsbildung. des Ruhepotentials in das Aktionspotential
(= AP) infolge Reizung.

Folgende Faktoren bedingen die Entstehung des Reize


Ruhepotentials: Ein Reiz ist eine energetische Veränderung phy-
• ungleichmäßige Verteilung bestimmter Ionen sikalischer und/oder chemischer Natur in der
in der intra- und extrazellulären Flüssigkeit Umgebung einer Zelle, die zu einer Änderung
(✑ S. 18); des Membranpotentials führt.
• unterschiedliche Permeabilität (Durchlässig-
keit) der ruhenden Membran für die einzelnen Beispiele: Änderung von Lichtintensität, Tempe-
Ionenarten. Die Membran ist für Proteinionen ratur, Schallwellen, Druck und pH-Wert.
undurchlässig, für Na+ relativ gering und K+
3.4 Nervengewebe 73

(mV)
40
20 (1+5) Ruhepotential
3 (2) Depolarisation
0 (3) Ladungsumkehr
4 (4) Repolarisation
- 20
- 40
2
- 60 Schwellenpotential
1 5
- 80 Ruhepotential
(ms)
1 2 3 4

Reiz
Na+
+ + - - + +
- - - -
K+
+ +
K+

Ruhepotential Aktionspotential Ruhepotential

Aktionspotential. Abb. 3.13

Der Verlauf der Potentialänderung bei Reizung Je nach Reizstärke wird die Membran mehr oder
ist in der Abbildung 3.13 dargestellt. weniger depolarisiert.
Voraussetzung für die Entstehung eines Aktions-
Es ist zu erkennen, dass bei Reizung das potentials ist eine Mindestreizstärke, welche die
Ruhepotential (1) sehr schnell zusammenbricht. Membran auf ca. –60 mV depolarisiert. Bei die-
Die Membran wird depolarisiert (2). Für kurze sem Wert erhöht sich aufgrund der Ladungsän-
Zeit findet sogar eine Ladungsumkehr bis ca. derung die Permeabilität der Membran für Na+
+30 mV statt (Membran innen positiv, außen auf das 500fache.
negativ; 3). Anschließend wird die Membran Folge:
wieder repolarisiert (4), d. h., das Ruhepotential Rascher Na+-Einstrom mit weiterer Depolarisa-
wird wieder hergestellt (5). Der gesamte tion und anschließender Ladungsumkehr.
Vorgang dauert nur wenige Millisekunden (ms).
Das durch die Mindestreizstärke ausgelöste
Den Verlauf der Spannungsänderung von der Potential als Voraussetzung für das Aktions-
Depolarisation bis zur Wiederherstellung des potential heißt Schwellenpotential. Reize, die
Ruhepotentials nennt man Aktionspotential. Es die Membran bis zum Schwellenwert depolari-
ist Ausdruck einer Erregung. sieren, also die Reizschwelle der Zelle errei-
chen, nennt man überschwellige Reize. Reize,
Beachtet man die Faktoren, die das Ruhepoten- die die Membran nicht bis zum Schwellenwert
tial bedingen, so kann man feststellen: Reize depolarisieren und somit kein Aktionspotential
verändern die Membranpermeabilität. Als Folge auslösen, bezeichnet man als unterschwellige
kommt es zu einer Veränderung der Ionen- Reize.
verteilung.
74 3 Gewebe

Die Permeabilitätsänderung für Na+ hält nur kurz- zeichnet man als „Alles-oder-Nichts-Gesetz“.
fristig an. Dagegen wird die Membranpermea- Das bedeutet, nachdem das Schwellenpotential
bilität für K+ verbessert. erreicht ist, bleibt bei weiterer Verstärkung des
Folge: Reizes die Amplitude der Aktionspotentiale
Verstärkter K+-Ausstrom, dadurch Repolarisa- trotzdem unverändert.
tion, d. h., die Ruhespannung wird wieder er- Wie ist es aber möglich, dennoch unterschiedli-
reicht. che Reizstärken, z. B. unterschiedliche Druck-
einwirkung, wahrzunehmen?
Im Anschluss daran sorgt die Natrium-Kalium- Die Reizstärke wird durch die Frequenz der
Pumpe dafür, dass wieder die alten Konzentra- Aktionspotentiale verschlüsselt. Je stärker der
tionsverhältnisse (wie vor der Erregung) herge- Reiz, desto mehr Aktionspotentiale werden in
stellt werden. Bemerkenswert ist, dass trotz der der Zeiteinheit ausgelöst.
großen Permeabilitätsänderungen an der erreg-
ten Stelle der Membran die Ionenkonzentratio- Erregungsleitung
nen im intra- und extrazellulären Raum kaum Die Erregungsleitung besteht in der Fortleitung
verändert werden. der Aktionspotentiale entlang der Neuriten-
membran bis in die Synapsen. Wie ist das zu er-
Alles-oder-Nichts-Gesetz klären?
Die Tatsache, dass bei unterschwelligen Reizen Ein ausgelöstes Aktionspotential hat zur Folge,
keine Erregung, bei überschwelligen aber immer dass zwischen benachbarten Membranabschnit-
eine Erregung in vollem Umfang erfolgt, be- ten ein Ladungsunterschied entsteht. Dieser
führt zu einem Ladungsausgleich
(= Ausgleichsstrom) längs der
AP Faser (innen und außen). Der
Ladungsausgleich aus der Nach-
barschaft bedeutet dort die Bil-
dung eines neuen Aktionspoten-
tials usw.
Bei markscheidenhaltigen Neuri-
ten erfolgt die Erregungsleitung
Ausgleichsstrom saltatorisch (sprunghaft) von
Schnürring zu Schnürring. Bei
AP
markscheidenlosen Neuriten er-
folgt die Erregungsleitung konti-
nuierlich, weil polarisierte, de-
und repolarisierte Membranab-
schnitte viel dichter beieinander
liegen. Das hat Konsequenzen für
die Erregungsleitungsgeschwin-
Ausgleichsstrom
digkeit und den Energieverbrauch.
AP Bei der saltatorischen Erregungs-
leitung „springt“ das Aktions-
potential von Schnürring zu
Schnürring.
Folgen:
• Erhöhung der Leitungsgeschwin-
digkeit (zirka 100 gegenüber
m
1 bei kontinuierlicher
s Leitung).
m
• Geringerer
s Energieverbrauch,
Saltatorische Erregungsleitung da Natrium-Kalium-Pumpe nur
Abb. 3.14 (AP = Aktionspotential). an den Schnürringen tätig ist.
3.4 Nervengewebe 75

Axon

Neurotubuli

elektrische
präsynaptische Weiterleitung
Bläschen (Vesikel)
mit Neurotransmitter
Mitochondrien
präsynaptische
Membran
synaptischer Spalt
chemische
Übertragung
(Neurotransmitter)
postsynaptische
Membran mit
Membranrezeptoren
elektrische
Weiterleitung

Funktion der Synapse. Abb. 3.15


P Die Repolarisierung benötigt viel Energie, Folge:
Es kann ein Aktionspotential in der anderen
daher ist eine gute Durchblutung des Nerven-
systems notwendig. Sauerstoffmangel, niedri- Zelle ausgelöst werden.
ge Temperaturen und Narkotika lähmen die
Tätigkeit des Nervensystems. Es gibt erregende und hemmende Transmitter
und damit erregende und hemmende Synapsen.
An einem Neuron können bis über tausend
Erregungsübertragung in der Synapse
Synapsen liegen.
Unter Erregungsübertragung (= Informations-
übertragung) versteht man die Übertragung einer
Erregung von einem Neuron auf andere Neurone,

P Es gibt zahlreiche chemische Substanzen, die
die Wirkung der natürlichen Transmitter nach-
Muskelzellen und Drüsenzellen.
ahmen (imitieren) oder hemmen. Sie sind Be-
standteil vieler Medikamente (z. B. Atropin,
Die Erregungsübertragung erfolgt an besonderen
Propranolol).
Kontaktstellen, den Synapsen.

Funktion der Synapse Die Bildung von Aktionspotentialen in einem


Im präsynaptischen Endknöpfchen treffen Akti- Neuron setzt voraus, dass eine bestimmte
onspotentiale ein und bewirken dort die Frei- Mindestzahl von erregenden Synapsen gegen-
setzung eines bestimmten Quantums Transmitter über den hemmenden vorherrscht. Das
(= chemischer Überträgerstoff). Der Überträger- Verhältnis von erregenden und hemmenden
stoff diffundiert über den synaptischen Spalt in Synapsenpotentialen bestimmt also, ob eine
die postsynaptische Membran (= Membran der Information weitergeleitet (= gebahnt) oder
benachbarten Zelle) und verändert dort die gehemmt wird. Synapsen wirken demnach wie
Durchlässigkeit für positive Ionen. Ventile.
76 3 Gewebe

Fragen zur Wiederholung

1. Erklären Sie die Begriffe


a) Gewebe,
b) Interzellularsubstanz.
2. Nennen Sie Bauarten, Vorkommen und Aufgaben
a) des Epithelgewebes,
b) des Binde- und Stützgewebes,
c) des Muskelgewebes.
3. Nennen Sie Unterschiede zwischen Epithel und Bindegewebe.
4. Welche Eigenschaften besitzt Knorpel?
Nennen Sie die Knorpelarten.
5. Erklären Sie die Festigkeit der Knochen aus ihrer Struktur.
6. Beschreiben Sie den Bau eines Lamellenknochens.
7. Beschreiben Sie die Knochenbildung.
8. Vergleichen Sie die Muskelgewebearten nach Bau, Vorkommen, Aufgaben und Eigen-
schaften.
9. Was sind Myofibrillen?
10. Vergleichen Sie eine Nervenzelle mit anderen Zellen hinsichtlich Bau und Funktion.
11. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) Dendrit,
b) Neurit,
c) Nervenfaser,
d) Axon,
e) Nerv.
12. Was versteht man unter der Neuroglia und welche Aufgaben erfüllt sie?
13. Erklären Sie die Begriffe:
a) Ruhepotential,
b) Aktionspotential,
c) Erregung,
d) Synapse,
e) Transmitter.
14. Erklären Sie den Vorgang der Erregungsbildung.
15. Erklären Sie die Begriffe:
a) Reiz, einschließlich über- und unterschwelliger Reiz,
b) Schwellenpotential,
c) Alles-oder-Nichts-Gesetz.
16. Wie wird die Reizstärke verschlüsselt?
17. Erklären Sie den Vorgang der saltatorischen Erregungsleitung.
18. Erklären Sie die Erregungsübertragung in der Synapse.
Was sind erregende und hemmende Synapsen?
77

4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

Häute sind flächenhafte Gewebsstrukturen, die 4.1.1 Schichten der äußeren Haut
aus einem Deckepithel und einer darunter lie-
genden Bindegewebsschicht bestehen. Die äußere Haut besteht aus:
Besprochen werden in diesem Kapitel • Oberhaut (Epidermis) – mehrschichtiges
– die äußere Haut, die den Organismus gegen die verhorntes Plattenepithel.
Umwelt abgrenzt und im weitesten Sinne • Lederhaut (Corium) – vor allem straffes
Schutzaufgaben erfüllt, Bindegewebe.
– die Schleimhaut als innere Auskleidung vieler Oberhaut und Lederhaut bilden die eigent-
Hohlorgane mit wichtigen Schutz- und Trans- liche Haut, die als Cutis bezeichnet wird.
portaufgaben, • Unterhaut (Subcutis) – Verschiebeschicht
– die seröse Haut, deren Hauptaufgabe darin aus lockerem Bindegewebe zwischen Cutis
besteht, die Verschiebbarkeit der inneren Organe und Muskelfascien bzw. Periost (Knochen-
zu gewährleisten und haut) der Knochen.
– Drüsen, die Sekrete bzw. Inkrete mit vielfäl-
tigen Funktionen im Körper produzieren. Oberhaut (Epidermis)
Die Oberhaut ist ein mehrschichtiges verhorntes
Plattenepithel, welches sich in 2 Hauptschichten
4.1 Äußere Haut gliedert.
1. Keimschicht (Stratum germinativum), beste-
Äußere Haut und Schleimhaut bilden die Grenz- hend aus Basalzellschicht (Stratum basale),
schicht zwischen Organismus und Umwelt. Die Stachelzellschicht (Stratum spinosum), Körner-
äußere Haut ist die Körperbedeckung des zellschicht (Stratum granulosum) und helle
Menschen. Sie ist beim Erwachsenen durch- Schicht (Stratum lucidum).
schnittlich 2 bis 3 mm dick, hat eine Masse von 2. Hornschicht (Stratum corneum).
ca. 4 kg und eine Fläche von 1,5 bis 2 m2.
Die Dicke der Oberhaut schwankt in Abhängig-
Merke keit von der mechanischen Beanspruchung. Je
größer die Beanspruchung, desto dicker wird sie
Die wichtigsten Funktionen der äußeren Haut
(Fußsohle 1 – 2 mm, Hohlhand 1 mm).
sind:
Hautstellen, die sehr stark beansprucht werden,
• Schutz vor physikalischen und chemischen
bilden Schwielen. Besonders dünn ist die
Einwirkungen,
Epidermis an den Augenlidern.
• Vermittlung von Sinneseindrücken,
Die unterschiedliche Dicke ist vor allem durch
• Wärmeregulation.
die Hornschicht bedingt.


P Da die äußere Haut wie kein anderes Organ ❑
P Zu viel Horn kann Krankheitswert bekom-

in ihrer ganzen Ausdehnung der unmittelbaren men (z. B. „Hühnerauge“).


Betrachtung zugänglich ist, hat sie für die
Diagnostik besondere Bedeutung. Nicht zuletzt Die hochprismatischen Epithelzellen der ein-
auch deshalb, weil sich Erkrankungen anderer schichtigen Basalschicht sind als einzige Zellen
Organe in ihr widerspiegeln, z. B. Rötung der der Epidermis mit der Basalmembran verbunden,
Gesichtshaut bei Bluthochdruck (Hypertonie), sie werden also am besten versorgt. Hier finden
Blässe bei Blutarmut (Anämie), Blaufärbung ständig mitotische Zellteilungen zur Bildung
(Zyanose) bei O2-Mangel oder Gelbfärbung neuer Epithelzellen statt. Da ihre Lebensdauer
(Ikterus) bei Lebererkrankungen. nur ca. 50 Tage beträgt, sterben täglich Millionen
ab und genauso viele werden neu gebildet.
78 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

Oberhaut
(Epidermis)

Hornschicht
Cutis Keimschicht
Lederhaut-
papillen

Lederhaut
(Corium)

Fettgewebe
Blutgefäße
Unterhaut
(Subcutis) Faszie
Muskel

Abb. 4.1 Hautschichten.

Durch den Wachstumsdruck werden die älteren


Merke
Basalzellen in Richtung Oberfläche befördert.
Diese Zellen durchlaufen nun der Reihe nach Die Epidermis besteht aus der lebenden
alle Zellschichten der Keimschicht. Während Keimschicht (Stratum germinativum) und der
dieser „Wanderung“ werden nach und nach toten Hornschicht (Stratum corneum). In der
Zytoplasma und alle Zellorganellen abgebaut. Im Basalschicht finden lebenslang mitotische
Stratum granulosum bilden die Zellen Kerato- Zellteilungen zur ständigen Regeneration der
hyalinkörnchen und Tonofibrillen (feine faserige Haut statt. Die fest geschlossene Hornschicht
zugfeste Strukturen), aus denen wahrscheinlich dient als „Schutzpanzer“.
der Hornstoff (Keratin) entsteht. Diese Schicht
und das darauf folgende Stratum lucidum bilden In den Hautschichten der Oberhaut (bei hellhäu-
also die „verhornende Schicht“. tigen Menschen nur in der Basalschicht) befin-
den sich zwischen den Epithelzellen noch
Hornschicht (Stratum corneum) Pigmentzellen (Melanozyten). Die Zellen produ-
Die oberflächlich geschlossene Hornschicht zieren das braunschwarze Hautpigment Melanin
besteht praktisch nur noch aus abgestorbenen (= wichtigster Hautfarbstoff), das die mitoti-
keratinhaltigen Epithelzellen, wobei Zellgrenzen schen Zellteilungen in der Basalzellschicht vor
gar nicht mehr erkennbar sind. Da in der Horn- der schädlichen UV-Strahlung schützt.
schicht die Verbindungen zwischen den Zellen
(sog. Desmosomen) verschwinden, werden die ❑
P Wegen der raschen Regenerationsfähigkeit
verhornten Zellen laufend abgestoßen. An der der Epidermis heilen Wunden, die nur sie be-
Kopfhaut bleiben sie häufig aneinander hängen treffen, schnell vom Rand her ohne Narben-
und bilden Schuppen. bildung ab.
4.1 Äußere Haut 79

Hautfarbe
Die Hautfarbe des Menschen wird Hornhaut-
bestimmt vom Pigmentgehalt, der schuppen
Farbe des Blutes (abhängig vom O2-
Gehalt) und vom Grad der Durch-
blutung. Die Hautpigmentierung ist
nicht an allen Stellen gleich. Besonders Hornschicht
stark pigmentiert ist die Haut der (Stratum corneum)
Geschlechtsorgane, des Afters und der
Warzenvorhöfe.


P Individuen, die wegen eines
Hornbildungs-
schicht
Gendefekts kein Melanin synthetisie- (Stratum
granulosum)
ren können, heißen Albinos; sie sind
blasshäutig, haben eine rötliche Iris
und sind durch Sonnenstrahlung sehr Keimschicht
gefährdet. (Stratum
germinativum)
Lederhaut (Corium, Dermis)
Die Lederhaut ist der bindegewebige Basalmembran
Anteil der Haut und enthält demnach Basalschicht
alle typischen Bestandteile des Binde-
gewebes (✑ S. 63). Zellen werden durch ständige Zellteilung an die Ober-
Dominierend sind die wellenartig fläche verlagert und als Hornschuppen abgestoßen.
angeordneten miteinander verflochte-
nen Kollagenfasern mit eingelagerten Oberhaut (Epidermis). Abb. 4.2
elastischen Fasernetzen. Letztere sollen
erstere vor Überdehnung schützen.
Die Fasern besitzen außerdem eine gute Quell- vergrößert, sodass diese mehr Halt bekommt.
fähigkeit, was das große Wasserbindungsver- Die Papillen bestehen aus zellreichem feinfaseri-
mögen der Lederhaut erklärt. Auch die Grund- gem Bindegewebe. Die Fasern bilden ein dichtes
substanz enthält relativ viel Wasser. Durch diese Geflecht. Eingebettet in das Gewebe ist entweder
Wasserspeicherung entsteht im Gewebe eine eine Kapillarschlinge oder ein Meissner’sches
Spannung, die als Hauttugor bezeichnet wird. Er Tastkörperchen. Die Netzschicht wird aus dicke-
lässt mit zunehmendem Alter nach, weil das ren Fasern gebildet, welche dementsprechend
Wasserbindungsvermögen abnimmt. auch gröbere und zugfeste Geflechte bilden.

Merke Leisten- und Felderhaut


In der Epidermis der Handflächen und Fuß-
Durch die Kombination von kollagenen und sohlen spiegelt sich die Beziehung der in Reihen
elastischen Fasern enthält die äußere Haut oder „Leisten“ angeordneten Lederhautpapillen
große Zugfestigkeit und Elastizität. deutlich wider und bildet die Grundlage für das
Muster der nur hier vorkommenden Leistenhaut.
Die Lederhaut besteht aus 2 Schichten:
– der Papillarschicht (Stratum papillare) und ❑
P Die Leistenmuster sind genetisch festgelegt
– der darunter liegenden Netz- oder Geflecht- (Beispiel: Fingerabdruck in der Kriminalistik).
schicht (Stratum reticulare).
Beide Schichten gehen ohne scharfe Grenze Die Leistenhaut ist nicht behaart und sehr fest an
ineinander über. Die Papillarschicht ist mit der der Hohlhand- bzw. Fußsohlensehnenplatte ver-
Basalmembran des Epithels durch die Binde- ankert, eine wichtige Voraussetzung für sicheren
gewebspapillen (= Lederhautpapillen) verzahnt. Griff und Stand. Sie enthält Schweiß-, aber keine
Dadurch wird die Kontaktfläche zur Oberhaut Talgdrüsen. In der Leistenhaut befinden sich
80 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

besonders viele Hautrezeptoren, so auch die ❑


P Die Unterhaut kann viel Flüssigkeit aufneh-
Merkel-Zellen in der Basalschicht (✑ Tab. 4.1). men und eignet sich daher gut zur Aufnahme
Die übrige Haut zeigt durch feine Furchen von Medikamenten, z. B. bei subkutanen Injek-
getrennte rhombische Felder, daher der Name tionen (Heparin zur Thromboseprophylaxe,
„Felderhaut“. Die Felderhaut ist die behaarte Insulin zur Blutzuckersenkung).
Haut.

Unterhaut (Subcutis) 4.1.2 Gefäßversorgung


Die Subcutis gehört nur funktionell zur Haut. Sie
besteht vor allem aus lockerem Bindegewebe In der Haut liegen drei arterielle und entspre-
und Fettgewebe und befestigt die Cutis mittels chende venöse Gefäßgebiete übereinander:
von der Lederhaut kommender Faserbündel – tiefes Gefäßgebiet unter der Subcutis,
mehr oder weniger verschiebbar an der darunter – Gefäßgebiet an der Grenze von Subcutis und
liegenden Körperfaszie bzw. dem Periost der Cutis,
Knochen. Die Fettzellen bilden das Unterhaut- – Gefäßgebiet unterhalb der Lederhautpapillen,
fettgewebe (Panniculus adiposus), welches als von dem die Kapillarschlingen der Lederhaut-
Fettmantel in stark unterschiedlicher Ausprä- papillen abzweigen.
gung den Körper umgibt. Frei von Fettgewebe ist Von den Kapillarschlingen wird auch die
die Unterhaut der Augenlider, äußerer Gehör- gefäßlose Oberhaut versorgt.
gang und Penis.
Die besonderen Aufgaben der Subcutis sind In der Lederhaut existieren besonders viele arte-
• Energiedepot und Wasserspeicherung, riovenöse Anastomosen. Über sie können die
• Wärmeisolation und Kapillaren im Sinne der Wärmeregulation um-
• mechanischer Schutz. gangen werden.

4.1.3 Haut als


Merkel-Zellen
Sinnesorgan

In der Haut befinden


Oberhaut sich zahlreiche Sin-
(Epidermis) neszellen (auch Ner-
freie
Nervenendungen venendkörperchen
Meissner’sche genannt) und freie
Tastkörperchen Nervenendungen zur
Lederhaut
(Corium) Aufnahme von Rei-
Ruffini- zen. Die Rezeptoren
Körperchen sind in allen Haut-
Vater-Pacini- schichten vertreten
Körperchen
und sind nach ihren
Entdeckern benannt
Unterhaut Nervengeflecht (Merkel, Meissner,
(Subcutis) Ruffini, Vater-Pacini
✑ Abb. 4.3).
Muskulatur
Fascie

Abb. 4.3 Sinneszellen der Haut.


4.1 Äußere Haut 81

Übersicht über die Funktionen der äußeren Haut. Tab. 4.1


Funktion Strukturen

1. Mechanischer Schutz Hornschicht: unterschiedlich dick, wird durch das fetthaltige


Sekret der Talgdrüsen geschmeidig gehalten.
Lederhaut: garantiert Zugfestigkeit und Beweglichkeit.
Unterhautfettgewebe: Druckpolster.
Nägel: schützen die empfindlichen Finger- und Zehenendglieder.


P Die Hornschicht kann sich bei Überbeanspruchung von der
Keimschicht lösen, es bildet sich eine Blase.

2. Temperaturregulation, Hautblutgefäße: bei Erweiterung – verstärkte Wärmeabgabe;


Wärmeschutz bei Verengung – Drosselung der Wärmeabgabe.
Schweißdrüsen: Schweiß verdunstet, wodurch dem Körper
Wärme entzogen wird („Verdunstungskälte“).
Unterhautfettgewebe: ist ein schlechter Wärmeleiter und wirkt
daher wärmeisolierend (magere Menschen frieren leichter).

3. Flüssigkeitsschutz Mehrschichtiges verhorntes Plattenepithel, Talgdrüsen:


Talg bildet wasserabstoßende Fettschicht.


P Größere Wasserverluste sind lebensbedrohlich.

4. Strahlenschutz Melanin: schützt die Zellen vor schädlichen UV-Strahlen.

5. Infektionsschutz Schweißdrüsen: produzieren ein saures Sekret (= Schweiß),


sodass ein Säuremantel auf der Haut entsteht, durch den das
Wachstum der Bakterien gehemmt wird.

6. Speicherfunktion Unterhautfettgewebe: besteht überwiegend aus Fettgewebe


mit eingelagerten Kohlenhydraten, Eiweißen und Mineralstoffen;
Fettgewebe dient auch als Energiereserve.

7. Sinnesfunktionen
• Druckempfindung Merkel-Zellen in den untersten Schichten der Epidermis und
Ruffini-Körperchen der Lederhaut.

• Berührungsempfindung Meissner’sche Tastkörperchen in den Lederhautpapillen;


Nervengeflechte um die Haarwurzeln.

• Vibrationsempfindung Lamellenkörperchen (Vater-Pacini-Körperchen) in der Unterhaut.

• Kälte- und Freie Nervenendungen. Kälterezeptoren unmittelbar unter


Wärmeempfindung der Epidermis, reagieren hauptsächlich im Bereich 17  – 36 C.

Wärmerezeptoren liegen in der Lederhaut und reagieren maxi-


mal im Bereich 40  – 47 C.
• Schmerzempfindung Freie Nervenendungen im Corium, der Subcutis und in den
unverhornten Schichten der Epidermis.
82 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

4.1.4 Altersveränderung der Haut


Haar
Mit zunehmendem Alter treten typische Haut- Pore
veränderungen auf. So nimmt zum Beispiel die
Elastizität der Haut infolge Verringerung der elas- Haartrichter
tischen und Zunahme der kollagenen Fasern ab.
Ebenso nimmt die Wasserbindungsfähigkeit ab; Talgdrüse
durch den sinkenden Wassergehalt lässt der
Hautturgor nach. Die Sekretion der Schweiß- und
Talgdrüsen verringert sich. Dadurch wird die
Haut trockener und neigt zu verstärkter Schup-
penbildung verbunden mit Juckreiz. Schweiß-
Besonders im Gesicht, an Unterarmen und drüse
Handrücken entstehen sog. Altersflecken, weil
hier die Tätigkeit der Melanozyten zunimmt. Die
Oberhaut wird dünner und die Rezeptoren neh-
men ab.

P Länger stehen bleibende abgehobene Haut-
falten lassen Rückschlüsse auf den reduzierten Hautdrüsen. Abb. 4.4
Flüssigkeitsgehalt des Körpers zu. Besonders
im Alter ist deshalb auf ausreichende Flüssig-
keitszufuhr zu achten. – Lippenrot, – Augenlider,
Immobilität (z. B. infolge eines Schlaganfalls) – Warzenvorhof, – Anus,
und schlechte Nährstoff- und Sauerstoffversor- – Peniseichel und – kleine Schamlippen.
gung der Gewebe führen bei älteren Menschen
häufig zu Druckgeschwüren (Dekubitus). ❑
P Der natürliche Fettfilm schützt die Haut.
Dabei handelt es sich um eine Hautentzündung Wird durch zu vieles Waschen mit Seife das
verbunden mit lokalem Gewebsverlust. Fett beseitigt, können wasserlösliche Schad-
stoffe und Bakterien leichter in die Haut ein-
dringen.
Bei zu starker Talgabsonderung kommt es in
4.2 Anhangsorgane der Haut den talgdrüsenreichen Hautbezirken (Gesicht,
Brust, Rücken, Nacken) durch verstärkte Ver-
Bestimmte Teile der Haut stellen Einzelorgane hornung zur Verstopfung der Talgdrüsenaus-
dar. Dazu gehören die Hautdrüsen (Talg-, führungsgänge (sog. Mitesser – Komedonen).
Schweiß-, Duft- und Brustdrüsen), die Haare
sowie die Nägel. Darüber hinaus gibt es im Schweißdrüsen
äußeren Gehörgang Drüsen, die Ohrenschmalz Schweißdrüsen sind Knäueldrüsen, die den
produzieren. Zusammenfassend werden diese Schweiß produzieren. Es gibt sie nahezu in der
Teile als Anhangsorgane bezeichnet. gesamten Haut. Besonders zahlreich sind sie
– in der Achselhöhle, – am Handteller,
– an der Stirn, – an der Fußsohle und
4.2.1 Hautdrüsen – am Rücken.

Talgdrüsen (= Haarbalgdrüsen) Die Schweißdrüsen münden mit einer Pore auf


Talgdrüsen sind einfache Drüsen, welche den der Haut. Der Schweiß dient der Wärmeregu-
Hauttalg produzieren. Ihr Ausführungsgang endet lation und in geringem Maße der Ausscheidung
vorrangig am Haartrichter. Der Talg fettet Haut von Stoffwechselendprodukten. Außerdem wirkt
und Haare so ein, dass sie geschmeidig und was- der Schweiß aufgrund seines Säuregehaltes (pH
serabweisend werden. Von Haaren unabhängige = 4,5) antibakteriell.
Talgdrüsen kommen an folgenden Stellen vor:
4.2 Anhangsorgane der Haut 83

Duftdrüsen 15 Einzeldrüsen, die mit selbständigen Ausführ-


Dieser Drüsentyp kommt beim Menschen nur in gängen (= Milchgänge) an der Brustwarze mün-
speziellen Hautarealen vor: Achselhaut, Genital- den. Äußere Form und Größe der Brustdrüsen
und Afterbereich, Brustwarzen und Warzen- sind sehr variabel. Sie werden in erster Linie
vorhof. Die Duftdrüsen münden in den Haar- durch eingelagertes Bindegewebe (größtenteils
trichter. Ihr Sekret aber reagiert alkalisch und Fettgewebe) bestimmt. Der Busen ist im anato-
enthält individuelle Duftstoffe. mischen Sprachgebrauch die Vertiefung zwi-
Das Sekret der Duft- und Schweißdrüsen kann schen den beiden Brüsten.
durch Bakterien leicht zersetzt werden, wodurch Die Brustwarze wird vom deutlich stärker pig-
ein unangenehmer Geruch entsteht. Außerdem mentierten Warzenvorhof umgeben.
zerstört es den Säureschutzmantel, sodass die
Duftdrüsen leicht von Bakterien infiziert werden ❑
P Die Berührung der Brustwarze löst den Auf-
können („Drüsenabszess“). richterreflex aus. Muskelkontraktionen führen
zu ihrer Verlängerung, wodurch das Saugen
Brustdrüsen (= Milchdrüsen) erleichtert wird.
Die 2 Brustdrüsen sind die größten Hautdrüsen. Der Brustkrebs ist der häufigste Krebs der
Sie produzieren die Muttermilch, die als einziges Frau. Da bei Früherkennung gute Heilungs-
Drüsensekret nicht dem eigenen Körper, sondern chancen bestehen, sollte eine regelmäßige
der Ernährung des Säuglings dient. Selbstuntersuchung vorgenommen werden.
Die Brustdrüse (= Mamma) entwickelt sich in
der Pubertät beim Mädchen. Sie ist kein Ge- Ohrenschmalzdrüsen
schlechtsorgan, sondern ein sekundäres weibli- In der Haut des äußeren Gehörganges befinden
ches Geschlechtsmerkmal. Beim Mann bleibt sich neben Talg- und Schweißdrüsen sog. Ohren-
die Brustdrüse normalerweise in der kindlichen schmalzdrüsen. Letztere produzieren ein hellgel-
Form bestehen. bes Sekret, das gemeinsam mit dem Talg und
Schweiß sowie abgeschilferten Epithelzellen

P Durch Gabe weiblicher Geschlechtshormone
und Staub das Ohrenschmalz (Cerumen) bildet.
zur Behandlung des Prostatakrebses kann sich
auch beim Mann die Brustdrüse entwickeln. ❑
P Durch Quellung kann das Ohrenschmalz zu
einem Ohrschmalzpfropf werden und den
Der Drüsenkörper liegt in der Unterhaut norma- Gehörgang völlig verlegen.
lerweise gut verschiebbar auf der Faszie des
großen Brustmuskels. Er besteht aus 12 bis Lymphabflusswege
Es gibt zwei Hauptabflussrichtungen:
– außerhalb des Brustkorbes zum Achselbe-
reich und
– in das Brustkorbinnere.
großer
Brustmuskel
(M. pectoralis major)
Milchgänge 4.2.2 Haare (Pili)
Brustwarzen- Das Haarkleid des Menschen ist im Vergleich zu
vorhof dem anderer Säugetiere stark reduziert. Haare
(Areola mammae)
Brustwarze dienen dem Wärmeschutz, der Reibungsminde-
(Mamilla, rung (z. B. Achselhöhle) und der Berührungs-
Papilla mammaria) empfindung. Man unterscheidet beim Menschen
Milchsäckchen zwei Haararten: Woll- und Terminalhaare.
Einzeldrüse
Fettgewebe Wollhaare (= Lanugohaare)
Wollhaare sind zarte, kurze und nicht pigmen-
tierte Haare. Sie kommen fast am gesamten
Abb. 4.5 Brustdrüse (Mamma). Körper des Neugeborenen und auf großen Haut-
gebieten des Erwachsenen vor.
84 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

Haarschaft

Haarrinde
Haarmark
(bei dünnem Haar
fehlend)
Haartrichter
Oberhäutchen

(Bulbus pili)
(Cuticula)
Talgdrüse innere
epitheliale
Wurzelscheide
Haaraufrichter-

Haarzwiebel
äußere
muskel epitheliale
(Musculus arrector pili)
Wurzelscheide
Haarzwiebel Glashaut
(Bulbus pili) bindegewebige
Wurzelscheide
(=^ Lederhaut)
Haarpapille Haar-
mit Blutgefäßen papille
mit Blut-
Haarwurzel gefäßen
Wachstumszone
Abb. 4.6 Haar.

Terminalhaare nennt man Haarfollikel oder Haarbalg.


Das sind die längeren, kräftigeren und pigmen-
tierten Haare wie Kopf-, Bart-, Achsel- und ❑
P Aus geraden Follikeln wachsen glatte und aus
Schamhaare. Auch Augenbrauen, Augenwim- gekrümmten gekräuselte Haare.
pern und Haare des äußeren Gehörganges
gehören dazu. Die Terminalbehaarung erfolgt Die Haarwurzel wird von einer epithelialen und
zum Teil erst in der Pubertät unter dem Einfluss bindegewebigen Wurzelscheide umgeben. Letz-
der Geschlechtshormone. tere entspricht der Lederhaut und bildet den
Haarbalg. In die Wurzelscheide mündet unter-
Bau (✑ Abb. 4.6) halb des Haartrichters der Ausführgang einer
Haare sind schräg aus der Haut ragende bieg- Talgdrüse. Darunter setzt der Haaraufrichter-
same und zugfeste Hornfäden aus Keratin muskel (M. arrector pili) an, der das Aufrichten
(Hornstoff). Sie bestehen aus 2 Hauptteilen, der des Haares bewirkt und dabei die so genannte
Haarwurzel (steckt in der Haut) und dem Haar- Gänsehaut verursacht.
schaft (ragt aus der Haut heraus).
Haarschaft
Haarwurzel Der Haarschaft ragt aus der Haut heraus. Seine
Sie beginnt meist in der Unterhaut mit einer Teile bestehen aus verhornten Epithelzellen.
Anschwellung, der Haarzwiebel (Bulbus). Von
basal liegenden Epithelzellen der Haarzwiebel Haarwachstum
(= Wachstumszone) geht das Haarwachstum Haar wächst von der Haarwurzel aus pro Monat
aus. Der in der Haarzwiebel vorhandene Raum ca. 1 cm. Die Lebensdauer der Terminalhaare
heißt Haarpapille. In ihr befinden sich die beträgt ca. 3 – 5 Jahre, die der Wimpern dagegen
Blutgefäße für die Versorgung der Wachs- nur 3 – 6 Monate. Das Ergrauen der Haare beruht
tumszone. auf Einlagerung von Luftbläschen, das Weiß-
Die bindegewebige Hülle um die Haarzwiebel werden auf dem Erlöschen der Pigmentbildung.
4.3 Schleimhaut 85

4.2.3 Nägel ❑
P Sauerstoffmangel oder Kälte führen zur
Blaufärbung der Nägel, Durchblutungsstörun-
Die Nägel bedecken als Hornplatten die End- gen zur Beeinträchtigung des Nagelwachstums
glieder der Finger und Zehen und dienen als (erkennbar an Querlinien). Häufige Erkrankun-
Schutz und als Widerlager für die Tastballen und gen sind Entzündungen von Nagelwall und -bett
gewähren dadurch eine Verbesserung der Tast- sowie Pilzerkrankungen (Nagelmykosen).
empfindung.

Bau
Der sichtbare Teil des Nagels ist die aus ver- 4.3 Schleimhaut (Tunica mucosa)
hornten Epithelzellen bestehende Nagelplatte.
Sie ist durchscheinend und sieht nur deshalb rosa Schleimhäute sind feucht und schleimreich. Der
aus, weil sie auf dem gut durchbluteten Nagel- Schleim wird in Schleimdrüsen (Becherzellen)
bett liegt. Die Nagelplatte wird von einer Haut- produziert. Wir finden die Schleimhäute als
falte, dem Nagelwall, umgeben. Proximal be- innere Auskleidung solcher Hohlorgane, deren
deckt der Nagelwall die Nagelwurzel, die in die Lichtungen mit der Umwelt in Verbindung ste-
ca. 5 mm tiefe Nageltasche eingeschoben ist. hen, dies sind:
Ein schmaler Epithelsaum (Eponychium) der – Verdauungskanal, – Atemwege,
Nageltasche geht auf die Nagelplatte über. – Harnwege, – Geschlechtsorgane,
Unmittelbar unter der Nagelplatte befindet sich – Augenlider-Bindehaut, – Mittelohr.
zuerst ein Epithel (Hyponochium). Danach folgt
das bindegewebige Nagelbett, das mit der Kno- Jede Schleimhaut besteht aus mindestens zwei
chenhaut des Fingerendgliedes verwachsen ist. Schichten:
Das Hyponochium wird unter der Nagelwurzel 1. Epithelium,
(in der Nageltasche) zur Nagelmatrix. Von ihr 2. Schleimhautbindegewebe.
geht das Nagelwachstum aus. Es beträgt pro Tag
0,1 bis 0,3 mm. Die Nagelmatrix ragt mit ihrem Aufgaben:
konvexen Rand immer etwas aus der Nagel- Die Schleimhäute sind in ihrem Bau der speziel-
tasche heraus. Dieser halbmondförmige hellere len Funktion angepasst. Ihre Aufgaben sind in
Teil heißt Lunula („Möndchen“). der Tabelle 4.2 genannt.
Die verhornten Zellen der Nagelplatte sowie
jene des Hyponochiums entsprechen der
Epidermis, das aus Bindegewebe bestehende Funktion der Schleimhaut. Tab. 4.2
Nagelbett dem Corium. Funktion Struktur
Schutzaufgabe Unverhorntes mehrschichti-
• hohe ges Plattenepithel, z. B.
mechanische Mundhöhle, Speiseröhre,
Beanspruchung Harnröhre, Scheide.
Nagelplatte • Abtransport von Flimmerepithel,
Nagelbett staubigem z. B. Atemwege.
Schleim
Nagelfalz • Schutz der Urothel, z. B. Harnblase.
Harnwege
Lunula Stoffaufnahme Falten, Zotten und Mikrovilli
(= Teil der (Resorption) zur Vergrößerung der Ober-
Nagelmatrix)
fläche, z. B. Dünndarm.
Nagelwall Stoffabgabe Abgabe von Schleim zum
(Sekretion) Schutz der Schleimhaut,
z. B. Magen.
Stofftransport Blut- und Lymphgefäße des
Schleimhautbindegewebes.
Abb. 4.7 Fingernagel. Abwehr Weiße Blutzellen des
Schleimhautbindegewebes.
86 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)


P Schleimhautentzündungen sind häufig vor- Eine seröse Höhle besteht aus zwei Blättern:
kommende akute und chronische Erkrankungen • dem visceralen Blatt, das dem jeweiligen
der Atemwege (Bronchitis), des Verdauungs- Organ anliegt und
traktes (Gastritis) und der ableitenden Harn- • dem parietalen Blatt, das sich mit der Um-
wege (Cystitis, Pyelonephritis). gebung verbindet.
Die Endung „-itis“ weist immer auf eine Ent-
zündung hin. Zwischen den beiden Blättern liegt die eigentli-
che „Höhle“, die in Wirklichkeit nur einem
kapillaren Spaltraum (= Serosaspalt), in dem
sich etwas Flüssigkeit befindet, entspricht. Zu
4.4 Seröse Haut (Tunica serosa) den serösen Höhlen gehören das Brustfell
und seröse Höhlen (Pleura ✑ Abb. 11.12, S. 223), der Herzbeutel
(Perikard ✑ S. 176) und das Bauchfell
Seröse Häute sind spiegelglatt und feucht. Sie (Peritoneum ✑ Abb. 7.3, S. 145).
bestehen (wie die Schleimhäute) ebenfalls aus
mindestens zwei Schichten. ❑
P Eiter in solchen Höhlen nennt man Empyem
1. Serosaepithel: Es ist im Unterschied zur (z. B. Pleuraempyem).
Schleimhaut immer ein einschichtiges, drüsen- Eine Vermehrung der Flüssigkeit im Serosaspalt
loses Plattenepithel, welches als Mesothel führt zur Bildung eines Ergusses (z. B. Pleura-
bezeichnet wird. erguss), welcher durch Punktion beseitigt wer-
2. Serosabindegewebe. den kann.
Aufgabe:
Die Serosa ermöglicht einerseits eine äußerst
reibungsarme Verschiebbarkeit der inneren 4.5 Drüsen (Überblick)
Organe. Das wird durch einen Flüssigkeitsfilm
erreicht, der durch Transsudation (= Übertritt Drüsen sind Organe, die aus spezialisierten
von Flüssigkeit aus dem Blut) und Resorption Epithelzellen bestehen. Die spezielle Funktion
(= Übertritt von Flüssigkeit in das Blut) konstant ist die Bildung von Wirkstoffen (= Sekrete) mit
gehalten wird. Andererseits verbindet sie die einer bestimmten chemischen Zusammenset-
Organe miteinander. zung und physiologischen Bedeutung.
Die Realisierung dieser Aufgabe wird ermög- Die Abgabe der Sekrete heißt Sekretion. Sie
licht, indem die Serosa die einzelnen Organe erfolgt entweder nach außen (Körperoberfläche)
doppelwandig umgibt, so dass eine sog. seröse oder in das Blut. Sekrete sind z. B. Schleim,
Höhle entsteht. Talg, Schweiß, Gallenflüssigkeit, Hormone.

Ausführungsgang

mehrzellige Sekret einzellige


Drüse Drüse
(Becherzelle)
im
mehrreihigen
Flimmerepithel

Abb. 4.8 Exokrine Drüsen.


4.5 Drüsen (Überblick) 87

mit Follikelbildung ohne Follikelbildung

Drüsenzellen

Follikel

Drüsen-
Hormon zellen
Blutkapillaren

Hormon
Blutkapillaren Blutkapillaren Hormon

Endokrine Drüsen. Abb. 4.9

Klassifizierung der Drüsen ebenfalls ins Blut zu gelangen. Mit dem Blut-
1. Nach ihrer Lage zum Oberflächenepithel: strom erreichen sie den Wirkungsort.
a) im Oberflächenepithel
• einzellige schleimproduzierende Becher- Merke
zellen der Darmschleimhaut,
Die endokrinen Drüsen (= Hormondrüsen)
• mehrzellige schleimproduzierende Drüsen besitzen im Unterschied zu den exokrinen
im Schleimhautepithel der Atemwege; Drüsen keine Ausführungsgänge.
b) unter dem Oberflächenepithel im Bindegewebe
• es handelt sich immer um mehrzellige
Drüsen, die von einer bindegewebigen Zirbeldrüse
Kapsel begrenzt werden. (Epiphyse)
2. Nach der Form (✑ Abb. 3.4, S. 62): Hirnanhangdrüse
a) schlauchförmige (tubulöse) Drüsen (Hypophyse)

• Darmkrypten; Magendrüsen; Schweiß- Schilddrüse


drüsen; Lieberkühn-Drüsen, (Gl. thyroidea)
b) beerenförmige (acinöse) Drüsen Nebenschilddrüsen
• Talg-, Bauchspeichel-, Ohrspeicheldrüse, oder
c) bläschenförmige (alveoläre) Drüsen Epithelkörperchen
(Gl. parathyroidea)
• Duftdrüsen.
Nach dem Sekretionsziel unterscheidet man:
– exokrine Drüsen (= Drüsen mit äußerer
Sekretion meist mit Ausführungsgang) und Nebenniere
(Gl. suprarenalis)
– endokrine Drüsen (= Drüsen mit innerer
Eierstöcke
Sekretion ohne Ausführungsgang). Keimdrüsen
(Gonaden)
Hoden
In den mehrzelligen exokrinen Drüsen befindet
sich ein Gangsystem, welches das Sekret (z. B.
Mundspeichel, Bauchspeichel, Schweiß, Talg)
aufnimmt und an die Oberfläche leitet. Die Langerhans-
Sekrete der endokrinen Drüsen werden Hor- Inseln der
mone (= Inkrete) genannt (z. B. Adrenalin, Bauchspeichel-
Thyroxin, Insulin). Die in den Zellen gebildeten drüse
Hormone gelangen entweder direkt ins Blut oder Lage der endokrinen Drüsen (Schema). Abb. 4.10
werden in sog. Follikel sezerniert, um von diesen
88 4 Hautsystem (Häute und Drüsen)

Fragen zur Wiederholung

1. Vergleichen Sie den Aufbau von äußerer Haut, Schleimhaut und seröser Haut.
2. Welche Beziehung besteht zwischen seröser Haut und seröser Höhle?
3. Stellen Sie in einer Übersicht die hauptsächlichen Funktionen der verschiedenen Häute
zusammen.
4. Stimmt es, dass die Haut atmen muss? Begründen Sie Ihre Antwort.
5. Wo kommen
a) Schleimhäute und
b) seröse Häute (seröse Höhlen) vor?
6. Definieren Sie: Transsudation und Resorption.
7. Geben Sie einen Überblick über die Anhangsgebilde der Haut.
8. Welche Aufgaben erfüllen
a) der Talg und
b) der Schweiß?
9. Beschreiben Sie den Aufbau der Brustdrüse. Erläutern Sie die Bedeutung der Selbstunter-
suchung durch Abtasten.
10. Nennen und begründen Sie einige Maßnahmen, die zum Erhalt der Funktionstüchtigkeit
der äußeren Haut beitragen.
11. Welche Rolle spielt die äußere Haut im Rahmen der Krankenbeobachtung und Diagnostik?
12. Erklären Sie die Begriffe:
a) Drüse,
b) Sekretion,
c) Sekret,
d) Hormon.
13. Unterscheiden Sie exokrine und endokrine Drüsen.
14. Nennen Sie die exokrinen und endokrinen Drüsen und die von ihnen gebildeten Sekrete.
Beschreiben Sie kurz die Lage dieser Drüsen.
89

5 Stütz- und Bewegungssystem

Das Bewegungssystem ist die Gesamtheit der an • platte Knochen (z. B. Schulterblatt, Scheitel-
der Fortbewegung des Menschen beteiligten Orga- bein, Darmbeinschaufel) sind flache, kompakte
ne. Man unterscheidet den passiven Bewegungs- Knochen mit einer festen Außenschicht und
apparat (= Knochen, Gelenke und Bänder) und einer inneren aufgelockerten Knochenschicht;
den aktiven Bewegungsapparat (= Muskulatur). • unregelmäßige Knochen – auch kurze Knochen
genannt – (z. B. Nasenbein, Jochbein, Unter-
kiefer, Oberkiefer, Wirbel, Handwurzelknochen,
5.1 Allgemeine Knochenlehre Fußwurzelknochen) sind größtenteils würfel-
oder quaderförmig.
Die allgemeine Knochenlehre befasst sich im
Wesentlichen mit der Knochenstruktur und den
Knochenverbindungen. 5.1.3 Bau eines Knochens

Knochen bestehen aus der Knochenrinde (= Sub-


5.1.1 Aufgaben der Knochen stantia corticalis, kurz: Kortikalis – äußere kom-
pakte Knochenschicht) und den Knochenbälk-
Knochen sind Organe, bei denen das Knochen-
chen (= Substantia spongiosa, kurz: Spongiosa –
gewebe den Hauptanteil darstellt. Die Knochen
aufgelockerte Knochenschicht im Inneren).
erfüllen die folgenden Aufgaben:
1. Stützfunktion: Alle Knochen bilden das Skelett
Den Schaft eines Röhrenknochens (✑ Abb. 5.1,
(Stützwerk), das maßgeblich die Körpergestalt
S. 90) nennt man Diaphyse, das proximale und
bestimmt.
distale Gelenkende Epiphyse. Der dazwischen
2. Schutzfunktion: Das Skelett schützt lebens-
liegende Abschnitt ist die Wachstumszone
wichtige Organe, z. B. Gehirn in der Schädel-
(Metaphyse oder Epiphysenfuge).
höhle, Rückenmark im Wirbelkanal, Herz und
Lunge im Brustkorb, Harn- und Geschlechts-
Bei den Röhrenknochen befindet sich Substantia
organe im kleinen Becken.
spongiosa nur in den Epiphysen, während sie bei
3. Bewegungsfunktion: Knochenverbindungen
allen anderen Knochen überall zu finden ist.
bewirken zusammen mit den Muskeln Bewe-
gungen.
Knochenhaut (= Periost)
4. Bildung der Blutzellen: Das rote Knochenmark
Jeder Knochen wird, mit Ausnahme der Gelenk-
ist die wichtigste Bildungsstätte der Blutzellen.
flächen, von einer Knochenhaut umgeben. Sie ist
Der Knochen ist kein totes Gebilde, er hat einen
durch zugfeste Fasern im Knochen verankert.
intensiven Stoffwechsel.
Die Knochenhaut ist gefäß- und nervenreich.
Von ihr aus dringen Blutgefäße und Nerven in
das Knocheninnere und versorgen den Knochen
5.1.2 Knochentypen (✑ Abb. 3.7, S. 66).

Der Mensch besteht aus einer Vielzahl unter- Knochenmark


schiedlicher Knochen. Man teilt sie entspre- Man unterscheidet
chend ihrer Form und Funktion ein. • das rote Knochenmark im Bereich der Sub-
• Röhrenknochen (z. B. Oberarmknochen, Fin- stantia spongiosa, es ist das Gewebe der Blut-
gerknochen, Oberschenkelknochen) sind läng- zellbildung, und
liche Knochen mit einem röhrenförmigen • das gelbe Knochenmark (= Fettmark) in den
Schaft, außen einer dichten Knochenschicht Markhöhlen der Röhrenknochen bei Erwach-
(Kompakta) und innen einer aufgelockerten senen.
Struktur mit Knochenmark;
90 5 Stütz- und Bewegungssystem


P Das Fettmark kann unter
schwammartiges besonderen Umständen (z. B.
Gerüstwerk feiner bei großen Blutverlusten oder
Knochenbälkchen proximales Leukämien) in rotes Knochen-
mit rotem Gelenkende mark umgewandelt werden.
Knochenmark (proximale
(Substantia spongiosa) Epiphyse)

5.1.4 Knochenwachstum
Muskel-
ansatzhöcker
(Apophyse) Beim Wachstum der Röhren-
knochen unterscheidet man Län-
gen- und Dickenwachstum.
Das Längenwachstum erfolgt
kompakte unter dem Einfluss verschiede-
Knochenrinde ner Hormone von der Epiphy-
(Substantia compacta) senfuge aus, die bis zum Wachs-
nur im Diaphysen-
bereich der tumsende aus Knorpelgewebe
Röhrenknochen besteht. Nach beiden Seiten wird
Knorpelgewebe abgebaut und
durch Knochengewebe ersetzt.
Knochenhaut Gleichzeitig wird das Knorpel-
(Periost)
gewebe der Epiphysenfuge stän-
dig nachgebildet. Die Verknöche-
rung der Wachstumszone be-
Schaft ginnt zwischen dem 15. und
(Diaphyse) 17. Lebensjahr und endet bei der
Frau mit dem 18. und beim
Mann mit dem 20. Lebensjahr.
Zu diesem Zeitpunkt ist das
Längenwachstum abgeschlossen.


P Verletzungen (z. B. Fraktur
durch die Epiphysenfuge) und
Markhöhle Knochenmarkserkrankungen
mit gelbem können zu einem vorzeitigen
Fettmark Schluss der Epiphysenfugen
führen, was z. B. ungleiche
Beinlängen zur Folge haben
kann.
Durch Hormonwirkungen (z. B.
Keimdrüsenhormone) kann die
distales Verknöcherung der Epiphysen-
Gelenkende
Knochenrinde (distale fuge beschleunigt oder verzö-
(Substantia corticalis) Epiphyse) gert werden.
Folgen sind dann Zwerg- bzw.
Wachstumszone Riesenwuchs.
(Metaphyse oder
Epiphysenfuge) Das Dickenwachstum geht von
der Knochenhaut aus, die zeit-
Abb. 5.1 Bau eines Röhrenknochens (Oberschenkelknochen). lebens funktionstüchtig bleibt.
5.1 Allgemeine Knochenlehre 91


P Bruchheilung erfolgt durch die so genannte Dementsprechend gibt es verschiedene Arten
Kallusbildung, die größtenteils vom Periost von Knochenverbindungen (✑ Tab. 5.1):
ausgeht (✑ S. 68). 1. Bandgelenke (Articulationes fibrosae).
Knochen werden durch Bindegewebe mitein-
ander verbunden:
Knochenumbau
a) Bandhaft (Syndesmosis)
Einmal gebildete Knochen verändern sich im
Zwischenknochenmembran zwischen Elle
Laufe des Lebens ständig. So werden, wie auf
und Speiche bzw. Schien- und Wadenbein.
Seite 65 bereits beschrieben, im Kindesalter die
b) Naht (Sutura)
primitiveren unregelmäßig strukturierten Geflecht-
Verbindung zwischen den Schädelknochen.
knochen in die kalziumreicheren und stabileren
c) Einzapfung (Gomphosis)
Lamellenknochen umgebaut. Weiterhin findet
Federnde Befestigung der Zähne im Zahn-
eine funktionelle Anpassung statt, die es dem
fach.
Knochen ermöglicht, sich auf veränderte Be-
lastungen einzustellen. Dies erfolgt z. B. durch
2. Knorpelgelenke (Articulationes cartilagineae)
Zu- oder Abnahme der Knochensubstanz bzw.
Knochen werden durch Knorpelgewebe mit-
Änderung der Knochenstruktur durch Umbau
einander verbunden.
der Substantia spongiosa als Anpassung an:
Beispiele:
– Veränderungen der Körpermasse und/oder
Schambeinfuge, Bandscheiben und Rippen-
der körperlichen Aktivität,
knorpel.
– einseitige oder asymmetrische Belastungen
Band- und Knorpelgelenke haben nur sehr
z. B. bei Lähmungen oder einseitiger Arbeits-
geringe Bewegungsausmaße.
belastung etc.

P Ist der Mineralstoffgehalt der Knochen ver- 3. Synoviale Gelenke (Articulationes synoviales)
mindert, entsteht eine Osteomalazie (Knochen- Wenn man vom Gelenk spricht, ist praktisch
erweichung). Wird im Alter vermehrt Knochen- immer das synoviale Gelenk gemeint.
substanz abgebaut, spricht man von Osteopo-
rose. Durch die „Entkalkung“ werden die Synoviale Gelenke sind gekennzeichnet durch:
Knochen brüchiger. Es kann schon bei geringen a) mindestens 2 Gelenkkörper mit von Gelenk-
Belastungen zu Frakturen, besonders Schenkel- knorpel überzogenen Gelenkflächen;
halsfrakturen, kommen. Frauen sind durch die b) einen Gelenkspalt (gewebefreier Raum
verminderte Östrogenbildung (nach der Meno- zwischen den Gelenkflächen);
pause) häufiger betroffen. c) die Gelenkschmiere (Synovia) im Gelenk-
spalt – sie wird von der inneren Schicht der
Gelenkkapsel produziert, hat Ernährungs-
funktion und dient gemeinsam mit dem
5.1.5 Knochenverbindungen
Gelenkknorpel der Reibungsminderung;
d) die Gelenkkapsel zur Abgrenzung des Ge-
Der Grad der Beweglichkeit von zwei oder mehr
lenkraumes, bestehend aus der Außen-
Knochen gegeneinander muss funktionsbedingt
schicht (Membrana fibrosa) aus straffem
sehr unterschiedlich sein.

Knochenverbindungen. Tab. 5.1

Knochenverbindungen

Bandgelenke Knorpelgelenke synoviale Gelenke

• Zwischen den Knochenteilen befindet sich ein Gewebe • zwischen den


als Verbindungsmaterial. Knochenteilen
• Band- und Knorpelgelenke werden auch als Haften befindet sich ein
bzw. unechte Gelenke (Fugen) bezeichnet. Gelenkspalt.
92 5 Stütz- und Bewegungssystem

e) die Gelenkbänder aus straffem Bindege-


Kniescheibe webe, die dem Zusammenhalt des Gelenkes
(Patella)
dienen.
Meniscus
Oberschenkel- Merke
knochen
(Femur) Das synoviale Gelenk wird zusammenge-
Gelenkknorpel halten durch Gelenkkapsel, Muskeln, Kör-
(Cartilago articularis) pergewicht, Bänder und Adhäsion im
Gelenkspalt.
Gelenkkapsel
(Capsula articularis)
Gelenkknorpel Darüber hinaus können bei bestimmten synovia-
(Cartilago articularis) len Gelenken Besonderheiten auftreten, die die
Kniescheiben- Kongruenzverhältnisse der Gelenkkörper ver-
band bessern bzw. die Bewegungsmöglichkeiten be-
(Lig. patellae)
einflussen. Dies sind:
Schleimbeutel 1. Gelenkzwischenscheibe (= Discus, Pl: Disci)
(Bursa synovialis) aus Faserknorpel zur Verbesserung der Kon-
Schienbein gruenz und Vergrößerung der Kontaktfläche;
(Tibia)
Beispiel: proximales Handgelenk.
2. Halbmondförmiger Faserknorpel (= Meniscus,
Abb. 5.2 Synoviales Gelenk (Kniegelenk).
Pl: Menisci). Der Meniscus hat im Prinzip
die gleichen Aufgaben wie der Discus;
Beispiel: Kniegelenk.
Bindegewebe, die den Gelenkzusammenhalt 3. Gelenklippe (= Labium articulare) zur Ver-
sichert, und der Innenschicht (Membrana größerung der Gelenkpfanne;
synovialis), bestehend aus lockerem Binde- Beispiel: Hüftgelenk.
gewebe sowie Fettgewebe, die zahlreiche 4. Schleimbeutel (= Bursa synovialis) als Aus-
Nerven, Blut- und Lymphgefäße enthält stülpung der Gelenkkapsel und damit Reser-
und die Synovia sezerniert und resorbiert; veraum für die Gelenkschmiere.

rechtes proximales Handgelenk rechtes Kniegelenk


(Art. radiocarpalis) von palmar (Art. genus) von dorsal

Handwurzelknochen
Außenband
(Lig. collaterale fibulare)

Meniscus lateralis

Gelenkknorpel
Innenband
(Lig.collaterale tibiale)
Menisken
Discus Querband
Radius (Lig. transversum
genus)
Ulna Meniscus
Kreuzbänder lateralis
(angeschnitten)
Meniscus
medialis

Abb. 5.3 Disci und Menisci.


5.1 Allgemeine Knochenlehre 93

Merke ❑
P Bei Störungen oder Schwächung einer dieser

Disci trennen den Gelenkraum vollständig; Komponenten kann eine Gelenkführung durch
Menisci nur teilweise. eine andere teilweise kompensiert werden.
Zum Beispiel wird trotz einer Kreuzbandruptur
die Funktion des Kniegelenkes aufgrund einer
Die Bewegungsausmaße und Stabilität der Gelen- gut ausgebildeten Oberschenkelmuskulatur
ke werden durch drei Komponenten beeinflusst: kaum beeinträchtigt.
• Knochenführung (beim Hüftgelenk z. B. bes-
ser ausgeprägt als beim Schultergelenk);
Einteilung der synovialen Gelenke
• Muskelführung (besonders ausgeprägt beim Nach der Form der Gelenkflächen und den sich
Schultergelenk, z. B. durch den Deltamuskel, daraus ergebenden Bewegungsmöglichkeiten sind
M. deltoideus); verschiedene Gelenktypen zu unterscheiden
• Bänderführung (besonders ausgeprägt beim (✑ Abb. 5.4 bis 5.6):
Kniegelenk). • Scharniergelenk (einachsig),
• Radgelenk (einachsig),
• Eigelenk (zweiachsig),
• Sattelgelenk (zweiachsig),
• Kugelgelenk (dreiachsig) und
• straffes Gelenk (Amphiarthrose).

Oberarm-Ellen-Gelenk Fingergelenke
(Art. humeroulnaris)

Fingerendgelenk
(Art. interphalangealis
distalis)
Oberarmrolle Fingermittelgelenk
(Trochlea humeri) (Art. interphalangealis
proximalis)
Ellenbogen Fingergrundgelenk
(Olecranon)
(Art. metacarpo-
phalangealis)

Scharniergelenk (einachsig). Beispiel: Ellenbogengelenk, Fingermittel- und endgelenke. Abb. 5.4

Gelenk zwischen dem 1. und 2. Halswirbel


Querfortsatz
Atlasquerband
(Lig. transversum atlantis)

Atlas

Rippe
Axis
Wirbel-Rippen-
Gelenke
Wirbelkörper

Radgelenk (einachsig). Beispiel: Wirbel-Rippen-Gelenk; Gelenk zwischen Altas und Dreher. Abb. 5.5
94 5 Stütz- und Bewegungssystem


P Häufige Gelenkverletzungen sind
• Prellung (= Kontusion), • Bänderriss (= Ligamentruptur) und
• Zerrung (= Distorsion), • Verrenkung (= Luxation).

Handwurzelknochen Trapezbein
(Os trapezium)

proximales
Handgelenk
(Art. radiocarpalis)

Elle
(Ulna)

Speiche
(Radius)

distales Handgelenk
(Art. metacarpalis)
Daumensattelgelenk
(Art. carpometacarpalis pollicis)
Mittelhandknochen
Handwurzel- des Daumens
Mittelhandgelenke II + III (Os metacarpale I)
(Carpometacarpalgelenke II + III)

Eigelenk (zweiachsig). Beispiel: rechtes proximales Handgelenk von palmar.


Straffes Gelenk (Amphiarthrose). Beispiel: Handwurzel-Mittelhandgelenk II und III.
Abb. 5.6 Sattelgelenk (zweiachsig). Beispiel: Daumensattelgelenk.

Schultergelenk Hüftgelenk
(Art. humeri) (Art. coxae)

Schultergelenkpfanne
(Cavitas glenoidalis)
Oberarmkopf
(Caput humeri)

Hüftgelenkpfanne
(Acetabulum)
Oberschenkelkopf
(Caput femoris)

Abb. 5.7 Kugelgelenk (dreiachsig). Beispiel: Schulter- und Hüftgelenk.


5.2 Allgemeine Muskellehre 95

5.2 Allgemeine Muskellehre


5.2.1 Bau und Hilfseinrichtungen des Muskelfasern
Skelettmuskels
Muskelfaser-
Muskeln sind Organe, die hauptsächlich aus bündel
Muskelgewebe bestehen (✑ S. 68). Daneben fin- Faszie
den wir straffes und lockeres Bindegewebe
sowie Blutgefäße und Nerven.
Muskelbauch
An einem Skelettmuskel lassen sich in der Regel
folgende Teile unterscheiden: Ansatz
• Ursprung
Der cranial bzw. proximal befestigte Teil des
Muskels besteht aus einem oder mehreren
Muskelbauch
Köpfen.
• Ansatz
Der caudal bzw. distal befestigte Teil des Mus-
kels. Ursprung
Sehne
• Muskelbauch
Der zwischen den Sehnen bzw. Ansatz und
Ursprung gelegene Teil. Bau eines Skelettmuskels. Abb. 5.8
• Muskelfaszie (= Muskelbinde)
Hülle aus straffem Bindegewebe um einzelne
Muskeln oder Muskelgruppen. Muskelfaszien
bilden gewissermaßen Führungsröhren für die beidseitig einseitig
Muskeln. gefiederter gefiederter
Muskel Muskel
Skelettmuskelformen (M. tibialis (M. semi-
Nach Lage und Aufgabe sind die Muskeln in anterior) membranosus)

unterschiedlichen Muskelformen organisiert.


Hierdurch wird eine optimale Wirkungsweise
aufgrund der unterschiedlichen anatomischen spindel-
Erfordernissen bei den einzelnen Muskelfunk- förmiger
tionen erreicht. So kann zum Beispiel der Kau- einbäuchiger
Muskel mit
muskel (M. masseter) durch seine kurze und Muskel mit einem Kopf
platte Form die zum Kauen erforderliche Kraft Zwischen- (M. palmaris
entwickeln. Der für die Beugung des Armes zu- sehnen longus)
(M. rectus
ständige zweiköpfige Oberarmmuskel (M. biceps abdominis)
brachii) muss dagegen eine große Strecke zurück- platter
legen und ist deshalb lang und spindelförmig. Muskel
(M. trapezi-
us)
Hilfseinrichtungen der Muskeln
Zu den Hilfseinrichtungen der Muskeln gehören
Sehnen, Sehnenscheiden, Schleimbeutel und zwei-
Sesambeine. köpfiger runder
• Sehnen Muskel Muskel
bestehen aus straffem Bindegewebe und (M. biceps (M. orbicularis
brachii) oculi)
befestigen die Muskeln direkt am Knochen
oder Periost. Die parallel angeordneten kolla-
genen Fasern verleihen ihnen eine sehr hohe Skelettmuskelformen. Abb. 5.9
Zugfestigkeit. Sehnen sind verschieden geformt.
96 5 Stütz- und Bewegungssystem


P Wichtige Sehnen für Reflex-
prüfungen sind:
Kniescheibensehne, Achillessehne,
Halteband
(Retinaculum) Bicepssehne und Tricepssehne.
Übermäßige Beanspruchung von
Sehnenscheiden Sehnenscheiden und Schleimbeuteln
können zu deren aseptischer Ent-
zündung führen (Bursitis = Schleim-
beutelentzündung, Tendovaginitis =
Sehnenscheiden
Sehnenscheidenentzündung).

Bei der Beschreibung der Muskel-


mechanik werden u. a. folgende Be-
griffe verwendet:
– Synergisten
Muskeln, die bei einer Bewegung
zusammenarbeiten.
– Agonist (= Spieler, sich kontrahie-
render Muskel) und Antagonist
(= Gegenspieler). Je nach Rich-
Haltebänder
(Retinacula) tungssinn einer beabsichtigten Be-
wegung wirkt ein Muskel entweder
als Agonist oder Antagonist.
Beachte: Die Sehnenscheiden der Hand sind an Daumen und
kleinem Finger durchgehend, an den restlichen Fingern
– Bewegungsmuskeln
unterbrochen. Muskeln, die überwiegend schnelle
Bewegungen ausführen;
Abb. 5.10 Sehnenscheiden. Beispiel: Muskeln der Extremitäten.
– Haltemuskeln
Muskeln, die überwiegend Halteauf-
Breite, flache Sehnen werden als Aponeurosen gaben ausüben;
bezeichnet, wie z. B. die Sehnen der Bauch- Beispiel: tiefe Rückenmuskulatur.
muskeln und die sehnigen Platten unter der
Haut der Hohlhand (Aponeurosis palmaris) Merke
sowie der Fußsohle (Aponeurosis plantaris).
• Sehnenscheiden Muskeln haben Halte- und Bewegungsfunk-
sind Gleit- und Schutzhüllen für Sehnen. Sie tion.
werden durch Haltebänder (Retinacula) fixiert
und befinden sich im Bereich der Hand- und
Sprunggelenke. 5.2.2 Kontraktion des Skelettmuskels
• Schleimbeutel
sind bindegewebige Säckchen mit Flüssigkeit, Fast die Hälfte der Körpermasse, nämlich ca.
die der Druckverteilung und Reibungsminde- 45 %, besteht aus Skelettmuskulatur. Die Mus-
rung zwischen Knochen, Muskeln und Sehnen kelfasern, die eine Länge bis zu 15 Zentimetern
dienen. Man findet sie dort, wo Muskeln um erreichen können, verleihen dem Skelettmuskel
einen Knochen gelenkt werden (✑ Abb. 4 grundlegende Eigenschaften:
5.2, S. 92). – Er kann sich aktiv verkürzen (= kontrahieren),
• Sesambeine – er kann passiv gedehnt werden,
sind meist kleinere Knochen, die in eine – er ist elastisch, d. h., er nimmt nach Kontrak-
Sehne eingebaut sind, um sie umzulenken. tion oder Dehnung seine Ursprungslage wieder
Dadurch bildet sich mit dem darunter liegenden ein,
Knochen ein synoviales Gelenk. Das größte – er ist erregbar.
Sesambein ist die Kniescheibe.
5.2 Allgemeine Muskellehre 97

Die Skelettmuskulatur erfüllt drei Aufgaben: Erschlaffung:


– Haltung des Körpers in sitzender oder stehen- – Die Ca2+ werden aktiv in das sarkoplasmati-
der Position, sche Retikulum zurückgepumpt.
– Bewegung des Körpers und – Die Verbindungsstellen zwischen Aktin und
– Wärmeproduktion. Myosin werden durch ATP besetzt, der Akto-
myosinkomplex wird gelöst. Die Muskelfasern

P Frauen haben geringere Skelettmuskel- werden wieder schlaff und weich.
massen als Männer (Männer ca. 30 kg, Frauen
ca. 24 kg). Frauen können deshalb nur 65 % Die Abstufung der Muskelkraft geschieht durch
der Kraft eines Mannes entwickeln. die Erregung unterschiedlicher Anzahlen moto-
rischer Einheiten und die Änderung der Aktions-
Der Kontraktionsvorgang eines Muskels wird potentialfrequenz.
stets durch Nervenimpulse von Motoneuronen
gesteuert, setzt also Erregung voraus (✑ S. 72 Eine Dauerkontraktion (= Tetanus) kommt zu-
und 333). stande, wenn die Frequenz der Nervenaktions-
potentiale 50 bis 150 Impulse je Sekunde be-
Die Erregungsübertragung auf den Muskel trägt. Der Ruhetonus (= Ruhespannung) wird
erfolgt in spezifischen Synapsen, den motori- durch geringere Aktionspotentialfrequenzen an
schen Endplatten (✑ Abb. 5.11, S. 98). einzelnen motorischen Endplatten verursacht.

Der Neurit (= Axon, ✑ S. 70) eines motorischen Kontraktionsarten


Neurons versorgt mit seinen Verzweigungen • Isotonische Kontraktion:
5 bis 200 Muskelfasern. Die von einem Moto- Verkürzung des Muskels und Erzeugung einer
neuron versorgten Muskelfasern bilden eine Bewegung bei annähernd gleich bleibender
motorische Einheit. Spannung.
Je weniger Muskelfasern durch einen Neurit ver- Beispiel: Bewegungen der Gliedmaßen.
sorgt werden, desto feiner abgestimmte Be- • Isometrische Kontraktion:
wegungen des entsprechenden Muskels sind Keine Verkürzung, aber Kraftentwicklung.
möglich (z. B. bessere Feinmotorik der Augen- Beispiel: Haltearbeit vieler Rückenmuskeln.
und Fingermuskeln gegenüber der Beinmuskula- Meistens wirken beide Kontraktionsarten zu-
tur). sammen, d. h., der Muskel verkürzt sich und ent-
wickelt gleichzeitig Kraft.
Erregungsumwandlung in Bewegung
Kontraktion: ❑
P ATP-Mangel verhindert die Erschlaffung.
– Nervenaktionspotentiale setzen in der motori- Das ist auch die Ursache der Totenstarre.
schen Endplatte Acetylcholin frei.
– Acetylcholin löst die Entstehung von Muskel- Energiequellen für die Muskelkontraktion
aktionspotentialen aus, die sich in der Muskel- Bei der Muskelkontraktion wird chemische
fasermembran ausbreiten und über Tubuli in Energie des ATP in mechanische umgewandelt
die Tiefe gelangen. (Wirkungsgrad: 20 – 30 %). Das ATP als einzige
– Dort bewirken sie die Freisetzung von Ca2+ unmittelbare Energiequelle wird durch drei
aus dem sarkoplasmatischen Retikulum, welche Prozesse regeneriert:
zusammen mit den Regulatoreiweißen Tropo- 1. Bildung von ATP aus Kreatinphosphat
nin und Tropomyosin für eine Energiefrei- (= besonderer Energiespeicher der Muskeln).
setzung aus ATP sorgen (✑ Kap. 2.4.2, S. 36). Kreatinphosphat (KP) + ADP
ATP ADP +  P + Kontraktionsenergie. Kreatinin (K) + ATP.
– Dadurch kommt es zur Muskelzuckung, die 2. Anaerobe Glykolyse
Muskelfasern werden verkürzt, indem die Glykogen Glucose Milchsäure +
Aktinfilamente (bilden zusammen mit den 2 ATP (✑ S. 40).
Myosinfilamenten die Myofibrillen) zwischen 3. Atmungskette
die Myosinfilamente gleiten und sich mit ihnen Glykogen Glucose CO2 + H2O +
verbinden. Es entsteht ein Aktomyosinkomplex. 38 ATP (✑ S. 40).
98 5 Stütz- und Bewegungssystem

Motorische Einheit
mer
Sarko
Markscheide ➞
motorisches
Kontraktion ➞
Axon

Aktin- Z-Scheibe
Myosin- filament
filament
Z-Scheibe

Erschlaffung ➞
motorische
Endplatte
longitudinaler
Tubulus mit Ca2+ Myosin- Aktin
Z köpfe Z
+ + + + + Muskelfaser- Myosin
– – – – – membran
transversaler
Tubulus

Aktin
Myosinschaft
Z Myosin Z
+ + +
– – – Kontraktion
= Verkürzung
der Sarkomere

Aktin

Aktin-Myosin- Gleiten Lösen Aktin-Myosin- Gleiten


Bindung Bindung
Myosin

Die Myosinköpfe rudern durch die Kippbewegung die Aktinfilamente in Richtung


Sarkomermitte. Weil die Myosinköpfe elastisch sind, können die Sarkomere, auch ohne
dass die Filamente ineinander gleiten, Kraft entwickeln. Der Muskel verkürzt sich in die-
sem Fall nicht.
Bei Dehnung des Muskels werden die dünnen Aktinfilamente wieder aus den dicken
Myosinfilamenten herausgezogen.

Abb. 5.11 Muskelkontraktion und -erschlaffung.


5.2 Allgemeine Muskellehre 99

Der ATP-Vorrat eines Muskels wird bei Dauer- die erschöpften ATP- und KP-Speicher werden
leistungen in dem Maße aerob1) regeneriert, wie auf diese Weise wieder aufgefüllt.
er verbraucht wird. Es herrscht also ein Fließ- Skelett- und Herzmuskulatur besitzen im
gleichgewicht vor. Dabei kann die Muskel- Myoglobin3) einen besonderen Sauerstoffspei-
durchblutung auf das 20fache zunehmen, was cher, wodurch kurzfristiger O2-Mangel während
wiederum eine entsprechende Erhöhung von der Kontraktion überbrückt wird.
Herz- und Atemzeitvolumen voraussetzt. Die
begrenzenden Faktoren sind das Herz-Kreislauf- Bewegungsbezeichnungen der Muskulatur
System und die Enzymkapazitäten. Je nach Lage und Ausgangsposition können
Sowohl bei Tätigkeitsbeginn, wenn der Muskel- Muskeln unterschiedliche Gelenkbewegungen
stoffwechsel noch auf Ruhe eingestellt ist, als ausführen. Oftmals lässt bereits die Bezeichnung
auch bei kurzzeitigen Höchstleistungen wird des Muskels Rückschlüsse auf diese zu (z. B.
zusätzlich Energie benötigt. Diese Energie- M. flexor digitorum manus, M. pronator teres,
menge wird anaerob2) durch Glykolyse bereitge- M. supinator, M. extensor hallucis).
stellt, was zwei- bis dreimal schneller erfolgt.
Allerdings wird dieser Vorgang relativ rasch Gelenkbewegungen
begrenzt. Es kommt durch die Anhäufung von • Adduktion = Heranführen
Milchsäure und die damit verbundene Senkung • Abduktion = Wegführen
des pH-Wertes (= metabolische Azidose) sowie oder • Opposition = Gegenüberstellen
die Anhäufung von ADP und Phosphat zur • Reposition = Zurückstellen
Ermüdung. • Flexion = Beugen
Die ATP-Bildung aus Kreatinphosphat und ADP • Extension = Strecken
erfolgt ebenfalls zügig. oder • Anteversion = Vornehmen
• Retroversion = Zurücknehmen
Bei der Kreatinphosphatspaltung und der anae- • Innenrotation = Einwärtsdrehen
roben Glykolyse geht der Organismus eine • Außenrotation = Auswärtsdrehen
Sauerstoffschuld ein. In der anschließenden oder • Supination = Auswärtswenden
Ruhephase muss diese wieder abgetragen wer- • Pronation = Einwärtswenden
den. Die angesammelte Milchsäure wird unter
1) aerob = unter Sauerstoffverbrauch
erhöhtem O2-Verbrauch (trotz körperlicher 2) anaerob = ohne Sauerstoffverbrauch
Ruhe) in Leber und Herz verstoffwechselt, und 3) roter Muskelfarbstoff, dem Hämoglobin ähnlich

dreiköpfiger großer Brustmuskel


Oberarmmuskel (M. pectoralis major)
Flexion (M. triceps brachii)



Adduktion
zweiköpfiger Extension
Oberarmmuskel
(M. biceps brachii)
Deltamuskel breiter Rückenmuskel
(M. deltoideus) (M. latissimus dorsi)

Trapezmuskel
(M. trapezius)

➝Abduktion Adduktion

Muskelbewegungen. Abb. 5.12


100 5 Stütz- und Bewegungssystem

Schädel
(Cranium)

Halswirbel
(Vertebrae cervicales)
Schlüsselbein
(Clavicula)
Schulterblatt Brustbein
(Scapula) (Sternum)

Oberarmknochen Rippen
(Humerus) (Costae)

Lendenwirbel
(Vertebrae lumbales)

Speiche
(Radius) Kreuzbein
(Os sacrum)
Elle
(Ulna) Hüftbein
(Os coxae)

Fingerknochen Oberschenkelknochen
(Ossa digitorum = (Femur)
Phalanges)
Mittelhandknochen
(Ossa metacarpi)
Handwurzelknochen Kniescheibe
(Ossa carpi) (Patella)

Schienbein
(Tibia)

Wadenbein
(Fibula)

Fußwurzelknochen
(Ossa tarsi)
Mittelfußknochen
(Ossa metatarsi)
Zehenknochen
(Ossa digitorum = Phalanges)

Abb. 5.13 Skelett (Vorderansicht).


Allgemeine Knochen- und Muskellehre 101

Schädel
(Cranium)

Halswirbel
(Vertebrae cervicales)

Schulterblatt
(Scapula)
Brustwirbel
(Vertebrae thoracicae)
Oberarmknochen
(Humerus)

Lendenwirbel
Speiche (Vertebrae lumbales)
(Radius)

Elle
(Ulna) Kreuzbein
(Os sacrum)
Steißbein
(Os coccygis)

Oberschenkelknochen
(Femur)

Schienbein
(Tibia)

Wadenbein
(Fibula)

Skelett (Rückansicht). Abb. 5.14


102 5 Stütz- und Bewegungssystem

Kopfwendemuskel
(M. sternocleidomastoideus)

Deltamuskel
(M. deltoideus)
großer Brustmuskel
(M. pectoralis major)
zweiköpfiger
vorderer Sägemuskel Oberarmmuskel
(M. serratus anterior) (M. biceps brachii)

gerader Bauchmuskel
(M. rectus abdominis)
äußerer schräger
Bauchmuskel Unterarmmuskeln
(M. obliquus externus (Beuger)
abdominis)
Leistenband
(Lig. inguinale)
Kammmuskel Hohlhandsehne
(M. pectineus) (Aponeurosis palmaris)
langer Anzieher
(M. adductor longus)
schlanker Muskel
(M. gracilis) gerader
Schneidermuskel Oberschenkelmuskel
(M. sartorius) (M. rectus femoris)
äußerer
Oberschenkelmuskel
(M. vastus lateralis)

Kniescheibe innerer
(Patella) Oberschenkelmuskel
(M. vastus medialis)

vorderer vierköpfiger
Schienbeinmuskel Oberschenkelmuskel
(M. tibialis anterior) (M. quadriceps femoris)

Abb. 5.15 Muskeln des Menschen (Vorderansicht).


Allgemeine Knochen- und Muskellehre 103

Untergrätenmuskel
(M. infraspinatus) Trapezmuskel =
Kapuzenmuskel
kleiner runder (M. trapezius)
Muskel Deltamuskel
(M. teres minor)
(M. deltoideus)
großer runder
Muskel
(M. teres major) Caput laterale
breiter Rückenmuskel
(M. latissimus dorsi) Caput longum
Caput mediale
dreiköpfiger
äußerer schräger Armstrecker
Bauchmuskel (M. triceps brachii)
(M. obliquus externus
abdominis)

Unterarmmuskeln großer Gesäßmuskel


(Strecker) (M. gluteus maximus)

zweiköpfiger Darmbein-
Oberschenkelmuskel Schienbein-Sehne
(M. biceps femoris) (Tractus iliotibialis)
halbsehniger Muskel
(M. semitendinosus) schlanker Muskel
(M. gracilis)
halbmembranöser
Muskel
(M. semimembranosus)

Wadenmuskel
(M. gastrocnemius)

Achillessehne
(Tendo calcaneus)

Muskeln des Menschen (Rückansicht). Abb. 5.16


104 5 Stütz- und Bewegungssystem

5.3 Spezielle Knochen- und 5.3.1 Wirbelsäule (Columna vertebralis)


Muskellehre Die Wirbelsäule verleiht dem Körper zusammen
In diesem Kapitel werden Wirbelsäule (Columna mit einer Vielzahl von Bändern und Muskeln
vertebralis), Brustkorb (Thorax), der Schulter- Stabilität und Beweglichkeit. Sie erfüllt folgende
gürtel mit den oberen Extremitäten, der Hauptaufgaben:
Beckengürtel mit den unteren Extremitäten • Stützung des Rumpfes durch die von cranial
sowie der Kopf (Caput) behandelt. nach caudal größer werdenden Wirbelkörper;
• Schutz des Rückenmarkes durch den Wir-
belkanal, der von den Wirbelbögen gebildet
wird sowie
• Federung und vielseitige Beweglich-
keit durch Doppel-s-Form und zahl-
reiche einzelne Wirbel, die durch
Halswirbelsäule (HWS) Bandscheiben und synoviale Ge-

7 gegeneinander bewegliche lenke gegeneinander beweglich sind.


Halswirbel
(Vertebrae cervicales = C1 – C7)
Die menschlische Wirbelsäule gliedert
sich in 5 Abschnitte (✑ Abb. 5.17).
Form
Die normal gebaute menschliche
Wirbelsäule ist doppel-s-förmig in
der Medianebene gekrümmt. Die phy-
Brustwirbelsäule (BWS) siologisch bedingten Krümmungen
12 gegeneinander bewegliche heißen

Brustwirbel
(Vertebrae thoracicae = Th1 – Th12) – Lordose: konvexe Seite der Krüm-
mung liegt ventral;
– Kyphose: konvexe Seite der Krüm-
mung liegt dorsal.
Physiologisch sind Halslordose,
Brustkyphose und Lendenlordose.
Neben der Doppel-s-Form ist das
Promontorium (= ventrale, gegen den
5. Lendenwirbel abgewinkelte Kante
Lendenwirbelsäule (LWS) des Kreuzbeins) charakteristisch für
5 gegeneinander bewegliche
Lendenwirbel die menschliche Wirbelsäule (✑ Abb.

(Vertebrae lumbales = L1 – L5) 5.20, S. 107).

Bauelemente
Die Bauelemente der Wirbelsäule
Kreuzbein sind
5 miteinander verwachsene • 24 bewegliche Wirbel; sie bilden
Kreuzwirbel
(Os sacrum = S1 – S5)
den mehr oder weniger beweglichen
Teil der Wirbelsäule,
Steißbein • 8 bis 10 miteinander verwachsene
3 – 5 miteinander verwachsene Wirbel (Kreuz- und Steißbein) und
Steißwirbel
(Os coccygis = Co1 – Co3–5)
• 23 Bandscheiben (= Zwischenwirbel-
Lordose scheiben) zwischen den beweglichen

Kyphose Wirbeln (außer zwischen C1 und C2).


Die 5 Abschnitte der Wirbelsäule


Abb. 5.17 und physiologische Krümmungen.
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 105


P Es gibt viele zum Teil krankhafte Ver- Halswirbel
biegungen, z. B. Flach- und Rundrücken, – Wirbelkörper klein und sattelförmig,
Buckel, Skoliosen (= Krümmung in der Fron- – Querfortsätze mit Löchern für die Wirbelgefäße,
talebene). – Dornfortsatz häufig gegabelt.
1. Halswirbel (= Atlas)
Bis auf die ersten beiden Halswirbel weisen die • ohne Wirbelkörper und Dornfortsatz,
Wirbel folgenden Bau auf. • mit vorderem und hinterem Bogen sowie
– Wirbelkörper (Corpus vertebrae) zwei seitlichen Tragstücken für den Schädel.
Ventral gelegenes massives Tragstück. (Man 2. Halswirbel (= Axis)
beachte die Größenzunahme von cranial nach • mit Dens (= Zahn), der als Fortsetzung des
caudal.) Wirbelkörpers nach oben in den vorderen
– Wirbelbogen (Arcus vertebrae) mit 7 Fortsätzen: Bogen des Atlas ragt.
1 Dornfortsatz (Processus spinosus), 7. Halswirbel (= Vertebra prominens)
2 Querfortsätze (Processus transversi), • mit besonders langem Dornfortsatz (Tast-
2 obere Gelenkfortsätze, punkt).
2 untere Gelenkfortsätze.
– Wirbelloch (Foramen vertebrale) ❑
P Die sattelförmigen Wirbelkörper der Hals-
Die Wirbellöcher aller Wirbel bilden zusam- wirbel können sich seitlich gelenkig verbinden
men den Wirbelkanal (Canalis vertebralis). (= Unkovertebralgelenke). Diese Verbindungen
sind besonders verschleißanfällig.
Besonderheiten der Wirbelarten
Die einzelnen Wirbeltypen zeichnen sich durch
unterschiedliche Erkennungsmerkmale aus.

1. Halswirbel (Atlas = Träger)


Ansicht von oben
2. Halswirbel (Axis = Dreher)
Ansicht von hinten oben
Wirbelloch vorderer
(Foramen vertebrale) Wirbelbogen

Zahn
(Dens)
Querfortsatzloch
(Foramen oberer
transversale)
Gelenkfortsatz
Gelenkfläche
für den Schädel hinterer
Wirbelbogen

Verbindung zwischen Atlas und Axis


Zahn
(Dens axis) Wirbelbogen
(Arcus vertebrae)
Atlasband Wirbelkörper
(Lig. transversum (Corpus vertebrae) Dornfortsatz
atlantis) (Proc. spinosus)

linkes, seitliches
Atlantoaxialgelenk

Halswirbel. Abb. 5.18


106 5 Stütz- und Bewegungssystem

Brustwirbel • einer Bandscheibe (= Zwischenwirbelscheibe),


– Lange schräg nach unten zeigende Dornfort- • zwei Wirbelbogengelenken,
sätze, • zwei Zwischenwirbellöchern und
– Gelenkflächen für die Rippen am Körper und • verschiedenen Bändern.
Querfortsatz.
Bandscheiben (Disci intervertebrales)
Lendenwirbel Bandscheiben bestehen aus einem Gallertkern
– Sind die größten Wirbel, (Nucleus pulposus), der von einem faserknorpe-
– Dornfortsatz ist breit und steht horizontal. ligen Ring (Anulus fibrosus) umgeben ist. Sie
verbinden die Wirbelkörper nach Art der Knor-
Kreuzbein (Os sacrum) pelgelenke und erlauben Bewegungen. Ähnlich
Die fünf Kreuzbeinwirbel sind beim Erwach- einer „Wasserkissenfunktion“ ermöglichen sie
senen zu einem einheitlichen Knochen verwach- darüber hinaus eine Dämpfung zwischen den
sen. An Wirbel erinnern Wirbelkörpern.
– Knochenkämme auf der Rückseite als Über-
bleibsel der Dorn-, Quer- und Gelenkfortsätze,
– Kreuzbeinkanal als Fortsetzung des Wirbel- ❑
P Mit zunehmendem Alter kann es zu Abnut-
kanals, zungen (degenerative Veränderungen in Form
– Kreuzbeinlöcher. einer Höhenveränderung der Bandscheiben
= Osteochondrose) – besonders wegen des ge-
Steißbein (Os coccygis) ringeren Wasseraufnahmevermögens – und
Die ebenfalls verwachsenen Steißwirbel sind damit abnehmender Elastizität kommen. Über-
stark zurückgebildet. Der Wirbelbogen fehlt. lastung der Bandscheiben kann zum Band-
scheibenvorfall führen (Prolaps des Nucleus
Knochenverbindungen pulposus). Der faserknorpelige Ring reißt,
Die Verbindung der Wirbel geschieht durch die Gallertmasse gelangt in die Zwischenwirbel-
löcher oder in den Wirbelkanal und kann dort
Bandscheiben zwischen den Wirbelkörpern und
die Nervenfunktion behindern (Schmerz, Sen-
Wirbelbogengelenke zwischen den Gelenk-
sibilitätsausfälle, Lähmung). Abnutzungser-
fortsätzen der Wirbelbögen sowie durch Bänder. scheinungen der Bandscheiben sind besonders
Den der Bewegung dienende Raum zwischen häufig im Lendenwirbelsäulenbereich zu beob-
zwei Wirbeln bezeichnet man als Bewegungs- achten, da hier die Belastung durch das
element. Es wird gebildet von: Körpergewicht am größten ist.

Ansicht von der rechten Seite Ansicht von oben

Querfortsatz oberer Gelenkfortsatz Wirbelloch


(Proc. transversus) (Proc. articularis superior) (Foramen vertebrale)

Wirbelkörper
(Corpus vertebrae)
oberer
Gelenkflächen Gelenk-
für die Rippen fortsatz
(Proc. articularis
Gelenkflächen superior)
für die Rippen unterer
Gelenkfortsatz
(Proc. articularis inferior)
Wirbelbogen Querfortsatz
(Arcus vertebrae) (Proc. transversus)

Dornfortsatz
(Proc. spinosus)

Abb. 5.19 Brustwirbel.


5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 107

von vorn
Vorgebirge
(Promontorium)

Querlinien
(Lineae transversales)

Kreuzbein
(Os sacrum)
Kreuzbeinlöcher
(Foramina sacralia
pelvina)

Steißbein
(Os coccygis)
Medianschnitt

von rechts
Vorgebirge
(Promontorium)

Darmbeingelenkfläche
(Facies auricularis)

Kreuzbeinkanal 5 verwachsene
(Canalis sacralis)
Kreuzwirbel
Vorderfläche
(Fascies pelvina)

Hinterfläche
(Fascies dorsales)

Kreuz- und Steißbein. Abb. 5.20

Bänder • Dornspitzenband (Lig. supraspinale) an den


Die menschliche Wirbelsäule wird durch zahl- Dornfortsätzen vom Kreuzbein bis zum
reiche Bänder stabilisiert. Im Einzelnen sind es 7. Halswirbel. Das Lig. supraspinale ver-
3 lange Längsbänder und mehrere kurze Bänder. breitert sich im Halsbereich zum Nacken-
– 3 Längsbänder (lange Bänder), die fast über band (Lig. nuchae).
die gesamte Wirbelsäule ziehen und wie folgt
bezeichnet werden: – Kurze Bänder:
• Vorderes Längsband (Lig. longitudinale an- • Gelbe Bänder (Ligg. flava), elastische Bän-
terius) an der Vorderseite der Wirbelkörper der zwischen den Wirbelbögen,
vom Hinterhauptbein bis zum Kreuzbein, • Ligg. interspinalia, Bänder zwischen den
• hinteres Längsband (Lig. longitudinale Dornfortsätzen benachbarter Wirbel und
posterius) an der Hinterseite der Wirbel- • Ligg. intertransversaria, Bänder zwischen
körper, also im Wirbelkanal, den Querfortsätzen benachbarter Wirbel.
108 5 Stütz- und Bewegungssystem

Faserring Zwischenwirbelscheibe, Bandscheibe


(Anulus fibrosus) (Discus intervertebralis)

Gallertkern
(Nucleus pulposus)
Wirbelkanal
(Canalis vertebralis)
Zwischenwirbel-
scheibe
(Discus intervertebralis)
Wirbelbogen-
gelenk
Zwischenwirbelloch
(Foramen intervertebrale)

Abb. 5.21 Bewegungselement (Lendenwirbelsäule).

Knochenverbindungen zwischen Wirbelsäule züge entlang der Wirbelsäule. Sie ist das mäch-
und Kopf (Kopfgelenke) tigste Muskelsystem des Menschen und ermög-
Bei den Kopfgelenken handelt es sich um licht im Zusammenwirken mit der Bauchmus-
5 synoviale Gelenke zwischen Hinterhauptbein, kulatur das Vorneigen, Strecken, Seitneigen und
Atlas und Axis. Sie erlauben Bewegungen wie in Drehen.
einem Kugelgelenk, sodass im Zusammenwir- Weitere wichtige Aufgaben der Rückenmusku-
ken mit den übrigen Halswirbeln die große latur im Zusammenwirken mit dem Bandapparat
Beweglichkeit des Kopfes als Träger wichtiger sind Stabilisierung der Wirbelsäule und For-
Sinnesorgane ermöglicht wird. Dies ist eine mung ihrer physiologischen Krümmungen.
wichtige Voraussetzung für die Orientierung und Für die äußerst fein abgestuften Kopfbewegun-
Fortbewegung, aber auch für das individuelle gen sorgt ein vielgliedriger und komplizierter
Ausdrucksvermögen des Menschen. Muskelapparat, der aus Hals-, Nacken- und
Man unterscheidet Zungenbeinmuskeln besteht.
– die paarigen oberen Kopfgelenke (Artt. atlan-
tooccipitales) zwischen Atlas und Hinter- ❑
P Es ist darauf Wert zu legen, dass die Wirbel-
hauptbein. Sie ermöglichen Vor-, Rück- und säule nicht einseitig, vorwiegend statisch be-
Seitneigung des Kopfes; ansprucht wird. Vielmehr kommt es darauf an,
– das unpaarige mediale Kopfgelenk (Art. at- Stabilität und Mobilität gleichmäßig zu ent-
lantoaxialis mediana) zwischen Dens, vorde- wickeln. Das bedeutet vor allem, auf eine all-
rem Atlasbogen und dem überknorpelten seitige Kräftigung der Muskulatur mit der
Atlasquerband (Lig. transversum atlantis); Entwicklung einer aufrechten Haltung zu ach-
– die paarigen unteren Kopfgelenke (Artt. ten, sodass der passive Bewegungsapparat ent-
atlantoaxiales laterales) zwischen Atlas und lastet wird.
Axis. Nur eine aufrechte Haltung gewährleistet eine
Mediales Kopfgelenk und untere Kopfgelenke optimale Belüftung der Lunge. Mit den Patien-
ermöglichen die Drehbewegungen des Kopfes. ten sollten nach Möglichkeit täglich leichte
gymnastische Übungen zur Stärkung von
Muskulatur und ihre Funktion Bauch- und Rückenmuskulatur durchgeführt
Die Bewegungen der Wirbelsäule werden durch werden.
das Zusammenwirken von Rücken- und Bauch-
muskulatur ermöglicht (Bauchmuskulatur ✑ S. Tastbare Knochenpunkte sind die Dornfortsätze
138). Die Rückenmuskulatur besteht aus einem ab 7. Halswirbel.
komplexen System sich überlappender Muskel-
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 109

5.3.2 Brustkorb (Thorax)

Der Brustkorb ist Bestand-


teil des Rumpfskelettes und
umschließt die Brusthöhle
(Cavitas thoracis). Er dient
dem Schutz wichtiger Or- Halbdornmuskel
(M. semispinalis)
gane wie Herz, Lunge,
Leber, Magen und ermög- Riemenmuskel
(M. splenius capitis)
licht die Atembewegungen
und damit die Belüftung der hinterer, oberer
Lunge. Außerdem ist der Sägemuskel
(M. serratus posterior
Thorax eine „Durchgangs- superior)
straße“ für viele Organe, Wirbelsäulen-
wie z. B. Speiseröhre, Ge- aufrichter
(Mm. erector spinae)
fäße und Nerven.
Darmbein-Rippen-
Muskel
Knochen (M. iliocostalis)
Die Knochen des Brust-
hinterer, unterer
korbes setzen sich aus der Sägemuskel
Brustwirbelsäule, dem (M. serratus posterior
Brustbein (Sternum), be- inferior)
stehend aus Handgriff (Ma-
nubrium), Brustbeinkörper
(Corpus sterni) und Schwert-
fortsatz (Proc. xiphoideus)
sowie 12 Paar Rippen zu-
sammen. gerader Bauchmuskel
Die drei Teile des Sternums (M. rectus abdominis)
sind anfangs durch Knor-
pelzonen getrennt, die mit
zunehmendem Alter all-
mählich verknöchern.
Halte- und Bewegungsmuskeln der Wirbelsäule. Abb. 5.22
Beziehung der Rippen zum
Sternum
Nach ihrer Beziehung zum Sternum lassen sich Drehgelenke), die durch die gebogenen Rippen
die Rippen in zwei Gruppen unterteilen: das Heben und Senken des Thorax ermöglichen
– Echte Rippen, sie sind direkt mit dem Ster- (✑ Abb. 5.5 links, S. 93) sowie Brustbein-
num verbunden (Rippenpaare 1 – 7). Rippen-Gelenke (= teils synoviale, teils Knor-
– Falsche Rippen, die Rippenpaare 8 – 10 errei- pelgelenke).
chen das Sternum indirekt über den Knorpel
der 7. Rippe. Dadurch entstehen der rechte ❑
P Die Ansatzstelle der 1. Rippe ist nicht tast-
und linke Rippenbogen. Die Rippenpaare 11 bar. Die 2. Rippe setzt am Brustbeinwinkel an.
und 12 erreichen das Sternum gar nicht. Sie Diese Stelle ist tastbar und eine Orientierungs-
enden als freie Rippen in der Muskulatur. hilfe am Thorax.

Knochenverbindungen Brustkorb-Muskulatur und ihre Funktion


Die Knochen des Thorax sind elastisch verbun- (✑ Kap. Atembewegungen 11.3.1, S. 224).
den durch Wirbel-Rippen-Gelenke (= synoviale
110 5 Stütz- und Bewegungssystem

Brustkorböffnungen (Thoraxaperturen)
Einschnitt zur Der Thorax besitzt zwei Öffnungen:
Gelenkverbindung – Obere Thoraxapertur, gebildet von
mit dem Schlüsselbein
(Incisura clavicularis) • 1. Brustwirbelkörper,
• 1. Rippenpaar,
Handgriff des Brustbeins
(Manubrium sterni) • Handgriff des Brustbeins.
– Untere Thoraxapertur, gebildet von
Brustbeinwinkel
(Angulus sterni) • 12. Brustwirbel,
• Schwertfortsatz,
• Rippenbögen,
Brustbeinkörper • 11. und 12. Rippenpaar.
(Corpus sterni)
Einschnitte zur ❑
P Die Thoraxform ändert sich in
Gelenkverbindung Abhängigkeit vom Alter. Beim Neu-
mit den Rippen geborenen stehen die Rippen nahezu
(Incisurae costales)
horizontal. Im Laufe des Lebens senken
sie sich, und der Thorax wird flacher
und auch starrer.
Schwertfortsatz Die elastische Verspannung vom
(Processus xiphoideus)
Thorax wird in der Ersten Hilfe bei der
externen Herzmassage genutzt.
Ansicht von ventral Ansicht von rechts
Tastbare Knochenpunkte sind Sternum,
Abb. 5.23 Sternum (Brustbein). die Ansatzstelle der 2. Rippe, der Rippen
5 – 7 sowie die Rippenkörper.

Ansicht von vorn Ansicht von hinten

Schulterblatt Schlüsselbein
(Scapula) (Clavicula)
obere Thoraxöffnung
(Apertura thoracis superior)

Rippenknorpel
(Cartilago costalis)
Rippenknochen
Rippen
(Costae)
Brustbein
(Sternum)

Rippenbogen
(Arcus costalis)

untere Thoraxöffnung 12 Brustwirbel


(Apertura thoracis inferior)

Abb. 5.24 Brustkorb (Thorax).


5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 111

5.3.3 Schultergürtel und obere Extremität – Die inneren Schlüsselbeingelenke verbinden


die Schlüsselbeine mit dem Brustbein,
Schultergürtel und obere Extremität bilden eine – die äußeren die Schlüsselbeine mit dem
Einheit. Lagemäßig gehört der Schultergürtel Schulterblatt.
zum Rumpf. Einzelheiten sind der Abbildung 5.25 auf Seite
112 zu entnehmen.
Schultergürtel (✑ Abb. 5.25)
Der Schultergürtel bildet im Unterschied zum Obere Extremität
Beckengürtel einen vorn und hinten offenen Alle Armknochen, mit Ausnahme der Hand-
Ring, der allerdings vorn durch das Brustbein wurzelknochen, gehören zu den Röhrenknochen
verschlossen wird. Auf jeder Seite besteht der (Einzelheiten ✑ Abbildung 5.26, Seite 113).
Schultergürtel jeweils aus einem Schlüsselbein
(Clavicula) und Schulterblatt (Scapula). Knochenverbindungen,
Er liegt dem Thorax locker auf, wodurch die Bewegungsmöglichkeiten, Muskeln
Arme viel beweglicher als die Beine sind. Schultergürtel und Arm sind durch drei große
Gelenke verbunden:
Merke – Schultergelenk (Art. humeri),
– Ellenbogengelenk (Art. cubiti),
Der Schultergürtel verbindet die Arme mit – Handgelenk (Art. radiocarpalis).
dem Rumpf. Außerdem ist er Ansatz- und Ur-
sprungsstelle vieler Muskeln. Schultergelenk (Art. humeri)
Beteiligte Knochen bzw. Knochenteile sind
Knochenverbindungen – die Gelenkfläche des Schulterblattes (liegt un-
An beiden Enden der s-förmigen Clavicula terhalb des Schulterecks) und
befindet sich jeweils ein Kugelgelenk. – der Oberarmkopf (Caput humeri).

Obere Extremität – Gliederung der Knochen. Tab. 5.2

Obere Extremität

Oberarm Unterarm Hand (Manus)

1 Oberarmknochen 2 Unterarmknochen
(Humerus) • Speiche (Radius)
• Elle (Ulna)

Handwurzel (Carpus) Mittelhand (Metacarpus) Finger (Digiti)


8 Handwurzelknochen 5 Mittelhandknochen 14 Fingerknochen
(Ossa metacarpi = Metacarpalia I bis V; (Ossa digitorum= Phalanges)
proximale Reihe (von radial nach ulnar) I = Mittelhandknochen des Daumens)
• Kahnbein (Os scaphoideum)
• Mondbein (Os lunatum)
• Dreieckbein (Os triquetrum)
• Erbsenbein (Os pisiforme)
distale Reihe (von radial nach ulnar)
Handwurzelknochen-Merkspruch:
• großes Vieleckbein (Os trapezium) Ein Schiffchen fuhr im Mondenschein ums
• kleines Vieleckbein (Os trapezoideum) Dreieck- und ums Erbsenbein.
• Kopfbein (Os capitatum) Vieleck groß, Vieleck klein – ein Kopf, der
• Hakenbein (Os hamatum) muss beim Haken sein.
112 5 Stütz- und Bewegungssystem

Ansicht von vorn


Schlüsselbein
(Clavicula)
äußeres inneres
Schlüsselbeingelenk Schlüsselbeingelenk
(Articulatio
(Articulatio
acromioclavicularis)
sternoclavicularis)
Schultereck mit Discus
(Acromion)
Schultergelenk Handgriff des
(Articulatio humeri) Brustbeins
(Manubrium sterni)
Oberarmknochen
(Humerus)

Ansicht von hinten


Schlüsselbein
(Clavicula)
Schultereck
(Acromion)
Schultergelenk
(Articulatio humeri)

Schulterblatt
(Scapula)

Oberarmknochen
(Humerus)

Elle
(Ulna)
Speiche
(Radius)

Abb. 5.25 Schultergürtel.

Merkmale des Schultergelenkes – durch das Zusammenwirken mit den Schlüssel-


Das Schultergelenk als Kugelgelenk bietet einen beingelenken wird eine beträchtliche Erweite-
sehr großen Bewegungsspielraum durch rung des Bewegungsumfanges ermöglicht.
– relativ kleine Kontaktflächen (großer Gelenk-
kopf, kleine Gelenkpfanne, d. h. kaum Kno- Im Bereich des Schultergelenkes liegt zur
chenführung), Minderung der Reibung eine große Zahl von
– sehr weite Gelenkkapsel, Schleimbeuteln.
– überwiegend Muskelführung,
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 113

anatomischer Hals Oberarmkopf


(Collum anatomicum) (Caput humeri)
chirurgischer Hals Vorder- bzw.
(Collum chirurgicum)
Rippenseite des
Schulterblattes
(Facies costalis)

Obergrätengrube
(Fossa supraspinata)
Oberarmknochen
Rabenschnabelfortsatz (Humerus)
(Processus coracoideus)
Oberarmköpfchen
Schultereck (Capitulum humeri)
(Acromion)
Oberarmrolle
Schulterblattgräte (Trochlea humeri)
(Spina scapulae)
innerer Obergelenkknorren
(Epicondylus medialis)
Ellenbogengelenk
äußerer Obergelenkknorren (Articulatio cubiti)
(Epicondylus lateralis)
Radiuskopf
(Caput radii)

Untergrätengrube
(Fossa infraspinata) Elle
(Ulna)

Speiche Ellenkopf
(Radius) (Caput ulnae)
Griffelfortsatz
(Proc. styloideus ulnae)
proximales Handgelenk
(Art. radiocarpalis) Handwurzel
(Carpus)

Mittelhand
(Metacarpus)

Grundglied Fingerglieder
(Phalanx proximalis) (Phalanges)
Mittelglied
(Phalanx media)
Die Elle (Ulna) liegt kleinfingerwärts,
Endglied die Speiche (Radius) daumenwärts.
(Phalanx distalis)

Rechte obere Extremität und Schulterblatt (rechter Arm). Abb. 5.26


P Die geringe Knochenführung, die schlaffe lenkkapsel umschlossen werden.
– Oberarm-Ellen-Gelenk (Art. humeroulnaris)
Kapsel sowie die fehlende Bänderführung sind
Ursachen häufiger Luxationen. mit Oberarmrolle und Ellenhaken (Scharnier-
gelenk),
Ellenbogengelenk (Art. cubiti) – Oberarm-Speichen-Gelenk (Art. humeroradia-
Das Ellenbogengelenk wird aus drei Teilgelen- lis) mit Speichenkopf und Oberarmköpfchen
ken gebildet, die von einer gemeinsamen Ge- (Kugelgelenk) und
114 5 Stütz- und Bewegungssystem

– proximales Ellen-Speichen-Gelenk (Dreh-


Scharniergelenk – funktionell) mit Spei-
Auswärtsdrehung chenkopf und Einschnitt der Elle.
(Supination)
Das proximale Ellen-Speichen-Gelenk bildet
mit dem distalen Ellen-Speichen-Gelenk ein
Drehgelenk.

Handgelenke
zweiköpfiger – proximales Handgelenk (Art. radiocarpalis)
Oberarmmuskel Beteiligte Knochen bzw. Knochenteile sind
(M. biceps brachii) • Radius,
• proximale Handwurzelknochenreihe,
• Ulna (durch einen Discus von den Hand-
wurzelknochen getrennt).
Auswärtsdreher Gelenktyp:
(M. supinator)
Eigelenk.
Bewegungen:
Elle Palmarflexion (Beugung der Hand hand-
Speiche flächenwärts) – Dorsalflexion (Bewegung
der Hand handrückenwärts),
Radialabduktion (Bewegung der Hand zur
Speiche) – Ulnarabduktion (Bewegung der
Hand zur Elle).


P Beim Sturz auf die Hand bricht meistens
der Radius. Die distale Radiusfraktur ist
Einwärtsdrehung eine der häufigsten Frakturen überhaupt.
(Pronation)
– distales Handgelenk (Art. metacarpalis)
zwischen proximaler und distaler Hand-
wurzelknochenreihe.
Gelenktyp:
Scharniergelenk.
Bewegungen:
Palmarflexion – Dorsalflexion.
runder
Einwärtsdreher Handwurzel-Mittelhand-Gelenke (Carpo-
(M. pronator teres) metacarpalgelenke), Daumensattelgelenk.
Die Carpometacarpalgelenke liegen zwischen
Speiche der distalen Handwurzelknochenreihe und den
Elle Basen der Mittelhandknochen.
viereckiger Das Carpometacarpalgelenk I ist das Dau-
Einwärtsdreher mensattelgelenk und liegt zwischen Os trape-
(M. pronator zium und Os metacarpale I.
quadratus)
Bewegungen im Daumensattelgelenk:
Abduktion – Adduktion (Daumen wird vom
Zeigefinger abgespreizt und wieder herange-
führt), Opposition – Reposition (Daumen
wird aus der Abduktionsstellung dem kleinen
Finger gegenübergestellt und wieder in Nor-
Abb. 5.27 Ein- und Auswärtsdrehung der Hand. malstellung zurückgeführt).
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 115

Die Carpometacarpalgelenke II bis


IV sind Amphiarthrosen (straffe Palmaransicht
Gelenke). Das Gelenk V lässt geringe
Oppositionsbewegungen des kleinen
Fingers zu.
Speiche Elle
(Radius) (Ulna)
Fingergelenke Kahnbein Mondbein
– Fingergrundgelenke (Metacarpo- (Os scaphoideum) (Os lunatum)
phalangealgelenke). großes Erbsenbein
Die Fingergrundgelenke II bis V Vieleckbein (Os pisiforme)
sind anatomisch gesehen Kugelge- (Os trapezium) Dreieckbein
(Os triquetrum)
lenke.
Das Daumengrundgelenk ist ein Hakenbein
(Os hamatum)
Scharniergelenk.
– Fingermittelgelenke und Finger-
endgelenke (proximale und distale
Interphalangealgelenke)
Die Fingermittel- und -endgelenke kleines
sind Scharniergelenke. Vieleckbein
(Os trapezoideum)

Merke Kopfbein
(Os capitatum)
Alle Scharniergelenke werden
durch Seitenbänder (= Kollateral-
bänder) gesichert.
■ proximale Reihe
Dorsalansicht ■ distale Reihe
Achselhöhle
Einbuchtung der Körperoberfläche
zwischen Rumpf und Arm. Elle Speiche
Inhalt: (Ulna) (Radius)
Bindegewebskörper mit Gefäßen und
Mondbein
Nerven (Armgefäße, Armnerven) Dreieckbein (Os lunatum)
und regionäre Achsellymphknoten. (Os triquetrum)
Kahnbein
Kopfbein (Os scaphoideum)
(Os capitatum)
Ellenbeuge großes
Hakenbein Vieleckbein
Liegt zwischen Flexoren des Ober- (Os hamatum) (Os trapezium)
armes und Flexoren sowie Exten-
soren des Unterarmes. Fingergrund-
Inhalt: gelenk
– Venen der Ellenbeuge (Cubital-
venen; häufig genutzt zur Blut- Fingermittel-
entnahme und i.v.-Injektion), gelenk
Fingerend- kleines
– Aufzweigung der Oberarmarterie Vieleckbein
gelenk
(A. brachialis) in Speichenarterie (Os trapezoideum)
(A. radialis) und Ellenarterie (A.
ulnaris) (✑ Abb. 9.27, S. 181,
Abb. 9.28, S. 182 und Abb. 9.33,
S. 185).

Knochen der Hand. Abb. 5.28


116 5 Stütz- und Bewegungssystem

Tab. 5.3 Verlauf und Funktion der Muskulatur des Schultergürtels


Muskeln Verlauf Funktion

Großer Brustmuskel Clavicula, Sternum Adduktion, Anteversion und


(M. pectoralis major) – Humerus Innenrotation im Schultergelenk
Kleiner Brustmuskel unter M. pectoralis major Senkung des Schultergürtels,
(M. pectoralis minor) Hebung der Rippen
(✑ Abb. 6.1, S. 137) (= Einatemhilfsmuskel)

Trapezmuskel Hinterhauptbein, Brustwirbel Bewegungen des Schulter-


(M. trapezius) – Clavicula, Scapula gürtels
Breiter Rückenmuskel Brust- und Lendenwirbel Adduktion, Retroversion und
(M. latissimus dorsi) – Humerus Innenrotation im Schultergelenk
Schulterblattheber unter M. trapezius, hebt Schultergürtel
(M. levator scapulae) 1. – 4. Halswirbel – Scapula
Deltamuskel Clavicula, Scapula Abduktion, Adduktion,
(M. deltoideus) – Humerus Anteversion, Retroversion,
Innen- und Außenrotation im
Schultergelenk

Rückansicht Vorderansicht

Treppen-
Trapezmuskel muskeln
(Mm. scaleni)
(M. trapezius)

Deltamuskel Deltamuskel
(M. deltoideus)
(M. deltoideus)

Untergräten- großer
muskel Brustmuskel
(M. infraspinatus) (M. pectoralis
major)
großer/kleiner
runder Muskel zweiköpfiger
(M. teres Armmuskel
major/minor) (M. biceps brachii)

dreiköpfiger vorderer
Armstrecker Sägemuskel
(M. triceps brachii) (M. serratus
anterior)
breiter
Rückenmuskel breiter
(M. latissimus Rückenmuskel
dorsi) (M. latissimus
dorsi)

Abb. 5.29 Muskeln des Schultergürtels.


5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 117

Muskulatur des Schultergürtels brachii ist der dreiköpfige Oberarmmuskel


Den Schultergürtel erreichen zahlreiche Muskeln (M. triceps brachii) – Strecker genannt. Er
von allen Seiten. Dadurch ist er sehr beweglich. bewirkt die Extension des Unterarmes sowie die
Einige Muskeln setzen am Humerus (Oberarm- Fixation des Ellenbogengelenkes.
knochen) an, wodurch das funktionelle Zusam-
menwirken zwischen Schlüsselbeingelenken Unterarmmuskulatur
und Schultergelenk ermöglicht wird. Die Unterarmmuskeln lassen sich entsprechend
ihrer Funktion in vier Gruppen einteilen:
Merke Pronatoren
Die Schultergürtelmuskulatur dient Sie bewirken die Innenrotation von Hand und
• der Bewegung von Schultergürtel und Arm, Unterarm, also die Drehung von Elle und Speiche
• der Haltung und Fixation des Schultergürtels in der Längsrichtung nach innen (Pronation).
(✑ Tab. 5.3). Supinatoren
Sie ermöglichen die Außenrotation von Hand
Muskulatur des Armes und Unterarm, also die entgegengesetzte Dre-
Die Muskulatur des Armes wird in Ober- und hung von Elle und Speiche in der Längsrichtung
Unterarmmuskulatur unterteilt. nach außen (Supination).
Flexoren
Oberarmmuskulatur Die Flexoren liegen ulnar und palmar. Sie bewir-
Die Oberarmmuskulatur wird aus Beugern ken die Palmarflexion im Handgelenk und
(Flexoren) und Streckern (Extensoren) gebildet. Flexion der Finger.
Wichtigster Beugemuskel ist der zweiköpfige Extensoren
Oberarmmuskel (M. biceps brachii). Seine Die Extensoren liegen radial und dorsal. Sie
Funktionen sind Flexion und Fixation des Ellen- bewirken die Dorsalextension im Handgelenk
bogengelenkes sowie Supination des Unterarmes. und Extension der Finger.
Der Gegenspieler (Antagonist) des M. biceps

Palmaransicht Dorsalansicht

Palmaransicht

Flexorengruppe Extensorengruppe
für Handgelenk für Handgelenk
und Finger und Finger

Halteband der Halteband der


Beugersehnen Streckersehnen
(Retinaculum flexorum) (Retinaculum extensorum)
Hohlhandsehne
(Aponeurosis palmaris)
Sehnenscheiden
(Vaginae tendines)

Muskeln und Bänder von Unterarm und Hand. Abb. 5.30


118 5 Stütz- und Bewegungssystem

langer radialer
Handstrecker
(M. extensor carpi
Oberarm- radialis longus)
Knorrenmuskel
speichenmuskel (M. anconeus) kurzer radialer
(M. brachioradialis) Handstrecker
(M. extensor carpi
runder ulnarer Handstrecker radialis brevis)
Einwärtsdreher (M. extensor carpi ulnaris)
(M. pronator teres)
radialer Handstrecker
(M. flexor carpi radialis) langer
langer Daumenabzieher
Kleinfingerstrecker (M. abductor pollicis
Hohlhandmuskel longus)
(M. palmaris longus) (M. extensor digiti minimi)
oberflächlicher kurzer
Fingerstrecker Daumenstrecker
Fingerbeuger (M. extensor digitorum) (M. extensor pollicis
(M. flexor digitorum
brevis)
superficialis) ulnarer Handstrecker
(M. flexor carpi ulnaris) Halteband
(Retinaculum
extensorum)

Abb. 5.31 Unterarmmuskulatur.

Merke Innervation
Die Muskulatur der oberen Extremitäten wird
Die im Unterarm liegenden Flexoren und Ex- von Nerven versorgt, die aus dem Armgeflecht
tensoren (= lange Fingermuskeln) sind über (Plexus brachialis) hervorgehen (N. radialis, N.
lange Sehnen mit den Fingergrund-, Finger- ulnaris, N. medianus; ✑ Abb. 17.21, S. 358).
mittel- und Fingerendgliedern verbunden. Sie
verlaufen im Bereich der Hand- und Finger-
gelenke in Sehnenscheiden (= Gleitschutz). 5.3.4 Beckengürtel und untere Extremität
Haltebänder (Retinacula) fixieren die Sehnen-
scheiden. Beckengürtel und untere Extremität haben Halte-
und Stützfunktion. Deshalb sind hier die Kno-
Handmuskulatur chen und Gelenke viel kräftiger ausgebildet als
Die herausragende Fähigkeit der menschlichen beim Schultergürtel und der oberen Extremität.
Hand ist die Greiffunktion. Sie wird durch die
Oppositionsfähigkeit des Daumens möglich, Beckengürtel
d. h., der Daumen kann den übrigen Fingern Der Beckengürtel stellt im Unterschied zum
gegenübergestellt werden. Schultergürtel einen geschlossenen Ring dar.
Für diese Greiffunktion steht ein komplizierter Aufgaben
Muskelapparat der Hand zur Verfügung: – Verbindung der Beine mit dem Rumpf.
– 4 Muskeln des Daumenballens und – Übertragung der Körpermasse von der Wirbel-
– 4 Muskeln des Kleinfingerballens. säule auf die beiden Oberschenkelknochen.
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 119

männliches Becken
(Pelvis masculinum) Vorgebirge
(Promontorium)
Darmbeinkamm
(Crista iliaca)
Kreuzbein
(Os sacrum)
vorderer oberer Darmbeinstachel
Hüftbein (Spina iliaca anterior superior)
(Os coxae) vorderer unterer Darmbeinstachel
(Spina iliaca anterior inferior)
Hüftgelenkpfanne
(Acetabulum)
Hüftloch
(Foramen obturatum)

Schambeinwinkel Hüftbein
(Angulus pubis: 70°–75°)
(Os coxae)

Darmbeinkamm hinterer oberer


(Crista iliaca)
Darmbeinstachel
vorderer oberer Darmbeinstachel (Spina iliaca posterior
(Spina iliaca anterior superior) superior)
vorderer unterer Darmbeinstachel hinterer unterer
(Spina iliaca anterior inferior) Darmbeinstachel
(Spina iliaca posterior
Hüftgelenkpfanne inferior)
(Acetabulum)
Sitzbeinstachel
(Spina ischiadica)

• bilden zusammen Schambein • Darmbein •


das Hüftbein (Os pubis) (Os ilium)
Hüftloch
(Foramen obturatum) Sitzbeinhöcker
(Tuber ischiadicum)

weibliches Becken Sitzbein •


(Pelvis femininum) (Os ischii)

Darmbeingrube
(Fossa iliaca)
Darmbein-Kreuzbein-Gelenk
(Articulatio sacroiliaca)
Schambeinhöcker
(Tuberculum pubicum)
Hüftgelenkpfanne
(Acetabulum)
Schambeinfuge
(Symphysis pubica)

Bei den Darmbein-Kreuzbein-Gelenken sind


die Gelenkflächen unregelmäßig und inein-
Schambeinbogen ander verkeilt. Die Gelenkkapsel ist sehr
(Arcus pubis: 90°–100°) eng, fest und durch Gelenkbänder vielfältig
verstärkt. Eigentliche Bewegungen sind
nicht möglich. Sie wirken federnd.

Becken und Hüftbein. Abb. 5.32


120 5 Stütz- und Bewegungssystem

Zu diesem Zweck ist er, im Unterschied zum • Schambeinfuge (Symphysis pubica) verbindet
Schultergürtel, als stabiler Ring fest mit der die beiden Hüftbeine im Bereich der Scham-
Wirbelsäule verbunden. beine mittels Faserknorpel.
– Gebärkanal.
– Ansatz- und Ursprungsstelle von Bauch-, Gestalt
Rücken- und Gesäßmuskeln. Das Becken ist trichterförmig gebaut. Der Innen-
– Schutz der Beckenorgane. raum wird durch die Grenzlinie (Linea termina-
lis), die vom Promontorium bogenförmig zum
Knochen Oberrand der Symphyse verläuft, gegliedert in
Der Beckengürtel besteht aus – großes Becken oberhalb der Grenzlinie zwi-
1 Kreuzbein (Os sacrum), schen den beiden Darmbeinschaufeln,
2 Hüftbeinen (Ossa coxae) sowie – kleines Becken (= Beckenkanal) mit Becken-
l Steißbein (Os coccygis). eingang und Beckenausgang unterhalb der
Jedes Hüftbein wiederum setzt sich aus drei mit- Grenzlinie.
einander verwachsenen Knochen zusammen: – Die Beckeneingangsebene ist im Stand vorn
– dem Darmbein (Os ilium), nach unten geneigt.
– dem Schambein (Os pubis) und Verbindet man die beiden Sitzbeinhöcker durch
– dem Sitzbein (Os ischii). eine Linie miteinander, entstehen zwei Dreiecke:
– ventral das Trigonum urogenitale für den
Merke Durchtritt der Harn- und Geschlechtsorgane;
Die Hüftgelenkpfanne (Acetabulum) wird – dorsal das Trigonum rectale für den Durch-
von Teilen der Körper aller drei Teilknochen tritt des Rectums (✑ Abb. 5.33).
des Hüftbeines gebildet und besitzt einen
halbmondförmigen Gelenkknorpel. Geschlechtsunterschiede (✑ Abb. 5.32, S. 119)
– Männliches Becken: Untere Schambeinäste
bilden spitzen Winkel. Das männliche Becken
Knochenverbindungen ist hoch, schmal und eng.
• Darmbein-Kreuzbein-Gelenke (Iliosacralge- – Weibliches Becken: Untere Schambeinäste
lenke) verbinden die Hüftbeine im Bereich bilden stumpfwinkligen Bogen. Das weibliche
der Darmbeinschaufeln mit dem Kreuzbein. Becken ist flach, breit und weit.
Wegen der sehr straffen, knappen Gelenkkap-
sel sind praktisch keine Bewegungen möglich. Untere Extremität
Die Gelenke sind wichtig für die Elastizität des Die untere Extremität ist beim Menschen als
Beckens und die Federung der Wirbelsäule. Stützorgan ausgebildet.
Gliederung und Bau:
(✑ Tab. 5.4, S. 122 und
Abb. 5.34)

Alle Beinknochen, au-


großes Becken ßer Fußwurzelknochen,
sind Röhrenknochen.
Der Oberschenkelkno-
chen (Femur) ist der
größte Knochen des
Durchtritt des Rectums Menschen. Sein Kopf
(Trigonum rectale) (Caput femoris) ist
Durchtritt der Harn- und durch den Schenkelhals
Geschlechtsorgane vom Schaft abgespreizt,
(Trigonum urogenitale)
kleines Becken wodurch der Schenkel-
halswinkel (= Kollodia-
Abb. 5.33 Knöchernes Becken. physenwinkel) von ca.
125 ° entsteht.
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 121

Ventralansicht Dorsalansicht
Oberschenkelkopf
(Caput femoris)
Oberschenkelhals großer Rollhügel
großer Rollhügel (Collum femoris) (Trochanter major)
(Trochanter major)
kleiner Rollhügel
(Trochanter minor)

Schaft des
Oberschenkelknochens
(Corpus femoris)

äußerer
innerer Gelenkknorren Obergelenkknorren
(Condylus medialis femoris) (Epicondylus lateralis
femoris)
Kniescheibe
(Patella) innerer äußerer
äußerer Obergelenkknorren Gelenkknorren
Gelenkknorren (Epicondylus medialis femoris) (Condylus lateralis
femoris)
des Schienbeins innerer Gelenkknorren
(Condylus lateralis tibiae) des Schienbeins Gelenkknorren-
Wadenbeinkopf (Condylus medialis tibiae) grube
(Fossa intercondylaris)
(Caput fibulae)
Ansatzstelle des
Kniescheiben-
bandes Das stärkere Schienbein (Tibia)
(Tuberositas tibiae) liegt medial, das schwächere
Wadenbein (Fibula) lateral im
Wadenbeinkörper Unterschenkel. Schienbeinkörper
(Corpus fibulae) (Corpus tibiae)

mittlerer (innerer)
Knöchel seitlicher (äußerer)
(Malleolus medialis) Knöchel
Fußwurzelknochen (Malleolus lateralis)
(Ossa tarsalia)
Malleolengabel

Mittelfußknochen
(Ossa metatarsi)

Zehenknochen
(Ossa digitorum pedis)

Knochen der unteren Extremität. Abb. 5.34


122 5 Stütz- und Bewegungssystem

Tab. 5.4 Untere Extremität – Gliederung und Knochen.

Untere Extremität

Oberschenkel Unterschenkel Fuß (Pes)

1 Oberschenkelknochen 2 Unterschenkelknochen
(Femur) • Schienbein (Tibia)
• Wadenbein (Fibula)

Fußwurzel (Tarsus) Mittelfuß (Metatarsus) Zehen (Digiti)


7 Fußwurzelknochen 5 Mittelfußknochen 14 Zehenknochen
(Ossa metatarsi = Metatarsalia I – V; (Ossa digitorum = Phalanges)
proximale Reihe I = Mittelfußknochen der Großzehe)
• Sprungbein (Talus)
• Fersenbein (Calcaneus)
• Kahnbein (Os naviculare)
distale Reihe
• mediales Keilbein (I)
(Os cuneiforme mediale)
• mittleres Keilbein (II)
(Os cuneiforme intermedium)
• laterales Keilbein (III)
(Os cuneiforme laterale)
• Würfelbein (Os cuboideum)

Fersenbein Fußknochen von oben


(Calcaneus)
Sprungbein
(Talus)

Würfelbein
(Os cuboideum)
Kahnbein
(Os naviculare)
Fußknochen von medial
Keilbeine
(Os cuneiforme mediale,
intermedium, laterale)
Mittelfußknochen Wadenmuskel
(Ossa metatarsi I – V) (M. gastrocnemius)
Schienbein
(Tibia)
Zehenknochen
(Phalanges) Sprungbein
(Talus)
Zehengrundglied Achillessehne
(Phalanx proximalis) (Tendo calcaneus)
Zehenmittelglied Fersenbein
(Phalanx media) (Calcaneus)
Zehenendglied
(Phalanx distalis)
Längsgewölbe des Fußes

Abb. 5.35 Knochen des Fußes.


5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 123

Malleolengabel (= Knöchelgabel)
Den inneren Knöchel der Malleolen-
gabel bildet die Tibia, den äußeren die
Fibula. Aufgrund der Beteiligung von Hüftbein
(Os coxae)
zwei Knochen sind zusätzliche Feder-
wege eingebaut. Hüftgelenkpfanne
(Acetabulum)
Oberschenkelkopf
Knochenverbindungen, Bewegungs- (Caput femoris)
möglichkeiten, Muskeln
Beckengürtel und Bein sind durch drei
große Gelenke verbunden: Hüftgelenkbänder
– Hüftgelenk (Art. coxae), (Ligg. articulatio coxae)
– Kniegelenk (Art. genus) und
– oberes Sprunggelenk (Art. talocru-
ralis).

Hüftgelenk (Art. coxae)


Beteiligte Knochen bzw. Knochenteile Hüftgelenk. Abb. 5.36
des Hüftgelenks sind Hüftgelenkpfanne
mit ausgeprägter Gelenklippe und
kugelförmigem Oberschenkelkopf (= Hüftkopf). • Verstärkung durch 4 kräftige Bänder. Das
Darmbein-Oberschenkelband (Lig. ileofemo-
Merkmale rale) ist das stärkste Band des Menschen.
• Kugelgelenk mit eingeschränkter Beweglich-
keit (Nussgelenk), weil der Hüftkopf von der Kniegelenk (Art. genus)
Hüftpfanne zu zwei Dritteln umschlossen Das Knieglenk ist das größte Gelenk des Men-
wird. Daher geringe Luxationsgefahr und gute schen. Es erlaubt Bewegungen um zwei Haupt-
Knochenführung. achsen. Beteiligte Knochen bzw. Knochenteile
• Weite, derbe Kapsel, die auch den Oberschen- sind Femur-Condylen und Tibia-Condylen sowie
kelhals teilweise mit einschließt. die Patella.

sagittal Oberschenkelknochen Rückansicht


vierköpfiger (Femur)
Oberschenkelmuskel
(M. quadriceps femoris)
vorderes Kreuzband
(Lig. cruciatum anterior)
hinteres Kreuzband
Sehne des (Lig. cruciatum posterior)
M. quadriceps innerer Meniscus
Gelenkkapsel (Meniscus medialis)
(Capsula articularis) Außenband
(Lig. collaterale tibiale)
Kniescheibe
(Patella) äußerer Meniscus
(Meniscus lateralis)
Meniscus
Innenband
(Lig. collaterale fibulare)
Kniekehlenmuskel
(M. popliteus)
Schleimbeutel Schienbein
(Bursa synovialis) Synovial- (Tibia)
membran Wadenbein
(Fibula)

Rechtes Kniegelenk. Abb. 5.37


124 5 Stütz- und Bewegungssystem

– Zehengrundgelenke,
vorderes Kreuzband – Zehenmittelgelenke (außer Groß-
(Lig. cruciatum anterior)
zehe = Hallux, die kein Mittel-
Gelenkflächen gelenk besitzt),
des Schienbeins
– Zehenendgelenke.
äußerer Meniscus Der Fuß besitzt je ein Quer- und
(Meniscus lateralis)
Längsgewölbe, die durch Muskeln
innerer Meniscus
(Meniscus medialis) und Bänder gehalten werden.
hinteres Kreuzband
(Lig. cruciatum posterior)

P Durch schlaffe Bänder, durch
Muskellähmungen und aufgrund
Abb. 5.38 Menisken des rechten Kniegelenks. schlechten Schuhwerks können
Gefügestörungen (= Deformitäten)
auftreten, wie z. B.
Merkmale Senkfuß: Längswölbung abgeflacht
• Drehscharniergelenk. (als Extremform Plattfuß),
• 4 Hauptbewegungen: Extension und Flexion, Hohlfuß: Längswölbung verstärkt,
Außen- und Innenrotation (nur in Beuge- Spreizfuß: Querwölbung abgeflacht.
stellung).
• Ungleichheiten der Gelenkflächen werden Muskulatur und ihre Funktionen
durch zwei halbmond- und keilförmige Die Muskeln im Bereich der Hüftregion ermög-
Menisci (Innen- und Außenmeniscus) ausge- lichen die verschiedensten Bewegungen des
glichen. Jeder Meniscus ist durch kräftige Beines wie Beugen, Strecken, Heranziehen,
Bänder mit der Gelenkkapsel verankert. Spreizen und Rotationen. Der überwiegende Teil
• Stabile Bandführung (z. B. vorderes und hinte- von ihnen zieht über das Hüftgelenk direkt zum
res Kreuzband zwischen den Femurcondylen, Oberschenkel. Andere wiederum verlaufen über
inneres und äußeres Seitenband). das Kniegelenk zum Unterschenkel und ermög-
• Sehr weite Kapsel. lichen so die Bewegung von Hüft- als auch Knie-
gelenk (z. B. Schneidermuskel).

P Das Kniegelenk erleidet häufig Verletzungen,
da es am wenigsten durch Muskelmassen ge- Hüftmuskulatur
schützt ist. Drehungen am Knie bei fixiertem 1. Vordere Muskelgruppe
Unterschenkel (Ski- und Fußballsport) lösen • Darmbein-Lenden-Muskel (M. iliopsoas).
Bandschäden aus. Sturz in senkrechter Rich- Funktion: Flexion im Hüftgelenk.
tung (Absprung) führen zu Tibiakopfbrüchen;
direkte Gewalt (Autoarmaturenaufprall) zu 1) = Darmbein-Lenden-Muskel
Patella- oder supracondylären Femurfrakturen. (M. iliopsoas)

Oberes Sprunggelenk (Art. talocruralis) kleiner Lendenmuskel1)


(M. psoas minor)
Beteiligte Knochen bzw. Knochenteile des obe-
ren Sprunggelenkes sind Sprungbein und Malle- großer Lendenmuskel1)
olengabel. Kräftige Seitenbänder sichern die (M. psoas major)
Scharnierbewegung. Darmbeinmuskel1)
Weitere Knochenverbindungen der Fußwurzel (M. iliacus)
und des Fußes sind Leistenband
(Lig. inguinale)
– unteres Sprunggelenk zwischen Sprung-,
Fersen- und Kahnbein (ermöglicht die Prona- Kammmuskel
(M. pectineus)
tions-/Supinationsbewegungen des Fußes),
– Fußwurzel-Mittelfuß-Gelenke zwischen Fuß-
wurzel und proximalen Enden der Mittelfuß-
knochen, Tiefe Hüftmuskeln. Abb. 5.39
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 125

2. Hintere Muskelgruppe Oberschenkelmuskulatur


• Großer Gesäßmuskel (M. gluteus maximus), 1. Extensorengruppe
• mittlerer Gesäßmuskel (M. gluteus medius), – Vierköpfiger Oberschenkelmuskel (M. qua-
• kleiner Gesäßmuskel (M. gluteus minimus). driceps femoris), besteht aus vier Teilmus-
Funktion: Extension, Abduktion, Adduktion keln (für intramuskuläre Injektionen ist der
im Hüftgelenk. M. vastus lateralis wichtig). Die gemeinsame

kleiner
Lendenmuskel1)
(M. psoas minor)
großer viereckiger
Lendenmuskel1) Lendenmuskel
(M. psoas major) (M. quadratus lumborum)
Darmbeinmuskel1)
(M. iliacus)
großer Gesäßmuskel
Leistenband (M. gluteus maximus)
(Lig. inguinale)
Kammmuskel
(M. pectineus)
langer Anzieher
(M. adductor longus)
schlanker Muskel
(M. gracilis) zweiköpfiger
Schneidermuskel Oberschenkelmuskel
(M. sartorius) (M. biceps femoris)

gerader halbsehniger Muskel


(M. semitendinosus)
Oberschenkel-
muskel2) halbmembranöser
(M. rectus femoris) Muskel
(M. semimembranosus)
äußerer Kniescheibe
Oberschenkel- (Patella)
muskel2)
(M. vastus lateralis)
innerer
Oberschenkel- Zwillings-
muskel2) wadenmuskel
(M. vastus medialis) (M. gastrocnemius)
langer Schollenmuskel
Wadenbein- (M. soleus)
muskel
(M. peroneus longus)
vorderer
Schienbeinmuskel
(M. tibialis anterior) Achillessehne
(Tendo calcaneus)

1) Diese Muskeln bilden den


Darmbein-Lenden-Muskel
(M. iliopsoas).
2) Diese Strecker (Extensoren) und der verdeckte mittlere Schenkelmuskel (M. vastus intermedius) werden unter dem
Begriff vierköpfiger Oberschenkelmuskel (M. quadriceps femoris) zusammengefasst.

Untere Extremität – wichtige Muskeln. Abb. 5.40


126 5 Stütz- und Bewegungssystem

Flexion Extension
im Hüftgelenk im Kniegelenk

Darmbein-
Lenden-Muskel vierköpfiger
(M. iliopsoas) Oberschenkelmuskel
(M. quadriceps femoris)

Flexion Streckbewegung
im Kniegelenk im Hüft- und
Kniegelenk

vierköpfiger
Oberschenkelmuskel
(M. quadriceps femoris)
zweiköpfiger großer Gesäßmuskel
Oberschenkel- (M. gluteus maximus)
muskel
(M. biceps femoris)

Adduktion Dorsal- und


im Hüftgelenk Plantarflexion

Adduktoren
vorderer
Schienbeinmuskel
(M. tibialis anterior)
Zwillingswadenmuskel
(M. gastrocnemius)

Abb. 5.41 Untere Extremität – Bewegungsmöglichkeiten.


5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 127

Deltoideus-Injektion
Einstichstelle:
Deltamuskel oberes mittleres Drittel
(M. deltoideus)

höchster Punkt des intragluteale Injektion


Darmbeinkammes
(Crista iliaca) Einstichstelle
(Methode nach von Hochstetter):
vorderer oberer ventraler Muskelbereich
Darmbeinstachel zwischen dem höchsten
(Spina iliaca anterior Punkt des
superior)
Darmbeinkammes, dem
großer Rollhügel großen Rollhügel und
(Trochanter major)
dem vorderen oberen
Darmbeinstachel

intragluteale Injektion

Darmbeinkamm Einstichstelle
(Crista iliaca) (Crista-Methode nach
Sachtleben):
beim Erwachsenen
3 Querfinger breit caudal
der gedachten Linie
Mitte des
großer Rollhügel Darmbeinkammes und
(Trochanter major)
dem großen Rollhügel

laterale Vastus-Injektion
äußerer Einstichstelle:
Obergelenkknorren Mitte des seitlichen
(Epicondylus lateralis Oberschenkels
femoris)

großer Rollhügel
(Trochanter major)

Intramuskuläre Injektionen – häufigste Verabreichungsorte. Abb. 5.42


128 5 Stütz- und Bewegungssystem

Endsehne des Muskels, in die die Patella als Häufige Weichteilverletzungen des Beines sind:
Umlenkrolle vor dem Kniegelenkspalt ein- – Muskelzerrungen und Muskelfaserrisse. Oft
gelagert ist, setzt an der Tuberositas tibiae betroffen sind M. gastrocnemius und
an. M. quadriceps femoris.
– Schneidermuskel (M. sartorius) – Achillessehnenverletzungen (Teil- oder
Funktion: Bewegung und Haltung im Hüft- komplette Risse).
und Kniegelenk. Typisch für diese Verletzungen sind plötzlich
2. Flexorengruppe auftretende akute Schmerzen und Funktions-
– Zweiköpfiger Oberschenkelmuskel (M. bi- störungen. Durch lockeres Aufwärmen vor
ceps femoris) begrenzt die Kniekehle lateral. sportlicher Betätigung wird der Stoffwechsel
– Halbsehniger Muskel (M. semitendinosus) der Muskulatur aktiviert und die Dehnbarkeit
begrenzt die Kniekehle medial. der Muskelfasern verbessert, sodass das Verlet-
– Halbmembranöser Muskel (M. semimem- zungsrisiko vermindert wird.
branosus) begrenzt die Kniekehle medial.
Funktion: Extension im Hüftgelenk und
Flexion im Kniegelenk. 5.3.5 Kopf (Caput)
3. Adduktorengruppe
– Schlanker Muskel (M. gracilis). Der Kopf (Caput) ist durch den Hals gut beweg-
– Kammmuskel (M. pectineus). lich mit dem Rumpf verbunden. Er befindet sich
– Langer Adduktor (M. adductor longus). mit den wichtigsten Sinnesorganen an oberster
Funktion: Adduktion im Hüftgelenk. Stelle des menschlichen Organismus und hat so
außerordentlich große Bedeutung beim Er-
Unterschenkelmuskulatur kennen der Umwelt.
1. Extensorengruppe (vorn)
– Vorderer Schienbeinmuskel (M. tibialis Schädel (Cranium)
anterior). Der Schädel ist das Knochengerüst des Kopfes.
Funktion: Dorsalflexion (Fußbewegung nach Er dient als Schutz des Gehirns und wichtiger
oben), Anheben der Zehen. Sinnesorgane. Hier beginnen der Verdauungs-
2. Flexorengruppe (hinten) und der Atmungstrakt.
– Dreiköpfiger Wadenmuskel (M. triceps Der Schädel gliedert sich in Gehirnschädel und
surae) über Achillessehne am Fersenbein- Gesichtsschädel.
höcker befestigt. Er gliedert sich in Zwil-
lingswadenmuskel (M. gastrocnemius – Gehirnschädel (Neurocranium)
Caput mediale und laterale) und Schollen- Am Gehirnschädel unterscheidet man das
muskel (M. soleus). Schädeldach, die innere und äußere Schädel-
Funktion: Plantarflexion, Supination des basis und die Schädelhöhle mit dem Gehirn. Bei
Fußes, Flexion im Kniegelenk (nur M. Säuglingen ist der Gesichtsschädel durch die
gastrocnemius). fehlende Kaufunktion (dadurch unvollständig
ausgebildete Kiefer) geringer ausgeprägt.

P Intramuskuläre Injektionen sind tiefe Injek-
tionen in einen Muskel. Dafür gibt es im Wesent- Knochen des Schädeldaches (Calvaria):
lichen drei Verabreichungsorte (✑ Abb. 5.42): – Scheitelbein (Os parietale),
• Deltamuskel (M. deltoideus) an der Außen- – Stirnbein (Os frontale),
seite des Schultergelenks, – Hinterhauptbein (Os occipitale).
• mittlerer Gesäßmuskel (M. gluteus medius)
im Bereich zwischen Darmbeinkamm und Knochenverbindungen
der Verbindungslinie zwischen vorderem Die Knochen des Schädeldaches werden durch
und hinterem oberem Darmbeinstachel, Knochennähte miteinander verbunden. Die
• seitlicher Oberschenkelmuskel (M. vastus wichtigsten sind:
lateralis) auf der Mitte einer gedachten Linie – Kranznaht (Sutura coronalis) zwischen Stirn-
zwischen großem Rollhügel und äußerem bein und Scheitelbeinen,
Obergelenkknorren. – Pfeilnaht (Sutura sagittalis) zwischen den
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 129

Kranznaht
(Sutura coronalis)
Stirnbein Scheitelbein
(Os frontale) (Os parietale)

Lambdanaht
(Sutura lambdoidea)
Tränenbein
(Os lacrimale) Hinterhauptbein
(Os occipitale)
Nasenbein
(Os nasale) Schläfenbein
(Os temporale)
Jochbein
(Os zygomaticum) äußerer Gehörgang
(Meatus accusticus externus)
Oberkiefer
(Maxilla) Warzenfortsatz
(Processus mastoideus)
Griffelfortsatz
Unterkiefer (Processus styloideus)
(Mandibula)

Schädel. Abb. 5.43

Scheitelbeinen,
– Lambdanaht (Sutura lamb-
doidea) zwischen Hinter-
hauptbein und Scheitel- Stirnbein
beinen, (Os frontale)
– Stirnnaht zwischen den Stirn- Scheitelbein
beinen (beim Erwachsenen (Os parietale)
nicht mehr zu erkennen). Schläfenbein
(Os temporale)
Fontanellen Keilbein
Fontanellen sind straffe Binde- (Os sphenoidale)
gewebsverbindungen, die nur Tränenbein
beim Neugeborenen vorhanden (Os lacrimale)
sind. Sie verbinden die Jochbein
(Os zygomaticum)
Schädeldachknochen und er-
möglichen eine Verschiebung Nasenbein
(Os nasale)
der Knochen gegeneinander. Oberkiefer
Dies ist bedeutend für den (Maxilla)
Geburtsvorgang und das Schä-
delwachstum.
Das menschliche Neugeborene
hat 2 unpaarige und 2 paarige Unterkiefer
Fontanellen. (Mandibula)

Unpaarige Fontanellen
– Vordere, große oder Stirn- Schädel (Ansicht von ventral). Abb. 5.44
fontanelle an der Vereinigung
130 5 Stütz- und Bewegungssystem

hintere kleine Fontanelle vordere große Fontanelle

Stirnbein
Scheitelbein

vordere
Seitenfontanelle

Scheitelbein Schläfenbein
Pfeilnaht hintere Seitenfontanelle
Hinterhauptbein Hinterhauptbein

Abb. 5.45 Fontanellen.

von Kranz-, Pfeil- und Stirnnaht. Die rhom- ❑


P Blutungen unter der Kopfschwarte können
benförmige Fontanelle schließt sich bis zum oberhalb oder unterhalb der Knochenhaut lie-
Ende des 2. Lebensjahres. gen.
– Kleine oder Hinterhauptfontanelle an der
Vereinigung von Pfeil- und Lambdanaht. Sie Knochen der Schädelbasis
ist dreieckig geformt und schließt sich bis zum Die Schädelbasis wird aus vier unpaarigen und
Ende des 1. Lebensjahres. einem paarigen Knochen gebildet.
Paarige Fontanellen Unpaarige Knochen
– Vordere Seitenfontanelle zwischen Stirnbein, • Stirnbein (Os frontale),
Scheitelbein und großem Keilbeinflügel. • Keilbein (Os sphenoidale),
– Hintere Seitenfontanelle zwischen Scheitel- • Siebbein (Os ethmoidale),
bein, Hinterhauptsbein und Warzenfortsatz. • Hinterhauptbein (Os occipitale).

P Beim Geburtsvorgang sind die beiden un-
Paariger Knochen
paarigen Fontanellen wichtig. Sie ermöglichen • Schläfenbein (Os temporale).
während der Geburt eine Verformung des Im Felsenbein des Schläfenbeines befinden sich
Schädels beim Durchtritt durch den knöcher- Gehör- und Gleichgewichtsorgan.
nen Beckenring der Mutter.
Innenrelief
Schichten des Schädeldaches Die innere Schädelbasis weist eine Dreiteilung
Das Schädeldach (Calvaria) besteht aus fünf auf.
Schichten (✑ Abb. 5.46): der äußeren Knochen- – Die vordere Schädelgrube wird hauptsächlich
haut (Periost), der äußeren kompakten, der auf- von Stirn- und Keilbein gebildet, liegt am
gelockerten und der inneren kompakten höchsten und beinhaltet die Stirnlappen des
Knochenschicht sowie der harten Hirnhaut. Großhirns.
Mit dem äußeren Periost ist die Kopfschwarte – Die mittlere Schädelgrube wird hauptsächlich
(= funktionelle Einheit von Haut, Unterhaut und vom Keilbein gebildet. Im Türkensattel des
Sehnenhaube) durch Bindegewebe verschiebbar Keilbeines liegt die Hypophyse. Außerdem
verbunden. befinden sich im Bereich der mittleren Schä-
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 131

delgrube Durchtritts-
stellen für Hirnnerven Kopfhaut
sowie seitliche Teile äußere
der Schläfenlappen des Knochenhaut
(Pericranium)
Großhirns und Teile des äußere kompakte
Mittelhirns. Knochenschicht
– Die hintere Schädel- (Lamina externa)
grube wird hauptsäch- aufgelockerte
lich vom Hinterhaupt- Knochenschicht
(Diploe)
bein gebildet; liegt am
innere kompakte
tiefsten, beinhaltet Hirn- Knochenschicht
stamm und Kleinhirn. (Lamina interna)
harte Hirnhaut venöser Blutleiter
Die Grenze zwischen vor- (Dura mater encephali)
derer und mittlerer Schä-
delgrube bilden die Hinter- Schichten des Schädeldaches. Abb. 5.46
kanten der beiden kleinen
Keilbeinflügel. Mittlere
und hintere Schädelgrube
werden durch das Felsenbein getrennt. Die drei großen Knochen sind
– die paarigen Oberkieferknochen (Maxilla),
Gesichtsschädel (Viscerocranium) – der Unterkiefer (Mandibula) und
Der Gesichtsschädel besteht aus 3 großen und – das Stirnbein (Os frontale).
11 kleinen Knochen.

Hahnenkamm
(Crista galli)
vordere
Stirnbein Schädelgrube
(Os frontale)
(Fossa cranii anterior)
Siebbeinplatte
(Lamina cribrosa)
Keilbein
(Os sphenoidale)
Türkensattel
(Sella turcica)
Schläfenbein
(Os temporale)
mittlere
Felsenbein Schädelgrube
(Pars petrosa) (Fossa cranii media)
großes
Hinterhauptloch
(Foramen occipitale
magnum)

Hinterhauptbein
(Os occipitale)
hintere
Schädelgrube
(Fossa cranii posterior)

Schädelbasis. Abb. 5.47


132 5 Stütz- und Bewegungssystem

• 2 Nasenbeinen (Ossa nasalia),


Schläfenbein • 1 Pflugscharbein (Vomer),
(Os temporale)
• 1 Gaumenbein (Os palatinum),
Unterkiefergrube
(Fossa mandibularis) • 1 Siebbein (Os ethmoidale) mit
Gelenkscheibe
den 2 oberen und den 2 mittleren
(Discus articularis) Nasenmuscheln,
• 2 untere Nasenmuscheln.
Gelenkkopf
(Caput mandibulae)
Schädelhöhlen
Gelenkkapsel Zu den Schädelhöhlen gehören die
(Capsula articularis)
Nasenhöhle (Cavitas nasi), die
Warzenfortsatz Augenhöhlen (Orbitae) und die
(Proc. mastoideus)
Mundhöhle (Cavitas oris).
Griffelfortsatz
(Proc. styloideus)
Als Nasennebenhöhlen (Sinus para-
Kronenfortsatz Unterkieferast nasales; ✑ Tab. 5.5) werden luftge-
(Proc. coronoideus) (Ramus mandibulae) füllte Hohlräume in einigen Schä-
delknochen bezeichnet. Sie dienen
Abb. 5.48 Kiefergelenk. der Masseverminderung und als
Resonanzorgan, liegen in unmittel-
barer Nähe der Nasenhöhle und ste-
Der Oberkiefer (Maxilla) steht als größter hen mit ihr in Verbindung.
Knochen des Gesichtsschädels über zahlreiche
Fortsätze mit fast allen anderen Gesichtsschä- ❑ P Schädelmissbildungen sind auf Miss-
delknochen in Verbindung. Er ist an der Bildung bildungen des Gehirns zurückzuführen.
von Mund-, Nasen- und Augenhöhlen beteiligt.
Kiefergelenk (Art. temporomandibularis)
Der Unterkiefer (Mandibula) besteht aus einem Die Gelenkpartner des Kiefergelenkes sind:
u-förmigen Körper, der an den Kieferwinkeln – Unterkiefergrube (Fossa mandibularis) des
jeweils in einen Ast übergeht. Diese Äste enden Schläfenbeins,
mit zwei Fortsätzen, die als Muskelansatz dienen – Gelenkkopf (Caput mandibulare) am Gelenk-
bzw. an der Bildung des Kiefergelenkes beteiligt fortsatz (Proc. condylaris) des Unterkiefers,
sind. – dazwischen die Gelenkscheibe (Discus arti-
cularis), die das Gelenk in zwei Teilgelenke
Merke gliedert.
Die beiden Kiefergelenke wirken bei allen
Der Gesichtsschädel ist über Stirn- und Sieb-
Kieferbewegungen zusammen.
bein mit der Schädelbasis verbunden.
– Scharnierbewegung: Öffnen und Schließen
des Mundes,
Die 11 kleinen Knochen des Gesichtsschädels – Schlittenbewegung: Gleiten des Unterkiefers
setzen sich zusammen aus nach vorn und wieder zurück,
• 2 Jochbeinen (Ossa zygomatica), – Mahlbewegung (Rotation): Seitwärtsbe-
• 2 Tränenbeinen (Ossa lacrimalia), wegungen.

Tab. 5.5 Verbindungen der Nasennebenhöhlen zur Nasenhöhle.


Nasennebenhöhle Verbindung zur Nasenhöhle
Stirnhöhle (Sinus frontalis) im Stirnbein mittlerer Nasengang
Kieferhöhle (Sinus maxillaris) im Oberkiefer mittlerer Nasengang
Keilbeinhöhle (Sinus sphenoidalis) im Keilbein über der oberen Nasenmuschel
Siebbeinzellen (Cellulae ethmoidales) im Siebbein mittlerer und oberer Nasengang
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 133

Stirnmuskel
(M. epicranius)
ringförmiger Schläfenmuskel
Augenmuskel (M. temporalis)
(M. orbicularis oculi) hinterer Sehnen-
Oberlippenheber haubenmuskel
(M. levator labii (M. epicranius)
superioris) großer Jochbein-
Nasenmuskel muskel
(M. nasalis) (M. zygomaticus
major)
Mundringmuskel
(M. orbicularis oris) Kaumuskel
(M. masseter)
Unterlippen-
herabzieher Wangenmuskel
(M. depressor labii (M. buccinator)
inferioris)
zweibäuchiger
Kinnmuskel Muskel
(M. mentalis)
(M. digastricus)
Mundwinkel- Kopfwende-
herabzieher muskel
(M. depressor
(M. sternocleidoma-
anguli oris)
stoideus)

Kopfmuskulatur. Abb. 5.49

Sehnenhaube
(Galea aponeurotica)

Stirnmuskel
ringförmiger (M. epicranius)
Augenmuskel
(M. orbicularis oculi)
kleiner Joch- Nasenmuskel
beinmuskel (M. nasalis)
(M. zygomaticus Oberlippenheber
minor) (M. levator labii
großer Joch- superioris)
beinmuskel
(M. zygomaticus
major) Mundring-
Lachmuskel muskel
(M. risorius) (M. orbicularis oris)
Unterlippen- Kinnmuskel
herabzieher (M. mentalis)
(M. depressor labii Mundwinkel-
inferioris)
herabzieher
(M. depressor
anguli oris)

Gesichts- oder mimische Muskulatur. Abb. 5.50


134 5 Stütz- und Bewegungssystem

Schläfenmuskel
(M. temporalis)
• Kieferschließer –
zieht Unterkiefer zurück


Kaumuskel
(M. masseter)

• Kieferschließer

äußerer Flügelmuskel
(M. pterygoideus lateralis)
• Kieferöffner – zieht Unterkiefer nach vorn

mittlerer Flügelmuskel
➠ ➠ (M. pterygoideus medialis)
• Kieferschließer

Abb. 5.51 Kaumuskulatur.

Merke primären Funktion, die im Erweitern und


Verengen der Körperöffnungen besteht, sekun-
Beim Kauen wirken alle genannten Bewe- där die Bewegung der Gesichtshaut. Dadurch
gungen in komplexer Weise zusammen. Das können Falten und Grübchen hervorgerufen wer-
Kiefergelenk wird deshalb als Dreh-Gleit- den, die die Mimik (individueller Gesichtsaus-
Schiebe-Gelenk bezeichnet. druck) ausmachen.
Wichtige ringförmige mimische Muskeln im

P Wegen der schlaffen Gelenkkapsel besteht Bereich der Körperöffnungen sind:
– der ringförmige Augenmuskel (M. orbicularis
am Kiefergelenk die Gefahr der Verrenkung. oculi) und
– der Mundringmuskel (M. orbicularis oris).
Kopfmuskeln Alle Gesichtsmuskeln werden durch den Gesichts-
Als eigentliche Kopfmuskeln werden die Ge- nerv (N. facialis) innerviert.
sichts- oder mimischen Muskeln sowie die
Kaumuskeln bezeichnet. ❑
P Das Mienenspiel (= unwillkürliche Bewe-
gungen der Gesichtsmuskeln) ist oft Ausdruck
Gesichts- oder mimische Muskeln
der Stimmungslage und Gemütsverfassung. Bei
Die zahlreichen mimischen Muskeln liegen unter
zentraler und peripherer Lähmung der Gesichts-
der Gesichtshaut, teils um die Körperöffnungen
nerven treten charakteristische Ausfälle auf.
(Mund- und Lidspalte bzw. Nasen- und Ohröff-
nung) und bilden die Grundlage der Wangen. Sie
sind meist mit dem einen Ende am Schädel und Kaumuskeln
mit dem anderen in der Gesichtshaut befestigt. Zu den Kaumuskeln im engeren Sinne gehören
Diese Besonderheit ermöglicht neben ihrer 4 Paar große Muskeln:
5.3 Spezielle Knochen- und Muskellehre 135

– der Kaumuskel (M. masseter), Kiefergelenk ein. Daneben gibt es noch weitere
– der Schläfenmuskel (M. temporalis), Muskeln (z. B. die Mundboden- und Halsmus-
– der mittlere Flügelmuskel (M. pterygoideus keln), die indirekt auf das Kiefergelenk wirken.
medialis) und Die Kaumuskeln werden durch den dreiteiligen
– der seitliche Flügelmuskel (M. pterygoideus Nerv (N. trigeminus) innerviert.
lateralis). Funktion:
Diese Muskeln verlaufen vom Schädel zum Die Kaumuskeln dienen der Zerkleinerung der
Unterkiefer und wirken unmittelbar auf das Nahrung.

Fragen zur Wiederholung

1. Unterscheiden Sie aktiven und passiven Bewegungsapparat.


2. Warum sind Knochen Organe?
3. Welche Knochentypen gibt es? – Nennen Sie Beispiele.
4. Beschreiben Sie den Feinbau eines Knochens.
5. Welche Aufgaben hat die Knochenhaut?
6. Wie erfolgt
a) das Längenwachstum,
b) das Dickenwachstum eines Knochens?
7. Charakterisieren Sie kurz die verschiedenen Knochenverbindungen.
Gehen Sie dabei auf das synoviale Gelenk näher ein.
8. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) Discus,
b) Gelenklippe,
c) Meniscus,
d) Muskelfascie,
e) Sehne,
f) Sehnenscheide,
g) Schleimbeutel,
h) Sesambein.
9. Beschreiben Sie den makroskopischen und mikroskopischen Bau eines Skelettmuskels.
10. Beschreiben Sie Kontraktion und Erschlaffung eines Skelettmuskels.
11. Wie kommt die Totenstarre zustande?
12. Unterscheiden Sie isotonische und isometrische Kontraktion.
13. Wie kommt eine Dauerkontraktion (Tetanus) zustande?
14. Was bedeutet, der Muskel geht eine „Sauerstoffschuld“ ein?
15. Nennen Sie die Hauptaufgaben der Wirbelsäule.
16. Nehmen Sie eine Gliederung der menschlichen Wirbelsäule vor.
17. Beschreiben Sie die physiologischen Krümmungen der Wirbelsäule. Welche Bedeutung
haben sie?
18. Welche Aufgaben erfüllen die Rückenmuskeln?
19. Fertigen Sie eine Skizze von einem Brust- oder Lendenwirbel an und beschriften Sie diese.
20. Wo liegen die Bandscheiben und welche Funktion erfüllen sie?
21. Welche Aufgaben hat der Brustkorb? Beschreiben Sie, wie er in seinem Bau diesen Auf-
gaben gerecht wird.
22. Beschreiben Sie den Aufbau des Schultergürtels.
23. Beschreiben Sie Bau und Funktion folgender Gelenke:
a) Schultergelenk,
b) Ellenbogengelenk,
c) proximales Handgelenk.
136 5 Stütz- und Bewegungssystem

Fragen zur Wiederholung

24. Nehmen Sie eine Gliederung des Armes vor und ordnen Sie die entsprechenden Knochen zu.
25. Führen Sie mit Ihrem Arm folgende Bewegungen aus, und benennen Sie die beteiligten
Muskeln:
a) Flexion und Extension.
b) Abduktion und Adduktion.
26. Begründen Sie, warum das Schultergelenk relativ häufig auskugelt.
27. Welche Gebilde befinden sich
a) in der Achselhöhle,
b) in der Ellenbeuge?
28. Skizzieren Sie mit Hilfe von Strichen (= Knochen) und kleinen Kreisen (= Gelenke) ein
Schema vom Handskelett.
29. Begründen Sie die Sonderstellung des Daumens.
30. Nennen Sie die Aufgaben des Beckengürtels.
31. Beschreiben Sie den Aufbau des Beckens als Ganzes.
Unterscheiden Sie männliches und weibliches Becken.
32. Nehmen Sie eine Gliederung des Beines vor und ordnen Sie die entsprechenden Knochen
zu.
33. Vergleichen Sie den Aufbau von Arm- und Beinskelett. Formulieren Sie eine Schluss-
folgerung.
34. Beschreiben Sie Bau und Funktion
a) des Hüftgelenkes,
b) des Kniegelenkes,
c) des oberen Sprunggelenkes.
35. Wo befinden sich
a) Schenkelhals,
b) Malleolengabel?
36. Erkunden Sie am eigenen Arm und Bein die Lage und die Funktion von
a) Flexoren und Extensoren,
b) Abduktoren und Adduktoren.
37. Wo befindet sich die Achillessehne, und welche Aufgabe hat sie?
38. Prägen Sie sich genau die Stellen für intramuskuläre Injektionen ein und beschreiben Sie,
wie man diese lokalisiert.
39. Unterscheiden Sie Kopf und Schädel.
40. Beschreiben Sie den Aufbau des Hirnschädels.
41. Unterscheiden Sie Nähte und Fontanellen. – Nennen Sie deren Aufgaben.
42. Beschreiben Sie den Aufbau des Gesichtsschädels.
43. In welchen Schädelknochen befinden sich Nasennebenhöhlen, und wie heißen diese?
44. Welche mimischen Muskeln kennen Sie?
Welche Bedeutung haben die mimischen Muskeln für die Krankenbeobachtung?
45. Erkunden Sie an sich selbst die in diesem Kapitel genannten tastbaren Knochenpunkte.
137

6 Leibeswand und Beckenboden

Als Leibeswand wird die Begrenzung der Brust-, 6.2 Bauchwand


Bauch- und Beckenhöhle bezeichnet. Im Einzel-
nen werden besprochen: Die Bauchwand umschließt Bauch- und Becken-
• Brustwand, • Bauchwand, höhle. Man unterscheidet vordere-seitliche, hin-
• Leistenregion, • Beckenboden. tere, obere und untere Bauchwand.

Vordere-seitliche Bauchwand
6.1 Brustwand Die vordere und seitliche Bauchwand wird in
neun Regionen unterteilt (✑ Abb. 7.4, S. 146).
Die Brustwand umschließt die Brusthöhle als Sie besteht aus drei Schichten:
eine steife Wand. Dies ist die Voraussetzung für – oberflächliche Schicht; Cutis und Subcutis,
den rhythmischen Wechsel von Unterdruck (zur – mittlere Schicht; 4 paarige Bauchmuskeln und
Einatmung) und Überdruck (zur Ausatmung) in ihre Aponeurosen (breite, flache Sehnen),
der Brusthöhle. Die Skelettelemente sind in – innere Schicht; Fascia transversalis1) und
Abschnitt 5.3.2, S. 109 ff. beschrieben. Bauchfell.
Zu den 4 paarigen Bauchmuskeln zählen der
Muskeln gerade Bauchmuskel (M. rectus abdominis), der
Zwischen den Rippen, also im Bereich der Zwi- äußere schräge Bauchmuskel (M. obliquus exter-
schenrippenräume (Interkostalräume), liegen die nus abdominis), der innere schräge Bauchmuskel
äußeren (Musculi intercostales externi) und die (M. obliquus internus abdominis) und der quere
inneren Zwischenrippenmuskeln (Musculi inter- Bauchmuskel (M. transversus abdominis).
costales interni). Sie haben die Aufgabe, bei der
Ein- und Ausatmung die Rippen zu heben bzw. 1) Faszie zwischen der Innenfläche der Bauchwand und dem
zu senken. Bauchfell

Kopfwendemuskel
(M. sternocleidomastoideus)
kleiner
Brustmuskel
(M. pectoralis minor)

Brustbein
(Sternum) großer
Brustmuskel
(M. pectoralis major)
äußere
Zwischenrippen-
muskeln vorderer
(Mm. intercostales Sägemuskel
externi) (M. serratus anterior)

innere
Zwischenrippen-
muskeln
(Mm. intercostales
interni)

Abb. 6.1 Brustwand.


138 6 Leibeswand und Beckenboden

Rektusscheide Aufgaben
Die Aponeurosen der queren und schrägen – Begrenzung der Bauchhöhle und Anpassung
Bauchmuskeln bilden für die geraden Bauch- an unterschiedliche Volumina der Bauchorgane,
muskeln eine Führungs- und Gleithülle, die Rek- – Bauchpresse zur Druckerhöhung bei Stuhl-
tusscheide genannt wird. gang, Husten, Entbindung,
– Ausatemhilfsmuskel,
– Rumpfhaltung und -bewegung,
Anheben des Beckens – Schutz der Bauchorgane.


P Bauchdeckenreflexe sind wich-
tige Schutzreflexe.
gerade
Bauchmuskeln Hintere Bauchwand
Die hintere Bauchwand wird ge-
bildet von der Lendenwirbelsäule,
Rumpfdrehen dem äußeren schrägen Bauchmus-
kel (M. obliquus externus abdomi-
schräge nis), dem viereckigen Lendenmuskel
Bauchmuskeln
(M. quadratus lumborum), der tie-
fen Rückenmuskulatur (M. erector
Vorneigen
spinae) und dem unteren Teil des
breiten Rückenmuskels (M. latissi-
mus dorsi) (✑ Abb. 5.29, S. 116).

Obere Bauchwand
gerade Bauchmuskeln Die obere Bauchwand ist das
Abb. 6.2 Funktionen der Bauchmuskeln. Zwerchfell (Diaphragma), das sich
kuppelförmig zwischen Brustbein,
den unteren sechs Rippen und der
Lendenwirbelsäule erstreckt. Es
trennt die Brust- von der Bauch-
gerader höhle (✑ S. 143).
Bauchmuskel
(M. rectus abdominis) Untere Bauchwand
querer Der Beckenboden ist die untere Be-
Bauchmuskel
(M. transversus grenzung des Bauchraumes. Die
abdominis) straffen Muskeln des Beckenbodens
innerer schräger halten die Eingeweide (✑ Kap. 6.4).
Bauchmuskel
(M. obliquus internus
abdominis)
äußerer schräger
6.3 Leistenregion
Bauchmuskel (Regio inguinalis)
(M. obliquus externus
abdominis) Die Leistenregion (✑ Abb. 6.5, S.
Leistenband 140) befindet sich im Winkel zwi-
(Lig. inguinale)
schen geradem Bauchmuskel und
Leistenband. Zu ihr gehören das
Leistenband (Lig. inguinale), der
Leistenkanal (Canalis inguinalis)
Muskeln der vorderen und seitlichen und zwei Lücken in der Bauchwand
Abb. 6.3 Bauchwand und Leistenregion. (Lacuna vasorum und muscu-
lorum).
6.3 Leistenregion 139

Leistenband (Ligamentum inguinale)


Das Leistenband erstreckt sich vom
vorderen oberen Darmbeinstachel
(Spina iliaca anterior superior) zum gerade
Schambeinhöcker (Tuberculum pu- Bauchmuskeln
bicum) neben der Symphyse (✑
Abb. 5.32, S. 119). äußere schräge
Es begrenzt somit die Leisten- Bauchmuskeln
gegend gegen den Oberschenkel
und bietet eine zusätzliche Ansatz- innere schräge
Bauchmuskeln
stelle für die Bauchmuskeln.

Leistenkanal (Canalis inguinalis) quere


Bauchmuskeln
Die beiden ca. 4 cm langen Leisten-
kanäle sind schräge Durchtritt- weiße Linie
stellen in der Bauchwand. (Linea alba)

Funktion
Beim Mann verlagert sich kurz vor
der Geburt der Hoden aus der
Bauchhöhle durch den Leistenkanal
in den Hodensack (Descensus
testis). Die geringere Temperatur
außerhalb des Körpers ist für die Schematischer Verlauf der Bauchmuskeln. Abb. 6.4
spätere Funktionsaufnahme eine
unabdingbare Voraussetzung.
Im männlichen Leistenkanal befindet sich der Schwachstellen der Bauchwand
Samenstrang mit Samenleiter, Hodengefäßen Besonders empfindlich ist die Bauchwand in der
und -nerven. Leistengegend oberhalb und unterhalb des Leis-
Der weibliche Leistenkanal enthält das runde tenbandes, in der Nabelregion und den Zwerch-
Mutterband mit Gefäßen, welches vom Uterus fellöffnungen (✑ S. 143).
kommend durch den Leistenkanal zu den großen
Schamlippen zieht. ❑
P An den Schwachstellen der Bauchwand
können Brüche (= Hernien) entstehen. Unter
Lacuna vasorum und musculorum einem Bruch versteht man den Vorfall von
Beide Lücken (oder Fächer) befinden sich Eingeweideteilen, wie Darm, Harnblase, Netz,
unterhalb des Leistenbandes. Ovarien (= Bruchinhalt), in eine Vorbuchtung
Lacuna vasorum: liegt medial, Durchtritt von des Peritoneum parietale (= Bruchsack) durch
A. und V. femoralis, Lymphgefäßen und Nerven. eine Lücke der Bauchwand (= Bruchpforte). Das
Lacuna musculorum: liegt lateral, Durchtritt Peritoneum wird noch von der Haut (= Bruch-
des Hüftlendenmuskels (M. iliopsoas), N. femo- hülle) umgeben.
ralis und N. cutaneus femoris lateralis. Hernien können angeboren oder erworben sein.
Von den vielfältigen Formen der Hernien sind
❑P Bei fehlender (= Bauchhöhlenhoden) oder die Leistenhernien mit ca. 75 % die häufigsten.
unvollständiger (= Leistenhoden) Hodenwan- Hier tritt der Bruchsack mit Bruchinhalt durch
derung in den Hodensack muss dies bis zum den Leistenkanal und kann bis zum Hoden rei-
2. Lebensjahr medikamentös oder operativ chen.
behandelt werden. Die angeborene Leistenhernie tritt bei Jungen
Wird das unterlassen, kann später die Spermio- achtmal häufiger als bei Mädchen auf.
genese (Entwicklung der Samenzellen) gestört
sein, und es besteht ein erhöhtes Krebsrisiko.
140 6 Leibeswand und Beckenboden

äußerer schräger
Bauchmuskel
(M. obliquus externus viereckiger
abdominis) Lendenmuskel
(M. quadratus
lumborum)

äußerer Leistenring
(Anulus inguinalis super-
ficialis)
Darmbeinmuskel
(M. iliacus)
= äußere Öffnung
des Leistenkanals
Leistenband
Samenstrang (Lig. inguinale)
(Funiculus spermaticus)
Oberschenkelarterie Oberschenkelnerv
(A. femoralis)
(N. femoralis)
Oberschenkelvene
(V. femoralis)
Hüftnerv
(N. obturatorius)

Oberschenkelvene
(V. femoralis)

Oberschenkelarterie
(A. femoralis)
Leistenband
(Lig. inguinale)
Muskelfach unter
dem Leistenband innerer
(Lacuna musculorum) Leistenring
(Anulus inguinalis pro-
Gefäßfach unter fundus)
dem Leistenband = innere Öffnung
(Lacuna vasorum) des Leistenkanals
Samenstrang
(Funiculus spermaticus)

Abb. 6.5 Äußere und innere Leistenregion beim Mann.

6.4 Beckenboden – Eine 1 cm dicke Bindegewebs-Muskelplatte


(Diaphragma urogenitale) zwischen den Scham-
Das Zwerchfell begrenzt den Bauchraum nach beinästen, gebildet von den queren Damm-
oben, und der Beckenboden schließt ihn nach muskeln und dem Harnröhrenschließmuskel;
unten ab. Dieser besteht aus den Dammmuskeln – eine innere nach unten gewölbte trichter-
(Mm. perinei) und den dazugehörigen Fascien, förmige Muskelplatte (Diaphragma pelvis) des
die zwei Muskelplatten bilden: Beckenausgangs, gebildet vom Afterheber
6.4 Beckenboden 141

(M. levator ani) und äu-


ßeren Afterschließmuskel. Kitzler äußere
(Clitoris) Harnröhrenöffnung
(Ostium urethrae
Merke externum)
Scheide
Durch den Beckenboden (Vagina)
treten von vorn nach hin- Dammmuskeln
ten die folgenden Organe. (M. transversus perinei)
Bei der Frau: Damm
(Perineum)
Harnröhre, Scheide und
Mastdarm. After
(Anus)
Beim Mann: Afterheber
Harnröhre und Mastdarm. (M. levator ani)
äußerer
willkürlicher
Damm (Perineum) Afterschließmuskel
Als Damm wird die Gegend (M. sphincter
zwischen den äußeren Genital- ani externus)
organen und dem After großer
(Anus) bezeichnet. Er liegt Gesäßmuskel
(M. glutaeus maximus)
bei der Frau als schmaler
Hautbereich zwischen Scheide Beckenboden der Frau. Abb. 6.6
(Vagina) und Anus und beim
Mann als viel breiterer Be-
reich zwischen dem dorsalen
Ansatz des Hodensackes
(Scrotum) und dem Anus.
Penis

P Auf den Damm wirken
Hodensack
während der Geburt starke (Scrotum)
Kräfte, sodass es zu Ver- Dammmuskeln
letzungen vor allem des (Mm. transversus perinei)

Afterhebers (M. levator ani) Damm


(Perineum)
kommen kann und später zu äußerer willkürlicher
Beckenbodenschwäche mit Afterschließmuskel
den möglichen Folgen eines (M. sphincter ani externus)
Gebärmutter- oder Mast- After
darmvorfalls (Prolapsus (Anus)

uteri, Prolapsus recti). Um Afterheber


(M. levator ani)
dem vorzubeugen, wird bei großer
Erstgebärenden und Früh- Gesäßmuskel
geburten bei Bedarf ein (M. glutaeus maximus)
Dammschnitt (= Episio-
tomie) durchgeführt. Beckenboden des Mannes. Abb. 6.7
Aufgaben der
Beckenbodenmuskeln
• Schließen den Beckenbodenraum ab und Beckenraum.
tragen die inneren Organe. • Wirken beim Verschluss von Harnröhre und
• Wirken bei der Bauchpresse und beim Husten After mit. Teile der Beckenbodenmuskulatur
mit. bilden die äußeren willkürlichen Schließmus-
• Sind Teil des Geburtskanals. keln von Harnröhre und After.
• Sichern die Lage der Beckenorgane im • Wirken bei der Verengung der Scheide mit.
142 6 Leibeswand und Beckenboden

Fragen zur Wiederholung

1. Beschreiben Sie den Aufbau der Brustwand.


2. Benennen Sie die wichtigsten Brustmuskeln (mithilfe der Abbildung 6.1, S. 137) und er
klären Sie ihre Aufgaben.
3. Welche Bauchwandabschnitte sind zu unterscheiden, und woraus bestehen sie?
4. Nennen Sie in der richtigen Reihenfolge die Schichten der vorderen Bauchwand.
5. Bestimmen Sie in den Abbildungen 69/S. 102, 6.3/S. 140 und 6.5/S. 142 die Bauch-
muskeln und nennen Sie ihre Aufgaben.
6. Was verstehen Sie unter Rektusscheide? – Begründen Sie ihre Notwendigkeit.
7. Was gehört zur Leistenregion?
8. Wo verlaufen
a) Leistenband und
b) Leistenkanal?
9. Was befindet sich
a) im männlichen und
b) im weiblichen Leistenkanal?
10. Was bedeutet „Descensus testis“?
11. Nennen Sie Schwachstellen der Bauchwand und bestimmen Sie diese in der Abb. 6.3,
S. 138 bzw. 6.5, S. 140.
12. Beschreiben Sie den Aufbau des Beckenbodens.
Welche Organe treten in welcher Reihenfolge hindurch?
13. Was versteht man unter dem Damm? – Beschreiben Sie seine Lage.
14. Nennen und vergleichen Sie die Funktionen von Zwischenrippen-, Bauch-, Rücken- und
Beckenbodenmuskeln.
143

7 Die großen Körperhöhlen

Der von der Leibeswand umschlossene Innen- 7.1 Brusthöhle (Cavitas thoracis)
raum ist die Leibeshöhle. Diese wird durch das
Zwerchfell scharf in Brust- und Bauchhöhle Die Brusthöhle liegt innerhalb des Brustkorbes
getrennt. Im Allgemeinen ist es jedoch üblich, und beherbergt die Brustorgane. Sie wird von
von drei großen Körperhöhlen zu sprechen: außen wie folgt begrenzt:
– der Brusthöhle, • vorn: Brustbein, Rippen,
– der Bauchhöhle und • seitlich: Rippen,
– der Beckenhöhle (kleines Becken). • hinten: Rippen und Brustwirbelsäule,
Zwischen Bauch- und Beckenhöhle gibt es keine • unten: Zwerchfell,
scharfe Grenze. Letztere ist anatomisch gesehen • oben: obere Thoraxöffnung.
ein Teil der Bauchhöhle.
Gliederung und Lage der Brustorgane
Zwerchfell (Diaphragma, ✑ Abb. 11.12, S. 223) Die Brusthöhle wird durch einen Bindegewebs-
Das Zwerchfell trennt als doppelkupplige mus- raum, Mediastinum (Mittelfellraum), in die rech-
kulös-sehnige Platte die Brusthöhle von der te und linke Pleura unterteilt. Jede Pleura enthält
Bauchhöhle. Es gliedert sich in einen sehnigen eine Lunge (✑ S. 223). Im Mediastinum liegt als
Teil (Centrum tendineum) und in drei muskulö- 3. Höhle der Herzbeutel (Perikard) mit dem
se Teile (Brustbein-, Rippen- und Lendenteil). Herzen.
Der sehnige Teil liegt zentral und bildet die rech-
te etwas höher stehende und linke Zwerchfell- Mittelfellraum (Mediastinum)
kuppel mit dem dazwischen liegenden Herzsat- Das Mediastinum ist der mittlere Brustraum. Es
tel. Alles zusammen bildet den horizontalen Teil erstreckt sich vom Sternum bis zu den Brust-
des Zwerchfelles. wirbelkörpern und wird seitlich von den Pleu-
rahöhlen begrenzt. Caudal endet es am Zwerch-
Die Zwerchfellmuskeln entspringen peripher an fell und cranial geht es ohne scharfe Grenze in
der Innenfläche des Schwertfortsatzes und der den Bindegewebsraum des Halses über.
7. – 12. Rippe sowie am 1. – 3. Lendenwirbel
und verlaufen nach oben zum Centrum tendine- Merke
um. Dadurch stülpt sich das Zwerchfell weit in Das Mediastinum ist in erster Linie eine
den Brustraum hinein, und die ihm anliegenden Durchgangsregion für die Luft- und Speise-
Bauchorgane (Leber, Magen, Milz, Nebennieren, röhre sowie Nerven, Blut- und Lymphgefäße.
Nieren) müssen den Auf- und Abbewegungen Es enthält 2 größere Organe: das Herz und
bei der Atmung folgen. Folgende Durchtritt- den Thymus (bildet sich nach der Pubertät
stellen sind wichtig (✑ Abb. 12.7, S. 240): zum thymischen Fettkörper zurück).
– Aortenschlitz (Hiatus aorticus) im Lenden-
teil für die Aorta und den Milchbrustgang
(Ductus thoracicus), Gliederung und Organe
– Speiseröhrenöffnung (Hiatus oesophageus) Das Mediastinum gliedert man in:
im Lendenteil für Speiseröhre und Vagus- Oberes Mediastinum – zwischen Luftröhren-
nerven, gabel (Bifurcatio tracheae) und Hals.
– Hohlvenenöffnung (Foramen venae cavae) Organe:
im Centrum tendineum für die V. cava inferior. • Thymus,
• große Venen (V. cava superior, Vv. brachio-

P Bei Zwerchfellbrüchen (Hiatushernien) tre- cephalicae),
ten Magen- und Darmteile in den Brustraum. • große Arterien (Truncus pulmonalis, Aorten-
bogen mit seinen Abgängen),
144 7 Die großen Körperhöhlen

• Vagusnerven, Zwischen dem Peritoneum parietale und viscera-


• Endabschnitt der Luftröhre, le können sich die Organe verschieben.
• Lymphknoten,
• Teil der Speiseröhre. ❑
P Entzündungen des Bauchfells (Peritonitis)
Unteres Mediastinum – zwischen Bifucatio sind sehr schmerzhaft, weil sie die Gleitfunk-
tracheae und Zwerchfell. Es wird weiter unter- tion beeinträchtigen.
teilt in
• vorderes Mediastinum: zwischen Brustbein und
Herzbeutel (= schmaler bindegewebiger Spalt), Um die einzelnen Organe verschiebbar mitein-
• mittleres Mediastinum: es enthält das Herz mit ander zu verbinden und zu fixieren, bildet das
dem Herzbeutel sowie den Zwerchfellnerv Bauchfell Falten, Taschen, Nischen und Auf-
(N. phrenicus), hängebänder.
• hinteres Mediastinum: es enthält die Speise-
röhre und zahlreiche Leitungsbahnen (u. a. 1. Bauchfellduplikaturen
Vagusnerven, Brustaorta, Brustlymphgang). Das sind dünne Bindegewebsplatten mit Blut-
gefäßen, die mit Bauchfell überzogen sind. Sie
verbinden Leber, Magen, Milz und quer verlau-
7.2 Bauchhöhle fenden Dickdarm untereinander und mit der
(Cavitas abdominalis) Bauchwand.
– Das kleine Netz (Omentum minus) verbindet
Als Bauchhöhle wird der Hohlraum bezeichnet, Magen, Duodenum und Leberpforte.
in dem sich die Bauch- und Beckenorgane be- – Das große Netz (Omentum majus) ist am quer
finden. verlaufenden Dickdarm und der großen
Sie wird folgendermaßen begrenzt: Magenkrümmung befestigt und bedeckt
• vorn: vordere Bauchwand, Rippenbögen, schürzenartig die im Unterbauch liegenden
• seitlich: seitliche Bauchwand, Rippenbögen, Darmabschnitte. Es erfüllt Abwehr-, Resorp-
Darmbeinschaufeln, tions- und Speicherfunktion.
• hinten: Lendenwirbelsäule, hintere Bauch-
wand,
• unten: Beckeneingangsebene (keine schar-
fe Grenze), Magen
• oben: Zwerchfell. (Gaster)
kleines Netz
(Omentum minus)
Die Bauchhöhle ragt weit in den knöchernen
Thorax hinein, sodass die Leber unter dem rech- Leber
(Hepar)
ten und der Magen unter dem linken Rippen- Zwölffingerdarm
bogen liegen. (Duodenum)

7.2.1 Bauchfell (Peritoneum, ✑ Abb. 7.3)


Teil des
Das Bauchfell mit einer Gesamtoberfläche von Mesenteriums mit
ca. 1,6 m2 bildet die innere Begrenzung der Blutgefäßen und
Bauchhöhle. Als seröse Höhle (✑ S. 86) gliedert Lymphknoten
sie sich in: Dünndarm
– wandständiges Bauchfell (Peritoneum parieta- (Intestinum tenue)
le), welches Bauch- und Beckenwand sowie Lymphknoten
die Unterseite des Zwerchfelles bedeckt;
– eingeweideseitiges Bauchfell (Peritoneum
viscerale), welches einen großen Teil der Kleines Netz (Omentum minus),
Bauch- und Beckenorgane umhüllt. von dorsal. Abb. 7.1
7.2 Bauchhöhle (Cavitas abdominalis) 145

2. Bauchfelltaschen
Zu den Bauchfelltaschen gehören großes Netz
– der Netzbeutel (Bursa omenta- (nach oben gelegt)
lis) hinter Magen und kleinem quer verlaufender
Netz; einziger Zugang ist das Grimmdarm
(Colon transversum)
Foramen omentale unten rechts,
– die Excavatio rectouterina absteigender
Grimmdarm
(= Douglas’scher Raum) als der (Colon descendens)
tiefste Punkt des Bauchfells Dünndarmgekröse
zwischen Mastdarm und Ge- (Mesenterium)
bärmutter bei der Frau, Dünndarm
(Intestinum tenue)
– die Excavatio vesicouterina
s-förmiger
zwischen Gebärmutter und Grimmdarm
Harnblase (Frau), (Colon sigmoideum)
– die Excavatio rectovesicalis
zwischen Mastdarm und Harn-
blase (Mann).
Dünndarmgekröse (Mesenterium). Abb. 7.2

P In den Bauchfelltaschen
kann sich bei Entzündungen
und inneren Blutungen Eiter
bzw. Blut ansammeln (z. B. Leber Zwerchfell
(Hepar) (Diaphragma)
bei Douglas-Abszessen).
kleines Netz
3. Gekröse (Omentum minus)
Gekröse sind Bauchfellduplika- Netzbeutel
turen, die durch das Umschlagen (Bursa omentalis)
des Peritoneum parietale von der Bauchspeicheldrüse
(Pankreas)
Körperhöhlenwand auf das Organ
Magen
entstehen. Sie werden mit „Mes“ (Gaster)
plus dem Fachnamen des Organs Gekrösewurzel
bezeichnet, z. B. (Radix mesenterii)
Magen: Mesogastricum, quer verlaufender
Dickdarm: Mesocolon, Grimmdarm
(Colon transversum)
Dünndarm: Mesenterium,
Peritoneum
Eileiter: Mesosalpinx. parietale
Dünndarmgekröse
Merke (Mesenterium)
Die Gekröse haben 2 Haupt- großes Netz
(Omentum majus)
aufgaben:
• Sie enthalten die Blut- und Gebärmutter
(Uterus)
Lymphgefäße sowie vege- Douglas’scher
tative Nerven zur Versor- Raum
gung des Organs. (Excavatio rectouterina)
• Sie dienen der Fixierung Harnblase
bzw. Aufhängung der sack- (Vesica urinaria)
artig umhüllten Organe. Excavatio Scheide Mastdarm
vesicouterina (Vagina) (Rektum)

Medianschnitt durch den weiblichen Bauchraum


mit Verlauf des Bauchfells (grün). Abb. 7.3
146 7 Die großen Körperhöhlen

7.2.2 Lage der Bauchorgane Extraperitoneale Lage


Die Organe haben keine Beziehung zum Perito-
Die Lage der Bauchorgane lässt sich einerseits neum.
durch ihre Beziehung zum Peritoneum und ande- Beispiele:
rerseits aus räumlichen Gesichtspunkten be- Vorsteherdrüse, Samenblasen.
schreiben.
Nach räumlichen Gesichtspunkten wird die
Je nachdem, ob das Organ innerhalb oder außer- Bauchhöhle durch den quer verlaufenden Dick-
halb des Peritoneums liegt, unterscheidet man: darm in Ober- oder Drüsenbauch und Unter-
oder Darmbauch gegliedert.
Intraperitoneale Lage
Die Organe sind vom Peritoneum bis auf ihre Der Raum zwischen Peritoneum parietale und
Mesos umhüllt und somit gut gegeneinander hinterer Bauchwand wird als Retroperitoneal-
verschiebbar. raum bezeichnet. Die Beckenhöhle liegt als
Beispiel: Teil der Bauchhöhle unterhalb der Beckenein-
Leber, Magen, Milz, Darm (ausgenommen: gangsebene und erstreckt sich bis zum Becken-
Duodenum, Colon ascendens und descendens, ausgang.
Rektum), Uteruskörper, Eileiter und Eierstöcke.
Oberbauch (= Drüsenbauch)
Retroperitoneale Lage Die Oberbauchorgane liegen oberhalb des quer
Die Organe sind nur auf einer Seite vom Perito- verlaufenden Dickdarms (✑ Tab. 7.1).
neum bedeckt, d. h., sie liegen zwischen Perito-
neum und hinterer Bauchwand im Retroperito- Unterbauch (= Darmbauch)
nealraum. Die Organe des Unterbauches liegen unterhalb
Beispiele: des quer verlaufenden Dickdarms. Zu ihnen
Nieren, Harnblase, Bauchspeicheldrüse, Duo- gehören der Leerdarm (Jejunum), der Krumm-
denum, Colon ascendens und descendens. darm (Ileum) und der größte Teil des Dickdarmes.

linke
Rippenbogenregion
(Regio hypochondriaca sinistra)
rechte Magengrube
Rippenbogenregion (Regio epigastrica)
(Regio hypochondriaca dextra)
linke Lendenregion
(Regio lateralis sinistra)
rechte Lendenregion
(Regio lateralis dextra) Nabel
(Umbilicus)
Nabelregion
(Regio umbilicalis)
linke Leisten- oder
rechte Leisten- oder Darmbeinregion
Darmbeinregion (Regio inguinalis sinistra)
(Regio inguinalis dextra)
Schambeinregion
(Regio pubica)

Abb. 7.4 Regionen der vorderen und seitlichen Bauchwand.


7.2 Bauchhöhle (Cavitas abdominalis) 147

Lage der Bauchorgane. Tab. 7.1


Oberbauchorgane Lage
Magen (Ventriculus, Gaster) 3/4 unter dem linken Rippenbogen,
1/4 in der Magengrube (Regio epigastrica)
Zwölffingerdarm (Duodenum) oberhalb der Nabelgegend
Bauchspeicheldrüse (Pankreas) zwischen Magen- und Nabelgegend
Milz (Lien) linke Rippenbogengegend (durch Magen und Darm verdeckt)
Leber (Hepar) rechte Rippenbogengegend (rechter Lappen) und
in der Magengrube (linker Lappen)


P Unter einem „akuten Bauch“, wie er in der
Klinik genannt wird, werden akute und oft
Leber
lebensbedrohliche Erkrankungen der Bauch- (Hepar)
höhle verstanden, die umgehend ärztliches Magen
Eingreifen erfordern. Als Ursachen kommen (Gaster)
z. B. infrage: Darmverschluss (Ileus), Blutun-
Grimmdarm
gen, Organperforationen und Infektionen. (Colon)
Leerdarm
Typische Leitsymptome sind (Jejunum)
– harte Bauchdecke,
– starke Schmerzen,
– Übelkeit, Erbrechen, Krummdarm
– evtl. Fieber. (Ileum)

Retroperitonealraum
Der Retroperitonealraum liegt zwischen Perito-
neum parietale und hinterer Bauchwand. Nach
caudal reicht er bis zum Beckeneingang. Er ist Intraperitoneale Organe. Abb. 7.5
wie das Mediastinum, die seitliche Halsgegend
und die Achselhöhlen eine wichtige Durchgangs-
und Verteilungsregion für Gefäße und Nerven.
Bauch-
Seine Begrenzungen sind speicheldrüse
(Pankreas)
• vorn: Peritoneum parietale, Niere
• hinten: hintere Bauchwand, (Ren)
• oben: Zwerchfell, Zwölffinger-
• unten: Beckeneingang. darm
(Duodenum)

Organe untere
Hohlvene
Der Retroperitonealraum beherbergt folgende (V. cava inferior)
Organe: Bauchaorta
– Nieren (Renes) zwischen 12. Brust- und 3. Len- (Pars abdominalis
denwirbel beidseits der Lendenwirbelsäule; aortae)

– Harnleiter (Ureter) links und rechts der Len- Harnleiter


(Ureter)
denwirbelsäule; Harnblase
– Nebennieren (Glandulae suprarenales) auf den (Vesica urinaria)
oberen Nierenpolen;
– Bauchaorta (Pars abdominalis aortae) links Organe im Retroperitonealraum. Abb. 7.6
von der Lendenwirbelsäule;
148 7 Die großen Körperhöhlen

– untere Hohlvene (V. cava inferior) rechts der 7.3 Beckenhöhle


Lendenwirbelsäule;
– Lymphstämme beidseits der Bauchaorta; Der Raum im kleinen Becken wird als Becken-
– Lymphknotengruppen längs der großen Ge- höhle bezeichnet. Sie liegt zwischen Beckenein-
fäße und gangsebene und Beckenboden.
– Nervengeflechte vom Hiatus aortae bis zur
Aortengabel. Begrenzung
• seitlich und vorn: Hüftbeine,
Merke • hinten: Kreuz- und Steißbein,
Retroperitonealraum und Mediastinum sind • unten: Beckenboden,
wichtige Durchgangs- und Verzweigungs- • oben: Beckeneingangsebene.
regionen für Gefäße und Nerven.
Organe (= Beckenorgane)
Mann/Frau: Harnblase (hinter Symphyse), Mast-
darm (vor Kreuz- und Steißbein),
Frau: Eierstöcke, Eileiter, Gebärmutter,
Scheide,
Mann: Samenleiter, Samenblasen, Vor-
steherdrüse.

Fragen zur Wiederholung

1. Welche Körperhöhlen werden von der Leibeswand umschlossen?


2. Wie heißt die Grenze zwischen Brust- und Bauchhöhle?
3. Wie wird die Brusthöhle begrenzt?
4. Nehmen Sie eine Gliederung der Brusthöhle vor, und ordnen Sie die entsprechenden
Organe zu.
5. Was verstehen Sie unter dem Mediastinum? Wie wird es gegliedert?
6. Wie wird die Bauchhöhle begrenzt?
7. Beschreiben Sie Bau, Verlauf und Aufgaben des Bauchfells.
Nennen Sie die wichtigen Bildungen des Bauchfells und deren Bedeutung.
8. Wo befindet sich der Douglas’sche Raum und welche Bedeutung hat er?
9. Was verstehen Sie unter dem Mesenterium?
10. Was ist der Retroperitonealraum?
Wo liegt er?
11. Nennen und erläutern Sie die Lagebeziehung der Organe zum Bauchfell.
12. Wie wird die Beckenhöhle begrenzt?
13. Nehmen Sie eine Gliederung in Oberbauch-, Unterbauch- und Beckenorgane vor.
14. Auf welche Regionen der vorderen Bauchwand projizieren sich die Bauch- und Becken-
organe? – Fertigen Sie eine Skizze an.
149

8 Hals (Collum)

Der Hals (Collum) verbindet den Kopf mit dem – Trapezmuskel (M. trapezius) als oberflächli-
Rumpf. Er gewährleistet die relativ freie Be- cher Halsmuskel.
weglichkeit des Kopfes als eine wichtige Vor-
aussetzung für die Orientierung im Raum. Unter dem M. trapezius liegt eine Vielzahl tiefer
Halsmuskeln, die teilweise auf den Kopf bzw.
Rumpf übergehen.
8.1 Bau (✑ Abb. 8.1) Speise- und Luftröhre bilden die Grenze zwi-
schen vorderen und hinteren Halsmuskeln. Zu
Der Hals besteht aus der dorsal gelegenen, sehr den vorderen Halsmuskeln zählen z. B. der
gut beweglichen Halswirbelsäule, den Hals- flächige Hautmuskel (Platysma), der Kopfwen-
muskeln, den Halseingeweiden mit Luftröhre demuskel (M. sternocleidomastoideus) und der
(✑ S. 219), Speiseröhre (✑ S. 239), Rachen Schlüsselbein-Zungenbein-Muskel (M. sterno-
(✑ S. 214), Kehlkopf (✑ S. 216), Schilddrüse hyoideus). Zu den hinteren Halsmuskeln ge-
und Nebenschilddrüsen (✑ S. 301) sowie den hören u. a. die Gruppe der Treppenmuskeln (Mm.
beiden Gefäß-Nerven-Strängen. scaleni), die auch als Atemhilfsmuskeln fungie-
ren, und der Trapezmuskel (M. trapezius).
Am Hals sind folgende Teile äußerlich zu erken-
nen bzw. zu tasten: Die Halsmuskeln ermöglichen
• Vordere Halsgegend – Hautbewegungen (Hauthalsmuskel),
– Zungenbein (Os hyoideum) = – Hals- und Kopfbewegungen
einziger Knochen ohne Verbindung mit einem (Kopfwender, Treppenmuskeln),
anderen Knochen, – Kauen und Schlucken,
– Drosselgrube (über dem Manubrium sterni), – Kehlkopfbewegungen.
– Schildknorpel („Adamsapfel“),
– Ringknorpel,
– Schilddrüse, 8.2 Leitungsbahnen
– Hauthalsmuskel (Platysma), eine breite, dünne
Muskelplatte, die die Gesichtshaut mit der 1. Arterien (✑ Abb. 9.28, S. 182)
oberen Brusthaut verbindet und die Haut des Vom Aortenbogen kommend durchqueren links
Halses spannt. und rechts zwei große Arterien den Hals.
– Die rechte und linke gemeinsame Halsarterie
• Seitliche Halsgegend (A. carotis communis dextra und sinistra),
– Halsschlagader-Dreieck (Trigonum caroticum) welche sich jeweils in eine innere und äußere
→ Puls der A. carotis communis, Kopfarterie (A. carotis interna und externa)
– Kopfwendemuskel (M. sternocleidomastoideus), teilen, und
– äußere Drosselvene (V. jugularis externa). – die rechte und linke Schlüsselbeinarterie
(A. subclavia dextra und sinistra).

P Die V. jugularis externa ist für intravenöse Beachte: Hals- und Schlüsselbeinarterie ent-
Injektionen gut geeignet. springen links getrennt aus dem Aortenbogen,
Alle Hautvenen stehen unter dem Sog des Brust- rechts mit einem gemeinsamen Stamm, dem
raumes, sodass bei ihrer Öffnung die Gefahr Truncus brachiocephalicus.
der Luftembolie besteht. Die rechte und linke Wirbelarterie (A. vertebra-
lis) entspringen aus der rechten bzw. linken
• Hintere Halsgegend (= Nackengegend) Schlüsselbeinarterie, verlaufen in den Querfort-
– Dornfortsätze der Halswirbel, wichtig: satzlöchern der Halswirbel und gelangen durch
C7 als Tastpunkt (Zählwirbel ✑ S. 105), das große Hinterhauptloch in die Schädelhöhle.
150 8 Hals (Collum)


P Bei degenerativen Veränderungen der Hals- Merke
wirbelsäule mit Einengung der Querfortsatz- Der Hals ist neben Achselhöhle und Leisten-
löcher können infolge Minderdurchblutung gegend eine weitere wichtige Lymphknoten-
des Innenohres Gleichgewichts- (Schwindel) station.
und Hörstörungen auftreten.

Bei Schlag gegen den Hals oder überempfind- Die Halslymphknoten werden in oberflächliche
lichem Karotissinus1) kann es durch Reizung und tiefe unterteilt. Aus den tiefen Halslymph-
der Pressorezeptoren zu plötzlichem Blut- knoten gelangt die Lymphe rechts in den Ductus
druckabfall mit Ohnmachtsanfall (Synkopen) lymphaticus dexter und links in den Ductus
kommen. thoracicus.

In der Wand der A. carotis communis befinden 4. Nerven


sich zwei Stellen mit Sinneszellen. Für Nerven ist der Hals ebenfalls Durchgangs-
• Sinus caroticus (Karotissinus) mit Presso- und Verteilerregion. Sie bilden mit den Gefäßen
rezeptoren zur Blutdruckerfassung (= kleine den Gefäß-Nerven-Strang, bestehend aus
Erweiterung nahe der Teilungsstelle in A. caro- A. carotis communis, V. jugularis interna und
tis interna und externa). N. vagus.
• Glomus caroticum mit Chemorezeptoren zur
Messung von pO2, pCO2, pH-Wert (Körper- Im Hals liegen:
chen im Teilungswinkel der A. carotis com- – 4 Hirnnervenpaare (Hirnnerven IX bis XII,
munis). ✑ S. 356 – 357 und Abb. 17.20, S. 355),
– Halsnervengeflecht (✑ S. 357),
2. Venen – Armnervengeflecht (✑ S. 357),
Außer den Hautvenen durchziehen den Hals als – Halssympathicus (liegt hinter dem Gefäß-
Begleitvenen der großen Arterien die V. subcla- Nerven-Strang; ✑ S. 365).
via und V. jugularis interna (gehört zu den
stärksten Venen des Menschen). Beide Venen
bilden die sog. Venenwinkel, in die die Lymph-
stämme einmünden (✑ Abb. 9.37, S. 189).


P V. subclavia und V. jugularis interna eignen
sich sehr gut für intravenöse Infusionen (zent-
raler Venenkatheter), da es kaum Strömungs-
hindernisse gibt, der Weg zum Herzen nur kurz
und ein Katheter hier gut verschiebbar ist.

3. Lymphgefäße und Lymphknoten (✑ Abb.


9.37, S. 189)
Im Hals treffen die Lymphbahnen von Kopf,
Hals und Rücken sowie der Arme und Brust-
wand zusammen. Deshalb sind der vordere und
seitliche Halsbereich regelrecht mit Lymph-
knoten durchsetzt.

1) Erweiterung der A. carotis communis an ihrer Teilungsstelle


8.2 Leitungsbahnen 151

Zungenbein
(Os hyoideum)
Hauthalsmuskel Schildknorpel
(Platysma)
Ringknorpel
linke gemeinsame
Halsarterie
(A. carotis communis
Luftröhre sinistra)
(Trachea) mittlerer
rechte gemeinsame Treppenmuskel
Halsarterie (M. scalenus medius)
(A. carotis communis dextra) Armgeflecht
rechte Wirbelarterie (Plexus brachialis)
(A. vertebralis dextra) linke
innere Drosselvene Schlüsselbeinarterie
(V. jugularis interna) (A. subclavia sinistra)

äußere Drosselvene linke


(V. jugularis externa) Schlüsselbeinvene
(V. subclavia)
rechte
Schlüsselbeinvene vorderer
(V. subclavia) Treppenmuskel
(M. scalenus anterior)
obere Hohlvene
(V. cava superior) 1. Rippe
Arm-Kopf-Vene
(V. brachiocephalica)

zweibäuchiger
Muskel
Griffel-Zungenbein- (M. digastricus)
muskel Trapezmuskel
(M. stylohyoideus) (M. trapezius)
Zungenbein hinterer
(Os hyoideum)
Treppenmuskel
Schlüsselbein- (M. scalenus posterior)
Zungenbein-Muskel mittlerer
(M. sternohyoideus)
Treppenmuskel
Kopfwendemuskel (M. scalenus medius)
(M. sternocleidomastoideus)
vorderer
Gefäß- und Treppenmuskel
Nervenlücke (M. scalenus anterior)
(Hiatus scaleni)

Hals (Gefäße, Muskeln). Abb. 8.1


152 8 Hals (Collum)

Fragen zur Wiederholung

1. Welche Teile sind am Hals äußerlich zu erkennen?


Ertasten Sie diese an sich selbst.
2. Was gehört zum Gefäß-Nerven-Strang des Halses?
3. Welche praktische Bedeutung haben V. jugularis externa und V. subclavia?
4. Was versteht man unter den Venenwinkeln?
5. Begründen Sie, warum viele Bestandteile des Halses übergreifende Aufgaben haben.
6. Wo kann man den Puls zuverlässig tasten?
153

9 Kreislaufsystem

Das Herz-Kreislaufsystem, auch kardiovaskulä- 9.2 Das Blut


res System genannt, ist als Einheit von drei
Systemen aufzufassen: dem Blut als Transport- Menge und Zusammensetzung
mittel, dem Herzen als Pumpe und den Gefäßen Das Blut ist ein flüssiges Gewebe und besteht zu
(Arterien, Venen, Lymphgefäße, Kapillaren) als ca. 45 % aus Blutkörperchen (= Blutzellen, ge-
Leitungsröhren bzw. Stätten des Stoffaus- formte Bestandteile) und zu ca. 55 % aus Blut-
tausches. plasma (= gelbliche, klare Flüssigkeit).
Der Erwachsene besitzt 4 – 6 Liter Blut, das ent-
Merke spricht 6 – 8 Prozent der Körpermasse.
Durch das Kreislaufsystem werden alle
• rote Blutzellen
Organe des Organismus miteinander ver- Blutzellen (45 %; (Erythrozyten)
bunden. Blutkörperchen, • weiße Blutzellen
feste Bestandteile) (Leukozyten)
Blut • Blutplättchen
(Thrombozyten)
9.1 Aufgaben (Überblick)
Blutplasma (55 %; • Blutwasser
Das Kreislaufsystem hat folgende Funktionen: flüssiger • Plasmaeiweiße
1. Transportfunktion Bestandteil) • Plasmaelektrolyte
– Versorgung der Zellen mit lebensnotwendi-
gen Stoffen (z. B. Sauerstoff, Kohlenhydrate,
Fette, Eiweiße, Vitamine, Wasser, Mineralien),
– Entsorgung der Zellen von Stoffwechsel- 9.2.1 Blutzellen (Blutkörperchen)
endprodukten (z. B. CO2, Harnstoff).
2. Koordinationsfunktion Blut enthält beim Mann 46 % und bei der Frau
– Transport von Botenstoffen (z. B. Hormonen) 41 % Blutkörperchen. Dieser Wert wird Häma-
vom Bildungs- zum Wirkungsort. tokrit (Hk) genannt (= Volumenanteil der Blut-
3. Temperaturregulation zellen am Gesamtblutvolumen).
– Wärmetransport von den stoffwechselakti-
ven Organen (z. B. der Leber) zur Haut. 1 mm3 Blut des Gesunden enthält:
4. Blutverteilung • 4,5 – 5 Mio. rote Blutkörperchen
– Bedarfsgerechte Verteilung des vorhande- (Erythrozyten),
nen Blutvolumens auf die einzelnen Kreislauf- • 4.000 – 10.000 weiße Blut-
abschnitte. körperchen (Leukozyten).
Davon sind
5. Vermittlung des Stoffaustausches ca. 67 % Granulozyten,
– Vermittlung des Stoffaustausches zwischen ca. 27 % Lymphozyten,
Zelle und Umwelt und der damit verbundenen ca. 6 % Monozyten und
Homöostase des inneren Milieus (✑ S. 28). • 150.000 – 300.000 Blutplättchen
6. Schutzfunktion (Thrombozyten).
– Blutstillung zur Vermeidung von Infektionen
und Blutverlusten. 5% 1%
7. Abwehrfunktion 94 %
– Abwehr von Krankheitserregern.

Prozentualer Anteil der Blutzellen. Abb. 9.1


154 9 Kreislaufsystem

Bildung und Abbau ❑


P Bei Anämien sind Erythrozytenzahl, Hämo-
Die Blutzellen werden im roten Knochenmark globinkonzentration und/oder Hämatokrit ver-
gebildet (beim Fetus zunächst in Milz, Leber, mindert.
Mesenchym und Knochenmark).
Aus den dort befindlichen Stammzellen ent-
wickeln sich über verschiedene Zwischenstufen
die reifen Zellen, wie wir sie im strömenden Blut
vorfinden. Der Abbau erfolgt vor allem in der
Leber und Milz.
Draufsicht

Stammzellen der
Erythrozyten
Querschnitt
Stammzellen der
Granulozyten
Rote Blutzellen (Erythrozyten). Abb. 9.3
Retikulumzelle

Knochenmark- Die Lebensdauer der Erythrozyten beträgt 100


riesenzellen
(Megakaryozyten) Knochen- bis 120 Tage. Mit zunehmendem Alter nimmt
bälkchen ihre Elastizität ab. Sie werden dann in Leber,
Milz und Knochenmark abgebaut. In nur
1 Sekunde müssen 2.400 Erythrozyten neu
Abb. 9.2 Rotes Knochenmark. gebildet werden. Ihre Hauptfunktion ist der
Sauerstofftransport.

Weiße Blutzellen (Leukozyten)


Rote Blutzellen (Erythrozyten) Die Leukozyten erfüllen hauptsächlich Abwehr-
Die roten Blutzellen sind bikonkave Scheiben aufgaben. Ihre Zahl im Blut wechselt in Abhän-
(d = 7,5 m), die von einer hauchdünnen Zell- gigkeit von der Tageszeit und dem Funktions-
membran begrenzt werden. Dadurch ist eine Ober- zustand des Organismus sehr stark.
flächenvergrößerung und eine bessere Verform- Im Blut befinden sich ca. 5 % der Leukozyten,
barkeit gegeben. Durch die Verformung in den 95 % sind auf die übrigen Gewebe verteilt. Ein
engen Kapillaren wird wiederum die O2-Abgabe großer Teil hält sich im Knochenmark (ca. 33 %)
erleichtert. Es fehlen Zellkern und Zellorga- und in den lymphatischen Organen (Thymus,
nellen. Der Erwachsene besitzt etwa 30.000 Milz, Lymphknoten, Mandeln) auf.
Milliarden rote Blutzellen. Diese bestehen zu ca. Die kernhaltigen Leukozyten sind vielgestaltige
1/3 aus Hämoglobin (= roter Blutfarbstoff) zur Zellen. Ihre Lebensdauer beträgt wenige Stun-
reversiblen O2-Bindung, enthalten Enzyme, z. B. den (Granulozyten) bis Jahre (Lymphozyten;
Karboanhydrase, und sind Träger von Blut- ✑ auch Kap. 9.3.4, S. 158).
gruppensubstanzen (= hochmolekulare Verbin-
dungen aus Aminosäuren und Kohlenhydraten).
Hämoglobingehalt des Blutes: ❑
P Bei bestimmten Erkrankungen kommt es zu
• Frauen: 7,45 – 10,1 mmol/l = 12 – 16 g/dl, einem deutlichen Anstieg (= Leukozytose)
• Männer: 8,70 – 11,2 mmol/l = 13 – 18 g/dl. bzw. einer Verminderung (= Leukopenie) der
Leukozyten. Das Differentialblutbild gibt
Wegen der fehlenden Zellorganellen können sich die Häufigkeit der einzelnen Leukozyten-
Erythrozyten nicht teilen und nur anaerob formen an. Das Verteilungsmuster lässt Rück-
Energie freisetzen. schlüsse auf Diagnose und Verlauf von Krank-
heiten zu.
9.2 Das Blut 155

Leukozyten

Monozyten Granulozyten Lymphozyten

großer Lymphozyt
eosinophiler basophiler

neutrophiler

kleiner Lymphozyt
stabkerniger segment-
kerniger

Weißes Blutbild. Abb. 9.4

Blutplättchen (Thrombozyten) • endoplasmatisches Retikulum,


Die kernlosen Thrombozyten (d = 2 – 4 μm) Serotoninspeichergranula und Enzyme zur
gehen aus dem Zytoplasma der Knochenmark- Blutstillung,
riesenzellen (Megakaryozyten) des roten • Mikrotubuli zur Stabilisierung ihrer Form,
Knochenmarks hervor. Sie verbleiben 7 bis 14 • Aktomyosinsystem zur Kontraktilität und da-
Tage im Blut und werden dann meist in der Milz mit Haftung am Endothel.
abgebaut.
Die Thrombozyten enthalten zahlreiche Zell- Die Thrombozyten sind maßgeblich an der Blut-
organellen, z. B.: stillung beteiligt.
• Mitochondrien,

großer Lymphozyt
basophiler Granulozyt
kleiner Lymphozyt
Thrombozyten
Erythrozyt

eosinophiler Granulozyt segmentkerniger,


neutrophiler Granulozyt

stabkerniger, Monozyt
neutrophiler Granulozyt

Differentialblutbild unter dem Mikroskop. Abb. 9.5


156 9 Kreislaufsystem

9.2.2 Blutplasma • Nährstoffe


– Glucose als Transportform der Kohlen-
Das Blutplasma ist eine Lösung mit ausgezeich- hydrate,
neten Fließeigenschaften. Es erfüllt überwiegend – freie Fettsäuren als Transportform der Fette,
Transportaufgaben. Die gelbliche Farbe ist vor – freie Aminosäuren als Transportform der Ei-
allem auf den Gehalt von Bilirubin zurückzu- weiße.
führen, ein Abbauprodukt des Hämoglobins. Für • Stoffwechselprodukte wie
die Zusammensetzung sind in erster Linie die – Cholesterol, – Bilirubin, – Fructose,
Leber als Bildungsort der Plasmaeiweiße und die – Milchsäure, – Pyruvat, – Harnstoff,
Niere als Effektorgan zur Regulation des inneren – Harnsäure.
Milieus verantwortlich. • Wirkstoffe wie
– Hormone, – Vitamine,
Zusammensetzung – Enzyme, – Medikamente.
• Wasser (90 %). Der hohe Wasseranteil ermög-
licht z. B. den Transport der mit der Nahrung Merke
im Darm aufgenommenen Nährstoffe, Vitamine
und Salze zu den Körperzellen. Normalwerte im Blutplasma
• Plasmaproteine • Glucose: 3,5 – 5,5 mmol/l
– Albumine (ca. 59 % der Plasmaproteine). Sie = 80 – 100 mg/100 ml
spielen eine wichtige Rolle als Transport- • Cholesterol: 4,7 – 6,5 mmol/l
proteine. So werden z. B. Eisen, Calcium, • Eiweiß: 66 – 87 g/l
Thyroxin und Penicillin an Albumine gebun-
den und im Blut transportiert. Außerdem ❑
P Die quantitative Bestimmung der einzelnen
sind sie wichtig bei der Aufrechterhaltung Komponenten des Blutplasmas ermöglicht
des kolloid-osmotischen Druckes (✑ S. 33). wesentliche Einsichten bei vielen Krankhei-
– Immunglobuline (ca. 40 % der Plasmapro- ten (z. B. Zuckerkrankheit und Schilddrüsen-
teine). Es handelt sich um die wichtigste funktionsstörungen).
Gruppe der Globuline. Man unterscheidet
IgG (sprich Immunglobulin G), IgA, IgM,
IgD, IgE. Die Immunglobuine werden auch als
Antikörper bezeichnet. Sie spielen eine wich- 9.3 Physiologie des Blutes
tige Rolle im Abwehrsystem des Menschen.
– Fibrinogen und Prothrombin sind an der Die Hauptaufgabe des Blutes ist die Vermittlung
Blutgerinnung beteiligt. des Stoffaustausches zwischen Umwelt und
• Plasmaelektrolyte: z. B. Na+, K+, Ca2+, Mg2+, Zelle zur Konstanthaltung des inneren Milieus
Cl-, HPO42- (✑ Kap. 2.1.2, S. 18). (✑ S. 28).

Tab. 9.1 Bestandteile des Blutes (Übersicht).


9.3.1 Transportfunktion
Erythrozyten
Blutzellen Leukozyten Die Transportfunktion ist eine der wichtigsten
Thrombozyten Funktionen des Blutes (✑ auch 11.3.3, S. 229).
Blut Die Aufgaben im Einzelnen sind:
Prothrombin – Transport von Glucose, Fett- und Aminosäu-
Blutplasma Fibrinogen
Blutserum
ren, Vitaminen und Elektrolyten vom Darm in
die einzelnen Organe,
– Sauerstofftransport von der Lunge zu den Zel-
Merke len,
– Transport von Stoffwechselendprodukten (z. B.
Plasmaeiweiße und Plasmaelektrolyte sind die Kohlendioxid, Harnstoff, Harnsäure) zu den
eigentlichen Funktionsstoffe des Blutplasmas. Ausscheidungsorganen Lunge, Niere und Haut,
9.3 Physiologie des Blutes 157

– Transport von Wärme entsprechend des Tem- Nachphase: Fibrinfäden ziehen sich zusam-
peraturgefälles, men (Retraktion), sodass sich die Wundränder
– Transport von Hormonen und anderen Wirk- einander nähern. Gleichzeitig entsteht aus
stoffen vom Bildungs- zum Wirkungsort zur allen geformten Bestandteilen der Blut-
chemischen Steuerung des Organismus und kuchen (= roter Thrombus). Dabei wird Serum
– Transport von Arzneiwirkstoffen. abgepresst.

Merke
9.3.2 Blutstillung (Hämostase)
Die Blutungszeit beträgt 1 bis 3 Minuten, die
Gerinnungszeit 3 bis 5 Minuten.
Die Blutstillung umfasst alle Vorgänge, die zwi-
schen dem Entstehen und dem Verschluss einer Serum ist Plasma minus Fibrinogen.
Wunde ablaufen. Sie erfolgt nur in mittleren und
kleinen Gefäßen. In größeren Gefäßen wird der Phasen der Blutgerinnung bei
entstehende Thrombus (= Blutpfropf) immer wie- kleineren und mittleren Gefäßen. Tab. 9.2
der weggespült.
Gewebeverletzung
Die Blutstillung verläuft in zwei Schritten.
1. Vorläufiger Wundverschluss (primäre Hämo-
stase)
Nach Verletzung eines Gefäßes laufen fol- Vorphase Thromboplastin
(Thrombokinase)
gende Vorgänge ab:
– Thrombozyten lagern sich an der defekten
Stelle an und verkleben. Sie bilden einen
Thrombozytenpfropf (= weißer Thrombus).
1. Phase Prothrombin Thrombin
– Gleichzeitig setzen die Thrombozyten ge-
fäßverengende Stoffe (z. B. Serotonin) frei.
– Außerdem rollt sich die Innenschicht des
verletzten Gefäßes ein. 2. Phase Fibrinogen Fibrin
Die letzten beiden Vorgänge begünstigen die
Verschlussfähigkeit. Daher kann die Blutung
bereits gestillt sein (Blutungszeit), obwohl die
Gerinnung noch nicht abgeschlossen ist Nachphase Blutkuchen
(roter Thrombus)
(Gerinnungszeit).

2. Endgültiger Wundverschluss (= eigentliche Unter dem Schutz des Blutkuchens können sich
Blutgerinnung, sekundäre Hämostase) die zerstörten Gewebe wieder regenerieren. Die
Die Blutgerinnung beginnt etwa zur gleichen Blutgerinnung erfolgt normalerweise nur im
Zeit wie die primäre Hämostase und ist der Wundbereich, weil im strömenden Blut die Kon-
wichtigste Prozess der Blutstillung. zentration der gerinnungsaktiven Stoffe zu nied-
Vorphase: Gewebeverletzung und/oder Ober- rig ist und Antithrombin die Gerinnung stoppt.
flächenkontakt führen zur Bildung von Throm-
boplastin (= Thrombokinase).
1. Phase: Das in der Leber mithilfe von Vit-

P Heparin steigert die Antithrombinwirkung
amin K gebildete inaktive Prothrombin wird und wirkt deshalb gerinnungshemmend. Die
in wenigen Sekunden durch Thromboplastin, extravasale Blutgerinnung bei Blutentnahme
Ca2+ und weitere Faktoren in aktives Throm- wird durch Stoffe verhindert, die die auf
bin überführt. vielen Stufen des Gerinnungsprozesses notwen-
2. Phase: Das Thrombin wandelt das lösliche digen Ca2+-Ionen binden, wie z. B. Lösungen
ebenfalls in der Leber gebildete Fibrinogen in von Na-Citrat.
unlösliches fadenförmiges Fibrin um. Normalerweise gerinnt das Blut in unverletzten
Gefäßen nicht.
158 9 Kreislaufsystem

Nur unter bestimmten Bedingungen (z. B. Ver- 9.3.4 Blut und Immunsystem2)
änderungen der Intima1), verminderte Strö-
mungsgeschwindigkeit des Blutes, abnorme 1. Abwehrmechanismen (Überblick)
Blutzusammensetzung) bilden sich ausnahms- Jeder Organismus ist normalerweise in der
weise Gerinnsel in den Gefäßen. Lage, mithilfe seines Immunsystems körper-
Bewirken können diese Gerinnsel z. B. fremde Stoffe (z. B. Krankheitserreger oder
– Thrombose, – Embolie, andere Schadstoffe) zu erkennen und abzu-
– Herzinfarkt – Schlaganfall. wehren.
Die häufigste Veränderung der Intima der Arte- Zu diesem Zweck besitzt er verschiedene unspe-
rien ist die Arteriosklerose. Sie ist gekenn- zifische und spezifische Abwehrmechanismen,
zeichnet durch unphysiologische Fett- und wobei die Abwehr aus mehreren Stufen besteht
Kalkeinlagerungen. Dies führt zu Elastizitäts- (✑ Tab. 9.4).
verlust und Einengungen, im Extremfall bis
zum völligen Gefäßverschluss (arterielle Ver- Merke
schlusskrankheit). Unspezifische Abwehrmechanismen sind
Trotz der weiten Verbreitung sind die Ursachen gegen alle Erregerarten gerichtet, spezifische
bis heute nicht genau bekannt. Risikofaktoren nur gegen eine einzige. Beide besitzen je-
sind auf jeden Fall Rauchen, hoher Blutdruck, weils eine humorale3) und zelluläre Kompo-
hoher Cholesterinspiegel und Diabetes mellitus. nente.

9.3.3 Fibrinolyse 2. Anatomische Grundlagen


Zu den anatomischen Grundlagen der Abwehr
Fibrinolyse ist die enzymatische Auflösung eines gehören die Organe des äußeren Schutzwalls
Thrombus. Unter Einwirkung von Blut- und (Haut, Schleimhaut), die verschiedenen Leuko-
Gewebsaktivatoren entsteht aus inaktivem Plas- zyten des Blutes, die lymphatischen Organe
minogen aktives Plasmin. Das Fibrin wird durch sowie der Blut- und Lymphkreislauf.
Plasmin zu löslichen Peptiden und Aminosäuren
abgebaut. a) Äußerer Schutzwall
Der äußere Schutzwall wird gebildet von
Tab. 9.3 Fibrinolyse. – der äußeren Haut. Besonders ihr mehr-
schichtiges verhorntes Plattenepithel sowie
Verschiedene Aktivatoren die säurehaltigen Sekrete der Schweiß- und
(z. B. Urokinase, Streptokinase) Talgdrüsen stellen eine wirksame Barriere
für Bakterien und Viren dar;
Plasminogen Plasmin – den Schleimhäuten. Eingedrungene Krank-
heitserreger und andere Schadstoffe kleben
Fibrin lösliche Peptide am Schleim fest und werden für Verdauungs-
enzyme zugänglich (Verdauungstrakt) oder
mithilfe des Flimmerepithels und Husten-
Merke reflexes in den Rachen transportiert;
Blutgerinnung und Fibrinolyse stehen norma- – den Säuren. Säuren wirken keimhemmend
lerweise im Gleichgewicht. oder keimtötend,
• Magensäure im Magen,
• Fettsäuren im Talg,

P Im Uterus sorgt eine hohe Konzentration an • Milchsäure in der Scheide und im Schweiß.
Gewebsaktivatoren für Verflüssigung des
Menstrualblutes.
Blutungsneigung entsteht bei verminderter
Gerinnung und/oder gesteigerter Fibrinolyse, 1) Intima = Innenschicht der Blutgefäße
Thromboseneigung bei umgekehrten Ver- 2) immun = unempfindlich
3) humoral = an Flüssigkeit gebunden
hältnissen.
9.3 Physiologie des Blutes 159

Einteilung der Abwehrmechanismen. Tab. 9.4

Abwehrmechanismen

unspezifische (allgemeine) Abwehr spezifische (erlernte) Abwehr

äußerer humorale1) zelluläre humorale zelluläre


Schutzwall Abwehr Abwehr Abwehr Abwehr
• äußere Haut • Komplement- • Phagozyten • Antikörper • T-Effektor-
• Schleimhäute system zellen
• Magensäure • Lysozym
• Milchsäure • Interferone
der Vagina • Inhibine
(Hemmstoffe) 1) humoral = an Flüssigkeit gebunden

Merke weglich und zur Phagozytose relativ großer


Partikel im Gewebe fähig. Aus den Mono-
Der äußere Schutzwall ist die erste Barriere, zyten entstehen die Gewebsmakrophagen
die von einem Krankheitserreger überwun- (z. B. Histiozyten, Kupffer’sche Sternzellen
den werden muss. Seine Wirksamkeit wird der Leber).
entscheidend bestimmt von der Intaktheit der
äußeren und inneren Körperoberflächen
(Häute und dazu gehörende Drüsen). Er Merke
gehört zum unspezifischen Abwehrsystem. Neutrophile Granulozyten werden als Mikro-
phagen, Monozyten und ihre Abkömmlinge
b) Leukozytenarten und ihre Bedeutung im als Makrophagen bezeichnet.
Abwehrsystem
– Granulozyten. Die Granulozyten haben ihren – Lymphozyten. Die Lymphozyten nehmen eine
Namen aufgrund der vorhandenen Körnchen Schlüsselstellung im Abwehrsystem (spezifi-
(= Granula =∧ Lysosomen). Nach der Färbbar- sche Abwehr) ein. Etwa 25 – 40 % der Leuko-
keit der Granula werden sie in drei Gruppen zyten sind Lymphozyten. Davon befinden
eingeteilt (✑ Tab. 9.5). sich ca. 99 % in den lymphatischen Organen
– Monozyten. Monozyten sind die größten und Geweben. Lymphozyten besitzen zahlrei-
Blutzellen (d = 20 m). Sie stellen 4 – 6 % che Ribosomen für die Eiweißsynthese.
der Leukozyten dar. Wie die neutrophilen Tabelle 9.6 gibt einen Überblick über die
Granulozyten sind sie sehr gut amöboid be- wichtigsten Formen der Lymphozyten.

Granulozyten. Tab. 9.5


Granulozyten Anteil amöboide eiweiß- Funktion
Beweglichkeit: abbauende
Phagozytose Enzyme
1. Eosinophile 2 – 4% ja ja Phagozytose von Antigen-
(große Granula) Antikörper-Komplexen; Elimi-
nierung körperfremder Eiweiße.
2. Basophile 0,5 – 1% – – Wenig bekannt, enthalten
(kleinste Granulozyten) Heparin, Histamin, Serotonin.
3. Neutrophile 55 – 70% sehr gut ja Zur Diapedese (Wanderung
vom Blut ins Gewebe) befähigt;
unspezifische Abwehr.
160 9 Kreislaufsystem

Tab. 9.6 Lymphozytenformen. Zunächst werden 2 Arten von Lymphozyten


unterschieden, die T-Lymphozyten und die B-
Lymphozyten. Beide Lymphozytenarten gehen
undifferenzierte
Stammzellen aus sog. Prä-B- und Prä-T-Lymphozyten hervor,
die in der fetalen und frühkindlichen Entwicklung
im roten Knochenmark gebildet werden. Ein Teil
Prä-B- und Prä-T- dieser Zellen gelangt mit dem Blut in den Thymus
Lymphozyten und wird hier zu T-Lymphozyten geprägt.
Ein weiterer Teil erhält seine Prägung vermutlich
im roten Knochenmark bzw. dem lymphatischen
B-Lymphozyten T-Lymphozyten Gewebe des Darmtraktes. Später werden die B-
und T-Lymphozyten vor allem in der Milz und in
den Lymphknoten gebildet und gelangen von da
T-Regulatorzellen T-Effektorzellen
aus in das Blut und die Lymphe.

T-Helferzellen T-Suppressorzellen
c) Lymphatisches System
Das lymphatische System ist der hauptsäch-
liche Träger der spezifischen Abwehr.
z. B. zytotoxische Zellen Es wird gebildet
(= T-Killerzellen); – vom Lymphgefäßsystem (✑ S. 187) und
vernichten Zellen – den lymphatischen Organen.
regulieren ohne Beteiligung von
Immunreaktion Antikörpern

Rotes Knochenmark
Lymphozyt Thymus

Lymphozyten

Blutgefäß

lymphatisches
Lymphknoten Gewebe des Darmes

weiße Milz
(Pulpa)

Lymphozyten

Blutgefäß

Prägung der T- und B-Lymphozyten im Kindesalter (oben) und


Abb. 9.6 Erwachsenenalter (unten).
9.3 Physiologie des Blutes 161

Zu den lymphatischen Organen retikuläres


gehören: Bindegewebe
• Thymus, mit Lymphozyten
• Milz,
• Lymphknoten,
• Mandeln,
• Lymphozytenansammlungen
in den Schleimhäuten, vor allem
Darm- und Bronchialschleim- Thymus
haut. Lunge
Herz
Thymus
Bau
Der Thymus besteht aus zwei
Thymus bei einem Neugeborenen. Abb. 9.7
Lappen (jeweils 2 x 5 cm), die
wiederum in Läppchen gegliedert
sind. Er wird von einer bindege-
webigen Kapsel begrenzt. In dem Umfang, wie sich der Thymus zu-
Bei Kindern ist der Thymus relativ am größten rückbildet, werden die Prägungen von „Null-
(Masse 30 bis 40 Gramm). Nach der Pubertät zellen“ in T-Lymphozyten von den sekundären
bildet er sich zum thymischen Fettkörper zurück. lymphatischen Organen (Milz und Lymph-
knoten) übernommen.
Lage
Der Thymus liegt im oberen Mediastinum direkt Milz (Lien, Splen)
hinter dem Brustbein. Nachbarorgane sind vorn Bau
das Brustbein, seitlich die Pleura mediastinalis Die Milz ist von einer derben bindegewebigen
und hinten die V. cava superior, V. brachiocepha- Kapsel umgeben, von der aus ein – ebenfalls aus
lica sowie der Aortenbogen. straffem Bindegewebe bestehendes – Balken-
werk das Organ durchzieht. Das zwischen den
Aufgaben Balken liegende Milzgewebe heißt Pulpa. Man
Der Thymus ist das primäre lymphatische Organ. unterscheidet:
In der Fetalzeit und frühen Kindheit wandern aus – Weiße Pulpa (ca. 15 %); Sie wird gebildet aus
dem roten Knochenmark die Prä-T-Lympho- retikulärem Bindegewebe mit reichlich
zyten in die Thymusrinde. Dort teilen sie sich Lymphozyten (= lymphatisches Gewebe).
mitotisch und gelangen allmählich in das Mark. Letzteres finden wir in Gestalt der lymphati-
Dabei werden sie verändert (z. B. bezüglich schen Begleitscheide um die Zentralarterie mit
Enzymausstattung); das bedeutet, sie erhalten hauptsächlich T-Lymphozyten und der Milz-
ihre Immunkompetenz. Die so geprägten reifen knötchen (= Lymphknötchen) mit B-Lympho-
Thymus-Lymphozyten (= T-Lymphozyten) ver- zyten. Es handelt sich hier um rundliche An-
lassen auf dem Blutweg den Thymus und siedeln sammlungen von Lymphozyten;
sich sekundär in den T-Lymphozyten-Regionen – rote Pulpa; sie wird gebildet von erweiterten
der anderen lymphatischen Organe an, z. B. Blutkapillaren, den sog. Milzsinus, mit zahl-
Milz- und Lymphknoten. reichen Erythrozyten.

Der Thymus bildet das Hormon Thymosin, das Form, Größe, Masse
die zelluläre Immunabwehr aktiviert. Die Milz hat die Gestalt einer großen Kaffee-
bohne. Sie ist etwa 12 cm lang, 7 cm breit und
4 cm dick. Ihre Masse beträgt 150 bis 200 Gramm.
162 9 Kreislaufsystem

Bindegewebskapsel
Milzbalken hinterer Pol
(Extremitas posterior)
rote Pulpa
(Milzsinus)

Magenfläche
(Fascies gastrica)
Schnittrand
des Lig.
gastrolienale
Milzvene
(V. splenica)
Milzarterie
(A. splenica)
Bauchspeichel-
drüsenfläche
(Fascies pancreatica)
Balkenvene
Balkenarterie rote Pulpa
(Milzsinus) Schnittrand
Pulpavene weiße Pulpa1) des Lig.
Pulpaarterie phrenicolienale
vorderer Pol
(Extremitas anterior)
1) Pulpaarterie mit Lymphscheide (T-Lymphozyten)
und Milzfollikel (B-Lymphozyten) bilden die Grimmdarmfläche
weiße Pulpa (Fascies colica)

Abb. 9.8 Milz.


P Bei Erkrankungen des lymphatischen Sys- • ist wichtigstes Speicherorgan für Lymphozyten,
• essentielles Immunorgan für Pneumokokken.
tems kann sich die Masse der Milz auf mehre-
re Kilogramm erhöhen. Sie ist dann unter dem
Merke
linken Rippenbogen tastbar.
Eine normal große Milz ist in der Regel nicht Die Milz ist in ihrer Abwehrtätigkeit für die
palpabel. gesamte Blutbahn zuständig.

Lage Die rote Pulpa steht im Dienst des Blutkreislau-


Die faustgroße Milz liegt intraperitoneal tief im fes. In ihr werden gealterte unelastische Erythro-
linken Hypochondrium, eingeschmiegt in die zyten und Thrombozyten von Makrophagen ab-
Zwerchfellwölbung. Die Längsachse verläuft gebaut (= Blutmauserung). Das dabei frei wer-
parallel zur 10. Rippe. dende Hämoglobin gelangt über die Pfortader in
Nachbarorgane: Magen, Bauchspeicheldrüse und die Leber. Dort wird es zu Gallenfarbstoffen ab-
linke Niere. gebaut. Außerdem werden von den Uferzellen in
den Milzsinus Bakterien und andere Schadstoffe
Aufgaben phagozytiert.
Als lymphatisches Organ (weiße Pulpa) hat die
Milz folgende Aufgaben: Die Aufgaben der roten Pulpa können bei Aus-
• Sie bildet Lymphozyten und Abwehrstoffe fall der Milz von der Leber und vom Knochen-
(prägt in hohem Maße T-Lymphozyten), mark übernommen werden.
9.3 Physiologie des Blutes 163

zuführendes Lymphgefäß Lymphgefäßklappen


marknahe Abschnitte
der Rindenschicht
(= parakortikale Zone)
Randsinus mit T-Lymphozyten
Bindegewebsstrang
Bindegewebskapsel

Rindensinus Lymphfollikel
= Lymphknötchen
Lymphknötchen
= Lymphfollikel Rinde
(B-Lymphozyten)
Mark mit Marksinus
Vene Bindegewebs-
stränge
Arterie
abführendes
Lymphgefäß
Hilus

Lymphknoten. Abb. 9.9

Lymphknoten (Nodus lymphaticus) Lage


Bau (Abb. 9.9) Die Lymphknoten sind in das Lymphgefäßsys-
Die rundlich bis bohnenförmigen Lymphknoten tem eingeschaltet (✑ Abschnitt 9.5.3, S. 187).
haben einen Durchmesser von 1 mm bis 2,5 cm. Sie liegen in Gruppen. Jede Lymphknotengruppe
Sie werden, wie die Milz, außen von einer aus wird von der Lymphe aus ganz bestimmten
straffem Bindegewebe bestehenden Kapsel be- Körperregionen durchströmt. Klinisch bedeu-
grenzt. Von dieser Kapsel verlaufen Bindege- tungsvoll sind vor allem die regionären Lymph-
websstränge in das Innere und bilden ein grobes knoten, weil sie die erste „Filterstation“ der
Gerüstwerk. Lymphe aus einer bestimmten Körperregion
Mehrere zuführende Lymphgefäße treten in den sind.
Lymphknoten ein. Über sie gelangt die Lymphe
in die erweiterten spaltförmigen Lymphbahnen Wichtige regionäre Lymphknoten sind:
(Rand-, Rinden- und Marksinus) des Lymph- • Achsellymphknoten für Arm, Brustwand
knotens. und Rücken;
• Leistenlymphknoten für Bein, Bauchwand
Ein abführendes Lymphgefäß am Hilus 1) leitet die und Gesäß;
Lymphe wieder heraus. In der Randzone (Rinde) • Halslymphknoten für den Kopf.
befinden sich Anhäufungen von B-Lympho-
zyten. Diese rundlichen Strukturen werden als Meistens durchströmt die Lymphe auf ihrem Weg
Lymphknötchen (= Lymphfollikel) bezeichnet. zum Blut nach den regionären Lymphknoten
An der Grenze zum Mark liegen Ansammlungen noch ein oder mehrere Gruppen von Sammel-
von T-Lymphozyten. lymphknoten. Wichtige Sammellymphknoten
liegen im Hals für Kopf, Hals, Arme, Brustwand
1) Hilus (Pl. Hili) = Vertiefung an der Oberfläche eines und Rücken sowie an der hinteren Bauchwand
Organs, verursacht durch Gefäßein- und -austritte
für Beine, Bauchwand, Gesäß, Becken- und
Bauchorgane.
164 9 Kreislaufsystem


P Die Kenntnis der Abflussgebiete zu bestimm-
ten regionalen Lymphknoten hat klinische
Bedeutung für die Diagnostik und Therapie-
Tubenmandel kontrolle von Tumoren und Entzündungen.
(Tonsilla tubaria)
Aus den entsprechenden Gebieten gelangen
Rachenmandel Entzündungszellen bzw. Tumorzellen in die
(Tonsilla pharyngea)
Lymphbahnen und werden in den Lymph-
Öffnung der knoten zurückgehalten. Infiltrierte Lymph-
Ohrtrompete
knoten sind vergrößert und oft tastbar.
Seitenstrang
Als Lymphographie bezeichnet man die
Zunge röntgenologische Darstellung der Lymphgefä-
(Lingua)
ße und Lymphknoten mittels Kontrastmittel.

Aufgaben
• Lymphknoten sind die „Filterstation“ der
Lymphe. Im Lymphsinus ist die Strömungsge-
schwindigkeit der Lymphe vermindert. Da-
durch haben die dort vorhandenen Uferzellen
(✑ S. 165) ausgiebigen Kontakt und können
zusammen mit den Retikulumzellen Zell-
trümmer, Bakterien, Staub- und Rußteilchen
phagozytieren. Auch Krebszellen werden zu-
rückgehalten, so dass Lymphknotenmetastasen
vorderer entstehen können.
Gaumenbogen • Prägung von B- und vor allem T-Lymphozyten
hinterer für die spezifische Immunabwehr (✑ S. 166).
Gaumenbogen • Speicherung von Lymphozyten. Die Lympho-
Gaumenmandel zyten halten sich in der Regel mehrere Stun-
(Tonsilla palatina) den in einem lymphatischen Organ auf. Danach
begeben sie sich für 30 bis 45 Minuten ins
strömende Blut und gelangen dann erneut in
ein lymphatisches Organ zurück.

Lymphfollikel (= Lymphknötchen)
Als Lymphknötchen werden größere Ansamm-
Zunge lungen von B-Lymphozyten bezeichnet. Sie
(Lingua) kommen in allen lymphatischen Organen – außer
Thymus – und im Darm (= Peyer’sche Plaques)
vor.
Zungenmandel
(Tonsilla lingualis) Tonsillen (Mandeln)
Unter Tonsillen versteht man das lymphatische
Gewebe im Rachenbereich.
Alle Tonsillen bilden den lymphatischen Ra-
Gaumenmandel
chenring (Waldeyer’scher Rachenring). Er stellt
(Tonsilla palatina) einen vorgeschalteten Immunapparat dar, der das
Abwehrsystem gewissermaßen ökonomisiert. In
der Schleimhaut sitzen Makrophagen und versu-
chen, die Antigene abzufangen. Anschließend
Tonsillen bilden den wandern sie in das Innere der Tonsille zu den
Abb. 9.10 lymphatischen Rachenring. dort vorwiegend vorhandenen B-Lymphozyten.
9.3 Physiologie des Blutes 165

Zu den Tonsillen gehören b) Lysozym (= Muramidase)


– die paarigen Gaumenmandeln (Tonsilla pala- Lysozym ist ein bakterizid (Bakterien abtötend)
tina) zwischen vorderem und hinterem Gau- wirkendes Enzym, das die Zellwände der Bakte-
menbogen, rien auflöst. Es befindet sich in Phagozyten und
– die paarigen Ohrtrompetenmandeln (Tonsilla wird bei ihrem Zerfall freigesetzt. Weiterhin ist
tubaria) um die Öffnungen der Ohrtrompeten, es in Körpersekreten wie Tränenflüssigkeit und
– die unpaarige Rachenmandel (Tonsilla pha- Bronchialschleim enthalten.
ryngea) am Rachendach, c) Interferone
– die unpaarige Zungenmandel (Tonsilla lin- Interferone werden von virusinfizierten Zellen
gualis) am Zungengrund, gebildet. Sie verhindern die Vermehrung der
– die „Seitenstränge“ – lymphatisches Gewebe Viren in der Wirtszelle.
in Schleimhautfalten, die vom jeweiligen
Tubenwulst abwärts laufen. 2. Unspezifische zelluläre Abwehr
Die unspezifische zelluläre Abwehr erfolgt
Die Lymphknötchen der Tonsillen stehen meist durch Phagozyten (Freßzellen). Sie nehmen die
in enger Beziehung zum Deckepithel der Fremdstoffe in sich auf und bauen sie mithilfe
Schleimhaut. ihrer Enzyme ab. Zu den Phagozyten gehören
– Mikrophagen, vor allem neutrophile Granulo-

P Da sich der lymphatische Rachenring am zyten: Sie versuchen, jeden körperfremden
Eingang des Luft- und Verdauungsweges be- Stoff zu eliminieren;
findet, wird er mit Krankheitserreger überladen. – Makrophagen: Monozyten und alle phagozy-
Deshalb sind bei Kindern die Tonsillen oft tierenden Zellen, die sich aus ihnen rekrutie-
vergrößert (hypertrophiert), da gegen viele Er- ren, nämlich
reger erst eine Abwehr aufgebaut werden muss, • Histiozyten im lockeren Bindegewebe;
die bei Erwachsenen schon vorhanden ist. • Uferzellen in Lymphknoten, Milz, Knochen-
Die Tonsillen sind häufig entzündet (Angina). mark;
• Sternzellen in den Lebersinus;
• Osteoklasten im Knochen;
• Langerhans-Zellen der Haut;
9.3.5 Unspezifische und spezifische humorale • Mesangiumzellen der Nieren und
und zelluläre Abwehrmechanismen • Alveolarmakrophagen der Lunge.

1. Unspezifische humorale Abwehr


Dieser Abwehrmechanismus basiert auf Stoffen, neutrophiler Granulozyt
die entweder im Blut enthalten sind oder von ge-
schädigten Zellen (z. B. virusinfizierten Zellen)
Erkennung + Bindung
gebildet werden.
a) Komplementsystem
Hierbei handelt es sich um ca. 20 verschiedene Antigen
Glykoproteine, die in einer ganz bestimmten
Reihenfolge nacheinander reagieren. Ihre Akti- Aufnahme
vierung erfolgt z. B. durch Antigen-Antikörper-
Komplexe, Viren oder Bakterien. Danach kommt
es zu den verschiedenartigen Abwehrreaktionen:
– Zerstörung der Biomembranen von Erregern, Fusion mit Lysosomen
– Anregung der Makrophagen zur Phagozytose,
– Lyse von Antigen-Antikörper-Komplexen u. a.

Merke
Auflösung + Abbau
Das Komplementsystem ist das wichtigste un-
spezifische humorale Abwehrsystem. Phagozytose. Abb. 9.11
166 9 Kreislaufsystem

Die Makrophagen phagozytieren am lebhaftes- Antigen-Antikörper-Komplexe (= Immunkom-


ten. Darüber hinaus geben sie wichtige Infor- plexe);
mationen über die Zusammensetzung des Erre- – im Antigen-Antikörper-Komplex sind bereits
gereiweißes an die Lymphozyten weiter und sti- viele Antigene wirkungslos. Die Komplexe
mulieren diese. werden in der Regel rasch beseitigt, z. B. durch
Phagozytose oder das Komplementsystem.
3. Spezifische humorale Abwehr
Gegen eine ganze Reihe von Erregern (z. B. Merke
bestimmte Streptokokken, Staphylokokken,
Viren) sind die beschriebenen unspezifischen Kernpunkt der spezifischen humoralen Ab-
Abwehrmechanismen unwirksam. Diese Krank- wehr ist die Bildung spezifischer Antikörper,
heitserreger können nur durch spezifische Ab- die zu einer Antigen-Antikörper-Reaktion
wehrmechanismen bekämpft werden. Die spezi- führen und die Antigene durch Agglutination
fische Abwehr beginnt mit der Phagozytose der (Verklumpung), Lyse (Auflösen) oder Präzi-
Erreger durch Makrophagen, z. B. in der Milz pitation (Ausfällen) unschädlich machen.
oder den Lymphknoten.
Im Ergebnis der Auseinandersetzung des Makro-
phagen mit dem Erreger lagert er die Antigene1)

P In einigen Fällen können die Immunkom-

an seine Zelloberfläche. Man sagt: Der Makro- plexe nicht abgebaut werden. Sie setzen sich
phage präsentiert die Antigene den Lympho- dann in bestimmten Organen (z. B. Niere, Ge-
zyten. Die Antigenpräsentation bewirkt je nach lenke) fest und rufen dort Entzündungen her-
Beschaffenheit des Antigens entweder eine vor.
Beteiligung der B- oder T-Lymphozyten.
4. Spezifische zelluläre Abwehr
Im Fall der spezifischen humoralen Abwehr Für die spezifische zelluläre Abwehr sind die
spielen die B-Lymphozyten die zentrale Rolle. T-Lymphozyten verantwortlich.

Folgende Vorgänge spielen sich ab: Folgende Vorgänge spielen sich ab:
– T-Helferzellen heften sich an die Antigene und – Die vom Makrophagen präsentierten Antigene
stimulieren die B-Lymphozyten; des Erregers aktivieren die T-Lymphozyten;
– die aktivierten B-Lymphozyten teilen sich in – die aktivierten T-Lymphozyten teilen sich in
• B-Plasmazellen und • T-Helferzellen,
• B-Gedächtniszellen; • T-Suppressorzellen (= T-Unterdrückerzellen),
– die B-Plasmazellen produzieren antigenspezi- • T-Effektorzellen (= T-Killerzellen);
fische Antikörper2) (= Immunglobuline); – die spezifischen T-Effektorzellen lagern sich an
– die spezifischen Antikörper reagieren mit den die infizierten Zellen und zerstören sie mithilfe
Antigenen, gegen die sie gebildet wurden ihrer Enzyme. Gleichzeitig produzieren sie
(= Antigen-Antikörper-Reaktion). Es entstehen Lymphokin, das die Makrophagen aktiviert,
sodass diese jetzt die Erreger abtöten
können.
Antigen Antikörper Antigen-
(z. B. Masernvirus) + gegen Antikörper-
Masernvirus Komplex

1) Antigene = körperfremde Substanzen, die in


+ einem bestimmten Organismus eine Immun-
antwort auslösen können
2) Antikörper = Immunglobuline, die mit
dem Antigen spezifisch reagieren, das
ihre Bildung verursacht hat
Abb. 9.12 Antigen-Antikörper-Reaktion.
9.3 Physiologie des Blutes 167

Spezifische Spezifische
humorale Abwehr zelluläre Abwehr

Antigen
Antigen
Krankheitserreger
Krankheitserreger

1. Phagozytose
der Erreger durch
쪧 Makrophagen 쪧

Makrophage Makrophage

T-Helferzelle
2. Antigenpräsentation
쪨 (Verlagerung der Antigene 쪨
an die Zelloberfläche)

B-
Lymphozyt T-Suppressorzelle
쪩 쪩
쪩 T-Helferzelle

T-Lymphozyt
3. Anlockung und
3. Anlockung und rezeptive Anheftung
rezeptive Anheftung
von T-Lymphozyten,
von B-Lymphozyten, T-Helferzellen,
T-Helferzellen und T-Suppressorzellen
Kooperation der und Kooperation der
beiden Zellarten drei Zellarten 쪪

쪪 4. Vermehrung
T-Gedächtniszelle
쪪 der B- bzw.
T-Lymphozyten Lymphokin
Antikörper (klonale Expansion) produzierende
T-Zelle
B-Gedächt- spezifische
niszelle Lymphokin
Antikörper
produzierende
Plasmazelle Lymphokin 쪪
befähigt
Makrophagen,
Erreger abzutöten
Makrophage

Antigen-Antikörper–Reaktion Antigen-Immunzellen–Reaktion

Spezifische Abwehrmechanismen. Abb. 9.13


168 9 Kreislaufsystem

Merke 9.3.7 Immunisierung


Die spezifischen Abwehrvorgänge werden Durch Immunisierung (Impfung) kann künstlich
maßgeblich durch die Tätigkeit der Regulator- Immunität erlangt werden.
zellen gesichert. Dabei üben die T-Helferzellen
eine stimulierende und die T-Suppressorzellen Man unterscheidet
eine hemmende Wirkung aus. – aktive Immunisierung. Hier wird die Primär-
reaktion vorweggenommen, indem man dem
Die bei den spezifischen Abwehrvorgängen ge- Organismus abgeschwächte lebende oder ab-
bildeten langlebigen B- und T-Gedächtniszellen getötete Erreger oder abgeschwächte Erreger-
„erkennen“ bei erneutem Kontakt mit „ihrem“ toxine zuführt;
Antigen dieses sofort und bewirken in der Regel – passive Immunisierung. Dem Organismus
eine sehr schnelle immunologische Reaktion. werden therapeutisch oder auch prophylak-
tisch spezifische Antikörper zugeführt.

P Die Dauer des immunologischen Gedächt-
nisses ist unterschiedlich: lebenslang bei
Röteln, Windpocken und Masern, einige 9.3.8 Blutgruppen des Menschen
Jahre bei Tetanus und Poliomyelitis.
Die Blutgruppen sind auf Stoffe zurückzu-
Eine optimale Immunantwort hängt entschieden führen, die sich an der Oberfläche der Erythro-
von ihrer Regulation ab. Makrophagen, T-Regu- zytenmembranen befinden und antigene Eigen-
latorzellen und humorale Einflüsse (Katechola- schaften besitzen.
mine, Nebennierenrindenhormone, ✑ S. 303)
sind dafür verantwortlich. Sie stimulieren die Merke
Lymphozyten, stimmen die verschiedenen Das wichtigste Blutgruppensystem ist das
Abwehrmechanismen optimal aufeinander ab AB0-System mit 4 Blutgruppen: A, B, AB
und sorgen für die rechtzeitige Beendigung der und 0.
Immunantwort.
Jeder Mensch besitzt eine dieser Blutgruppen.
Dadurch werden dem Menschen bestimmte
9.3.6 Verschiedene Immunreaktionen immunologische Eigenschaften zugeordnet, die
über die gesamte Lebensdauer vorhanden blei-
Allergie
ben und nach festen Gesetzmäßigkeiten vererbt
Von einer Allergie (Überempfindlichkeit) spricht
werden (✑ Kap. 2.5.4, S. 50).
man, wenn nach Rekontakt mit einem bestimm-
ten Antigen abnorm starke Immunreaktionen
Vermischt man Blut von zwei Menschen, so
auftreten.
beobachtet man entweder eine Zusammenbal-
Immunologische Toleranz lung (Agglutination) der Erythrozyten, mögli-
Immunologische Toleranz liegt vor, wenn der cherweise mit ihrer nachfolgenden Auflösung
Organismus nach Antigenkontakt immunolo- (Hämolyse), oder keine Reaktion.
gisch reaktionslos bleibt (z. B. immunologische
Toleranz der Mutter gegenüber dem Feten). Das erste Phänomen würde bei einer Bluttrans-
fusion zur Verstopfung der Kapillaren führen.
Merke Ursache der Agglutination ist eine Antigen-
Antikörper-Reaktion:
Wirkungen von Antigenen können sein: – Die Erythrozytenmembranen tragen spezifi-
normale Immunreaktion sche Stoffe, die Agglutinogene (= agglutinable
Antigen keine Immunreaktion Substanzen), die als Antigene wirken.
übermäßige – Im Blutplasma sind spezifische Antikörper
Immunreaktion = Allergie
(Agglutinine) gelöst, die mit den Antigenen
reagieren.
9.3 Physiologie des Blutes 169


P Man kennt heute ca. 400 Merkmale der Ery- weiteren Schwangerschaften zu Schädigungen
throzytenmembran, von denen die meisten eines Rh-positiven Kindes führen können. Dies
bei Bluttransfusionen bedeutungslos sind. lässt sich durch eine Serodiagnostik feststellen.

Eine besondere Bedeutung für die Medizin be-



P Eine Serodiagnostik sollte deshalb ab der
16. Schwangerschaftswoche klären, ob eine
sitzen das AB0-System und das Rh-System.
Blutgruppenunverträglichkeit vorliegt. Ist dies
der Fall, muss unmittelbar nach der Geburt
AB0-System
eine Immunisierung mit Human-Immunglo-
Mit der Entdeckung der AB0-Blutgruppen im
bulin Anti D durchgeführt werden. Dieses
Jahre 1901 durch Landsteiner begannen die sys-
Immunglobulin zerstört die fetalen Erythro-
tematischen Untersuchungen der Blutgruppen-
zyten mit dem D-Agglutinogen, die in den
eigenschaften.
mütterlichen Kreislauf übergetreten sind;
Entscheidend für das AB0-System sind:
somit kommt es auch nicht zur Bildung von
– zwei verschiedene Agglutinogene (= Anti-
Anti D. Durch diese mögliche Immunisie-
gene) der Erythrozytenmembran: A und B sowie
rung der Frauen nach der ersten Schwanger-
– zwei spezifische Antikörper im Serum:
schaft, aber auch nach Schwangerschafts-
Anti A und Anti B.
unterbrechung (Interruptio) und Fehlgeburt
Die Antikörper werden im Laufe des ersten
(Abort), spielen heute derartige Störungen
Lebensjahres gegen diejenigen Antigene gebil-
keine nennenswerte Rolle mehr.
det, die die eigenen Erythrozyten nicht besitzen.

Aus dieser Konstellation ergeben sich vier Merke


Blutgruppen des AB0-Systems (✑ Abb. 9.14).
Die erste Schwangerschaft führt trotz un-
günstiger Rh-Konstellation nicht zu fetalen
Rhesussystem (= Rh-System; ✑ Abb. 9.15,
Schädigungen. Unbedenklich sind auch
S. 171)
Schwangerschaften mit rh-negativen Feten.
Das Rhesussystem ist ein weiteres Blutgruppen-
Bei Bluttransfusionen verwendet man prak-
system und beruht auf dem Vorhandensein oder
tisch immer AB0-gruppengleiches Blut.
Nichtvorhandensein von Rh-Agglutinogenen
Beim Rh-System wird in der Regel nur das
auf der Erythrozytenmembran. Die wichtigsten
D-Antigen berücksichtigt.
sind C, D, E, c und e, wobei D die größte anti-
gene Wirksamkeit besitzt.

P Um Verwechslungen, Fehlbestimmungen
Merke und Unverträglichkeiten auszuschließen, wer-
den vor jeder Blutübertragung folgende Tests
In Europa sind 85 % der Menschen Rh-positiv. durchgeführt:
• die so genannte Kreuzprobe im Labor.
Im Rh-System treten im Unterschied zum AB0- – Spendererythrozyten plus Empfängerserum
System erst nach Sensibilisierung Antikörper (Majortest),
auf. Das bedeutet, die Bildung von Rh-Antikör- – Spenderserum plus Empfängererythrozyten
pern wird nur bei rh-negativen Menschen aus- (Minortest).
gelöst. Bei Übereinstimmung der Blutgruppen kommt
Dies kann geschehen bei es in beiden Fällen nicht zu einer Agglutina-
– Bluttransfusionen: Empfänger d, Spender D. tion;
– Schwangerschaft: Mutter d, Fetus D. • der Bed-side-Test am Patientenbett.
Unmittelbar vor der Transfusion wird am Pa-
Bei ca. 10 % der Schwangerschaften wird eine tientenbett nochmals die Verträglichkeit von
Unverträglichkeit hinsichtlich des Rhesusfaktors Empfänger- und Spenderblut festgestellt.
beobachtet. Die Agglutinogene (D) gelangen
während des Geburtsvorganges vom kindlichen Nur wenn beide Tests negativ verlaufen, darf
Kreislauf in den mütterlichen. Dort bewirken sie transfundiert werden. Trotz übereinstimmender
die Bildung von Antikörpern (Anti D), die bei Blutgruppe besteht bei jeder Bluttransfusion
170 9 Kreislaufsystem

Blutgruppen

Blutgruppe A B AB 0

Agglutinogene
= Antigene der A B A, B
Erythrozyten-
membran

Anti B Anti A Anti A


Antikörper im
Serum
Anti B

Agglutination Agglutinat
verschließt
A Blutgefäß
B
A B

+ +
Anti A Anti B
A B

Blutgruppentest Kreuzprobe

Blut- Spender
gruppe A B AB 0 Serum Erythrozyten
minor major
Anti A
Testserum

Anti B

Anti A
und Empfänger
Anti B Erythrozyten Serum

keine starke schwache


Agglutination Agglutination Agglutination

Abb. 9.14 Blutgruppen des AB0-Systems.


9.3 Physiologie des Blutes 171

Bluttransfusion

Empfänger Rh+ (D) Empfänger Rh+ (D)


Spenderblut Spenderblut
rh– (d) rh– (d)

langsame Bildung 1. Transfusion schnelle Bildung 2. Transfusion


spezifischer spezifischer
Antikörper (Anti D) Antikörper (Anti D)

keine Komplikation Komplikation

Mutter rh– (d) Vater Rh+ (D)

1. Schwangerschaft 2. Schwangerschaft

Zygote

Kind Rh+ (D)


Antigen Mutter bildet während
der Schwangerschaft
aufgrund voran
Mutter bildet gegangener
nach der Geburt Sensibilisierung
Anti D Anti D

keine Komplikation Komplikation


(Blut des Kindes wird
hämolysiert)

Unverträglichkeit im Rhesussystem. Abb. 9.15

für den Empfänger ein Restrisiko. Das Blut eine gewisse Zeit, oftmals Wochen bis Monate,
jedes Menschen enthält ein individuell einma- sodass bei kurz nach einer Infektion entnom-
liges Gemisch verschiedener Eiweiße, und da menen Blutkonserven die Antikörperbildung
prinzipiell jedes körperfremde Eiweiß als zwar noch nicht nachgewiesen werden kann,
Antigen wirken kann, ist eine allergische sie aber dennoch infektiös ist. Aus diesen
Reaktion nie ausgeschlossen. Außerdem kön- Gründen wird die Indikation für eine Voll-
nen Krankheitserreger übertragen werden. Die blutkonserve sehr streng gestellt.
Antikörperbildung nach einer Infektion dauert
172 9 Kreislaufsystem

9.4 Das Herz (Cor) münden):


– rechter Vorhof = obere Hohlvene (V. cava
Das Herz, ein muskuläres Hohlorgan, ist der superior), untere Hohlvene (V. cava inferior),
„Motor“ des Blutkreislaufes. Es befindet sich Herzvene (Sinus coronarius);
zwischen den Brustfellhöhlen und wird vollstän- – linker Vorhof = vier Lungenvenen (Vv. pul-
dig vom Herzbeutel (Perikard) umhüllt. monales).
Ausflussbahnen (= Arterien, die an den Herz-
Bau kammern beginnen):
Das Herz wird durch die Herzscheidewand – rechte Herzkammer = Stamm der Lungen-
(Septum) in eine rechte und linke Herzhälfte arterien (Truncus pulmonalis);
geteilt. Es besitzt vier Innenräume (✑ Abb. 9.16): – linke Herzkammer = große Körperarterie
• rechter Vorhof (Atrium dextrum), (Aorta).
• linker Vorhof (Atrium sinistrum),
• rechte Herzkammer (Ventriculus dexter), Form, Masse, Größe
• linke Herzkammer (Ventriculus sinister). Das Herz ist kegelförmig. An der Oberfläche
Vorhöfe und Kammern werden durch das binde- kann man folgende Einzelheiten erkennen: Herz-
gewebige Herzskelett getrennt. Es besteht im spitze, Herzbasis, Herzkranzfurche und Zwischen-
Prinzip aus vier Faserringen als Ansatzstelle für kammerfurchen mit Herzkranzgefäßen sowie
die Herzklappen (= Herzventile). Man bezeich- Herzohren. Die Größe entspricht etwa der Faust
net die Ebene, in der das Herzskelett mit den des Trägers. Seine Masse beträgt bei Männern
Herzventilen liegt, deshalb auch als Ventilebene. ca. 300 Gramm und bei Frauen ca. 220 Gramm.

Anschluss der Herzräume an das Gefäßsystem ❑


P Kinder haben ein relativ großes Herz. Bei
(✑ Abb. 9.16 und 9.17) Leistungssportlern ist das Herz ebenfalls ver-
Einflussbahnen (= Venen, die an den Vorhöfen größert.

linker Vorhof
(Atrium sinistrum)
große Körperarterie Lungenvenen
(Aorta) (Vv. pulmonales)
zweizipflige
Stamm der Segelklappe/
Lungenarterien Mitralklappe
(Truncus pulmonalis) (Valva bicuspidalis,
Valva mitralis)
obere Hohlvene
(V. cava superior) Aortenklappe
(Valva aortae)
rechter Vorhof
(Atrium dextrum) linke
Lungenarterienklappe/ Herzkammer
(Ventriculus sinister)
Pulmonalklappe
(Valva trunci pulmonalis) Herzinnenhaut
dreizipflige (Endokard)
Segelklappe Herzmuskel-
(Valva tricuspidalis) schicht
Papillarmuskel (Myokard)
untere Hohlvene Herzaußenhaut
(V. cava inferior) (Epikard)
rechte Herzkammer Herzscheide-
(Ventriculus dexter) wand
(Septum cardiale)

Abb. 9.16 Herzinnenräume.


9.4 Das Herz 173

Herz, ventral
rechte gemeinsame
Halsarterie
(A. carotis communis dextra)

rechte linke gemeinsame


Schlüsselbeinarterie Halsarterie
(A. subclavia dextra) (A. carotis communis
sinistra)
Stamm der linke
Hals-Arm-Arterie Schlüsselbeinarterie
(Truncus brachiocephalicus) (A. subclavia sinistra)
obere Hohlvene Lungenvenen
(V. cava superior) (Vv. pulmonales)

große Körperarterie
(Aorta)
linke Lungenarterie
rechte Lungenarterie (A. pulmonalis sinistra)
(A. pulmonalis dextra)
Stamm der
rechtes Herzohr Lungenarterien
(Auricula dextra) (Truncus pulmonalis)

rechte vorderer
Herzkranzarterie Zwischenkammerast
(Ramus interventricularis
(A. coronaria dextra)
anterior)
rechte Herzkammer linke Herzkammer
(Ventriculus dexter) (Ventriculus sinister)

Herzbasis Herzspitze

Herz, dorsal

Aortenbogen obere Hohlvene


(Arcus aortae)
(V. cava superior)
linke Lungenarterie rechte Lungenarterie
(A. pulmonalis sinistra) (A. pulmonalis dextra)

linke Lungenvenen rechte Lungenvenen


(Vv. pulmonales dextrae)
(Vv. pulmonales sinistrae)
linkes Herzohr untere Hohlvene
(V. cava inferior)
(Auricula sinistra)
kleine Herzvene
Sammelvene (V. cordis parva)
(Sinus coronarius)
rechte
linke umschlingende Herzkranzarterie
(A. coronaria dextra)
Kranzarterie
(Ramus circumflexus) mittlere Herzvene
(V. cordis media)
hinterer
Zwischenkammerast
(Ramus interventricularis
posterior)

Bau des Herzens (Vorder- und Rückansicht). Abb. 9.17


174 9 Kreislaufsystem

sten Hohlororganen
Herzbasis dreischichtig:
(2. Zwischenrippenraum)
Herzinnenhaut (Endo-
linke Lunge kard), Muskelschicht
(Myokard) und Herz-
außenhaut (Epikard).
äußeres Das Myokard ist ein
Herzbeutelblatt
(Perikard) kräftiger Hohlmuskel
Herzspitze aus Herzmuskelge-
(5. Zwischen- webe (✑ S. 68).
rippenraum) Seine Dicke ist der
Zwerchfell Belastung angepasst;
(Diaphragma) so ist das Vorhofmyo-
Leber kard schwächer als das
(Hepar) Kammermyokard (ein-
Magen schließlich Vorhof-
(Gaster, und Kammerseptum)
Ventriculus)
und das linke Kammer-
myokard deutlich stär-
Abb. 9.18 Lage des Herzens. ker als das rechte.

Lage (✑ Abb. 9.16, S. 172) Herzklappen (Herzventile)


Das Herz liegt im mittleren Mediastinum, Die Herzklappen sind Duplikaturen des Endo-
2/3 links und 1/3 rechts der Medianebene. Die kards. Sie besitzen, wie Ventile, eine Durchlass-
Längsachse verläuft von rechts hinten oben nach und eine Sperrrichtung; das Öffnen und Schlie-
links vorne unten. ßen wird also durch die Druckverhältnisse bei-
derseits der Klappe bestimmt. Jede Herzkammer
Herzwand (✑ Abb. 9.16, S. 172) wird von zwei Herzklappen begrenzt, einer
Der Wandaufbau des Herzens ist wie bei den mei- Segelklappe zwischen Kammer und Vorhof und
einer Taschenklappe
zwischen Kammer und
dreizipflige zweizipflige Segelklappe/Mitralklappe Ausflussbahn.
Segelklappe/ (Valva bicuspidalis/Valva mitralis)
Tricuspidalklappe
(Valva tricuspidalis) Segelklappen (Atrio-
ventrikularklappen)
Die Segelklappen be-
stehen aus einer Dop-
pellage Herzinnenhaut
Öffnung für
His’sches (Endokard). Durch fei-
Bündel ne Sehnenfäden sind
sie mit den Papillar-
muskeln verbunden.
Steigt der Kammer-
rechte druck über den Vorhof-
Herzkranzarterie druck, kontrahieren
(A. coronaria dextra) linke
Herzkranzarterie diese Muskeln, sodass
Pulmonalklappe (A. coronaria sinistra)
(Valva trunci die Klappen nicht (wie
pulmonalis) Aortenklappe eine Pendeltür) in den
(Valva aortae)
Vorhof zurückschla-
Abb. 9.19 Herzskelett, Ventilebene – von oben. gen können.
9.4 Das Herz 175

Systole (Austreibungsphase) Diastole (Füllungsphase)

– Vorhofdruck niedrig hoch


– Herzkammerdruck hoch niedrig
Tricuspidalklappe geschlossen offen
Pulmonalklappe offen geschlossen
Blutbewegung Blutauswurf in den Truncus Blut fließt vom Vorhof in die
pulmonalis und Vorhoffüllung Herzkammer

Tricuspidal-
klappe
(Valva
Pulmonalklappe tricuspidalis)
(Valva trunci pulmonalis)

rechter Vorhof
(Atrium dextrum)

Papillarmuskeln

rechte Herzkammer
(Ventriculus dexter)

Tricuspidalklappe
(Valva tricuspidalis)

Ventilfunktion der Herzklappen in der rechten Herzhälfte. Abb. 9.20

Bei den Segelklappen unterscheiden wir


– Tricuspidalklappe (Valva tricuspidalis – drei

P Entzündungen des Endokards (Endokarditis)

„Segel“) zwischen rechtem Vorhof und rechter zeigen sich insbesondere an den Klappen. Als
Herzkammer und Folge können Herzklappenfehler entstehen.
– Mitralklappe (Valva mitralis – zwei „Segel“)
zwischen linkem Vorhof und linker Herz- Blutversorgung (✑ Abb. 9.17, S. 173)
kammer. Die Blutversorgung des Herzens erfolgt durch die
Herzkranzgefäße (Koronargefäße). Zwei Herz-
Taschenklappen (Semilunarklappen) kranzarterien entspringen aus der Aorta dicht
Die dünnen Membranen der Taschenklappen be- hinter der Aortenklappe.
stehen aus einer Doppellage der Arterieninnen- • Rechte Herzkranzarterie (A. coronaria dextra),
haut (Intima) und haben die Form von Schwal- sie verläuft in der rechten Kranzfurche nach
bennestern. Sie sind so angeordnet, dass sie vom hinten. Ihr Endast, der hintere Zwischenkam-
zurückströmenden Blut gefüllt werden, sich da- merast (Ramus interventricularis posterior),
durch aufblähen und somit die Öffnung ver- steigt in der hinteren Zwischenkammerfurche
schließen. Jede Klappe besteht aus drei Taschen. ab;
• linke Herzkranzarterie (A. coronaria sinistra).
Die Taschenklappen unterteilen wir in Sie teilt sich nach l cm in zwei Endäste:
– Pulmonalklappe (Valva trunci pulmonalis) – den vorderen Zwischenkammerast (Ramus
zwischen rechter Herzkammer und Truncus interventricularis anterior), der in der vorde-
pulmonalis sowie ren Zwischenkammerfurche herzspitzen-
– Aortenklappe (Valva aortae) zwischen linker wärts verläuft und
Herzkammer und Aorta. – den umbiegenden Ast (Ramus circumflexus),
der in der linken Herzkranzfurche nach hin-
ten verläuft.
176 9 Kreislaufsystem


P Durchblutungsstörungen des Herzens sind 9.5 Gefäßsystem
relativ häufig.
Begründung: Das Herz wird durch zwei Arte- Das Gefäßsystem bildet in Verbindung mit dem
rien versorgt. Dies sind funktionelle End- Herzen ein Transportsystem, in dem das Trans-
arterien, die kaum über Anastomosen in Ver- portmittel „Blut“ in einem geschlossenen Kreis-
bindung stehen. Durch die ständige Energie lauf bewegt wird. Auf diese Weise werden den
verbrauchende Pumptätigkeit hat das Herz Zellen die zum Leben notwendigen Stoffe zu-
einen großen Durchblutungsbedarf. und die Stoffwechselprodukte abgeleitet. Man
Bei unvollständigem oder kurzzeitigem Ver- unterscheidet das Blutgefäßsystem und das
schluss kleinerer Gefäße kommt es zu hefti- Lymphgefäßsystem.
gem Thoraxschmerz, der oft in den linken
Arm ausstrahlt (Angina pectoris). Einige
Tropfen oder Spraystöße Nitroglyzerin (über 9.5.1 Blutgefäßarten
die Mundschleimhaut resorbiert) lindern
prompt die Beschwerden, weil dadurch eine Das Blutgefäßsystem ist ein geschlossenes
Erweiterung der Herzkranzgefäße erfolgt. Der System, d. h., der Inhalt (Blut) bewegt sich aus-
vollständige Verschluss eines Gefäßes (meist schließlich in den Gefäßen. Es werden folgende
durch einen Thrombus) verursacht extrem star- Blutgefäßarten unterschieden:
ke Brustschmerzen (Herzinfarkt). Das Überle- 1. Arterien. Gefäße, die das Blut vom Herzen
ben des Patienten hängt hauptsächlich davon weg transportieren. Die kleinsten Arterien
ab, wie schnell er in eine Klinik kommt und heißen Arteriolen.
dort der Thrombus durch künstliche Fibrino- 2. Venen. Gefäße, die das Blut zum Herzen hin
lyse mit Medikamenten (z. B. Streptokinase, transportieren. Die kleinsten Venen heißen
Urokinase) aufgelöst wird. Auch heute noch Venolen (oder Venulen).
sterben viele Menschen am Herzinfarkt, da bei 3. Kapillaren. Kleinste Haargefäße zwischen
einem größeren Gefäßverschluss das dahinter Arteriolen und Venolen, die dem Stoffaus-
liegende Herzmuskelgewebe irreversibel ge- tausch zwischen Blut und Zelle dienen.
schädigt wird und der Pumpvorgang nicht auf-
rechterhalten werden kann. Die Ver- und Entsorgung der Zellen erfolgt indi-
rekt über die interstitielle Flüssigkeit.
Nervenversorgung
Das Herz wird vom vegetativen Nervensystem
(sympathische und parasymphatische Herznerven) interstitielle Flüssigkeit
versorgt (✑ S. 364 ff). Bei sympathischer
Erregung steigen Herzfrequenz und Schlagkraft,
der Parasympathikus hemmt beides.
Arteriole

P Viele Herzmedikamente wirken über die
Beeinflussung des vegetativen Nervensystems
(z. B. Betablocker). Venole
Kapillaren
Herzbeutel (Perikard) Gewebe

P Der Herzbeutel ermöglicht die freie Beweg-
lichkeit des Herzens. Er ist wie alle serösen Stoffaustausch im Kapillargebiet. Abb. 9.21
Höhlen aus zwei Blättern aufgebaut (✑ S. 86):
– dem äußeren fibrösen parietalen Blatt (Perikard
im engeren Sinn) und Arteriovenöse Anastomosen sind Gefäßverbin-
– dem inneren serösen viseralen Blatt (Epikard), dungen zur Umgehung der Kapillaren. Sie die-
das dem Herzen anliegt. nen der Durchblutungsregulation (z. B. Verän-
Der Umschlag vom Epikard in das Perikard derung der Hautdurchblutung zur Steuerung des
befindet sich an den Ein- und Ausflussbahnen des Wärmehaushaltes.
Herzens.
9.5 Gefäßsystem 177

Kapillaren Hauptgefäß
Arteriole
Nebengefäß

Gewebe
Venole interstitielle
Flüssigkeit
Brückenanastomose

Abb. 9.22 Anastomosen.


Bei Unterbrechung des Blutstromes im
Hauptgefäß erfolgt die Blutversorgung des
Bau der Gefäße betreffenden Gewebeabschnittes über die
Alle Hohlorgane haben ein gemeinsames Bau- Nebengefäße.
prinzip. Ihre Wände bestehen meist aus drei Kollateral- oder
Hauptschichten. Umgehungskreislauf. Abb. 9.23
Die Gefäße sind ebenfalls Hohlorgane, deren
Innenraum wir als Gefäßlumen bezeichnen.
Ihre drei Hauptschichten heißen: Die Blutversorgung der Arterienwand bei Arte-
Intima (Innenschicht). Sie wird gebildet aus rien bis etwa 1 mm Durchmesser erfolgt durch
• dem Endothel (✑ S. 62) und einem
Diffusion aus dem durchströmenden Blut. Große
• bindegewebigen Anteil.
Media (Mittelschicht). Sie ist die stärkste Schicht Arterien wie z. B. die Aorta werden durch eige-
und besteht aus ne Blutgefäße (Vasa vasorum) mit Sauerstoff
• elastischen und kollagenen Fasern sowie versorgt.
• glatten Muskelzellen.
Adventitia (Außenschicht). Sie setzt sich aus Gefäßendothel Gefäßlumen
kollagenen und elastischen Fasernetzen zusammen,
die mit der Umgebung in Verbindung stehen. elastische
Membran
Arterien
Arterien zeigen den klassischen Dreischichten- Interna
aufbau. Man unterscheidet: Arterie –
– Arterien elastischen Typs, bei denen die elasti- Media elastischer Typ
schen Elemente in der Media überwiegen. Da-
zu gehören die Aorta und ihre Äste (herznahe Externa
Arterien). Sie ermöglichen die so genannte mit ver-
Windkesselfunktion (✑ Kap. 9.6.3, S. 197). sorgenden
Blutgefäßen
– Arterien muskulären Typs, die in der Media und Nerven größere Arterie –
reichlich glatte Muskelzellen besitzen. Dazu Arterie muskulöser Typ
gehören die herzfernen kleineren Arterien und
Arteriolen, über die die Regulation der Organ- Gefäßlumen
durchblutung erfolgt. Gefäßendothel
– Endarterien haben keine Anastomosen, sodass Intima
bei Verschluss keine Umgehung (= Kollateral- (Tunica interna)
kreislauf) möglich ist und das nicht mehr ver- Externa
sorgte Gewebe abstirbt. Endarterien besitzen (Tunica externa)
z. B. Herz, Lunge, Niere, Leber, Milz, Gehirn. Media Vene
(Tunica media)


P Häufigste Erkrankung der Arterien ist die Bau von Arterie und Vene. Abb. 9.24
Arteriosklerose (Arterienverkalkung).
178 9 Kreislaufsystem

Venen Pulmonalklappe über die Lungenarterien in die


Der Bau der Venenwand entspricht im Prinzip Kapillaren der Lunge. Nach erfolgtem Gasaus-
dem der muskulären Arterien. Im Unterschied zu tausch wird das O2-reiche und CO2-arme Blut
diesen ist aber die Venenwand (Media) dünner. über die Lungenvenen in den linken Vorhof
Am stärksten sind die Wände der Beinvenen. Zur transportiert. Vom linken Vorhof fließt das Blut
Verhinderung des Blutrückstromes dienen die durch die Mitralis in den linken Ventrikel.
Venenklappen (= Taschenklappen).
2. Großer Blut- oder Körperkreislauf
Den Weg des O2-reichen und CO2-armen Blutes
aus dem linken Ventrikel durch die Aortenklappe
über die Aorta und ihre Äste in die Kapillaren
der parallel geschalteten Organ- bzw. Teilkreis-
läufe (Herz, Milz, Magen, Muskulatur, Niere
Venenklappen usw.) nennt man den großen oder Körperkreis-
lauf. Nach erfolgtem Stoffaustausch sammelt
sich das O2-arme und CO2-reiche Blut in den
Venen, die schließlich als V. cava superior und
inferior in den rechten Vorhof münden. Vom
rechten Vorhof fließt das Blut durch die
Abb. 9.25 Venenklappen. Tricuspidalis in den rechten Ventrikel.

Merke


P Häufige Erkrankungen der Venen sind
Das Blut gelangt über Venen immer zuerst in
die Vorhöfe. Im Herzen fließt das Blut dann
Krampfadern (Varizen) als Folge schwacher
vom rechten Vorhof in die rechte und vom
Venenwände: Die Klappen schließen nur noch
linken Vorhof in die linke Herzkammer. In
unvollkommen.
der rechten Herzhälfte befindet sich O2-
armes, in der linken Herzhälfte O2-reiches
Kapillaren Blut.
Die Kapillarwand ist einschichtig und besteht
nur aus der Intima, die von einem Gitterfaser-
häutchen umhüllt wird. Der Durchmesser der Die einzelnen Organkreisläufe (z. B. Nierenkreis-
kleinsten Kapillaren ist geringer als der eines lauf) des Körperkreislaufes sind parallel geschal-
Erythrozyten, sodass diese sich nur aufgrund tet, d. h., jedes Organ erhält einen bestimmten Teil
ihrer Elastizität hindurchbewegen können. des Gesamtblutvolumens.
Jeder Organkreislauf zeigt eine bestimmte
Gefäßfolge:
9.5.2 Blutkreislauf

Als Blutkreislauf wird der durch die Herztätigkeit


bewirkte Blutumlauf im Blutgefäßsystem be- große Venen große Arterien
zeichnet. Der Blutkreislauf als funktionelle Ein-
heit von Herz und Gefäßen sichert den Stoff-
und Wärmetransport im Körper über größere mittlere Venen mittlere Arterien
Strecken. Beim Menschen strömt das Blut in
einer doppelt kreisförmigen Bahn. Der Blutkreis-
lauf besteht aus zwei hintereinander (in Reihe) kleine Venen kleine Arterien
geschalteten Abschnitten.

1. Kleiner Blut- oder Lungenkreislauf Venolen Arteriolen


Das ist der Weg des O2-armen und CO2-reichen
Blutes aus dem rechten Ventrikel durch die Kapillaren
9.5 Gefäßsystem 179

linke
gemeinsame Lungenarterie
Halsarterie (A. pulmonalis
(A. carotis communis) sinistra)
linke
Lungenvenen
(Vv. pulmonales
obere sinistrae)
Hohlvene
(V. cava superior) Lungenstamm-
rechter arterie
Vorhof (Truncus pulmonalis)
(Atrium dextrum) linker Vorhof
rechte (Atrium sinistrum)
Herzkammer linke
(Ventriculus dexter) Herzkammer
Leber (Ventriculus sinister)
(Hepar) Aorta
Pfortader
(V. portae)

Grimmdarm
(Colon)

untere
Hohlvene
(V. cava
inferior)

gemeinsame Oberschenkel-
Becken- oder arterie
Hüftarterie (A. femoralis)
(A. iliaca communis)

Blutkreislauf. Abb. 9.26


180 9 Kreislaufsystem

Tab. 9.7 Aorta und ihre Äste.


Aortenabschnitte abgehende Äste Versorgungsgebiete

Aufsteigende Aorta Rechte und linke Herzkranzarterie Herz


(Pars ascendens aortae) (A. coronaria dextra et sinistra)

Aortenbogen – Truncus brachiocephalicus mit


(Arcus aortae) rechter gemeinsamer Halsarterie
(A. carotis communis dextra) und
rechter Schlüsselbeinarterie
(A. subclavia dextra) Hals, Kopf, Arm.
– linke gemeinsame Halsarterie
(A. carotis communis sinistra)
– linke Schlüsselbeinarterie
(A. subclavia sinistra)

Brustaorta Bronchialarterien,
(Pars thoracica aortae) Speiseröhrenarterien, Brusteingeweide,
obere Zwerchfellarterien, Zwerchfelloberseite,
Zwischenrippenarterien. Brustwand.
Bauchaorta Unpaarige Äste:
(Pars abdominalis aortae) – Bauchhöhlenstamm
(Truncus coeliacus) mit
• linker Magenarterie, Magen, Duodenum,
• gemeinsamer Leberarterie, Leber, Milz,
• Milzarterie (A. lienalis); Bauchspeicheldrüse.
– obere Gekrösearterie Darm ab Jejunum bis
(A. mesenterica superior), Quercolon (2. Drittel).
– untere Gekrösearterie Letztes Drittel Quer-
(A. mesenterica inferior). colon bis zum oberen
Teil des Mastdarms.
Paarige Äste – Nebennierenarterien, Nebennieren,
– Nierenarterien (Aa. renales), Nieren,
– Hoden- bzw. Eierstockarterien, Hoden bzw. Eierstöcke,
– Zwerchfellarterien, Zwerchfellunterseite,
– Lendenarterien. Bauchwand.
Gemeinsame Hüftarterie
(A. iliaca communis) mit
– innerer Hüftarterie Beckenorgane
(A. iliaca interna) und
– äußerer Hüftarterie Bein
(A. iliaca externa).

Die Arterien verzweigen sich bis zu den Kapilla- Arterien des Körperkreislaufes und ihre
ren ständig weiter auf. Dabei nehmen der Gesamt- Versorgungsgebiete
querschnitt zu, Durchmesser und Wandstärke ab. Alle großen Arterien des Körperkreislaufes ent-
Ebenso verringert sich die Strömungsgeschwin- springen aus der Aorta. Die Aorta beginnt im lin-
digkeit des Blutes. ken Ventrikel und wird ihrem Verlauf entspre-
Die Organdurchblutung wird vom vegetativen chend in folgende Abschnitte gegliedert:
Nervensystem und durch Hormone dem jeweili- – Aufsteigende Aorta (Pars ascendens aortae) im
gen Funktionszustand angepasst. oberen Mediastinum.
– Aortenbogen (Arcus aortae) verläuft vom obe-
ren Mediastinum in das hintere.
9.5 Gefäßsystem 181

Schläfenarterie
(A. temporalis)
Gesichtsarterie äußere Kopfarterie
(A. facialis) (A. carotis externa)
innere Kopfarterie
(A. carotis interna)
gemeinsame
Halsarterie
(A. carotis communis)

Schlüsselbeinarterie
(A. subclavia)
Stamm
Achselarterie der Kopf-Arm-Arterie
(A. axillaris) (Truncus brachiocephalicus)
Oberarmarterie Aorta
(A. brachialis) Bauchhöhlenstamm
Nierenarterie (Truncus coeliacus)
(A. renalis) obere
gemeinsame Gekrösearterie
Hüftarterie (A. mesenterica superior)
(A. iliaca communis) untere
Speichenarterie Gekrösearterie
(A. radialis) (A. mesenterica inferior)
Ellenarterie äußere Hüftarterie
(A. ulnaris) (A. iliaca externa)
tiefer
Hohlhandbogen
(Arcus palmaris
profundus)
innere Hüftarterie
(A. iliaca interna)
oberflächlicher Oberschenkelarterie
Hohlhandbogen (A. femoralis)
(Arcus palmaris
superficialis)

Kniekehlenarterie
(A. poplitea)

vordere
Schienbeinarterie
(A. tibialis anterior) hintere
Wadenbeinarterie Schienbeinarterien
(A. fibularis) (Aa. tibiales posterior)

Fußrückenarterie
(A. dorsalis pedis)

Arterien des Körpers – Gesamtübersicht. Abb. 9.27


182 9 Kreislaufsystem

Hinterhauptarterie
(A. occipitalis)

Schläfenarterie äußere Halsarterie


(A. temporalis superficialis) (A. carotis externa)
rechte gemeinsame Halsarterie innere Halsarterie
(A. carotis communis dextra) (A. carotis interna)
rechte Schlüsselbeinarterie linke gemeinsame Halsarterie
(A. subclavia dextra) (A. carotis communis sinistra)
Wirbelarterie
(A. vertebralis)

Achselarterie linke Schlüsselbeinarterie


(A. axillaris) (A. subclavia sinistra)

Oberarmarterie Stamm der Kopf-Arm-Arterie


(A. brachialis) (Truncus brachiocephalicus)
Aortenbogen
(Arcus aortae)

Speichenarterie Bauchaorta
(A. radialis) (Pars abdominalis aortae)
Ellenarterie
(A. ulnaris)
äußere Hüftarterie
(A. iliaca externa)

Oberschenkelarterie
(A. femoralis)

Kniekehlenarterie
(A. poplitea)
vordere Schienbeinarterie
(A. tibialis anterior) Wadenbeinarterie
(A. fibularis)

hintere
Schienbeinarterie
(A. tibialis posterior)
Fußrückenarterie
(A. dorsalis pedis)

Pulstaststellen

Abb. 9.28 Arterielle Versorgung von Kopf, Arm und Bein.


9.5 Gefäßsystem 183

rechte gemeinsame linke gemeinsame


Halsarterie Halsarterie
(A. carotis communis dextra) (A. carotis communis
sinistra)
rechte
Schlüsselbeinarterie linke
(A. subclavia dextra) Schlüssel-
beinarterie
(A. subclavia
Stamm der rechten sinistra)
Hals- und
Schlüsselbeinarterie
(Truncus
brachiocephalicus)

Aortenbogen
aufsteigende Aorta (Arcus aortae)
(Pars ascendens aortae)
Brustaorta •
Bauchhöhlenstamm (Pars thoracica aortae)
(Truncus coeliacus)
obere Gekrösearterie linke Nierenarterie
(A. mesenterica superior) (A. renalis sinistra)
Keimdrüsenarterie
Bauchaorta • (Hoden- bzw.
(Pars abdominalis aortae) Eierstockarterie)
gemeinsame untere
Hüftarterie Gekrösearterie
(A. iliaca communis) (A. mesenterica inferior)
äußere Hüftarterie Aortengabel
(A. iliaca externa) (Bifurcatio aortae)
innere Hüftarterie
(A. iliaca interna)
• absteigende Aorta
(Pars descendens aortae)

Abschnitte der Aorta und ihre Hauptäste. Abb. 9.29

oberer Magen
Bauchhöhlenstamm (Gaster)
(Truncus coeliacus) Milz
(Splen, Lien)
Milzarterie
(A. lienalis)
linke Magenarterie
(A. gastrica sinistra)

gemeinsame Leberarterie
(A. hepatica communis)
Ast der A. hepatica
Leber communis
(Hepar) (A. gastroduodenalis)
Bauchspeicheldrüse Ast der A. lienalis
(Pankreas) (A. gastroepiploica)
Zwölffingerdarm rechte Magenarterie
(Duodeum) (A. gastrica dextra)

Versorgungsgebiet des oberen Bauchhöhlenstammes (Truncus coeliacus). Abb. 9.30


184 9 Kreislaufsystem

Alle Venen sammeln sich in zwei großen Venen-


großes Netz stämmen, der oberen Hohlvene (V. cava superi-
(Omentum majus) or) und der unteren Hohlvene (V. cava inferior).
Grimmdarm
(Colon) • Einzugsgebiet der oberen Hohlvene (V. cava
untere superior): Sammelt das Blut aus der oberen
Gekrösearterie Körperhälfte (oberhalb des Zwerchfelles). Sie
(A. mesenterica
inferior) liegt im oberen Mediastinum.
obere
Gekrösearterie • Einzugsgebiet der unteren Hohlvene (V. cava
(A. mesenterica inferior): Sammelt das Blut aus der unteren
superior) Körperhälfte (unterhalb des Zwerchfelles). Sie
Dünndarm liegt im Retroperitonealraum rechts der Bauch-
(Intestinum tenue)
aorta und beginnt mit der Vereinigung der bei-
den gemeinsamen Hüftvenen.

Versorgungsgebiete der Arterien und Venen des Lungenkreislaufes


Abb. 9.31 Gekrösearterien. Aus dem rechten Ventrikel entspringt der Lun-
genarterienstamm (Truncus pulmonalis), der
sich aufteilt in rechte (A. pulmonalis dextra) und
linke Lungenarterie (A. pulmonalis sinistra) (✑
– Absteigende Aorta (Pars descendens aortae) mit Abb. 9.34, S. 186).
• Brustaorta (Pars thoracica aortae) im hinte- Beide Arterien treten am Lungenhilus1) in die
ren Mediastinum, Lunge ein und zweigen sich dort weiter auf.
• Bauchaorta (Pars abdominalis aortae) im
Retroperitonealraum. Zum Lungenkreislauf gehören 2 rechte und
Die Aorta endet mit der Aufgabelung (Bifurcatio 2 linke Lungenvenen (Vv. pulmonales), die das
aortae) in die beiden gemeinsamen Hüftarterien. sauerstoffreiche Blut von den Lungen in den lin-
ken Vorhof transportieren.
Wichtige Arterien des Körpers ✑ Abb. 9.27 bis
9.31.

Venen des Körperkreislaufes und ihre 1) Hilus = Hilum


Einzugsgebiete
Bei den Venen des Körperkreislaufes unter-
scheiden wir Ästchen der
Lungenarterie
– tiefe Venen, die in der Regel als Begleitvenen
der größeren Arterien verlaufen und auch die Bronchiole
gleiche Bezeichnung haben, Ästchen der
Beispiel: A. radialis und V. radialis, Lungenvene
A. renalis und V. renalis;
– oberflächliche oder Hautvenen, die als bläu-
liche Stränge besonders gut an Hand- und
Fußrücken sowie in der Ellenbeuge zu sehen Kapillarnetz
sind (Abb. 9.33).
Lungen-
Merke bläschen
(Alveolen)
Oberflächliche und tiefe Venen stehen durch
Anastomosen miteinander in Verbindung.
Das venöse Blut fließt von den Oberflächen- Übergang der Lungenarterie
venen in die tiefen Venen. zu den Lungenvenen. Abb. 9.32
9.5 Gefäßsystem 185

Sinus sagittalis Schläfenvene


superior (V. temporalis)
Sinus transversus
Venengeflecht Hinterhauptvene
(Plexus pterygoideus) (V. occipitalis)
Gesichtsvene äußere Drosselvene
(V. facialis) (V. jugularis externa)
innere Drosselvene
(V. jugularis interna)
rechte linke
Schlüsselbeinvene Schlüsselbeinvene
(V. subclavia dextra) (V. subclavia sinistra)
obere Hohlvene Arm-Kopf-Vene
(V. cava superior) (V. brachiocephalica)
Achselvene linke Längsvene •
(V. axillaris) (V. hemiacygos)
V. cephalica1) rechte Längsvene •
V. basilica1) (V. acygos)
Lebervenen
Nierenvene (Vv. hepaticae)
(V. renalis)
V. mediana cubiti1) untere Hohlvene
(V. cava inferior)
aufsteigende
Lendenvene •
(V. lumbalis ascendens)

gemeinsame
Hüftvene
(V. iliaca communis)
Oberschenkelvene
(V. femoralis) äußere Hüftvene
(V. iliaca externa)
große Hautvene
(V. saphena magna) innere Hüftvene
(V. iliaca interna)

große Hautvene1)
(V. saphena magna) –
entsteht im Bereich
des Schienbeinknöchels
Kniekehlenvene1) und zieht medial am
(V. poplitea) Unter- und Oberschenkel
nach proximal
kleine Hautvene
(V. saphena parva) –
beginnt im Breich des
Wadenbeinknöchels
und verläuft an der
dorsalen Seite des
Unterschenkels zur
Kniekehle und
mündet hier in die
V. poplitea

1) Hautvenen
Venennetz des
Fußrückens Über die mit • markierten Venen bestehen
(Rete venosum dorsale Verbindungen (Anastomosen) zum Pfort-
pedis) aderkreislauf

Venen des Körpers – Gesamtübersicht. Abb. 9.33


186 9 Kreislaufsystem

linke
Lungenarterie
(A. pulmonalis
rechte sinistra)
Lungenarterie Lungenvenen
(A. pulmonalis (Vv. pulmonales)
dextra)
linker Vorhof
Lungenvenen (Atrium sinistrum)
(Vv. pulmonales)
Lungenarte-
rienstamm
(Truncus
pulmonalis)
rechte
Herzkammer
(Ventriculus
dexter)

Abb. 9.34 Arterien und Venen des Lungenkreislaufs.

Pfortaderkreislauf
Merke
Unter den Organkreisläufen des Körperkreis-
laufes nimmt der Pfortaderkreislauf eine Sonder- Unter dem Pfortaderkreislauf versteht man
stellung ein. Abbildung 9.35 verdeutlicht dies folgenden Weg des Blutes:
wie folgt: Bauchaorta
Das Blut kommt von der Bauchaorta über die ▼
Organarterien in die Kapillargebiete der unpaari- Organarterien der unpaarigen Bauchorgane
gen Bauchorgane (Magen, Darm, Bauchspei- ▼
cheldrüse, Milz). Kapillaren der unpaarigen Bauchorgane
(1. Kapillargebiet)
Hier finden folgende wichtige Vorgänge statt: ▼
Pfortader (= Sammelvene)
– Im Magen- und Darmkapillargebiet erfolgt die ▼
Resorption der Nahrungsstoffe, Leberkapillaren
– im Milzkapillargebiet die Aufnahme von Ab- (2. Kapillargebiet)
bauprodukten des Blutes und ▼
– im Bauchspeicheldrüsenkapillargebiet die Auf- Lebervenen
nahme der Hormone Insulin und Glukagon. ▼
untere Hohlvene
Das in seiner Zusammensetzung so veränderte
Blut fließt danach über die Venen der unpaarigen blut befindlichen Stoffe werden einer Kontrolle
Bauchorgane in die Pfortader (V. portae), also unterzogen, bevor sie in die anderen Organe
nicht wie üblich in die untere Hohlvene. Über gelangen.
die Pfortader gelangt es in das 2. Kapillargebiet, Die Leber verändert also das Blut deutlich, in
das der Leber. Von da strömt es schließlich über dem sie u. a.
die Lebervenen zur unteren Hohlvene. – die resorbierten Nahrungsstoffe abbaut oder
ineinander umwandelt,
Die Leber ist das wichtigste Stoffwechselorgan – toxische Stoffe (Alkohol, Medikamente) ent-
(✑ Kap. 12.6, S. 246), d. h., die im Pfortader- giftet,
9.5 Gefäßsystem 187

untere Hohlvene
linke (V. cava inferior)
Magenvene
(V. gastrica sinistra)

Pfortader
(V. portae)

Leberpforte
(Porta hepatis)
Milzvene
(V. lienalis)

rechte
Magenvene
(V. gastrica dextra)

Bauchspeicheldrüsenvenen
(Vv. pancreaticae)

obere Gekrösevene
(V. mesenterica superior)
untere Gekrösevene
(V. mesenterica inferior)

Venen des Pfortaderkreislaufes (Organe von dorsal). Abb. 9.35

– Hämoglobin in Gallenfarbstoffe umwandelt, 9.5.3 Lymphgefäßsystem


– unter Einwirkung von Hormonen den Blut-
zuckerspiegel reguliert. Das Lymphgefäßsystem stellt ein zusätzliches
Zwei Besonderheiten des Pfortaderkreislaufes Abflusssystem dar, durch das die überschüssige
sind hervorzuheben. interstitielle Flüssigkeit in das Blutgefäßsystem
1. Das Blut durchströmt zwei Kapillargebiete. zurückgeführt wird. Blut- und Lymphgefäß-
2. Im Venenblut befinden sich nicht nur Stoff- system stehen also in enger Beziehung.
wechselendprodukte, sondern auch die resor- Die Lymphgefäße durchziehen den gesamten
bierten Nahrungsstoffe. Körper, sodass jede Zelle angeschlossen ist.
Im Bereich der Blutkapillaren beginnt das

P Bei Verstopfung der Pfortader nimmt das Lymphgefäßsystem mit zahlreichen blindver-
Blut einen Umweg (Kollateralkreislauf) über schlossenen Lymphkapillaren. Die Lymphkapil-
Anastomosen, die zu Venen der vorderen laren vereinigen sich zu ableitenden, oft mit
Bauchwand führen. Deren Erweiterung führt Klappen ausgestatteten Lymphgefäßen, die über
zum sog. Medusenhaupt. Eine weitere Um- den Milchbrustgang (Ductus thoracicus) und den
gehung erfolgt über Speiseröhrenvenen und rechten Lymphstamm (Ductus lymphaticus dex-
damit verbundener Varizenbildung. ter) in das Venensystem einmünden. An den
188 9 Kreislaufsystem

Lymphe – Entstehung (✑ S. 200) und


Interzellularraum blindgeschlossene Zusammensetzung
Lymphkapillare
Die Lymphe besteht aus interstitieller Flüssigkeit
Blutkapillaren und ist ähnlich dem Blutplasma zusammenge-
setzt. Wichtige Unterschiede zum Blutplasma
Arteriole Gewebe sind höherer Wasseranteil, geringerer Eiweiß-
Venole
anteil (ca. 20 g/l), geringerer Glucoseanteil. Außer-
dem enthält sie keine Erythrozyten. Es gibt aller-
dings erhebliche regionale Unterschiede.

Merke

Lymphgefäß Die Darmlymphe heißt Chylus und ist vor al-


lem für den Abtransport von Fettstoffen ver-
antwortlich (Ursache für das milchige Aus-
Abb. 9.36 Blut- und Lymphkapillaren. sehen).

Lymphmenge
Extremitäten verlaufen die mittleren Lymphge- Sie beträgt unter normalen Bedingungen ca. 2 l/d
fäße häufig in unmittelbarer Nachbarschaft der (= 1/10 des kapillären Filtrats).
größeren Hautvenen.
Lymphtransport
Der Ductus thoracicus ist der größte Lymph- Das Lymphsystem hat im Unterschied zum
stamm. Er beginnt in Höhe des 1. Lendenwirbels Blutgefäßsystem kein Pumporgan. Der Trans-
mit einer bläschenförmigen Erweiterung port der Lymphe erfolgt durch Kontraktion der
(= Cisterna chyli) und tritt mit der Aorta durch glatten Gefäßmuskulatur und durch vorüber-
das Zwerchfell. Danach verläuft er im hinteren gehende Drucksteigerung in der Umgebung der
Mediastinum und mündet in den linken Venen- Lymphgefäße. Die mittlere Strömungsgeschwin-
winkel (= Vereinigung von V. subclavia sinistra digkeit ist dementsprechend sehr langsam.
und V. jugularis interna sinistra). Er sammelt die
Lymphe aus allen Körperteilen unterhalb des ❑
P Verschluss von Lymphgefäßen führt zu
Zwerchfelles, dem linken Arm und der linken Lymphödemen.
Brust-, Hals- und Kopfseite. Entzündungen der Hautlymphgefäße (z. B.
Der nur ca. 1 cm lange Ductus lymphaticus dex- nach Insektenstich) erkennt man an deren roter
ter mündet in den rechten Venenwinkel (Ver- Verfärbung („roter Strich“ – im Volksmund fäl-
einigung von V. subclavia dextra und V. jugularis schlich als „Blutvergiftung“ bezeichnet).
interna dextra) und sammelt die Lymphe aus
dem rechten Arm und der rechten Hals- und
Kopfseite. Aufgabe
Bevor die Lymphe in die großen Lymphgefäße Das Lymphgefäßsystem dient dem Flüssigkeits-
gelangt, passiert sie zahlreiche zwischengeschal- transport in das Venensystem, wobei gleichzeitig
tete Lymphknoten. Diese kommen an bestimm- Kontroll- und Abwehraufgaben erfüllt werden.
ten Stellen gehäuft vor (z. B. regionäre Lymph- Mittransportiert werden solche Stoffe, die die
knoten) und besitzen Filter- und Abwehrfunktion Wand der Blutkapillaren nicht passieren können
(✑ S. 163). und erst „gefiltert“ werden müssen.
Beispiele: Bakterien, Ruß, Krebszellen und
Merke Fettstoffe (werden im Dünndarm resorbiert).
Die Flüssigkeit in den Lymphgefäßen wird
als Lymphe bezeichnet und fließt in das
Venensystem.
9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 189

Lymphknoten Drosselvene
hinter dem Ohr (V. jugularis)
Unterkieferlymphknoten linker
Venenwinkel
rechter Hauptlymphgang Schlüssel-
(Ductus lymphaticus dexter) beinvene
(V. subclavia)
rechter
Venenwinkel Achsellymphknoten
Achsellymphknoten Lungenhiluslymphknoten
Brustmilchgang
(Ductus thoracicus)

Cisterna chyli

Ellenbogen-
lymphknoten
Gekröselymphknoten

Beckenlymphknoten

Leistenlymphknoten

Lymphgefäßsystem. Abb. 9.37

9.6 Physiologie des Kreislaufsystems weitestgehend selbständig zu sein, bildet das Herz
deshalb die Erregungen selbst. Bei der Tätigkeit
Dieser Abschnitt beschäftigt sich mit der Herz- des Herzens sind demnach das elektrische
tätigkeit und den speziellen Aufgaben der einzel- Geschehen (Erregung) und das mechanische
nen Gefäßarten. Geschehen (Pumptätigkeit) zu unterscheiden.

Funktion des Herzens 9.6.1 Erregung des Herzens


Die Pumptätigkeit des Herzens gewährleistet die
stetige Strömung des Blutes durch das Gefäß- Die Pumptätigkeit des Herzens wird durch
system. Das Aussetzen der Herztätigkeit bedeu- Aktionspotentiale ausgelöst, die vom Herzmus-
tet bereits nach wenigen Minuten den Tod. Um kelgewebe selbst und spontan gebildet werden.
190 9 Kreislaufsystem

Man nennt dies Autorhythmie oder Autonomie 1. Sinusknoten


(für alle anderen Muskeln des Körpers werden Vom Sinusknoten geht normalerweise der
die Aktionspotentiale im Zentralnervensystem Anstoß zu einem Herzschlag aus, weshalb er
erzeugt). auch als Schrittmacher des Herzens bezeich-
Das Myokard besteht demnach aus zwei Typen net wird. Er liegt im rechten Vorhof zwischen
von Herzmuskelzellen: der Einmündung der V. cava superior und dem
• Zellen, die sich verkürzen können, sie bilden rechten Herzohr.
die Arbeitsmuskulatur; Der Sinusknoten treibt bei Körperruhe das
• Zellen, die rhythmisch Aktionspotentiale pro- Herz mit einer Frequenz von ca. 70 Aktions-
duzieren und weiterleiten, sie bilden das Er- potentialen (= elektrische Impulse) pro Minu-
regungsbildungs- und Erregungsleitungs- te an (=Sinusrhythmus).
system (Reizleitungssystem) des Herzens. 2. Vorhofmyokard
Vom Sinusknoten breitet sich die Erregung
Da die Herzmuskelzellen nicht gegeneinander gleichmäßig über das Myokard beider Vorhöfe
isoliert sind, breitet sich eine Erregung, die im aus, sodass diese gleichzeitig kontrahieren.
Herzmuskel entsteht, immer über das gesamte Anschließend wird der AV-Knoten erregt.
Herz aus (Alles-oder-Nichts-Gesetz, ✑ S. 74). Wegen der Isolationseigenschaft des Herzske-
lettes kann die Erregung nicht unmittelbar vom
Erregungsbildung und -weiterleitung Vorhof- auf das Kammermyokard übergehen.
Das Erregungsbildungs- und Erregungsleitungs-
system wird von verschiedenen Strukturen ge-
bildet.

rechter Vorhof
(Atrium dextrum)

linker Vorhof
(Atrium sinistrum)

Herzskelett –
bestehend aus
4 bindegewebigen
Ringen
(Anuli fibrosi)
Sinusknoten
linke
Herzkammer
(Ventriculus
Atrioventrikular- sinister)
knoten1)
(AV-Knoten) Papillarmuskeln
His-Bündel

Kammer-
schenkel
rechte
Purkinje’sche Herzkammer
(Ventriculus dexter)
Fasern

1) AV-Knoten = Vorhof-Kammer-Knoten, früher auch Aschoff-Tawara-Knoten genannt

Abb. 9.38 Erregungsbildungs- und Erregungsleitungssystem des Herzens.


9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 191

3. Atrioventrikularknoten = AV-Knoten ebenfalls gleichmäßig, sodass auch beide Kam-


Er liegt in der Vorhofscheidewand unter dem mern zur gleichen Zeit kontrahieren. Die
Endokard zwischen der Mündung des Sinus Kontraktion der Herzkammern setzt unmittel-
coronarius und der Tricuspidalis. bar nach Beendigung der Vorhofkontraktion
Der AV-Knoten bildet die Überleitungsstelle ein.
zwischen den Vorhöfen und Ventrikeln. Er
verzögert die Erregungsleitung etwas. ❑
P Das Erregungsgeschehen kann durch ver-
4. His-Bündel schiedene Schädigungen gestört werden. Man
Vom AV-Knoten läuft die Erregung auf einer spricht von Herzrhythmusstörungen.
vorgeschriebenen Bahn in Richtung Herz- Beispiele:
spitze weiter. Unmittelbar an ihn schließt sich – Störung der Erregungsbildung (Sinustachy-
das His-Bündel an und zieht zur Kammer- kardie, Sinusbradykardie, Sinusarrhythmie,
scheidewand. Es liegt in einer Lücke des Extrasystolen u. a.),
Herzskelettes. – Störung der Erregungsleitung (z. B. Schen-
5. Kammerschenkel kelblock).
Das His-Bündel teilt sich in die beiden
Kammerschenkel, die zur Herzspitze ziehen Bei Ausfall des Sinusknotens kann dessen
und sich dabei aufzweigen. Sie liegen links Funktion durch einen künstlichen „Herzschritt-
und rechts des Kammerseptums. macher“ ersetzt werden.

Das Elektrokardiogramm (EKG, ✑ Abb. 9.40,


Merke
S. 192)
• Der Sinusknoten bildet die Erregungen für Das EKG registriert die mit dem Erregungs-
das Herz automatisch. Die Sinusfrequenz geschehen des Herzens verbundenen Spannungs-
beträgt in Ruhe ca. 70 Impulse pro Minute. schwankungen.
• Zuerst werden beide Vorhöfe gleichmäßig Es kann Auskunft geben über:
erregt, sodass sie sich auch gleichzeitig • Herzfrequenz,
kontrahieren. • Erregungsrhythmus und -ursprung,
• Etwas später werden beide Kammern gleich- • Impulsausbreitung,
mäßig erregt, sodass auch sie sich gleich- • Erregungsrückbildung,
zeitig kontrahieren. • Herzlage.
• Diese geordnete Erregungsbildung und
-ausbreitung ist Voraussetzung für die Be- ❑
P Das EKG leistet hauptsächlich einen Bei-
wegung des Blutes in einem vorgegebenen trag zur Diagnosefindung von Herzrhythmus-
Richtungssinn. störungen und Herzdurchblutungsstörungen
• Grundsätzlich kann die automatische Erre- (Angina pectoris, Herzinfarkt). Es hat nur eine
gungsbildung im gesamten Herzen erfolgen, bedingte Aussagekraft zur Herzleistung.
sodass ein Ausfall des Sinusknotens nicht
zum Herzstillstand führt. Die Impulsfre- Die gebräuchlichsten Ableitungen sind stan-
quenz anderer Teile ist aber immer niedriger, dardisiert, um vergleichbare Aufzeichnungen
z. B. AV-Rhythmus: 30 – 40 Impulse/min. zu erhalten (✑ Abb. 9.39, S. 192).
• Beim gesunden Herzen bildet der Sinus-
knoten die Erregungen am schnellsten und
unterdrückt dadurch die anderen Teile
(Sinusknoten als Schrittmacher). 9.6.2 Mechanik der Herztätigkeit

Die Herztätigkeit verläuft in Form einer Pump-


6. Purkinje’sche Fasern arbeit (Herz als Saug-Druck-Pumpe), die sich in
Als Purkinje’sche Fasern bezeichnet man die einem dauernden Wechsel von Systole (Kontrak-
Aufzweigungen der beiden Kammerschenkel, tion) mit Anspannungs- und Austreibungsphase
die die Erregung auf die Kammer- und die und Diastole (Erschlaffung) mit Entspannungs-
Papillarmuskulatur übertragen. Dies geschieht und Füllungsphase vollzieht.
192 9 Kreislaufsystem

nach Einthoven nach Goldberger nach Wilson

– +


+

– –

+ +

+ –
Abb. 9.39 EKG-Ableitungen.

P = Vorhoferregung
Q
R = Kammererregung
S
T = Erregungsrückbildung
in der Kammer-
muskulatur

Abb. 9.40 Elektrokardiogramm (EKG).


9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 193

Der Herzzyklus erzeugt fortlaufende Druck- und Herzleistung


Volumenveränderungen, die ein entsprechendes Die Förderleistung des Herzens wird als Herz-
Spiel der Herzklappen und damit die Blutströ- minutenvolumen (= Herzzeitvolumen) berechnet.
mung gewährleisten. Herzminutenvolumen (HMV)
= Herzfrequenz • Schlagvolumen.
Merke
Beispiel:
Nur während der Diastole fließt das Blut von Herzfrequenz: 72 Schläge pro Minute
der Aorta in die Herzkranzgefäße, sodass der Schlagvolumen: 70 ml pro Kontraktion
hohe Blutbedarf des Herzmuskels gedeckt HMV 72 Schläge • 70 ml
wird. Während der Systole werden die Herz- = 4,9 Liter pro Minute
kranzgefäße durch die Muskelkontraktionen
„abgedrückt“.
Merke

Ablauf eines Herzschlages Das Herzminutenvolumen gibt an, welche


Folgende ursächliche Zusammenhänge sind zu Blutmenge pro Minute in das Gefäßsystem
beachten: gepumpt wird.

Elektrischer Impuls
 Wie die Vorgänge im ❑
P Bei körperlicher Anstrengung kann das Herz-
Muskeltätigkeit Einzelnen ablaufen, minutenvolumen bis auf 20 l/min ansteigen.
 ist aus der Tabelle 9.8,
Druckverhältnisse
 Seite 194 und der
Abb. 9.42, Seite 195
Regelung der Herzleistung (✑ Abb. 9.41)
Klappenstellung Die Eigenrhythmik (Autonomie) des Herzens
 zu ersehen.
Blutbewegung kann vom vegetativen Nervensystem (✑ S. 364)
modifiziert werden. Dadurch erfolgt die funk-
tionsgerechte Einstellung der Herztätigkeit ent-
Begleiterscheinungen der Herzaktion sprechend der Belastungssituation.
Durch den Klappenschluss erzeugte Schwingun-
gen führen zu diagnostisch verwertbaren Schall-
erscheinungen. Man unterscheidet den 1. Herz- Herzfrequenz
ton, der beim Schluss der Segelklappen am (Herzschlag pro Minute)
Systolenbeginn auftritt, und den 2. Herzton, der
beim Schluss der Taschenklappen am Diastolen-
beginn auftritt.


P Störungen der Klappenfunktion (Klappen-
fehler), z. B. eine Stenose (Klappen können sich
nicht mehr richtig öffnen) oder eine Insuffizienz
(Klappen schließen sich nicht mehr vollständig)
beeinträchtigen die Pumpfunktion. Funktionsun- Parasympathicus Sympathicus
tüchtige Herzklappen können durch künstliche (N. vagus) steigert
reduziert
Klappen ersetzt werden. Stenosen (Verengun-
gen) und Insuffizienzen verursachen Schall-
erscheinungen. Sie (Töne = physiologisch, Ge-
räusche = meist pathologisch) können vom Arzt
mit dem Stethoskop abgehört werden, wobei
der Schall jeder Klappe an bestimmten Stellen
der Brustwand am besten zu hören und dadurch
meist einer bestimmten Klappe zuzuordnen ist.
Objektiviert werden können die Schallereignisse Regelung der Herzleistung. Abb. 9.41
mittels der Phonokardiographie.
194 9 Kreislaufsystem

Tab. 9.8 Herzaktion.


Sinusknotenimpuls breitet sich im Vorhofmyokard aus

Kontraktion des Vorhofmyokards
(Vorhöfe sind zu diesem Zeitpunkt gefüllt; Segelklappen offen und
Taschenklappen geschlossen)

geringer Anstieg des Vorhofdruckes

wenig Blut strömt von den Vorhöfen in die Kammern

Erregungsübertragung auf das Kammermyokard Beginn
 Kammersystole
Kontraktionsbeginn des Kammermyokards – Anspannungs-
 phase
Kammerdruck steigt über Vorhofdruck

Segelklappen werden geschlossen
– so dass der Rückfluss des Blutes in die Vorhöfe verhindert wird

Kammermyokard kontrahiert weiter

Kammerdruck steigt über den Arteriendruck
 – Austreibungs-
Taschenklappen werden geöffnet phase

 
Schlagvolumen Gleichzeitig verlagert sich die
von ca. 70 ml Ventilebene herzspitzenwärts
wird aus jeder Kammer 
in die Ausflussbahnen gedrückt; Entstehung eines Soges in den
Restvolumen Vorhöfen
von ca. 70 ml  Ende
verbleibt in den Kammern Füllung der Vorhöfe Kammersystole

Erregungsrückbildung Beginn
Kammerdiastole

Erschlaffung des Kammermyokards – Entspannungs-
 phase
Kammerdruck fällt
– zunächst unter den Arteriendruck

Taschenklappen werden geschlossen,
sodass der Rückfluss des Blutes in die Kammern verhindert wird
– wenig später fällt der Kammerdruck unter den Vorhofdruck
 – Kammer-
Segelklappen werden geöffnet füllungsphase

Ventilebene verlagert sich wieder herzbasiswärts

Blut fließt von den Vorhöfen in die Kammern
– anfangs schnell, dann langsamer
– gleichzeitig kann Blut über die Einflussbahnen in die Vorhöfe nachfließen
Vorhöfe und Kammern befinden sich während dieser Zeit in einer kurzen Ende
Ruhephase (= Erholungszeit) Kammerdiastole
9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 195

Systole Hauptphasen der Herzaktion Diastole


Aortenklappe und Pulmonalklappe Aortenklappe und Pulmonal-
geöffnet – Mitralis und klappe geschlossen –
Tricuspidalis Mitralis und
geschlossen Tricuspidalis geöffnet

ne
be
tile
ne n
be Ve
tile
n
Ve

Ausgangs-
situation Kammern gefüllt,
zu Beginn Anspannungsphase
Segelklappen offen,
der Systole Taschenklappen zu, isometrische
Kammerdruck fast 0 mmHg Hg
m
m Kontraktion des
80 Hg Kammermyokards,
m
5
m Segelklappen
2 fast
0 mmHg
werden geschlossen

fast
0 mmHg 80 mmHg

25 mmHg

Entspannungs- und
m
Hg Füllungsphase
m
80 Hg
m
m
2 5
10 mmHg
Hg
m
0
m Austreibungsphase
fast 13 Hg
10 mmHg 0 mmHg m
m
40 Unter- isotonische Kontraktion
fast druck des Kammermyokards,
0 mmHg
Taschenklappen werden
130 mmHg
Unter-
geöffnet, Schlagvolumen
Entspannung des Kammermyokards, druck wird ausgestoßen,
Segelklappen werden geöffnet, 40 mmHg Vorhöfe werden gefüllt
Kammern werden gefüllt

Ablauf des Herzschlages. Abb. 9.42


196 9 Kreislaufsystem

9.6.3 Funktion der Gefäße a) Das Blut strömt entlang des herrschenden
Druckgefälles im Kreislaufsystem.
Der Transport des Blutes unterliegt bestimmten b) Die Durchflussmenge ist umso größer, je grö-
physikalischen Gesetzmäßigkeiten, von denen ßer die Druckdifferenz und je geringer der
hier einige genannt werden. Strömungswiderstand ist.

Hochdruck- Niederdruck- Hochdruck- Niederdruck-


system system system system

Kapillaren

Kapillaren
Arteriolen

Arteriolen
Venolen

Venolen
Arterien

Arterien
Venen

Venen
[cm2 ] [%]
4000
Querschnitt 80 Volumen
3500
70
3000 63
60
2500
50
2000
40
1500
30
1000
20 15
500 12
10 3 7
[cm/s] [%]
Strömungs- Widerstand
geschwindigkeit 60
15 50 47
40
10
30 27
20 19
5
10 4 3
[mmHg] [%]
140 Blutdruck 70 Oberfläche
120 60 59

100 50
80 40
60 30 29
40 20
10
20 10
0,5 1,5

Abb. 9.43 Hoch- und Niederdrucksystem.


9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 197

c) Der Strömungswiderstand ist


umso geringer, je kürzer und Systole (Austreibungsphase)

je weiter die Gefäße sind linker Ventrikel weiterfließendes Blut


(durch Parallelschaltung der
vielen Kapillaren ist der
Strömungswiderstand trotz
des geringen Durchmessers
der einzelnen Kapillare gerin- Aortenklappe vorübergehende Speicherung
ger als in den Arteriolen). auf von Blut
d) Die Strömungsgeschwindig-
keit ist in den Kapillaren am
geringsten und in der Aorta Diastole weiterfließendes Blut
am höchsten (✑ Abb. 9.43).

Arteriensystem
Die Arterien erfüllen zwei Auf-
gaben. Sie verteilen das Blut auf Aortenklappe
zu Entspeicherung
die Körperperipherie und ver-
wandeln die stoßweise Blutströ-
mung am Aortenanfang in eine Systole (Austreibungsphase)
annähernd kontinuierliche Strö-
mung (Windkesselfunktion).

Merke
Austreibungsphase der Aortenklappe
auf Pulswelle
Kammersystole
Ein Teil des Schlagvolumens
fließt als systolisches Ab- Windkesselfunktion. Abb. 9.44
flussvolumen sofort weiter,
ein anderer Teil wird kurz-
fristig in dem sich dehnenden Aortenab- Im Pars ascendens aortae eines jungen, gesunden
schnitt gespeichert. Es entsteht der systoli- Erwachsenen betragen die Werte durchschnittlich:
sche arterielle Blutdruckwert. • systolisch 120 mmHg1) (= 120 Torr),
• diastolisch 80 mmHg (= 80 Torr).
Diastole Der mittlere arterielle Blutdruck beträgt mithin
In der Phase des Druckabfalls zieht sich die 100 mmHg.
gedehnte Aortenwand elastisch zusammen Die Höhe des Blutdruckes hängt vor allem von
und bewirkt das Weiterfließen des Blutes in 3 Faktoren ab:
Richtung Kapillaren. Es entsteht der diastoli- – von der Pumpkraft des Herzens,
sche arterielle Blutdruckwert. – von der Größe des Schlagvolumens und
– vom peripheren Widerstand (Gefäßquerschnitt,
Elastizität und „Glattheit“ der Gefäßwand).
Blutdruck
Der in den Blutgefäßen und Herzinnenräumen
herrschende Druck heißt Blutdruck. Merke
Der systolische arterielle Blutdruck hängt
Beim Blutdruckmessen werden 2 arterielle Blut- hauptsächlich vom Herzminutenvolumen und
druckwerte ermittelt; der systolische arterielle der diastolische arterielle Blutdruck vom
Blutdruckwert, der während der Austreibungs- peripheren Widerstand in den Arteriolen ab.
phase der Kammersystole entsteht, und der dias-
tolische arterielle Blutdruckwert, der während
der Kammerdiastole vorherrscht. 1) mmHg = Millimeter Quecksilbersäule
198 9 Kreislaufsystem

Blutdruckamplitude Verteilungsfunktion der Arteriolen (✑ Abb. 9.45)


Die Blutdruckamplitude ist die Differenz zwi- Die Verteilung des Herzminutenvolumens auf die
schen systolischem und diastolischem arteriellen einzelnen parallel geschalteten Organkreisläufe ge-
Blutdruck. Sie beträgt in dem angegebenen schieht durch die Arteriolen. Unter dem Einfluss
Beispiel 40 mmHg (= 40 Torr). des vegetativen Nervensystems bzw. von bestimm-
ten Hormonen werden diese Gefäße verengt oder
Blutdruckmessungen erweitert, somit auch der periphere Widerstand
Der Blutdruck kann direkt oder indirekt gemes- verändert und die Durchblutung gesteuert.
sen werden. Die direkte oder blutige Blutdruck-
messung erfolgt im Blutgefäß. Sie ist sehr genau Merke
und kommt nur in der Klinik zum Einsatz.
Die bekannteste und am häufigsten angewandte Die Arteriolen sind die wirksamsten Wider-
Methode ist die indirekte oder unblutige Blut- standsregler des Kreislaufes und hauptsäch-
druckmessung nach Riva Rocci (RR). Sie erfolgt lich für die Durchblutungsgröße der Kapil-
an der Oberarmarterie (A. brachialis) mithilfe largebiete verantwortlich.
einer aufblasbaren Gummimanschette, die mit
einem Druckmesser (Manometer) verbunden ist. Kapillarsystem
Genutzt werden die Strömungsgeräusche (sog. In den Kapillargebieten findet der gesamte
Korotkoff-Geräusche) des Blutes. Stoffaustausch zwischen dem Transportmittel
Darüber hinaus gibt es eine Reihe automatischer Blut und dem Gewebe über die interstitielle
Blutdruckmessgeräte zur individuellen Blut- Flüssigkeit statt.
druckkontrolle, die meistens nicht auf den Korot-
koff-Geräuschen basieren und zum Teil zur Im Bereich der Kapillargebiete erfolgt die
Messung an den Handgelenken befestigt werden. Versorgung und die Entsorgung der Zellen, die
hormonelle Informationsübertragung sowie der
Puls (Stoß, Schlag) Ausgleich der Wasser- und Elektrolytbilanz.
Als Puls wird die rhythmische Erweiterung der Die Kapillargebiete sind durch folgende Eigen-
großen elastischen Arterien bezeichnet. Diese schaften diesen Funktionen bestens angepasst:
Erweiterung entsteht durch den Anschlag der • Größter Querschnitt ⇒ langsame Strömung,
vom Herzen erzeugten Druckwelle an den Ge- • Oberflächenvergrößerung infolge starker Ge-
fäßwandungen und ist als Erhebung mit dem fäßverzweigung ⇒ große Austauschfläche,
Finger tastbar. • sehr dünne durchlässige Gefäßwände
⇒ kurze Transportwege,
Merke • kleine Versorgungsgebiete, kleiner Radius
⇒ ausreichender Druck.
Die Pulsfrequenz ist die Anzahl der Puls-
Der Flüssigkeitsaustausch zwischen Blut, inter-
schläge pro Minute. Es gilt:
stitieller Flüssigkeit und Zellen wird durch fol-
Sinusfrequenz = Herzfrequenz = Pulsfrequenz
gende Mechanismen gewährleistet:
(normal: 60 – 80 pro Minute)
• Diffusion (✑ S. 32). Hat die größte Bedeutung.
Frei diffundieren können kleine Teilchen. Dazu

P Eine Pulsfrequenz unter 60 Schlägen pro gehören H2O, O2, CO2, lipidlösliche Substanzen
Minute heißt Bradykardie. Über 100 Schläge wie Alkohol, Elektrolyte, Harnstoff. Mit zu-
pro Minute werden als Tachykardie bezeich- nehmender Teilchengröße wird die Diffusion
net. Unter der Pulsqualität versteht man den immer stärker behindert (z. B. für Glucose)
Füllungszustand der Arterien. Als Pulsrhyth- bzw. unmöglich (z. B. für Albumine).
mus wird die Regelmäßigkeit bzw. Unregel- • Filtration (✑ S. 33). Durch die Filtration kön-
mäßigkeit des Pulses bezeichnet. Arrhyth- nen schnelle Flüssigkeitsverschiebungen
mien können krankhaft sein. Durch Palpation zwischen Blutplasma und Zwischenzellraum
der Pulswelle können wichtige Informationen (Interstitium) realisiert werden. Die treibende
über den Funktionszustand des kardiovas- Kraft ist der effektive Filtrations- bzw. Re-
kulären Systems gewonnen werden. absorptionsdruck (= Druckdifferenz zwischen
Blut und Gewebe). Aus Abbildung 9.46 ist zu
9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 199

Organdurchblutung richtet sich maßgeblich


1. nach dem Bedarf an Sauerstoff,
2. nach der Menge der abzutransportierenden Stoffwechselprodukte.

Bewegungssystem aktiv Verdauungssystem aktiv

• Bedarf an Sauerstoff in Skelettmuskulatur: • Bedarf an Sauerstoff in Skelettmuskulatur:


hoch niedrig
• Bedarf an Sauerstoff im Verdauungs- • Bedarf an Sauerstoff im Verdauungs-
system: niedrig system: hoch
• Anfallende Stoffwechselprodukte in • Anfallende Nährstoffe, die in das Blut
Skelettmuskulatur: hoch resorbiert werden: hoch

Daraus folgt:
Organdurchblutung muss angepasst werden

• optimale Durchblutung der Skelett- • optimale Durchblutung der Organe des


muskulatur Verdauungssystems
• Erhaltung der Mindestdurchblutung des • Erhaltung der Mindestdurchblutung der
Verdauungssystems Skelettmuskulatur

Erreichung des optimalen Zustandes durch folgende Mechanismen


Weitstellung der Arteriolen in der Weitstellung der Arteriolen in den
Skelettmuskulatur Organen des Verdauungssystems
Hervorgerufen Hervorgerufen
1. durch Wirkung des Sympathicus 1. durch Wirkung des Parasympathicus
2. durch Wirkung von Hormonen wie z. B. 2. durch Wirkung von gefäßaktiven
Noradrenalin Substanzen wie Bradykinin und Kallidin

Vereinfachte Darstellung der Regulation der Organdurchblutung. Abb. 9.45


200 9 Kreislaufsystem

Lymphkapillare

Lymphe

2 l/d

Arteriole Interstitium Venole


37 mmHg Blutkapillare 22 mmHg

28 mmHg 28 mmHg
= effektiver Filtrationsdruck: = effektiver
37 mmHg – 28 mmHg = Reabsorptionsdruck:
9 mmHg 28 mmHg – 22 mmHg = 6 mmHg
Folge: Filtration 20 l/d Folge: Reabsorption 18/d (Auswärtsfiltration)
= Flüssigkeitsbewegung

Abb. 9.46 Filtration im Körperkapillargebiet.

erkennen, dass der effektive Filtrationsdruck Venensystem


9 mmHg und der effektive Reabsorptionsdruck Das Venensystem erfüllt im Kreislaufsystem
6 mmHg betragen. Somit werden aus den Kör- 2 Aufgaben:
perkapillaren pro Tag ca. 20 Liter Flüssigkeit • Rücktransport des Blutes zum Herzen nach
in das Interstitium filtriert und umgekehrt ca. erfolgtem Stoffaustausch in den Kapillaren
18 Liter reabsorbiert. Die restlichen 2 Liter (= venöser Rückstrom);
erreichen die Blutbahn als Lymphe. • Blutspeicher (ca. 60 % des Blutvolumens be-
• Pinozytose (✑ S. 34). Aktiver Transport vor finden sich im Venensystem).
allem von Eiweißen.
Transportfunktion
Der venöse Rückstrom des Blutes in den rechten
Merke
Vorhof wird durch folgende Mechanismen gesi-
Normalerweise herrscht zwischen der aus- chert (✑ Abb. 9.47 bis 9.50):
wärts strömenden und der einwärts strömen- – Restblutdruck, der von der Herzarbeit im
den Flüssigkeitsmenge, einschließlich Lymph- Venensystem noch wirkt;
strom, ein Gleichgewicht. Störungen dieses – Schwerkraft oberhalb des Herzens;
Gleichgewichtes können zu Flüssigkeitsver- – Sogwirkung der Vorhöfe durch die Verlage-
schiebungen zwischen den drei großen Flüs- rung der Ventilebene herzspitzenwärts (✑
sigkeitsräumen führen (✑ S. 28), so z. B. zu S. 194 und 195);
Ödemen. – Sogwirkung des Thorax während der Inspira-
tion (✑ S. 225);
– Muskelpumpe – durch
Tab. 9.9 Stabilisierung des Kreislaufes durch das Venensystem. die Kontraktion der
Muskeln werden die
steigt Entspeicherung Venen zusammenge-
Herz- (Arbeit)
Venen- drückt, die Wirksam-
minuten-
system keit der Muskelpumpe
volumen fällt Speicherung
wird durch die Venen-
(Ruhe)
klappen unterstützt,
9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 201

Inspiration Exspiration
Venendruck Venendruck
fällt steigt

Venen Venen
erweitert verengt

Druck auf Druck auf


Venen Venen
gesenkt erhöht

Inspiration Thoraxinnen- Exspiration Thoraxinnen-


(Einatmung) raum erweitert (Ausatmung) raum verengt

Sog- und Druckwirkung bei der Inspiration und Exspiration. Abb. 9.47

die als Ventile ein Rückströmen verhindern; obere Hohlvene


– Arterien-Venen-Kopplung – die Pulsation der
Arterie überträgt sich auf die Vene und wirkt
wie die Muskelpumpe. Lungenvenen
ne
be ch
tile t si en-
n g z
Ve we pit s
be rzs ärt
Vene he w

Venenklappen
geöffnet
Venen verengt Kammersystole
Venenklappen
geschlossen untere Hohlvene
Arterie
Sogwirkung der Vorhöfe
Abb. 9.48 Arterien-Venen-Kopplung. während der Kammersystole. Abb. 9.50

Erschlaffung der Kontraktion der Speicherfunktion


Muskeln Muskeln Im Venensystem befinden sich aufgrund seiner
Dehnbarkeit ca. 60 % des Blutvolumens. Je nach
Vene zu erbringender Körperleistung wird, ohne dass
Venenklappe sich der zentrale Venendruck wesentlich verän-
dert, das Blut mobilisiert. Dadurch trägt das
Venensystem entscheidend zur Stabilisierung
des Kreislaufes bei und eignet sich besonders gut
für Punktionen, Infusionen und Transfusionen.


P Beim Wechsel vom Liegen zum Stehen
(Orthostase1)) kann ein Teil des Blutes – vor
allem aus dem Lungenkreislauf – in den
Abb. 9.49 Muskelpumpe.
Beinvenen „versacken“ und unter Umständen
zum orthostatischen Kollaps führen.

1) aufrechte Körperhaltung
202 9 Kreislaufsystem

9.6.4 Regulation des Blutkreislaufes infolge Gefäßverengung (Vasokonstriktion)


bzw. Gefäßerweiterung (Vasodilatation; ✑ Tab.
Aufgabe der Kreislaufregulation ist es, das Herz- 9.10).
minutenvolumen (HMV) ständig an die augen-
blicklichen Bedürfnisse des Organismus bzw. be- Die Veränderung des Gefäßquerschnittes zum
stimmter Organe anzupassen. Diese Anpassung Zweck der Leistungsanpassung wird erreicht
geschieht in Kombination von lokalen (regiona- durch die lokale, die nervale und die humoral-
len) und zentralen (überregionalen) Regula- hormonelle Durchblutungsregulation.
tionsmechanismen.
Lokale Durchblutungsregulation (auch Auto-
Regulation der Organdurchblutung regulation)
Die Verteilung des Herzminutenvolumens ist den Diese Regulationsmöglichkeit beruht einerseits
unterschiedlichen Bedingungen angepasst. Orga- auf der Eigenschaft vieler Gefäße, bei Blutdruck-
ne mit gleich bleibend hohen Anforderungen anstieg mit Kontraktion und bei Blutdruckabfall
(z. B. Gehirn) werden konstant gut durchblutet, mit Erschlaffung zu reagieren; auf diese Weise
während Organe mit wechselnden funktionel- bleibt trotz Blutdruckschwankungen die Durch-
len Anforderungen (z. B. Muskulatur, Gastro- blutung der lebenswichtigen Organe weitgehend
intestinaltrakt) bei Belastung stärker und in Ruhe konstant (z. B. Niere).
schwächer durchblutet werden. Andererseits bewirken eine Reihe von Stoffen,
z. B. ADP, ATP, Pyruvat, Adenosin, Kohlen-
Die Regulation der Organdurchblutung erfolgt dioxid, bei Konzentrationsanstieg eine sofortige
durch die Änderung des Strömungswiderstandes lokale Vasodilatation.

Merke
Tab. 9.10 Regulation der Organdurchblutung. Durch lokale
Regulation ist
Erhöhung des Durchblutung der Organismus
ng Strömungswiderstandes gemindert in der Lage, die
gu
Ve ren Organdurchblu-
Gefäß tung schnell,
Erw aber nur bis zu
ei t
eru
einem gewissen
ng Verringerung des Durchblutung Grade anzupas-
Strömungswiderstandes verbessert sen.

Tab. 9.11 Zentrale Kreislaufregulation durch das Kreislaufzentrum.


Einflüsse von übergeordneten Zentren

Sympathische und parasympathische


Kreislaufzentren in der Medulla oblongata
Chemo- und Schmerz
Pressorezeptoren
im Aortenbogen Atemzentrum psychische
und Karotissinus Einwirkungen
„messen“ CO2-
und O2-Konzen-
trationen sowie Arteriolen Herzfrequenz
den arteriellen – Vasokonstriktion Herzkraft
Blutdruck – Vasodilatation

peripherer Widerstand Blutdruck Herzminutenvolumen


9.6 Physiologie des Kreislaufsystems 203

Reflektorische Regulation des arteriellen Blutdruckes. Tab. 9.12


arterieller Blutdruck arterieller Blutdruck

Druckrezeptoren (Pressorezeptoren)
(in Aorta, A. carotis, Ventriculus sinister)

afferente Nervenfasern der


Hirnnerven IX und X

Vasomotorisches Zentrum im verlängerten Mark


(Medulla oblongata)

Hemmung des Erregung des Erregung des Hemmung des


Sympathicus Parasympathicus Sympathicus Parasympathicus


➞➞

Gefäßerweiterung Herzfrequenz Gefäßverengung Herzfrequnz


(Vasodilatation) Schlagvolumen (Vasokonstriktion) Schlagvolumen


arterieller Blutdruck arterieller Blutdruck

Nervale Durchblutungsregulation Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus


Die nervale Regulation der Durchblutung kann Dieser Regulationsmechanismus setzt hauptsäch-
sowohl lokal als auch zentral erfolgen. Die loka- lich bei einer Verminderung der Nierendurchblu-
le Regulation erfolgt überwiegend durch den tung ein und führt letztendlich durch die Bil-
Sympathicus im Bereich der Arteriolen. Das an dung von Angiotensin II zu einer starken Vasokon-
den sympathischen Nervenendungen freigesetz- striktion (✑ Tab. 9.13).
te Noradrenalin bewirkt je nach Quantum eine
mehr oder weniger starke Gefäßwandkontraktion Zentrale Kreislaufregulation (stark vereinfacht)
(✑ Tab. 9.12). Für die richtige Durchblutung der einzelnen
Organe ist vor allem die Aufrechterhaltung eines
Humoral-hormonelle Durchblutungsregulation bestimmten Blutdruckes notwendig.
Diese Durchblutungsregulation erfolgt vor allem
durch die Hormone Adrenalin und Noradrenalin Blutdruck und Herzminutenvolumen hängen ab
sowie weitere gefäßaktive Substanzen. von der treibenden Kraft, die durch das Herz ver-
– Adrenalin wirkt in niedriger Konzentration ursacht wird, und dem Strömungswiderstand im
gefäßerweiternd und in hoher Konzentration Gefäßsystem.
gefäßverengend, Noradrenalin wirkt gefäßver-
engend (✑ S. 303). Neben den lokalen Regulationsmöglichkeiten
– Angiotensin II ist die Substanz, die die stärks- erfolgt unter Kontrolle des Kreislaufzentrums in
te Vasokonstriktion direkt an den Arteriolen der Medulla oblongata über das vegetative
hervorruft. Nervensystem eine zentrale Regulation des
– Kallidin, Bradykinin und Histamin wirken Kreislaufes (✑ Tab. 9.11). Darüber hinaus wird
vasodilatatorisch. durch sog. Kreislaufreflexe eine ständige Stabi-
lisierung des Blutdruckes gewährleistet.
204 9 Kreislaufsystem

Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus. Tab. 9.13


Blutdruck 

Adrenalin Plasmavolumen 
Renin
Noradrenalin Na+ 

Angiotensinogen Angiotensin I Vasokonstriktion über


Stimulation des
Converting- Kreislaufzentrums
Enzym


Angiotensin II Durstgefühl

Nebennierenrinde Vasokonstriktion in der


Niere ➞
Vasokonstriktion Glomeruläre Filtrationsrate
der Arteriolen Aldosteron 


(GFR)

Blutdruck  Niere

Na+-Rückresorption 


P Versagen der Kreislaufregulation bedeutet, Bei den beschriebenen Regulationsmöglichkei-
dass lebenswichtige Organe zu wenig durch- ten sind die schnelle Regelung über das vegetati-
blutet werden. Dies kann nach Blutverlust ve Nervensystem und die langsame Regelung
und bei orthostatischem Kreislaufversagen mithilfe von Hormonen und anderen Wirkstoffen
auftreten. zu unterscheiden (✑ Tab 9.14).

Merke Zusammenwirken von Nerven- und Hormonsystem. Tab. 9.14


Kreislauf- und Atemre- Sympathicus
gulationen sind immer schnelle
gekoppelt, weil mit dem Herz Arteriolen Regulation
veränderten Herzminu-
tenvolumen auch ver-
änderte O2- und CO2- Blutvolumen, Blutdruck
Mengen transportiert
werden müssen, um der
veränderten biologi-
schen Oxidation ge- Renin Angio- Aldosteron Adrenalin langsame
recht zu werden. tensin II Regulation
9 Kreislaufsystem 205

Fragen zur Wiederholung

l. Definieren Sie den Begriff Kreislaufsystem und geben Sie einen Überblick über dessen
Funktionen.
2. Geben Sie einen Überblick über die Zusammensetzung des menschlichen Blutes.
3. Beschreiben Sie den Bau eines Erythrozyten und nennen Sie die Hauptfunktion.
Was ist der Hämatokrit?
4. Welche Arten von Leukozyten kennen Sie?
5. Wie ist ein Thrombozyt gebaut?
6. Wo werden die Blutzellen gebildet bzw. abgebaut?
7. Geben Sie die Normalwerte der Blutzellen an.
8. Nennen Sie die Bestandteile des Blutplasmas und erläutern Sie deren Funktion.
9. Welche Funktionen hat das Blut?
10. Beschreiben Sie die Vorgänge, die zum Verschluss eines verletzten kleineren Blutgefäßes
führen.
11. Warum kann es wegen einer Gerinnungsstörung zu einer Verschiebung des OP-Termines
kommen?
12. Wie kann man die Blutgerinnung bei Blutentnahmen am günstigsten verhindern?
13. Was versteht man unter der Fibrinolyse und wie läuft sie ab?
14. Welche Beziehungen bestehen zwischen Blut und Immunsystem?
15. Nehmen Sie eine Einteilung der verschiedenen Abwehrmechanismen vor.
Begründen Sie den Zusammenhang zwischen äußerem Schutzwall und persönlicher
Hygiene.
16. Welche Aufgaben erfüllen die verschiedenen Leukozytenarten?
17. Was gehört zum lymphatischen System und welche Aufgabe hat es zu erfüllen?
18. Beschreiben Sie Bau, Lage und Aufgaben von
a) Thymus,
b) Milz,
c) Lymphknoten.
19. Kann der Mensch ohne Milz leben? – Begründen Sie Ihre Antwort.
20. Was sind regionäre Lymphknoten und welche Bedeutung haben sie?
21. Was versteht man unter dem Waldeyer’schen lymphatischen Rachenring?
22. Was verstehen Sie
a) unter unspezifischer und
b) unter spezifischer Abwehr?
23. Unterscheiden Sie Allergie und immunologische Toleranz.
24. Was versteht man unter Immunisierung und welche praktische Bedeutung hat sie?
25. Charakterisieren Sie
a) das AB0-System, b) das Rhesussystem.
26. Erläutern Sie die Problematik von Organtransplantationen.
27. Beschreiben Sie Lage und Bau des Herzens.
28. Welche Gefäßarten bilden das Gefäßsystem?
29. Beschreiben Sie den Wandaufbau der Gefäßarten.
30. Was sind Anastomosen und welche Bedeutung haben sie?
31. Erläutern Sie den Blutstrom durch das Herz.
32. Beschreiben Sie Lungen- und Körperkreislauf.
33. Warum spricht man von Lungenarterien, obwohl diese Gefäße venöses Blut führen?
34. Wie erfolgt die Blutversorgung
a) des Kopfes, b) der Arme,
c) der Bauchorgane, d) der Beckenorgane,
e) der Beine?
206 9 Kreislaufsystem

Fragen zur Wiederholung

35. Nennen Sie die Einzugsgebiete


a) der V. cava superior, b) der V. cava inferior.
36. Suchen Sie am eigenen Körper folgende Arterien:
• A. radialis, • A. carotis communis,
• A. temporalis, • A. dorsalis pedis.
37. Erläutern Sie den Pfortaderkreislauf.
38. Beschreiben Sie den Weg des Blutes mithilfe folgender Beispiele:
a) Nährstofftransport vom Darm zur Leber,
b) Arzneimitteltransport von der Armvene zum Herzmuskel,
c) Harnstofftransport von der Leber zur Niere,
d) Arzneimitteltransport vom M. gluteus medius zum Herzmuskel.
39. Beschreiben Sie den Aufbau und die Funktion des Lymphgefäßsystems.
40. Wie entsteht die Lymphe?
41. Beschreiben Sie den Erregungsablauf im Herzen.
42. Erkunden Sie in der Praxis die EKG-Abnahme und erbitten Sie die Befunderklärung durch
einen Arzt.
43. Beschreiben Sie den Ablauf eines Herzschlages! Beginnen Sie mit dem Sinusknoten-
impuls.
44. Definieren Sie: Sinusfrequenz, Herzfrequenz, Schlagvolumen, Restvolumen, Herzminuten-
volumen, Phonokardiogramm.
45. Warum herrscht in der linken Herzkammer ein höherer Druck als in der rechten?
46. Wie erfolgt die Anpassung der Herzleistung an unterschiedliche Belastungen?
47. Was verstehen Sie unter der Windkesselfunktion und welche Bedeutung hat sie?
48. Definieren Sie:
a) Puls (wodurch kann die Pulsqualität verändert werden?),
b) arterieller Blutdruck,
c) Hoch- und Niederdrucksystem.
49. Erläutern Sie die Aufgaben der Arteriolen.
50. Erklären Sie die Mechanismen des Stoffaustausches zwischen Kapillarblut und Gewebe.
51. Erläutern Sie die Mechanismen, die den venösen Rückstrom bewirken.
52. Worin liegt die Bedeutung des venösen Systems als Blutspeicher?
53. Begründen Sie die Eignung des Venensystems für Blutentnahmen, Injektionen, Infusionen
und Transfusionen.
54. Begründen Sie, warum man nach einer reichlichen Mahlzeit nicht gleich schwimmen soll.
55. Begründen Sie die Notwendigkeit der Kreislaufregulation. Was sind die grundsätzlichen
Ziele?
56. Was wissen Sie über die Organdurchblutung und wie erfolgt deren Regulation?
57. Wie wird auf lokaler Ebene die Durchblutung der Niere konstant gehalten?
58. Erläutern Sie die zentrale Kreislaufregulation.
59. Erläutern Sie die reflektorische Regulation des arteriellen Blutdruckes.
60. Welche Bedeutung haben Adrenalin, Noradrenalin und Angiotensin II bei der Durch-
blutungsregulation?
61. Beschreiben Sie den Renin-Angiotensin-Aldosteron-Mechanismus und seine Bedeutung.
62. Unterscheiden Sie zwischen schnellen und langsamen Regulationsmechanismen im Kreis-
lauf.
63. Begründen Sie, warum Kreislauf- und Atmungsregulation gekoppelt sein müssen.
207
Wärmehaushalt und
10 Temperaturregulation

Die Temperatur hat einen entscheidenden Merke


Einfluss auf alle Funktionsabläufe im Organis-
Die genauesten Werte liefert die rektale
mus (✑ 2.4.3, S. 39). Gleichwarme (homoio-
Messung am Morgen sofort nach dem Er-
therme) Lebewesen, zu denen auch der Mensch
wachen (Morgen- oder Aufwachtemperatur).
gehört, halten ihre Körpertemperatur durch
zusätzliche Wärmeproduktion und Regelmecha-
nismen, unabhängig von der Umgebungstempe- ❑
P Bei einer Entzündung im Unterbauch (z. B.
ratur, konstant. Appendizitis) liegt die Rektaltemperatur um
ca. 1 °C über der Axillartemperatur.
10.1 Körpertemperatur des Die nähere Bestimmung der Körperschalen-
Menschen temperatur erfolgt durch Messung der Haut-
temperatur an mehreren Hautstellen (z. B. Stirn,
Die inneren Körperteile weisen eine höhere Leibeswand, Arm, Bein). Aus den Messwerten
Temperatur als die oberflächlichen auf. Es können dann Mittelwerte sowohl für den gesam-
besteht also ein Temperaturgefälle von innen ten Körper als auch einzelne Körperteile gebil-
nach außen (in den Extremitäten zusätzlich von det werden.
proximal nach distal). Dementsprechend werden
2 Temperaturbereiche unterschieden: Mittlere Hauttemperatur
– die relativ konstante Körperkerntemperatur • Gesamtkörper 33 – 34 °C
von ca. 37 °C im gleichwarmen (homoiother- • Bein 27 – 29 °C
men) Körperkern (= ^ Körperhöhlen) und • Arm 30 – 32 °C
– die mehr oder weniger schwankende Körper-
schalentemperatur in der wechselwarmen ❑
P Die Messung der Hauttemperatur erfolgt
(poikilothermen) Körperschale (=^ Haut und insbesondere bei peripheren Durchblutungs-
Gliedmaßen). störungen. Hier kann die Temperatur der kran-
ken Extremität 2 bis 3 °C niedriger liegen.
Messung der Körpertemperatur
Die Körpertemperatur wird einigermaßen genau
dort gemessen, wo größere Blutgefäße dicht [˚C]
unter der äußeren Haut bzw. Schleimhaut verlau- 37,5
fen oder Haut auf Haut liegt und der Einfluss der
Umgebungstemperatur weitestgehend ausge-
schlossen werden kann. Hierfür sind drei Stellen 37,0
gut geeignet:
• Mastdarm (Rektum), 36,5
• Mundhöhle und [Uhrzeit] 6 12 18 24 6
• Achselhöhle.

Tab. 10.1 Temperaturmessungen. Die Körpertemperatur des


Menschen zeigt eine Tages-
Messmethoden Messdauer Normaltemperatur ˚C periodik, die auf einem
(in Minuten) morgens nachmittags endogenen Rhythmus („in-
rektal (im Rektum) 2–4 36,5 37,8 nere Uhr“) beruht. Das
oral (unter der Zunge) 5 36,2 37,5 Temperaturminimum tritt
axillar (in der geschlossenen 8 – 10 36,0 37,2 früh und das -maximum
Achselhöhle) abends auf.
208 10 Wärmehaushalt und Temperaturregulation

Darüber hinaus treten Temperaturschwankun- Dies erfolgt durch:


gen auch über längere Zeiträume auf, wie dies – Kältezittern als Ausdruck unwillkürlicher
z. B. im Zusammenhang mit dem Menstruations- Muskelaktivität,
zyklus zu beobachten ist. – willkürliche Körperbewegungen und
– zitterfreie Wärmeproduktion beim Neugebo-
renen im mitochondrienreichen braunen Fett-
10.2 Wärmeproduktion und gewebe, das zwischen Schulterblatt und Ach-
Wärmeabgabe selhöhle liegt.

Voraussetzung für eine konstante Körpertempe- Wärmeabgabe


ratur ist ein Gleichgewicht zwischen Wärme- Aufgrund des im Körper vorherrschenden Tem-
produktion, Wärmeaufnahme (nur wenn Um- peraturgefälles nimmt das Blut die im Körper-
gebungstemperatur über der Körpertemperatur kern produzierte Wärme auf und transportiert sie
liegt) und Wärmeabgabe. durch Konvektion (= Wärmestrom) zur Haut
(= innerer Wärmestrom).
Wärmeproduktion
Merke
Die Wärmeproduktion ist an den Energiestoff-
wechsel gekoppelt. Bei allen Energieumwand- Die Hautdurchblutung ist für die Wärme-
lungen im Körper wird ein bestimmter Teil in regulation von entscheidender Bedeutung.
Wärmeenergie umgewandelt, der, soweit not-
wendig, für die Aufrechterhaltung der Körper- Der Wärmetransport von der Haut in die umge-
temperatur genutzt wird. bende Luft (= äußerer Wärmestrom) erfolgt in
Welchen Anteil die Körperorgane an der Wärme- Ruhe und bei einer Umgebungstemperatur von
bildung in Ruhe und bei körperlicher Arbeit 20 °C zu ca. 70 % durch Wärmestrahlung (be-
haben, ist aus Abbildung 10.1 ersichtlich. nötigt keinen Wärmeträger und wird durch die
Lufttemperatur kaum beeinflusst). Der Rest ent-

P Bei schwerer körperlicher Arbeit erhöht sich
fällt zu ca. 10 % auf Wärmeleitung (ist an Luft
die Wärmebildung um ein Vielfaches gegen- gebunden und funktioniert nur, wenn die umge-
über dem Ruhezustand. bende Luft kühler als die Haut ist) und zu ca.
20 % auf die Verdunstung von Wasser.
In bestimmten Situationen kann es erforderlich Bei fehlendem Temperaturgefälle zwischen Haut-
werden, zusätzlich Wärme zu produzieren. oberfläche und umgebender Luft (Umgebungs-
temperatur oberhalb der Körpertemperatur)

Organe der Brust- und Bauchhöhle Organe der Brust- und Bauchhöhle
Gehirn Muskulatur
Haut, Muskulatur Rest
Rest

10 % 16 % 8% 2 %
18 %
90 %
56 %

... in Ruhe ... bei körperlicher Arbeit

Abb. 10.1 Anteil der Körperorgane an der Wärmebildung.


10.2 Wärmeproduktion und Wärmeabgabe 209

Gehirn ATP

Körperkern-
Thoraxorgane temperatur 37 ˚C

Bauchorgane
28 ˚C
ADP + P
Körperschalen-
31 ˚C temperatur

Hypothalamus –
Temperaturregulationszentrum

on
m ati
or
Inf

Haut

Rückenmark
Blutgefäße
Haut
Schweißdrüse

eng weit

Schweiß Schweiß

Wärmeregulation. Abb. 10.2


210 10 Wärmehaushalt und Temperaturregulation

kann Wärme nur noch durch Verdunstung abge- Vorgänge bei Temperaturanstieg über den
geben werden. Sollwert:
Die Wasserabgabe erfolgt durch Diffusion, Die Wärmeabgabe wird erhöht durch
wobei man 2 Formen unterscheidet: – Erweiterung der Hautblutgefäße und damit
1. Perspiratio insensibilis (= extraglanduläre Forcierung des inneren Wärmestroms sowie
Wasserabgabe), die nicht steuerbare tempera- – vermehrte Schweißbildung.
turabhängige Wasserabgabe durch Haut und
Atmung (normal: 0,5 – 1 l/d). Vorgänge bei Temperaturabfall unter den
2. Perspiratio sensibilis (= glanduläre Wasser- Sollwert:
abgabe), die durch das vegetative Nerven- Die Regulation erfolgt hauptsächlich durch zwei
system steuerbare Wasserabgabe – Schwitzen Mechanismen.
(normal: 0,5 l/d). – Drosselung der Wärmeabgabe durch Engstel-
lung der Hautblutgefäße und damit Vermin-

P Die Wasserverdunstung ist ein stark Energie derung des inneren Wärmestroms.
verbrauchender Vorgang, d. h., dass beim Ver- – Erhöhung der Wärmeproduktion durch Muskel-
dunsten relativ geringer Wassermengen dem zittern („Zittern vor Kälte“) und willkürliche
Körper relativ viel Wärme entzogen wird. Da Muskelbewegungen.
die Wärme vorwiegend über die Haut abge- Wie bereits erwähnt, besitzt das Neugeborene in
geben wird, hat das Verhältnis zwischen Form der zitterfreien Wärmebildung im braunen
Körperoberfläche und -volumen große Be- Fettgewebe eine zusätzliche Regulationsmög-
deutung. lichkeit.
Beim Säugling ist die Körperoberfläche im
Verhältnis zum Körpervolumen größer als Merke
beim Erwachsenen, folglich kühlt er sehr leicht
Die Mechanismen zur Regulation der Körper-
aus.
temperatur sind Verengung (Vasokonstrik-
tion) und Erweiterung (Vasodilatation) der
Regulation der Körpertemperatur Hautblutgefäße, Schweißsekretion und Ver-
Die Thermoregulation erfolgt über einen biologi- änderung der Wärmebildung.
schen Regelkreis. Das Temperaturregulations- Diese Mechanismen können sehr schnell aus-
zentrum liegt im Hypothalamus des Zwischen- gelöst werden, d. h. innerhalb von Sekunden
hirns und speichert den Sollwert (normal 37 °C). oder Minuten.
Durch Thermorezeptoren in der Haut, im
Rückenmark und im Hypothalamus erfolgt die Neben den beschriebenen schnellen Anpassungs-
Messung des Istwertes, der dem Zentrum zum vorgängen gibt es auch langfristige. Diese phy-
Vergleich mit dem Sollwert zugeleitet wird. siologischen Adaptationen werden als Akkli-
matisation bezeichnet.

Tab. 10.2 Regelkreis zur Regulation der Körpertemperatur.

Wärmeregulationszentrum
35 36 37 38 39 40 41

Sollwert Fieber

Hautblutgefäße
Schweißsekretion Wärme- und Kälte-
Körperkerntemperatur rezeptoren in
Wärmebildung Körperschale und -kern
Verhalten
10.2 Wärmeproduktion und Wärmeabgabe 211

Am bedeutsamsten ist die Hitzeadaptation bei infolge Überlastung der Wärmeproduktion unter
schwerer körperlicher Arbeit und hohen Um- normal wird als Hypothermie bezeichnet. Bei
gebungstemperaturen bzw. bei in den Tropen Körpertemperaturen um 25 °C erlöschen die
lebenden Menschen. Die Anpassung beruht vor Reflexe des Nervensystems und es tritt der Tod
allem auf einer Verdreifachung der Schweiß- durch Herzflimmern ein.
sekretion, die aufgrund der nach unten verscho-
benen Reizschwelle schon bei niedrigeren Kör- Bei älteren Menschen kann es dazu kommen,
pertemperaturen einsetzt. Außerdem nimmt der dass ihre Körpertemperatur infolge Senkung des
Elektrolytgehalt des Schweißes ab. Sollwertes im Temperaturregulationszentrum
Hitzeadaptation bedeutet, dass der Betroffene (Gegenteil von Fieber) niedriger (z. B. auf 35 °C)
mehr trinken muss, um seinen Flüssigkeits- eingeregelt wird.
haushalt auszugleichen.
Die Hitzeadaptation bewahrt den Menschen vor ❑
P Hypothermie kann als medizinisches
einem Hitzekollaps, d. h. einer Überlastung des Verfahren auch künstlich herbeigeführt werden
Kreislaufes (kritischer Anstieg von Herzfre- mit dem Ziel, die Stoffwechselvorgänge herab-
quenz und Hautdurchblutung). zusetzen und die Reflexe zu dämpfen. Dadurch
werden tiefgreifende operative Eingriffe z. B.
Fieber in der Herzchirurgie ermöglicht.
Als Fieber bezeichnet man eine Erhöhung der
Körpertemperatur, z. B. bei Infektionen. So ge-
nannte fiebererregende (pyrogene) Stoffe bewir-
ken im Temperaturregulationszentrum, dass der
Sollwert der Körpertemperatur höher gestellt
wird.

Fieberanstieg (= Anstieg der Körpertemperatur,


bis der neue Sollwert erreicht ist). Die Vorgänge
sind die gleichen wie bei Temperaturabfall unter
den Sollwert.


P Tritt die Differenz zwischen Ist- und neuem
Sollwert (= Fieberwert) plötzlich auf, kommt
es zum Schüttelfrost.

Fieberabfall (= Abfall der Körpertemperatur,


nachdem der normale Sollwert im Temperatur-
regulationszentrum wieder eingestellt worden
ist). Die Vorgänge entsprechen denen beim
Temperaturanstieg über den Sollwert.

P Fieberabfall kann zu Schweißausbrüchen
führen.
Hyperthermie und Hypothermie
Wenn bei extremer Hitzebelastung die Wärme-
abgabemechanismen überfordert werden, kann
es ebenfalls zu einem Temperaturanstieg kom-
men (Hyperthermie). Man spricht von Hitz-
schlag oder Sonnenstich. Hält sie bei Tempera-
turen um 41 °C länger an, kommt es zur Zer-
störung von Nervenzellen im Gehirn und evtl.
zum Tod. Ein Absinken der Körpertemperatur
212 10 Wärmehaushalt und Temperaturregulation

Fragen zur Wiederholung

1. Welche Bedeutung hat die Temperatur für den Ablauf der Körperfunktionen?
2. Unterscheiden Sie Körperkerntemperatur und Schalentemperatur.
3. Welchen Wert hat die normale Körpertemperatur des Menschen?
4. Welche Möglichkeiten der Temperaturmessung kennen Sie?
Nennen Sie Vor- und Nachteile der verschiedenen Messmethoden.
5. Welche Bedeutung haben Wärmeproduktion und Wärmeabgabe bei der Konstanthaltung
der Körpertemperatur?
6. Erklären Sie die Regulation der Körpertemperatur.
7. Begründen Sie, warum Fieber mit Frieren beginnt.
213

11 Atmungssystem

Das Atmungssystem dient der Aufnahme von rer und mittlerer Nasenmuschel;
Sauerstoff und der Abgabe von Kohlendioxid. untere Nasenmuschel (= selbständi-
Diesen Gasaustausch, bei dem die Lunge eine ger Knochen). Die Nasenmuscheln
zentrale Funktion übernimmt, bezeichnet man dienen der Oberflächenvergröße-
als äußere Atmung. Sie ist die Voraussetzung für rung.
den oxidativen Abbau energiereicher Stoffe • Boden: Gaumen (Palatum), der gleichzeitig
(z. B. Glucose) zum Zweck der Energiebereit- Dach der Mundhöhle ist (✑ S. 238)
stellung und somit für die innere Atmung, deren
Vorgänge in den Zellen ablaufen. Unter jeder Nasenmuschel befindet sich ein
Nasengang. Die Grenze zwischen Nasenhöhle
und Rachen bilden die beiden Choanen (hintere
11.1 Gliederung Öffnungen der Nase). Durch feine Kanäle ist die
Nasenhöhle mit den Nasennebenhöhlen (Sinus
Das Atmungssytem besteht aus den oberen und paranasales) verbunden (✑ Abb. 11.3, S. 214 und
unteren Luftwegen. Abb. 11.4, S. 215). Die Belüftung dieser Höhlen
erfolgt mit der Atmung. Eine weitere Verbindung
Nase obere Luftwege besteht vom unteren Nasengang zur Augenhöhle
Rachen durch den Tränennasengang (Ductus nasolacri-
Kehlkopf malis). Auf diesem Weg wird die Tränenflüssig-
Luftröhre untere Luftwege keit in die Nasenhöhle abgeleitet.
Bronchialbaum
Lunge
Merke
Der Naseninnenraum gliedert sich in den
Nasenvorhof (Vestibulum nasi) und die
11.2 Bau der Atmungsorgane Nasenhöhle (Cavum nasi) mit Nasen-
muscheln und Nasengängen.
11.2.1 Nase (Nasus)

Die Nase erfüllt neben der Riechfunktion wich-


tige Aufgaben im Bereich der Atmung.
In der Nase wird die Luft für die unteren Luft-
wege vorbereitet, d. h., die Luft wird angewärmt,
Nasenwurzel
angefeuchtet, von Staubteilchen und Bakterien
gereinigt und auf ihre chemische Beschaffenheit
geprüft. Nasenrücken
Der Naseninnenraum wird durch die Nasen-
scheidewand (Septum nasi) in einen rechten und
linken Abschnitt geteilt. Die Nase ist im Bereich
des Nasenvorhofes (= unmittelbar an die Nasen- Nasenspitze
löcher grenzender Raum) knorpelig, dahinter im
Bereich der eigentlichen Nasenhöhle knöchern.
Nasenloch
Begrenzung der Nasenhöhle Nasenflügel
(✑ Abb. 11.4, S. 215)
• Oben: Siebbeinplatte. Die Nase in ihrer äußeren Struktur. Abb. 11.1
• Seitlich: Weitere Teile des Siebbeins mit obe-
214 11 Atmungssystem

Nasenschleimhaut
Die die Nasenhöhle auskleidende Schleimhaut
teilt sich in 2 Bereiche:
1. respiratorische Schleimhaut (Regio respiratoria) Stirnhöhle
Sie bedeckt den größten Teil der Nasenhöhle (Sinus frontalis)
und ist gekennzeichnet durch
Siebbeinhöhle
• mehrreihiges (Sinus ethmoidalis)
Flimmerepithel, oder
• zahlreiche ➝ Reinigung Siebbeinzellen
➝ Anfeuchtung (Cellulae
Becherzellen ethmoidales)
• Venengeflechte ➝ Erwärmung
Kieferhöhle
(Sinus maxillaris)
2. Riechschleimhaut (Regio olfactoria)
Sie befindet sich oberhalb der oberen Nasen-
muscheln und enthält die Lage der Nasennebenhöhlen
• Riechzellen, von denen fadenförmige Ner- (Sinus paranasales). Abb. 11.3
ven durch die Siebbeinplatte zum Gehirn
ziehen (N. olfactorius = I. Hirnnerv;
✑ S. 354). Kehlkopf und die Mundhöhle mit der Speise-
röhre. Damit kreuzen sich in ihm Luft- und
Speiseweg. Der Rachenraum wird ohne scharfe
11.2.2 Rachen (Pharynx) Grenzen in drei übereinander liegende Abschnitte
gegliedert (✑ Tab. 11.1).
Der schlauchförmige Rachenraum (✑ Abb. 11.4
und 11.5) verbindet die Nasenhöhle mit dem Merke
Der Rachen hat 7 Öffnungen:

• 2 Choanen
Nasenhöhle → Nasenhöhle,
(Cavitas nasi) • 2 Öffnungen
Nasenvorhof der Ohrtrompeten
(Vestibulum nasi) → Mittelohr,
Rachenraum • Schlundenge
(Pharynx)
Kehlkopf
→ Mundhöhle,
(Larynx) • Kehlkopfeingang
Luftröhre → Kehlkopf,
(Trachea) • Speiseröhrenöffnung
→ Speiseröhre.

Rachenschleimhaut
Entsprechend der unterschiedlichen
Beanspruchung enthält sie Flimmer-
Mittelfellraum epithel mit Becherzellen im Nasen-
(Mediastinum)
abschnitt und mehrschichtiges unver-
Lungen horntes Plattenepithel im Mund- und
(Pulmones)
Zwerchfell Kehlkopfabschnitt.
(Diaphragma)

Abb. 11.2 Atmungssystem.


11.2 Bau der Atmungsorgane 215

Abschnitte des Rachens. Tab. 11.1


Abschnitt Merkmale

Nasenrachenraum – Rachenmandel (Tonsilla pharyngea) am Rachendach der


(Pars nasalis pharyngis): Schädelbasis.
hinter den Choanen

P Bei Kindern ist diese Tonsille häufig vergrößert (z. B. durch
Wucherungen) und behindert dadurch die Nasenatmung.
– Öffnungen der Ohrtrompeten oder Eustachi’schen Röhren
(Tubae auditivae) an den Seitenwänden. Um die Tuben-
öffnung befinden sich die Tubenmandeln und von dort nach
unten die Seitenstränge.

P Die Tuben verbinden die Paukenhöhle des Mittelohres mit
dem Rachen zum Zwecke des Luftdruckausgleiches.
Mundrachenraum – Kreuzung von Luft- und Speiseweg.
(Pars oralis pharyngis): – Ringförmige Muskeln (Schlundschnürer) befördern die
hinter der Mundhöhle Nahrung in die Speiseröhre.
Unterrachenraum – Kehldeckel ragt wie ein Wellenbrecher in den Speiseweg
(Pars laryngea pharyngis): und leitet den Speisebrei rechts und links in die hinten
seitlich und hinter dem Kehlkopf liegende Speiseröhre.

Siebbeinplatte
Stirnhöhle (Lamina cribrosa)
(Sinus frontalis)
Keilbeinhöhle
obere Nasenmuschel (Sinus sphenoidalis)
(Concha nasalis superior)
oberer Nasengang
mittlere Nasenmuschel (Meatus nasi superior)
(Concha nasalis media)
mittlerer Nasengang
untere Nasenmuschel (Meatus nasi media)
(Concha nasalis inferior)
Rachenmandel
Oberkiefer (Tonsilla pharyngea)
(Maxilla)
unterer Nasengang
Mundhöhle (Meatus nasi inferior)
(Cavitas oris)
Nasenrachen
Zunge (Pars nasalis pharyngis)
(Lingua)
Mundrachen
Unterkiefer (Pars oralis pharyngis)
(Mandibula)
Zungenwurzel
Zungenbein (Radix linguae)
(Os hyoideum)
Kehldeckel Unterrachenraum
(Epiglottis) (Pars laryngea pharyngis)
Kehlkopfeingang
Schildknorpel
(Cartilago thyroidea) Speiseröhre
Luftröhre (Ösophagus)
(Trachea)

Nasenhöhle, Rachen und Mundhöhle (Medianschnitt). Abb. 11.4


216 11 Atmungssystem

unter die Zungenwurzel.


Er ist durch ein Band an
der Innenseite des Schild-
Rachenmandel
(Tonsilla pharyngea) knorpels befestigt.
hintere
Nasenöffnungen Der Kehlkopfinnenraum
(Choanen) wird durch zwei Falten,
Ohrspeicheldrüse Taschenfalten (oben) und
(Glandula parotis)
Stimmfalten (unten), ein-
Nasenscheidewand
(Septum nasi) geengt. Er bekommt da-
weicher Gaumen durch die Form einer Sand-
Gaumen-
mandel (Palatum molle) oder uhr. Die Stimmfalten ent-
(Tonsilla palatina) Gaumensegel halten die Stimmband-
(Velum palatinum)
Zäpfchen muskeln (Mm.vocales) und
Zungenmandel
(Uvula palatina)
(Tonsilla lingualis) die Stimmbänder (Ligg.
Kehldeckel vocalia). Durch die beiden
(Epiglottis) Kehlkopfvorhof
(Vestibulum laryngis) Engstellen entstehen drei
Speiseröhre
(Ösophagus) Luftröhre übereinander liegende Ab-
(Trachea) schnitte (✑ Abb. 11.6):
• Oberer Abschnitt –
Abb. 11.5 Rachenraum (von dorsal geöffnet). Vorhof (Vestibulum
laryngis) zwischen
Kehlkopfeingang und
11.2.3 Kehlkopf (Larynx) Taschenfalten.
• Mittlerer Abschnitt – mittlerer Kehlkopfab-
Mit dem Kehlkopf beginnen die unteren schnitt (Cavitas laryngis intermedia) zwi-
Atemwege. Er dient primär dem Verschluss des schen Taschen- und Stimmfalten. Die seitliche
Atemweges beim Schlucken, Husten und bei der Erweiterung dieses Raumes wird als Kehl-
Bauchpresse. Außerdem werden im Kehlkopf kopftasche (Morgagni-Tasche) bezeichnet.
die Töne beim Sprechen erzeugt.
Zungenbein
Lage (Os hyoideum)
Der Kehlkopf liegt im vorderen oberen Hals- Kehldeckel
(Epiglottis)
bereich (Neugeborenes: in Höhe des 3./4. Hals-
wirbels; Erwachsener: in Höhe des 5./6. Hals- Kehlkopfvorhof
(Vestibulum laryngis)
wirbels). Seitlich verlaufen die Gefäß-Nerven- Taschenfalte
Stränge des Halses (✑ S. 150, 151). Schildknorpel
Bau Kehlkopftasche
Das Grundgerüst des Kehlkopfes wird aus mittlerer
Kehlkopfabschnitt
5 Knorpeln gebildet (✑ Abb. 11.7).
Stimmfalte mit
– 1 Ringknorpel: Bildet die Basis des Kehl- Stimmband
kopfes. Ringknorpel
– 1 Schildknorpel: Liegt über dem Ringknorpel Stimmritze
und ist durch je 1 Membran (Rima glottidis)
an ihm und dem Zungenbein subglottischer Raum
befestigt. Luftröhre
– 2 Stellknorpel: Sie sind auf der hinteren (Trachea)
Platte des Ringknorpels dreh- Luftröhrenknorpel
bar gelagert.
– 1 Kehldeckel Dieser rennsattelförmige Kehlkopfinnenraum (von dorsal). Abb. 11.6
(Epiglottis): Knorpel erstreckt sich bis
11.2 Bau der Atmungsorgane 217

Dorsalansicht Lateralansicht

Zungenbein Zungenbein
(Os hyoideum) (Os hyoideum)
Kehldeckel
(Epiglottis)
Kehldeckel
Schildknorpel- (Epiglottis)
Zungenbein-
Membran Schildknorpel
(Membrana (eröffnet)
thyrohyoidea)
Stellknorpel
Schildknorpel
Stimmbänder
Stellknorpel
Ringknorpel

Ringknorpel
Luftröhre
(Trachea)

Stellknorpel

Schildknorpel

Ringknorpel

Kehlkopf. Abb. 11.7

• Unterer Abschnitt – subglottischer Raum falten zur Innenseite des Schildknorpels. Die
(Cavitas infraglottica) zwischen Stimmfalten Öffnung zwischen Stimmbändern (vorn) und
und Luftröhrenbeginn. Stellknorpeln (hinten) ist die Stimmritze.

Der Kehlkopfinnenraum wird durch die Kehl- Merke


kopfschleimhaut ausgekleidet. Im Vorhof und
an den Stimmbändern besteht sie aus mehr- Die Stimmritze besteht aus
schichtigem unverhornten Plattenepithel. In den – dem Stimmbandanteil zwischen den Stimm-
anderen Bereichen aus mehrreihigem Flimmer- bändern (vordere zwei Drittel) und
epithel. – dem Stellknorpelanteil, einem dreieckigen
Spalt zwischen den Stellknorpeln (sog.
Flüsterdreieck), hinteres Drittel.
Merke
Beim Schlucken wird der Kehlkopf durch
Muskeln gehoben. Dabei drückt sich der Kehlkopfmuskeln
Kehldeckel unter die Zungenwurzel und Die inneren Kehlkopfmuskeln haben die Auf-
verschließt den Eingang zum Kehlkopf (✑ gabe, die Stimmritze zu erweitern und zu
S. 253, Schluckvorgang). verschließen sowie die Spannung der Stimm-
bänder zu verändern.
Dementsprechend unterscheidet man Stell- und
Stimmritze (Rima glottidis) Spannmuskeln. Die Stellmuskeln setzen an den
Von jedem Stellknorpel zieht ein Stimmband Stellknorpeln an und bewegen diese, sodass die
(Lig. vocale) als oberer freier Rand der Stimm- Stimmritze verengt bzw. erweitert wird.
218 11 Atmungssystem

Die Erweiterung erfolgt nur durch einen


Ruheatmung forcierte Atmung
Muskel, den hinteren Ringknorpel-Stell-
knorpel-Muskel (M. cricoarytenoideus
posterior, kurz: Posticus).
Die Verengung bzw. der komplette Ver-
schluss erfolgt u. a. durch den seitlichen
Ringknorpel-Stellknorpel-Muskel (M.
cricoarytenoideus lateralis, kurz: Late-
ralis) im Stimmbandbereich und den
queren (M. arytenoideus) und schrägen
(M. arytenoideus obliquus) Stellknorpel- Stimmritze elastischer Stimmband
muskel im Stellknorpelbereich. (Rima glottidis) Konus1) (Ligamentum vocale)
Stellknorpel (Conus Schildknorpel
(Cartilago arytenoidea) elasticus) (Cartilago thyroidea)
Merke
Der Posticus ist der einzige Stimm- Phonation Pressen
ritzenerweiterer. Die Stimmritze ist (Stimmbildung)
beim Atmen erweitert (= Respirations-
stellung), beim Sprechen und Singen
geschlossen oder stark verengt (= Pho-
nationsstellung) und beim Pressen
vollständig verschlossen.

Durch die Spannmuskeln werden die


Stimmbänder mehr oder weniger ge-
spannt, sodass sich ihre Länge und Dicke
verändern. Zu diesen Muskeln gehören 1) Teil der sog. fibroelastischen Membran, die unter der Kehlkopf-
schleimhaut zwischen Ringknorpel und Stimmbändern liegt
z. B. der Ringknorpel-Schildknorpel-
Muskel (M. cricothyroideus, kurz:
Externus) und der Stimmmuskel (M. Stellung der Stimmbänder (Blick von oben). Abb. 11.8
vocalis, kurz: Vocalis).
Die Innervation der inneren Kehlkopf-
muskeln erfolgt durch den rückläufigen Kehl- Stimme. Der Spannungszustand der Stimm-
kopfnerv (N. laryngeus recurrens), einem Ast bänder sowie ihre Länge und Dicke bestimmen
des N. vagus. die Stimmhöhe (je kürzer, dünner und gespann-
ter, desto höher die Stimme). Für die Lautstärke

P Eine Lähmung der Kehlkopfmuskulatur ist die Stärke des Luftstromes verantwortlich.
wird als Kehlkopflähmung bezeichnet. Als Durch Formveränderung des sog. Ansatzrohres
Ursache kommen z. B. Erkrankungen des N. (= Resonanzraum), bestehend aus Rachen-,
vagus bzw. dessen Äste, die die Kehlkopfmus- Nasen- und Mundraum, werden die verschiede-
keln innervieren, Gehirnentzündung oder mul- nen Laute gebildet. Dies nennt man Artikulation.
tiple Sklerose infrage. Der Resonanzraum bedingt auch die individuelle
Bei doppelseitiger Lähmung des Posticus ent- Klangfarbe. Die Flüsterstimme entsteht, wenn
steht Atemnot, die zur Erstickung führen kann. die Luft bei nichtschwingenden Stimmbändern
nur durch das Flüsterdreieck strömt.
Stimmbildung und Artikulation
Bei der Stimmbildung befinden sich die Stimm- Merke
bänder in Phonationsstellung. Durch „Anblasen“ Die Stimme wird als Lautäußerung des
wird der Stimmritzenverschluss gesprengt und Menschen durch die in Schwingung versetz-
die Stimmbänder in Schwingung versetzt. Da- ten Stimmbänder im Zusammenwirken mit
durch, dass der Schwingungsrhythmus ständig Resonanzerscheinungen im Ansatzrohr er-
den aus der Lunge und Luftröhre (= Anblasrohr) zeugt.
kommenden Luftstrom unterbricht, entsteht die
11.2 Bau der Atmungsorgane 219

Unter der Einwirkung der


Geschlechtshormone kommt
es während der Pubertät Zungenbein
vor allem beim Jungen zu (Os hyoideum)
einer Vergrößerung des Schildknorpel-
Kehlkopfes einschließlich Zungenbein-
der Verlängerung der Stimm- Kehlkopf Membran
(Larynx) (Membrana thyrohyoidea)
bänder. Die Folge ist der
Wechsel von der höheren Schildknorpel
(Cartilago thyroidea)
Kinderstimme zur tieferen
Stimme des Erwachsenen Ringknorpel
(Cartilago cricoidea)
(= Stimmbruch). Die Män-
nerstimme ist um acht Töne Knorpelspangen
tiefer als die Frauenstimme.

Für den Schutz der unteren Ringbänder


(Ligg. anularia)
Atemwege ist der Husten- Luftröhre
aus elastischem und
reflex wichtig. Hier kommt (Trachea)
kollagenem Bindegewebe
es nach Einatmung zum
Verschluss der Stimmritze
und kurz danach wird sie
beim Ausatmen wieder
schlagartig geöffnet, sodass
der entstehende Luftstoss
Luftröhrengabel
Schleim oder Fremdkörper (Bifurcatio tracheae)
in den Rachen befördert.


P Bei Entzündungen der
Stimmfalten entsteht Hei- Bronchial-
baum
serkeit. (Anfang)
Auch das Kehlkopfkarzi-
nom (Kehlkopfkrebs) be- linker
Hauptbronchus
ginnt häufig an den rechter (Bronchus principalis sini-
Stimmfalten. Bei länger Hauptbronchus ster)
(Bronchus principalis dexter)
bestehender Heiserkeit
sollte deshalb immer ein
Arzt aufgesucht werden. Wandschichten
äußere lockere
Bindegewebe-
schicht
11.2.4 Luftröhre (Trachea) lichte Weite
(Adventitia)
(Lumen) hufeisenförmige
Lage und Nachbarschafts- Knorpelspange
beziehungen Schleimhaut (Cartilago trachealis)
(Tunica mucosa
Die Luftröhre eines Erwach- respiratoria) Hinterwand
senen ist ca. 12 Zentimeter (bindegewebig-
lang und verbindet den Kehl- muskuläre Membran)
kopf mit dem Bronchial- Speiseröhre
baum. Sie schließt sich dem (Ösophagus)
Ringknorpel des Kehlkopfes
an und endet in Höhe des 4.
Brustwirbels mit der Tei- Luftröhre. Abb. 11.9
lung in die beiden Haupt-
220 11 Atmungssystem

bronchien. Die Teilungsstelle ist die Luftröhren- Lunge ist weich, elastisch und schwammig. Die
gabel (Bifurcatio tracheae). Nach der Lage Lungen sind die relativ leichtesten Organe. Die
unterscheiden wir 2 Hauptabschnitte: Farbe der Lungenoberfläche ist beim Neugebo-
– Halsteil renen rosa, später wird sie durch die Ablagerung
Der Halsteil befindet sich vor der Speiseröhre. von Rußteilchen zunehmend fleckig (rötlich,
Davor und seitlich liegt die Schilddrüse. grau bis schwarz). Die Lungen erhalten ihre
– Brustteil Form durch die Anlagerung über die Pleura an
Hier verläuft die Luftröhre im oberen Medias- die Innenwände des Thorax und das Zwerchfell.
tinum zwischen den großen Blutgefäßen und
vor der Speiseröhre. An jeder Lunge erkennt man
• Lungenbasis: liegt auf der Zwerchfell-
Bau kuppel (= Zwerchfellseite);
Die Wände der luftleitenden Wege sind versteift, • Lungenspitze: überragt die 1. Rippe;
damit sie durch den bei der Einatmung entste- • Lungenhilus: an der medialen Seite zum
henden Sog nicht zusammengepresst werden. Mediastinum hin gelegen, Eintritts- bzw.
Dies geschieht bei der Trachea durch 16 bis 20 Austrittsstelle von Hauptbronchus (Bronchus
hufeisenförmige Knorpelspangen. An der principalis), Lungenarterie (A. pulmonalis),
Hinterwand wird sie durch eine bindegewebig- Lungenvenen (Vv. pulmonales), Lymph-
muskuläre Membran verschlossen. gefäßen und Nerven; hier liegen auch die
Ringbänder verbinden die Knorpelspangen elas- Hiluslymphknoten;
tisch miteinander. • Rippenseite: liegt den Rippen an.

P Beim Transport der Nahrung dehnt sich die
Gliederung der Lungen (✑ Tab. 11.2)
Speiseröhre, sodass die Luftröhre eingedrückt Entsprechend der Gliederung des Bronchial-
wird. baumes (✑ Abb. 11.11, S. 222) ergibt sich die
Gliederung der Lungen in Lappen, Segmente
Die Schleimhaut enthält mehrreihiges Flimmer- und Läppchen.
epithel und im tieferen Bereich (Submucosa)
zahlreiche Schleimdrüsen. Bronchialbaum
Als Bronchialbaum bezeichnet man die Ge-
samtheit der Bronchien und Bronchiolen. Er bil-
det die Fortsetzung der Luftröhre. Im Einzelnen
11.2.5 Lungen (Pulmones) sind folgende Abschnitte zu unterscheiden:
– linker und rechter Stamm- oder Haupt-
In den Lungen findet der Gasaustausch statt. bronchus (Bronchus principalis sinister und
Dies wird durch die Lungenbläschen (Alveolen) dexter) als Aufzweigung der Trachea;
ermöglicht, die eine hinreichend große Aus- – Lappenbronchien – der rechte Stammbronchus
tauschfläche (ca. 100 m2) garantieren. Das mus- zweigt sich in 3 und der linke in 2 Lappen-
kelfreie Lungengewebe der rechten und linken bronchien auf;

Tab. 11.2 Gliederung der Lunge.


rechte Lunge linke Lunge

Oberlappen Mittellappen Unterlappen Oberlappen Unterlappen

3 Segmente 2 Segmente 5 Segmente 5 Segmente 4 Segmente

Lungenläppchen
11.2 Bau der Atmungsorgane 221

rechte Lunge linke Lunge

Oberlappen Oberlappen
(Lobus superior) (Lobus superior)

Mittellappen
(Lobus medius)

Unterlappen Unterlappen
(Lobus inferior) (Lobus inferior)

rechte Lunge linke Lunge


3 Segmente des Lungensegmente 5 Segmente des
Oberlappens Oberlappens

1 1 1 1
2 2
2
2 3
3 3 6
3 6 6
6 4 4
4 5 5
7 10 10 9 10
5 8 5 8
9 8
10 8 9 2 Segmente 9
des
5 Segmente des Unterlappens Mittellappens 4 – 5 Segmente des Unterlappens

Lungenläppchen Kapillarnetz der Alveolen


Endbronchiole Trennwand
Ästchen der (Bronchiolus terminalis)
(Septum interalveolare)
Lungenarterie
Ästchen der
respi- Lungenvene
ratorische
Bronchiole Lungenbläschen
(Bronchiolus (Alveolen)
respiratoris –
Abzweigung
zum
Alveolargang) Lungenbläschen
(Alveole) Kapillarnetz

Lunge. Abb. 11.10


222 11 Atmungssystem

rechte Lunge linke Lunge


(Pulmo dexter) Luftröhre (Pulmo sinister)
(Trachea)

rechter Hauptbronchus linker Hauptbronchus


(Bronchus principalis dexter) (Bronchus principalis sinister)

rechter linker
Oberlappen Oberlappen
(Lobus superior (Lobus superior
dexter) sinister)
rechter oberer
Lappenbronchus linker oberer
(Bronchus lobaris Lappenbrochus
superior dexter) (Bronchus lobaris
rechter superior sinister)
Mittellappen Segment-
(Lobus medius dexter) bronchien
rechter mittlerer (Bronchi segmentales)
Lappenbronchus
(Bronchus lobaris
medius dexter)
rechter linker
Unterlappen Unterlappen
(Lobus inferior dexter) (Lobus inferior sinister)
Luftröhrengabel
(Bifurcatio tracheae)

rechter unterer Lappenbronchus linker unterer Lappenbronchus


(Bronchus lobaris inferior dexter) (Bronchus lobaris inferior sinister)

Abb. 11.11 Bronchialbaum.

– Segmentbronchien – jeder Lappenbronchus Feinbau des Bronchialbaumes


zweigt sich in mehrere Segmentbronchien auf; Die Bronchien werden mit zunehmender Auf-
– Bronchiolen – die Segmentbronchien verästeln zweigung immer kleiner und enger.
sich; ab einem Durchmesser von 1 mm spricht Größere Bronchien. Sie sind im Prinzip wie die
man von Bronchiolen. Trachea gebaut; der Knorpel tritt jedoch in Form
Die Endverzweigungen des Bronchialbaumes von unregelmäßig geformten zusammenhängen-
sind die Lungenläppchen, von denen jedes mit den Knorpelplatten auf.
einer Endbronchiole (Bronchiolus terminalis) Kleinere Bronchien. Die Knorpeleinlagerungen
verbunden ist. Der Bronchiolus terminalis zweigt werden immer spärlicher, und das Epithel wird
sich in mehrere Bronchioli respiratorii auf fortschreitend flacher. Es ist eine ringförmig
(besitzen bereits vereinzelt Lungenbläschen), die angeordnete glatte Muskulatur zur Regulation
jeweils in einen blindverschlossenen Alveolar- der Belüftung vorhanden.
gang übergehen. Um jeden Alveolargang sind Bronchiolen. Sie sind knorpelfrei, besitzen kräf-
zahlreiche Lungenbläschen (Alveolen) angeord- tige Spiralmuskeln zur Steuerung der Beatmung.
net, zwischen denen sich unvollständige Lungenbläschen (Alveolen). Die Alveolarwand
Trennwände, die Alveolarsepten, befinden. besteht aus einem sehr dünnen Alveolarendothel
und korbgeflechtartig eingelagerten elastischen

P Der rechte Hauptbronchus verläuft steiler Fasern, die Blut und Luft voneinander trennen.
nach unten und hat einen größeren Durch- Nur hier findet der Gasaustausch zwischen
messer als der linke. Daher befinden sich Organismus und Umwelt statt. Sauerstoff aus der
aspirierte Fremdkörper meistens rechts. Alveolarluft tritt in das Kapillarblut über,
11.2 Bau der Atmungsorgane 223

während das Kohlendioxid in die Gegenrichtung Pleura visceralis (Lungenfell)


diffundiert. Die kleinen Äste der Lungenarterie Die Pleura visceralis bedeckt die Lungenober-
gehen in filzartige Kapillarnetze an der Außen- fläche und ist mit ihr verwachsen. Am Lungen-
fläche der Alveolen über. Diese schließen sich hilus schlägt sie in die Pleura parietalis um.
wieder zu Lungenvenen zusammen (✑ Abb.
11.10). Pleura parietalis (Rippenfell)
Die Pleura parietalis ist mit ihrer Umgebung ver-
Merke wachsen und wird in 3 Abschnitte gegliedert:
In der Lunge werden auf kleinstem Raum – Pleura costalis an der Innenseite der Brust-
große Oberflächen (= Austauschflächen für wand,
O2 und CO2) geschaffen. Mit den Alveolen – Pleura diaphragmatica als Überzug der
vergrößert sich die Oberfläche für den Gas- Zwerchfelloberfläche,
austausch auf ca. 100 Quadratmeter. – Pleura mediastinalis an den Seitenflächen des
Mediastinums.

11.2.6 Brustfell (Pleura) Pleurahöhle (Cavitas pleuralis)


Der kapillare Spalt zwischen den beiden Pleura-
Die Pleura umhüllt die Lungen (✑ Abb. 11.12 blättern heißt Pleurahöhle. In ihm befindet sich
und S. 86). Sie ermöglicht ihre Verschiebbarkeit etwas seröse Flüssigkeit, und es herrscht ein
bei den Atembewegungen und die Kopplung an geringer Unterdruck. Unterdruck, Kohäsions-
die Brustinnenwand sowie an das Zwerchfell. und Adhäsionskräfte halten die beiden Pleura-
Ihre Form entspricht etwa der der Lungen. blätter und damit die Lungen fest an der
Sie besteht aus einem inneren visceralen und Innenwand der Brusthöhle und der Oberfläche
einem äußeren parietalen Blatt. des Zwerchfells. Somit müssen die Lungen den

Umschlagfalte der Pleura visceralis in die


Pleura parietalis am Hilum pulmonis

mikroskopische Darstellung
Eingeweide-
teil der Eingeweide-
Pleura teil der Pleura
(Pleura (Pleura
visceralis) visceralis)
Pleurahöhle Wandteil der
(Cavitas
pleuralis) Pleura
(Pleura
parietalis)

Rippen
(Costae)

Zwerchfell Pleurahöhle
(Diaphragma) (Cavitas pleuralis)

Pleura costalis Pleura diaphragmatica Pleura mediastinalis

Rippenfell
(Pleura parietalis)

Teile des Brustfelles und Lagebezeichnungen. Abb. 11.12


224 11 Atmungssystem

Bewegungen von Thorax und Zwerchfell folgen 11.3.1 Atembewegungen


und können fast reibungslos im Brustraum glei-
ten. Voraussetzung für den Gasaustausch ist die stän-
dige Belüftung der Alveolen. Diese wird durch
Reserve- oder Komplementärräume der Pleura- den rhythmischen Wechsel von Einatmung
höhle (Recessus pleurales) (Inspiration) – verbunden mit einer Erweiterung
Damit sich die Lungen erweitern können, befin- des Brustraumes – und Ausatmung (Exspiration)
den sich im Bereich der Lungenbasis Erwei- – verbunden mit einer Brustraumverengung –
terungsbereiche. In diese gleiten die Lungen bei bewirkt.
Inspiration hinein.
Merke

P Im Gegensatz zum Alveolargewebe der Bei der Inspiration wird O2-reiche und CO2-
Lungen enthält die Pleura zahlreiche sensible arme Luft (Frischluft) in die Alveolen trans-
Nervenfasern. portiert und bei der Exspiration O2-arme und
Bei einer trockenen Rippenfellentzündung CO2-reiche Luft (verbrauchte Luft) an die
(Pleuritis sicca) verursachen die Atembewe- Umwelt abgegeben.
gungen wegen der Reibung zwischen den
beiden Pleurablättern starke Schmerzen.
Bei verschiedenen Erkrankungen (z. B. Pneu- Einatmung (Inspiration) und
monie, Pleuritis) kann es zum Pleuraerguss Ausatmung (Exspiration)
kommen (= verstärkte Flüssigkeitssammlung
im Pleuraspalt). Merke
Bei der Inspiration muss der intrapulmonale
Druck niedriger und bei der Exspiration
höher sein als der Druck der Umweltluft.
11.3 Physiologie der Atmung
Jede Zelle unseres Körpers benötigt für die Auf- Die wechselnden Druckdifferenzen werden
rechterhaltung ihrer Lebensvorgänge ständig folgendermaßen erreicht.
Energie, für deren Bereitstellung sie selbst ver- – Bei der Inspiration wird der Brustraum erwei-
antwortlich ist. In der Regel erfolgt die Energie- tert und das Lungenvolumen vergrößert. In
bereitstellung (oder -freisetzung) in den Zellen der Lunge entsteht ein Unterdruck (Sog).
durch biologische Oxidation energiereicher – Bei der Exspiration wird der Brustraum ver-
organischer Stoffe (vor allem Kohlenhydrate). engt und das Lungenvolumen verkleinert. In
Die Zelle verbraucht dazu einerseits Sauerstoff der Lunge entsteht ein Überdruck.
und produziert andererseits Kohlendioxid als
Stoffwechselendprodukt (✑ Abb. 2.15, S. 43). Merke

Merke
Brustraumerweiterung und -verengung ent-
stehen durch das Wirken der Atemmusku-
Der im Zusammenhang mit der Energiefrei- latur.
setzung bzw. biologischen Oxidation notwen-
dige O2- und CO2-Transport (auch Gasaus-
tausch genannt) zwischen Umwelt und Zellen Die Atemmuskulatur gliedert sich in Ein- und
wird als äußere Atmung bezeichnet. Ausatemmuskeln.

Einatemmuskeln (Inspirationsmuskeln)
Der gesamte Prozess der Atmung lässt sich a. Zwerchfell (Diaphragma)
untergliedern in: Das Zwerchfell ist der Haupteinatemmuskel.
– Atembewegungen, Bei seiner Kontraktion flacht es ab und bewegt
– Gasaustausch, sich wie ein Zylinderkolben im Thorax nach
– Atemgastransport und caudal. Dabei kommt es auch zu einer Ver-
– Regulation der Atmung. lagerung der Bauchorgane.
11.3 Physiologie der Atmung 225

Inspiration Exspiration

Unterdruck Überdruck

Dehnung der Lufteinstrom bis Luftausstrom bis Lunge zieht


Lunge Druckausgleich Druckausgleich sich zusammen

äußere äußere
Zwischen- Zwischen-
rippenmuskeln rippenmuskeln






Zwerchfell Zwerchfell

Kontraktion Erschlaffung

Atemmechanik (Inspiration und Exspiration). Abb. 11.13

b. Äußere Zwischenrippenmuskeln (Mm. inter- Ausatemmuskeln (Exspirationsmuskeln)


costales externi) Die Exspirationsmuskeln sind wesentlich schwä-
Sie heben bei ihrer Kontraktion die Rippen- cher ausgebildet als die Inspirationsmuskeln,
bögen, wodurch sich der Thorax erweitert. weil die Exspiration durch zusätzliche Kräfte
(= elastische Rückstellkräfte von Lunge, Thorax
Vorgänge bei der Einatmung (Inspiration): und Baucheingeweiden) unterstützt wird. Als
1. Kontraktion der Einatmungsmuskeln. „echte“ Ausatemmuskeln kommen eigentlich
 nur die Bauchmuskeln (M. rectus abdominis, M.
2. Vergrößerung des Thoraxinnenraumes obliquus abdominis) in Betracht.
und der Lunge gegen die elastischen Rück-
stellkräfte von Lunge, Thorax, Bauchein-
geweiden und Schwerkraft. Vorgänge bei der Ausatmung (Exspiration)
 Die Ausatmung in Ruhe ist im Allgemeinen ein
3. Entstehung eines Unterdruckes im Thorax- passiver Vorgang:
raum und der Lunge. 1. Erschlaffung der Einatmungsmuskeln.
 
4. Lufteinstrom in die Lunge bis zum Druck- 2. Verkleinerung des Thoraxinnenraumes und
ausgleich. der Lunge, bedingt durch die elastischen
Rückstellkräfte von Lunge, Thorax und

P Durch Messung des Brustumfanges dicht Baucheingeweiden sowie der Schwerkraft.
unter den Brustwarzen in maximaler In- und 
Exspirationsstellung lässt sich die Erweiterungs- 3. Entstehung eines Überdruckes im Thorax-
fähigkeit des Thorax prüfen. Sie ist z. B. bei innenraum und in der Lunge.
Verkalkung der Rippenknorpel, Veränderung 
der Wirbel-Rippen-Gelenke und Wirbelsäulen- 4. Luftausstrom aus der Lunge bis zum Druck-
verkrümmung herabgesetzt, wodurch die Leis- ausgleich.
tungsfähigkeit des Atmungssystems abnimmt.
Die Differenz der beiden Werte sollte bei jun-
gen Männern 7 bis 10 cm, bei jungen Frauen
5 bis 8 cm betragen.
226 11 Atmungssystem

Atmungstypen Einatemhilfsmuskeln
Wie bereits beschrieben, erfolgt die Erweiterung – Treppenmuskeln (Mm. scaleni)
des Brustraumes einerseits durch Senkung des – Kopfwendemuskel (M. sternocleidomastoide-
Zwerchfells und andererseits durch Hebung der us) bei fixiertem Kopf
Rippenbögen. Dementsprechend werden zwei – Vorderer Sägemuskel (M. serratus anterior)
Atmungstypen unterschieden. und kleiner Brustmuskel (M. pectoralis minor)
bei fixiertem Schulterblatt
abdominaler thorakaler – Großer Brustmuskel (M. pectoralis major) bei
Atmungstyp Atmungstyp aufgstützten Armen
Brustraumvergrößerung erfolgt hauptsächlich
durch ... Ausatemhilfsmuskeln
– Alle Bauchmuskeln bei fixiertem Becken.
... Zwerchfellsenkung ... Heben der – Hinterer Sägemuskel (M. serratus posterior).
Rippenbögen – Breiter Rückenmuskel (M. latissimus dorsi).


P Bei Atemnot: Die Arme angewinkelt hinter
den Kopf heben. Hierdurch wird eine zusätzli-
che Zugwirkung auf den Brustkorb durch die
Atemhilfsmuskeln erreicht.

Aufgabe der Pleura


Das Bauprinzip der Pleura gewährleistet, dass
die Lungen passiv den Atembewegungen des
Thorax und des Zwerchfells folgen. Gleichzeitig
sind die Lungen mit ihrer Umgebung gegenein-
Bauchatmung Brustatmung ander verschiebbar. Diese mechanische Kopp-
(abdominale Atmung) (thorakale Atmung) lung kann man sich einfach veranschaulichen:
Bringt man zwischen zwei Objektträger einige
Atemhilfsmuskeln Tropfen Wasser, so sind sie fast reibungslos
Bei erhöhtem Sauerstoffbedarf (Arbeit) oder gegeneinander verschiebbar, jedoch nicht von-
Atembehinderungen (z. B. Asthma bronchiale) einander zu trennen. Von Bedeutung für diese
werden zusätzlich Atemhilfsmuskeln eingesetzt. Kopplung ist weiterhin, dass die gedehnte Lunge
aufgrund ihrer Elastizität bestrebt ist, sich wie-
der zusammenzuziehen. Die Folge ist ein negati-
ver intrapleuraler Druck (= Druckdifferenz
Kopfwender zwischen Pleuraspalt und Außenraum), der am
(M. sternocleido- Ende der Inspiration am größten ist.
mastoideus)

kleiner Merke
Brustmuskel
(M. pectoralis Die Pleura gewährleistet die Übertragung der
minor) Thorax- und Zwerchfellbewegung auf die
vorderer Lunge.
Sägemuskel
(M. serratus
anterior) ❑
P Wird durch Verletzung oder Krankheit die
Pleurahöhle geöffnet, sodass Luft einströmt,
zieht sich die Lunge infolge eigener Elasti-
zität zusammen. Es entsteht ein Pneumo-
thorax (✑ Abb. 11.15) und Atemnot.
Abb. 11.14 Einatemhilfsmuskeln.
11.3 Physiologie der Atmung 227

Volumina werden zu Kapazitäten zusammen-


gefaßt (✑ Abb. 11.16).

Merke
Die Ventilationsgröße hängt vom Atemzug-
volumen (= Atemtiefe) und von der Atem-
frequenz (Anzahl Atemzüge pro Minute) ab.
Das Produkt aus beiden Größen heißt Atem-
minutenvolumen.
Lufteinstrom Lunge kollabiert Beispiel:
16 Atemzüge pro Minute x 500 ml Atemzug-
Öffnung der Pleurahöhle volumen ergeben
Abb. 11.15 (Pneumothorax). = 8 Liter  min-1 als Atemminutenvolumen.

Lungenvolumina
Lungenbelüftung (Ventilation) a. Atemruhevolumen: Luftmenge, die in Ruhe
Die treibende Kraft für den Gasaustausch in der ein- und wieder ausgeatmet wird. Nach norma-
Lunge sind entsprechende Druckgefälle der ler Ausatmung befinden sich Thorax und
Atemgase (✑ Abb. 11.17, S. 228). Die Aufrecht- Lunge in der Atemruhelage. Hier handelt es
erhaltung dieser Druckgefälle während der sich um eine stabile Mittelstellung, bei der
Inspiration und Exspiration wird u. a. durch den sich zwei passive Kräfte aufheben.
ständigen Luftwechsel in der Lunge gesichert. b. Inspiratorisches Reservevolumen: Luftmenge,
die bei normaler Einatmung noch zusätzlich
Lungenvolumina und -kapazitäten aufgenommen werden kann. Es wird vor allem
Das Volumen der Atemzüge kann unterschied- bei körperlicher Belastung in Anspruch ge-
lich sein, weshalb man verschiedene Volumen- nommen, wenn das Atemruhevolumen nicht
einteilungen unterscheidet. Zusammengesetzte mehr ausreicht.

[ Liter ]
6
Inspirations-

5 Inspiratorisches
Vitalkapazität (4,5 l)

kapazität

Reservevolumen (2,5 l)
Totalkapazität (6,0 l)

Atemruhevolumen (0,5 l)
3
Residualkapazität

Exspiratorisches
funktionelle

2 Reservevolumen (1,5 l)

Kollapsluft (0,7 l)
1
Residualvolumen (1,5 l)
Restluft (0,8 l)
0
Die Werte können in Abhängigkeit von Körpergröße, Geschlecht, Konstitution und Trainingszustand stark schwanken.

Lungenvolumina und -kapazitäten eines 25-jährigen Mannes. Abb. 11.16


228 11 Atmungssystem

c. Exspiratorisches Reservevolumen: Luftmenge, Der Totraum hat die Funktionen, die Ein-
die bei normaler Ausatmung noch zusätzlich atmungsluft zu erwärmen, zu reinigen und zu
abgegeben werden kann. befeuchten. Gleichzeitig fördert er die Ventila-
d. Residualvolumen: Luftmenge, die nach maxi- tion der Atmung durch Erweiterung (bei Ein-
maler Ausatmung in der Lunge verbleibt atmung) bzw. Verengung (bei Ausatmung) der
(Kollapsluft und Restluft). Bronchiolen.

Lungenkapazitäten Merke
e. Inspirationskapazität: Luftmenge, die maxi-
Die Belüftung des Totraumes ist eine kon-
mal eingeatmet werden kann (Summe aus a
stante Größe (0,15 l). Eine Verminderung der
und b).
Gesamtventilation bedeutet also immer eine
f. Funktionelle Residualkapazität: Luftmenge,
Verringerung der alveolären Ventilation.
die nach normaler Ausatmung noch in der
Lunge verbleibt (Summe aus c und d). Durch
sie ist es möglich, dass es ständig zu einer
Mischung der vorhandenen Luft mit der zuge-
führten Frischluft kommt und die Zusammen- 11.3.2 Gasaustausch (✑ Abb. 11.17)
setzung der Alveolarluft nur geringfügig
schwankt; das heißt, inspiratorische und Der Gasaustausch zwischen Organismus und
exspiratorische O2- und CO2-Konzentrationen Umwelt in den Lungen wird als Atmung im
im Alveolarraum werden ausgeglichen. engeren Sinn oder „äußere“ Atmung bezeichnet.
g. Vitalkapazität: Luftmenge, die nach maxima- Unter „innerer“ Atmung versteht man die
ler Einatmung ausgeatmet werden kann (Sum- Oxidation der energiereichen Stoffe in den
me aus a, b und c). Die Vitalkapazität ist ein Zellen zum Zwecke der Energiebereitstellung
Maß für die Ausdehnungsfähigkeit von Lunge (✑ S. 43).
und Thorax.
h. Totalkapazität: Luftmenge, die nach maxima-
ler Einatmung in der Lunge enthalten ist (Sum- von A. pulmonalis zur V. pulmonalis
me aus d und g).

Atemwiderstände
Den Atembewegungen und dem Atemluftstrom pO2
stellen sich Widerstände entgegen, die durch 100
Muskelarbeit überwunden werden müssen. pO2 mmHg
pCO2
pCO
pCO2 100 pCO2
40 mmHg
46
46 mmHg 40
Zu den Atemwiderständen gehören mmHg
mmHg mmHg
– elastische Atemwiderstände von Lunge und
Thorax. Von Bedeutung sind die elastischen
Fasern des Lungengewebes und die Ober-
flächenspannung der Alveolen. Letztere wird pO2 40 mmHg
bei inspiratorischer Dehnung der Lunge durch
oberflächenaktive Substanzen (Surfactants) Alveole Lungenkapillare Blut-Luft-Schranke
(Alveolar- und
vermindert, Kapillarmembran,
Druckdifferenzen
– Reibungswiderstände von Lunge und Thorax, (Partialdruckgefälle) dazwischen
Basalmembran)
– Strömungswiderstände in den Atemwegen.
pO 2 = 60 mmHg
Funktion des Totraumes pCO 2 = 6 mmHg
Die luftleitenden Wege (von der Nase bis zu den O2 -arme und CO2 -reiche Luft / Blut = blau
Bronchiolen) bilden den Totraum, weil hier kein O2 -reiche und CO2 -arme Luft / Blut = rot
Gasaustausch erfolgt.
Gasaustausch in der Lunge. Abb. 11.17
11.3 Physiologie der Atmung 229

Die Lungenbläschen (Alveolen) sind umgeben Merke


von netzartig angeordneten Blutkapillaren
(✑ Abb. 11.10, S. 221). O2-Aufnahme und CO2-Abgabe sind mit der
Lungendurchblutung gekoppelt.
Merke
Nur im Bereich der Alveolen werden die Das Belüftungs-Durchblutungs-Verhältnis beträgt
Atemgase Sauerstoff und Kohlendioxid beim gesunden Menschen in Ruhe 4 Liter Luft
durch Diffusion ausgetauscht. Das heißt: pro Minute zu 5 Liter Blut pro Minute, also 0,9.
Sauerstoff gelangt aus der Luft der Alveolen
in das Blut der Lungenkapillaren und das

P Krankheitsbedingte Einschränkungen der
Kohlendioxid aus dem Lungenkapillarblut in Austauschfläche, z. B. Lungenemphysem, Lun-
die Alveolarluft. Voraussetzung ist die genentzündung, vermindern den Gasaustausch;
Ventilation. es entstehen Atemnot und Zyanose.

Die Zusammensetzung von Ein- und Ausat-


mungsluft sowie der Luft in den Lungenbläschen 11.3.3 Atemgastransport (✑ Abb. 11.18)
ist demnach unterschiedlich (✑ Tab 11.3).
Dem Atemgastransport im menschlichen Körper
dienen verschiedene Transportformen (✑ S. 31
Zusammensetzung von Ein- und ff.). Kurze Wege werden durch Diffusion und
Tab. 11.3 Ausatmungsluft.
längere Distanzen durch Konvektion überbrückt.
Einatmungs- Ausatmungs-
luft ca. luft ca. Atemgastransport durch das Blut
Sauerstoff 21 % 15 % Das Blut transportiert die Atemgase zwischen
Lungen und Zellen. Die treibende Kraft wird
Kohlendioxid 0,03 % 4%
vom Herzen erzeugt.
Stickstoff, 79 – 80 % 79 – 80 %
Wasser, [Luft]
Edelgase

Die treibende Kraft der Diffusion als einem zen- [Luft]


[Blut] [Blut]
tralen Vorgang beim Gasaustausch ist das jewei- H2O
CO2 CO2 O2
lige Partialdruckgefälle des Gases. Der Umfang
des Gasaustausches pro Zeiteinheit ist umso H2CO3

Lunge
HHb HbO2
intensiver, je größer Partialdruckgefälle und
Austauschfläche, je kürzer der Diffusionsweg H+
und je besser die Durchblutung sind. HCO3- O2-reich
CO2-arm [Blut]
Nach dem gleichen Prinzip wie in der Lunge
[Blut] O2-arm
(= alveolärer Gasaustausch) findet der Gasaus-
tausch im Gewebe statt. O2 gelangt entsprechend CO2-reich
seines Partialdruckgefälles aus dem Kapillarblut
Gewebe

des Gewebes über das Interstitium in die Zellen HCO3-


und CO2 aus den Zellen über das Interstitium in H+ HHb HbO2
das Gewebskapillarblut. H2CO3 H2O+ CO2

Ventilation und Lungendurchblutung (= Lungen- O2


perfusion) CO2
Wie bereits bekannt, werden O2 und CO2 im
Alveolarraum ausgetauscht. Zu diesem Zweck Transport der Atemgase
müssen sie vom Blutstrom an- bzw. abtranspor- durch das Blut. Abb. 11.18
tiert werden.
230 11 Atmungssystem

Sauerstofftransport (Lunge → Körperzellen) 2. Der größte Teil der Kohlensäure dissoziert in


Vorgänge in den Lungen: Wasserstoff- und Bikarbonationen:
Der Sauerstoff wird im Lungenkapillarblut nach H2CO3 → H+ + HCO3-
physikalischer Lösung an das desoxygenierte
Hämoglobin (Hb) gebunden. Es entsteht oxyge- Die freien Wasserstoffionen werden an das des-
niertes Hb. Dieser Vorgang heißt Oxygenation. oxygenierte Hb gebunden (= Pufferung; ✑ S. 30).

Vorgänge in der Lunge:


Hb + O2 HbO2
In der Lunge wird das HCO3- unter Vermittlung
desoxygeniert, oxygeniert, von Carboanhydrase wieder in CO2 umgewan-
schwächere Säure, stärkere Säure, delt.
dunkelrot. hellrot. l. Das Bicarbonation verbindet sich mit Wasser-
stoff (wird vom oxygenierten Hb zur Verfü-
gung gestellt) zu Kohlensäure:
l g Hb bindet 1,34 ml O2. 100 ml Blut ent- HCO3- + H+ → H2CO3
halten 16 g Hb.
Also: 16 g Hb • 1,34 ml O2 = 21 ml O2. 2. Die Kohlensäure zerfällt in Wasser und CO2.
Demnach können 100 ml Blut 21 ml O2 binden. Letzteres löst sich physikalisch und diffundiert
aus dem Blut in die Alveolarluft:
Vorgänge im Gewebe: Carboanhydrase
Im Gewebe wird der Sauerstoff wieder vom Hb
gelöst (= Desoxygenation). Nach erneuter physi-


kalischer Lösung diffundiert er in die Zellen. H2CO3 H2O + CO2

Merke Merke
Der Sauerstofftransport erfolgt nach physikali- Der CO2-Transport erfolgt nach physikali-
scher Lösung in chemischer Bindung an Hämo- scher Lösung überwiegend in chemischer
globin, das sich in den Erythrozyten befindet. Bindung als NaHCO3 im Blutplasma und in
Carbominobindung (Bindung des CO2 an
NH-Gruppen der Bluteiweiße).

P Eine bedeutend größere Affinität zum Hb
als der Sauerstoff hat das Kohlenmonoxid (CO).
Bereits in geringen Konzentrationen verdrängt ❑
P Bei Atemstillstand oder behinderter Atmung
es den Sauerstoff aus der Hb-Bindung (Giftig- erhöht sich die Wasserstoffionenkonzentration.
keit). Eine starke CO-Vergiftung erkennt man Es entsteht eine Übersäuerung des Blutes, der
an der kirschroten Farbe der Haut. pH-Wert (normal 7,37 – 7,43) sinkt. Man
spricht von einer respiratorischen Azidose.
Kohlendioxidtransport (Körperzellen → Lunge)
Das von den Zellen abgegebene Kohlendioxid
(CO2) wird hauptsächlich in Form von Bicar- 11.3.4 Regulation der Atmung
bonat (= Hydrogencarbonat, HCO3-) im Blut
zur Lunge transportiert. Nach physikalischer Durch die Atmungsregulation wird die Aufnah-
Lösung wird im Gewebskapillarblut unter me von Sauerstoff sowie die Abgabe von
Vermittlung des Enzyms Carboanhydrase CO2 Kohlendioxid den Erfordernissen unseres Kör-
wie folgt in HCO3- überführt. pers angepasst. Das geschieht durch die Verän-
derung von Atemfrequenz und Atemtiefe (Atem-
Vorgänge im Gewebe: minutenvolumen). In Ruhe beträgt die Atemfre-
1. Kohlendioxid verbindet sich mit Wasser zu quenz 16 bis 20 Atemzüge pro Minute. Bei kör-
Kohlensäure: perlicher Belastung erhöht sie sich um das Drei-
bis Vierfache. Gleichzeitig nimmt auch die
Carboanhydrase
Atemtiefe zu.
CO2 + H2O H2CO3
11.3 Physiologie der Atmung 231

Merke Organismus angepasst und eine Überdehnung


der Lunge verhindert (✑ Tab. 11.4).
Das Ziel der Atmungsregulation ist die An-
passung der äußeren Atmung an die Erfor- Chemische Atmungsregulation
dernisse des Gesamtorganismus. Im Zentrum Die chemische Atmungsregulation gewährleistet
stehen die ausreichende O2-Versorgung der die Anpassung des Atemminutenvolumens an
Zellen und die Konstanthaltung des pH- die Stoffwechselbedürfnisse des Organimus. Zu
Wertes. diesem Zweck erfolgt eine ständige Kontrolle
des pCO2, pO2 und der [H+] im arteriellen Blut.
Im Einzelnen bedeutet dies:
– die Atemfrequenz und Atemtiefe ökonomisch Die chemische Atmungsregulation arbeitet nach
aufeinander abzustimmen, dem Prinzip eines biologischen Regelkreises.
– die Atmungsform beim Schluck-, Nies- und
Hustenreflex bzw. Sprechen und Singen abzu- Chemische Atemregulation. Tab. 11.5
wandeln,
– den Säure-Basen-Haushalt konstant zu halten.
Die optimale Anpassung der Atmung wird durch Atemzentrum
verschiedene mehrfach kontrollierte Regel-
mechanismen erreicht, von denen die wichtig- Chemo- Atemmuskulatur
sten kurz beschrieben werden. rezeptoren
Atem-
Zentrale Atmungsregulation minutenvolumen
Die rhythmische Folge von In- und Exspiration
wird durch wechselnde Erregung und Hemmung pCO2, pO2, [H+]
inspiratorischer und exspiratorischer Neurone
• im arteriellen Blut
im verlängerten Mark (Medulla oblongata)
erreicht. Diese Neurone bilden das Atem-
zentrum. Stoffwechsel

Mechanisch-reflektorische Atmungsregulation
Im Folgenden sind die wichtigsten Faktoren zu-
(Hering-Breuer-Reflex)
sammengestellt, die die Atmung (Ventilation)
Durch den Hering-Breuer-Reflex werden In- und
beeinflussen.
Exspiration den aktuellen Bedingungen des
Ventilationssteigernd wirken:
Tab. 11.4 Hering-Breuer-Reflex (Reflexbogen). pCO2 (= stärkster Atemreiz), pO2 ,
➞➞

[H+] , Warm- und Kaltreize, Verände-


Atemzentrum rungen der Körpertemperatur (Fieber,
Hypothermie), Schmerz, Adrenalin ,

Progesteron .

afferente Bahnen efferente Bahnen


(im N. Vagus) (in motorischen Nerven Ventilationsverringernd wirken:
für Atemmuskeln) pCO2 , pO2 , [H+] , RR .



P Im Gegensatz zur Herztätigkeit sind Atem-
Atemmuskulatur frequenz und Atemtiefe über die Großhirnrinde
Dehnungsrezeptoren
in der Lunge willkürlich beeinflussbar.
Atmet der Mensch ohne körperliche Belastung
– vielleicht aus Angst – sehr schnell und tief,
Reaktion sinkt die Wasserstoffionenkonzentration im
Reiz
(Veränderung des (Veränderung der Atemtiefe Blut. Es entsteht eine respiratorische Hyper-
Lungenvolumens) zur Ökonomisierung ventilations-Alkalose mit Krampferscheinun-
der Atemarbeit)
gen und vorübergehendem Atemstillstand.
232 11 Atmungssystem

Fragen zur Wiederholung

1. Nehmen Sie eine Gliederung des Atmungssystems vor.


2. Beschreiben Sie Bau und Funktion der Nase.
3. Beschreiben Sie den Rachen als Teil des Atmungs- und Verdauungstraktes.
4. Beschreiben Sie den Kehlkopf als luftleitendes und stimmbildendes Organ.
5. Beschreiben Sie Lage, makroskopischen und mikroskopischen Bau der Trachea.
6. Vergleichen Sie die Schleimhautepithelien von Nase, Rachen, Kehlkopf und Luftröhre!
Ziehen Sie eine Schlussfolgerung.
7. Warum steigt bei Mundatmung die Infektionsgefahr?
8. Beschreiben Sie den Bronchialbaum.
9. Beschreiben Sie Lage und Aufbau der Lungen.
10. Stellen Sie den Aufbau eines Lungenläppchens unter Berücksichtigung seiner Funktion
dar.
11. Beschreiben Sie Bau und Funktion der Pleura.
12. Erklären Sie die Vorgänge
a) bei der Einatmung,
b) bei der Ausatmung.
13. Erläutern Sie die Belüftung der Lunge einschließlich wichtiger
a) Lungenvolumina,
b) Lungenkapazitäten.
14. Was ist der Totraum und welche Funktionen hat er?
Unterscheiden Sie alveoläre und Totraumventilation.
15. Vergleichen Sie die Zusammensetzung von Einatmungsluft, Ausatmungsluft und Alveolar-
luft hinsichtlich des Sauerstoff- und Kohlendioxidgehaltes.
16. Beschreiben Sie den Gasaustausch.
17. Vergleichen Sie die Partialdrücke von O2 und CO2 im arteriellen und venösen Blut sowie
in der Alveolarluft! – Begründen Sie die Unterschiede.
18. Begründen Sie, warum Belüftung und Durchblutung der Lunge gleich wichtig sind.
19. Erklären Sie den Gastransport zwischen Lunge und Gewebe.
20. Wodurch wird der Gastransport maßgeblich beeinflusst?
21. Begründen Sie die Notwendigkeit der Atmungsregulation.
22. Wie erfolgt die Regulation der Atmung?
23. Welcher Zusammenhang besteht zwischen Atmung und pH-Wert der Körperflüssigkeiten?
233

12 Verdauungssystem

Im Verdauungssystem wird die Nahrung so ver- Zum Verdauungssystem gehören Mundhöhle,


arbeitet, dass die in ihr enthaltenen lebensnot- Rachen, Speiseröhre, Magen, Dünndarm, Dick-
wendigen Stoffe in Blut und Lymphe gelangen darm, Leber mit Gallenblase sowie Bauch-
können. speicheldrüse.

Mundhöhle Rachenraum
(Cavitas oris) (Pharynx)
Zunge
(Lingua)

Speiseröhre
(Ösophagus)

Leber Magen
(Hepar) (Gaster, Ventriculus)

Bauchspeicheldrüse
(Pankreas)
Grimmdarm Zwölffingerdarm
(Colon) (Duodenum)
Leerdarm
(Jejunum)

Blinddarm Krummdarm
(Caecum) (Ileum)
Wurmfortsatz
(Appendix vermiformis) Mastdarm Dünndarm
(Rektum) (Intestinum tenue)

Verdauungssystem (Übersicht). Abb. 12.1


234 12 Verdauungssystem

12.1 Mundhöhle (Cavitas oris) 12.1.1 Lippen und Wangen

Mit der Mundhöhle beginnt der Verdauungstrakt. Der Mundschließmuskel (M. orbicularis oris) bil-
Sie dient in erster Linie der Nahrungsaufnahme, det die Basis der Lippen und schließt den Mund;
aber auch der Atmung und wird eingeteilt in die die Öffnung des Mundes erfolgt u. a. durch den
eigentliche Mundhöhle und den Mundvorhof. zweibäuchigen Muskel (M. digastricus). Der
Wangenmuskel (M. buccinator) bildet die Wan-
Die Mundhöhle (Cavitas oris) ist der Raum inner- genwand und sorgt im Zusammenspiel mit der
halb der Zahnbögen zwischen Gaumen, mus- Zunge dafür, dass die Nahrung immer wieder
kulösem Mundboden einschließlich Zunge und zwischen die Zähne gelangt. Beim Kauen wird
Schlundenge (Isthmus faucium). zwischen Schneid- und Mahlbewegungen unter-
Der Mundvorhof (Vestibulum oris) liegt zwi- schieden. Die Schneidbewegung (Kieferschluss)
schen der Außenseite der Zahnbögen, den Wan- erfolgt durch den Kaumuskel (M. masseter) und
gen und den Lippen. den Schläfenmuskel (M. temporalis). Die Mahl-
Die Mundschleimhaut besitzt ein mehrschichti- bewegung (seitliche Verschiebung des Unterkie-
ges unverhorntes Plattenepithel und zahlreiche fers) wird durch die Flügelmuskeln (Mm. ptery-
kleine Speicheldrüsen. Letztere sind an der goideus medialis/lateralis) ausgeführt (✑ Abb.
Lippeninnenseite tastbar. 5.49 – 5.51, S. 133 – 134).

Zum Mundhöhlenbereich gehören:


• die Lippen (Labia), • die Wangen (Buccae), 12.1.2 Zähne, Gebiss (✑ Abb. 12.3, S. 236)
• die Zähne (Dentes), • der Gaumen (Palatum),
• die Zunge (Glossa, Lingua) und Die Zähne sind für das Abbeißen und die mecha-
• 3 Paar große Mundspeicheldrüsen. nische Zerkleinerung der Nahrung zuständig.
Zwischen dem 6. Monat und dem 2. Lebensjahr
entwickelt sich zunächst das
Milchgebiss, bestehend aus
20 Zähnen. Etwa ab dem
Mundvorhof
6. Lebensjahr verdrängen die
(Vestibulum oris) bereits vorgebildeten bleiben-
den Zähne nach und nach die
harter Gaumen Milchzähne. Das endgültige
(Palatum durum) Gebiss besteht aus 32 Zähnen.

weicher Gaumen Zahnarten


(Palatum molle) Entsprechend ihrer Funktion,
Mundschließmuskel Form und Stellung im Gebiss
(M. orbicularis oris) werden die Zähne bezeichnet:
vorderer u. hinterer • Schneidezahn (Dens incisi-
Gaumenbogen vus),
Zäpfchen • Eckzahn (Dens caninus),
(Uvula)
• Backenzahn (Dens prae-
Gaumenmandel
(Tonsilla palatina) molaris),
• Mahlzahn (Dens molaris),
Zunge der hinterste Mahlzahn ist
(Lingua)
Rachenenge der Weisheitszahn.
(Isthmus faucium)
Die Zahnformel dient der
genauen Bestimmung jedes
Zahnes im Gebiss. Zu die-
sem Zweck erhalten die vier
Abb. 12.2 Mundhöhle. Kieferhälften und die Zahn-
arten Nummern.
12.1 Mundhöhle 235

Zahnformel. Tab. 12.1


rechte Oberkieferhälfte linke Oberkieferhälfte

18 17 16 15 14 13 12 11 21 22 23 24 25 26 27 28
48 47 46 45 44 43 42 41 31 32 33 34 35 36 37 38
rechte Unterkieferhälfte linke Unterkieferhälfte

Erste Ziffer bedeutet 3. Zahnwurzel (Radix dentis)


1 – rechte Oberkieferhälfte Sie liegt im knöchernen Zahnfach (Alveolus)
2 – linke Oberkieferhälfte des Kieferknochens und ist vom Zahnzement
3 – linke Unterkieferhälfte (Cementum) überzogen. Die Wurzelhaut um-
4 – rechte Unterkieferhälfte hüllt die Zahnwurzel.

Zweite Ziffer bedeutet Als Stützgerüst liegt in allen 3 Abschnitten


1 und 2 – Schneidezähne des Zahnes das Zahnbein (Dentin). In seinem
3 – Eckzahn Inneren befindet sich die Zahnhöhle (Pulpa-
4 und 5 – Backenzähne höhle) als durchgehender Hohlraum von der
6, 7 und 8 – Mahlzähne (8 = Weisheitszahn) Wurzelspitze bis in die Zahnkrone. Im Bereich
der Wurzel heißt sie Wurzelkanal.
Beispiel Die Zahnhöhle beinhaltet das Zahnmark (Pulpa
11 bis 18 (sprich: eins-eins bis eins-acht) sind dentis), bestehend aus lockerem Bindegewebe
die Zähne der rechten Oberkieferhälfte usw. und über den Wurzelkanal eintretende Gefäße
und Nerven.
Bau eines Zahnes
Zahnhalteapparat
Drei Teile lassen sich unterscheiden:
Der Zahnhalteapparat wird vom Zahnzement der
1. Zahnkrone (Corona dentis)
Wurzelhaut und den Alveolarknochen gebildet.
Sie ist der sichtbare, aus dem Zahnfleisch
Zugfeste Fasern der Wurzelhaut sind einer-
ragende Teil des Zahns und ist vom Zahn-
seits im Zement und andererseits im Kiefer-
schmelz (Enamelum) überzogen. Der Zahn-
knochen verankert und halten den Zahn
schmelz ist die härteste Substanz unseres
federnd im Zahnfach.
Körpers und kann bei Defekten nicht mehr
nachgebildet werden.

P Bei Entzündungen des Zahnhalteapparates

P Bestimmte Bakterien bauen Nahrungsbe- (Parodontitis) können durch Rückgang des
standteile in der Mundhöhle zu organischen Zahnfleisches die Zahnhälse frei liegen und
Säuren ab. Diese lösen bei längerer Einwir- dadurch schmerzempfindlich werden.
kung den Zahnschmelz auf. Es entsteht Karies Versteckte Zahnerkrankungen, ausgelöst durch
(Zahnfäule = Zerstörung des Zahnschmelzes). mangelhafte Zahnhygiene, können Ursache für
Sachgerechte Mundpflege kann diesen Prozess schwere entzündliche Allgemeinerkrankungen
weitgehend verhindern. sein, die oftmals nicht sofort mit den Zähnen in
Zusammenhang gebracht werden. Daher ist die
2. Zahnhals (Cervix dentis) Zahnhygiene bei der Patientenbetreuung ein
Er stellt den Übergang zwischen Krone und wichtiger Aspekt.
Zahnwurzel dar und ist vom Zahnfleisch um-
schlossen.
236 12 Verdauungssystem

Zahnarten Schneidezähne Eckzahn Backenzähne Mahlzähne


(Prämolaren) (Molaren)

1 2 3 4 5 6 7 8

Zahnschmelz
(Enamelum)

Zahnbein Zahnkrone
(Corona dentis)
(Dentin)

Zahnhöhle Nervenversorgung der Zähne


(Cavum pulpae)
Zahnhals
(Cervix dentis)

Zahn-
fleisch
(Gingiva)

Zahn-
zement
(Cementum) Zahnwurzel
(Radix dentis)
Wurzel-
haut
(Perio-
dontium) Alveolarnerven
(Nn. alveolares)
sind Äste des
Blutgefäße N. maxilaris und
und Nerv N. mandibularis

bleibendes Gebiss (Durchbruchzeiten)

1 6. – 8. J.
2 7. – 9. J.
3 11. – 13. J. Milchgebiss
(Durchbruchzeiten)
4 9. – 11. J.
5 1 6. – 8. M.
10. – 15. J.
7. – 9. M.
2
6 7. J. 3 16. – 20. M.

7 4 12. – 15. M.
13. – 16. J.

8 5 20. – 24. M.
13. – 18. J.

Abb. 12.3 Gebiss.


12.1 Mundhöhle 237

12.1.3 Zunge (Lingua, Glossa) ❑


P Die A. lingualis ist ein kräftiger Endast der
A. carotis externa: Bei Verletzung besteht akute
Die Zunge ist ein mit Schleimhaut überzogenes Verblutungsgefahr (z. B. Biss bei epileptischen
muskulöses Organ. Ihre Muskulatur wird aus Krampfanfällen).
quer gestreiftem Muskelgewebe gebildet, dessen
Fasern die Zunge in Längs-, Breit- und Tiefen-
richtung durchziehen. Diese Anordnung er- Merke
möglicht außerordentlich differenzierte Bewe- Aufgaben der Zunge Anatomische
gungen. Zungenstrukturen
Merke Mitwirken beim Saugen, Zungenmuskulatur
Kauen und Schlucken
Die Zungenmuskulatur wird durch zahlreiche Lautbildung Zungenmuskulatur
sensible und motorische Nervenfasern ver- formt Zunge
sorgt. Tast- und Berührungs- Zungenspitze
empfindung
Bau Geschmacksempfindung Geschmacksknospen
An der Zunge kann man die raue Zungenober- Abwehrfunktion Zungenmandel
seite (= Zungenrücken) mit Zungenspitze, Zun-
genrändern, Zungenwurzel (= Zungengrund)
und die glatte Zungenunterseite mit dem median
gelegenen Zungenbändchen unterscheiden.
Die Schleimhaut des Zungenrückens ist durch
zahlreiche Zungenpapillen gekennzeichnet, was
zu einer Vergrößerung ihrer Oberfläche führt.

In den Geschmacksknospen der wall-, blatt- und Wallpapillen


pilzförmigen Papillen sind die Geschmackssin- (Papillae vallatae)
neszellen (Chemorezeptoren) konzentriert, die
Blattpapillen
den Geschmackssinn vermitteln (✑ S. 313). (Papillae foliatae)

Die höckrige Oberfläche der Zungenwurzel ent-


Pilzpapillen
steht durch zahlreiche Lymphfollikel, die die (Papillae
Zungenmandel (Tonsilla lingualis) bilden. fungiformes)
Die Blutversorgung erfolgt über die Zungen-
arterie (A. lingualis), die bis zur Zungenspitze
Fadenpapillen
reicht. (Papillae filiformes)

Zungenpapillen. Abb. 12.4

Zungenpapillen. Tab. 12.2


Zungenpapillen Lage Besonderheit
Fadenpapillen Auf dem ganzen Zungenrücken
(Papillae filiformes) verteilt (am häufigsten auftreten- Dienen der Tastempfindung.
de Papillen).
Wallpapillen v-förmig am Beginn
(Papillae vallatae) der Zungenwurzel. Enthalten Geschmacksknospen,
Blattpapillen Zungenrand. in ihrer Nähe liegen Spüldrüsen.
(Papillae foliatae)
Pilzpapillen Zungenrand, Zungenspitze. Enthalten Geschmacksknospen.
(Papillae fungiformes)
238 12 Verdauungssystem

Fadenpapillen
(Papillae filiformes)

Wallpapillen
Zungenwurzel (Papillae vallatae)
(Radix linguae) Blattpapillen
Zungenmandel (Papillae foliatae)
(Tonsilla lingualis)
Kehldeckel
(Epiglottis)
Rachen Zungenbein
(Pharynx)
(Os hyoideum)
Schildknorpel
(Cartilago thyroidea)

Ringknorpel
(Cartilago cricoidea)
Speiseröhre Luftröhre
(Ösophagus) (Trachea)

Abb. 12.5 Zunge- und Kehlkopfbereich.

12.1.4 Gaumen (Palatum) Rachenenge (Isthmus faucium; ✑ Abb. 12.2, S.


Der Gaumen bildet einerseits das Mundhöhlen- 234)
dach und andererseits den Boden der Nasen- Die Rachenenge liegt zwischen der Zungen-
höhle. wurzel und dem weichen Gaumen und ist der
Man unterscheidet 2 Abschnitte: Übergang von der Mundhöhle in den Rachen-
– den harten Gaumen = Kaudruckbereich. raum.
– den weichen Gaumen = Gaumensegel.
Er schließt sich nach hinten dem harten Gau-
men an. In der Mitte befindet sich das Gaumen- 12.1.5 Große Mundspeicheldrüsen
zäpfchen (Uvula), von dessen Basis links und
rechts zwei Schleimhautfalten bogenförmig Die 3 großen Mundspeicheldrüsen (✑ Abb.
seitlich nach unten verlaufen. Es handelt sich 12.6) dienen neben vielen kleinen Drüsen in der
um die vorderen und hinteren Gaumenbögen. Mundschleimhaut der Speichelbildung. Sie sind
Rechts und links liegt in einer Nische zwi- paarig angeordnet. Der Mundspeichel wird über
schen vorderem und hinterem Gaumenbogen Ausführungsgänge direkt in den Mundraum
jeweils 1 Gaumenmandel (Tonsilla palatina). abgegeben.

Aufgaben des weichen Gaumens Ohrspeicheldrüse (Glandula parotis)


– Die muskuläre Grundlage ermöglicht während Sie ist mit einer Masse von 20 – 30 Gramm die
des Schluckens das Verschließen des Rachen- größte Drüse und liegt außerhalb der Mund-
raumes zur Nasenhöhle. höhle. Ihr Ausführungsgang mündet im Mund-
– Muskelzüge öffnen beim Schlucken die Ohr- vorhof gegenüber dem 2. oberen Mahlzahn.
trompete, sodass ein Druckausgleich im Mittel-
ohr erfolgen kann. ❑
P Bei einer Entzündung der Ohrspeicheldrüse
(Mumps) steht in der Regel das Ohrläppchen
ab (Schwellung vor dem Ohr).
12.2 Speiseröhre 239

Ausführungsgang
der
Ohrspeicheldrüse
(Ductus parotideus)

kleine Ohrspeicheldrüse
(Glandula parotis)
Unterzungen-
speichelgänge
Unterkiefer-
speichelgang1)
(Ductus Unterzungen-
submandibularis) speicheldrüse
(Glandula sublingualis)
Unterkiefer-
1) Er mündet meist gemeinsam mit dem speicheldrüse
(Glandula
großen Unterzungenspeichelgang neben
submandibularis)
dem Zungenbändchen auf der Unter-
zungenkarunkel.

Mundspeicheldrüsen. Abb. 12.6

Unterkieferspeicheldrüse (Glandula submandi- • Halsteil. Er liegt hinter der Trachea. Seitlich


bularis). Sie liegt an der Innenseite des Unter- befinden sich Teile der Schilddrüse sowie die
kiefers (ist tastbar). Gefäß-Nerven-Stränge des Halses, dahinter
Unterzungenspeicheldrüse (Glandula sublingu- die Halswirbelsäule.
alis). Sie liegt im Mundhöhlenboden. • Brustteil. Er verläuft vor der Brustwirbelsäule
neben der Brustaorta zwischen den beiden
Die Ausführungsgänge von Unterkiefer- und Lungen. Diagnostisch wichtig ist die Anlage-
Unterzungendrüse münden unter der Zunge rung an den linken Vorhof.
neben dem Zungenbändchen. • Bauchteil. Nach dem Durchtritt durch das
Der alkalische Mundspeichel ermöglicht das Zwerchfell sind es noch 0 – 3 Zentimeter bis
Wirken des Ptyalins (-Amylase des Speichels), zum Mageneingang.
dient der Erhaltung des Zahnschmelzes und wehrt Beginn und Ende der Speiseröhre werden durch
mithilfe Immunglobulin A und Lysozym Krank- einen Ringmuskel verschlossen. Der untere
heitserreger ab. Schließmuskel verhindert den Rückfluss von
Mageninhalt.

12.2 Speiseröhre (Ösophagus) ❑


P Bei Versagen des unteren Schließmuskels
kann durch Rückfluss von Mageninhalt eine
Die Speiseröhre ist ein mit Schleimhaut ausge- Refluxösophagitis (Speiseröhrenentzündung)
kleideter muskulöser Schlauch. Sie ist beim entstehen, die zu Sodbrennen führt.
Erwachsenen ca. 24 Zentimeter lang und verbin-
det den Rachenraum mit dem Magen. In ihrem Verlauf hat die Speiseröhre 3 Engen:
• Ringknorpelenge – in Höhe des Ringknorpels

P Von den Schneidezähnen bis zum Beginn hinter dem Kehlkopf,
der Speiseröhre sind es ca. 15 Zentimeter. • Aortenenge – in Höhe des Aortenbogens,
Diese Strecke ist bei der Magensondierung zu • Zwerchfellenge – beim Durchtritt durch das
beachten. Zwerchfell.

Verlauf und Lagebeziehungen ❑


P Die Speiseröhre ist relativ locker in das
Nach ihrem Verlauf vom Hals über die Brust- in Zwerchfell eingebaut. Dadurch kann es u. U. zu
die Bauchhöhle unterscheidet man 3 Abschnitte: Zwerchfellbrüchen (Hernien) kommen.
240 12 Verdauungssystem

Durch das Zusammenwirken von


Speiseröhre – Brustabschnitt Ring- und Längsmuskulatur ent-
(Ösophagus – Pars thoracica) steht die Peristaltik (wellenförmig
Luftröhre fortschreitende Kontraktionsvor-
(Trachea) gänge), durch die die Speise in den
Aortenbogen
Magen befördert wird.
(Arcus aortae)
Aorten-
enge

P Bei Blutstauung im Pfortader-
Luftröhrengabel kreislauf (z. B. bei Leberzirrhose)
(Bifurcatio tracheae)
wird ein Teil des Blutes über
Brustaorta Venen des Ösophagus zur V. cava
(Pars thoracica aortae)
superior geleitet. Es entstehen
Speiseröhrenarterien
(Aa. oesophageae) Ösophagusvarizen, die zu massi-
ven Blutungen führen können.
Durchtrittsöffnung
für die Speiseröhre
(Hiatus oesophageus)
Zwerch- Zwerchfell
fellenge (Diaphragma) 12.3 Magen
Speiseröhre – (Gaster, Ventriculus)
Bauchabschnitt
(Ösophagus – Der Magen (✑ Abb. 12.9) schließt
Pars abdominalis)
sich der Speiseröhre an. Er ist ein
Aortenschlitz großer Speicher am Anfang des
(Hiatus aorticus)
Darmkanals. Nach der Nahrungs-
Magen aufnahme speichert der Magen die
(Gaster/Ventriculus)
Nahrung vorübergehend, um sie
Abb. 12.7 Verlauf der Speiseröhre. später in kleinen Mengen an den
Zwölffingerdarm abzugeben.
Wandschichten (✑ Abb. 12.8) Form
Die Wand der Speiseröhre ist wie die meisten Hohlorgane aus Der gebogenen Form entsprechend
drei Hauptschichten aufgebaut: liegt rechts die kleine Magenkrüm-
• Bindegewebige Hülle – zum Einbau und zur Verschiebung mung (Curvatura gastrica minor)
in der Umgebung. und links die große Magenkrüm-
• Muskelwand – zum Transport. mung (Curvatura gastrica major).
• Schleimhaut – als glatte Gleitfläche.
Im Übrigen ist die Form des Magens
abhängig von
Außenschicht – der Füllung: Der im leeren Zu-
(Tunica adventitia) stand darmförmige Magen weitet
Längsmuskelschicht sich mit zunehmender Füllung
Ringmuskelschicht Muskelschicht nach links zur großen Magen-
(Tunica
Unterschleimhaut muscularis) krümmung hin aus. An der
(Tela submucosa) kleinen Magenkrümmung bleibt
Lumen die Magenstraße für den Durch-
lauf von Flüssigkeiten frei;
Schleimhautepithel – der Körperhaltung: Im Stehen
(mehrschichtiges unver-
horntes Plattenepithel) Schleimhaut „hängt“ der Magen weiter nach
Muskelschicht der
(Tunica mucosa) unten.
Schleimhaut

Abb. 12.8 Schichtaufbau der Speiseröhre.


12.3 Magen 241

Magenschleimhaut
Außenschicht Muskelschicht
(Peritoneum) (Tunica muscularis)
Magengrübchen
(Voveolae gastricae)

Schleimhaut
(Mucosa)
Speiseröhre Magengrund
(Ösophagus) (Fundus gastricus)
Mageneingang
(Kardia/Ostium Magenkörper
cardiacum) (Corpus gastricum)
Magenstraße
kleine
Magenkrümmung
(Curvatura gastrica
minor) große
Zwölffingerdarm Magenkrümmung
(Duodenum) (Curvatura gastrica
major)

Belegzelle
Nebenzelle
Hauptzelle
Pförtnerabschnitt
(Pars pylorica, Antrum)
Magenpförtner
(Pylorus/Ostium pyloricum)

Magen. Abb. 12.9

Gliederung – Muskelschicht (Tunica muscularis) mit äußerer


Der Mageneingang (Kardia) liegt auf der rech- Längsmuskelschicht, mittlerer Ringmuskel-
ten Seite, der Ausgang – Pförtner (Pylorus) – schicht und innerer schräger Muskelschicht
befindet sich von der Leber bedeckt ebenfalls sowie der
rechts. Unter die linke Zwerchfellkuppel wölbt – Magenschleimhaut (Tunica mucosa).
sich der Magengrund (Fundus gastricus). Auf
den Magengrund folgt der Magenkörper (Corpus Die Magenschleimhaut zeigt ein ausgeprägtes
gastricum) und diesem schließt sich der Pfört- Längsfaltenrelief (besonders im Bereich der
nervorraum (Pars pylorica oder Antrum) an. Magenstraße). Sie besitzt einschichtiges Zylin-
derepithel. Die Schleimhautoberfläche ist durch
Lage Magenfelder mit einem Durchmesser von 1 bis 6
Der Magen liegt intraperitoneal zu 3/4 im linken Millimeter gekennzeichnet. In jedem Feld befin-
Oberbauch (unter linker Zwerchfellkuppel und den sich zahlreiche kleine Magengrübchen, in
linkem Rippenbogen) und 1/4 im rechten denen die Mündungen der Magendrüsen liegen.
Oberbauch (✑ Abb. 12.10, S. 242).
Die Magendrüsen bestehen aus Hauptzellen (bil-
Wandschichten den das Pepsinogen), Belegzellen (bilden Salz-
Die Magenwand besteht aus den 3 Haupt- säure) und Nebenzellen (bilden Schleim, Intrinsic-
schichten: Factor, ✑ S. 255). Diese Sekrete gehören zu den
– Bauchfell (Peritoneum), hauptsächlichen Bestandteilen des Magensaftes.
242 12 Verdauungssystem

Blutversorgung
Arterien. Alle 3 Äste des Truncus
coeliacus (✑ Abb. 9.29 und 9.30, Zwerchfell
(Diaphragma)
S. 183) sind an der Versorgung des
Magens beteiligt. Leber
(Hepar)
Venen. Das Blut des Magens fließt
über 4 große Magenvenen zur V. Magen
portae ab (✑ Abb. 9.35, S. 187). (Gaster)
Gallenblase
(Vesica biliaris)
Nervenversorgung
Die Innervation der Magentätigkeit Dickdarm
erfolgt über den N. vagus, der auch (Intestinum
crassum)
die Säureproduktion stimuliert (✑
Abb. 17.20, S. 355 und S. 356).
Dünndarm

P Bei Störungen des Gleichge-
(Intestinum tenue)

wichtes zwischen schützenden Fak-


toren (Schleim, gute Durchblu-
tung) und schädigenden Faktoren
(Säure, Stress, Gallenreflux, Stase,
Bakterien) kann es zu Entzün- Harnblase
(Vesica urinaria)
dungen der Magenschleimhaut
(Gastritis) bis zum Magengeschwür
(Ulcus ventriculi) kommen.
Lage der Verdauungsorgane im Bauch. Abb. 12.10

12.4 Dünndarm (Intestinum tenue) • Leerdarm (Jejunum) und


• Krummdarm (Ileum) liegen intraperitoneal im
Der Dünndarm schließt an den Magen an und Unterbauch, eingegrenzt vom Dickdarm. Die
mündet in den Blinddarm. Er hat eine Länge von Grenzen zwischen diesen beiden Dünndarm-
2,5 – 3,5 Metern. Im Dünndarm erfolgt der abschnitten sind fließend.
wesentliche Teil der Verdauung. Bemerkenswert
ist, dass der Darm auch das größte Abwehrorgan Schleimhaut (✑ Abb. 12.11)
des Organismus darstellt. Über 80 Prozent der Die Dünndarmschleimhaut ist gekennzeichnet
Zellen unseres Immunsystems sind in und um durch
den Verdauungstrakt konzentriert. – feststehende Ringfalten (Kerckring-Falten,
Plicae circulares);
Gliederung – Zotten (Villi intestinales). Das sind kleine
Der Dünndarm wird in 3 unterschiedlich lange Fortsätze der Ringfalten. Innerhalb dieser
Abschnitte gegliedert. Zotten befinden sich Blutkapillaren und ein
zentral gelegenes Lymphgefäß. Längs ange-
• Zwölffingerdarm (Duodenum): Der ca. 30 Zen- ordnete glatte Muskelzellen verkürzen die
timeter lange c-förmige Zwölffingerdarm be- Zotte, wodurch Blut und Lymphflüssigkeit mit
ginnt am Magenpförtner und endet an der den resorbierten Nahrungsstoffen ausgepresst
Zwölffingerdarm-Leerdarm-Krümmung (Fle- werden. Die Anzahl der Kerckring’schen
xura duodenojejunalis). Er liegt im Oberbauch Falten und der Zotten nimmt im Verlauf des
retroperitoneal (✑ Abb. 7.6, S. 147); Dünndarms ab. Im letzten Teil des Ileums
fehlen sie völlig;
12.4 Dünndarm 243

Kerckring’sche Falte
(Plica circularis)

Lieberkühn’sche
Zottenmuskel Krypten
zentrales
Lymphgefäß
Dünndarmzotten
Zylinderepithel (Villi intestinales)

Blutgefäße

Becherzelle
Ring-
muskulatur

Längs-
muskulatur
Blutgefäße

Bauchfell

Mikroskopischer Bau des Dünndarms. Abb. 12.11

Merke Gefäßversorgung
Sie erfolgt durch
Die sezernierende und resorbierende Ober- – Arterien. Obere Gekrösearterie (A. mesen-
fläche des Dünndarmes (ca. 100 m2) wird terica superior, ✑ Abb. 9.29, S. 183).
3fach vergrößert: – Venen. Mesenterialvenen leiten das Blut in die
– durch die Ringfalten, Pfortader (✑ Abb. 9.35, S. 187).
– durch die Zotten an den Ringfalten,
– durch die Mikrovilli (= Bürstensaum) der Nervenversorgung
einschichtig angeordneten Zylinderepithel- Die Funktionen des Dünndarms werden haupt-
zellen. sächlich von 2 Geflechten des Parasympathicus
(= Teil des vegetativen Nervensystems), die in
– Lieberkühn’sche Krypten. Das sind Vertiefun- der Darmwand liegen, reguliert, dem Plexus
gen zwischen den Zotten, in denen sich die submucosus (Meissner’scher Plexus) in der Sub-
Ausführungsgänge der Drüsen der Dünndarm- mucosa und dem Plexus myentericus (Auer-
schleimhaut befinden; bach’scher Plexus) zwischen äußerer Längs- und
– Lymphknötchen. Sie liegen in den tieferen Be- innerer Ringmuskulatur.
reichen der Schleimhaut und erfüllen Abwehr-
aufgaben; Der Dünndarm ist mittels Mesenterium an der
– große Zwölffingerdarmpapille (Papilla duo- hinteren Bauchwand befestigt, über dessen
deni major, Vater-Papille). Sie liegt im ab- Wurzel sämtliche Versorgungsbahnen laufen
steigenden Teil des Duodenums. Hier befin- (✑ Abb. 7.2 und 7.3, S. 145).
den sich die Mündungen des Hauptgallen-
ganges (Ductus choledochus) und des Bauch-
speicheldrüsenganges (Ductus pancreaticus)
(✑ Abb. 12.21, S. 251).
244 12 Verdauungssystem

12.5 Dickdarm (Intestinum crassum) Wurmfortsatz (Appendix vermiformis)


Er ist ein Anhang des Blinddarms, ca. 8 cm lang
Der Dickdarm umgibt wie ein Rahmen die zen- und hat keinerlei Verdauungsfunktion, son-
tral gelegenen Dünndarmschlingen des Unter- dern gehört zu den lymphatischen Organen.
bauches. Seine Gesamtlänge
beträgt 1,20 bis 1,50 Meter.
Er schließt an den Dünn- Zwerchfell
darm an. Wie den Dünndarm (Diaphragma)
gliedert man auch den Dick-
darm in 3 Abschnitte; den
Blinddarm mit Wurmfort-
satz, den Grimmdarm und aufsteigender
den End- oder Mastdarm. Grimmdarm
(Colon ascendens)
1. Blinddarm (Caecum) Nabel
Das blind beginnende Cae- (Umbilicus)
cum ist der ca. 7 cm lange Krummdarm
erste Hauptabschnitt des (Ileum)
Dickdarms. Es liegt im rech- Blinddarm
ten Unterbauch unterhalb (Caecum) X
der Einmündung des Ileums. vorderer oberer
Darmbeinstachel
An der Einmündungsstelle (Spina iliaca anterior
des Ileums in den Dickdarm superior)
liegt ein „Ventil“, Krumm- McBurney-Punkt
darm-Blinddarm-Klappe Wurmfortsatz
(Valva ileocaecalis) oder (Appendix vermiformis)
Bauhin’sche Klappe. Sie
verhindert den Rückfluss
des Nahrungsbreis und
damit auch den Übertritt von Lage des Blinddarms mit Wurmfortsatz. Abb. 12.12
Bakterien in den Dünndarm.


P Bei Entzündung des Wurmfortsatzes (Appen-
aufsteigender dicitis) entstehen starke Druckschmerzen.
Grimmdarm Einen typischen Druckschmerzpunkt (= Mc-
(Colon ascendens) Burney-Punkt) finden Sie in der Abb. 12.12
Krummdarm oben.
(Ileum)
Bauhin’sche
Klappe 2. Grimmdarm (Colon)
(Valva ileocaecalis) Das Colon ist mit ca. 1 m der längste Abschnitt
Blinddarm des Dickdarms und liegt zwischen Blinddarm
(Caecum)
und Mastdarm. Es umgibt den intraperitonealen
Abgangsstelle des Teil des Dünndarms rahmenförmig. Das Colon
Wurmfortsatzes wird in 4 Abschnitte gegliedert (✑ Abb. 12.14):
Wurmfortsatz – aufsteigender Grimmdarm (Colon ascendens),
(Appendix vermiformis)
– quer verlaufender Grimmdarm (Colon trans-
versum),
Blinddarm mit Bauhin’scher – absteigender Grimmdarm (Colon descendens),
Abb. 12.13 Klappe und Wurmfortsatz. – s-förmiger Grimmdarm (Colon sigmoideum).
12.5 Dickdarm 245

quer verlaufender Grimmdarm


(Colon transversum)

linke
rechte Grimmdarm-
Grimmdarm- krümmung
krümmung (Flexura coli sinistra)
(Flexura coli dextra)

„Aussackungen“
(Haustra)

Längs- absteigender
aufsteigender muskel-
Grimmdarm bündel Grimmdarm
(Colon ascendens) (Colon descendens)
(Taenien)

Krummdarm
(Ileum)

Blinddarm s-förmiger
(Caecum) Grimmdarm
Aufhängeband des (Colon sigmoideum)
Wurmfortsatzes Mastdarm
Wurmfortsatz (Rektum)
(Appendix vermiformis)

Dickdarmabschnitte. Abb. 12.14

Das Colon erkennt man äußerlich an


– den Taenien (Taeniae coli):
Das sind 3 ca. 1 cm breite deut-
lich sichtbare Längsmuskel- s-förmiger
bündel; Grimmdarm
(Colon
– den Haustra: sigmoideum)
Das sind die zwischen den
Taenien liegenden Aussackun-
gen („Schöpfeimer“); Querfalten
– den Fettanhängseln:
Hier handelt es sich um unter- Mastdarm-
ampulle Längsfalten
schiedlich große mit Fett gefüll- (Ampulla recti) innerer
te Ausstülpungen an der Darm- Afterschließmuskel
außenwand. (M. sphincter ani internus)
äußerer
3. Mastdarm (Rektum) Afterschließmuskel
Analkanal (M. sphincter ani externus)
Der 10 bis 15 cm lange Mastdarm (Canalis analis)
Schwellkörper
folgt in seinem Verlauf der Kreuz- After
bein-Steißbein-Krümmung. Er liegt (Anus)
als einziges Verdauungsorgan im
dorsalen Beckenbereich und be- Mastdarm und After. Abb. 12.15
steht aus 2 Abschnitten:
– Mastdarmampulle
(Ampulla recti). und dient als Speicherorgan der Facies. Er ent-
Dieser Abschnitt ist stark erweiterungsfähig hält 3 quere feststehende Schleimhautfalten
246 12 Verdauungssystem

(zwei rechts und eine links). Die linke heißt des Colons sind die Längsmuskeln gerafft und
Kohlrausch-Falte und liegt ca. 6 cm vom Anus heißen Taenien.
entfernt.
– Analkanal (Canalis analis). ❑
P Über die Mastdarmschleimhaut können Wirk-
Der Analkanal schließt sich ohne scharfe Gren- stoffe resorbiert werden, z. B. Narkotika, Nähr-
ze ab der Biegung des Rektums nach vorn an klistiere, Analgetika. Diese gelangen über
die Ampulla recti an und endet mit dem After, das Blut, ohne Leberpassage (möglicher Ab-
Anus (= Öffnung an der Haut). Die Schleim- bau), direkt zu den Wirkorten.
haut besitzt 8 bis 10 Längsfalten (Columnae
anales). Zwischen ihnen liegen die After-
buchten (Sinus anales). Außerdem ist sie nahe
dem Anus in der so genannten Hämorrhoidal- 12.6 Leber (Hepar)
zone mit Venengeflechten unterpolstert (Plexus
venosus rectalis = Plexus haemorrhoidalis). Die Leber ist die Stoffwechsel- und Entgiftungs-
zentrale des menschlichen Körpers und bildet
Merke u. a. die Gallenflüssigkeit. Für ihre umfangrei-
che Tätigkeit verfügt sie über eine außerge-
Das Rektum besitzt im Unterschied zum wöhnliche Regenerationsfähigkeit.
Colon keine Taenien, Haustren und Fettan-
hängsel, dafür aber reichlich schleimprodu- Form, Farbe und Größe
zierende Becherzellen. Die braunrote Leber ist mit einer Masse von ca.
1,5 kg nicht nur die größte Drüse, sondern über-
Afterverschluss (✑ Abb. 12.15, S. 245) haupt das größte innere Organ des menschlichen
Der Verschluss des Afters geschieht durch 2 ring- Körpers. Ihre Form wird im Wesentlichen von
förmige Schließmuskeln und einen Schwell- den Nachbarorganen bestimmt. Deutlich zu
körper. unterscheiden sind zwei Hauptflächen, die
• Muskeln Zwerchfellfläche (Facies diaphragmatica) und
– Innerer unwillkürlicher Afterschließmuskel die Eingeweidefläche (Facies visceralis). Die
(M. sphincter ani internus) aus glattem Mus- Zwerchfellfläche liegt in der Rundung der rech-
kelgewebe; ten Zwerchfellkuppel, die Eingeweidefläche liegt
– äußerer willkürlicher Afterschließmuskel auf Teilen des Magens, des Duodenums und des
(M. sphincter ani externus) aus quer gestreif- Dickdarms. Im vorderen Bereich sind beide Flä-
tem Muskelgewebe. chen durch eine spitzwinklige Kante (= Leber-
• Schwellkörper unterrand) getrennt.
Der wie ein Ring unmittelbar vor dem After lie-
gende Schwellkörper wird von dem zuvor Lage und Nachbarorgane
beschriebenen Venenplexus gebildet. Bei Kon- Die Leber liegt im rechten Oberbauch unter dem
traktion der Schließmuskeln wird der Blutabfluss rechten Rippenbogen (im rechten Hypochondri-
über die Venen behindert. Die Längsfalten legen um) und reicht nach links bis in die Magengrube
sich aneinander und verschließen den Anal- (Epigastrium). Wichtige Nachbarorgane sind
kanal. rechte Niere, Colon transversum, Magen und
Duodenum (✑ Abb. 7.4, S. 146).

P Hämorrhoiden sind knotigenartige Vergrö-
ßerungen bestimmter Schwellkörperabschnitte. Oberflächliche Gliederung
Leitsymptom sind hellrote Sickerblutungen aus Der rechte Leberlappen (Lobus dexter) wird
dem After. durch ein Band vom linken (Lobus sinister)
getrennt. An der Eingeweidefläche liegen
– die Leberpforte (Porta hepatis) mit Leberarte-
Wandschichten rie (A. hepatica; bringt sauerstoffreiches Blut
Der Wandaufbau entspricht grundsätzlich dem = 25 %) und die Pfortader (V. portae; führt
des Dünndarms. Die Schleimhaut ist glatt und sauerstoffarmes, mit Nahrungsstoffen aus dem
besitzt Krypten für Schleimdrüsen. Im Bereich Darm angereichertes Blut = 75 % in die Leber);
12.6 Leber 247

Merke Zwischenläppchen- Zwischenläppchen-


Die Leber erhält Blut aus der Leberarterie vene arterie
und der Pfortader. Zentralvene Zwischenläppchen-
gallengang

– der gemeinsame Lebergallengang (Ductus


hepaticus communis): Er transportiert die
Gallenflüssigkeit aus der Leber heraus;
– die Gallenblase (Vesica biliaris): Sie spei-
chert die Gallenflüssigkeit. Leber-
sinus
Blutabfluss Leber-
Im oberen hinteren Bereich der Leber, un- zellen
mittelbar unter dem Zwerchfell, münden
3 Lebervenen in die V. cava inferior (die V.
cava inferior ist hier mit der Leber verwach-
sen, sodass die Lebervenen äußerlich nicht
sichtbar sind).
Glisson’sche Trias Gallenkapillaren Sammelvene
Mikroskopische Struktur der Leber
Das Lebergewebe gliedert sich in viele Leberzellbalken Zentralvene Lebersinus
Leberläppchen (d = 1 – 2 mm). Im Zentrum
jedes Läppchens befindet sich die Zentral-
vene, von der strahlenförmig die polygonalen1)
Leberzellen (Hepatozyten) als Leberzellbal-
ken zur Peripherie verlaufen. Auf diese Weise
entsteht ein dreidimensionales labyrintharti-
ges System aus 1 bis 2 Zellschichten dicken
Zellplatten. Zwischen den Leberzellbalken Gallenkapillare
bzw. -platten liegen die Leberkapillaren, die
besonders weit sind und deshalb als Leber- Glisson’sche Trias
sinusoide bezeichnet werden. Ihre Wand be-
steht aus Endothelzellen und Kupffer-Stern- Mikroskopische Struktur der Leber. Abb. 12.16
zellen, die zur Phagozytose befähigt sind. In
den Leberzellbalken bzw. -platten befinden
sich die Gallenkapillaren. ader. In den Sinusoiden mischt sich das Blut von
Blut- und Gallenkapillarsystem sind voneinander Leberarterie und Pfortader (✑ Abb. 12.16).
völlig getrennt.
Zwischen Kapillarendothel und Leberzellen Im folgenden Schema ist der gesamte Blutfluss
liegt anstelle der Basalmembran ein besonderer durch die Leber zusammengefasst.
Verteiler-Raum, der sog. Disse-Raum, in den die
Mikrovilli der Hepatozyten hineinragen. Durch Merke
diesen Raum wird eine größere und damit lei- Leberkreislauf
stungsfähigere Austauschfläche zwischen dem Pfortader Leberarterie
Blut in den Lebersinusoiden und den Leberzel-
len geschaffen. Zwischen- Zwischen-
läppchenvene läppchenarterie
Lebersinus

Leberkreislauf ▼
Die Speisung der Lebersinusoide mit Blut erfolgt Zentralvene

von der Peripherie des Leberläppchens durch je- Lebervenen
weils ein Ästchen der Leberarterie und der Pfort- ▼
untere Hohlvene
1) vieleckig
248 12 Verdauungssystem

Vordere obere Leberfläche Schweiflappen


(Fascies diaphramatica)
(Lobus caudatus)
linkes
Kronenband
(Lig. coronarium
sinistrum1)
rechter
Leberlappen rechtes
(Lobus dexter) Kronenband
(Lig. coronarium
dextrum1)
linker
Leberlappen
(Lobus sinister)

sichelförmiges
Gallenblase Band1)
(Ligamentum
(Vesica biliaris)
falciforme)

Eingeweidefläche
(Fascies visceralis)

untere
Hohlvene
linker (V. cava inferior)
Leberlappen
(Lobus sinister)
Schweif-
Pfortader lappen
(V. portae) (Lobus caudatus)
Leberpforte
(Porta hepatis) rechter
Leberarterie Leberlappen
(Lobus dexter)
(A. hepatica)

Haupt-
gallengang
(Ductus Gallenblase
choledochus) (Vesica biliaris)
quadratischer
Lappen
1) Bildung des Peritoneums (Lobus quadratus)

Abb. 12.17 Leber.

Die beiden zuführenden Blutgefäße – Zwischen- Galle und Gallengänge


läppchenarterie und Zwischenläppchenvene – ver- Von den Leberzellen wird pro Tag ca. 1 Liter
laufen immer gemeinsam mit dem Zwischenläpp- Gallensaft gebildet, der über das Gallengang-
chengallengang (= Trias heaptica oder Glisson’ - system in das Duodenum geleitet wird. Der Gal-
sche Trias) und etwas lockerem Bindegewebe im lensaft besitzt einen pH-Wert von 7,4 – 8,5 und
Portalkanal (Canalis portalis). ist dem Blut isoton. Wichtigste Bestandteile des
Gallensaftes sind:
Merke • Wasser (95 %), • Gallensäuren,
Die Fließrichtung des Blutes und die der • Gallenfarbstoffe (Bilirubin), • Cholesterol,
Gallenflüssigkeit im und zwischen den • Hormone (Steroidhormone, Insulin),
Leberläppchen ist entgegengesetzt. • evtl. Medikamente.
12.6 Leber 249

linker Lebergallengang rechter Lebergallengang


(Ductus hepaticus sinister) (Ductus hepaticus dexter)

gemeinsamer
Gallenblasen- Lebergang
gang (Ductus hepaticus
(Ductus cysticus) communis)
gemeinsamer
Lebergallengang Gallen-
(Ductus hepaticus
blasen-
communis)
gang
Hauptgallengang Haupt-
(Ductus choledochus) gallengang
(Ductus
Bauchspeichel- choledochus)
drüsengang
(Ductus pancreaticus) Gallen-
Zwölffingerdarm- blase
papille
(Papilla duodeni
major)
Weg der
Zwölffingerdarm Gallenflüssigkeit
(Duodenum)

Extrahepatische Gallengänge. Abb. 12.18

Intrahepatische und extrahepatische (Ductus hepaticus communis). Von dort verläuft


Gallengänge der Gallenblasengang (Ductus cysticus) zur
Der Gallensaft wird von Gallenkapillaren aufge- Gallenblase. Ab dem Abzweig des Gallenblasen-
nommen und über die Gallengänge in das Duo- ganges setzt sich der gemeinsame Lebergallen-
denum geleitet. Dieses Gallengangsystem glie- gang als Hauptgallengang (Ductus choledochus)
dert sich in zum Duodenum fort. Die besondere Funktion
– Gallenwege innerhalb der Leber (intrahepati- der Gallenblase besteht darin, eine bestimmte
sche Gallengänge) und Menge an Gallensaft zu speichern (40 – 100 ml)
– Gallenwege außerhalb der Leber (extrahepati- und bei Bedarf abzugeben. Während des
sche Gallengänge). Speichervorganges wird die hellgelbe Leber-
Die Gallenkapillaren liegen zwischen 2 Leber- galle durch Wasserentzug zur grünlichen
zellen, haben also keine eigene Wand. Sie neh- Blasengalle eingedickt. Bei 2/3 der Menschen
men die Gallenflüssigkeit auf. Von den Gallen- vereinigen sich Ductus choledochus und Ductus
kapillaren wird die Gallenflüssigkeit innerhalb pancreaticus innerhalb des Pankreaskopfes und
der Leberlappen von winzig kleinen Gallengän- münden über ein gemeinsames Endstück in die
gen in die Zwischenläppchengallengänge gelei- große Zwölffingerdarmpapille (= Papilla duo-
tet. Diese vereinigen sich zu immer größer wer- deni major = Vater-Papille), die in der Hinter-
denden intrahepatischen Gallengängen, die dann wand des absteigenden Teils des Duodenums
schließlich an der Leberpforte in die extra- liegt. Bei 1/3 münden beide Gänge getrennt.
hepatischen übergehen.
Merke
In Abbildung 12.18 ist der Weg der Gallen-
flüssigkeit über die extrahepatischen Gallen- Die extrahepatischen Gallengänge sind mit
wege gut zu verfolgen. Ausnahme des Ductus cysticus „Einbahn-
Das extrahepatische Gallengangsystem beginnt straßen“.
mit dem linken und rechten Lebergallengang
(Ductus hepaticus sinister et dexter). Beide ver-
einigen sich zum gemeinsamen Lebergallengang
250 12 Verdauungssystem

gemeinsamer Lebergallengang ❑
P Häufige Erkrankungen der Gallenblase sind
(Ductus hepaticus communis) Entzündungen und Steinleiden. Sind die
Mikrovilli Nachbarorgane mit der Gallenblase verwach-
ein- sen, können bei Perforation Steine in den
schichtiges Darm gelangen und zum Darmverschluss
Zylinder- (Ileus) führen.
epithel
der Gallenkoliken entstehen, wenn ein Stein im
Schleimhaut Ductus cysticus oder choledochus einge-
(Tunica mucosa) klemmt wird.
Gallenblasen-
gang
(Ductus cysticus)
Hals der 12.7 Bauchspeicheldrüse (Pankreas)
Gallenblase
(Collum vesicae
biliaris)
Die Bauchspeicheldrüse hat eine Doppelfunk-
tion: Einerseits bildet sie den Bauchspeichel,
Hauptgallen-
gang der wichtige Verdauungsenzyme und Elektrolyte
(Ductus enthält, andererseits produziert sie Hormone zur
choledochus) Blutzuckerregulation.
Körper der
Gallenblase Form, Größe
(Corpus vesicae
biliaris) Das Pankreas ist eine ca. 15 cm lange, 3 – 4 cm
breite und 1 – 2 cm dicke Drüse mit einer Masse
Grund der
Gallenblase von ca. 85 Gramm. Die Läppchenstruktur ist
(Fundus deutlich an der Oberfläche zu erkennen.
vesicae biliaris)
Gliederung, Lage
Abb. 12.19 Gallenblase (Gliederung). – Kopf (Caput pancreatis). Liegt in der inneren
Krümmung des Duodenums.
– Körper (Corpus pancreatis).
– Schwanz (Cauda pancreatis).
Körper und Schwanz liegen
dorsal des Magens. Der
exokriner Teil mit Schwanz endet am Milz-
Drüsenendstück hilus.
(Acini)
und Ausführungs-
gang Merke
Das Pankreas liegt retroperi-
Blutkapillare
toneal auf der linken Seite
der hinteren Bauchwand.

A-Zellen Mikroskopische Struktur


Die Bauchspeicheldrüse be-
B-Zellen steht aus 2 unterschiedlichen
endokriner Teil Anteilen.
(Langerhans'sche – Exokriner Anteil: Er ist der
Inseln) größte Lieferant von Verdau-
ungsenzymen. Hier werden
Abb. 12.20 Mikroskopische Struktur der Bauchspeicheldrüse. pro Tag ca. 1 – 2 Liter Bauch-
speichel (= Verdauungssekret)
12.7 Bauchspeicheldrüse 251

Bauchspeicheldrüse
(Pankreas)
Anfangsteil des
Zwölffingerdarms Kopf Körper Schwanz
(Bulbus duodeni) (Caput) (Corpus) (Cauda)
oberer Abschnitt
(Pars superior)
Hauptgallengang
(Ductus choledochus)
absteigender Abschnitt
(Pars descendens)

kleine
Zwölffingerdarmpapille Ausführungsgang der
(Papilla duodeni minor) Bauchspeicheldrüse
(Ductus pancreaticus)
große
Zwölffingerdarmpapille aufsteigender Abschnitt
(Pars ascendens)
(Papilla duodeni major –
Papilla Vateri) Übergang des
Zwölffingerdarms
horizontaler Abschnitt in den Leerdarm
(Pars horizontalis) (Flexura
duodenojejunalis)
Leerdarm
(Jejunum)
Zwölffingerdarm
(Duodenum)

Makroskopischer Bau von Zwölffingerdarm und Bauchspeicheldrüse. Abb. 12.21

gebildet, der über den Bauchspeicheldrüsen- • A-Zellen; sie produzieren das blutzuckerspie-
gang (Ductus pancreaticus) durch die Papilla gelhebende Glukagon und
duodeni major (Papilla Vateri) in das Duode- • B-Zellen; sie bilden die Hauptmasse und pro-
num gelangt. duzieren das blutzuckerspiegelsenkende Insu-
lin (✑ auch Kap. 15.4.1, S. 307).

P Die Verdauungsenzy-
me des Bauchspeichels
können bei akuter Pan-
kreatitis wegen fehlender untere Hohlvene
Selbstschutzmechanis- (V. cava inferior)
men die Drüse zerstören. Magen
(Gaster)

– Endokriner Teil (= Lan- kleines Netz


(Omentum minus)
gerhans’sche Inseln):
Leber
Das sind Zellanhäufun- (Hepar)
gen, die besonders zahl- Bauchspeichel-
reich in der Schwanz- drüse
und Körperregion vor- (Pankreas)
kommen und Hormone Zwölffingerdarm
produzieren. Die Lan- (Duodenum)
gerhans’schen Inseln be-
stehen hauptsächlich Lage der oberen Bauchorgane von dorsal. Abb. 12.22
aus zwei Zellarten:
252 12 Verdauungssystem

12.8 Physiologie der Verdauung Motorik


Durch Schneid- und Mahlbewegungen der Zähne
Die Verdauung ist die mechanische und chemi- und mithilfe der Zunge wird die feste Nahrung
sche Aufbereitung der Nahrung, sodass die zerkleinert, mit Mundspeichel vermischt und
lebensnotwendigen Stoffe in Blut und Lymphe damit gleitfähig. Danach schiebt die Zunge den
aufgenommen (resorbiert) werden können. Bissen (Bolus) vom Gaumen zur Rachenenge,
und der Schluckreflex wird ausgelöst.
Mechanische Verdauungsvorgänge (Motorik)
sind Zerkleinern, Mischen, Transportieren, ❑
P Ungenügendes Kauen, z. B. durch ein
Füllen, Speichern und Entleeren der Nahrung. schadhaftes Gebiss, ist nicht selten Ursache für
Verdauungsstörungen.
Chemische Verdauungsvorgänge (Sekretorik)
sind Vorgänge, bei denen große Teilchen durch
Bildungsort, Zusammensetzung und Aufgaben
Verdauungsenzyme und z. T. mithilfe sog.
des Mundspeichels
Aufschlussmittel (Salzsäure, Gallensäuren) in
resorbierbare kleinere Teilchen zerlegt werden. Bildungsort:
Der eigentliche Bildungsort des Mundspeichels
Verdauungssekrete sind die Drüsenendstücke (Azini) der Mund-
Verdauungssekrete setzen sich zusammen aus: speicheldrüsen. In ihnen entsteht der sog. Primär-
– Wasser als Lösungsmittel, speichel, der dann in den Ausführungsgängen
– Schleim als Gleit- und Schutzmittel, durch Resorptions- und Sekretionsvorgänge je
– Verdauungsenzyme als Spaltmittel, nach Bedarf der Nahrung angepasst wird.
– Säuren als Aufschlussmittel.
Die Verdauungsvorgänge werden durch das Zusammensetzung Aufgaben
vegetative Nervensystem und durch Gewebs- Wasser Lösungs- und Transport-
hormone gesteuert. mittel
Muzine machen den Bissen gleit-
Merke (Schleimstoffe) und schluckfähig, erleich-
Alle Verdauungsenzyme gehören zu den tern Kau- und Sprechbe-
Hydrolasen. wegungen
Bei den chemischen Reaktionen wird immer -Amylase Einleitung der Kohlen-
Wasser angelagert (= Hydrolyse). (= Ptyalin) hydrat-(Stärke-)verdauung
beim Kauen
Immunglobulin A, Abwehr von Krankheitser-
12.8.1 Verdauungsvorgänge in der Mundhöhle Lysozym und regern
Rhodanid-Ionen
Die Funktion der Mundhöhle wird durch das HCO3- Alkalisierung und Pufferung
Zusammenwirken ihrer Wände mit der Zunge, auf pH 7 – 8
den Speicheldrüsen und den Zähnen ermöglicht. Fluoridionen Schutz des Zahnschmelzes

Stärkeverdauung in der
Tab. 12.3 Nahrungsstoffe. Mundhöhle. Tab. 12.4
Nicht resorbierbar resorbierbar Ptyalin
Kohlenhydrate
(Di-, Polysaccharide) ➝ Monosaccharide
Eiweiße ➝ Aminosäuren Stärke Maltose
Fette ➝ Glycerol und Fettsäuren
Vitamine
anorganische Ionen (Mineralien)
Wasser H2 O
12.8 Physiologie der Verdauung 253

Mechanische Chemische Verdauung


Verdauung

 Mundspeichel
1,5 Liter/Tag
Mund Enzym:
zerkleinern, mischen, Amylase spaltet Stärke.
schlucken 
Magensaft
 2 Liter/Tag
Speiseröhre HCL denaturiert Eiweiße
Transport (Peristaltik) und aktiviert
Pepsinogen  Pepsin
 spaltet Eiweiß.
Schleim: Schutz vor
Magen Selbstverdauung.
füllen, mischen, 
Transport, entleeren Gallensaft
0,5 Liter/Tag
 Gallensäure emulgiert
Fette.
Dünndarm +
mischen, resorbieren, Bauchspeichel
Transport 1,5 Liter/Tag
 Enzyme:
Lipase  Fettspaltung.
Dickdarm Amylase  Kohlen-
mischen, resorbieren, hydratspaltung.
Transport Proteinasen, Peptidasen
 Eiweißspaltung.
 +
Darmsaft
Mastdarm 1,5 Liter/Tag
schließen, entleeren Enzyme:
Maltase  Maltosespaltung.
Peptidasen
 Eiweißspaltung

ca. 7 Liter
Verdauungssaft täglich

Verdauung. Abb. 12.23


P Trockene Speisen und Mundatmung erfor- – Durch Muskelzug wird das Gaumensegel an-
dern größere Speichelmengen. Bei psychi- gehoben und so die Mundhöhle gegen den
scher Erregung (z. B. Angst, Ärger) kann die Nasenrachenraum abgeschlossen.
Speichelsekretion herabgesetzt werden. – Gleichzeitig kontrahiert die Mundbodenmus-
kulatur und zieht das Zungenbein mit Kehl-
Schluckvorgang kopf und Trachea nach vorn und oben.
Der Schluckvorgang ist ein angeborener Reflex. – Wird der schluckfähige Bissen (Bolus) bei ge-
Er kann willkürlich eingeleitet werden. Im Be- schlossenem Mund mit der Zunge gegen das
reich des weichen Gaumens und an der Zungen- Gaumensegel und/oder die hintere Rachen-
wurzel befinden sich Druckrezeptoren. Werden wand gedrückt, erfolgen die weiteren Vorgän-
diese durch Speisen, Speichel oder durch einen ge reflektorisch.
Spatel berührt, wird der Schluckreflex ausgelöst. – Die Zungenwurzel wird ruckartig nach hinten
254 12 Verdauungssystem

Gaumensegel
verschließt
Mundhöhle
gegen den
Nasenrachen
Luftweg
Zungenwurzel
Nahrungsweg Nahrungsfluss

kreuzen sich Kehlkopfdeckel


im wird über
Mundrachen Kehlkopfeingang
gedrückt

Luftröhre Speiseröhre

Abb. 12.24 Luft- und Nahrungsweg (links), Schluckvorgang (rechts).

bewegt. Dadurch stößt sie den Bolus in den 12.8.2 Verdauungsvorgänge im Magen
Mundrachen und drückt den Kehldeckel nach
unten. Gleichzeitig zieht der Schildknorpel- Motorik
Zungenbein-Muskel (M. thyrohyoideus) den Der Magen nimmt die geschluckte Speise auf
Kehlkopf näher an das Zungenbein (Os hyoi- (Füllung), durchmischt sie mit Magensaft und
deum), damit der Kehldeckel (Epiglottis) leitet sie portionsweise in das Duodenum. Dabei
schützend über den Kehlkopfeingang zu lie- findet eine weitere Zerkleinerung und damit
gen kommt. Oberflächenvergrößerung statt.
– Zungenbewegung und Kontraktion der Ra-
chenmuskulatur transportieren schließlich ❑
P Die Verweildauer der Speisen im Magen
den Bissen in den Ösophagus, dessen Peristal- hängt von deren Zusammensetzung ab. Geträn-
tik dann den Weitertransport in den Magen ke gelangen nach wenigen Minuten entlang der
übernimmt. Magenstraße in das Duodenum. Kohlenhydrate
bleiben 1 – 2, Eiweiße 2 und Fette 4 – 5

P Der Schluckakt wird durch verschiedene Stunden im Magen.
Hirnnerven (V, VII, IX, X) gesteuert. Störun-
gen des Schluckvorganges weisen deshalb häu- Sekretorik
fig auf eine Läsion einer dieser Hirnnerven Im Magen beginnt die Eiweißverdauung. Durch
hin. die Salzsäure werden die Eiweiße denaturiert1)
Im Zustand der Bewusstlosigkeit erlischt der und das inaktive Pepsinogen zu Pepsin aktiviert.
Schluckreflex, und es besteht die Gefahr, dass Letzteres spaltet ca. 10 % der Eiweiße in kleine-
Erbrochenes in die Atemwege gelangt (Aspira- re Polypeptidketten (✑ S. 21).
tion). Deshalb müssen Bewusstlose in die sta-
bile Seitenlage gebracht werden. Beginn der Eiweißverdauung im
Magen. Tab. 12.5
HCl Proteinase des
Magensaftes (Pepsin)

Eiweiße Peptidbruchstücke
1) Denaturierung: Meist irreversible Strukturveränderung der Prote-
ine mit Verlust ihrer biologischen Eigenschaften (z. B. Enzymwir-
kung) und Veränderung ihrer physikalischen Eigenschaften (z. B. H2O
Gerinnung)
12.8 Physiologie der Verdauung 255

Merke Nahrungskohlenhydrat „Stärke“ wird im Dünn-


darm zunächst durch die Amylase des Bauch-
Die Salzsäure erfüllt 4 Funktionen: speichels in das Disaccharid Maltose zerlegt.
• Aufschlussmittel für Eiweiße, Letzteres gelangt in die Darmzellen und wird
• Aktivierung des Pepsinogens, dort durch das Enzym Maltase in das Mono-
• Desinfektion, saccharid Glucose gespalten.
• pH-Einstellung von 1 – 2.
Das Pepsin leitet die Eiweißverdauung ein.
Merke
Der Schleim schützt den Magen vor Selbst-
verdauung. Amylase des Maltase der
Bauchspeichels Darmzellen
Die Salzsäure wirkt durch den niedrigen pH-
Poly- Di- Mono-
Wert desinfizierend, d. h., die meisten mit der saccharide saccharide saccharide
Nahrung aufgenommenen Bakterien und Viren (Stärke) (Maltose) (Glucose)
werden abgetötet. Der von den Nebenzellen ge-
bildete alkalische Schleim schützt die Magen- H2O H2O
schleimhaut vor Selbstverdauung.
Resorption: Die Glucose wird aktiv in das Blut
transportiert (Blutzucker).
Intrinsic-Factor
Dieses Glykoproteid wird wie die Salzsäure in
den Belegzellen synthetisiert. Der Intrinsic- ❑
P In der Enzymdiagnostik hat die Amylase
Faktor ist für die Resorption von Vitamin B12 insofern Bedeutung, da bei Pankreasentzün-
(Cyanocobalamin) unbedingt erforderlich. dungen ihre Konzentration im Blut ansteigt.

P Fehlt der Intrinsic-Faktor, entstehen Vitamin-
B-Mangel-Anämien (perniziöse Anämie). Verdauung und Resorption der Eiweiße
Nach der Denaturierung durch die Magensalz-
säure werden die Eiweiße durch mehrere Enzy-
me über Peptidbruchstücke bis zu den einzelnen
12.8.3 Verdauungsvorgänge im Dünndarm
Aminosäuren aufgespalten. Im Dünndarm spal-
ten die Proteinasen (z. B. Trypsin und Chymo-
Die durch Langstreckung und Faltung beträcht-
trypsin) des Bauchspeichels die Peptidketten
lich vergrößerte Oberfläche des Dünndarms er-
mehr oder weniger spezifisch in Peptidbruch-
klärt seine große Bedeutung für die Verdauung.
stücke. Diese werden von Peptidasen (z. B. Car-
boxypeptidasen) des Pankreas- und Darmsaftes in
Motorik
kleinste Peptide aufgespalten, welche von den
Die Dünndarmmotorik bewirkt:
Darmzellen resorbiert werden. In den Darmzellen
– Mischung des Speisebreis (Chymus) durch
erfolgt durch die reichlich vorhandenen Peptida-
Segmentier- und Pendelbewegungen,
sen die weitere Spaltung bis zu den Aminosäuren.
– Weitertransport durch Peristaltik über die
Bauhin’sche Klappe in den Dickdarm,
Merke
– „Pumpen“ der Zotten zum besseren Transport
von Blut und Lymphe. Proteinasen des Peptidasen des
Pankreassaftes Pankreas- und
(z. B. Trypsin und Darmsaftes sowie
Sekretorik (✑ Tab. 12.3, S. 252) Chymotrypsin) der Darmzellen
Im Dünndarm findet die endgültige Zerlegung
der Kohlenhydrate, Eiweiße und Fette in ihre Ei- Peptid- Amino-
weiße bruchstücke säuren
Grundmoleküle und deren Resorption statt.
H2O H2O
Verdauung und Resorption der Kohlenhydrate
Die Kohlenhydratverdauung in der Mundhöhle Resorption: Die Aminosäuren werden aktiv in
hat wenig Bedeutung, weil die Amylasemenge das Blut transportiert.
im Mundspeichel nur gering ist. Das wichtigste
256 12 Verdauungssystem

Verdauung und Resorption der Fette 12.8.4 Verdauungsvorgänge im Dickdarm


Die hydrolytische Spaltung der Nahrungsgly-
ceride geschieht komplett im Dünndarm durch Die Hauptfunktionen des Dickdarms sind:
das Enzym Lipase. – die Bildung der Faeces (Stuhl) und
Zunächst sorgen die Gallensäuren dafür, daß die – die Stuhlentleerung (Defäkation).
wasserunlöslichen Triglyceride in feinste Tröpf-
chen zerlegt werden (= Emulgierung). Dadurch Die Faeces entstehen durch weiteren Wasserent-
wird die Oberfläche größer, so dass nun die zug. So werden die pro Tag vom Ileum in das
enzymatische Spaltung der Fette erfolgen kann. Caecum kommenden ca. 1.000 Milliliter Darm-
Außerdem aktivieren sie die Pankreaslipase und inhalt auf ca. 150 Milliliter reduziert. Gleich-
hemmen die Magensaftsekretion. zeitig werden wasserlösliche Vitamine und
Die Triglyceride werden durch Lipase in Glyce- Elektrolyte resorbiert.
rol und Fettsäuren zerlegt.
Merke
Die Spaltprodukte gelangen in die Darmzellen,
Die Resorptionsfähigkeit des Dickdarms ist im
können aber – bis auf einige kurzkettige Fettsäu-
Vergleich zum Dünndarm gering (Wasser-
ren – nicht vom Blut aufgenommen werden, da
resorption im Dünndarm ca. 8.500 ml, im Dick-
sie wasserunlöslich sind. In den Darmzellen
darm ca. 850 ml). In den Dickdarm gelangte
erfolgt deshalb schrittweise eine Resynthese von
Fette werden unverändert ausgeschieden.
Triglyceriden und deren Kopplung an bestimmte
Proteine. Es entstehen wasserlösliche Komplexe,
die Lipoproteine (✑ S. 22). Die in den Darm- Der Dickdarm ist mit Bakterien besiedelt
zellen gebildeten resorbierbaren Lipoproteine (Escherichia coli, Aerobacter aerogenes, nicht-
heißen Chylomikronen und werden mit der pathogene Kokken). Man bezeichnet diese als
Lymphe abtransportiert. Darmflora. Wichtige Verdauungsfunktionen die-
ser Bakterien sind:
Merke – Weiterer Abbau der Kohlenhydrate durch Gä-
Fettverdauung rung. Dabei entstehen als Gärungsprodukte
Lipase des Milchsäure, Essigsäure, Alkohol, Kohlendioxid
Bauchspeichels und Wasser.
Glycerol – Weiterer Abbau der Eiweiße durch Fäulnis.
Triglyceride + Fettsäuren Als Fäulnisprodukte entstehen biogene Amine
(z. B. Histamin, aber auch das giftige Indol),
Gallensäuren H2O Wasserstoff, Schwefelwasserstoff und Methan.
– Weiterer Abbau der Gallenfarbstoffe.
Resorption:
Wenige kurzkettige Fettsäuren ins Blut, der
Rest als resynthetisierte Triglyceride in Chylo- ❑
P Normalerweise besteht zwischen Gärung
mikronen in die Lymphe. und Fäulnis ein Gleichgewicht. Ist dies gestört,
kommt es zur Ausscheidung faulender oder
gärender Stühle.

P Bei Störungen der Fettresorption (z. B. ver-
minderte Gallenproduktion bei Lebererkran- Menge, Zusammensetzung und Eigenschaften
kungen, Darmentzündungen) wird auch die der Faeces
Aufnahme fettlöslicher Vitamine beeinträch- Die ausgeschiedene Menge beträgt bei ausgewo-
tigt. So kann es durch Vitamin-K-Mangel im gener Ernährung ca. 150 Gramm pro Tag.
Blut, das normalerweise durch die Darmflora Zusammensetzung:
immer ausreichend gebildet wird, zu einer • 75 – 80 % Wasser,
erhöhten Blutungsneigung kommen. • 20 – 25 % feste, unverdauliche Bestandteile
(Zellulose, Bakterien, unlösliche Calcium- und
Eisensalze, abgeschilferte Epithelien, Schleim,
Fett).
12.8 Physiologie der Verdauung 257

Die Farbe wird durch die Gallenfarbstoffe be- Faktor aktiv im Ileum.
stimmt, der Geruch durch den Schwefelwasser- Wasser und Natrium werden vorwiegend im
stoff, organische Säuren, Indol sowie Scatol und Duodenum und Jejunum durch Diffusion aufge-
der pH-Wert durch die Gärungsprodukte. nommen.
Calcium und Magnesium werden hauptsächlich
Motorik aktiv resorbiert. Die Resorption wird durch
Die Dickdarmmotorik bewirkt: 2 Hormone (Calcitonin, Parathormon, ✑ Tab.
– die weitere Durchmischung des Darminhaltes 15.8, S. 309) gesteuert.
durch langsames Fortschreiten von Ringmus-
kelkontraktionen (sog. Haustrenfließen) und ❑
P Die Calciumresorption setzt die Anwesenheit
rhythmische Segmentierung; von Vitamin D voraus, dessen aktive Form unter
– den Weitertransport des Darminhaltes in das Mitwirkung von Niere und Haut bei Lichtein-
Rektum. Zu diesem Zweck laufen 2- bis 3-mal wirkung entsteht (bei Mangel: Rachitis).
am Tag, gewöhnlich nach der Nahrungsauf-
nahme, starke peristaltische Kontraktionen Eisen wird ebenfalls aktiv im oberen Dünndarm
vom Caecum über das gesamte Colon; aufgenommen.

Merke Merke
Im Vergleich zum Dünndarm erfolgt der Die Resorption der Verdauungsprodukte er-
Transport im Dickdarm relativ langsam folgt passiv durch Diffusion oder aktiv mit-
(10 bis 18 Stunden). hilfe von Trägersubstanzen bzw. durch Pino-
zytose.
– die Stuhlentleerung (Defäkation). Hier han- Der Hauptresorptionsort ist der obere Dünn-
delt es sich um einen willkürlich beeinflussba- darm (Duodenum, Jejunum). Er hat eine sehr
ren reflektorischen Vorgang. Mit zunehmen- große Oberfläche, und alle lebensnotwendigen
der Füllung des Rektums werden durch erhöh- Nahrungsbestandteile sind resorptionsfähig.
ten Druck die Dehnungsrezeptoren der Darm- Grundsätzlich ist die gesamte Schleimhaut
wand gereizt. Die Aktionspotentiale gelangen des Verdauungstraktes zur Resorption fähig.
in das zuständige Reflexzentrum im Sakral- So besteht auch die Möglichkeit der künstli-
mark, das etwa ab dem 2. Lebensjahr von der chen Ernährung durch Nährklistier über die
Großhirnrinde kontrolliert werden kann. Bei Dickdarmschleimhaut.
der Darmentleerung wird der äußere Schließ-
muskel willkürlich entspannt und die Bauch-
presse erzeugt. Gleichzeitig führen parasym-
pathische Efferenzen zur Erschlaffung des 12.8.5 Regulation der Verdauung
inneren Schließmuskels. Daraufhin kommt es
zur Kontraktion der Ring- und Längsmuskulatur Die Regulation der einzelnen Verdauungsvor-
des Darmes, und es erfolgt die Entleerung. gänge ist recht kompliziert. Hier werden nur
einige grundsätzliche Möglichkeiten dargestellt.

P In der Regel findet der Stuhlgang einmal
täglich statt, oft nach der Einnahme von Mahl- Das vegetative Nervensystem steuert sowohl
zeiten (Gastrokolonreflex). Motorik als auch Sekretorik der Verdauung
(Sympathicus hemmt, Parasympathicus fördert).
Resorption von Vitaminen, Wasser und
Mineralstoffen ❑
P Psychische Einflüsse, bestimmte Stoffe
Die Resorption der fettlöslichen Vitamine (A, D, (Coffein, Nikotin) und der Grad der körper-
E, K) erfolgt in gleicher Weise wie die Fett- lichen Aktivität können nachhaltig die Wirkun-
resorption. Die wasserlöslichen Vitamine gelan- gen des vegetativen Nervensystems beeinflus-
gen wie folgt in das Blut: Vitamin C und B2 sen.
durch Diffusion und Vitamin Bl2 mit Intrinsic-
258 12 Verdauungssystem

Die Regulation erfolgt 1. Kephale Phase (psychisch-nervale Einflüsse)


– über angeborene Fremdreflexe, deren Aus-
löser hauptsächlich mechanische Reize (z. B. Geruch
Druckanstieg) sowie die Geruchs- und Ge- Geschmack
schmacksreize sind. Pepsin


Beispiel: Sekretion der Verdauungssekrete, HCL


Erregung N. vagus
Peristaltik und Defäkation; Gastrin


– über erlernte Reflexe, deren Auslöser Gehör- Anblick
oder Sehreize, aber auch Vorstellungen sind. Vorstellung
Beispiel: Mundspeichel und Magensaftsekre-
tion (= nervale Phase – Regulation
durch Vorstellung von Nahrung); ❑
P Aggressionen können sekretionssteigernd
– hormonal durch Gewebshormone, die durch und Angst sekretionshemmend wirken.
bestimmte Verdauungsprodukte freigesetzt
werden.
2. Gastrale Phase (lokale Einflüsse)
Regulation der Speichelproduktion Die Sekretion von Magensaft wird durch den
Die Bildung und Freisetzung des Mundspeichels direkten Kontakt der Nahrung mit der Magen-
wird reflektorisch gesteuert. wand ausgelöst.

Dehnungsreiz
Reize Großhirnrinde Nahrung Freisetzung
(Sehen, Hören, Vorstellen) im von
Antrum Gastrin
Reize Hypothalamus chemische Reize
(Geruch) (z. B. Produkte
der Eiweißver- Blutweg
dauung, Alkohol,
Kaffee,
Arzneimittel)
Speichelzentrum Corpus
ventriculi


Reize Mundspeichel- Magensaftsekretion
(Berührung,
Geschmack) drüsen (ein sehr geringer
pH-Wert des Magensaftes
hemmt die Gastrinsekretion
= negative Rückkopplung)
Speichelsekretion

3. Intestinale Phase
Regulation der Magensaftsekretion Der Übertritt des Nahrungsbreis vom Magen in
In den Magendrüsen werden pro Tag ca. 3 Liter das Duodenum beeinflusst rückwirkend die
Magensaft gebildet. Magensaftsekretion in folgender Weise:
Zusammensetzung des Magensaftes:
– Wasser Dehnung der
– eiweißspaltende Enzyme (Pepsin) Darmwand Freisetzung
– Schleim (Muzin) von Magensaft-

Gewebs- Blut sekretion


– Salzsäure resorbierte hormonen
– Intrinsic-factor Aminosäuren

Die physiologische Magensaftsekretion wird vor niedriger Freisetzung


allem durch die Nahrungsaufnahme gesteuert. pH-Wert von Magensaft-

Man unterscheidet 3 Phasen. Gewebs- sekretion


Fett hormonen
12.8 Physiologie der Verdauung 259

12.8.6 Funktionen der Leber (Überblick) der Blutglucosespiegel, werden die Glykogen-
vorräte wieder in Glucose umgebaut und an das
Der größte Teil der resorbierten Hydrolysepro- Blut abgegeben. Bei Erschöpfung der Glykogen-
dukte der Nahrung dient zunächst dem Aufbau vorräte setzt schließlich die Glukoneogenese ein
„körpereigener“ Stoffe (z. B. Glykogen, Proteine, (✑ S. 40).
Triglyceride, Phosphatide). Die meisten dieser
anabolen Stoffwechselvorgänge vollziehen sich Merke
in der Leber. Die Leber spielt eine wichtige Rolle bei der
Konstanthaltung des Blutglucosespiegels (✑
Merke S. 307).
Die Leber ist das zentrale Stoffwechselorgan
unseres Körpers („Zentrallabor“). Aufgaben im Fettstoffwechsel
Bei reicher Glucosezufuhr synthetisiert die
Im Folgenden gehen wir auf die wichtigsten Leber reichlich höhere Fettsäuren und weiterhin
Funktionen der Leber ein. Triglyceride sowie Phosphatide.
Mit dem Pfortaderblut gelangen nachstehende Mit der Synthese der Plasmalipoproteine schafft
Produkte direkt in die Leber: sie die Grundstoffe für den Aufbau von Transport-
– aus dem Dünndarm: Kohlenhydrate, Eiweiße, micellen.1) Diese benötigt der Organismus für
Fette, Vitamine, Minera- den Transport der wasserunlöslichen Stoffe wie
lien, Medikamente etc.; Triglyceride, Phosphatide und Cholesterol in den
– aus dem Magen: Alkohol, Medikamente; wässrigen Körperflüssigkeiten.
– aus dem Pankreas: Hormone (Insulin) der
Langerhans’schen Inseln; Die Leber wandelt überschüssige Kohlenhydrate
– aus der Milz: Abbauprodukte des Hä- in Triglyceride um und ist für die Synthese der
moglobins. Plasmalipoproteine unterschiedlicher Dichte ver-
Daraus ergibt sich eine ihrer wesentlichsten Auf- antwortlich.
gaben, nämlich wichtige Stoffkonzentrationen in
den extrazellulären Flüssigkeiten, insbesondere Aufgaben im Cholesterolstoffwechsel
im Blut, konstant zu halten und damit eine kon- Die Leber ist der Hauptort der Cholesterol-Bio-
tinuierliche Versorgung der Zellen zu sichern. synthese. Sie nimmt aber auch Cholesterol, das
Häufig geschieht dies durch wechselseitige in anderen Körperzellen gebildet bzw. mit der
Umwandlung von Speicher- und Transportform Nahrung aufgenommen wurde, in ihren Vorrat
eines Stoffes: auf.

Konstanter Blutglucosespiegel Der Cholesterolvorrat wird vor allem zur Bil-


dung der Gallensäuren verwendet und zum Teil in
Überschuss Speicherform Form von Lipoproteinen wieder an den Kreislauf
(Glykogen) abgegeben, um andere an Cholesterolmangel lei-
Transportform Mangel dende Organe zu versorgen.
(z. B. Glucose)

Merke
Aufgaben im Kohlenhydratstoffwechsel Die Leber ist maßgeblich für den Cholesterol-
Die Leber erfüllt hier vor allem die eben beschrie- haushalt des Körpers verantwortlich.
bene Aufgabe, wodurch sie den Blutglucosespie-
gel konstant hält.
Nach einer kohlenhydratreichen Mahlzeit gelangt Aufgaben im Äthanolstoffwechsel
viel Glucose, aber auch Insulin, mit dem Pfort- Alkohol (Äthanol, C2H5OH) wird überwiegend
aderblut in die Leber. Durch das Hormon stimu- in der Leber abgebaut. Die Leber konzentriert
liert, wird die überschüssige Glucose in Glyko-
gen und wenn dessen Speicherkapazität er- 1) Plasmalipoproteine (Bestandteile: Cholesterol, Phospha-
schöpft ist, in Fett umgewandelt. Sinkt danach tide, Triglycerid, Eiweiß), die dem Lipidtransport dienen
260 12 Verdauungssystem

ihn aber nicht, sondern der Alkohol wird mit löslich und unschädlich. In dieser Form wird das
Ausnahme von Fett- und Knochengewebe im Bilirubin aktiv in die Gallenkapillaren transpor-
ganzen Körper verteilt. tiert und gelangt mit dem Gallensaft in den
Darm. Im Colon wird es durch die Tätigkeit der

P Die Blut-Alkohol-Konzentration ist ein Darmbakterien vor allem in Urobilinogen und
guter Indikator für die Konzentration des andere Farbstoffe (Sterkobilinogen, Urobilin,
Alkohols im Gehirn. Sterkobilin) umgewandelt. Diese Abbauprodukte
bewirken die braune Farbe des Stuhls. Der
größte Teil wird mit dem Stuhl ausgeschieden
Abbau von Hämoglobin, Produktion und (ca. 85 %). Der Rest wird wieder resorbiert und
Sekretion des Gallensaftes gelangt entweder über die Pfortader in die Leber
Mit dieser Spezialleistung erfüllt die Leber zurück oder bei Resorption im Rektum unter
2 Funktionen: Umgehung der Leber in die Niere. Dieser Teil
– Mitwirkung bei der Fettverdauung durch die wird mit dem Harn ausgeschieden und bestimmt
Gallensäuresynthese; die bernsteingelbe Harnfarbe mit.
– Abbau überalterter Blutzellen.
Beim Abbau von Hämoglobin in der Leber ent- Bestandteile des Gallensaftes und Bedeutung
stehen die Gallenfarbstoffe. Zuerst bildet sich das der Gallensäuren
grüne Biliverdin, das dann zum wichtigsten Der Gallensaft besteht aus Gallensäuren,
Gallenfarbstoff, dem Bilirubin, umgewandelt Gallenfarbstoffen (Bilirubin), Cholesterol, Lezi-
wird. Das Bilirubin ist wasserunlöslich und zell- thin, Na+, K+, Ca2+, HCO3-. Die Salze der
schädigend. Deshalb wird es in den Leberzellen Gallensäuren sind für die Verdauung und
an Glucuronsäure gebunden und dadurch wasser- Resorption der Fette von großer physiologischer
Bedeutung. Sie setzen die Ober-
flächenspannung herab und wirken
dadurch emulgierend (verteilend) und
Leberarterie dispergierend (verkleinernd). Außer-
(A. hepatica)
Cholesterol im Blut dem aktivieren sie die Lipasen und
hemmen die Magensaftsekretion.
Cholesterol ❑
P Gallensteine entstehen, wenn das
Gleichgewicht der Bestandteile des
Gallensäure (0,6 g/d) Leber Gallensaftes gestört ist. Am häufig-
(Hepar)
sten sind Cholesterol-Pigment-Kalk-
Steine.

Gelbsucht (Ikterus) entsteht, wenn


ca. 3 g
Gallensäure zu viel Gallenfarbstoffe ins Blut ge-
Pfortader zirkulieren Haupt- langen. Die Ursachen hierfür sind
(V. portae) 4- bis 12-mal gallengang vielfältig.
pro Tag (Ductus
choledochus)

Merke

Dünndarm Der Gallensaft spielt einerseits bei


(Intestinum tenue) der Verdauung und Resorption der
ca. 0,6 g/d ca. 90 % der Fette und andererseits für die
werden mit dem Gallensäure werden Ausscheidung verschiedener Stoffe
Stuhl ausgeschieden hier aktiv resorbiert (Bilirubin, überschüssiges Choles-
terol, abgebaute Arzneistoffe) in
Enterohepatischer Kreislauf den Darm eine wichtige Rolle.
Abb. 12.25 (Beispiel: Gallensäuren).
12.8 Physiologie der Verdauung 261

Enterohepatischer Kreislauf ❑
P Die Biotransformationen in der Leber kön-
Unter dem enterohepatischen Kreislauf versteht nen die Konzentration von Arzneistoffen
man die Ausscheidung von Stoffen (z. B. Gallen- beeinflussen. Man spricht vom sog. „First pass
säuren und Gallenfarbstoffe) mit dem Gallen- effect“ (Einfluss der ersten Leberpassage).
saft aus der Leber in den Darm und deren Leber- oder Nierenfunktionsstörungen können
Rückresorption und Rücktransport mit dem zur Retention von „Giftstoffen“ führen und
Pfortaderblut in die Leber. Hier gelangen die dadurch ein Coma hepaticum oder eine Urämie
Stoffe dann erneut in die Gallenflüssigkeit und hervorrufen.
erfahren den gleichen Kreislauf.
Dieser Vorgang ist in erster Linie eine Ökonomi-
sierung bestimmter Stoffwechselprozesse. Im
Falle der für die Fettverdauung so wichtigen
Gallensäuren bedeutet dies einen täglichen
Verlust von nur ca. 10 %, ca. 90 % werden rück-
resorbiert.
Bei fettreicher Ernährung ist der Bedarf an
Gallensäuren erhöht, deshalb zirkulieren die
Gallensäuren 4- bis 12-mal pro Tag.

Aufgaben im Eiweißstoffwechsel
In der Leber werden die mit dem Pfortaderblut
ankommenden Aminosäuren verstoffwechselt.
Sie dienen zum einen der Synthese der Plasma-
proteine (Albumine, Gerinnungsfaktoren, einige
Globuline), die an das Blut abgegeben werden.
Ein weiterer Teil wird abgebaut und der dabei
frei werdende Stickstoff in Harnstoff überführt.
Der Harnstoff gelangt mit dem Blutkreislauf zur
Niere. Der Rest der Aminosäuren wird benutzt,
um intrazelluläre Proteine der Leber aufzubauen.

Merke
In der Leber findet die Synthese der Plasma-
proteine und des Harnstoffes statt.

Biotransformation und „Entgiftung“


Unter Biotransformation versteht man alle enzy-
matisch gesteuerten chemischen Reaktionen in
der Leber. Das Ziel ist die Bildung von wasser-
löslichen, harnfähigen Stoffen, die über die Niere
(renal) mit dem Harn ausgeschieden werden.

Merke
Biotransformationen führen häufig zur „Ent-
giftung“ von Stoffen. „Entgiftung“ bedeutet
demnach, dass körperfremde und körpereige-
ne Stoffe durch Abbau, Umbau oder Kopp-
lung an andere Stoffe (z. B. Glucoronsäure)
in biologisch inaktive und für den Organis-
mus unschädliche oder harnfähige Ver-
bindungen überführt werden.
262 12 Verdauungssystem

Fragen zur Wiederholung

1. Geben Sie einen Überblick über die Verdauungsorgane und deren Lage.
2. Beschreiben Sie den Bau der Mundhöhle und deren Organe (Zunge, Zähne, große
Speicheldrüsen).
3. Beschreiben Sie die Lage sowie den makroskopischen und mikroskopischen Bau der
Speiseröhre.
4. Beschreiben Sie die Lage, den makroskopischen und mikroskopischen Bau sowie die Blut-
und nervale Versorgung des Magens.
5. Nennen Sie die Abschnitte des Dünndarms.
Beschreiben Sie deren bauliche Besonderheiten und Lage.
6. Nehmen Sie eine Gliederung des Dickdarms vor.
7. Beschreiben Sie die Lage des Blinddarms.
8. Nennen Sie charakteristische Merkmale des Colons.
9. Wie wird das Rektum verschlossen?
10. Beschreiben Sie Lage und Aufbau der Leber.
11. Beschreiben Sie den Verlauf der intra- und extrahepatischen Gallenwege.
12. Beschreiben Sie Lage und Bau des Pankreas.
13. Definieren Sie:
a) Verdauung,
b) Motorik,
c) Sekretorik,
d) Resorption.
14. Beschreiben Sie die Verdauung und Resorption:
a) der Kohlenhydrate,
b) der Fette,
c) der Eiweiße.
15. Interpretieren Sie die Redensart „Gut gekaut ist halb verdaut“.
16. Nennen Sie die Aufgaben:
a) der Salzsäure,
b) der Gallensäuren.
17. Begründen Sie, warum der Dünndarm für die Resorption am besten geeignet ist.
18. Wie erfolgt die Regulation der Verdauung?
19. Nennen und erläutern Sie die wichtigsten Funktionen der Leber.
263

13 Harnsystem, Funktionen der Niere

Die Harnorgane entwickeln sich gemeinsam mit Harnleitern, der Harnblase und der Harnröhre
den Geschlechtsorganen aus der gleichen An- als harnableitende Organe.
lage. So erklären sich auch die engen nachbar- Mit der Harnproduktion und -ausscheidung er-
schaftlichen Beziehungen. füllt das Harnsystem die für die Aufrechter-
haltung des inneren Milieus entscheidenden
Das Harnsystem besteht aus den paarigen Nieren Regulierungsaufgaben. Wichtigstes Organ hierbei
als harnbildende Organe sowie den paarigen ist die Niere.

rechte Niere linke Niere


(Ren dexter) (Ren sinister)

rechter Harnleiter linker Harnleiter


(Ureter) (Ureter)

großer
Lendenmuskel
(M. psoas major)

Harnblase
(Vesica urinaria)
Harnröhre
(Urethra)

Zwerchfell
(Diaphragma)

rechte Niere linke Niere


(Ren dexter) (Ren sinister)

rechter Harnleiter linker Harnleiter


(Ureter) (Ureter)
untere Hohlvene Aorta
(V. cava inferior)

Mastdarm
(Rektum)
Harnblase
(Vesica urinaria)

Harnsystem – Lage der Harnorgane. Abb. 13.1


264 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

13.1 Niere (Ren, Nephros) ihrem oberen Pol dicht unter dem Zwerchfell und
ventral der 12. Rippen. Die rechte Niere liegt
Die Niere ist, wie auch der Harnleiter, paarig an- wegen ihrer Nachbarschaft zur Leber etwas tiefer.
gelegt.
Merke
Größe, Farbe und Form Die unteren Nierenpole stehen ca. 3 Finger
Die rotbraun aussehende bohnenförmige Niere breit oberhalb des Darmbeinkammes.
hat eine Masse von 120 – 220 Gramm und ist
10 – 12 cm lang, 5 cm breit und 4 cm dick. Die
Form der Niere wird bestimmt durch Die Nachbarschaftsbeziehungen der Nieren zei-
– den konvexen lateralen Rand, gen die Abb. 7.6, S. 147 und Abb. 13.1, S. 263.
– den konkaven medialen Rand, an der
• die Nierenbucht mit

P Veränderungen der Nieren können beim lie-

• dem Nierenhilus liegt, genden Menschen beidhändig tastbar sein.


– den oberen Nierenpol und
– den unteren Nierenpol. Die Nieren werden in ihrer Lage gehalten und
geschützt durch

P Angeborene Fehlbildungen sind z. B. Ein- – die Blutgefäße (✑ Abb. 13.2),
nierigkeit und Hufeisennieren. – die Fettkapsel (Capsula adiposa) – das Fett ist
bei Körpertemperatur halbflüssig, sodass eine
Merke gewisse Beweglichkeit gegeben ist,
– die Nierenfaszie (Fascia renalis) als Begren-
Der Nierenhilus ist die Eintrittsstelle der Nie- zung der Capsula adiposa.
renarterie (A. renalis) und die Austrittsstelle
der Nierenvene (V. renalis) sowie des Harn-
leiters (Ureter).

P Wird Fettgewebe der Capsula adiposa ver-
stärkt abgebaut, z. B. durch massive Ab-
magerung, kann die Niere ihren Halt verlieren
Lage und nach unten sinken. Man spricht von einer
Die Nieren liegen hinter dem Bauchfell (retrope- Wanderniere (Ren mobilis).
ritoneal) lateral der Wirbelsäule (Th12 – L3) mit

rechte Nierenarterie
Nebenniere (A. renalis)
(Glandula supra-
renalis dextra) linke Nebenniere
oberer (Glandula supra-
Nierenpol renalis sinistra)

untere lateraler Rand


Hohlvene medialer Rand
(V. cava inferior)
Nierenbucht
Fettkapsel mit Nierenhilus
(Capsula adiposa)
(Hilus renalis)
Bindegewebs-
kapsel Aorta
(Capsula fibrosa) Harnleiter
Nierenfaszie (Ureter)
(Fascia renalis)
Nierenvene
unterer (V. renalis)
Nierenpol

Abb. 13.2 Nierenkapseln und Nierenpforte.


13.1 Niere 265

Bindegewebskapsel
(Capsula fibrosa)

Nierenrinde
(Cortex renalis)

Nierenarterie
(A. renalis)
Nierenbecken Nierenvene
(Pelvis renalis)
(V. renalis)
Markpyramiden
(Pyramides renales)

Nierensäule
(Columna renalis) Nierenkelch
Markpapille (Calix renalis)
(Papilla renalis) Harnleiter
(Ureter)

Frontalschnitt durch die Niere. Abb. 13.3

Makroskopischer Bau ist. Ausläufer der Nierenrinde zwischen den


An einem Frontalschnitt (Abb. 13.3) erkennt Markpyramiden werden als Nierensäulen
man mit bloßem Auge (Columnae renales) bezeichnet.
– das Mark: Es ist die streifige
Innenschicht und bildet die
ca. 10 Markpyramiden. Auf Bindegewebskapsel
deren Spitze, der Markpapille (Capsula fibrosa)
(Papilla renalis), befinden Nierenrinde
sich die 15 – 20 Öffnungen (Cortex renalis)
der Papillargänge (Ductus Zwischen-
papillares), die in kleine läppchenarterie
(A. interlobularis)
Hohlräume, Nierenkelche,
Bogenarterie
münden; (A. arcuata)
– die Nierenkelche: Sie umge- Zwischen-
ben die Markpyramidenspit- lappenarterie
zen. In den Kelchen wird der (A. interlobaris)
fertige Urin aufgefangen und Markpyramide
(Pyramides renalis)
zum Nierenbecken weiterge-
leitet; Papillargang
(Ductus papillaris)
– das Nierenbecken: Es entsteht
durch den Zusammenschluss Markpapille
(Papilla renalis)
der Kelche;
Nierenkelch
– die Rinde: Es ist die an der (Calix renalis)
Peripherie durchlaufende kör-
nige Außenschicht, die von
einer Bindegewebskapsel Nierenparenchym. Abb. 13.4
(Capsula fibrosa) überzogen
266 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

Apparates.1) Hier wird bei Blutdruck-


distaler Tubulus abfall das Hormon Renin produziert
Vas efferens (✑ Tab. 9.13, S. 204). Aus dem Glo-
Vas afferens merulus heraus führt wiederum eine
Glomerulus Arteriole, das Vas efferens. Die Ein-
Bowman’sche und Austrittsstelle der beiden Arterio-
Kapsel len heißt Gefäßpol;
– der Bowman’schen Kapsel. Sie um-
Nierenkörperchen gibt als doppelwandige Epithelhülle
den Glomerulus. Ihre innere Schicht
proximaler
liegt direkt auf den Blutkapillaren.
Tubulus 2. Tubulusapparat (Nierenkanälchen).
Der Tubulusapparat gliedert sich in
Sammelrohr drei Hauptabschnitte:
– den proximalen Tubulus. Am Harn-
pol geht der Raum der Bowman’ schen
Tubuluskapillargebiet Kapsel in das Nierenkanälchen über;
– den intermediären Tubulus (Nephron-
schleife, Henle’sche Schleife) mit dün-
nem absteigendem und aufsteigendem
Schleifenschenkel;
– den distalen Tubulus. Er mündet in
ein Sammelrohr. Dort, wo er das Pol-
kissen berührt, befindet sich ein wei-
Nephronschleife, terer Teil des juxtaglomerulären Appa-
Henle’sche Schleife rates, die Macula densa (= „dichter

Abb. 13.5 Mikroskopischer Bau der Niere – Nephron.


1) Dient der Regulation von Blutdruck und
Nierendurchblutung

Mikroskopischer Bau
Die Funktionseinheit der Niere
ist das Nephron, von dem es in abführende Arteriole
(Vas efferens)
jeder Niere ca. 1 Million gibt. In zuführende Arteriole
Gefäßpol
ihnen wird der Harn gebildet. (Vas afferens)

Jedes Nephron besteht aus dem


Nierenkörperchen und dem Tubu- Gefäßknäuel
(Glomerulus)
lusapparat.
1. Nierenkörperchen Bowman’sche Kapsel
(= Malpighi’sches Körperchen). (Capsula glomeruli)
Die Nierenkörperchen befin- inneres Blatt
(viscerales Blatt)
den sich im Rindengewebe.
Sie bestehen aus äußeres Blatt
(parietales Blatt)
– dem Glomerulus (innen),
einem Knäuel von Blutka- Harnpol
pillaren. Dem Glomerulus proximaler Tubulus
wird das Blut über eine (Tubulus proximalis)
Arteriole, das Vas afferens,
zugeführt. In dessen Wand Bau des Nierenkörperchens
liegt das sog. Polkissen, ein (Corpusculum renale). Abb. 13.6
Teil des juxtaglomerulären
13.2 Harnleiter 267

Fleck“). Sie besteht aus Chemorezeptoren ❑


P Eine häufige Erkrankung der Niere ist die
zur Messung der Natriumkonzentration. Um Nierenbecken-/Nierenentzündung (Pyelonephr-
die Harnkanälchen befindet sich das Tubu- itis), deren Hauptrisiken Schrumpfniere,
luskapillargebiet. Bluthochdruck und Nierenvereiterung sind.
Sammelrohrsystem
Mit dem System der Sammelrohre beginnen die Blutversorgung der Niere
ableitenden Harnwege innerhalb der Niere. In Die Blutzufuhr erfolgt durch die unmittelbar aus
jedes Sammelrohr münden etwa 10 Nierenkanäl- der Bauchaorta entspringende A. renalis. Die
chen. Kleinere Sammelrohre schließen sich zu blutabführenden Vv. renales münden direkt in
immer größeren zusammen. die V. cava inferior.
Die Endstücke liegen in den Nierenpapillen und
heißen Papillargänge (Ductus papillares). Merke

Nierenbecken (Pelvis renalis, Pyelon) Das Blut durchströmt in der Niere 2 Kapillar-
Das Nierenbecken, als Auffangbehälter für den gebiete:
Harn, entsteht durch den Zusammenschluß von – das Glomerulum und danach
8 – 10 Nierenkelchen. Es kann recht unter- – das Tubuluskapillargebiet.
schiedlich geformt sein. Im Nierenbecken be-
ginnt das Übergangsepithel als Charakteristikum
für die ableitenden Harnwege (✑ S. 61 und 62).
13.2 Harnleiter (Ureter)
Tab. 13.1 Nierenkreislauf. Die paarigen Harnleiter gehen kontinuierlich aus
Pars abdominalis aortae
dem Nierenbecken hervor. Es handelt sich um
dünne muskulöse Schläuche. Die Harnleiter, ca.

30 cm lang mit einem Durchmesser von 4 bis
A. renalis

Zwischenlappenarterien Harnblasenwand
(ziehen zur Basis der Pyramiden)
 Ureter Ureter
Bogenarterien
(verlaufen zwischen Rinde und Pyramidenbasis bogenartig)

Läppchenarterien
(an ihnen hängen wie Beeren die Nierenkörperchen)

Vas afferens
 außen
Glomerulus

Vas efferens innen außen innen

Tubuluskapillargebiet

Venen innerhalb der Niere
 Harnfluss Rückfluss verhindert
V. renalis
 Eintritt des Ureters in die
Harnblase. Abb. 13.7
V. cava inferior
268 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

7 mm, leiten den Harn durch Peristaltik vom tere Seite der Harnblase ist vom Bauchfell über-
Nierenbecken in die Harnblase. Beide Harnleiter zogen. An der hinteren Blasenwand verläuft das
liegen wie die Nieren retroperitoneal. Bauchfell tief nach unten, um danach entweder
auf das Rektum (Mann) oder auf den Uterus
Ureterengen (Frau) überzugehen.
Der Harnleiter hat 3 enge Stellen: Beim Mann liegt an diesem Übergang der tiefste
– am Übergang vom Nierenbecken in den Harn- Punkt der Bauchhöhle (Excavatio rectovesica-
leiter, lis), bei der Frau liegt der tiefste Punkt zwischen
– beim Übergang in das kleine Becken und dem Uterus und dem Rektum (Excavatio recto-
– in der Harnblasenwand. uterina = Douglas’scher Raum, ✑ auch S. 145).


P In der Niere gebildete kleinere Nierensteine ❑
P Ist die Harnblase gefüllt, liegt sie an der vor-
können in den Harnleiter abgehen. Häufig deren Bauchwand (ohne Zwischenschaltung
verklemmen sie sich in einer der Harnleiter- des Bauchfells) und kann oberhalb der Symphy-
engen. Dies führt zu starken Kontraktionen der se punktiert werden (Abb. 13.10, S. 270).
Ureterwandmuskulatur mit heftigen Schmerzen
(Nierenkolik). Bei entzündlichen Prozessen im kleinen Be-
cken sammelt sich Eiter in den Bauchfell-
taschen bzw. nach Verletzungen Blut.
Wandschichten
Die Wandschichten zeigen den klassischen Drei-
schichtenaufbau der Hohlorgane. Das Über- Harnblasenwand
gangsepithel des Nierenbeckens geht kontinuier- Die Schleimhaut ist mit mehrreihigem Über-
lich auf den Harnleiter über. gangsepithel (Urothel) besetzt und liegt im lee-
ren Zustand in Falten. Eine Ausnahme bildet das
am Blasengrund liegende immer faltenfreie
13.3 Harnblase (Vesica urinaria) Harnblasendreieck (Trigonum vesicae). Seine
Eckpunkte werden von 3 Öffnungen markiert,
Die Harnblase ist ein muskulöses Hohlorgan, der inneren Harnröhrenöffnung (Ostium ure-
dessen Form und Größe vom unterschiedlichen thrae internum) vorn und den 2 Ureteröffnungen
Füllungszustand abhängen. Ihre Aufgaben sind hinten.
die Speicherung und periodische Entleerung
des von den Nieren ständig produzierten Urins. Merke
Das mittlere Fassungsvermögen der Harnblase
beträgt ungefähr 1 Liter. Die Ureter durchsetzen die Harnblasenwand
schräg. Dadurch entsteht ein „Ventil“, und
Gliederung der Harn kann bei gefüllter Blase nicht
An der Harnblase unterscheidet man folgende zurückfließen (✑ Abb. 13.7).
Teile:
– Harnblasenscheitel (Apex vesicae) – oben ge-
legen, ❑
P Beim vesikoureteralen Reflux ist das Ver-
– Harnblasenkörper (Corpus vesicae) – darunter, schlusssystem geschwächt. Dadurch werden
– Harnblasengrund (Fundus vesicae) – unten, Harnleiter- und Nierenbeckeninfektionen be-
– Harnblasenhals (Cervix vesicae) – Übergang günstigt.
in die Harnröhre.
Die Muskulatur der Harnblasenwand ist drei-
Lage und Nachbarschaftsbeziehungen schichtig und so angeordnet, dass sich bei ihrer
Die Harnblase liegt im kleinen Becken hinter der Kontraktion die Harnblase vollständig entleeren
Symphyse. Beim Mann schiebt sich zwischen kann.
Harnblasengrund und Beckenboden die Vorste- Der Harnblasenwandmuskel heißt M. detrusor
herdrüse (Prostata). Außerdem liegen hinten vesicae.
unten die Bläschendrüsen an. Die obere und hin-
13.3 Harnblase 269

Harnleiter Scheitel der


(Ureter)
Harnblase
Samenleiter (Apex vesicae)
(Ductus deferens)

Ureter- Körper der


öffnungen Harnblase
(Ostia ureterum)
(Corpus vesicae)
Harnblasen-
dreieck
(Trigonum vesicae)
Bläschendrüsen Harnblasengrund
(Glandula seminalis) (Fundus vesicae)
innere Harnblasenhals
(Cervix vesicae)
Harnröhrenöffnung
(Ostium urethrae
internum) Samenhügel
(Colliculus seminalis)
Vorsteherdrüse
(Prostata)
Harnröhre
(Urethra)
Cowper’sche Drüse
(Glandula
bulbourethralis)

Harnblase (männlich) von ventral eröffnet. Abb. 13.8

Merke
Scheitel der Harnblase
Die Entleerung der Harnblase heißt Miktion (Apex vesicae)
(✑ S. 274).

Körper der
Verschluss von Harnblase und Harnröhre Harnblase
Der Verschluss erfolgt durch eine aus glattem (Corpus vesicae)
Muskelgewebe bestehende Muskelschlinge, den Harnleiter
(Ureter)
unwillkürlichen Schließmuskel der Harnblase
(M. sphincter vesicae) um die innere Harn- Samenleiter
(Ductus
röhrenöffnung und den willkürlichen quer ge- deferens)
streiften Harnröhrenschließmuskel (M. sphincter
Bläschen-
urethrae) im Beckenboden. drüsen
(Glandula

P Die Regulation der Miktion unterliegt kom- seminalis)

plizierten nervalen Mechanismen. Ist sie gestört Vorsteher-


(z. B. bei Querschnittslähmung, Gewebsschwä- drüse
(Prostata)
che), kommt es, meist vorübergehend, zu stän-
Harnröhre
digem unwillkürlichen Harnträufeln (Harn- (Urethra)
inkontinenz). Die Blasenschleimhaut kann mit-
tels einer Zystoskopie (Harnblasenspiegelung)
Harnblase (männlich) von dorsal. Abb. 13.9
untersucht werden.
270 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

Bauchfell
(Peritoneum)
gerader bauchfellfreier Raum
Bauchmuskel über der Schambeinfuge
(M. rectus abdominis)
Harnblasenwandmuskel
(M. detrusor)
Punktionskanüle

Schambeinfuge
(Symphysis pubica) innere
Harnröhrenöffnung
Harnröhre (Ostium urethrae internum)
(Urethra)
Scheide
Kitzler (Vagina)
(Clitoris) äußere
Scheidenvorhof Harnröhrenöffnung
(Vestibulum vaginae) (Ostium urethrae externum)

Abb. 13.10 Weibliche Harnblase (Blasenpunktion) – Medianschnitt.

13.4 Harnröhre (Urethra) Männliche Harnröhre (Urethra masculina)


Die männliche Harnröhre endet spaltförmig auf
Die Harnröhre ist der letzte Teil der harnablei- der Eichel des männlichen Gliedes (✑ S. Abb.
tenden Organe. 14.1, S. 277). Sie hat eine Länge von 20 – 25 cm
und einen Durchmesser von 5 – 7 mm.
Verlauf und Mündung der Harnröhre
Die Harnröhre leitet den Harn von der Harnblase Man unterscheidet die folgenden 3 Abschnitte:
schubweise nach außen. Sie beginnt am Harn- – Vorsteherdrüsenabschnitt (Pars prostatica)
blasenfundus mit der inneren Harnröhrenöff- Er durchzieht die Prostata, ist ca. 3 cm lang
nung (Ostium urethrae internum) und endet mit und enthält den Samenhügel mit den Öffnun-
der äußeren Harnröhrenöffnung (Ostium ure- gen der beiden Spritzkanäle.
thrae externum). – Beckenbodenabschnitt (Pars membranacea)
Am Übergang zu diesem Abschnitt befindet sich
Weibliche Harnröhre (Urethra feminina) der willkürliche Harnröhrenschließmuskel.
Die weibliche Harnröhre liegt vor der Scheide. – Schwellkörperabschnitt (Pars spongiosa)
Ihre äußere Öffnung befindet sich im Scheiden- Hier verläuft die Harnröhre im Harnröhren-
vorhof. In ihrem oberen Bereich geht das Über- schwellkörper bis zum Ausgang an der Eichel.
gangsepithel, wie es im Nierenbecken, in den
Harnleitern und der Harnblase vorkommt, in
mehrschichtiges unverhorntes Plattenepithel über. Merke
Die weibliche Harnröhre ist etwa 4 cm lang. Die männliche Harnröhre ist ab Samenhügel
eigentlich eine Harn-Samen-Röhre.

P Die sehr kurze weibliche Harnröhre macht
das Zystoskopieren und Katheterisieren leich-
ter. Nachteilig: Da für Krankheitserreger der Krümmungen
Weg vom After bis zur Harnröhre sehr kurz ist, Die männliche Harnröhre hat 2 Krümmungen (✑
ist die Gefahr einer Entzündung der ableiten- S. 277). Sie liegen hinter der Symphyse und
den Harnwege, die über Blase und Harnleiter beim Eintritt in den Harnröhrenschwellkörper.
bis zur Niere aufsteigen kann, bei Frauen
größer als bei Männern.
13.5 Physiologie der Niere 271

Beide Krümmungen können in einen Bogen (Nucleinsäurestoffwechsel), Kreatinin (Mus-


verwandelt werden, wenn das männliche Glied kelstoffwechsel). Harnpflichtig sind sie des-
nach oben auf die Bauchwand gelegt wird halb, weil sie nur von der Niere ausgeschie-
(wichtig z. B. beim Katheterisieren). den werden können und ihr Verbleiben im
Körper zur allmählichen Selbstvergiftung
In der Prostata wird das Übergangsepithel der Harn- führt.
blase vom Zylinderepithel (zuerst einschichtig, – Differenzierte Ausscheidung von Stoffen
dann mehrschichtig) abgelöst. Ab Schiffergrube (z. B. Ionen, Wasser).
(= Erweiterung der Urethra in der Eichel) folgt – Ausscheidung von Fremdsubstanzen bzw.
unverhorntes mehrschichtiges Plattenepithel. deren Stoffwechselprodukten (z. B. Medika-
mente).

P Durch viele sensible Nervenendungen ist 2. Regulationsfunktion
die Harnröhre sehr berührungs-, schmerz- und – Einstellung des osmotischen Drucks (Isoto-
temperaturempfindlich. nie) und des Flüssigkeitsvolumens im extra-
zellulären Raum (Isovolämie).
– Einstellung der Ionenkonzentration (Isoio-
Merke nie).
Die männliche Harnröhre weist in ihrem – Einstellung des pH-Wertes (Isohydrie).
Verlauf sowohl 3 enge Stellen als auch 3 weite 3. Hormonbildung
Stellen auf. Die Niere bildet 2 Hormone: Renin, das mittel-
Enge Stellen: Innere Harnröhrenöffnung bar an der Blutdruckregulation beteiligt ist, und
(Harnblasenwand), Beckenboden (willkürli- Erythropoetin, das die Bildung der Erythrozyten
cher Schließmuskel), äußere Harnröhrenöff- im roten Knochenmark stimuliert.
nung (Eichel).
Weite Stellen: Prostatabereich, Harnröhren- ❑
P Bei chronischen Nierenerkrankungen (z. B.
schwellkörper, Eichel (Schiffergrube). Glomerulonephritis) spielen neben der Gefahr
der Selbstvergiftung (Urämie) die Entstehung
des Bluthochdrucks (nephrogener Hyperto-
nus) und der Blutarmut (Anämie) eine Rolle.
13.5 Physiologie der Niere
Harnbildung
Damit die Zellen unseres Körpers ihre Aufgaben Der Prozess der Harnbildung durch das Nephron
erfüllen können und so die Existenz des Orga- wird in 2 Teilfunktionen vollzogen:
nismus sichern, benötigen sie eine möglichst – Filtration in den Nierenkörperchen (Primär-
konstante Umgebung (= inneres Milieu, ✑ S. 28). harnbildung),
Das wichtigste Organ für die Erhaltung der – Resorption und Sekretion im Tubulusapparat
Homöostase des inneren Milieus ist die Niere. (Sekundär- oder Endharnbildung).
Sie sichert durch die Harnbildung das innere
Gleichgewicht trotz diskontinuierlicher Auf- Bildung des Primärharns durch Filtration im
nahme und Abgabe von Stoffen. Nierenkörperchen
Während das Blut durch die Kapillarschlingen
Merke des Glomerulus fließt, wird es filtriert und der
Die Umwelt der Zellen ist die interstitielle Primärharn gebildet. Dabei werden bei einem
Flüssigkeit (✑ S. 28). renalen Plasmafluss von ca. 600 ml pro Minute
120 ml Plasmabestandteile in den Kapselraum
filtriert (= glomeruläre Filtrationsrate – GFR).
Im Einzelnen erfüllt die Niere mit der Harnpro- Das entspricht einer Tagesmenge von ca. 170
duktion folgende lebenswichtige Aufgaben. Litern. Um diese Menge zu erhalten, wird das
l. Ausscheidungsfunktion Blutplasma (ca. 3 Liter) etwa 60-mal pro Tag
– Ausscheiden der harnpflichtigen Substanzen dem Filtrationsvorgang unterzogen.
Harnstoff (Eiweißstoffwechsel), Harnsäure
272 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

kolloidosmotische Druck des Blutplasmas von


Vas efferens 25 mmHg und der Kapseldruck von 15 mmHg
Vas afferens entgegen. Als Ergebnis entsteht der effektive
Filtrationsdruck von 10 mmHg (50–25–15=10)
als treibende Kraft der Filtration.


P Bei einem arteriellen Systemblutdruck unter
Glomerulus 70 mmHg besteht Anurie, bei einem arteriel-
len Systemblutdruck über 220 mmHg eine
Bowman’sche Druckdiurese.
Kapsel
Selbstregulation der Nierendurchblutung
Die renale Durchblutung beträgt 25 % des
Primärharn Herzminutenvolumens. Damit die Niere ihre
Funktionen kontinuierlich erfüllen kann, muss
glomeruläre Filtrationsrate sie möglichst konstant durchblutet werden. Dies
(GFR) 120 ml/min
erfolgt vor allem durch das Vas afferens, indem
es bei einer arteriellen Druckveränderung selb-
Abb. 13.11 Glomeruläre Filtration. ständig die Gefäßlichtung so verändert, dass die
Durchblutung konstant bleibt (✑ S. 202). Auf
diese Weise können Blutdruckschwankungen
Die ca. 1 m2 große Filtermembran wird aus zwischen 80 und 180 mmHg ausgeglichen
3 Schichten (Kapillarendothel, Deckzellen [Po- werden.
dozyten] des inneren Blattes der Bowman’schen
Kapsel, gemeinsame Basalmembran der Po- ❑
P Bei starkem Absinken des zentralen Blut-
dozyten und Kapillarendothelzellen) gebildet druckes, z. B. bei Schock, versagt auch die
und lässt außer Blutzellen und Plasmaproteinen Nierendurchblutung und damit die Filtration
alle Blutbestandteile hindurch. Weil nur kleine des Primärharns.
Teilchen des Blutes im Glomerulusfiltrat enthal- Es kommt zu akutem Nierenversagen, d. h.
ten sind, wird es als Ultrafiltrat und der gesamte keine Harnbildung (= Anurie).
Vorgang als Ultrafiltration bezeichnet.
Bildung des Endharns durch Resorption und
Merke Sekretion im Tubulus
In den Nierenkörperchen entstehen durch – Resorption: Stofftransport (aktiv oder passiv)
Filtration pro Tag ca. 170 Liter Primärharn. Er aus dem Tubulus in den Blutkreislauf.
enthält alle Stoffe des Blutes mit Ausnahme – Sekretion: Stofftransport (aktiv oder passiv)
der großen Eiweißmoleküle und der Blut- aus dem Blutkreislauf in den Tubulus.
zellen. Die Konzentration der filtrierbaren
Teilchen ist im Blutplasma und Primärharn Resorption
gleich. Durch die Resorption werden alle Stoffe, auch
Wasser, die der Körper zur Erhaltung der
Homöostase des inneren Milieus benötigt, aus

P Durch akute und chronische Nierenkrank- dem Tubulus in das Blut zurückgeführt; das sind
heiten kann es zur Filtration von Erythrozyten 98 % der gereinigten Blutflüssigkeit. Die aktive
(blutiger Harn – Hämaturie), Leukozyten Resorption ist eine Leistung der Tubuluszellen.
(eitriger Harn – Leukozyturie) und Eiweißen Würde bei einem 70 kg schweren Mann die
(Proteinurie) kommen. Resorption für 5 Stunden versagen, betrüge die
Masse des Mannes theoretisch nur noch 28 kg.

Effektiver Filtrationsdruck Glucoseresorption


Der glomeruläre Blutdruck (= Bruttofiltrations- Glucose wird (wie auch die Aminosäuren) nor-
druck) beträgt ca. 50 mmHg. Diesem wirken der malerweise vollständig aktiv rückresorbiert. Über-
13.5 Physiologie der Niere 273

steigt jedoch die Blutglucose 18 g/dl = 10 mmol/1, Diese Normwerte ändern sich bei einer Erkran-
dann erscheint sie im Urin (= Glucosurie). kung häufig.


P Da Glucose nur in gelöster Form ausgeschie- ❑
P Diese Normalwerte verändern sich bei vielen
den werden kann, wird die Urinmenge erhöht Krankheiten (z. B. Pyelonephritis, verschiedene
(Polyurie), und der Mensch hat größeren Stoffwechselerkrankungen) und können des-
Durst (= Symptome der Zuckerkrankheit). halb wichtige Hinweise für die Diagnose geben.

Sekretion Hormonelle Regulation der Nierentätigkeit


Durch die Sekretion können zusätzlich Stoffe aus Bei der Einstellung der endgültigen Harnmenge,
dem Eiweißabbau (Harnstoff, Harnsäure), aber einschließlich der Kompensation normaler Ver-
auch Medikamente (z. B. Penicillin) aus dem Blut änderungen der osmotischen Konzentration, sind
in den Tubulus transportiert werden. 2 Hormone wichtig:

1. Antidiuretisches Hormon, (Adiuretin, ADH)


Merke Das ADH wird im Hypothalamus gebildet, ge-
Die Hauptmasse der Stoffe wird im proxima- langt über den Hypophysenstiel in den Hypo-
len Tubulus resorbiert. Die auszuscheidende physenhinterlappen und von dort in das Blut. Im
Endharnmenge pro Tag beläuft sich auf Tubulus steuert es die Wasserrückresorption, in-
ca. 1,5 Liter. Die Dichte des Endharns beträgt dem es die Wasserdurchlässigkeit der Zellen
1 005 bis 1 025 g/l, der pH-Wert liegt im erhöht.
Mittel bei 5,5.

Hypophysenhinterlappen
Malpighi’sches Körperchen Zwischenhirn

ion
Sekretion Resorption
at
➽ Glucose rm
Blutkapillaren fo
Penicilin ➽ Aminosäuren In
➽ HCO3-, Na+
NH3 ➽
➽ K+, Ca2+,
Mg2+ Durst

H2O osmotischer

H O Druck
➽ 2
Harnstoff, CI-
ADH
Osmorezeptor
Na+, CI- ➽
Harnstoff ➽
➽ H2O

➽ CI-
➽ Na+
NH3 ➽
➽ Na+, K+, Ca2+ Tubulus Blutkapillaren
H+ ➽
➽ CI-, H2O

K+ ➽

H2O H2O

➽ = aktiv

➽ = passiv
Tubulus-Apparat Harnkonzentration

Tubuläre Resorption, Sekretion und Harnkonzentrierung. Abb. 13.12


274 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

Beispiel: Bei Natriummangel bewirkt Aldosteron im


Wassermangel (z. B. infolge starken Schwitzens). Tubulus eine verstärkte Natrium- und Wasser-
rückresorption, allerdings auf Kosten gleichzei-
Osmotischer Druck steigt tiger Kalium- bzw. Wasserstoffionensekretion.

ADH-Sekretion steigt Harnausscheidung


Von den Nierenpapillen gelangt der Endharn
über die Nierenkelche in das Nierenbecken. An-
vermehrte Auslösung des schließend befördern ihn die Harnleiter durch
Wasserrückresorption Durstgefühls peristaltische Wellen ihrer Wandmuskulatur in
die Harnblase.

P Erkrankungen im Bereich des Zwischenhirns
Blasenentleerung (Miktion)
bzw. der Hypophyse können zum Verlust der Bei der Harnblase wechseln lange Sammelpha-
ADH-Bildung führen. Folge ist die Wasser- sen und kurze Entleerungsphasen einander ab.
harnruhr (Diabetes insipidus) mit einer Beide Phasen stehen unter der Kontrolle vor
Urinmenge von täglich 20 – 25 Liter (aus- allem des vegetativen Nervensystems, das
gleichend muss die entsprechende Flüssigkeit während der Sammelphasen über den glatten
wieder zugeführt werden). Harnblasenschließmuskel (M. vesicae) eine
Entleerung verhindert bzw. hemmt (= Kontinenz
2. Aldosteron der Harnblase).
Es wird in der Nebennierenrinde gebildet und Bei der Entleerung der Harnblase (= Miktion)
dort in das Blut abgegeben. Über die Natrium- greifen unwillkürliche und willkürliche Vorgän-
resorption im Tubulus reguliert es die Isotonie. ge ineinander. Pro Stunde werden ca. 50 ml Urin

Nierenkörperchen
(Malpighi’sches Körperchen)

Osmorezeptor Harnkanälchen
innere Kopfarterie (Tubulus)
(A. carotis interna) osmotischer Druck
➞ ➞

Plasmavolumen
Nebennierenrinde Tubulus Blutkapillaren
n
tio
orma
Inf

Na+ Plasma-
H2O volumen
Aldos
teron

➞ H+
K+

Abb. 13.13 Hormonelle Regulation der Na+-Resorption.


13.5 Physiologie der Niere 275

in die Harnblase transportiert, sodass der ❑


P Durch den willkürlichen Schließmuskel kann
Blaseninnendruck stetig steigt. Kurze Druck- die Blasenentleerung eine begrenzte Zeit auf-
anstiege lösen bei 150 bis 200 ml bereits kurz gehalten werden. Liegt die abgegebene Harn-
anhaltenden Harndrang aus. Bei 250 – 300 ml menge unter 20 ml/s, sollte an ein Abfluss-
wird der Harndrang so intensiv, dass die Ent- hindernis gedacht werden.
leerungsphase eingeleitet wird. Inkontinenz bedeutet, der Mensch ist auf-
Parasympathisch wird Folgendes bewirkt: grund von Organveränderungen oder Funk-
– Kontraktion des M. detrusor bei tionsstörungen unfähig, die Blasenentleerung
– gleichzeitiger Erschlaffung des M. sphincter willkürlich zu steuern.
vesicae und
– Verschluss der Ureteröffnungen. Zusammensetzung des Endharns
Wird nun der willkürliche Schließmuskel zur • Wasser ca. 97 %,
Erschlaffung gebracht, fließt der Harn unter Ein- • Stoffwechselendprodukte des Eiweißstoff-
satz der Bauchpresse restlos ab. wechsels (Harnstoff, Kreatinin) ca. 40 g/d,
• anorganische Substanzen (Kochsalz, Kalium,
Merke Calcium, Ammoniak, Magnesium) ca. 18 g/d,
Durch die Verknüpfung des sakralen Mik- • Harnfarbstoffe (Urobilin, Urochrom),
tionszentrums mit der Großhirnrinde kann • Hormone, Enzyme, Vitamine, evtl. Arzneimittel
die weitgehend reflektorisch und automatisch und Fremdstoffe.
ablaufende Blasenentleerung kontrolliert,
d. h. eingeleitet oder unterdrückt, werden.
Dieser Vorgang wird in den ersten Lebens-
jahren erlernt.

Vereinfacht dargestellt, laufen dabei folgende


Vorgänge ab:
Druckanstieg (= Reiz)

Dehnungsrezeptoren in der Blasenwand

Sakrales Miktionszentrum
(Dieses Reflexzentrum steuert
– für uns unbewusst –
Sammel- und Entleerungsphase.)

Miktionszentrum im Stammhirn

Großhirnrinde
(Der Harndrang wird bewusst.
Nun gibt es 2 Möglichkeiten: willkürliche
Unterdrückung oder Blasenentleerung.)

Merke
Bei gesunden Menschen enthält der Urin
weder Eiweiß noch Zucker, höchstens einige
abgestoßene Epithelzellen der ableitenden
Harnwege und einige Leukozyten.
276 13 Harnsystem, Funktionen der Niere

Fragen zur Wiederholung

l. Nennen Sie die Harnorgane und beschreiben Sie deren Lage.


2. Beschreiben Sie den makroskopischen und mikroskopischen Bau der Niere.
3. Wodurch werden die Nieren in ihrer Lage gehalten?
Was ist eine Wanderniere?
4. Beschreiben Sie das Sammelrohrsystem.
5. Beschreiben Sie den Blutfluss durch die Niere.
Welche Besonderheit gibt es?
6. Auf welchem Weg gelangt der Urin vom Bildungsort nach außen?
7. Beschreiben Sie die anatomischen Besonderheiten der ableitenden Harnwege.
8. Vergleichen Sie männliche und weibliche Harnröhre und ziehen Sie praktische
Schlussfolgerungen.
9. Nennen Sie die Aufgaben der Niere.
10. Erläutern Sie die Harnbildung als Mittel der Regulations- und Ausscheidungs-
funktion.
11. Definieren Sie:
a) Primärharn,
b) Endharn,
c) effektiver Filtrationsdruck,
d) Selbstregulation der Nierendurchblutung.
12. Warum dürfen bei eingeschränkter Nierenfunktion viele Arzneimittel nur in geringen
Dosen verordnet werden?
13. Wie erfolgt die hormonelle Regulation der Nierentätigkeit?
14. Beschreiben Sie die Miktion.
15. Wie ist der Endharn zusammengesetzt?
277

14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Im Zusammenhang mit dem Geschlechtssystem 14.1 Männliche Geschlechtsorgane


werden primäre und sekundäre Geschlechts-
merkmale unterschieden. Die primären Ge- Die primären Geschlechtsorgane werden ent-
schlechtsmerkmale sind bereits zum Zeitpunkt sprechend ihrer Lage in innere und äußere unter-
der Geburt vorhanden (z. B. Hoden, Eierstöcke gliedert. Sie stehen in enger Beziehung zu den
etc.), die sekundären entwickeln sich während Harnorganen (z. B. männliche Harnröhre als
der Pubertät (z. B. weibliche Brustdrüsen, Harnsamenröhre).
Schambehaarung etc.).

linker Harnleiter
gerader (Ureter sinister)
Bauchmuskel Bläschendrüse
(M. rectus abdominis) (Glandula seminalis)
Harnblase Mastdarm
(Vesica urinaria) (Rektum)
Samenleiter Cowper’sche Drüse
(Ductus deferens) (Glandula bulbourethralis)
Vorsteherdrüse After
(Prostata) (Anus)
Gliedschwellkörper Harnröhre
(Corpus cavernosum (Urethra)
penis)
Nebenhoden
Hoden (Epididymis)
(Testis)
Hodensack
Eichel (Scrotum)
(Glans penis)

Harnblase
(Vesica urinaria)
innere Harnleiter
Harnröhrenöffnung (Ureter)
(Ostium urethrae
internum)
Bläschendrüse
Symphyse (Glandula seminalis)
Harnröhre Mastdarm
(Urethra)
(Rektum)
Gliedschwellkörper
(Corpus cavernosum Vorsteherdrüse
penis) (Prostata)
Schiffergrube Spritzkanal
(Fossa navicularis (Ductus ejaculatorius)
urethrae)
Hodensack
äußere (Scrotum)
Harnröhrenöffnung
(Ostium urethrae Hoden
externum) (Testis)

Männliche Beckenorgane. Abb. 14.1


278 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

14.1.1 Innere männliche Geschlechtsorgane ❑


P Bleiben die Hoden im Bauchraum oder im
Leistenkanal hängen (Kryptorchismus), ist eine
Zu den inneren männlichen Geschlechtsorganen operative Verlagerung in den Hodensack not-
gehören wendig, da für die Bildung der Samenzellen
• die paarigen Hoden, (Spermiogenese) eine etwas niedrigere Tempe-
• die paarigen Nebenhoden, ratur als die Körpertemperatur Voraussetzung
• die paarigen Samenleiter, ist. Außerdem neigen im Bauchraum verbliebene
• die Vorsteherdrüse und Hoden zu krankhaften Entartungen (Tumoren).
• die paarigen Bläschendrüsen (= Samenblasen)
und die paarigen Cowper’schen Drüsen.
Beim erwachsenen Mann sind die Hoden wal-
Hoden (Testis, Orchis) nussgroß.
Form, Größe, Lage
Die Hoden entwickeln sich im Bauchraum und Mikroskopische Struktur
wandern am Ende der Embryonalzeit durch den Der Hoden wird von einer bindegewebigen Hülle
Leistenkanal (✑ S. 139) in den Hodensack (Des- umschlossen. Von dieser ziehen kleine Binde-
census testis, descensus = absteigen). Dabei ge- gewebssepten nach innen, dadurch kommt es zu
langen auch Bauchfellanteile in den Hodensack. einer Aufteilung in ca. 250 Hodenläppchen. In
jedem Hodenläppchen befinden sich
2 – 4 Hodenkanälchen, die zusam-
men eine Länge von ca. 300 Metern
erreichen.

Funktionen
• Samenzellbildung
A. testicularis Die Bildung der Samenzellen (Sper-
Samenleiter mien) erfolgt im gewundenen Teil
(Ductus deferens)
der Hodenkanälchen; diesen Vorgang
V. testicularis
bezeichnet man als Spermiogenese.
Über den gestreckten Teil gelangen
Samenstrang die Spermien in das Hodennetz.
(Funiculus spermaticus)

Nebenhodenkopf

P In der Scheide sind die Spermien
(Caput epididymidis) ca. 2 Stunden, in der Gebärmutter
bis zu 48 Stunden befruchtungs-
Bindegewebslager
mit Hodennetz fähig.
(Rete testis)
Hodenläppchen • Hormonbildung
(Lobuli testis)
mit Hodenkanälchen In den Leydig’schen Zwischenzellen,
(Tubuli seminiferi) die zwischen den Hodenkanälchen
Bindegewebssepten im Bindegewebe liegen, wird das
(Septula testis) Androgen Testosteron gebildet. Mit
Bindegewebshülle Beginn der Pubertät schüttet der
(Tunica albuginea)
Hypophysenvorderlappen (✑ Kap.
Nebenhodenkörper 15.3.3, S. 304) Hormone aus, die die
Nebenhodenschweif Spermienreifung und die Ausschüt-
tung von Testosteron anregen. Das
mit 4 – 5 m langem Testosteron ist mit den weiblichen
Nebenhodengang
Sexualhormonen Östrogen und Pro-
gesteron verwandt.
Abb. 14.2 Hoden (Testis) und Nebenhoden (Epididymis).
14.1 Männliche Geschlechtsorgane 279

Blutversorgung
Die Blutversorgung der Hoden erfolgt durch die
Arteria und Vena testicularis.
Spermien
Nebenhoden (Epididymis) Sperma-
Der Nebenhoden liegt an der Hinterfläche des tiden
Hodens, also ebenfalls im Hodensack. Vom Hoden-
netz ziehen Kanälchen in den Nebenhodenkopf Spermatozyt 2 Sertoli-
und münden hier in den 4 – 5 m langen auf ca. Zelle 1)
5 cm zusammengeknäulten Nebenhodengang. Spermatozyt 1
Dieser durchzieht den Nebenhoden und geht am Ursamenzelle
Nebenhodenschweif in den Samenleiter über. (Spermatogonie)

Funktion
Im Nebenhoden reifen die Samenzellen aus. Er 1) Stützzellen, die der Ernährung der reifenden Samen-
ist der wichtigste Speicher für die Spermien. zellen dienen

Samenleiter (Ductus deferens) Reifung der Samenzellen. Abb. 14.3


Länge und Lage
Die Samenleiter sind 50 – 60 cm lang und haben
einen Durchmesser von 3 mm. Sie ziehen zu- Vorsteherdrüse (Prostata)
nächst aus dem Hodensack heraus bis vor die Die kastaniengroße Prostata umschließt den
Schambeinäste und von da aus im Samenstrang ersten Abschnitt der Harnröhre, liegt also zwi-
durch den Leistenkanal in das kleine Becken. schen Harnblasenfundus, Beckenboden und
Anschließend verlaufen die Samenleiter seitlich Rektum.
der Harnblase in enger Nachbarschaft der Bläs-
chendrüsen zum Fundus der Harnblase. Hier ❑
P Das phosphathaltige Prostatasekret wirkt
durchbohren sie von beiden Seiten die Vorsteher- bewegungsauslösend auf die Spermien.
drüse und münden innerhalb dieser auf dem
Samenhügel in die Harnröhre. Der in der In etwa 30 Einzeldrüsen wird ein milchig, dünn-
Vorsteherdrüse verlaufende Endabschnitt der flüssiges, alkalisches Sekret gebildet, das beim
Samenleiter heißt Spritzkanal (Ductus ejaculato- Samenerguss (Ejakulation) durch die reichlich
rius). vorhandene glatte Muskulatur rasch in die
Harnröhre abgegeben wird. Diese Muskulatur
Funktion verleiht der Prostata eine im Vergleich zu ande-
Im Samenleiter erfolgt der Transport der Samen- ren Drüsen feste Konsistenz. Außen hat sie eine
zellen von den Nebenhoden in die Harnröhre. unelastische Kapsel aus straffem Bindegewebe
und glatter Muskulatur.
Samenstrang (Funiculus spermaticus)
Der Samenstrang liegt im Leistenkanal. Er ent-
hält außer dem Samenleiter die A. und V. testicu-

P Bei älteren Männern kann sich die Prostata
vergrößern (Benigne Prostatahyperplasie –
laris, Lymphgefäße und Nerven des Hodens.
BPH). Die Harnröhre wird eingeengt und der
Harn in der Blase zurückgestaut (Retentio
Bläschendrüsen (Glandula seminalis)
urinae).
Die beiden Bläschendrüsen liegen beidseitig am
Harnblasengrund und grenzen dorsal an das Der Prostatakrebs ist ein typischer Alterskrebs.
Rektum. Ihr Ausführgang verbindet sich mit
dem Ductus ejaculatorius. Durch rektale digitale Untersuchung bei
Männern über 50 Jahre kann eine vergrößerte
Funktion Prostata (BPH, Krebs) rechtzeitig erkannt und
Die Bläschendrüsen produzieren für die Beweg- damit u. U. ein mögliches Prostatakarzinom
lichkeit der Spermien ein alkalisches Sekret. Es oder eine Nierenschädigung durch Harnstau
bildet den Hauptteil der Samenflüssigkeit. (Hydronephrose) verhindert werden.
280 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Samenflüssigkeit (Sperma) 14.1.2 Äußere männliche Geschlechtsorgane


Als Sperma bezeichnet man die bei einem
Samenerguss (Ejakulation) über die Harnröhre Zu den äußeren männlichen Geschlechtsorganen
ausgestoßene gallertartige weißliche Flüssigkeit. gehören das männliche Glied mit Harnsamen-
Es setzt sich im Wesentlichen aus den in den röhre sowie der Hodensack.
Hoden gebildeten Spermien und den Sekreten
von Bläschendrüsen und Prostata zusammen. Männliches Glied (Penis)
Das Sperma besteht aus ca. 0,5 – 10 ml Am Penis unterscheidet man äußerlich drei Ab-
Flüssigkeit mit 30 – 150 Millionen Spermien pro schnitte:
Milliliter. Die Spermien bestehen aus Kopf, – Wurzel. Dieser Teil befestigt den Penis an
Hals, Mittelstück und Schwanz (✑ Abb. 14.10, den Schambeinästen und dem Beckenboden;
S. 287). – Schaft. Das ist der bewegliche Teil ohne Eichel;
– Eichel (Glans penis). Die Eichel wird von
einem Doppelblatt der Penishaut (Vorhaut =
Präputium) bedeckt.

Harnleiter
(Ureter)
Samenleiter
(Ductus deferens)
Harnblase
(Vesica urinaria)

Samenhügel Mündung des Harnleiters


(Colliculus seminalis) (Ostium ureteris)
Mündung des Bläschendrüse
linken Spritzkanals (Glandula seminalis)
(Ductus ejaculatorius sinister)
innere Harnröhrenöffnung
Vorsteherdrüsenabschnitt (Ostium urethrae internum)
der Harnröhre Vorsteherdrüse
(Pars prostatica urethrae) (Prostata)
Cowper’sche Drüse
Beckenbodenabschnitt (Glandula bulbourethralis)
der Harnröhre Gliedschenkel
(Pars membranacea urethrae) (Crus penis)
im Diaphragma urogenitale,
vom quer gestreiften
Harnröhrenschließmuskel
umgeben

paarige Gliedschwellkörper
(Corpora cavernosa penis)

Schwellkörperabschnitt Schwellkörper der


der Harnröhre Harnsamenröhre
(Pars spongiosa urethrae) (Corpus spongiosum penis)

Schiffergrube
(Fossa navicularis urethrae)

Eichel des Penis


(Glans penis)
äußere Harnröhrenöffnung
(Ostium urethrae externum)

Abb. 14.4 Männliche Harnblase und Penis eröffnet.


14.2 Weibliche Geschlechtsorgane 281


P Häufige Entwicklungsstö-
Haut
rung ist eine zu enge Vorhaut (Cutis)
(Phimose). Fascia penis
Scheidewand
Im Inneren des Penis liegen drei (Septum penis)
lang gestreckte Schwellkörper. Gliedschwellkörper
– Die paarigen Gliedschwell- (Corpus cavernosum penis)

körper: Sie liegen im obe- Bindegewebshülle


(Tunica albuginea)
ren Bereich am Penisrücken. Schwellkörper der
– Der Schwellkörper der Harn- Harnröhre
samenröhre: Er umfasst die (Corpus spongiosum penis)
Harnröhre und trägt an sei- Harnröhre
(Urethra)
nem vorderen Ende die Ei-
chel. Am hinteren Ende ist
er zwiebelförmig verdickt. Penisquerschnitt. Abb. 14.5
Hier in der Beckenboden-
muskulatur liegen auch die
beiden erbsengroßen Cowper’schen Drüsen 14.2 Weibliche Geschlechtsorgane
(Glandulae bulbourethrales). Ihr schleimiges
Sekret, das kurz vor der eigentlichen Ejakula- 14.2.1 Innere weibliche Geschlechtsorgane
tion abgegeben wird, soll die Urinreste der
Harnröhre neutralisieren. Zu den inneren weiblichen Geschlechtsorganen
Die Schwellkörper bestehen aus zahlreichen gehören die paarigen Eierstöcke, die paarigen
kleinen Hohlräumen und werden von einer Eileiter, die Gebärmutter und die Scheide.
derben Hülle umgeben.
Eierstock (Ovarium)
Versteifung bzw. Aufrichtung des Gliedes Größe und Lage
Die Erektion (Aufrichtung) des Gliedes zum Die bei der geschlechtsreifen Frau ca. pflaumen-
Zwecke des Geschlechtsverkehrs wird erreicht, großen (4 cm x 2 cm x l cm) Ovarien liegen an
indem durch nervale Regulation eine Erweite- den Seitenwänden des kleinen Beckens, in der
rung der zuführenden Arterien bei gleichzeitiger sog. Eierstockgrube, zwischen den inneren und
Verengung der abführenden Venen erfolgt. Die äußeren Beckengefäßen.
Schwellkörper werden prall mit Blut gefüllt,
ohne dass jedoch der Blutstrom völlig zum Erlie- Mikroskopischer Bau
gen kommt. Von außen nach innen gibt es 4 Schichten:
– Bauchfellüberzug.
Merke – Organkapsel aus Bindegewebe.
Der Penis hat eine Doppelfunktion. Er ist Ge- – Eierstockrinde: Sie enthält schon beim Neu-
schlechts- und Ausscheidungsorgan. geborenen ca. 200.000 Follikel mit ebenso
vielen Eizellen. Nach der Geburt bilden sich
Hodensack (Scrotum) keine neuen Eizellen mehr.
Der Hodensack ist eine Hauttasche, in der – Eierstockmark: Es besteht aus lockerem Binde-
Hoden, Nebenhoden und die Anfänge der gewebe mit Gefäßen und Nerven.
Samenleiter liegen. Die Haut ist pigmentiert und
weist als Besonderheit reichlich glattes Muskel- Funktion
gewebe anstelle von Fettgewebe auf, daher der 1. Follikelreifung
Name Fleischhaut. Dieses Muskelgewebe er- Follikel sind Bläschen aus Follikelepithel, wel-
möglicht ein Zusammenziehen der Fleischhaut che jeweils eine Eizelle umhüllen. Bereits vor der
bei niedrigen und Erschlaffen bei höheren Geburt beginnen die Reifeteilungen (✑ S. 50).
Temperaturen im Sinne eines Wärmeregulators Aber erst mit Beginn der ersten Regelblutung
für die empfindlichen Keimdrüsen. (Menarche) reift in ca. 28 Tagen ein Follikel heran.
282 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Dabei sind drei Stadien zu beobachten: die noch keine Kinder geboren haben (Nulli-
• Primärfollikel. Die Eizelle ist meist von einer para).
Schicht Follikelepithelzellen umgeben.
• Sekundärfollikel. Durch Teilung der Follikel- Gliederung (✑ Abb. 14.8, S. 284)
epithelzellen schon in den ersten Lebenstagen Bei der äußeren Betrachtung der Gebärmutter
wird die Hülle dicker. erkennt man die folgenden Abschnitte.
• Tertiärfollikel (= Graaf ’scher Follikel). Er – Gebärmuttergrund (Fundus uteri): Dies ist die
entwickelt sich ab dem 10. und 14. Lebensjahr. Wölbung über den Eintrittsstellen der Eileiter
Das Follikelepithel teilt sich schnell. Es ent- in den Uteruskörper.
steht ein mit Flüssigkeit gefüllter Hohlraum. – Gebärmutterkörper (Corpus uteri): Im Inneren
Der sprungreife Follikel ist kirschkerngroß dieses breiten, abgeflachten Teiles liegt die
und hebt sich bis zum Eisprung (Ovulation) Gebärmutterhöhle (Cavitas uteri) als Entwick-
deutlich von der Oberfläche ab. lungsraum für den Keimling. Ihre Form ist im
Frontalschnitt dreieckig und im Längsschnitt
2. Hormonbildung spaltförmig. Nach unten verengt sich die
Im Eierstock werden in bestimmten Zellen Sexual- Gebärmutterhöhle zum Gebärmutterhalskanal
hormone gebildet. = Cervixkanal (Canalis cervicis uteri).
• Östrogene (Follikelhormone), – Gebärmutterhals (Cervix uteri): Zwischen
• Gestagene (Gelbkörperhormon = Progesteron). Körper und Hals liegt eine Engstelle als Ver-
bindung, der Isthmus uteri. Der obere Teil des
Eileiter (Tuba uterina, Salpinx uterina) Gebärmutterhalses liegt über der Scheide, der
Der Eileiter ist ein 10 – 15 cm langer Schlauch untere Halsteil ragt als Mutterkegel (Portio
und dient dem Transport der Eizelle vom Eier- vaginalis) in die Scheide hinein.
stock in die Gebärmutter. Die äußere trichterför-
mige Eileiteröffnung umfasst mit fingerartigen ❑
P Der äußere Muttermund ist bei der Nullipara
Fortsätzen (Fimbrien) den Graaf ’schen Follikel, rund und bei der Multipara lippenartig quer
fängt die Eizelle beim Eisprung auf und trans- gestellt. Er kann vom Arzt bei einer gynäkolo-
portiert sie mithilfe von Flimmerbewegungen gischen Untersuchung betrachtet werden.
der Flimmerepithelzellen sowie peristaltischen
Muskelkontraktionen in die Gebärmutter. Der Lage
Transport dauert ca. 4 Tage. Im Eileiter findet Der Uterus liegt im kleinen Becken zwischen der
normalerweise die Befruchtung statt. Blase und dem Rektum. Normalerweise ist der
Körper nach vorn über die Blase gebeugt

P Über die Eileiter besteht eine direkte Verbin- (Anteflexio uteri).
dung von der freien Bauchhöhle über Gebärmut-
ter und Scheide nach außen (Infektionsgefahr). ❑
P Bei einer Krümmung des Körpers nach hin-
Bei gestörtem Auffang- und Transportmechanis- ten (Retroflexio uteri) auf den Mastdarm
mus kann sich eine befruchtete Eizelle sowohl in könnte der Weg für die Spermien versperrt
der Bauchhöhle als auch im Eileiter einnisten. werden, weil der äußere Muttermund gegen
Im ersten Fall spricht man von einer Bauch- die vordere Scheidenwand gedrückt wird.
höhlen-, im zweiten von einer Eileiterschwan-
gerschaft. Beide sind lebensbedrohlich (Ver- Bauchfellbeziehung und Bänder
blutungsgefahr) und müssen behandelt werden. Der Bauchfellüberzug des Uterus zieht als
Doppelblatt seitwärts zur Beckenwand. So ent-
Gebärmutter (Uterus) steht von der Gebärmutter ausgehend das breite
Form und Größe Mutterband (Lig. latum uteri) als Aufhängung
Die Gebärmutter ist birnenförmig, etwa 7 bis für Eileiter und Eierstock. Das Gewebe zwischen
10 cm lang und wiegt 60 bis 70 Gramm. Bei dem Bauchfelldoppelblatt heißt Parametrium und
Frauen, die mehrere Kinder geboren haben enthält in Bindegewebe eingebettet Gefäße und
(Multipara), ist sie etwas größer als bei Frauen, Nerven. Vom Fundus der Gebärmutter ziehen die
14.2 Weibliche Geschlechtsorgane 283

beiden runden Mutterbänder (Lig.


teres uteri) durch den Leisten-
kanal zu den großen Schamlippen Mastdarm
(Rektum)
(✑ Abb. 14.6).
Eierstock
(Ovarium)

P In der Gynäkologie werden
Gebärmutter
die dem Uterus „anhängenden“ (Uterus)
Organe (Eileiter, Eierstock, Eileiter
breites Mutterband) als Adnexe (Tuba uterina)
(= Anhangsgebilde) bezeichnet. rundes
Dementsprechend heißen Ent- Mutterband
(Lig. teres uteri)
zündungen der Gebärmutteran-
hänge Adnexitis. Wegen ähnli- Harnblase
(Vesica urinaria)
chen Symptomen ist auf eine
exakte Unterscheidung zwi-
schen Adnexitis und Appen- Weibliche Beckenorgane (Frontalschnitt). Abb. 14.6
dizitis (Entzündung des Wurm-
fortsatzes) – auch im Hinblick
auf therapeutische Maßnahmen Mikroskopischer Bau der Uteruswand
– unbedingt zu achten. Die Uteruswand ist dreischichtig. Von innen nach
Der Halteapparat des Uterus wird bei jeder außen sind zu unterscheiden:
Schwangerschaft gedehnt. Bei manchen 1. Gebärmutterschleimhaut (Endometrium)
Frauen verliert er seinen Halt, und es kommt Diese gefäß- u. drüsenreiche Schicht besteht aus
zum Gebärmuttervorfall (Prolapsus uteri) mit – der Basalschicht (direkt an die Muskulatur
erheblicher Infektionsgefahr. grenzend) und

Gebärmutter
Eierstock (Uterus)
(Ovarium)
Douglas’scher
Eileiter Raum
(Tuba uterina) (Excavatio
Bauchfelltasche rectouterina)
zwischen Uterus Mastdarm
und Blase (Rektum)
(Excavatio
vesicouterina) Scheiden-
gewölbe
Harnblase (Fornix vaginae)
(Vesica urinaria)
Scheide
Symphyse (Vagina)
Harnröhre kleine
(Urethra) Schamlippe
Kitzler (Labium minus
(Clitoris) pudendi)

äußere große
Harnröhrenöffnung Schamlippe
(Ostium urethrae (Labium majus
externum) pudendi)

Weibliche Beckenorgane – Medianschnitt. Abb. 14.7


284 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Fransen/ Ampulle des Eileiters Gebärmuttergrund


Fimbrien (Ampulla tubae uterinae) (Fundus uteri)
(Fimbriae tubae) Eileiterenge Gebärmutterkörper
Tubentrichter (Isthmus tubae uterinae) (Corpus uteri)
(Infundibulum
tubae uterinae)

Gebärmutterhals
(Cervix uteri)
Eierstock Muttermund
(Ovarium) (Ostium uteri)
Gebärmutterhöhle Scheide
(Cavitas uteri) (Vagina)
Gebärmutterenge Mutterkegel
(Isthmus uteri) (Portio vaginalis)

Abb. 14.8 Innere weibliche Geschlechtsorgane von vorn.

– der Funktionsschicht, welche während der teren Seite des Gebärmutterhalses zieht dann
monatlichen Regelblutung (Menstruation) das Bauchfell zur Vorderfläche des Rektums.
abgestoßen und in den darauf folgenden
Tagen wieder aufgebaut wird. Scheide (Vagina)
Die Schleimhaut im Gebärmutterhalskanal Die Scheide ist ein ca. 10 cm langer elastischer
enthält palmenblattartige Falten. Hier bilden Schlauch zwischen Harnröhre und Mastdarm.
die Zellen einen Schleimpfropf, der das Ein- Vorder- und Hinterwand liegen aufeinander, so-
dringen von Krankheitserregern von der dass ein Querspalt entsteht. Die Wand besitzt
Scheide her verhindert. Reservefalten für den Geburtsvorgang, aber
auch als Reibefläche für den Penis beim
2. Gebärmuttermuskulatur (Myometrium) Geschlechtsverkehr (Koitus).
Diese glatte Muskulatur ist in Spiralzügen an- Der obere Scheidenteil ist gewölbeartig erweitert
geordnet und wirkt vor allem als austreibende (man spricht vom Scheidengewölbe) und umfasst
Kraft während der Geburt des Kindes durch den äußeren Muttermund (Portio vaginalis). Das
Gebärmutterhalskanal und Scheide. untere Ende der Scheide (Scheideneingang,
Scheidenmund) mündet in den Scheidenvorhof.

P Das Myometrium neigt zur Bildung gut-
Scheidenschleimhaut
artiger Gewächse (Myome).
Die Schleimhaut der Scheide trägt mehrschichti-
ges unverhorntes Plattenepithel. Die Zellen ent-
3. Bauchfellüberzug (Perimetrium) halten sehr viel Glykogen. Nach ihrem Abster-
Das Peritoneum überzieht vom Scheitel der ben bilden Milchsäurebakterien, auch Döder-
Harnblase kommend die Gebärmutterober- lein’sche Scheidenbakterien genannt, aus dem
fläche. Der Uterus liegt also intraperitoneal anfallenden Glykogen Milchsäure. Dadurch
und ist entsprechend beweglich (Größen- wird das Scheidensekret sauer (pH-Wert = 4) und
zunahme bei Schwangerschaft). Von der hin- bildet einen wichtigen Infektionsschutz.
14.2 Weibliche Geschlechtsorgane 285

Funktion dem vorderen Zusammenschluss der großen


Die Scheide hat 3 Aufgaben: Sie Schamlippen und ist behaart. Die Behaarung
– ist weibliches Geschlechtsorgan, schließt nach oben horizontal ab.
– nimmt das ejakulierte Sperma auf (Speiche-
rung im hinteren Scheidengewölbe) und Große Schamlippen (Labia majora pudendi)
– dient als Geburtskanal. Die großen Schamlippen werden aus 2 breiten
Diesen Funktionen entsprechend ist die Scheide behaarten Hautwülsten gebildet und umschließen
elastisch, dehn- und verformbar. die Schamspalte (Rima pudendi). Sie enthalten
Talg-, Schweiß- und Duftdrüsen.

P Scheidenspülungen sollten wegen Beein-
trächtigung der Scheidenflora nicht zu häufig Kleine Schamlippen (Labia minora pudendi)
vorgenommen werden. Die kleinen Schamlippen sind fettfreie, mit Talg-
Beim Scheidenabstrich wird die hintere drüsen versehene dünne unbehaarte Hautfalten,
Wand der Scheide im oberen Bereich abge- die an der Innenseite der großen Schamlippen
tupft und so Zellen für die mikroskopische liegen.
Untersuchung gewonnen.
Scheidenvorhof (Vestibulum vaginae)
Der Scheidenvorhof ist der Raum zwischen den
kleinen Schamlippen. In ihm liegen von vorn
14.2.2 Äußere weibliche Geschlechtsorgane nach hinten
– die äußere Harnröhrenöffnung (Ostium urthrae
Das äußere Genitale der Frau wird als Vulva externum) und
(= weibliche Scham) bezeichnet. Es besteht aus: – der Scheideneingang (Ostium vaginae).
• Schamberg (= Venushügel),
• paarige große Schamlippen, Kitzler (Clitoris)
• paarige kleine Schamlippen, Der Kitzler besteht aus Schwellkörpergewebe.
• Scheidenvorhof und Er ähnelt in seinem Bau dem Penis und erigiert
• Kitzler. bei sexueller Stimulation. Die Clitoris ist von der
Kitzlervorhaut (Preputium clitoris) umgeben,
Schamberg (Mons pubis) und seine Schleimhaut ist reichlich mit sensiblen
Der Schamberg ist ein Fettpolster. Er liegt über Nervenendungen versorgt.

vorderer
Zusammenschluss der Schamberg
großen Schamlippen (Mons pubis)
(Commissura große Schamlippe
labiorum anterior) (Labium majus
Kitzlervorhaut pudendi)
(Preputium clitoris) kleine Schamlippe
Kitzler (Labium minus pudendi)
(Clitoris) Scheidenvorhof
äußere Harnröhrenöffnung (Vestibulum vaginae)
(Ostium urethrae externum)
Scheideneingang hinterer Zusammen-
(Ostium vaginae) schluss der großen
Reste des Schamlippen
Jungfernhäutchens (Commissura
(Carunculae hymenales) labiorum posterior)
Damm After
(Perineum) (Anus)

Äußere weibliche Geschlechtsorgane. Abb. 14.9


286 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Jungfernhäutchen (Hymen) Merke


Der Hymen ist eine dünne Schleimhautplatte am
Scheideneingang und engt dessen Öffnung ein. Die individuelle Entwicklung des Menschen
Er trennt mithin äußere und innere weibliche beginnt mit der Befruchtung und endet mit
Geschlechtsorgane. Beim Kind stellt er einen dem Tod. Man unterscheidet die vorgeburt-
zusätzlichen Infektionsschutz dar. Beim ersten liche (pränatale) und nachgeburtliche (post-
Geschlechtsverkehr wird das Jungfernhäutchen natale) Entwicklung. Die menschlichen Ent-
zerstört (= Defloration). Dieser Vorgang kann wicklungsperioden werden von biologischen,
schmerzhaft sein und zu einer geringfügigen psychischen und sozialen Faktoren beein-
Blutung führen. flusst.

Geschlechtsverkehr (Coitus, Kohabitation, Bei-


14.3 Fortpflanzung und Individual- schlaf)
Der Geschlechtsverkehr ist normalerweise die
entwicklung des Menschen Voraussetzung für die Befruchtung. Hierbei wird
bis zur Geburt (Überblick) das männliche Glied (Penis) in die weibliche Schei-
de (Vagina) eingeführt und die Samenflüssigkeit
Fortpflanzung bedeutet Reproduktion artgleicher (Sperma, Ejakulat) entleert. Der Geschlechtsakt
Nachkommen, wobei die Erbinformationen von kann in 4 Phasen eingeteilt werden, die vom
den Eltern auf die Nachkommen übertragen wer- vegetativen Nervensystem gesteuert werden
den (✑ Kap. 2.5, ab S. 43). Der Mensch pflanzt (✑ Tab. 14.2 auf Seite 288).
sich geschlechtlich (sexuell) fort, d. h. mit Hilfe
von Geschlechtszellen. Weg der Eizelle
In einem Eierstock eines Mädchens befinden
Die Individualentwicklung (Ontogenese) des sich bereits bei der Geburt ca. 200.000 Ureizel-
Menschen läßt sich in 4 Entwicklungsperioden len, eingeschlossen von sog. Follikelzellen
gliedern (✑ Tab 14.1).

Tab. 14.1 Entwicklungsperioden der Individualentwicklung.


Entwicklungsperiode wichtige Wachstums- und Entwicklungsprozesse (bzw. Merkmale)

1. Befruchtung – Furchung (Blastogenese)


Embryonal-/ und – Keimblätterbildung (Gastrulation)
Fetalentwicklung – Bildung der Organanlagen und Organe (Organogenese)
Diese Periode ist durch ein intensives Zellteilungswachstum und
vielfältige Zelldifferenzierungen gekennzeichnet.

2. Säuglings-, – Wachstum und weitere Organausbildung, insbesondere der


Kindes- und Geschlechtsorgane und sekundären Geschlechtsmerkmale
Jugendentwicklung In dieser Periode wird die Fortpflanzungsfähigkeit erreicht und das
Wachstum abgeschlossen.

3. Erwachsenenstadium – Zellen, Gewebe und Organe sind voll leistungsfähig


(adulte Periode) – Bildung und Reifung der Geschlechtszellen
– Fortpflanzung
Hier erreicht der Mensch seine optimale körperliche und geistige
Leistungsfähigkeit.

4. Altern (Seneszenz) – Abbauprozesse, Gewebsrückbildung


Tod – Nachlassen der Stoffwechselintensität
In der 4. Periode kommt es zum Nachlassen der Leistungsfähigkeit.
Die Individualentwicklung endet mit dem Tod.
14.3 Fortpflanzung und Individualentwicklung 287

Befruchtung 22 Autochromosomenpaare + X, X = weiblich


oder
haploide Samenzelle 22 Autochromosomenpaare + X, Y = männlich

haploide und
Vorkerne ver- Beginn der Zellteilung
Eizelle schmelzen zu diploider Zygote

Eileiter
(Tuba uterina)

Eileiter
(Tuba uterina)

Eierstock
(Ovarium)

Eierstock
(Ovarium)
Gebärmutter
Scheide (Uterus)
(Vagina)
äußerer Muttermund
(Ostium externum uteri)
Eizelle
Kopf mit Kopfkappe
(Akrosom)
Hals mit Zentriol
Mittelstück mit Mitochondrien

Achsenfaden aus Mikrotubuli


Hüllenzellen
Follikelflüssigkeit
Eizelle
Schwanz
Follikelzellen

sprungreifer Follikel
(Tertiärfollikel =
Graaf’scher Follikel)

Weg der Samen- und Eizelle zum Ort der Befruchtung. Abb. 14.10
288 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Tab. 14.2 Die vier Phasen des Geschlechtsaktes.


Phase Mann Frau
Erregungsphase Versteifung (Erektion) und Vergröße- Erweiterung und Befeuchtung der
rung des Penis. Vagina.
Plateauphase Sekret der Cowper’schen-Drüsen wird Optimales Anschwellen der Schwell-
zur Neutralisierung von Harnresten in körper des Kitzlers (Clitoris).
die Harnröhre ausgestoßen.
Orgasmusphase Ausstoßen der Samenflüssigkeit (= Eja- Entstehung der sog. orgastischen Man-
(= Höhepunkt des kulation) durch rhythmische Kontraktio- schette in der Vaginalwand; rhythmische
Geschlechtsver- nen der Beckenboden- und Samenleiter- Kontraktionen der Vaginal-, Uterus- und
kehrs) muskulatur. Beckenbodenmuskulatur.
Rückbildungs- Schwellkörper entleeren sich; Erschlaf- Schwellkörper entleeren sich; Muskel-
phase fung und Verkleinerung des Penis. tonus von Uterus, Vagina und Becken-
boden normalisieren sich.

(Eizelle plus Follikelzellen gleich Primordialfol- Merke


likel). Mit Beginn der Pubertät reift in jedem
Zyklus ein Follikel und wird sprungfähig. Beim Menschen bestimmen die Geschlechts-
chromosomen das Geschlecht. XX-Zygoten
Der sprungreife Follikel heißt Tertiär- oder ergeben weibliche und XY-Zygoten männli-
Graaf ’scher Follikel. che Individuen. Entscheidend für das Ge-
schlecht des Kindes ist somit die Samenzelle.
Eisprung (= Follikelsprung = Ovulation)
Der reife Follikel erreicht einen Durchmesser
von 1 – 2 cm. Er reißt schließlich ein. Eizelle

P Ursachen für Unfruchtbarkeit können sein:
Beim Mann
und Hüllzellen gelangen mit der Follikelflüssig-
– zu geringe Spermienzahl,
keit in den Eileiter. Der Eisprung erfolgt bei
– missgebildete Spermien,
einem 28-tägigen Zyklus in der Regel zwischen
– zu geringe Beweglichkeit der Spermien,
dem 12. und 15. Tag. In dieser Zeit ist eine Be-
– nicht durchgängige Samenleiter;
fruchtung am wahrscheinlichsten. Die Eizelle ist
bei der Frau
nur 12 Stunden befruchtungsfähig.
– Missbildungen der inneren Geschlechts-
Weg der Samenzellen (= Spermien) organe,
Beim Geschlechtsverkehr (Coitus) gelangen mit – Funktionsstörungen der Eierstöcke oder
der Samenflüssigkeit ca. 200 bis 300 Mill. Samen- der Gebärmutter,
zellen vom Hoden über Nebenhoden, Samenlei- – nicht durchgängige Eileiter.
ter und Harnröhre in die Scheide. Von da aus
wandern sie aufgrund ihrer Eigenbeweglichkeit Furchung
über die Gebärmutter ebenfalls in den Eileiter Unter Furchung versteht man die ersten mitoti-
(Zeitdauer: 45 – 60 Min.). Die Samenzellen sind schen Zellteilungen der Zygote auf ihrem Weg
höchstens 72 Stunden befruchtungsfähig. durch den Eileiter in die Gebärmutter. Sie be-
ginnt ca. 30 Stunden nach der Befruchtung. Nach
Befruchtung (Fertilisation) ca. 72 Stunden ist die Gebärmutter erreicht und
Unter Befruchtung versteht man die Verschmel- ein stecknadelkopfgroßer Zellhaufen aus 32 Zel-
zung einer haploiden Samenzelle mit einer len entstanden – die Morula (= maulbeerförmiger
haploiden Eizelle zu einer diploiden Zygote Keim). Anschließend bildet sich durch Verlage-
= befruchtete Eizelle). Die Zygote ist die erste rung der Zellen aus der Morula die Blastozyste
Körperzelle des neuen Organismus. Die Be- (= bläschenförmiger Keim). Die Zellen werden nun-
fruchtung findet in der Regel im Eileiter statt. mehr als Blastomeren bezeichnet. In Abb. 14.11
14.3 Fortpflanzung und Individualentwicklung 289

2-Zellen-Stadium
Gebärmutterschleimhaut
(Endometrium)

Einnistung (Nidation)
4-Zellen-Stadium
innere Blastomeren



8-Zellen-Stadium ➞ Blastozystenhöhle
äußere Blastomeren

Morula Blastozyste

Die Stadien der Furchung. Abb. 14.11

sind die Teile der Blastozyste zu erkennen: ❑


P Bereits 1 Woche nach der Befruchtung kann
– innen die Blastozystenhöhle mit Flüssigkeit, das Choriongonadotropin im Blut bzw. Urin
– die äußeren Blastomeren als einschichtige nachgewiesen und eine Schwangerschaft fest-
Hülle und gestellt werden (immunologischer Schwanger-
– die inneren Blastomeren als kleiner Zellhaufen. schaftstest).

Merke Keimblattbildung (= Gastrulation)


Nach der Nidation der Blastozyste differenzieren
Aus den äußeren Blastomeren entwickelt sich sich die Zellen des Embryoblasten in 3 Schichten
der Trophoblast, der sich mit Teilen der Gebär- (Keimblätter): Ektoderm (= äußeres Keimblatt),
mutterschleimhaut zum Mutterkuchen (Pla- das auch das Amnion bildet, Mesoderm (= mitt-
centa) umbildet, und aus den inneren der leres Keimblatt), Entoderm (= inneres Keimblatt).
Embryoblast, aus dem die eigentliche Keim-
und Fruchtanlage entsteht.
Furchung. Tab. 14.3
Einnistung (Nidation)
Zygote
Im zuvor beschriebenen Entwicklungszustand
beginnt in der 2. Entwicklungswoche die Ein-
nistung in die jetzt besonders aufnahmebereite Furchung
Gebärmutterschleimhaut. Die Blastozyste dringt
in die Schleimhaut ein und verwächst mit ihr. Morula
Dies geschieht mithilfe von Enzymen der
Trophoblastzellen.
Zellumlagerung
Schon zu diesem Zeitpunkt produziert der
Trophoblast auch das Schwangerschaftshormon
Choriongonadotropin (HCG), das den Gelb- Blastozyste
körper zur weiteren Progesteronsynthese anregt.
Das Progesteron verhindert den Abbau der innere Blastomeren äußere Blastomeren
Gebärmutterschleimhaut (✑ S. 305).
Embryoblast Trophoblast
290 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Tab. 14.4 Überblick über wichtige Phasen der Embryonalentwicklung.


Monat Länge Masse Merkmale Bemerkungen
(in cm) (in g)

1. 0,5 Typische Körpergliederung; Anlagen für Nerven- Keimling


system, Augen, Ohren; einfacher Blutkreislauf. (= Embryo).

2. 2 1 Knorpelskelett.

3. 9 35 Alle Organanlagen, Geschlecht feststellbar. Von nun an heißt


der Keimling Fetus.

4./5. 25 500 Beginn der Verknöcherung, Lanugobehaarung, Mutter spürt


Herzschlag hörbar. Bewegungen.

6. Zahnanlagen, Öffnen der Augen.

7. 40 1.300 Alle Organe ausgebildet. Frühgeburt –


eingeschränkte
Leistungsfähigkeit.

8. 50 3.000 Starke Massenzunahme. Reifezeichen


–3.500 vollständig.

Organbildung normalerweise im oberen Teil der Uterushöhle


Aus den Keimblättern bilden sich durch weitere an der Vorder- oder Hinterseite. Die ca. 50 cm
Zellverlagerungen und Zelldifferenzierungen die lange Nabelschnur verbindet Placenta und Kind.
einzelnen Organanlagen für die späteren Organe. Sie enthält 3 Blutgefäße: 1 Nabelvene (V. umbi-
licalis) leitet das Blut von der Placenta zum Kind,

P In den ersten drei Schwangerschaftsmonaten und 2 Nabelarterien (Aa. umbilicales) leiten das
ist der Embryo aufgrund der Organbildung be- Blut vom Kind zur Placenta zurück.
sonders stark gefährdet. Schädigende Einflüsse Eine Vermischung von kindlichem und mütter-
üben z. B. bestimmte Medikamente, Viren, lichem Blut findet nicht statt.
radioaktive Strahlen, Röntgenstrahlen, Alkohol
und Nikotin aus. ❑
P Medikamente, Alkohol, Nikotin, Drogen,
Toxine, Viren und Bakterien können die Pla-
In der Tabelle 14.4 sind die wichtigsten Merk- centaschranke überwinden und dem Embryo
male der einzelnen Entwicklungsphasen zusam- schwerwiegende Schäden zufügen.
mengestellt.
Merke
Versorgung des Keimlings
Unmittelbar nach der Einnistung wird der Keim- Neben der Versorgung des Kindes mit allen
ling mit Stoffen aus dem mütterlichen Gewebe lebensnotwendigen Stoffen und der Entsor-
zunächst über den Trophoblasten versorgt. Nach gung von Stoffwechselprodukten sichert die
Bildung der Placenta (Mutterkuchen, Nachge- Placenta durch die Produktion von Hormo-
burt) übernimmt diese die Ver- und Entsorgung. nen (Choriongonadotropin = HCG und Pla-
Die scheibenförmige Placenta (Durchmesser = centalaktogen = HPL als schwangerschaftsspe-
15 – 20 cm, Masse = ca. 500 g) besteht aus zifische Hormone; Östrogene, Progesteron)
einem mütterlichen Anteil (stammt von der und Enzymen den Erhalt der Schwanger-
Gebärmutterschleimhaut) und einem kindlichen schaft.
Anteil (stammt vom Trophoblasten). Sie sitzt
14.3 Fortpflanzung und Individualentwicklung 291

Vor Abtrennung der Nabelschnur Nach Abtrennung der Nabelschnur

Aortenbogen
(Arcus aortae)
Ductus arteriosus
Lig. arteriosum
(vormals Ductus arteriosus)
rechter Vorhof linker Vorhof
(Atrium dextrum)
(Atrium sinistrum)

offen ovales Loch geschlossen


Ductus venosus (Foramen ovale)

Bauchaorta
(Pars abdominalis
aortae)
Leber
(Hepar)

Lig. venosum
(vormals Ductus
venosus)
Navelvene
(V. umbilicalis) untere
Hohlvene
(V. cava inferior)
Nabel
(Umbilicus)

Nabelschnur
(Chorda umbilicalis)
Mutterkuchen Gebärmutter
(Placenta) (Uterus)

Fruchtblase mit Fruchtwasser


Gebärmutterschleimhaut
(Endometrium)
Scheide
■ O2-reiches Blut (Vagina)
■ O2-armes Blut
■ Mischblut

Der Blutkreislauf des Keimlings (Fetalkreislauf). Abb. 14.12


292 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Der Blutkreislauf des Keimlings (Fetalkreislauf) ❑


P Nicht selten wird das Foramen ovale, also
In der 2. Schwangerschaftshälfte bildet sich der die Öffnung im Vorhofseptum, nicht vollstän-
Kreislauf des Fetus heraus. Seine Besonderheit dig geschlossen. Bei nur geringer Restöffnung
besteht darin, dass mit Ausnahme der Nabel- ergeben sich kaum nachteilige Folgen; bei voll-
schnurvene alle anderen Gefäße Mischblut füh- ständig persistierender Öffnung muss diese
ren. Der Stoffaustausch erfolgt in der Placenta, operativ geschlossen werden.
in der mütterlicher und fetaler Kreislauf völlig
getrennt sind. Das Blut des Keimlings wird
durch die Arbeit seines Herzens bewegt. Schutz des Keimlings
Der Keimling wird durch das Fruchtwasser und
die aus den Eihüllen bestehenden Fruchthüllen
Merke
wirksam geschützt. Bereits 6 Wochen nach der
Die Nabelschnur enthält 3 Gefäße: Befruchtung schwimmt der Embryo im Frucht-
– 1 Nabelschnurvene, die das sauerstoff- und wasser der Amnionhöhle, die später zur Frucht-
nährstoffreiche Blut von der Placenta in blase wird.
den Keimling leitet;
– 2 Nabelschnurarterien, die das verbrauchte Merke
Blut aus dem Keimling in die Placenta zu-
rückführen. In Flüssigkeiten breitet sich der Druck
Der fetale Kreislauf ist gekennzeichnet durch gleichmäßig nach allen Seiten aus, sodass ein
3 physiologische Shunts (Kurzschlussver- optimaler Schutz des Kindes – vor allem vor
bindungen) Druck – besteht. Gleichzeitig schützt das
– Umgehung der Leber: Ductus venosus Fruchtwasser vor Temperaturveränderungen
Arantii (zwischen Nabelvene- und unterer und äußeren Einflüssen.
Hohlvene);
– Umgehung der Lunge:
• Foramen ovale (im Vorhofseptum); Das Fruchtwasser wird ständig von den
• Ductus arteriosus Botalli (zwischen Trun- Epithelzellen der Fruchthöhlen produziert und
cus pulmonalis und Aorta). auch wieder resorbiert, es wird also laufend
erneuert. Dabei halten sich Produktion und
Resorption im Gleichgewicht. In der späten
Schwangerschaft beträgt die normale Menge
Durch diese Umgehungen gelangt in Lunge und
ca. 1 Liter.
Leber relativ wenig Blut. Dies ist aber ausrei-
chend, da durch die fehlende äußere Atmung und
Geburt
die von der Mutter fertig aufbereiteten Nähr-
Die Schwangerschaft des Menschen dauert
stoffe beide Organe ihre volle Funktion noch
ca. 40 Wochen (280 Tage). Der voraussichtliche
nicht erfüllen müssen. Kurz nach der Geburt
Geburtstermin wird wie folgt bestimmt:
werden die Shunts geschlossen.
1. Tag der letzten Regelblutung minus 3 Monate
plus 7 Tage plus 1 Jahr.
Umbildungen im Kreislauf nach der Geburt
Beim ersten Atemzug des Neugeborenen vollzie-
Beispiel:
hen sich folgende Umbildungen:
1. Tag der letzten Regel = 1. 3. minus
– Durch Entfaltung der Lungen wird das Blut
3 Monate plus 7 Tage plus 1 Jahr ergibt den
aus dem Truncus pulmonalis angesaugt,
8. 12. als voraussichtlichen Geburtstermin.
durchströmt die Lungen und fließt über die
Lungenvenen in den linken Vorhof.
– Der im linken Vorhof entstehende Druck Geburtsverlauf
schließt das Foramen ovale. Der Verlauf der normalen Geburt wird in
– Nabelschnurgefäße, Ductus arteriosus und 3 Perioden eingeteilt.
Ductus venosus veröden in den ersten Lebens- – Eröffnungsperiode
monaten zu bindegewebigen Strängen. Beginnt mit der regelmäßigen Wehentätigkeit
14.3 Fortpflanzung und Individualentwicklung 293

und endet mit der vollständigen Eröffnung des eröffnet ist und endet mit der Geburt des Kindes.
Muttermundes und normalerweise dem Plat- Dauer bei Erstgebärenden: ca. 30 Minuten.
zen der Fruchtblase. Der Kopf des Kindes – Nachgeburtsperiode
hat sich bis zum Beckenboden geschoben. Das ist der Zeitraum von der Geburt des Kindes
Dauer bei Erstgebärenden: ca. 12 Stunden. bis zum Abstoßen der Placenta (= Nachge-
– Austreibungsperiode burt). Der Geburtsvorgang ist damit beendet.
Sie beginnt, wenn der Muttermund vollständig Dauer: 15 – 20 Minuten.

Placenta
Nabelschnur
Muttermund

Eröffnungsperiode
regelmäßige
Wehentätigkeit
Öffnung des
Muttermundes
Platzen der Fruchtblase

Austreibungsperiode
vollständige Öffnung
des Muttermundes
Geburt des Kindes

Nachgeburtsperiode
Abstoßen der Placenta

Die drei Perioden des Geburtsverlaufes. Abb. 14.13


294 14 Geschlechtssystem (Genitalsystem)

Fragen zur Wiederholung

1. Geben Sie einen Überblick über die männlichen Geschlechtsorgane und deren Lage.
2. Welche Aufgaben erfüllen die inneren männlichen Genitalorgane?
3. Wie ist das Sperma zusammengesetzt?
4. Beschreiben Sie den Weg der Spermien vom Bildungsort zum Ort der Befruchtung.
5. Geben Sie einen Überblick über die weiblichen Geschlechtsorgane und deren Lage.
6. Beschreiben Sie die Follikelreifung im Eierstock.
7. Welche Aufgabe hat der Eileiter, und wie erfüllt er sie?
8. Beschreiben Sie den Aufbau des Uterus.
9. Was bedeutet der Begriff „Adnexe“?
10. Begründen Sie, warum eine gesunde Scheidenflora der wichtigste Schutz gegen
Infektionen der inneren weiblichen Geschlechtsorgane ist.
11. Was versteht man unter dem Scheidenvorhof?
Welche Gebilde liegen in ihm?
12. Nennen und beschreiben Sie die Entwicklungsperioden in der menschlichen Individual-
entwicklung.
13. Was versteht man unter der Befruchtung, und welches sind die wichtigsten Ergebnisse?
14. Was geschieht während der Furchung?
15. Unterscheiden Sie Trophoblast und Embryoblast.
16. Was versteht man unter Nidation?
17. Wie erfolgen Versorgung und Schutz des Embryos bzw. des Fetus?
18. Welche Besonderheiten kennzeichnen den fetalen Kreislauf, und welche Umstellungen
vollziehen sich nach der Geburt?
19. Überlegen Sie, welche Folgen ein sich nicht schließendes Foramen ovale für den Organis-
mus hat.
20. Wie wird der Geburtstermin bestimmt?
21. In welche Perioden wird der Geburtsverlauf eingeteilt, und wodurch sind diese gekenn-
zeichnet?
295

15 Hormonsystem (Endokrines System)

Hormonsystem und Nervensystem koordinieren Hormone


im engen Zusammenwirken alle Organfunk- Die Hormone gehören wie die Vitamine und
tionen. Sie werden deshalb auch als Koordina- Enzyme zu den Wirkstoffen. Diese meist organi-
tionssysteme bezeichnet. Dementsprechend wer- schen Verbindungen besitzen eine hohe und spe-
den hormonelles und nervales Regulations- zifische biologische Wirkung, d. h., geringste
system unterschieden. Mengen lösen bereits spezifische biologische
Beide Systeme beeinflussen sich wechselseitig. Reaktionen aus. Die Hormone sind chemische
So können Aktionspotentiale Hormonfreiset- Signal- und Regulatorstoffe. Sie werden deshalb
zung und umgekehrt Hormone Aktionspotential- in treffender Weise als Botenstoffe bezeichnet.
bildung bewirken. Vorrangig hormonell reguliert
werden langsam ablaufende Lebensprozesse Merke
(z. B. Wachstums- und Entwicklungsprozesse, Hormone sind biochemische Regulatorstoffe.
Energiestoffwechsel). Vorrangig nerval reguliert Sie werden entweder in Hormondrüsen oder
werden Lebensprozesse, die schnell ablaufen zerstreut verteilten endokrinen Zellen gebil-
müssen (z. B. Pupillenadaptation, Anpassung der det und gelangen meist mit dem Blutstrom zu
Herzfrequenz). ihren Erfolgsorganen.

15.1 Regulationsfunktionen der Einteilung


Hormone Wegen der fließenden Übergänge von Hormonen
und hormonähnlichen Stoffen ist es zweck-
Das Hormonsystem reguliert durch Hormone: mäßig, diesbezüglich von 4 Stoffklassen zu spre-
– die Nahrungsaufnahme, chen:
– den Stoffwechsel, 1. Glanduläre Hormone (= Drüsenhormone)
– die Homöostase des inneren Milieus (z. B. Die Bildung erfolgt in Drüsen. Die Hormone
Wasser-Salz-Haushalt, Säure-Basen-Haushalt, diffundieren über die interstitielle Flüssigkeit in
Kreislauf, Wärmehaushalt), das Blut oder die Lymphe. Mit dem Blutstrom
– das Wachstum sowie die körperliche, sexuelle werden sie rasch im Körper verteilt (Fern-
und geistige Entwicklung, wirkung) und erreichen so ihren Wirkungsort
– die Leistungsanpassung (z. B. Blutdruck), – entweder eine untergeordnete endokrine
– die Fortpflanzungsmechanismen (Bildung und Drüse oder nichtendokrine Zellen (✑ Tab 15.1).
Reifung der Samen- und Eizellen, Schwanger-
schaft, Geburt). Merke

Merke
Die glandulären Hormone werden in Drüsen
gebildet und gelangen durch den Blutkreis-
Das Hormonsystem realisiert seine Funktion lauf zum Wirkungsort. Bildungs- und Wir-
mithilfe von Hormonen (= Inkrete). kungsort liegen meist weit entfernt.

Die Hormon- oder endokrinen Drüsen sind 2. Aglanduläre Hormone (Gewebshormone)


eigenständige Organe (z. B. Schilddrüse), die im Diese Hormone werden nicht in Drüsen, son-
Unterschied zu den exokrinen Drüsen keinen dern in spezialisierten Zellgruppen bestimmter
Ausführgang besitzen (✑ S. 87). anderer Gewebe bzw. Organe gebildet, daher
Ansammlungen hormonbildender Zellen sind der Name Gewebshormon. Meist gelangen
z. B. die Langerhans’schen Inseln des Pankreas sie durch Diffusion über die interstitielle
und die Leydig’schen Zwischenzellen in den Flüssigkeit zum Erfolgsorgan, in einigen
Hoden. Fällen aber auch über den Blutweg.
296 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Tab. 15.1 Glanduläre Hormone. 4. Mediatorstoffe (Mediatoren, Ver-


mittler)
Hormon Bildungsort Diese Wirkstoffe werden in vielen
Thyroxin, Trijodthyronin, Zellen (häufig bei Erkrankungen
Calcitonin Schildrüse wie Allergien, Entzündungen) ge-
bildet. Sie diffundieren nur inner-
Parathormon (= Parathyrin) Nebenschilddrüse
halb des Gewebes, wirken also
Aldosteron, Cortisol Nebennierenrinde (NNR) lokal. Typische Mediatorstoffe sind
Adrenalin, Noradrenalin Nebennierenmark (NNM) Histamin, Serotonin und die Prosta-
glandine.
Östrogene, Progesteron Eierstöcke
Testosteron Hoden Die Zuordnung von Wirkstoffen ist
Insulin, Glukagon Bauchspeicheldrüse manchmal schwierig. So sind Adre-
nalin und Noradrenalin einerseits
glanduläre Hormone, wenn sie vom
Merke Nebennierenmark an das Blut abgegeben werden
Die aglandulären Hormone wirken in der (✑ S. 368). Sie gelten aber auch als neurosekre-
Regel in unmittelbarer Nähe ihrer Bildungs- torische Hormone (Neurotransmitter, chemische
stellen, also lokal (Nahwirkung). Zu den Überträgerstoffe).
aglandulären Hormonen gehören die Hormone
Merke
des Magen-Darm-Traktes (z. B. Gastrin) und
der Niere (Renin, Erythropoetin). Bei der Einteilung der biochemischen Regu-
latorstoffe ist es wegen der fließenden Über-
3. Neurosekretorische Hormone gänge zweckmäßig, glanduläre, aglanduläre
Diese Hormone werden in Nervenzellen ge- und neurosekretorische Hormone einerseits
bildet (Neurosekretion) und gelangen über die und Mediatorstoffe andererseits zu unter-
Blutbahn zum Erfolgsorgan. Zu ihnen gehören scheiden.
die Hormone des Hypothalamus: Releasing- Alle schlecht wasserlöslichen Steroidhormone,
und Inhibitinghormone, Oxytocin und Adi- aber auch verschiedene wasserlösliche Hormone
uretin. werden im Blut an zum Teil spezifische
Transportproteine
Tab. 15.2 Chemische Struktur der Hormone. gebunden und so
zu ihrem Zielort
Hormongruppen transportiert.
Beispiel:
Transcortin für Cor-
Hauptgruppen kleine Gruppen tisol und Progeste-
ron, Sexualhormon-
• Hormone, die Bindungs-Globulin
Steroidhormone Peptid- und sich von einer für Testosteron und
Glykoproteinhormone Aminosäure die Östrogene,
ableiten thyroxinbindendes
• leiten sich vom • aus Aminosäuren Vertreter Globulin (TBG)
Cholesterol ab aufgebaut Adrenalin für Thyroxin.
• fettlöslich • wasserlöslich Noradrenalin
(lipophil) (hydrophil) Thyroxin
Trijodthyronin Die meisten Hor-
Vertreter Vertreter mone gehören zu
Aldosteron alle Hormone mit den Peptiden bzw.
Cortisol Ausnahme der
Testosteron Steroidhormone Proteinen sowie
Östrogene und Hormone den Steroiden.
Progesteron der kleinen Gruppe
15.1 Regulationsfunktionen der Hormone 297

Hormonales Hierarchie der Hormone. Tab. 15.3


Regulationssystem
Das hormonale Regulations-
Übergeordnete Zentren des ZNS
system besteht aus folgenden
Hauptteilen:
– Hormonproduzierende Zellen
(Bildungsort des Hormons),
+ –
– Blut als Transportmittel,
– Erfolgsorgan (Wirkungsort –
Hypothalamus
des Hormons),
– Organe, in denen über-
schüssige Hormone inakti- Releasinghormone Inhibitinghormone
viert und eliminiert werden.

negative Rückkopplung
+ –
Auf diese Weise werden zu
hohe Hormonspiegel ver- Hypophysenvorderlappen –
hindert.
Die meisten Hormone wer- glandotrope Hormone
den in der Leber inaktiviert +
und die Abbauprodukte über
die Niere ausgeschieden.
periphere endokrine Drüse
Biologischer Regelkreis
als Regulator der
Hormonproduktion effektorische Hormone
Die Hormonkonzentrationen
im Blutplasma werden in vie-
len Fällen nach dem Prinzip Erfolgsorgan
+ = fördern
der negativen Rückkopplung – = hemmen
konstant gehalten: Ein Anstieg
der Hormonkonzentration im
Plasma wirkt hemmend auf seine Freisetzung, ein anderes Molekül oder Ion (= Ligand, Agonist)
ein Abfall dagegen fördernd. mit Reiz- bzw. Signalwirkung ist.
In dem das Hormon mit dem Rezeptor reagiert,
Hormonrezeptoren und Erfolgsorgane werden bestimmte Effekte (z. B. die Synthese
Hormonrezeptoren gehören zu den molekularen eines Enzymeiweißes) ausgelöst. Den Mechanis-
Rezeptoren (biochemische Definition). Auf mus kann man sich als Schlüssel(Ligand)-
molekularer Ebene versteht man unter einem Schloss-(Rezeptor)-Prinzip vorstellen. Stoffe,
Rezeptor ein Molekül (meist sind es Glykolipide die die molekularen Rezeptoren hemmen bzw.
oder Glykoproteine), das Reaktionspartner für blockieren, werden als Antagonisten bezeichnet.

Merke
Tab. 15.4 Schlüssel-Schloss-Prinzip.
Die Rezeptoren für Hormone sind
spezifische Moleküle, die die Hor-
Ligand, Agonist
mone binden und dadurch ihre
„Schlüssel“ (z. B. Hormon,
Bakterientoxin, Wirkung vermitteln.
Effekt
Opiat, Antigen)
(z. B. Synthese Die Rezeptoren für die wasserlösli-
eines bestimmten
Enzymeiweißes) chen Hormone befinden sich auf der
Zellmembran, jene für die Steroid-
Rezeptor
hormone sitzen am Zellkern oder
„Schloss“ (Glykolipid,
Glykoprotein) anderen Zellorganellen, also innerhalb
der Zellen.
298 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Wirkungsweise der Hormone 15.2 Hormongruppen


Jedes Hormon hat spezifische chemische Wir-
kungen (d. h., es beeinflusst ganz bestimmte Bezüglich ihrer Funktionsweise lassen sich
chemische Vorgänge), die in der Regel durch 3 Hormongruppen unterscheiden (✑ Tab 15.3):
keinen anderen chemischen Stoff hervorgerufen • Releasinghormone und Inhibitinghormone
werden können. Sie werden in der hypophysiotropen Zone
Man unterscheidet 2 Primärreaktionen: des Hypothalamus gebildet und regulieren
1. Die Steroid- und Schilddrüsenhormone diffun- die Bildung und Freisetzung der Hormone
dieren durch die Zellmembran in die Zelle und des Hypophysenvorderlappens.
binden sich an einen intrazellulären Rezeptor. • Glandotrope Hormone
Anschließend wird der Hormon-Rezeptor- Sie werden im Hypophysenvorderlappen ge-
Komplex in den Zellkern transportiert und die bildet und regulieren die Tätigkeit von Schild-
Transkription beeinflusst (✑ S. 47). drüse, Nebennieren und Keimdrüsen.
• Effektorische Hormone
Merke Das sind alle Hormone, die unabhängig von
Hormone, die in die Zellen eindringen, wir- ihrem Bildungsort unmittelbar auf das Er-
ken hauptsächlich durch die Kontrolle der folgsorgan wirken.
Genaktivität.

2. Alle übrigen Hormone verbinden sich mit 15.2.1 Hormone des Hypothalamus und der
einem Zellmembranrezeptor. Dadurch bewir- Hypophyse
ken sie die Bildung eines 2. Boten (second In Kerngebieten des Hypothalamus liegen die
messenger) in der Zelle, der dann die typische übergeordneten vegetativen Zentren. Von hier
Wirkung vermittelt. Dieser 2. Bote ist häu- werden sowohl die Aktivitäten des vegetativen
fig das cyclische Adenosinmonophosphat Nervensystems als auch die Bildung und
(cAMP). Freisetzung der Hypophysenhormone gesteuert.
Merke Hormone des Hypothalamus
Die meisten Peptid- und Glykoprotein- Releasing- und Inhibitinghormone
hormone sowie Aminosäureabkömmlinge Im Hypothalamus werden Releasinghormone,
(kleine Gruppe, ✑ Tab. 15.2) können die Inhibitinghormone und effektorische Hormone
Zellmembran nicht passieren und wirken des- gebildet.
halb über einen 2. Boten. Die Wirkungen der 1. Releasinghormone (= Liberine):
Hormone beruht im Wesentlichen auf der Sie steuern die Bildung und Freisetzung der
Beeinflussung von Enzymen in den Zellen 4 glandotropen1) Hormone (thyreotropes Hor-
der Erfolgsorgane. mon, luteinisierendes Hormon, follikelstimu-
Dabei gibt es drei Möglichkeiten: lierendes Hormon, adrenocorticotropes Hor-
1. Aktivierung oder Hemmung vorhandener mon) sowie der 3 effektorischen Hormone des
Enzyme, Hypophysenvorderlappens (Wachstumshormon,
2. Steigerung der Enzymsynthese über eine Prolactin, melanocytenstimulierendes Hormon).
Genaktivierung, 2. Inhibitinghormone (= Statine):
3. Veränderung der Zellmembranaktivität Sie hemmen die Freisetzung der 3 effektori-
und damit Einflussnahme auf die Substrat- schen Hormone des Hypophysenvorderlappens
bereitstellung. (Wachstumshormon, Prolactin, melanocyten-
stimulierendes Hormon).
Merke
Wachstumshormon, Prolactin und melano-
cytenstimulierendes Hormon werden sowohl
von Releasing- als auch von Inhibitinghormo-
1) auf eine periphere Hormondrüse einwirkend nen gesteuert.
15.2 Hormongruppen 299

3. Effektorische Hormone: Releasing- und Inhibitinghormone des


Es handelt sich um Hypothalamus und Hypophysenvorderlappenhormone. Tab. 15.5
2 Hormone. Sie werden
Releasinghormone (Liberine) Hormone des Hypophysenvorderlappens,
nach ihrer Bildung auf deren Bildung und Freisetzung von den
dem Nervenweg in den Releasinghormonen gesteuert werden
Hypophysenhinterlappen Kurzbez. ausführliche Bez. Kurzbez. ausführliche Bez.
transportiert, dort gespei- TRH Thyreotropin- TSH thyreotropes Hormon
chert und bei Bedarf an Releasinghormon
das Blut abgegeben. CRH Corticotropin- ACTH adrenocorticotropes
a) Adiuretin, antidiuretisches Releasinghormon Hormon
Hormon (ADH) oder GnRH Gonadoliberin FSH und follikelstimulierendes
Vasopressin: LH Hormon
Das ADH erhöht die luteinisierendes
Wasserresorption aus den Hormon
distalen Tubuli der Nie- GH-RH Somatoliberin STH Wachstumshormon
ren in das Blut und ver- PRH Prolactoliberin PRL Prolactin
mindert damit die Harn- MRH Melanoliberin MSH Melanotropin
menge; es ist also an der
Aufrechterhaltung der Inhibitinghormone (Statine) Hormone des Hypophysenvorderlappens,
deren Bildung und Freisetzung von den
Isotonie beteiligt (✑ Inhibitinghormonen gehemmt werden
S. 273). GH-IH Somatostatin STH Wachstumshormon
b) Oxytocin. Das Oxytocin
PIH Prolactostatin PRL Prolactin
erhöht die Spannung der
glatten Muskulatur. MIH Melanostatin MSH Melanotropin
Durch dieses Hormon
wird die Geburt eingeleitet (deshalb der 15.2.2 Hormone des Hypophysenvorderlappens
Name „Wehenhormon“). Nach der Geburt be-
wirkt es die Kontraktion der Milchgänge, so- Im Hypophysenvorderlappen werden glando-
dass die Milchejektion zustande kommt. trope und effektorische Hormone gebildet.

Hormone der Hypophyse 1. Glandotrope Hormone


Die Hypophyse ist ein kleines, bohnenförmiges Gemeinsam mit den Releasinghormonen wird
Organ. nach dem Regelkreisprinzip gewährleistet, dass
Masse: 0,5 bis 1 Gramm, die abzugebende Hormonmenge der Schild-
Lage: Türkensattel des Keilbeins, drüse, Nebennieren und Keimdrüsen den diffe-
Bau: Die Hypophyse besteht aus: renzierten Erfordernissen angepasst wird.
– einem Vorderlappen (= Adenohypo- – Thyrotropin – thyreotropes Hormon (TSH).
physe). Dieser wird von Drüsenge- Stimuliert das Wachstum der Schilddrüse und
webe gebildet; reguliert die Freisetzung von Thyroxin und
– einem Hinterlappen (= Neurohypo- Trijodthyronin.
physe). Er enthält spezifische Neu- – Corticotropin – adrenocorticotropes Hormon
roglia und markscheidenlose Ner- (ACTH). Bewirkt das Wachstum der Neben-
venfasern. nierenrinde und reguliert die Bildung und
Durch den Hypophysenstiel (Infundibulum) ist Freisetzung der Glucocorticoide.
die Hypophyse mit dem Hypothalamus verbun- – Follitropin – follikelstimulierendes Hormon
den. Dieser ist ein Teil des Zwischenhirns (✑ S. (FSH) und luteinisierendes Hormon (LH).
341). Im Bereich des Infundibulums liegt das Beide Hormone werden auch als gonadotrope
hypophysäre Pfortadersystem. Über diese Blut- Hormone bezeichnet. Sie regulieren die Ent-
gefäße gelangen die im Hypothalamus gebilde- wicklung der Keimdrüsen (Gonaden) sowie
ten Releasing- und Inhibitinghormone in den die Bildung und Freisetzung der Sexual-
Hypophysenvorderlappen. hormone (z. B. Östrogen, Progesteron,
Testosteron).
300 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Hemmung Hypothalamus
Hypophysen-
Releasinghormone stiel
Hypophysen-
Hypophysenvorderlappen hinterlappen
Hypophyse
glandotrope Hormone

TSH ACTH FSH LH


thyreotropes adrenocortico- follikelstimulie- luteinisierendes
Hormon tropes Hormon rendes Hormon Hormon

Schilddrüse Nebennierenrinde Eierstöcke

effektorische Hormone

Blut
Hormonkonzentration

Abb. 15.1 Funktion der Hypophyse.

2. Effektorische Hormone – Melanotropin – melanocytenstimulierendes


– Somatotropin – Wachstumshormon (STH). Hormon (MSH). Das MSH beeinflusst die
Wichtige Wirkungen sind die Förderung des Pigmentbildung in der Haut.
Längenwachstums, die Anregung der Protein- – Prolactin (PRL). Das Prolactin löst die Milch-
synthese und Steigerung der Fettoxidation produktion (= Laktation) nach der Geburt aus.
sowie die Beeinflussung des Blutzucker-
spiegels, indem es den Glucoseabbau hemmt. Epiphyse (Epiphysis cerebri) oder Zirbeldrüse
(Glandula pinealis)

P STH-Überschuss hat bei Kindern Riesen- Die 0,1 – 0,2 Gramm wiegende Drüse liegt den
wuchs (Gigantismus) bis 2,50 Meter zur Folge. oberen Hügeln des Mittelhirns an. Sie bildet in
Im Erwachsenenalter entsteht die Akromegalie Abhängigkeit vom Lichtfaktor (mehr Licht
(Wachstum der gipfelnden Körperteile Nase, hemmt) das neurosekretorische Hormon Mela-
Kinn, Zunge, Hände, Füße), da wegen der ge- tonin. Seine Wirkungen beim Menschen sind
schlossenen Epiphysenfugen ein Längen- noch nicht geklärt.
wachstum nicht mehr möglich ist. STH-Mangel Geforscht wird nach folgenden Effekten:
– Hemmung der Freisetzung von FSH und LH
führt zum hypophysären Zwergwuchs (Lilipu-
bis zur Pubertät und damit Verhinderung einer
tismus). Körperproportionen und Intelligenz vorzeitigen Geschlechtsreife.
sind normal entwickelt. – Abstimmung von Körperfunktionen auf Tag-
und Nacht-Rhythmus.
15.3 Periphere Hormondrüsen 301

15.3 Periphere Hormondrüsen, die linken Lappen, die durch eine Brücke (Isthmus)
miteinander verbunden sind. Die beiden Schild-
durch die glandotropen drüsenlappen liegen seitlich der Luftröhre und
Hormone gesteuert werden reichen nach oben bis zum Ringknorpel des
Kehlkopfes, nach hinten bis zur Speiseröhre, der
Zu den Hormondrüsen, die durch glandotrope Isthmus liegt der Trachea vorne auf.
Hormone gesteuert werden, gehören Schild-
drüse, Nebennierenrinde und die Keimdrüsen Außen befindet sich eine Bindegewebskapsel,
(Gonaden). von der kleine Septen in das Drüsengewebe zie-
hen. Dadurch entstehen die Schilddrüsen-
läppchen. Das Drüsengewebe selbst besteht aus
kleinen Bläschen, den Follikeln.
15.3.1 Schilddrüse und die Hormone
Thyroxin (T4) und Trijodthyronin (T3) Die Hormone Thyroxin und Trijodthyronin wer-
den in den Follikelepithelzellen gebildet und in
Die Schilddrüse ist die größte Hormondrüse. Sie den Follikeln gespeichert.
hat eine Masse von 30 – 40 Gramm und liegt in Entscheidend für die Wirkung ist ihr Jodgehalt.
der vorderen Halsregion vor der Luftröhre unter- Neben den Follikelzellen liegen C-Zellen, in
halb des Schildknorpels. Die Schilddrüse (Glan- denen ein Hormon (Calcitonin) gebildet wird,
dula thyreoidea) besteht aus einem rechten und das den Calciumstoffwechsel mit reguliert.

von ventral von dorsal

Zungenbein Rachenwand
(Os hyoideum) von dorsal
Schildknorpel- rechter und linker
Zungenbein- Schilddrüsenlappen
Membran
(Membrana thyrohyoidea) Nebenschilddrüsen
Schildknorpel (Glandula parathyroidea)
(Cartilago thyroidea)

• • rechter und linker


Schilddrüsenlappen
Speiseröhre
(Ösophagus)
Kolloid
Epithel Blutkapillaren
Schilddrüsenenge
(Isthmus glandulae
thyroideae)
Luftröhre
(Trachea)

mikroskopische Struktur der


Schilddrüse

C-Zellen Drüsenfollikel lockeres


Bindegewebe

Schilddrüse (Glandula thyroidea). Abb. 15.2


302 15 Hormonsystem (Endokrines System)


P Krankhafte Vergrößerungen der Schilddrüse • häufiges Schwitzen,
(Struma) können Atem- und Schluckbeschwer- • starkes Herzklopfen,
den hervorrufen. Eine Struma kann mit einer • hervortretende Augäpfel
Über-, Unter- oder normalen Hormonproduk- (Exophthalmus = Glotzauge) und
tion einhergehen. • Abmagerung.
Darüber hinaus gibt es noch andere Ursachen
Hauptsächliche Wirkungen von T4 und T3 für eine Hyperthyreose, z. B. hormonproduzie-
Die von den Follikelzellen produzierten Schild- rende Schilddrüsentumoren.
drüsenhormone Thyroxin (T4) und Trijodthyronin
(T3) werden aus der Aminosäure Tyrosin durch Schilddrüsenunterfunktion (Hypothyreose)
Anreicherung von Jod gebildet. Der Zahl entspre- Ursachen können Jodmangel in der Nahrung,
chend enthält Thyroxin (T4) vier und Trijodthyro- aber auch erblich bedingte Faktoren sein.
nin (T3) drei Jodatome. Thyroxin ist trotz seiner Kennzeichen bzw. Folgen sind u. a.
10fach höheren Konzentration im Blut biolo- • niedriger Stoffumsatz,
gisch nicht so wirksam wie Trijodthyronin. Ein • geistige und körperliche Trägheit,
Großteil von Thyroxin geht nach der Sekretion in • niedriger Blutdruck,
Trijodthyronin über. Beide wirken hauptsächlich • teigiges Aussehen der Haut (Myxödem).
– auf den Stoffwechsel: Die Hormone stimu- Im Kindesalter kann es aufgrund des gehemm-
lieren vor allem den Energiestoffwechsel. Sie ten Stoffwechsels zur unproportionierten
sind gewissermaßen das „Gaspedal“ für den Kleinwüchsigkeit kommen. Meist ist dies mit
Stoffwechsel. geistiger Retardierung verbunden, weil auch
– auf Wachstum und Entwicklung: T4 und T3 die Entwicklung des Nervensystems gestört ist.
fördern die Eiweißsynthese, das Längen-
wachstum der Knochen und die Entwicklung
des Nervensystems.
15.3.2 Nebennieren und ihre Hormone

P Schilddrüsenüberfunktion (Hyperthyreose)
Ein TSH-ähnlicher Stoff regt die Bildung von Die zusammen ca. 10 Gramm schweren paarigen
T4 und T3 wegen der nicht funktionierenden Nebennieren (Glandulae suprarenales) bestehen
negativen Rückkopplung ungehemmt an eigentlich aus 2 Organen, der dreischichtigen
(Basedow-Krankheit). Kennzeichen einer Nebennierenrinde und dem Nebennierenmark.
Schilddrüsenüberfunktion sind u. a. Bei den Wirbeltieren bilden sie ein kompaktes
• erhöhter Energieverbrauch, Organ.

Nebennierenkapsel Nebennierenrinde
(NNR)

äußere Knäuelzone
(Zona glomerulosa)
mittlere Zone, Bündelzone
Zentralvene (Zona fasciculata)
innere Zone, Netzzone
Nebennierenmark (Zona reticularis)
(NNM)

Abb. 15.3 Nebenniere.


15.3 Periphere Hormondrüsen 303

Form und Lage Nebennierenmarkhormone


Die halbmondförmigen Nebennieren liegen je- Im Nebennierenmark werden die Hormone
weils auf dem oberen Pol der Nieren und sind Adrenalin und Noradrenalin gebildet (geschieht
einerseits von deren Fettkapsel umgeben und auch in sympathischen Nervenendungen).
andererseits durch eine dünne Fettschicht von Beide Hormone gehören zu den Katecholaminen.
ihnen getrennt. Die Nebenniere (Glandula supra- Der Wirkungskomplex dieser Hormone (beson-
renalis) besteht aus der außen gelegenen Neben- ders Adrenalin) ergänzt die ergotropen Funk-
nierenrinde und dem innen liegenden Neben- tionen des Sympathicus (= sympathico-adrenales
nierenmark. System), damit erhöht sich der Energieverbrauch
im Körper (✑ S. 368).
Nebennierenrinde und ihre Hormone Im Einzelnen tragen dazu folgende Wirkungen
Unter ACTH-Einfluss werden in den Schichten bei:
der Nebennierenrinde die folgenden Hormone – Beeinflussung des Herz-Kreislauf-Systems
gebildet: • Steigerung des Herzminutenvolumens,
1. Glucocorticoide (Corticosteron, Cortisol) • Erhöhung des peripheren Widerstandes
Sie beeinflussen den Kohlenhydratstoffwech- ⇒ Blutdruckanstieg.
sel, indem sie die Glukoneogenese fördern – Beeinflussung des Stoffwechsels durch Förde-
und den Glucoseabbau hemmen – also blut- rung der Glykogenolyse und Lipolyse
zuckerspiegelsteigernd wirken. ⇒ Erhöhung des Blutzuckerspiegels.


P Wichtige therapeutische Effekte sind: Beispiel:
• Entzündungshemmung Adrenalin bewirkt gleichzeitig eine Erweiterung
(indem sie die Lymphozytenbildung hemmen), (Vasodilatation) der Herzkranzgefäße und Gefäße
• antiallergische Wirkung. der Skelettmuskulatur und Verengung (Vasokon-
Die Überproduktion des Cortisols kann das so striktion) der Arteriolen im Verdauungssystem.
genannte Cushing-Syndrom zur Folge haben Die gegensätzliche Wirkung auf unterschiedliche
mit den typischen Zeichen: Stammfettsucht, Gefäße beruht auf dem unterschiedlichen Besatz
Vollmondgesicht, Muskelschwund, Hypertonie mit verschiedenen Rezeptortypen.
und erhöhter Blutzuckerspiegel.
Merke
2. Mineralcorticoide (wichtigstes = Aldosteron)
Die Katecholamine aus dem Nebennieren-
Das Aldosteron beeinflusst den Elektrolyt-
mark sind hauptsächlich Stoffwechselhormone.
haushalt. Im Tubulusapparat der Nieren för-
dert es die Rückresorption von Na+, „zwangs-
weise“ muss passiv Wasser folgen. Stress
Das Plasmavolumen wird erhöht und die Eine ganze Reihe von Reizen, wie starke Kälte-
Urinmenge vermindert. Gleichzeitig werden und Hitzebelastung, Infektionen, Atemnot,
K+- und H+-Ausscheidung gefördert, sodass Unterzuckerung, Operationen, Verletzungen,
der pH-Wert des Urins sinkt (✑ S. 274). Ärger, Leistungsdruck und auch Freude können
den Körper in einen sog. Stresszustand

P Eine aus unterschiedlichen Gründen hervor- (= Belastungs-, Spannungszustand) versetzen.
gerufene Unterfunktion der Nebennierenrinde, Deshalb nennt man solche Reize Stressoren.
bei der besonders ein Aldosteronmangel vor- In einem derartigen Zustand werden alle hormo-
herrscht, bezeichnet man als Addison'sche nellen und vegetativen Funktionen vom Hypo-
Krankheit. thalamus so gesteuert, dass es zu Alarmreak-
tionen der Körpers kommt.
Hormon wird gebildet in Dies sind Reaktionen, die ihn optimal auf eine
kurz andauernde körperliche Hochleistung ein-
Aldosteron Zona glomerulosa stellen. In einer solchen Situation kommt es über
Cortisol und Zona fasciculata und eine erhöhte Sympathicusaktivität zur verstärk-
Corticosteron reticularis ten Ausschüttung von Adrenalin und Noradrena-
Androgene Zona reticularis lin, die ihrerseits ACTH-Freisetzung und damit
304 15 Hormonsystem (Endokrines System)

auch die Glucocorticoide erhöhen. Adrenalin, 15.3.3 Keimdrüsen, Sexualhormone und


Noradrenalin und Glucocorticoide sorgen für Menstruationszyklus
eine optimale Durchblutung jener Organe, die
für eine körperliche Höchstleistung in erster Die zu den Steroiden gehörenden Sexualhormone
Linie verantwortlich sind, allerdings auf Kosten werden hauptsächlich in den Keimdrüsen
einer geringeren Durchblutung anderer nicht (Gonaden) gebildet und in 3 Gruppen eingeteilt:
unmittelbar beteiligter Organe.
Im Einzelnen sind es folgende Vorgänge, die Haupt- Bildungsort
eine Stresssituation kennzeichnen: vertreter
– Erhöhung des Herz- und Atemminutenvolu- Östrogene Östradiol Ovar,
mens verbunden mit einer Erweiterung der Placenta, Hoden.
Bronchien,
– optimale Durchblutung von Skelett- und Herz- Gestagene Progesteron Ovar, Placenta,
muskulatur sowie der Lunge bei gleichzeitiger Hoden.
Durchblutungsverminderung der inneren Or-
gane (z. B. Verdauungsorgane) und Haut, Androgene Testosteron Hoden, Ovar,
– Förderung der Glucosebildung bei gleichzeiti- Nebennierenrinde.
ger Hemmung der Insulinfreisetzung und
dadurch Erhöhung des Blutglucosespiegels,
– vermehrte Schweißsekretion, Hauptsächliche Wirkungen
– Pupillenerweiterung und schließlich Die Sexualhormone steuern
– Herabsetzung der Schmerzschwelle. 1. die embryonale Geschlechtsdifferenzierung;

Folgt auf diese Alarmreaktionen wirklich die ❑


P Störungen der Hormonproduktion im Embryo
körperliche Belastung, sind diese physiologisch können zu Pseudohermaphroditismus (Zwitter-
sinnvoll. Nur wenn solche Alarmreaktionen über bildung) führen.
einen längeren Zeitraum immer und immer wie-
der vergeblich (also ohne unmittelbar folgende 2. die pubertäre Entwicklung und die Ausbil-
körperliche Belastung) in Gang gesetzt werden, dung der sekundären Geschlechtsmerkmale.
können gesundheitliche Schäden auftreten (sog. Dazu gehören:
negativer Stress). So begünstigt ein ständig zu • Wachstum und Reifung der Geschlechts-
hoher Blutglucosespiegel die Entstehung einer organe bis zu ihrer Funktionstüchtigkeit.
generalisierten Arteriosklerose und deren Folge- • Ausbildung der Schambehaarung.
krankheiten. • Herausbildung des typischen Körperbaus
mit der geschlechtsspezifischen Fettvertei-
Merke lung sowie Hüft- und Schulterbreite.
Adrenalin, Noradrenalin und Glucocorticoide • Ausbildung der weiblichen Brustdrüsen;
werden auch als „Stresshormone“ bezeichnet, 3. den zyklischen Auf- und Abbau der Uterus-
und man muss „positiven“ und „negativen“ schleimhaut;
Stress unterscheiden. 4. Schwangerschaft und Geburt;
5. bzw. beeinflussen das Sexualverhalten, z. B.
Entwicklung der Libido (= Bedürfnis
Zusammenwirken der den nach sexueller Betätigung);
Tab. 15.6 Menstruationszyklus steuernden Hormone. 6. das Knochenwachstum.
Releasinghormon ➧ Hypothalamus ❑
P Bei Mangel an Sexualhormonen
negative kann durch ausbleibende Verknöche-
Rück- FSH LH ➧ Hypophysen- rung der Epiphysenfugen ein hypogo-
kopplung vorderlappen nadaler Riesenwuchs auftreten, weil
das Wachstumshormon weiter wirkt.
Östrogen Progesteron ➧ Eierstock
15.3 Periphere Hormondrüsen 305

Der Menstruationszyklus und seine hormonelle Merke


Steuerung
Der Menstruationszyklus beginnt mit dem l. Tag Die Proliferationsphase wird effektorisch
der Regelblutung und erstreckt sich regulär über hauptsächlich durch Östrogen gesteuert.
28 Tage ( 3 Tage). Parallel dazu sind die zykli-
schen Vorgänge im Eierstock und Uterus zu ❑
P Die Bildung und Freisetzung des Releasing-
berücksichtigen. hormons wird nicht nur durch negative Rück-
kopplung gesteuert, sondern auch durch über-
Ablauf des Menstruationszyklus, wenn keine geordnete Zentren im ZNS. Dadurch kann der
Befruchtung stattfindet Menstruationszyklus durch zahlreiche Faktoren,
Jeder Zyklus verläuft in folgenden 3 Phasen: nicht zuletzt psychisch, beeinflusst werden.
1. Phase: Menstruation (1. bis 4. Tag)
In dieser Phase wird die Functionalis (Funk- Follikelsprung (Ovulation)
tionsschicht) der Uterusschleimhaut abge- Am Ende der Proliferationsphase, um den
stoßen. Damit ist die Regelblutung verbun- 14. Tag, erfolgt die Ovulation. Der reife
den (Blutverlust ca. 20 bis 60 ml). Graaf’sche Follikel platzt, und die Eizelle wird
2. Phase: Proliferationsphase (5. bis 14. Tag) vom Eileiter aufgenommen.
Durch zahlreiche Zellteilungen in der Basalis
wird die Funktionalis wieder aufgebaut und Steuerung
auf eine Schwangerschaft vorbereitet. Ebenfalls angeregt durch das Releasinghormon
kommt es in der Zyklusmitte zu einem steilen
Steuerung LH-Anstieg. Dieser bewirkt die Ovulation sowie
Angeregt durch das Releasinghormon kommt es die Umwandlung des Follikels in den Gelbkör-
zu einem FSH-Anstieg. Das FSH bewirkt, dass per (Corpus luteum menstruationis), der vor
ein Follikel heranreift. Dieser produziert zuneh- allem Progesteron bildet. Das Hormon ist an der
mend mehr Östrogen, unter dessen Wirkung der Regulation fast aller Vorgänge der weiblichen
Aufbau der Uterusschleimhaut erfolgt. Reproduktion beteiligt (z. B. Befruchtung, Nida-
Die Östrogensekretion wird durch das Mi- tion, Bildung der Drüsensekrete in der Eileiter-,
schungsverhältnis von FSH und LH bestimmt. Uterus- und Vaginalschleimhaut u. a. m.).

Eileiter Gelbkörperbildung
Follikelstadien und -rückbildung
Vorgänge
im
Eierstock

Schleimhaut
(Endometrium)
Follikelsprung
(Ovulation)
Funktions-
schicht
(Functionalis)

Vorgänge
Basalschicht in der
(Basalis) Gebär-
mutter
Muskelschicht
(Myometrium) 28 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 1

Menstruation Proliferationsphase Sekretionsphase

Menstruationszyklus (ohne Befruchtung). Abb. 15.4


306 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Der LH-Gipfel ist die unmittelbare Ursache des Steuerung


Follikelsprungs. Zwischen beiden verstreicht Der Gelbkörper (hier: Corpus luteum gravidita-
eine Latenzzeit von 24 – 36 Stunden. tis) bildet zunehmend Progesteron. Der Anstieg
des Progesterons reguliert die Vorgänge im

P Ovulationshemmung: Werden zu Zyklusbe- Uterus während der Sekretionsphase.
ginn Östrogene und Gestagene (beides in der
Antibabypille enthalten) zugeführt, wird infol- Merke
ge der negativen Rückkopplung der LH-Gipfel Die Sekretionsphase wird effektorisch haupt-
und damit die Ovulation gehemmt. sächlich durch Progesteron gesteuert.
3. Phase: Sekretionsphase (15. bis 28. Tag)
Blutgefäße und Drüsen der Functionalis wer- ❑
P Der hohe Progesteronspiegel in der 2. Zyk-
den reichlicher. Dies dient der unmittelbaren lushälfte führt zu einem Anstieg der Körper-
Vorbereitung für die Einnistung (Nidation) temperatur um 0,5 °C. Dies kann (z. B. zum
des Keimes. Zwecke einer Schwangerschaftsverhütung)
durch Messung bestätigt werden.

GnRH Hypothalamus
Gonadoliberin
negative Rückkopplung

negative Rückkopplung
follikelstimulierendes luteinisierendes Hypophysen-
Hormon Hormon vorderlappen
(FSH) (LH)

Gelbkörperbildung
Follikelreifung und Gelbkörperrückbildung

Ovar

Follikel Eizelle Eileiter Gelbkörper

Östrogen Progesteron

Gebärmutter-
schleimhaut
(Endometrium)

Uterus

28 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 1
regt an
Menstruation Proliferationsphase Sekretionsphase hemmt

Abb. 15.5 Hormonelle Regulation des Menstruationszyklus.


15.4 Periphere Hormondrüsen 307

Ein steiler Abfall der Sexualhormone am Ende 15.4 Periphere Hormondrüsen, die
der Sekretionsphase löst die nächste Menstrua-
tionsblutung aus.
nicht durch die glandotropen
Hormone gesteuert werden
Merke
Die Regulation der infrage kommenden Hormon-
Die Menstruationsblutung steht nicht mit der drüsen und deren Hormone erfolgt in erster
Ovulation im Zusammenhang. Linie durch die Veränderungen der von ihnen
konstant zu haltenden Stoffkonzentrationen
Hormonelle Steuerung der Schwangerschaft (z. B. Glucose, Calcium, Natrium) im Körper. So
Erfolgt eine Kopulation in der Zeit um die Ovu- führt eine Erhöhung oder Verminderung des
lation, kann eine Befruchtung stattfinden und Blutzucker- oder Blutcalciumspiegels zu einer
damit eine Schwangerschaft eintreten. Ist dies unmittelbaren Stimulierung der Hormonsekre-
der Fall, nistet sich am 7. Tag nach der Befruch- tion. Eine Steigerung der Aldosteronsekretion
tung die Morula in die Uterusschleimhaut ein. wiederum kann durch eine Verminderung des
Nun bildet der Trophoblast (= Hüllzellen, die der Plasmavolumens erreicht werden.
Ernährung dienen) 2 Hormone: HCG (Chorion-
gonadotropin) und HPL (Human Placental
Lactogen). Diese Hormone bewirken, dass der Gelb- 15.4.1 Pankreashormone und
körper zunächst erhalten bleibt. Außerdem regen Blutzuckerregulation
sie ihn zur verstärkten Progesteronproduktion an.
Die in den Langerhans’schen Inseln gebildeten
Die Aufrechterhaltung des hohen Progesteron- Hormone Insulin und Glukagon beeinflussen
spiegels verhindert die Abstoßung der Uterus- den Blutglucosespiegel.
schleimhaut. Gegen Ende des 1. Schwanger-
schaftsmonats produziert der entstandene Mutter- Insulin wirkt als einziges Hormon blutzucker-
kuchen (Placenta) jene Mengen von Progesteron spiegelsenkend, indem es
und Östrogen, die für die Erhaltung der Schwan- – die Glucosepermeabilität der Zellmembranen
gerschaft notwendig sind. Der Gelbkörper (Cor- erhöht, sodass Glucose verstärkt in die Zellen
pus luteum) bildet sich nun zurück (✑ S. 289). gelangen und verbraucht werden kann,
– die Umwandlung von Glucose in Glykogen
sowie die Eiweiß- und Fettbildung aus Koh-
lenhydraten fördert,
– die Glukoneogenese hemmt.

Regulation des Blutzuckerspiegels. Tab. 15.7

Hypothalamus
kontrolliert

Wachstums-
Insulin Glukagon Adrenalin
hormon

Senkung Steigerung

Blutzucker

glucoseliefernde Prozesse glucoseverbrauchende Prozesse


(z. B. Kohlenhydrataufnahme mit der Nahrung) (z. B. biologische Oxidation)
308 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Glukagon wirkt blutzuckerspiegelsteigernd durch: Die Zuckerkrankheit (Diabetes mellitus) ist eine
– Steigerung der Glykogenolyse (Umwandlung Störung insbesondere des Kohlenhydratstoff-
von Glykogen in Glucose) in der Leber, wechsels durch relativen oder absoluten Insulin-
– Förderung der Glukoneogenese (Neubildung mangel.
von Glucose) und des Fettabbaus. Die wichtigsten Formen sind der Typ-I-Diabetes
(10 %), der meist in der Jugend beginnt und

P Insulinmangel führt zur Zuckerkrankheit insulinabhängig ist, und der Diabetes vom Typ II
(Diabetes mellitus). Dabei kommt es zum An- (90 %), der oft nach dem 40. Lebensjahr auftritt
stieg des Blutzuckerspiegels (Hyperglykämie) und nicht unbedingt Insulinspritzen benötigt.
und infolgedessen zur Ausscheidung des
Zuckers im Urin (Glucosurie) bei gleichzeiti- Hauptursache beim Typ II ist eine genetisch be-
ger Erhöhung der Urinmenge (Polyurie). dingte Störung am Insulinrezeptor der Zellen,
Außerdem kommt es durch den verstärkten sodass die Glucose nicht in die Zellen gelangt.
Fettsäureabbau (um Glucose zu sparen) Folge:
zwangsläufig zu einer erhöhten Ketonkörper- Zuckermangel in den Körperzellen und Zucker-
synthese (Acetessigsäure -Hydroxybutter- überschuss im Blut.
säure, Aceton). Diese Säuren im Blut bedingen
eine metabolische Azidose, die in den Zustand Häufig auftretende Symptome der schweren
tiefer Bewusstloskeit (Coma diabeticum) Zuckerkrankheit sind großer Durst, Polyurie
führen kann. (= krankhafte Vermehrung der Harnmenge),
trockene juckende Haut und Leistungsschwäche.
Regulation des Blutzuckerspiegels In vielen Fällen kann durch sorgfältige Ab-
Der normale Nüchternwert des Blutzuckers liegt stimmung der Ernährung und körperlichen Akti-
zwischen 4,4 – 6,6 mmol/l = 80 – 100 (als Grenz- vität der Blutglucosespiegel ohne Medikamente
wert bis 120) mg/dl. Da Abweichungen von der im Normbereich gehalten werden.
Norm zu schwerwiegenden Erkrankungen Gefürchtete Komplikationen der Zuckerkrank-
führen, gehört die Konstanthaltung des Blut- heit sind:
glucosespiegels zu den wichtigsten Regula- – Blutzuckerentgleisungen (Hyper- und Hypo-
tionsaufgaben des Hormonsystems. Die wech- glykämie, die ins Koma übergehen können)
selnde Aufnahme von Kohlenhydraten mit der und die
Nahrung und die unterschiedliche körperliche – diabetischen Spätfolgen wie Arteriosklerose,
Belastung und folglich auch unterschiedliche erhöhte Infektanfälligkeit, schlechte Wund-
biologische Oxidationsrate verändern ständig heilung, Erblindung, Nierenversagen und
den Blutglucosespiegel. Neuropathien.
Ein wichtiger Risikofaktor für die Krankheits-
Ein Anstieg des Blutzuckerspiegels wird von entstehung (Typ II) ist das Übergewicht.
Glucoserezeptoren im Pankreas registriert. Dar-
aufhin wird verstärkt Insulin freigesetzt, bis sich
der Blutzuckerspiegel wieder normalisiert hat. 15.4.2 Hormonelle Regulation des
Mineralhaushaltes (Überblick)
Ein Abfall des Blutzuckerspiegels wird von Glu-
coserezeptoren (sog. Glukostate) im Hypothala- Die Regulation des Mineralhaushaltes erfolgt
mus registriert. Zur Normalisierung werden durch mehrere Hormone, die in verschiedenen
3 Antagonisten des Insulins vermehrt freigesetzt: Hormondrüsen gebildet werden.
Glukagon, Adrenalin und Wachstumshormon. Man unterschiedet 2 Gruppen:

P Da der Blutglucosespiegel von mehreren 1. Hormone zur Regulation der Natrium-,
Hormonen beeinflusst wird, können Verände- Kalium- und Wasserkonzentration
rungen Rückschlüsse auf den Hormonhaushalt Die Regulation erfolgt durch Aldosteron im
des Körpers geben. Deshalb kommt der Mes- Zusammenwirken mit Renin und Angiotensin
sung des Blutzuckergehaltes große Bedeutung (✑ S. 204 und 274). Dabei wird der Wasserhaus-
zu. halt zwangsläufig mit beeinflusst.
15.4 Periphere Hormonsdrüsen 309

2. Hormone zur Regulation des Calciumhaus- • die Calciumresorption aus dem Darm,
haltes • die Calciumein- bzw. -auslagerung im Kno-
Die Regulation umfasst: chensystem,
• die Konstanthaltung des Blutcalciumspiegels, • die Calciumausscheidung durch die Niere.

Hormone zur Regulation des Calciumhaushaltes. Tab. 15.8


Hormon Bildungsort Wirkung

Parathormon Nebenschilddrüse Steigert Blutcalciumspiegel durch:


(Epithelkörperchen). – Förderung der Ca2+-Resorption aus dem
Die 4 erbsengroßen Darm,
Körperchen liegen an – Herauslösung von Ca2+ aus dem Knochen,
der hinteren Fläche – verstärkte Ca2+-Rückresorption in der Niere.
des rechten und linken
Schilddrüsenlappens
(s. Abb. 15.2, S. 301).
Calcitonin Schilddrüse Senkt Blutcalciumspiegel durch:
(s. S. 301). – Hemmung der Ca2+-Freisetzung aus dem
Knochen,
– Förderung der Ca2+-Ausscheidung.
Vitamin-D3-Hormon In Leber und Niere aus Steigert Blutcalciumspiegel durch:
(Cholecalciferol) Vitamin D. – Förderung der Ca2+-Resorption aus dem
Darm.
Senkt Blutcalciumspiegel durch:
– Förderung der Einlagerung von Ca2+ in die
Knochen.
310 15 Hormonsystem (Endokrines System)

Fragen zur Wiederholung

l. Nennen Sie die Hormondrüsen und beschreiben Sie ihre Lage.


2. Welche allgemeinen Funktionen erfüllen die Hormone?
3. Erläutern Sie den Begriff „Hormon“.
4. Nehmen Sie eine Einteilung der Hormone vor.
Welche Schwierigkeiten treten dabei auf?
5. Begründen Sie, warum Hormondrüsen reich kapillarisiert sind.
6. Nennen und erläutern Sie die Hauptteile des hormonellen Regulationssystems.
7. Erläutern Sie das Zusammenwirken von Releasing-/Inhibitinghormonen, glandotropen
und effektorischen Hormonen.
8. Erklären Sie das Prinzip der negativen Rückkopplung.
9. Was sind Hormonrezeptoren und welche Bedeutung haben sie?
10. Erklären Sie die Wirkungsweise von Hormonen.
11. Nennen Sie die Hormone der Adenohypophyse und beschreiben Sie deren Wirkungen.
12. Welche hauptsächlichen Wirkungen haben T4 und T3?
Nennen und begründen Sie einige Symptome
a) einer Schilddrüsenüberfunktion,
b) einer Schilddrüsenunterfunktion.
13. Unterscheiden Sie Nebennierenmark- und -rindenhormone.
Nennen Sie einige Wirkungen!
14. Was versteht man unter Stress?
Diskutieren Sie Möglichkeiten, negativem Stress entgegenzuwirken.
15. Nehmen Sie eine Einteilung der Sexualhormone vor, und nennen Sie deren hauptsächliche
Wirkungen.
16. Beschreiben Sie die Regulation des Blutzuckerspiegels.
17. Beschreiben Sie die hormonelle Regulation des Menstruationszyklus.
18. Wie erfolgt die hormonelle Steuerung der Schwangerschaft?
19. Erklären Sie folgende Begriffe:
a) Diabetes mellitus,
b) Hyperglykämie,
c) Glucosurie,
d) Polyurie,
e) Coma diabeticum.
20. Geben Sie einen Überblick über die Regulation des Mineralhaushaltes.
311

16 Sinnessystem

Die Koordinationsfunktion des Nervensystems Physiologische Definition


setzt unter anderem die ständige Aufnahme von Zelluläre Rezeptoren sind Zellen, in denen durch
Informationen sowohl aus der Umwelt des einen Reiz Generatorpotentiale (GP) und in der
Menschen als auch von den Organen selbst vor- Folge Aktionspotentiale (AP) ausgelöst werden.
aus. Die Träger dieser Informationen sind Reize, Die AP werden über sensible Nervenzellen in
die Empfangs- oder Aufnahmestrukturen sind des Zentralnervensystem geleitet (✑ Abb. 16.1).
Sinnes- oder Nervenzellen, die als Rezeptoren Die Rezeptoren sind entweder über die Körper-
bezeichnet werden. oberfläche (Hautsinneszellen) oder im Körper-
inneren (z. B. Drucksinneszellen) verstreut bzw.
Reiz in Sinnesorganen (z. B. Auge) mit anderen Zel-
Ein Reiz ist ein Ereignis (= energetische Ver- len zusammengefasst.
änderung) in der Umgebung lebender Systeme,
das eine Erregung auslöst. Reize treffen in unter- Einteilung der Rezeptoren nach dem Bau
schiedlichen Energieformen auf den Körper. Sie – Freie Nervenendungen:
können nach verschiedenen Gesichtspunkten (Schmerz- und Temperaturempfindung),
eingeteilt werden, z. B. – primäre Sinneszellen:
– nach der Art ihrer Einwirkung: mechanische, modifizierte, bipolare Nervenzellen (Licht-
thermische, chemische, optische und akustische sinneszellen, Riechzellen),
Reize; – sekundäre Sinneszellen:
– nach ihrer Herkunft: exterozeptive (aus der von Nervenfasern umgeben, an die sie die Er-
Umwelt kommende) und interozeptive (aus regung weiterleiten (Hör-, Gleichgewichts- und
den Organen kommende) Reize. Geschmackssinneszellen).
Einteilung der Rezeptoren nach Funktion
Rezeptor – Exterozeptoren:
Im Allgemeinen sind Rezeptoren Messfühler Nehmen Reize aus der Umwelt auf (Sehen,
oder -glieder, die bei Reizeinwirkung eine Reak- Hören, Temperatur, Druck),
tion auslösen. Dies kann sowohl auf molekularer – Enterozeptoren:
als auch zellulärer Ebene geschehen. Dement- Nehmen Reize aus den Eingeweiden auf (Deh-
sprechend ist eine biochemische Definition für nung von Hohlorganen, Blutdruck, pH-Wert,
molekulare (✑ S. 297) und eine physiologische osmotischer Druck),
für zelluläre Rezeptoren notwendig.

adäquater Verbiegung der Hörzentrum der ZNS


über- Sinneshärchen Endhirnrinde Hörzentrum
schwelliger
Reiz
Hörsinneszellen Analyse

Schallwellen
GP
akustische
AP Wahr-
nehmung
bipolare Nervenzellen

Informationsaustausch – Beispiel Hören. Abb. 16.1


312 16 Sinnessystem

– Propriozeptoren: Warmpunkte an verschiedenen Stellen des Kör-


Nehmen Reize von den Muskeln auf (Dehnung, pers unterschiedlich ausgeprägt. Besonders gut
Spannung). mit Rezeptoren ausgestattet sind Lippen, Zunge
und Fingerspitzen.
Adäquater Reiz und Reizschwelle
Rezeptoren sind normalerweise auf eine be- Tast- und Temperatursinn. Tab. 16.1
stimmte Reizart spezialisiert, z. B. Lichtsinnes-
Sinn Rezeptoren adäquater Reiz
zellen auf optische, Geruchssinneszellen auf
chemische Reize. Diese Reizart wird als adäqua- Tastsinn: Meißner’sche Tast-
ter Reiz bezeichnet. Für den adäquaten Reiz körperchen,
besitzt der Rezeptor die niedrigste Reizschwelle. Haarwurzelrezep-
toren Berührung
Unter Reizschwelle versteht man die Mindest-
intensität eines Reizes, um eine Rezeptorzelle zu Merkel-Zellen
erregen. Ruffini-Körperchen Druck
Vater-Pacini’sche
Informationsaufnahme Lamellenkörperchen Vibration
Zur Aufnahme einer Information sind notwendig: Tempe- Kaltrezeptoren
– ein überschwelliger Reiz, ratursinn: (unter 36 °C),
– intakte Sinneszellen, Warmrezeptoren Temperatur-
– intakte Leitungsbahn (= sensible Nervenzellen), (über 36 °C) veränderungen
– intaktes ZNS (= Analysator).

P Für das Heranwachsen von Säuglingen und
Vorgänge (vereinfacht) Kleinkindern ist Körperkontakt besonders
– Der überschwellige Reiz führt zur Entstehung wichtig. Dies gilt auch für viele schwer kranke
eines Rezeptor- bzw. Generatorpotentials. Patienten.
– Wird ein bestimmter Schwellenwert des Rezep-
torpotentials erreicht, kommt es zur Auslösung
Tiefensensibilität
von Aktionspotentialen, die durch sensible
(Propriorezeption, kinästhetische Sensibilität)
Nervenzellen in das zugehörige Verarbeitungs-
Unter Tiefensensibilität verstehen wir die Fähig-
zentrum im Gehirn weitergeleitet und ver-
keit, Informationen aus dem Körperinneren zu
arbeitet werden.
erhalten.
Als Qualitäten der Tiefensensibilität gelten
Merke – Stellungssinn: Ohne visuelle Hilfe können wir
Die Sinnesfunktion ist eine wichtige Voraus- sagen, in welcher Stellung (Winkelstellung)
setzung für den Erwerb von Kenntnissen. Sie bzw. Lage sich die einzelnen Extremitäten-
liefert die ursprüngliche Information für die abschnitte befinden;
subjektive Verarbeitung im Gehirn. – Bewegungssinn: die Fähigkeit, auch ohne
visuelle Kontrolle Geschwindigkeit und Rich-
tung einer aktiven oder passiven Bewegung
wahrzunehmen;
– Kraftsinn: Er ermöglicht, die unterschiedlich
16.1 Oberflächen- und notwendigen Muskelkräfte einzuschätzen, die
Tiefensensibilität z. B. beim Heben von Gegenständen verschie-
denen Gewichts angewendet werden müssen.
Oberflächensensibilität Man spricht auch vom Kraftunterscheidungs-
Die Oberflächensensibilität umfasst die Sinnes- vermögen;
bereiche der Haut: Tastsinn (Druck, Berührung,
Vibration) und Temperatursinn (✑ S. 81). Die Rezeptoren befinden sich in den Muskeln
Tast- und Temperatursinn sind wegen der un- (= Muskelspindeln), den Sehnen (= Sehnenspin-
gleichmäßigen Verteilung der ca. 500.000 Druck- deln) und den Gelenkkapseln (Gelenkrezeptoren).
punkte bzw. ca. 250.000 Kalt- und ca. 30.000
16.2 Chemische Sinne 313

Sonstige viscerale Rezeptoren Von übertragenem Schmerz spricht man, wenn


Diese Rezeptoren überwachen in den Eingeweideschmerzen an bestimmten Stellen der
Eingeweiden wichtige Regulationsgrößen des Körperoberfläche empfunden werden (✑ S. 370).
Stoffwechsels. Im Einzelnen handelt es sich um
Chemo-, Osmo- und Pressorezeptoren sowie ❑
P Analgetika (z. B. Morphin) sind Substanzen,
Dehnungsrezeptoren in der Lunge und in den die Schmerzen unterdrücken.
Wänden von Hohlorganen.

Merke
16.2 Chemische Sinne
Die Sinne der Oberflächen- und Tiefensensibi- (Geschmack und Geruch)
lität ermöglichen zusammen mit dem Gleich-
gewichtssinn die Regulation der Körperhal- Zu den chemischen Sinnen gehören Geschmacks-
tung und die Ausführung von sensiblen und Geruchssinn. Ihre Bedeutung liegt im
Bewegungsprogrammen, indem sie entspre- Wahrnehmen von Umwelteinflüssen, die ihrer-
chende Reflexhandlungen auslösen. seits lebenswichtige Nahrungsreflexe auslösen,
das Wohlbefinden des Menschen entscheidend
Schmerz mitbestimmen und ihn vor schädigenden Ein-
Akuter Schmerz ist ein lebensnotwendiges wirkungen schützen.
Warnsignal mit Schutzfunktion. Als Schmerz-
rezeptoren kommen in fast allen Körpergeweben Konkrete Aufgaben sind:
freie Nervenendungen infrage. Diese reagieren – Nahrungskontrolle,
auf bestimmte chemische Stoffe (z. B. Histamin, – Auslösung der Speichel- und Magensaft-
Serotonin, Wasserstoffionen ab pH 6), die bei sekretion,
– Beeinflussung des Sexualverhaltens und der
Schädigung von Geweben freigesetzt werden.
allgemeinen Affektlage (Lust, Unlust),
Ursache für die Bildung dieser Stoffe sind
– soziale Information („jemanden nicht riechen
mechanische, chemische oder thermische Reize können“).
(die eine bestimmte Intensität überschreiten),
aber auch krankhafte Veränderungen (z. B. Geschmackssinn
Entzündungen). Die durch Schmerzreize aus- Die zahlreiche Mikrovilli tragenden sekundären
gelösten Aktionspotentiale werden durch sensi- Geschmackssinneszellen bilden ca. 4.000 Ge-
ble Neurone in das entsprechende Verarbeitungs- schmacksknospen, die in den Zungenpapillen
zentrum der Großhirnrinde geleitet. Hier wird liegen (✑ S. 237). Die Geschmacksstoffe der
der Schmerz bewusst wahrgenommen. Nahrung lagern sich nach ihrer Lösung an die
Zellmembranen der Geschmacksrezeptoren und

P Schmerzrezeptoren adaptieren nicht (Bei- erzeugen Aktionspotentiale. Diese werden über
spiel: stundenlange Kopfschmerzen). afferente Nervenfasern, die sich in den Hirn-
nerven VII, IX und X (✑ S. 356) befinden, ins
Schmerzqualitäten Zentralnervensystem geleitet.
Oberflächenschmerz: Kommt von der Haut und Es können 4 Grundqualitäten des Geschmacks
läßt sich differenzieren in unterschieden werden: süß, salzig, sauer, bitter.
– einen hellen 1. Schmerz, der vorwiegend
Fluchtreflexe auslöst, sowie Geruchssinn
– einen nachfolgenden dumpfen 2. Schmerz, Die bipolaren primären Geruchsrezeptoren sind
der vor allem zu Schonhaltungen führt. im Riechfeld (Regio olfactoria) der Nase lokali-
Tiefenschmerz: dumpfer Schmerz, z. B. Kopf-, siert und von Stützzellen umgeben. Ihre Riech-
Muskel-, Gelenk-, Bindegewebsschmerzen. härchen sind in Schleim eingebettet. Die mit
Eingeweideschmerz: dumpfer Schmerz, der z. B. dem Luftstrom antkommenden Riechstoffe
auftritt bei Mangeldurchblutungen, starker Deh- (= organische Substanzen) reichern sich in der
nung von Hohlorganen oder Spasmen (Menstrua- Zellmembran an und lösen Generator- und
tionsschmerz). Aktionspotentiale aus, die über den Riechnerven
(N. olfactorius) zum ZNS geleitet werden.
314 16 Sinnessystem

Geschmacksknospe Geschmacksempfindungen auf der Zunge

Speichel mit
Geschmacksstoffen

Geschmacks-
rezeptoren süß sauer

afferente
Nervenfasern

salzig bitter

Abb. 16.2 Geschmackssinn – Zungenpapillen.

Riechzentrum
Riechbahn
Riechnerv afferente Nervenfasern
(N. olfactorius)

Geruchs- Stützzelle
rezeptoren

Riechfeld
(Regio olfactoria)

Schleim
Riechfäden
(Fila olfactoria)
vereinigen sich zum Luft mit Duftstoffen
Riechnerven

Abb. 16.3 Geruchssinn.

Merke ❑
P Mit zunehmendem Alter nimmt die Leis-
Gewöhnlich überlagern sich Geruchs- und tungsfähigkeit der chemischen Sinne ab.
Geschmacksempfindungen zu Mischempfin- Bestimmte Krankheiten und Rauchen beein-
dungen. Im Vergleich zu anderen Sinnen trächtigen diese ebenfalls.
zeigen sie eine besonders ausgeprägte
Adaptation.
16.3 Hör- und Gleichgewichtssinn 315

16.3 Hör- und Gleichgewichtssinn Mittelohr


Hinter dem Trommelfell liegt die Paukenhöhle,
Hör- und Gleichgewichtsorgan liegen im Ohr. ein luftgefüllter Hohlraum mit der Gehörknöchel-
Das Ohr befindet sich im Felsenbein, einem Teil chenkette, bestehend aus:
des Schläfenbeins. Die beiden Sinne vermitteln • Hammer – mit Handgriff am Trommelfell
Schall-, Lage- sowie Bewegungsempfindungen. verwachsen,
Die Sinneszellen besitzen haarartige Fortsätze • Amboss – gelenkig mit Hammer und Steig-
(Cilien) und werden deshalb auch Haarsinnes- bügel verbunden,
zellen genannt. • Steigbügel – passt sich mit seiner Fußplatte
dem ovalen Fenster (= Grenze zum Innenohr)
Gliederung des Ohres an.
Das Ohr wird in 3 Abschnitte gegliedert.
Die Paukenhöhle ist durch die Ohrtrompete
Äußeres Ohr (Tuba auditiva) mit dem Nasenrachen verbun-
Zum äußeren Ohr gehören Ohrmuschel und den. Bei jedem Schluckvorgang wird die
äußerer Gehörgang, der am Trommelfell endet. Ohrtrompete kurz geöffnet, damit der Druck
Das Trommelfell ist eine etwa kreisförmige bin- zwischen Mittelohr und Außenwelt ausgeglichen
degewebige Membran mit einem Durchmesser wird.
von ca. 1 Zentimeter.

Bogengänge Trommelfell
(Membrana tympani)
Ohrmuschel
Schnecke (Auricula)
(Cochlea)
äußerer Gehörgang
Hör- und Gleich- (Meatus acusticus
gewichtsnerv externus)
(N. vestibulocochlearis)
Paukenhöhle
(Cavitas tympanica)
Ohrtrompete
(Tuba auditiva)

Bogengänge
ovales Fenster
Schnecke Vorhof
(Cochlea)
Steigbügel Hammer
(Stapes) (Malleus)
mit Handgriff
Amboss
(Incus) äußerer
Gehörgang
Trommelfell (Meatus acusticus
(Membrana tympani) externus)

Abschnitte des Ohres. Abb. 16.4


316 16 Sinnessystem


P Schleimhautschwellungen bei Nasen-Ra- lymphe als schützendes Flüssigkeitspolster.
chen-Infekten können den Druckausgleich ver- – Flüssigkeitsraum innerhalb des häutigen Laby-
hindern und somit vorübergehend das Hören rinths mit der Endolymphe, die das jeweilige
beeinträchtigen. Sinnesepithel umspült.

Innenohr (= Labyrinth)
Das Innenohr wird von einem knöchernen 16.3.1 Gleichgewichtssinn
Kanalsystem, dem knöchernen Labyrinth, ge-
bildet. Der Gleichgewichtssinn löst wichtige Reflexe
Im knöchernen Labyrinth befindet sich, von zur Gleichgewichtserhaltung des Körpers aus.
Perilymphe (s. u.) getrennt, ein analoges häutiges
Kanalsystem, das häutige Labyrinth. Es enthält Gliederung
die Sinneszellen des Hör- und Gleichgewichts- Das Gleichgewichtsorgan (Vestibularorgan) ist
organs. gemeinsam mit dem Hörorgan im Innenohr
Das Innenohr (knöchernes und häutiges Laby- lokalisiert.
rinth) gliedert sich in 3 Abschnitte: Es besteht aus 2 Untereinheiten:
– knöcherne Schnecke mit häutigem Hörorgan, 1. den 2 Vorhofsäckchen Utriculus und Saccu-
– knöcherner Vorhof mit den beiden häutigen lus, mit den Lagesinneszellen und
Vorhofsäckchen und 2. den 3 Bogengängen (seitlicher, vorderer und
– knöcherne Kanäle der Bogengänge mit häuti- hinterer häutiger Bogengang) mit den Dreh-
gen Bogengängen. sinneszellen.

Flüssigkeitsräume und Innenohrflüssigkeiten Merke


Das häutige Labyrinth liegt dem knöchernen
nicht unmittelbar an. Auf diese Weise sind Die Sinneszellen des Gleichgewichtsorgans
2 Flüssigkeitsräume vorhanden: sind Haarsinneszellen, d. h., sie besitzen Cilien.
– Flüssigkeitsraum zwischen häutigem und knö-
chernem Labyrinth. Hier befindet sich die Peri-

Gleichgewichtsnerv Ganglion vestibulare mit


vorderer häutiger (N. vestibularis) bipolaren Nervenzellen
Bogengang
(Ductus semicircularis anterior)
Blindsack
(Saccus endolymphaticus) Hörnerv
(N. cochlearis)
Endolymphgang
(Ductus endolymphaticus)
hinteres Vorhofsäckchen
(Utriculus)
seitlicher häutiger
Bogengang
(Ductus semicircularis lateralis)
hinterer häutiger
Bogengang
(Ductus semicircularis posterior) Schnecke
Nervenfasern vom (Cochlea)
vorderes Vorhofsäckchen Sinnesepithel kommend
(Sacculus)

Abb. 16.5 Gleichgewichtsorgan – rechts häutiges Labyrinth.


16.3 Hör- und Gleichgewichtssinn 317

Utriculus Sacculus
Horizontalbeschleunigung Vertikalbeschleunigung

Endolymphe

Ciliarbewegung
Statolithen-
membran
Erregung
Haarsinnes-
zellen
Nervenzellen Gehirn

Funktion der Vorhofsäckchen. Abb. 16.6

Sacculus (vorderes Vorhofsäckchen) und Dies wird ermöglicht, weil die 3 Bogengänge in
Utriculus (hinteres Vorhofsäckchen) den 3 Hauptebenen des Raumes senkrecht auf-
In den Vorhofsäckchen liegen die Lagesinnes- einander stehen. Die Bogengänge haben ihren
zellen zum Registrieren geradliniger Beschleuni- Ursprung am Utriculus, über den sie auch in
gungen. Der „Fleck“, an dem sich das Sinnes- Verbindung stehen. Jeweils ein Schenkel der
epithel befindet, heißt Macula. halbkreisförmig gebogenen Röhren erweitert
Die Haarsinneszellen mit den Sinneshärchen sind sich an der Basis zu einer Ampulle, in der auf
in eine gallertartige Masse eingebettet, die einer kaminartigen Erhebung (Crista ampulla-
durch winzige Kalksteinchen beschwert wird. ris) die Sinneszellen lokalisiert sind. Die Sinnes-
Diese Masse wird als Statolithenmembran härchen tauchen ebenfalls in eine Gallerte, die
bezeichnet und ist schwerer als die Endolymphe. wie ein Hut (Cupula) auf den Sinneszellen liegt.
Das Gewicht der Statolithenmembran verbiegt Dreht sich der Kopf (= adäquater Reiz), dann
die Sinneshärchen bereits in Ruhe. Bei jeder kann die Endolymphe infolge ihrer Trägheit der
positiven oder negativen Linearbeschleunigung Bewegung nicht gleich folgen, sie bleibt stehen.
(= adäquater Reiz) bewirkt sie infolge der Dadurch wird die Cupula (Gallertkappe) in die
Trägheit eine zusätzliche Verbiegung der Gegenrichtung gedrückt, und die Sinneshärchen
Sinneshärchen, welche dann Erregung auslöst. werden verbogen. Die Verbiegung der Sinnes-
Die vertikal angeordneten Sinneszellen des härchen führt zur Erregung der Haarsinnes-
Sacculus werden durch Vertikalbeschleunigungen zellen.
erregt, z. B. durch rasches Anfahren oder
Stoppen eines Fahrstuhls. Die horizontal ange- ❑
P Die Folgen übermäßiger Reizung des Vesti-
ordneten Sinneszellen des Utriculus werden bularapparates sind Kinetosen (See- oder
durch Horizontalbeschleunigungen erregt, z. B. Reisekrankheit) und Schwindelgefühl.
plötzliches Anfahren oder Bremsen eines Autos.
Zentrale Verarbeitung
In den Bogengängen befinden sich die Dreh- Die Erregungen vom Gleichgewichtsorgan ge-
sinneszellen zum Registrieren von Winkel- langen über den Gehör- und Gleichgewichts-
(Dreh-) beschleunigungen. nerven (N. vestibulocochlearis) zu den Vestibu-
lariskernen im verlängerten Mark (Medulla
oblongata).
318 16 Sinnessystem

Erregung
Haarsinneszellen
Ampulle
(Crista ampullaris)
Verbiegung der Cilien
Gallertkappe
(Cupula)
Endolymphe
Lymphströmung

Winkelbeschleunigung

Abb. 16.7 Funktion der Bogengänge.

Die Vestibulariskerne stehen in Verbindung mit 16.3.2 Gehörsinn


– den Augenmuskelkernen,
– dem Kleinhirn, Bau des Hörorgans
– den Muskelspindeln der Skelettmuskulatur Das Hörorgan wird seiner Form wegen Schnecke
(insbesondere der Halsmuskulatur) und (Cochlea) genannt. Die Schnecke besteht aus
– der hinteren Zentralwindung der Großhirn- 3 übereinander liegenden Kanälen, die spiralför-
rinde (dadurch wird die bewusste Raumorien- mig aufgerollt sind.
tierung möglich). Um ein besseres Verständnis für den Bau der
Schnecke zu bekommen, stelle man sich anhand
Merke der Abb. 16.8 Folgendes vor:
Die wichtigsten Aufgaben des Gleichge- Als „Minimensch“ steigt man von der Pauken-
höhle durch das ovale Fenster (= Vorhoffenster)
wichtsorgans sind
in die Scala vestibuli und gelangt über
– die Auslösung von Reflexen zur 2 1/2 Windungen im immer enger werdenden
• Aufrechterhaltung des Gleichgewichts Kanal zur Schneckenspitze. Dort, am Helico-
(Stützmotorik, ✑ S. 363) und trema, kommt man über eine Öffnung in die
• Einstellung des Kopfes und der Augen Scala tympani und erreicht wiederum über
trotz Kopf- und Körperbewegungen 2 1/2 Windungen im wieder weiter werdenden
sowie Kanal durch das runde Fenster (= Schnecken-
– die Teilnahme an der Aktivierung der fenster) die Paukenhöhle. Das runde und das
Formatio reticularis und des vegetativen ovale Fenster sind durch Membranen abgedich-
Nervensystems (✑ S. 344). tet, damit die Perilymphe nicht aus den Scalen
entweichen kann.

Corti’sches Organ
In der Scala media liegt auf der Basilarmembran
das Cortische Organ. Es enthält die Gehör-
sinneszellen, die ebenfalls zu den Haarsinnes-
zellen gehören. Die gallertartige Masse, in die
die Cilien eintauchen, heißt Tektorialmembran.
An der äußeren Seite der Scala media befindet
sich eine blutgefäßreiche Region (= Stria vascu-
laris) zur Versorgung des Hörorgans.
16.3 Hör- und Gleichgewichtssinn 319

16.3.3 Physiologie des Hörens also bei relativ niedrigem Schalldruck gehört
werden.
Der adäquate Reiz für das Hörorgan sind Schall-
wellen der Frequenzen 16 Hz bis ca. 20.000 Hz. Merke
Sie müssen eine bestimmte Intensität (Mindest- Das menschliche Ohr besitzt für den Fre-
schalldruck) besitzen, damit die Reizschwelle quenzbereich 2.000 – 5.000 Hz die größte
(= Hörschwelle) erreicht bzw. überschritten wird. Empfindlichkeit. Hier genügen bereits sehr
Die Hörschwelle ist nicht für alle Frequenzen niedrige Schalldrücke, um die Hörschwelle
gleich, sie liegt für den Frequenzbereich 2.000 – zu überschreiten.
5.000 Hz am niedrigsten; diese Töne können

Schnecke
(Cochlea)
Schnecke Schneckenloch
(Cochlea)
zwischen Vorhof-
und Paukentreppe
(Helicotrema)
Vorhof Schneckenachse
ovales Fenster Vorhoftreppe
(= Vorhoffenster) (Scala vestibuli)
rundes Fenster Schneckengang
(= Schneckenfentser) (Ductus cochlearis,
Vorhoftreppe Scala media – endet
(Scala vestibuli) an der Schneckenspitze
blind)
Paukentreppe
(Scala tympani) Paukentreppe
(Scala tympani)

Corti’sches Organ
Vorhoftreppe
(Scala vestibuli)
mit Perilymphe
Schneckengang
(Ductus cochlearis,
Scala media)
mit Endolymphe
Reissner’sche Membran
(Membrana vestibularis)
Tektorialmembran
(Membrana tectoria)

äußere Sinneszellen •
innerer Tunnel
innere Sinneszellen •
Basilarmembran
(Lamina basilaris)
Paukentreppe
(Scala tympani)
mit Perilymphe

Stützzellen
• Haarzellen

Innenohr. Abb. 16.8


320 16 Sinnessystem


P Der Schalldruckpegel ist ein Maß für den Erregung der Gehörsinneszellen
Schalldruck. Die Maßeinheit ist das Dezibel Die Schwingungen der Membran des ovalen
(dB). Der Schalldruck, der gerade noch eine Fensters erzeugen in der Perilymphe der Scala
Hörempfindung auslöst, wird mit 0 dB ange- vestibuli fortlaufende Druckwellen. Diese pflan-
geben. Bei jeder Verzehnfachung des Schall- zen sich zur Schneckenspitze fort und gelangen
druckes erhöht sich der Schalldruckpegel um über die Scala tympani wieder zurück. Das run-
20 dB. de Fenster am Ende der Scala tympani dient dem
Druckausgleich.
Die Schallwellen gelangen hauptsächlich über Durch die gegenläufigen Flüssigkeitsströmun-
das äußere Ohr zum Trommelfell und versetzen gen in der Scala vestibuli und tympani geraten
es in Schwingungen. Diese werden über die die beweglichen Strukturen in der Scala media,
3 Gehörknöchelchen auf die Membran des ovalen Reissner-Membran und Basilarmembran in eine
Fensters übertragen, welche dadurch ebenfalls wellenförmige Bewegung. Sie wird als Wander-
zu schwingen beginnt. Dieser Weg der Schall- welle bezeichnet und breitet sich zur Schnecken-
übertragung heißt Luftleitung. spitze hin aus; das Helicotrema wird allerdings
Wird der ganze Schädel, z. B. durch das Aufset- aufgrund bestimmter Dämpfungsvorgänge nicht
zen einer Stimmgabel, in Schwingungen ver- erreicht. Das heißt, jede Wanderwelle endet an
setzt, entsteht ebenfalls eine Hörwahrnehmung – einem bestimmten Punkt und erzeugt hier ein
man spricht von Knochenleitung. Sie spielt phy- Amplitudenmaximum (stärkste Auslenkung der
siologisch nur eine geringe Rolle. Basilarmembran).
Da die Basilarmembran zur Schneckenspitze hin

P Mittelohrerkrankungen können zu Schwer- breiter und schlaffer wird, entsteht das Ampli-
tudenmaximun der hohen Töne (hohe Frequenz)
hörigkeit führen, Versteifung des ovalen
in der Nähe des ovalen Fensters und das niedri-
Fensters zu Taubheit.
ger Töne (niedrige Frequenz) weiter hinten in
der Schnecke. So ist es möglich, dass das Gehirn
Tab. 16.2 Schallaufnahme und -weiterleitung. jeder Stelle der Scala media eine bestimmte
Tonhöhe zuordnen kann.
Äußeres Ohr
 Die Verformung des Endolymphkanals bewirkt
Trommelfell eine Verschiebung der Tektorialmembran gegen-
 über den Haarsinneszellen (Hörzellen) und damit
Hammer eine Verbiegung ihrer Cilien. Diese Verbiegung
 führt zur Erregung, die über den Hörnerv in das
Amboss Verstärkung Gehirn (Hörrinde) geleitet und dort verarbeitet
 wird: Das Gehörte wird uns bewusst.
Steigbügel
 Leistungen des Gehörsinns
ovales Fenster Zu den Leistungen des Gehörsinns gehören vor
 allem
Perilymphe der Scala vestibuli – die Unterscheidung von Tonhöhen und Schall-
 intensitäten sowie
Wanderwelle Amplitudenmaximum – die Feststellung der Schallrichtung und Ent-
 fernung der Schallquelle.
Verbiegung der Cilien
 ❑
P Die Zerstörung einzelner Abschnitte der
Aktionspotentiale Basilarmembran oder Hörzellen – z. B. durch
 Lärm – führt zu Hörausfall für einzelne Ton-
Hörnerv höhen bzw. auch zu Schwerhörigkeit. Bei be-
 stimmten Krankheiten und im Alter kann sich
Gehirn die Reizschwelle verändern.
16.4 Gesichtssinn 321

16.4 Gesichtssinn haut uhrglasartig eingelassen. Sie wird vom N.


trigeminus versorgt. Während der sichtbare Teil
Der größte Teil der Informationen aus der der Lederhaut mit Bindehaut bedeckt ist, die im
Umwelt wird über das Auge aufgenommen. Bindehautsack umschlägt, ist die Hornhaut frei
von Bindehaut.

16.4.1 Bau des Auges Merke


Die Lederhaut ist vor allem formgebender
1. Äußere Augenhaut Bestandteil des Auges. Die Hornhaut ist stär-
Die äußere Augenhaut wird gebildet von der ker gekrümmt als die Lederhaut. Sie ist
Lederhaut und der Hornhaut. gemeinsam mit der Augenlinse für die Licht-
Die Lederhaut (Sclera) ist aufgrund des Vorhan- brechung verantwortlich. Ihre Brechkraft
denseins vieler Fasern weiß und sehr zugfest. Die liegt bei 43 Dioptrien.
Hornhaut (Cornea) ist glasklar, enthält keine
Blutgefäße, aber viele Nerven. Daraus erklärt
sich die extreme Schmerzempfindlichkeit. Die ❑
P
Hornhauttrübungen können zur Erblindung
Hornhaut ist in den vorderen Bereich der Leder- führen.

Bau des Auges Augenhintergrund

Schlemm'scher Ziliarkörper Lederhaut


Kanal (Corpus ciliare) (Sclera)
Aderhaut
Hornhaut (Chorioidea)
(Cornea)
Netzhaut
Pupille (Retina) Netzhaut-
Linse blutgefäße
(Lens)
gelber
vordere Fleck
Augen-
kammer blinder
Regen- Fleck
bogenhaut
(Iris) Sehnerv
(N. opticus)
hintere Augenkammer
Glaskörper

Pigmentepithel
Netzhaut
(Schema)
Stäbchen
Lichteinfall

Zapfen

Nervenfasern, die den bipolare Nervenzellen


Sehnerv bilden
multipolare Nervenzellen

Bau des Auges. Abb. 16.9


322 16 Sinnessystem

2. Mittlere Augenhaut
Zur mittleren Augenhaut gehören Aderhaut, Ziliarkörper mit Ziliarmuskel
Ziliarkörper und Regenbogenhaut. Die Aderhaut und Ziliardrüse
(Chorioidea) ist für die Blutversorgung verant-
wortlich und deshalb gefäßreich. Der Ziliar- Schlemm'scher
körper (Corpus ciliare) hat 3 Aufgaben: Kanal
• Haltesystem für die Linse;
vordere Augen- hintere Augen-
• Veränderung der Linsenkrümmung durch Kon- kammer kammer
traktion bzw. Erschlaffung des Ziliarmuskels;
• Produktion des Kammerwassers. Pupille Linse
(Lens)
Hornhaut
Die Regenbogenhaut (Iris) ist farbig und besteht (Cornea) Regenbogen-
aus einem Ringmuskel zum Engstellen und ei- haut
nem Radialmuskel zum Weitstellen der Pupille. Lederhaut (Iris)
(Sclera)
Die Pupille ist eine kreisrunde Öffnung in der
Iris, die sich vor der Linse befindet.
Weg des Kammerwassers. Abb. 16.10
3. Brechende Medien
Brechende Medien sind Hornhaut, Linse, Kam-
merwasser und Glaskörper.
Hornhaut (Cornea): 3/4 der Brechkraft des Merke
Auges entfallen auf die Hornhaut.
Das Kammerwasser dient dem Stofftransport
Linse (Lens): Die bikonvexe Linse ist eine glas- innerhalb des Auges.
klare elastische Struktur mit variabler Brechkraft.
Sie besteht aus eiweißreichen Zellen und ist ge- Weg des Kammerwassers
fäß- und nervenfrei. Eine ebenfalls durchsichtige Das Kammerwasser gelangt vom Bildungsort
Linsenkapsel begrenzt sie. Die Linse ist an Fasern zunächst in die hintere Augenkammer, von dort
des ringförmigen Ziliarmuskels aufgehängt. durch die Pupille in die vordere Augenkammer.
Vom Kammerwinkel (= Hornhaut-Iris-Winkel)

P Beim grauen Star (Katarakt) tritt eine Trü-
fließt die Hauptmenge über den Schlemm’schen
bung der Linse ein. Kanal in das Venensystem.

Kammerwasser: Das Kammerwasser ist eine Merke


glasklare zellfreie Flüssigkeit. Es wird von der
Ziliardrüse produziert und befindet sich in der Für die Konstanz des Augeninnendruckes
vorderen und hinteren Augenkammer. spielt das Gleichgewicht zwischen Produk-
tion und Abfluss des Kammerwassers eine
Glaskörper: Der Glaskörper füllt den größten wesentliche Rolle. Er wird bei ca. 15 mmHg
Teil des Auges aus. Er besteht aus zellfreier konstant gehalten.
Gallerte und liegt zwischen Netzhaut und Linse.
Blutgefäße fehlen ebenso wie Nerven, sonst
wäre die Weiterleitung der Lichtstrahlen zur

P Ein erhöhter Augeninnendruck entsteht
Netzhaut nicht möglich. durch ein Missverhältnis zwischen Kammer-
wasserproduktion und -abfluss. Liegt er über
4. Augenkammern und Kammerwasser 20 mmHg, wird dies als grüner Star (= Glau-
Man unterscheidet die vordere Augenkammer kom) bezeichnet.
zwischen Hornhaut und Iris und die hintere Die eigentliche Gefahr des Glaukoms besteht in
Augenkammer zwischen Iris, Glaskörper und einer verminderten Durchblutung der Netzhaut
Ziliarkörper. Beide Augenkammern sind durch mit irreversiblen Schäden bis hin zur Erblin-
die Pupille miteinander verbunden und mit dung.
Kammerwasser gefüllt.
16.4 Gesichtssinn 323

5. Netzhaut (Retina) Augenhintergrund


Als innere Augenhaut kleidet die Retina die Der Augenhintergrund erscheint wegen der
Innenfläche der Augapfelwand bis weit nach Blutgefäße der Chorioidea (Aderhaut) rötlich.
vorn aus. 2 Stellen sind hervorzuheben:
Sie gliedert sich in 2 Abschnitte: – Blinder Fleck (= Sehnervenpapille, Discus
– dem kleineren vorderen „blinden“ Abschnitt, nervi optici): Das ist ein Loch in der Netzhaut,
der aus 2 pigmenthaltigen Epithelzellschichten durch das die Nervenfasern das Auge verlas-
besteht und der Ziliarkörper und Iris bedeckt sen und die Blutgefäße in das Augeninnere
sowie treten. An dieser Stelle kann man nichts sehen.
– dem größeren hinteren Abschnitt (Pars optica). – Gelber Fleck (Macula lutea): Diese blutge-
In diesem aus 10 Schichten bestehenden Teil fäßfreie Stelle der Netzhaut stellt eine kleine
liegen die ersten 3 Neurone der Sehbahn. Grube oder Vertiefung (Fovea centralis) dar.
Hier befinden sich nur tageslichtempfindliche
Das 1. Neuron bildet die Photorezeptoren Zapfenzellen. Sie ist die Stelle des schärfsten
(6 – 7 Mill. Zapfenzellen und ca. 120 Mill. Sehens.
Stäbchenzellen pro Auge). Die Photorezeptoren
befinden sich am weitesten außen, also dem ❑
P Macula-Degenerationen beeinträchtigen das
Lichteinfall abgewandt, sodass die Lichtstrahlen Sehvermögen besonders stark.
zunächst durch alle anderen Netzhautschichten
hindurchdringen müssen.

Die Stäbchenzellen liegen mit Ausnahme des 16.4.2 Schutz- und Bewegungsapparat
gelben und blinden Flecks in der gesamten Pars des Auges
optica. Die Zapfenzellen sind auf die Fovea cen-
tralis (kleine Grube) des gelben Fleckes und ihre Die Teile des Schutz- und Bewegungsapparates
unmittelbare Umgebung konzentriert. gewährleisten die störungsfreie Funktion des
hochempfindlichen Lichtsinnesorgans. Zu ihnen
Das 2. Neuron wird von bipolaren Nervenzellen gehören die knöcherne Augenhöhle, die Augen-
gebildet. lider und der Tränenapparat.

Das 3. Neuron wird von multipolaren Nerven- Knöcherne Augenhöhle (Orbita)


zellen gebildet. Ihre Neuriten treten am blinden Beide Augenhöhlen enthalten jeweils
Fleck durch die Augapfelwand und bilden den – den Augapfel und
Sehnerven. – 4 gerade und 2 schräge Augenmuskeln zur
Bewegung des Augapfels. Die Augenmuskeln
Weitere Zellen wie die Horizontal- und amakri- werden von 3 Hirnnerven (III, IV,VI) innerviert.
nen Zellen (multipolare Nervenzellen) sichern Diese sichern das koordinierte Zusammen-
die vielfältigen Verschaltungen. spiel der Muskeln beider Augen (✑ S. 354);
– den Sehnerven (N. opticus), der s-förmig ge-
Die Blutversorgung der Retina erfolgt durch die bogen ist, um die Bewegung des Auges nicht
zentrale Netzhautarterie (A. centralis retinae), zu behindern;
die von der Augenarterie (A. ophthalmica) – Fettgewebe zur Abpolsterung;
kommt, und die zentrale Netzhautvene (V. centra- – die Tränendrüse: Sie liegt in einer kleinen Gru-
lis retinae), die in die obere Augenvene (V. oph- be an der äußeren oberen Augenhöhlenwand.
thalmica superior) mündet. A. und V. centralis
retinae treten gemeinsam mit dem Sehnerven am ❑
P Weichen beide Augachsen stark voneinan-
blinden Fleck durch die Augapfelwand. der ab, kommt es zum Schielen (Strabismus),
wobei Doppelbilder entstehen können.
Merke
Die Retina ist das eigentliche Sinnesorgan Augenlider
des Auges. Vor jedem Auge befindet sich ein Oberlid und
ein Unterlid.
324 16 Sinnessystem

Lidheber knöcherne Augenhöhle


(M. levator (Orbita) mit Fettgewebe ausgepolstert
palpebrae
superioris) oberer schräger Augenmuskel
(M. obliquus superior)
oberer gerader Augenmuskel
(M. rectus superior)

Oberlid
gemeinsamer
Sehnenring der
Augenmuskulatur
Augapfel
(Bulbus oculi) Sehnervenkanal
(Canalis opticus)
Sehnerv
(N. opticus)

mittlerer gerader Augenmuskel


(M. rectus medialis)
unterer gerader Augenmuskel
(M. rectus inferior)
Unterlid äußerer gerader Augenmuskel
(M. rectus lateralis)
unterer schräger Augenmuskel
(M. obliquus inferior)

Abb. 16.11 Augapfel und Augenmuskeln.

Die Lider bestehen aus: Bindehaut


– der Bindegewebs-Muskelplatte im Inneren, Die Bindehaut – sowohl des Ober- als auch des
dem „Skelett“ der Augenlider, Unterlides – geht in die Bindehaut des Augapfels
– einer zarten äußeren Haut, die leicht ver- über. Dadurch entsteht oben und unten jeweils
schiebbar ist, eine Bindehauttasche. Diese bezeichnet man
– den Wimpern (oben ca. 150, unten ca. 275) zusammen als Bindehautsack (Saccus conjunc-
zwischen vorderer und hinterer Lidkante, tivalis). Der Bindehautsack ist zu sehen, wenn
– den Lidhebe- und Lidschließmuskeln sowie man das Augenlied vom Augapfel wegzieht.
– der Bindehaut (Tunica conjunctiva palpebralis),
einer Schleimhaut an der Hinterfläche.

oberer schräger
Augenmuskel
III. Augen- oberer gerader
bewegungsnerv Augenmuskel
(N. oculomotorius)
äußerer gerader
Mittelhirn Augenmuskel
Brücke
IV. Augenrollnerv
(N. trochlearis)
mittlerer gerader unterer schräger
Medulla oblongata Augenmuskel Augenmuskel
VI. Augenabziehnerv unterer gerader
(N. abducens) Augenmuskel

Abb. 16.12 Augenmuskeln und ihre Innervation durch die Augenmuskelnerven.


16.4 Gesichtssinn 325

Liddrüsen Tränenapparat

Augenbraue
Tränendrüse
Oberlid (Gl. lacrimalis)
Moll’sche Drüse obere
Wimper Umschlagstelle
der Bindehaut
Meibom’sche Drüse (Bindehautsack) Tränensack
Regen-
bogenhaut Tränen-
Pupille nasengang
(Ductus
nasolacrimalis)

Bindehaut Tränen-
(Conjunctiva)
untere Umschlagstelle röhrchen
Unterlid der Bindehaut
Moll’sche Drüse Tränen-
(Bindehautsack)
punkt
Meibom’sche Drüse

Liddrüsen und Tränenapparat. Abb. 16.13


P Sowohl das Berühren der Hornhaut als auch Tränenapparat
Die Tränendrüsen hinter dem Oberlid sezernie-
der Bindehaut führt reflektorisch zum Lid-
ren pro Tag etwa 500 ml Tränenflüssigkeit. Sie
schluss (Schutzreflex).
ist farblos und enthält desinfizierende Substan-
zen (z. B. Kochsalz) und das bakterienabtötende
Die Bindehaut eignet sich wie alle Schleim-
Lysozym. Über mehrere Ausführgänge gelangt
häute gut zur Resorption von Arzneimitteln. In
die Tränenflüssigkeit in den Bindehautsack und
Form von Augentropfen werden sie meist in
wird durch den Lidschlag über die Vorderfläche
den unteren Teil des Bindehautsackes (Unterlid
des Augapfels verteilt, sodass die Hornhaut
wird abgezogen oder umgeschlagen) einge-
feucht gehalten wird. Die Tränenflüssigkeit sam-
träufelt.
melt sich im medialen Augenwinkel, dem sog.
Liddrüsen Tränensee, und fließt über Tränenröhrchen,
– Meibom-Drüsen (innere Talgdrüsen). Sie lie- Tränensack und Tränennasengang in den unte-
gen an der Lidhinterseite und produzieren ein ren Nasengang.
talgähnliches Sekret, das über Ausführgänge
Merke
der hinteren Lidkante an die Lidränder gelangt
und diese einfettet. Die Tränenflüssigkeit sichert die einwand-
– Moll-Drüsen. Schweißdrüsen, die in der Nähe freie Funktion der Hornhaut, indem sie sie
des Lidrandes liegen und dort ausmünden. feucht hält und kleine Unebenheiten aus-
– Zeis-Drüsen. Äußere Talgdrüsen, deren Aus- gleicht sowie Fremdkörper im Bindehautsack
führgänge am Follikel der Wimpern enden. ausschwemmt.


P Das Gerstenkorn (Hordeolum) entsteht durch
Stauung des Sekretes und Entzündung der Zeis- ❑
P Zu wenig Tränenflüssigkeit führt zu Binde-
Drüsen. Das Hagelkorn (Chalazion) entsteht haut- und Hornhautentzündung (Conjunctivitis,
durch Stauung des Sekrets und Entzün- Keratitis, „Syndrom des trockenen Auges“).
dung der Meibom-Drüsen.
326 16 Sinnessystem

16.4.3 Physiologie des Sehens Das geschieht durch aktive Änderung der Linsen-
krümmung (vorwiegend ihrer vorderen Fläche)
Als adäquater Reiz wirken elektromagnetische und heißt Akkommodation.
Strahlen der Wellenlängen 400 bis 700 nm (= Man unterscheidet
sichtbares Licht). – Fernakkommodation: Bei entspanntem Ziliar-
muskel flacht sich die Linse ab, die Brechkraft
Bildentstehung auf der Netzhaut wird verringert.
Die brechenden Medien (Cornea, Kammerwas- – Nahakkommodation: Durch Kontraktion des
ser, Linse, Glaskörper) werden als dioptrischer Ziliarmuskels kann sich die Linse so weit
Apparat bezeichnet. Dieser wirkt wie eine Sam- krümmen, dass die Brechkraft um etwa
mellinse und lässt auf der Netzhaut verkleinerte 14 Dioptrien steigt. Das ermöglicht ein schar-
umgekehrte reelle Bilder der Umwelt entstehen. fes Sehen bis zu einem Abstand von ca. 10 cm
(= Nahpunkt).
Brechkraft
Die Brechkraft gibt an, wie stark Lichtstrahlen ❑
P Die Nahakkommodation nimmt mit zuneh-
gebrochen werden. Sie wird als Kehrwert der mendem Alter ab (Linse krümmt sich aufgrund
Brennweite (f) berechnet und in Dioptrien (dpt) ihres Elastizitätsverlustes nicht mehr genug).
ausgedrückt. Die vordere Brennweite des mensch- Wenn der Nahpunkt größer als 30 cm wird,
lichen Auges beträgt 17 mm, deshalb gilt: spricht man von der Alterssichtigkeit (Presbyo-
1 1 pie). Die Kompensation erfolgt durch Sam-
D = = = 58,8 dpt mellinsen, die den Nahpunkt wieder näher an
f 0,017 m das Auge rücken. Nicht immer sind Größe und
Form des Augapfels genau auf die Brechkraft
Akkommodation des dioptrischen Apparates abgestimmt, sodass
Das Bild eines Gegenstandes wird nur dann Störungen bei der Bildentstehung auftreten.
scharf abgebildet, wenn es genau auf der Netz- Die wichtigsten sind:
haut entsteht. Damit die Bilder von Gegenstän- • Kurzsichtigkeit (Myopie),
den unterschiedlicher Entfernungen scharf gese- • Weitsichtigkeit (Hyperopie, Hypermetropie).
hen werden, ändert das Auge seine Brechkraft.

dingseitige Brennweite bildseitige Brennweite

Parallelstrahl
Sehachse
(Axis opticus)

gelber
Achse des äußerer Fleck
Augapfels Brennpunkt
(Axis bulbi)
Hornhaut
Brennpunktstrahl (Cornea)
Linse
(Lens cristallina) innerer
Brennpunkt
Strahlenkörper
(Corpus ciliare) Netzhaut
(Retina)

Abb. 16.14 Bildentstehung.


16.4 Gesichtssinn 327

Fernakkommodation Nahakkommodation

– Ziliarmuskel entspannt – Ziliarmuskel angespannt

– Linse abgeflacht, – Linse gekrümmt,


geringe Brechkraft große Brechkraft

Akkommodation. Abb. 16.15

Bildebene Zerstreuungslinse

Augapfel ist zu lang.


Bildebene liegt vor der Fovea centralis.
Ferne Gegenstände werden unscharf abgebildet.

Kurzsichtigkeit mit Korrekturlinse. Abb. 16.16

Bildebene Sammellinse

Augapfel ist zu kurz.


Bildebene liegt hinter der Fovea centralis.
Nahe Gegenstände werden unscharf abgebildet.

Weitsichtigkeit mit Korrekturlinse. Abb. 16.17


328 16 Sinnessystem

Funktion der Stäbchen- und Zapfenzellen Merke


Die Zapfen ermöglichen das farbige Sehen von
Einzelheiten bei heller Beleuchtung. Wenig Licht ➝ große Pupille
Die Stäbchen ermöglichen das Schwarzweiß- (ein Neuron wird durch große
sehen bei schlechter Beleuchtung. Retinafläche gereizt),
➝ viel Sehfarbstoff.
Merke Viel Licht ➝ kleine Pupille
(ein Neuron wird von kleiner
Scharfe Bilder entstehen nur an der Stelle des Retinafläche gereizt),
gelben Flecks. ➝ wenig Sehfarbstoff,
da rascherer Zerfall.
Erregungsbildung
In den Stäbchen- und Zapfenzellen befinden
sich Sehfarbstoffe (z. B. Rhodopsin). Diese wer- Gesichtsfeld und Sehbahn
den durch Lichtabsorption mehr oder weniger Das Gesichtsfeld ist das Bild der Umwelt, das
abgebaut (= gebleicht). man mit unbewegten Augen und fixiertem Kopf
Die Bleichung der Sehfarbstoffe führt zur Erre- sieht.
gung der Sinneszelle.
Die Sehbahn wird von 4 sensiblen Neuronen
Adaptation gebildet, von denen die ersten 2 komplett in der
Adaptation ist die Anpassung des Auges an die Retina liegen.
jeweilige Lichtintensität. Man unterscheidet die Vom 3. Neuron befinden sich die Nervenzell-
Pupillen- und Netzhautadaptation. Die Pupillen- körper in der Netzhaut. Seine Axone bilden
adaptation passt das Auge reflektorisch schnell zunächst den Sehnerven (N. opticus), der bis zur
an einen plötzlichen Lichtwechsel an, indem sich Sehnervenkreuzung (Chiasma opticum) zieht. Ab
die Pupille im Hellen verengt und im Dunklen hier verlaufen sie als Sehstrang (Tractus opticus)
erweitert (Pupillenreflex). Die Netzhautadapta- zum seitlichen Kniehöcker (Corpus geniculatum
tion passt das Auge durch die Veränderung der laterale) des Thalamus sowie zur Vierhügelplatte
Konzentration der Sehfarbstoffe der Lichtinten- des Mittelhirns. Letztere sind wichtig für den
sität an. Pupillen- und Akkommodationsreflex.

Helladaptation M. spincter pupillae Kontraktion


Lichteinfall

Pupille eng
Parasympathicus

Dunkeladaptation M. dilatator pupillae Kontraktion

Lichteinfall

Pupille weit
Sympathicus

Abb. 16.18 Pupillenadaptation.


16.4 Gesichtssinn 329

Im Chiasma opticum kreu-


zen die Nervenfasern der linkes Gesichtsfeld rechtes
Gesichtsfeld
jeweiligen nasalen Retina-
hälfte auf die Gegenseite,
während die temporalen
auf der gleichen Seite blei-
ben. Die Nervenfasern aus
dem gelben Fleck (Fovea
centralis) ziehen sowohl
ungekreuzt als auch ge-
kreuzt zur Hirnrinde. Auf nasal temporal
diese Weise werden die Sehnerv
Erregungen gemischt, was (N. opticus)

eine wichtige Vorausset-


zung für das räumliche Sehnerven-
Sehen ist. kreuzung
(Chiasma opticum)
Sehstrang
Die Perikaryen des 4. Neu- (Tractus opticus)
rons liegen im seitlichen seitlicher
Kniehöcker, ihre Axone Kniehöcker
verlaufen als Sehstrah- des Thalamus
(Corpus geniculatum
lung (Radiatio optica) laterale)
zum Sehzentrum (= Seh- Sehstrahlung
(Radiatio optica)
rinde) im Hinterhaupt-
lappen der Großhirnrinde.
Jedem Punkt des Gesichts- Sehzentrum
feldes ist hier eine be-
stimmte Anzahl von Neu-
ronen zugeordnet, die mei-
sten dem gelben Fleck. Sehbahn. Abb. 16.19

Merke
Die Aufgabe der Sehzentren besteht darin,
die von den Augen kommenden Informationen
in ein aufrechtes, reelles Bild umzuwandeln.


P Bei Zerstörung der Sehzentren, z. B. durch
Tumoren, Verletzungen etc., erblindet der
Mensch (= Rindenblindheit).

Leistungen des Gesichtssinns


Die Sehleistungen des Menschen umfassen
– Hell-dunkel-Sehen,
– Farbsehen,
– räumliches Sehen und
– Erkennen von Mustern und Bewegungen.
330 16 Sinnessystem

Fragen zur Wiederholung


,

1. Definieren Sie
a) Reiz,
b) adäquater Reiz,
c) Reizschwelle,
d) Rezeptor,
e) Sinnesorgan.
2. Nehmen Sie eine Klassifizierung der Reize vor.
3. Erläutern Sie
a) Reizaufnahme,
b) Informationsleitung.
4. Was ist
a) unter Oberflächensensibilität,
b) unter Tiefensensibilität zu verstehen?
Erläutern Sie die biologische Bedeutung dieser Sinne.
5. Welche Bedeutung hat der Schmerz?
Was versteht man unter übertragenem Schmerz?
6. Erläutern Sie die biologische Bedeutung von Geruch und Geschmack.
7. Beschreiben Sie den Aufbau des Ohres.
8. Wie arbeitet das Gleichgewichtsorgan, und welche Aufgaben erfüllt es im Körper?
9. Erläutern Sie die ablaufenden Prozesse bei der Schallaufnahme und -weiterleitung.
10. Erklären Sie, wie es zur Erregung der Hörsinneszellen im Corti’schen Organ kommt.
11. Nennen Sie Maßnahmen zur Lärmbekämpfung.
12. Beschreiben Sie den Bau des menschlichen Auges.
13. Welche Aufgaben haben:
a) die brechenden Medien,
b) der Ziliarkörper,
c) das Kammerwasser?
14. Beschreiben Sie den Abfluss des Kammerwassers.
15. Wo liegen
a) vordere und
b) hintere Augenkammer?
16. Beschreiben Sie die Verteilung der Photorezeptoren in der Retina.
17. Definieren Sie
a) gelber Fleck,
b) blinder Fleck!
18. Nennen Sie die Schutzeinrichtungen des Auges und ihre Aufgaben.
19. Beschreiben Sie die Bildentstehung auf der Netzhaut und das Funktionsprinzip der Stäb-
chen und Zapfen.
20. Erklären Sie Akkommodation und Adaptation.
Worin liegt ihre biologische Bedeutung?
21. Was versteht man unter der Sehbahn?
22. Geben Sie einen Überblick über die Leistungen des Gesichtssinnes.
23. Warum strengt langes Nahsehen die Augen besonders an?
331

17 Nervensystem

Das Nervensystem steuert


und koordiniert die lebens-
erhaltenden Körperfunk-
tionen so, dass mit mög- Gehirn
lichst wenig Aufwand eine (Cerebrum)

optimale Anpassung an
die aktuellen Umweltein- ZNS
wirkungen erfolgt. Dazu
nimmt es mithilfe von Rückenmark
Rezeptoren Informationen (Medulla spinalis)
auf, analysiert und spei-
chert sie, um danach die
Effektorgane zur Aktivität
anzuregen. Zum Beispiel
wird Sprachinformation
akustisch aufgenommen,
analysiert und gespei-
chert, danach werden die
Sprechorgane erregt, und
es erfolgt die Reaktion.

17.1 Gliederung periphere


Nerven
1. Nach anatomischen Ge-
sichtspunkten werden PNS
Zentralnervensystem
und peripheres Nerven-
system unterschieden
(✑ Tab. 17.1, S. 332).
– Zentralnervensystem
(ZNS):
Gehirn und Rückenmark.
Sie bestehen aus:
grauer Substanz (= Ner-
venzellkörper) und
weißer Substanz (= Ner-
venfasern), deren weiße Nervensystem. Abb. 17.1
Farbe auf die lipidhalti-
ge Markscheide zurück-
zuführen ist.
– Peripheres Nervensystem (PNS): Merke
Das periphere Nervensystem besteht aus den Das ZNS dient der Weiterleitung, Verarbeitung
zu- und abführenden Nervenfasern, die sich in und Speicherung von Informationen, das PNS
den peripheren Nerven befinden (✑ S. 352). hauptsächlich der Weiterleitung.
Das periphere Nervensystem verbindet ZNS
und Organe miteinander.
332 17 Nervensystem

Tab. 17.1 Anatomische Gliederung des Nervensystems.

Nervensystem (NS)
ZNS – anatomische Gliederung – PNS

Gehirn Rückenmark Gesamtheit der Nervenfasern außerhalb des Ganglien


ZNS als Bestandteil der peripheren Nerven
(z. B. Armnerven, Zwerchfellnerven etc.)

Tab. 17.2 Physiologische Gliederung des Nervensystems.

Nervensysten (NS)
animales NS – physiologische Gliederung – vegetatives NS, VNS
(= cerebrospinales NS, (= Eingeweide-
Umweltnervensystem) nervensystem)

2. Nach physiologischen (funktionellen)


Gesichtspunkten werden unterschieden Ansicht von ventral Ansicht von dorsal
(✑ Tab. 17.2).
– Animales (cerebrospinales – somati-
sches) Nervensystem: verlängertes Mark
Das sind jene Teile des Nervensystems, (Medulla oblongata)
die aus der Umwelt Informationen auf-
nehmen, sie verarbeiten und damit eine
individuelle Anpassung an die Umwelt
ermöglichen.
– Vegetatives Nervensystem (VNS):
Anschwellung im
Das VNS innerviert die glatte Muskula- Halsbereich
tur der Gefäße und inneren Organe und (Intumescentia cervicalis)
stimmt so deren Tätigkeit harmonisch
vordere mittlere
aufeinander ab. Rückenmarkspalte
(Fissura mediana anterior)
Merke
hintere mittlere
Animales und vegetatives Nervensystem Rückenmarkfurche
funktionieren nur kooperativ aufeinander (Sulcus medianus posterior)
abgestimmt. Sie bilden also eine Einheit.

17.2 Rückenmark
Anschwellung im
(Medulla spinalis) Lendenbereich
(Intumescentia lumbosacralis)
Das Rückenmark leitet über absteigende
Nervenfasern (Leitungsbahnen = weiße
Rückenmark
Substanz) Informationen vom Gehirn zur (Medulla spinalis)
Peripherie bzw. über die aufsteigenden
Nervenfasern Informationen von der Rückenmark (Medulla spinalis). Abb. 17.2
Peripherie zum Gehirn.
17.2 Rückenmark 333

17.2.1 Lage und Form • kleine -Motoneurone – Beeinflussung des


Muskeltonus.
Das Rückenmark liegt als ovaler Strang, Durch- Außerdem befinden sich in den Vorderhör-
messer ca. l cm, Länge ca. 45 cm, im Wirbel- nern zahlreiche Interneurone zur Steuerung
kanal. Es beginnt als Fortsetzung des verlänger- der -Motoneurone.
ten Markes des Gehirns am großen Hinter- b) 2 Hinterhörner (Cornu posterius) oder
hauptloch und endet in Höhe der Oberkante des Hintersäulen (Columna posterior)
2. Lendenwirbels. Der caudale Teil ist verjüngt In den Hinterhörnern liegen die Nervenzell-
und wird durch einen 20 – 25 mm langen End- körper des 2. sensiblen Neurons; die des
faden an der Rückseite des 2. Steißwirbels be- 1. befinden sich außerhalb des Rückenmarkes
festigt. im Spinalganglion, und deren Neuriten ziehen
An der Oberfläche des Rückenmarkes fallen als hintere Wurzel in die Hinterhörner.
2 längs verlaufende Vertiefungen besonders auf: c) 2 Seitenhörner (Cornu laterale) oder
– vordere mittlere Rückenmarkspalte (Fissura Seitensäulen (Columna lateralis)
mediana anterior) an der Vorderseite – tief, In den Seitenhörnern befinden sich Perikaryen
– hintere mittlere Rückenmarkfurche (Sulcus des Sympathicus (C8 – L3) und des Parasym-
medianus posterior) an der Hinterseite – flach. pathicus (S2 – S4).
d) Zentralkanal (Canalis centralis)
Er liegt als Rest der Lichtung des Neuralrohres
17.2.2 Innerer Bau (✑ Abb. 17.3) (eine der ersten Anlagen des ZNS in der
Embryonalentwicklung) im zentralen Verbin-
Die Schnittfläche eines Rückenmarkquerschnit- dungsstück der grauen Substanz und enthält
tes zeigt 2 deutlich unterscheidbare Zonen. Liquor. Cranial steht er mit dem 4. Ventrikel in
Verbindung, caudal endet er blind. Beim
1. Graue Substanz (Substantia grisea) Erwachsenen ist er oft stellenweise verödet
Die schmetterlingsförmige graue Substanz besteht (✑ Abb. 17.14, S. 347).
hauptsächlich aus Nervenzellkörpern. Es sind
folgende Teile zu unterscheiden: 2. Weiße Substanz (Substantia alba)
a) 2 Vorderhörner (Cornu anterius) oder Die weiße Substanz umgibt die graue Substanz.
Vordersäulen (Columna anterior) Sie besteht hauptsächlich aus markscheidenhal-
In ihnen liegen die motorischen Nervenzell- tigen Nervenfasern, die als Leitungsbahnen
körper der peripheren
motorischen Neurone.
Ihre Neuriten treten ge- Hinterhorn hintere
bündelt an der Vorder- (Columna posterior) Rückmarksfurche
(Sulcus medianus posterior)
seite des Rückenmarks Hinterwurzel
(Radix dorsalis)
als motorische vordere
Wurzeln heraus und
ziehen in den entspre- Spinalganglion
graue (Ganglion spinale)
chenden Nerven zu Substanz
den Muskeln. Bei den (Substantia grisea)
motorischen Nerven- Vorderhorn Spinalnerv
(Cornu anterius) (N. spinalis)
zellkörpern (Perika-
ryen) gibt es 3 Typen. weiße
Substanz
• große 1-Motoneu- (Substantia alba) Seitenhorn
rone – schnelle Be- (Cornu lateralis)
wegungen der Bewe- motorische
gungsmuskeln, vordere tiefe Längsspalte Zentralkanal Vorderwurzel
• kleine 2-Motoneu- (Fissura mediana anterior) (Canalis centralis) (Radix ventralis)
rone – langsame Be-
wegungen der Halte- Rückenmark (Querschnitt). Abb. 17.3
muskeln und
334 17 Nervensystem

C1
Halsteil (Pars cervicalis) mit
8 Paar Halsnerven (Nn. cervicales)
C8
Th1

Rückenmark Brustteil (Pars thoracica) mit


(Medulla spinalis) 12 Paar Brustnerven (Nn. thoracici)

Th12
L1
Lendenteil (Pars lumbalis) mit
Pferde- 5 Paar Lendennerven
(Nn. lumbales)
schweif
(Cauda
equina) L5
S1 Kreuzbeinteil (Pars sacralis) mit
5 Paar Kreuzbeinnerven (Nn. sacrales)
S5
Co1 Steißbeinteil (Pars coccygea) mit
1– 3 Paar Steißbeinnerven (Nn. coccygei)
Co3

Abb. 17.4 Rückenmarksegmente.

zwischen Peripherie und Gehirn verlaufen. Die weißer Substanz, die Commisura alba anterior,
weiße Substanz wird durch die graue „Schmet- in Verbindung;
terlingsfigur“ rechts und links in jeweils – einen Seitenstrang (Fubiculus lateralis)
3 Stränge unterteilt: zwischen motorischer Vorder- und sensibler
– einen Vorderstrang (Funiculus anterior) Hinter wurzel und
zwischen Fissura mediana anterior (vordere – einen Hinterstrang (Funiculus posterior)
Längsspalte) und motorischer Vorderwurzel. zwischen sensibler Hinterwurzel und Sulcus
Beide Vorderstränge stehen durch eine Brücke medianus posterior (hinterer Rückenmarks-
furche).
17.3 Gehirn 335

17.2.3 Rückenmarksegmente • Zwischenhirn (Diencephalon),


• Mittelhirn (Mesencephalon),
Das Rückenmark wird analog der Wirbelsäule in • Hinterhirn (Metencephalon),
5 Abschnitte gegliedert. Jeder Abschnitt besteht mit Kleinhirn (Cerebellum)
aus Segmenten (äußerlich nur durch die austre- Rautenhirn
und Brücke (Pons),
tenden Rückenmarkwurzeln erkennbar). Zu (Rhomben-
• Nachhirn (Myelencephalon) cephalon)
einem Rückenmarksegment gehören 2 vordere oder verlängertes Mark
und 2 hintere Rückenmarkwurzeln. Auf jeder (Medulla oblongata).
Seite verbinden sich die vordere und hintere Sehr vereinfacht wird das Gehirn eingeteilt in
Wurzel im Zwischenwirbelloch zu einem Rücken- das Großhirn und den Hirnstamm (= alle übrigen
marknerven (Spinalnerven). Hirnabschnitte).

17.3 Gehirn (Encephalon) 17.3.2 Endhirn (Telencephalon)

17.3.1 Masse, Lage, Form, Gliederung Das Endhirn ist der Sitz des Bewusstseins, des
Empfindens, des Willens und des Gedächtnisses.
Das Gehirn ist der rostrale Teil des Zentralnerven- Es ist beim Menschen der größte Hirnabschnitt,
systems. Beim Erwachsenen beträgt die Hirn- der einen weiten Teil der übrigen Hirnteile über-
masse durchschnittlich 1.350 bis 1.500 Gramm. deckt und diesen funktionell übergeordnet ist.
Das Gehirn liegt von Hirnhäuten und Liquor Gebildet wird es von zwei fast symmetrischen
umgeben in der knöchernen Schädelhöhle und halbkugelförmigen Hälften (Hemisphären), die
ist dieser in seiner äußeren Form angepasst. Die durch einen tiefen Längsspalt (Fissura longitudi-
untere Fläche des Gehirns heißt Hirnbasis. nalis cerebri) voneinander getrennt und durch
den Balken (Corpus callosum) miteinander ver-
Gliederung des Gehirns bunden sind.
Folgende Abschnitte unterscheidet man:
• Endhirn (Telencephalon) oder Die Oberfläche der beiden Hemisphären wird
Großhirn (Cerebrum), durch zahlreiche Windungen (Gyri, Singular:

Endhirn
(Telencephalon)
= Großhirn
(Cerebrum)
Scheitel-
Hinterhaupt-Furche
(Sulcus parietooccipitalis)
Balken
(Corpus callosum)

Zirbeldrüse
Zwischenhirn (Epiphyse)
(Diencephalon)
Hirnanhangdrüse
(Hypophyse) Kleinhirn
(Cerebellum)
Mittelhirn
(Mesencephalon) Brücke
(Pons)
verlängertes
Mark
(Medulla oblongata)

Rechte Hirnhälfte. Abb. 17.5


336 17 Nervensystem

vordere hintere
Zentralwindung Zentralwindung
(Gyrus praecentralis) (Gyrus postcentralis)
Stirnlappen Scheitellappen
(Lobus frontalis) (Lobus parietalis)

Scheitel-
Hinterhaupt-Furche
seitliche Furche (Sulcus parieto-occipitalis)
(Sulcus lateralis)
Hinterhauptlappen
Schläfenlappen (Lobus occipitalis)
(Lobus temporalis)
Zentralfurche
(Sulcus centralis)

Abb. 17.6 Lappen und Furchen des Endhirns.

Gyrus) und Furchen (Sulci, Singular: Sulcus) Graue Substanz (Substantia grisea)
beachtlich vergrößert. Gleichzeitig wird durch Die graue Substanz bildet
die tiefen Furchen jede Endhirnhemisphäre in – die Endhirnrinde (Cortex cerebri), die wie
4 Endhirnlappen (Lobi, Singular: Lobus) unter- ein Mantel das Endhirn (Großhirn) umschließt.
teilt: Sie besteht aus 10 – 16 Milliarden Nervenzell-
• Stirnlappen (Lobus frontalis), körpern, die in 6 Schichten übereinander an-
• Scheitellappen (Lobus parietalis), geordnet sind;
• Schläfenlappen (Lobus temporalis) und – die Kerne des Endhirns: Als solche werden
• Hinterhauptlappen (Lobus occipitalis). Ansammlungen von grauer Substanz unter-
halb der Hirnrinde bezeichnet.
Wichtige Furchen als Grenzlinien zwischen den
Lappen sind Funktionszentren der Endhirnrinde
– die Zentralfurche (Sulcus centralis) zwischen Die ablaufenden Nervenprozesse können be-
Stirn- und Scheitellappen, stimmten Teilen der Rinde (= Rindenfelder) zu-
– die seitliche Furche (Sulcus lateralis) zwi- geordnet werden. Diese Rindenfelder werden von
schen Stirn-, Scheitel-, Schläfenlappen sowie Nervenzellkörpern gebildet, die gleiche oder ähn-
– die Scheitel-Hinterhaupt-Furche (Sulcus parieto- liche Funktionen erfüllen. Die Projektion erfolgt
occipitalis) zwischen Scheitel- und Hinter- in der Weise, dass die Abschnitte der linken
hauptlappen. Körperhälfte auf dem Kopf stehend (Bein und
Becken oben, Kopf unten) in der rechten End-
Merke hirnhemisphäre und umgekehrt repräsentiert
werden. Nach der Funktion unterscheidet man
Vor der Zentralfurche liegt die vordere Zentral-
2 verschiedene Rindenfeldtypen, die motorischen
windung (Gyrus praecentralis) und hinter
und die sensorischen (sensiblen) Rindenfelder.
ihr die hintere Zentralwindung (Gyrus post-
centralis).
Motorische Rindenfelder
Sie werden von motorischen Neuronen gebildet
Innerer Bau und sind für das Zustandekommen der Bewe-
Wie das Rückenmark besteht auch das Gehirn gungen verantwortlich.
aus grauer und weißer Substanz.
17.3 Gehirn 337

Zentralfurche
(Sulcus centralis)

vordere
Zentralwindung hintere
(Gyrus praecentralis) Zentralwindung
– Willkürmotorik – (Gyrus postcentralis)
motorisches – Körperfühlsphäre –
Lese- und
Schreibzentrum Scheitellappen
(„Blickzentrum“) (Lobus parietalis)
Stirnlappen Hinterhauptlappen
(Lobus frontalis) (Lobus occipitalis)
seitliche Furche Sehzentrum
(Sulcus lateralis)

Hörzentrum optisches Schreib-


und Lesezentrum
motorisches
Sprachzentrum
(Broca-Zentrum)
sensorisches
Sprachzentrum
(Wernicke-Zentrum)

Funktionszentren der linken Endhirnrinde. Abb. 17.7

– Primärzentrum der Willkürmotorik. Es liegt – Motorisches Sprachzentrum (Broca-Zentrum).


in der vorderen Zentralwindung (Gyrus prae- Dieses Zentrum liegt unter der vorderen Zen-
centralis) des Stirnlappens. Die Zentren für tralwindung und ist das Koordinationszentrum
den Kopf liegen unten, die für die Beine oben. für die Sprachmuskeln (Kehlkopf, Zunge,
Hier werden die Befehle für alle willkürlichen Wangen, Lippen, weicher Gaumen).
Bewegungen an die Peripherie gegeben.
Vom primären Projektionszentrum ziehen die ❑
P Ein Ausfall des Broca-Zentrums führt zur
Projektionsbahnen (Pyramidenbahnen) zu motorischen Aphasie. Der Betroffene ver-
den motorischen Hirnnervenkernen und den steht zwar Worte, kann aber selbst nicht arti-
motorischen Vordersäulen des Rückenmarks kuliert sprechen.
(✑ auch Abb. 17.18, S. 351).
Vor der vorderen Zentralwindung liegen die – Motorisches Lese- und Schreibzentrum. Es
sekundären motorischen Zentren (Assozia- liegt im Frontallappen. Von dort aus werden
tionszentren). In ihnen entstehen im Zusam- die Augenmuskeln beim Schreiben und Lesen
menwirken mit anderen motorischen Zentren gesteuert.
die Handlungsantriebe und Bewegungsent-
würfe. Merke
Muskeln, die sehr fein abgestimmte Bewegun- Die motorischen Bahnen kreuzen entweder in
gen (Feinmotorik) ausführen müssen, besitzen den Pyramiden der Medulla oblongata oder im
ein relativ großes Rindenfeld: So nehmen die Zielsegment auf der Gegenseite, d. h., Störun-
Zentren für Hand und Mund den größten gen in der linken vorderen Zentralwindung
Raum im Gyrus praecentralis ein. führen zu Ausfällen in der rechten Körperhälfte.
338 17 Nervensystem

Sensorische Rindenfelder ❑
P Bei Ausfall des Sehzentrums ist der Mensch
Sie werden von sensiblen Neuronen gebildet und blind (Rindenblindheit).
verarbeiten die von den Sinneszellen aufgenom-
menen Informationen. Dem Sehzentrum benachbart sind verschiede-
– Primäres sensorisches Rindenfeld (= Körper- ne optische Assoziationszentren, z. B. das
fühlsphäre). Das Zentrum befindet sich in der optische Erinnerungszentrum für die Schrift
hinteren Zentralwindung (Gyrus postcentra- (= optisches Lese- und Schreibzentrum).
lis) des Scheitellappens, wo die sensiblen Kör-
perfühlbahnen enden. Diese leiten die Infor-
mationen von den Tast-, Druck-, Temperatur-

P Fällt das Zentrum der optischen Erinnerung
aus, kann der Mensch zwar sehen, aber nicht
und Schmerzrezeptoren der Haut, den Mus-
erklären, was er gesehen hat. Dies wird als
keln, Gelenken und inneren Organen in das
„Seelenblindheit“ bezeichnet.
Zentrum. Hier werden sie dann zu Tast-,
Druck-, Temperatur- und Schmerzempfindun- – Zentren für Geschmacks- und Geruchsemp-
gen verarbeitet und bewusst wahrgenommen findungen. Beide Zentren liegen an der Innen-
(✑ auch Abb. 17.17, S. 350). seite des Schläfenlappens (Gyrus parahippo-
– Hörzentrum. Das Hörzentrum liegt im Schlä- campalis), wobei sich das Geruchszentrum im
fenlappen und ist nur wenige Millimeter groß. vorderen Abschnitt befindet.
Es ist für die Wahrnehmung von Lauten und
Tönen zuständig.
Merke

P Ausfall des Hörzentrums führt zur Taubheit. Die Organe des Körpers sind bestimmten sen-
siblen und motorischen Regionen der Endhirn-
– Sensorisches Sprachzentrum (= Wernicke- rinde zugeordnet. Dies bezeichnet man als
Zentrum). Dieses Zentrum befindet sich hin- Somatotopie (✑ Abb. 17.8).
ter dem Hörzentrum im Schläfenlappen und
ist wie das motorische Sprachzentrum meist In den primären Projektionsfeldern der Motorik
nur in der linken Endhirnhälfte zu finden. Es (vordere Zentralwindung) und Sensibilität (hin-
ist für das Verstehen und die Interpretation tere Zentralwindung) der Endhirnrinde sind die
von Wörtern zuständig. einzelnen Organe nicht nach ihrer Größe, son-
dern entsprechend ihrer funktionellen oder bio-
logischen Wertigkeit repräsentiert. Das heißt, je

P Ausfall bedeutet „Seelentaubheit“. Dem bedeutungsvoller ein Organ diesbezüglich ist,
Kranken fehlt die Spracherinnerung. Worte und desto größer ist die räumliche Ausdehnung sei-
Silben werden als „Wortsalat“ hervorgebracht nes Rindenbezirkes und umgekehrt.
(Paraphasie).

– Sehzentrum. Übersicht über die paarig angelegten Basalganglien. Tab. 17.3


Das Sehzentrum liegt
in der Kalkarinarinde Basalganglien
oder Area striata des
Hinterhauptlappens.
In dieser primären Seh- Streifenkörper Vormauer Mandelkörper
(Corpus striatum) (Claustrum) (Corpus amygdaloideum)
rinde endet die vom
seitlichen Kniehöcker
des Thalamus kom-
mende Sehbahn, und Schweifkern Linsenkern
(Nucleus caudatus) (Nucleus lentiformis)
hier entstehen die opti-
schen Wahrnehmun-
gen.
Schale Bleicher Kern
(Putamen) (Pallidum)
17.3 Gehirn 339

Gyrus postcentralis Gyrus praecentralis


– sensorisch – motorisch

Repräsentation des Körpers im Gyrus postcentralis und praecentralis (Somatotopie). Abb. 17.8

So ist zum Beispiel das sehr gut abgestimmte Basalganglien (= Stammganglien)


Bewegungsspiel der für Hand und Mund zustän- Die grauen Kerne des Endhirns werden als Ba-
digen Muskeln darauf zurückzuführen, dass salganglien bezeichnet. Sie liegen in seiner Tiefe
diese über die Hälfte der motorischen Repräsen- und werden von weißer Substanz eingeschlos-
tation in der vorderen Zentralwindung einneh- sen.
men.

Längsfurche
primäres motorisches (Fissura longitudinalis
Rindenzentrum cerebri)
Endhirnrinde
(Cortex cerebri),
graue Substanz
Hirngewölbe (Substantia grisea)
(Fornix) weiße Substanz
(Substantia alba)
Schweifkern
(Nucleus caudatus) Balken
(Corpus callosum)
Thalamus
Vormauer innere Kapsel
(Claustrum) (Capsula interna)
mit
Linsenkern- Projektionsbahnen
schale (nicht dargestellt)
(Putamen)
Mandelkörper
Bleicher Kern (Corpus amygdaloideum
(Pallidum)
Hypothalamus
Linsenkern
(Nucleus lentiformis) rechte Hemisphäre alinke Hemisphäre

Kerne des Endhirns (Frontalschnitt). Abb. 17.9


340 17 Nervensystem

Die Basalganglien sind ein wichtiges Bindeglied – Assoziationsbahnen: Sie verbinden die Zen-
zwischen den motorischen Zentren der Großhirn- tren innerhalb einer Endhirnhemisphäre unter-
rinde und denen des Hirnstammes; sie sind aber einander.
der Rinde untergeordnet. – Kommissurenbahnen: Sie verbinden die bei-
den Hemisphären miteinander.
Aufgaben
Die Basalganglien sind vor allem am Zustande- Merke
kommen und der Sicherung der normalen Bewe-
gungsabläufe beteiligt. Das heißt, als Teil des Das wichtigste Kommissurensystem ist der
extrapyramidal-motorischen Systems Balken (Corpus callosum).
– sichern sie die Flüssigkeit und Zweckmäßig-
keit der Bewegungen sowie automatisierte und – Projektionsbahnen: Diese Leitungsbahnen
individuelle Mitbewegungen, verbinden das Endhirn mit den anderen Hirn-
– koordinieren sie die Bewegungen und sind teilen und dem Rückenmark.
mitverantwortlich für Mimik und Muskeltonus,
Merke
– integriert der Mandelkörper Umweltreize und
inneres Milieu und beeinflusst somit die Das Hauptprojektionssystem ist die innere
Tätigkeit des vegetativen Nervensystems. Kapsel (Capsula interna), die in Wirklichkeit
keine Kapsel ist, sondern ein Gebiet, in dem
Merke die meisten afferenten und efferenten Projek-
Koordinierte und orientierte Handlungen bis tionsfasern auf engstem Raum verlaufen.
hin zum Persönlichkeitsprofil sind immer das
Ergebnis des Zusammenwirkens aller Funk- ❑
P Schädigungen der inneren Kapsel entstehen
tionszentren der Endhirn- bzw. Großhirnrinde z. B. bei Blutungen. Sie führen zu schwerwie-
mit den übrigen Teilen des Nervensystems. genden Ausfällen (z. B. Halbseitenlähmungen).
Weiße Substanz (Substantia alba)
Sie befindet sich unter der Hirnrinde. Man unter- Limbisches System
scheidet folgende Leitungsbahnsysteme: Es wird aus Hirnteilen gebildet, die wie ein Saum
(Limbus) an der Innenfläche der Endhirnhemi-
sphäre um den Balken und den
3. Ventrikel liegen.
vorderer Schweifkern
Thalamuskern (Nucleus caudatus) Zum limbischen System gehören
(Nucleus thalami Hirngewölbe u. a.:
anterior) (Fornix) – das Ammonshorn (Hippocam-
Balken pus) am Boden des seitlichen
(Corpus Ventrikels,
callosum)
– die Ammonshornwindung (Gy-
rus hippocampi) unmittelbar
neben dem Zwischenhirn,
– die Gürtelwindung (Gyrus cin-
guli; gehört teils zum Stirn-
Ammonshorn und teils zum Schläfenlappen),
(Hippocampus)
– das Hirngewölbe (Fornix) um
Teil des Hirnstamm
Riechhirns den 3. Ventrikel,
(Truncus cerebri)
(Bulbus olfactorius) – Teile des Riechhirns (z. B.
Mandelkörper
Hirnanhangdrüse (Corpus amygdaloi- Bulbus olfactorius),
(Hypophyse) deum) – der Mandelkörper (Corpus
Hypothalamus amygdaloideum) im Schläfen-
lappen und
Abb. 17.10 Limbisches System. – der vordere Thalamuskern
(Nucleus thalami anterior).
17.3 Gehirn 341

Merke – Kniehöcker: Sie liegen zu zweit im unteren


hinteren Bereich und dienen als Umschaltzen-
Alle Strukturen des limbischen Systems haben tren der zentralen Sehbahn (seitlicher Knie-
enge Verbindungen zum Hypothalamus. höcker = Corpus geniculatum laterale) und
zentralen Hörbahn (mittlerer Kniehöcker =
Funktionen Corpus geniculatum mediale).
– Steuerung des emotionalen Verhaltens und da-
mit des Motivationsgefüges zur besseren An- Merke
passung an die konkrete Umweltsituation; Im Thalamus erfolgt die Umschaltung der meis-
– Regulierung der Lern- und Gedächtnisprozesse; ten Sinnesbahnen, wobei eine „Filterung“ er-
– als dem Hypothalamus direkt übergeordnete folgt, d. h., nur die aktuell benötigten Informa-
Zentrale beeinflusst das limbische System tionen werden zum Endhirn weitergeleitet.
zahlreiche vegetative Funktionen wie Blut-
druck, Verdauung und Herzfrequenz.
Hypothalamus
Der Hypothalamus liegt unter dem Thalamus,
Merke getrennt durch eine Furche (Sulcus hypothalami-
Das limbische System steuert vordergründig cus), und bildet den Boden des 3. Ventrikels.
die Verhaltensweisen, die die Befriedigung der
primären Bedürfnisse sichern, also letztendlich Aufgaben
der Erhaltung der Art dienen (✑ S. 371). In den Kerngebieten des Hypothalamus liegen
die übergeordneten Zentren des vegetativen
Nervensystems.

P Erkrankungen des limbischen Systems kön-
1. Hunger- bzw. Esszentrum. Regulation des
nen zu fehlangepassten Verhaltensweisen führen. Appetits und der Verdauungsfunktionen.


P Bei Ausfall erlischt das Bedürfnis zur Nah-
rungsaufnahme.
17.3.3 Zwischenhirn (Diencephalon)
2. Durstzentrum. Hier wird die Flüssigkeitsauf-
Das Zwischenhirn wird zum größten Teil vom nahme reguliert.
Endhirn überlagert. Nur kleinere Abschnitte sind 3. Temperaturregulationszentrum. Hier aus wird
an der Hirnbasis sichtbar. die Körpertemperatur reguliert (✑ S. 210).
Es wird hauptsächlich aus 2 Abschnitten ge- 4. Sexualitätszentrum. Durch die Bildung der
bildet, dem viel größeren Thalamus und dem Releasing- und Inhibitinghormone werden die
darunter liegenden kleineren Hypothalamus. Sexualfunktionen regulierend beeinflusst.
Beide Abschnitte begrenzen den spaltförmigen
3. Ventrikel und werden dadurch in einen linken Merke
und rechten Anteil getrennt.
Über dem Hypophysenstiel (Infundibulum)
Thalamus steht der Hypothalamus und damit das Gehirn
Der Thalamus besteht überwiegend aus grauer mit der Hypophyse in Verbindung. Er stellt
Substanz, die zahlreiche Kerngebiete bildet. somit das zentrale Bindeglied zwischen
Nervensystem und Hormonsysten dar.
Aufgaben
– Vorderer Kern (Nucleus anterior thalami):
Umschaltstation der Riechbahn.
– Seitlicher Kern (Nucleus lateralis thalami):
Umschaltstation aller sensiblen Bahnen zur
hinteren Zentralwindung (Körperfühlsphäre).
– Mittlerer Kern (Nucleus medialis thalami):
Regulierende Beeinflussung der Bahnen zur
Bewegungssteuerung.
342 17 Nervensystem

17.3.4 Mittelhirn (Mesencephalon) – die Haube (Tegmentum),


– die Großhirnschenkel (Cruca cerebri) oder
Das Mittelhirn schließt sich als kleinster Hirnab- Großhirnstiele (Pedunculi cerebri).
schnitt dem Zwischenhirn an und ist oberster
Teil des Hirnstammes. Der Hirnstamm selbst Das Dach (Tectum, Vierhügelplatte) des Mittel-
besteht aus dem Mittelhirn, der Brücke und hirns liegt dorsal und wird vom Endhirn über-
endet mit dem verlängerten Mark, das auf der deckt. Es wird aus der Vierhügelplatte gebildet
Höhe des Hinterhauptlochs in das Rückenmark (✑ Abb. 17.12). In den 2 oberen Hügeln befindet
übergeht. sich die Umschaltstelle für die Sehbahn und in
den 2 unteren die für die Hörbahn. Von diesen
Bevor das Mittelhirn und die weiteren Hirnab- Zentren ziehen Reflexbahnen zum Rückenmark
schnitte näher erläutert werden, ist es erforder- weiter.
lich, auf die Hirnnervenkerne einzugehen. Auch
diese Kerne bestehen aus abgegrenzten Ansamm- ❑
P Bei Tumoren in der Vierhügelplatte kann es
lungen von Nervenzellkörpern (Perikaryen). Bei zu Blickparesen (Lähmungen) und Hörstörun-
den Kerngebieten der Hirnnerven werden moto- gen kommen.
rische und sensible (sensorische) unterschieden.
Die motorischen Hirnnervenkerne sind Ur- Die Haube (Tegmentum) liegt zwischen Dach
sprungskerne. Sie bestehen aus den Perikaryen und Hirnschenkeln. Sie enthält
des 2. peripheren motorischen Neurons, deren – wichtige Kerngebiete, die für den Ablauf
Neuriten die peripheren Hirnnerven bilden (✑ automatischer Bewegungen bedeutungsvoll
Abb. 17.18, S. 351 und Kap. 17.9.1). sind und zum extrapyramidal-motorischen
Die sensiblen Hirnnervenkerne sind Endkerne System (EPS) gehören;
und werden von den Perikaryen der 2. sensiblen – die Ursprungskerne der Hirnnerven 3 und 4.
Neurone gebildet. Die Perikaryen der 1. sensi- Diese sind zuständig für
blen Neurone – pseudounipolare Nervenzellen – • die Steuerung der Augenbewegungen,
sitzen in den Hirnnervenganglien (✑ Abb. 17.17, • den Pupillenreflex und
S. 350). • die Akkommodation;
– durchlaufende sensible Bahnen, z. B. zum
Man untergliedert das Mittelhirn in 3 Teile mit Zwischenhirn und Hörzentrum.
2 motorischen Kerngebieten:
– das Dach (Tectum), Die 1,5 cm langen Großhirnschenkel (Crura
cerebri) liegen ven-
dorsal tral. Sie beginnen
Verbindung zwischen am oberen Brücken-
Zirbeldrüse 3. und 4. Hirnventrikel rand und treten dann
(Corpus pineale) (Aquaeductus cerebri)
in die Tiefe. In den
oberer Hügel Dach Großhirnschenkeln
(Colliculus cranialis) (Tectum) befinden sich die
Haube Nervenfasern vom
(Tegmentum)
Endhirn zum Klein-
hirn und der Pyra-
roter Kern midenbahn.
(Nucleus ruber)
schwarze Kerngebiete des
Substanz Mittelhirns
(Substantia
Großhirn- Im Mittelhirn heben
nigra)
schenkel sich 2 größere Kerne
ventral (Cruca cerebri) ab. Sie sind Teil der
Formatio reticularis.
Abb. 17.11 Mittelhirn mit Kerngebieten (Querschnitt).
17.3 Gehirn 343

Balken
(Corpus callosum)
Adergeflecht
Gewölbebogen (Plexus choroideus)
(Fornix) Epiphyse
Thalamus (Epiphysis cerebri)
3. Ventrikel Zirbeldrüse
(Ventriculus tertius) (Corpus pineale)

Hypophysenstiel Vierhügelplatte
(Lamina tecti)
Sehnerven-
kreuzung Kleinhirn
(Cerebellum)
Hirnanhangs-
drüse 4. Ventrikel
(Hypophyse) Mittelhirn (Ventriculus quartus)
(Mesencephalon)
Brücke verlängertes Mark
(Pons) Wasserkanal (Medulla oblongata)
(Aquaeductus cerebri)

Hirnstamm und Kleinhirn (Medianschnitt). Abb. 17.12

• Roter Kern (Nucleus ruber) • Bewegungsarmut (Akinese),


Der rote Kern ist kugelförmig. Die rötliche • erhöhte Muskelspannung (Rigor),
Farbe beruht auf der Einlagerung eisenhalti- • Zittern (Tremor),
ger Farbstoffe. Er ist Umschaltstation für • Störungen des vegetativen Nervensystems,
Informationen des extrapyramidal-motori- • Verlangsamung des Gedankenablaufs.
schen Systems zwischen Endhirn, Kleinhirn
und Rückenmark und koordiniert in diesem
Zusammenhang das Zusammenspiel der 17.3.5 Brücke (Pons)
Beuger und Strecker beim Gehen und Laufen.
Die Brücke ist an der Hirnbasis als vorspringen-

P Störungen des Nucleus ruber äußern sich der weißer Querwulst zwischen verlängertem
u. a. als Mark und Mittelhirn sichtbar. Sie besteht aus
– ungeordnete Bewegungen (Ataxien), – quer verlaufenden Nervenfasern, die End- und
– fehlerhaftes Muskelzusammenspiel und Kleinhirnrinde verbinden. In diese Nerven-
– Zittern. bahnen sind die Brückenkerne eingeschaltet,
sodass die Brücke hier als Schaltstation dient;
• Schwarze Substanz (Substantia nigra) – motorischen und sensiblen Nervenfasern, die
Das Kerngebiet liegt als flächenhafte Nerven- zwischen Endhirn und Rückenmark verlaufen.
zellplatte zwischen Haube und Hirnschenkeln.
Die Nervenzellkörper enthalten Melanin, da-
her die dunkle Farbe.
Die Substantia nigra ist wechselseitig verbun- 17.3.6 Kleinhirn (Cerebellum)
den mit den Basalganglien und dem Endhirn.
Ihre Zellen sind zuständig für die Produktion Das Kleinhirn befindet sich in der hinteren
des Neurotransmitters Dopamin, das in den Schädelgrube unterhalb des Hinterhauptlappens
Basalganglien benötigt wird. des Großhirns. Wie das Großhirn besteht auch
dieser Hirnteil aus 2 Hemisphären, die in der
Mitte durch den Kleinhirnwurm (Vermis cere-

P Eine Störung der Dopaminsynthese in der
belli) verbunden werden. Die Kleinhirnrinde
Substantia nigra führt zur Parkinson’schen (Cortex cerebelli) bildet die Hülle und weist an
Erkrankung mit den Symptomen: ihrer Oberfläche zahlreiche quer verlaufende
344 17 Nervensystem

Furchen auf. Im Inneren der Hemisphären unter ❑


P Verletzungen der Medulla oblongata sind
der Rinde befindet sich die weiße Substanz, die mit der Gefahr des Atem- und nachfolgenden
sich in Form der Kleinhirnstiele in die benach- Herzstillstandes verbunden.
barten Hirnteile (Mittelhirn, Brücke, Medulla
oblongata) fortsetzt. In beiden Kleinhirnhemi-
Merke
sphären befinden sich außerdem jeweils 4 Klein-
hirnkerne. Durch verlängertes Mark, Brücke, Mittelhirn
und Zwischenhirn verlaufen sämtliche sensi-
Funktionen des Kleinhirns blen und motorischen Nervenbahnen zwischen
Das Kleinhirn dient in erster Linie dazu, die Rückenmark und Endhirnrinde. Die sensiblen
Tätigkeit der anderen motorischen Zentren zu Bahnen liegen mehr dorsal und die motori-
unterstützen und miteinander zu koordinieren. schen ventral.
Insbesondere ist es zuständig für
– die Erhaltung des Gleichgewichts, indem es
Muskelbewegungen und -spannungen aufein-
ander abstimmt und 17.3.8 Netzsubstanz (Formatio reticularis) und
– die reibungslose Durchführung der vom End- aufsteigendes retikuläres aktivierendes
hirn „entworfenen“ schnellen Zielmotorik. System (ARAS)
Zu diesem Zweck erhält das Kleinhirn sensible
Informationen von den Muskeln und Sehnen, Zwischen den abgegrenzten Kernen und spezifi-
Informationen vom Gleichgewichtsorgan und von schen Nervenbahnsystemen in verlängertem Mark,
der Großhirnrinde. Alle diese Informationen Brücke, Mittelhirn und Zwischenhirn befinden
werden vom Kleinhirn verarbeitet und anschlie- sich verstreut liegende, unterschiedlich große
ßend in extrapyramidalen Bahnen (s. S. 352) den Neuronengruppen. Es handelt sich v. a. um
peripheren Neuronen zugeleitet. Zwischenneurone mit vielen Dendriten und
Synapsen. Diese Neurone bilden die sog. Netz-
substanz. Am stärksten ist sie im Mittelhirn

P Plötzlicher Funktionsausfall des Klein- (Nucleus ruber, Substantia nigra) ausgeprägt.
hirns führt zu starkem Schwindelgefühl. Ge-
zielte Bewegungen können nicht mehr durchge- Aufgaben
führt werden. Das Gesicht erhält ein starres In der Formatio reticularis bleibt immer ein Teil
Aussehen. der zum Endhirn laufenden Afferenzen „hängen“
und erzeugt hier unspezifische Erregungen. Diese
bilden die Grundlage für die Entstehung von auf-
17.3.7 Verlängertes Mark (Medulla oblongata) steigenden aktivierenden Impulsen, die vor allem
zu den unspezifischen Thalamuskernen gelangen
Die Medulla oblongata verbindet das Rücken- und selbige aktivieren. Durch dieses aufsteigen-
mark mit der Brücke. Es beginnt also in Höhe de retikuläre aktivierende System bestimmt die
des Atlas. Formatio reticularis maßgeblich den „Wachheits-
Seine Hauptbestandteile sind: grad“ des ZNS und beeinflusst Vorgänge wie
– afferente (sensible) und efferente (motorische) – Schlaf-wach-Rhythmus,
Nervenbahnen, die vom Rückenmark zum – Informationsaustausch,
Gehirn führen und umgekehrt; – Aufmerksamkeit und Konzentrationsvermögen,
– Atmungsregulationszentrum; – Emotionen,
– Herz-Kreislauf-Zentrum (kardiovaskuläres – vegetative Funktionen (z. B. Atmung, Kreislauf).
Zentrum); Neben den afferenten Bahnen führen von der
– Sitz der Pyramidenkreuzung; Formatio reticularis auch efferente über Zwi-
– verschiedene Reflexzentren (z. B. Husten-, schenneurone zu den Motoneuronen der Vorder-
Nies-, Schluck- und Brechreflex). säulen im Rückenmark. Auf diese Weise wird
der allgemeine Tonus der Skelettmuskulatur be-
einflusst.
17.5 Schutzeinrichtungen des ZNS 345

Merke ❑
P Sind die Öffnungen zwischen äußerem und

Die Formatio reticularis beeinflusst als Koordi- innerem Liquorraum nicht angelegt oder ver-
nator des Hirnstammes Bewusstsein, Motorik, legt, entsteht der „Wasserkopf“ (Hydrocepha-
vegetative Funktionen und Emotionen. Die lus).
dazu notwendigen Informationen erhält sie von
allen Sinnessystemen, vom Hypothalamus,
Thalamus, dem limbischen System sowie
bestimmten Arealen der Endhirnrinde. 17.5 Schutzeinrichtungen des ZNS
Die Formatio reticularis ist der Assoziations-
apparat des Hirnstammes. Das ZNS wird von knöchernen Hüllen (Wirbel-
kanal, Schädelhöhle), 3 Rückenmarks- bzw.
Hirnhäuten (Meningen) und von 1 Liquorhülle
geschützt.
Die Hirn- bzw. Rückenmarkshäute sind:
17.4 Hirnkammern – harte Hirn- bzw. Rückenmarkshaut (Dura
(Ventriculi encephali) mater encephali bzw. spinalis). Die feste und
derbe Dura mater ist als äußerste Haut mit der
Im Gehirn liegen 4 mit Liquor gefüllte Hirn-
knöchernen Umgebung verwachsen;
kammern (Ventrikel; ✑ Abb. 17.12, S. 343 und
– Spinnwebenhaut (Arachnoidea encephali bzw.
Abb. 17.14, S. 347).
spinalis) liegt direkt unter der Dura. Sie be-
– 1. und 2. Ventrikel
steht aus einer dünnen Lage Bindegewebe,
Sie liegen in der rechten und linken Endhirn-
dessen kollagene Fasern einander überkreuzen
hemisphäre und werden auch als Seiten-
und enthält keine Blutgefäße;
ventrikel bezeichnet.
– weiche Hirn- bzw. Rückenmarkshaut (Pia
– 3. Ventrikel
mater encephali bzw. spinalis). Die ebenfalls
Dieser liegt als spaltförmiger Raum im Thala-
zarte, dünne, aber gefäßreiche Pia mater
mus.
schmiegt sich dem Gehirn und Rückenmark an
– 4. Ventrikel
und dringt in sämtliche Vertiefungen ein.
Diese Hirnkammer befindet sich im Rauten-
hirn (Rhombencephalon). Ihr Boden ist die
Rautengrube (Fossa rhomboidea), und das Dach ❑
P Meningitis ist eine Entzündung der Hirn-
wird aus Teilen des Kleinhirns gebildet. häute.
Beide Seitenventrikel sind jeweils durch das
Zwischenkammerloch (Foramen interventricu- Subarachnoidalraum
lare) mit dem 3. und dieser durch einen Kanal Dies ist ein Spaltraum zwischen Arachnoidea
(Aquaeductus cerebri) mit dem 4. Ventrikel ver- und Pia mater, der mit Liquor gefüllt ist.
bunden.
Merke
Im beschriebenen Hohlraumsystem befindet Das ZNS ist allseitig von Liquor wie mit einem
sich die Hirn-Rückenmark-Flüssigkeit (Liquor Wasserkissen schützend umgeben. Auf diese
cerebrospinalis). Sie wird von Venengeflechten Weise werden mechanische Erschütterungen
(Plexus chorioideus), die sich in allen Hirn- abgefedert. Außerdem kommt es bei begrenz-
kammern befinden, gebildet. Die 4 Hirnkam- ten Hirnschwellungen nicht zu einem intra-
mern bilden den inneren Liquorraum. Er steht craniellen Druckanstieg.
über 3 Öffnungen im Boden des 4. Ventrikels mit
dem äußeren Liquorraum (Subarachnoidalraum,
Zentralkanal des Rückenmarks) in Verbindung:

P Bei der Lumbalpunktion wird beim sitzen-

– eine mediane Öffnung (Apertura mediana den Menschen eine Kanüle zwischen L3 und L4
ventriculi quarti = Magendie-Loch) hinten; oder L4 und L5 in den Subarachnoidalraum
– zwei laterale Öffnungen (Apertura latera- geführt, um Liquor zu gewinnen. Das Rücken-
lis ventriculi quarti = Luschka-Loch) hinter mark kann dabei nicht verletzt werden, da es
sowie unter der 4. Hirnkammer. in Höhe von L2 endet.
346 17 Nervensystem

Rückenmark
weiche
Rückenmarkhaut harte
(Pia mater spinalis)
Rückenmarkhaut
äußerer Liquorraum (Dura mater spinalis)
(Subarachnoidalraum) – inneres Blatt –
Spinnwebenhaut Epiduralraum
(Arachnoidea spinalis)
harte
Wirbel Rückenmarkhaut
(Dura mater spinalis)
Zwischen- – äußeres Blatt –
wirbelscheibe Rückenmarknerv
vorderer Ast (N. spinalis)
(Ramus ventralis)
hinterer Ast
Grenzstrangganglien (Ramus dorsalis)
des Sympathicus

Abb. 17.13 Rückenmarkhäute.

Zwischen Arachnoidea und Pia mater von durae matris). Durch ihre besondere Wandstruk-
Rückenmark und Gehirn gibt es keine nennens- tur (um den Endothelschlauch befindet sich
werten Unterschiede. straffes Bindegewebe der Dura mater encephali)
können sie nicht kollabieren und werden deshalb
Harte Rückenmarkhaut (Dura mater spinalis) nicht als Venen bezeichnet.
Die harte Rückenmarkshaut bildet im Wirbel-
kanal ❑
P Ein Tentoriumriss (Riss im Kleinhirnzelt)
– ein äußeres Blatt: Es kleidet als Periost den kann während der Geburt eines Kindes durch
Wirbelkanal aus; zu großen Druck im Geburtskanal lebensge-
– ein inneres Blatt: In ihm steckt das Rücken- fährliche Blutungen zur Folge haben.
mark wie in einem Sack. Blutungen im Bereich der Hirnhäute, wie sie
Zwischen diesen beiden Blättern befindet sich z. B. bei Schädel-Hirn-Traumen entstehen,
der Epiduralraum, angefüllt mit Fettgewebe und können zu lebensgefährlichen Hirndruck-
Venengeflechten zum Schutz des Rückenmarkes erhöhungen führen. Das Blut sammelt sich in
vor Zerrungen. den entsprechenden Räumen.

Harte Hirnhaut (Dura mater encephali)


Bei der harten Hirnhaut sind die 2 Blätter ver-
schmolzen. Sie lässt sich vom Knochen nur
schwer ablösen und bildet aus kollagenem 17.6 Gehirn-Rückenmark-Flüssig-
Bindegewebe bestehende Fortsätze, die als keit (Liquor cerebrospinalis)
Scheidewände schützend zwischen bestimmten
Hirnteilen liegen. Die wichtigsten sind: Der Liquor befindet sich im inneren Liquorraum
– Großhirnsichel (Falx cerebri) zwischen den (= Ventrikelsystem) und im äußeren Liquorraum
Großhirnhemisphären, (= Subarachnoidalraum, Zentralkanal des Rücken-
– Kleinhirnzelt (Tentorium cerebelli) zwischen marks).
Hinterhauptlappen und Kleinhirn. Menge:
Ca. 150 Milliliter, davon ca. 35 Milliliter in den
Blutleiter der harten Hirnhaut 4 Ventrikeln.
Innerhalb der harten Hirnhaut verlaufen die Bildung:
klappenlosen venösen Hirnblutleiter (Sinus Die Produktion erfolgt hauptsächlich in den zot-
17.6 Gehirn-Rückenmarks-Flüssigkeit 347

tenartigen Adergeflechten
(Plexus choroidei1)) der vier Innerer und äußerer Liquorraum
Hirnventrikel durch Ultra-
Subarachnoidalraum
filtration aus dem Blut (Cavum subarachnoidale)
(Tagesmenge ca. 650 ml).
knöchernes
Resorption: Schädeldach
Die Resorption in das Blut (Calvaria)
erfolgt im äußeren Liquor- Seitenventrikel
raum im Bereich der Rücken- (1. und 2. Ventrikel)
markswurzeln sowie durch „Wasserkanal“
(Aquaeductus cerebri)
die Zotten der Arachnoidea,
die sich in die venösen
4. Ventrikel
Hirnblutleiter vorwölben.
Zentralkanal
Blut-Liquor- bzw. Zwischenkammerloch
Blut-Hirn-Schranke (Foramen interventriculare)
Die aus 3 Schichten (Plexus- 3. Ventrikel
epithel, Basalmembran, Hirn-
kapillarendothel) bestehende
Permeabilitätsbarriere be- Schichten des Schädeldaches, Hirnhäute
dingt eine unterschiedliche aufgelockerte
Zusammensetzung von Blut- äußere kompakte Knochenschicht
serum und Liquor. Dies ist Knochenschicht (Diploe)
ein weiterer Schutzmecha- innere kompakte
nismus für das hochemp- Knochenschicht
findliche ZNS. Schädeldach
(Calvaria)
venöser
Zusammensetzung: harte Hirnhaut Blutleiter
(Dura mater encephali)
Der Liquor beim gesunden Liquorraum
weiche Hirnhaut
Menschen ist eine eiweiß- (Pia mater encephali)
arme wasserklare Flüssig-
Großhirnrinde Spinn-
keit, deren Zusammenset- (Cortex cerebri) webenhaut
zung aufgrund ständiger (Arachnoidea
Austauschprozesse geringfü- encephali)
gig schwankt.

Messgrößen lumbal: Schutzeinrichtungen von Gehirn und Rückenmark. Abb. 17.14


Eiweiß = 190 – 420 mg/l,
Glucose = 2,7 – 4,2 mmol/l,
Leukozyten = < 4  106/l.

P Bei Erkrankungen des ZNS kann sich die
Aufgaben: Zusammensetzung des Liquors verändern (bei
– Mechanische (Schutz-)Funktion; Gehirn und Meningitis kann er wegen Erhöhung der
Rückenmark werden „schwebend“ gehalten. Lymphozytenzahl und des Eiweißgehaltes trüb,
– Temperaturausgleich. bei Blutungen rötlich oder gelblich sein). Zu
– Versorgung des Nervengewebes. diagnostischen Zwecken wird durch Lumbal-
punktion – selten durch Subokzipitalpunktion –
Liquor entnommen. Beide Punktionsarten er-
möglichen auch die Verabreichung von Medi-
kamenten direkt in den Liquor.

1) in Ventrikel eingewachsene Gefäßnetze


348 17 Nervensystem

17.7 Blutversorgung des Gehirns das Blut in die oberflächlichen Hirnvenen und
sammelt sich in den Sinus der Dura mater. Von
Der Blutzufluss erfolgt über 4 große Arterien: diesen fließt es in die innere Drosselvene
– rechte innere Kopfarterie (A. carotis interna (V. jugularis interna).
dextra),
– linke innere Kopfarte-
rie (A. carotis interna
sinistra),
– rechte Wirbelarterie
(A. vertebralis dextra), vorderer
– linke Wirbelarterie (A. Verbindungsast
(A. communicans
vertebralis sinistra). anterior)
Beide Wirbelarterien ver-
einigen sich am oberen innere
Kopfarterie
Rand der Medulla oblon- (A. carotis
gata zur Schädelbasis- interna)
arterie (A. basilaris).
hinterer
Arterienring Verbindungsast
(A. communicans
(Circulus arteriosus cere- posterior)
bri)
Die A. basilaris und die Schädelbasis-
arterie
beiden inneren Kopfarte- (A. basilaris)
rien sind durch verschie-
dene Arterienäste zu ei- Wirbelarterie
(A. vertebralis)
nem Arterienring zusam-
mengeschlossen. Von die-
sem Ring aus werden die
einzelnen Hirnteile von Arterielle Blutversorgung des Gehirns. Abb. 17.15
der Oberfläche her ver-
sorgt.

P Ein Platzen der Arte-
rien führt zu Hirnblu- Sinus sagittalis
superior
tungen, die z. B. im
Bereich der inneren Sinus sagittalis
Kapsel Nervenbahnen inferior
schädigen können, so- Sinus rectus
dass eine Halbseiten- innere Kopfarterie
lähmung entsteht. Ver- (A. carotis interna)
engungen oder Ver-
Sinus cavernosus
schluss dieser Arterien
führen zu Durchblu- Sinus petrosus
tungsstörungen unter- superior
schiedlichen Grades Sinus sigmoideus
bis zum Schlaganfall Gesichtsvene
(Apoplexie). (V. facialis)

innere Drosselvene
Der Blutabfluss aus dem (V. jugularis interna)
Schädelinneren geschieht
folgendermaßen: Von den Venöser Hirnblutleiter (Sinus durae matris). Abb. 17.16
tiefen Hirnvenen gelangt
17.8 Leitungsbahnen des ZNS 349

17.8 Leitungsbahnen des ZNS Die peripheren Fortsätze dieser Zellen sind
mit den Rezeptoren (Schmerz, Druck, Tempe-
Die Bereiche des ZNS werden miteinander ratur, Tiefensensibilität) verbunden. Die zen-
durch afferente (sensible) und efferente (motori- tralen Fortsätze ziehen bei den Rückenmarks-
sche) Leitungsbahnen verbunden. nerven als sensible Hinterwurzel in das
Rückenmark und enden entweder im Hinter-
horn oder in der Medulla oblongata. Bei den
17.8.l Sensible aufsteigende Leitungsbahnen Hirnnerven enden sie in den sensiblen Hirn-
nervenkernen.
In den sensiblen Leitungsbahnen werden die – Zweites sensibles Neuron
Informationen von den Sinneszellen (z. B. Es beginnt im verlängerten Mark. Die Neuri-
Wärme, Druck) und Nervenendungen (z. B. ten dieser Neurone kreuzen entweder im
Schmerz) des Körpers den entsprechenden Teilen Rückenmark oder der Medulla oblongata auf
des ZNS zugeleitet. An der Leitung zur End- die Gegenseite und ziehen zum Thalamus.
hirnrinde sind 3 sensible Neurone beteiligt: – Drittes sensibles Neuron
– Erstes sensibles Neuron (= peripheres sensi- Es geht vom Thalamus aus. Die Neuriten dieser
bles Neuron) Neurone verlaufen durch die innere Kapsel
Diese Neurone sind pseudounipolare Nerven- und enden in der hinteren Zentralwindung
zellen. Die Nervenzellkörper liegen bei den (Körperfühlsphäre). Hier entstehen die Empfin-
Rückenmarksnerven in den Spinalganglien dungen und Wahrnehmungen. Die Neuriten der
und bei den Hirnnerven in den Hirnnerven- 2. sensiblen Neurone, die für die Tiefensensi-
ganglien. bilität zuständig sind, führen zum Kleinhirn.

Sensible (afferente, aufsteigende) Leitungsbahnen. Tab. 17.4


Lage Schaltstellen/ Kreuzung Funktion
Synapsen
1. Tractus spinotha- Hinterstrang Medulla Medulla feine Tast- und
lamicus posterior oblongata; oblongata Berührungsempfin-
Thalamus dungen
1a. Fasciculus – medial; mit den Vibration,
gracilis Fasern aus der unte- bewusste
(Goll-Strang) ren Rumpfhälfte und Tiefensensibilität
den Beinen (Information über
1b. Fasciculus – lateral; mit den Gelenkstellungen und
Muskelspannungen)
cuneatus Fasern aus der obe-
(Burdach-Strang) ren Rumpfhälfte,
dem Hals und den
Armen
2. Tractus spinotha- Seitenstrang Hintersäule Rückenmark grobe Schmerz- und
lamicus lateralis des Rücken- vor dem Temperaturempfindun-
marks Zentralkanal gen;
in der grobe Druck- und
3. Tractus spinotha- Vorderstrang Hintersäule Commissura Berührungsempfin-
lamicus anterior des Rücken- alba dungen
marks
4. Kleinhirn-Seiten- Seitenstrang; außen Hintersäule Rückenmark unbewusste
strangbahnen des Rücken- und im Tiefensensibilität
marks Kleinhirn aus Muskeln,
4.1 Tractus spinoce- Sehnen und
rebellaris wieder
zurück Gelenken
anterior
(Gowers-Bahn)
4.2 Tractus spinoce-
rebellaris
posterior
350 17 Nervensystem

17.8.2 Motorische
hintere Zentralwindung
(Gyrus postcentralis) absteigende
= Körperfühlsphäre Leitungsbahnen
Endhirnrinde
(Cortex cerebri) Zu den motorischen (abstei-
innere Kapsel der genden, efferenten) Bahnen
Großhirnhälften gehören die Pyramidenbah-
(Capsula interna)
nen und verschiedene extra-
3. sensibles Neuron pyramidale Bahnen. Sie sind
Thalamus für das Zustandekommen der
Brückenkern willkürlichen und unwillkür-
2. sensibles Neuron lichen Bewegungen zustän-
Hirnnervenganglion dig.
1. sensibles Neuron
– sensibler Endkern 1. Pyramidenbahn (Tractus
Kopfganglien pyramidalis)
Medulla oblongata Die Pyramidenbahn dient der
Kleinhirn Willkürmotorik. Sie verbindet
(Cerebellum)
zu diesem Zweck die Endhirn-
peripherer rinde mit den
Fortsatz
– motorischen Hirnnerven-
kernen und
– motorischen Vorderhörnern
des Rückenmarks. Im Unter-
Hinterstrang-
bahnen schied zur afferenten Lei-
tung wird die efferente nur
aus 2 Neuronen gebildet.
Kleinhirn-
Seitenstrang- • Erstes motorisches
bahn (= zentrales) Neuron
Die relativ großen Nerven-
1. sensibles
Neuron zellkörper liegen in der
vorderen Zentralwindung
Skelettmuskel (Gyrus praecentralis) des
mit Stirnlappens. Ihre Axone
Muskelspindel ziehen zum Rückenmark
bzw. zu den motorischen
Hautsinnes- Hirnnervenkernen.
zellen
• Zweites motorisches
(= peripheres) Neuron
Die Nervenzellkörper lie-
peripherer gen in den Vorderhörnern
Fortsatz
des Rückenmarks und im
Spinalganglion Hirnstamm. Ihre Axone
erreichen in den motori-
Abb. 17.17 Sensible Leitungsbahnen. schen Vorderwurzeln und
weiterführenden periphe-
ren Nerven oder in den
Hirnnerven die quer ge-

P Krankheitsbedingte Schäden der Hinter- streifte Muskulatur.
strangbahnen führen zu schweren Sensibilitäts-
und Bewegungsstörungen. Demnach werden 2 Leitungssysteme der Pyrami-
denbahnen unterschieden:
17.8 Leitungsbahnen des ZNS 351

– der Tractus corticonuclea-


ris und vordere
Zentralwindung
– der Tractus corticospinalis. (Gyrus praecentralis)
= Willkürmotorik Endhirnrinde
(Cortex cerebri)
Die Abbildung 17.18 zeigt,
dass die Axone beider Bahn- 1. motorisches Neuron
systeme zunächst gemeinsam oder zentrales
motorisches Neuron
von der vorderen Zentral-
windung folgenden Weg neh- Thalamus
men: innere Kapsel
(Capsula interna)

vordere Zentralwindung quer gestreifte


Kopfmuskulatur

innere Kapsel

Hirnschenkel
Tractus

vordere Seite des Mittelhirns corticonuclearis



verlängertes Mark

Brücke (Medulla oblongata)


Pyramidenbahn-

2. motorisches
verlängertes Mark. kreuzung oder peripheres
(Decussatio pyramidum) motorisches Neuron
Im Hirnstamm kreuzt ein Teil motorische
Hirnnervenkerne
der Axone auf die Gegenseite Pyramidenbahnen
und zieht als Tractus corti-
conuclearis zu den motori-
schen Kerngebieten der Hirn-
motorisches Pyramiden-Seiten-
nerven. Hier werden sie auf strangbahn
Vorderhorn
die 2. motorischen Neurone (Tractus cortico-
umgeschaltet, deren Axone zu spinalis lateralis)
den quer gestreiften Kopf-
2. oder
muskeln ziehen. 80 – 90 % peripheres
der übrigen Fasern kreuzen in motorisches
den Pyramiden der Medulla Neuron
oblongata (Pyramidenbahn-
Skelett-
kreuzung, Decussatio pyrami- muskulatur
dum) auf die Gegenseite und
ziehen als Pyramiden-Seiten-
strangbahn (Tractus cortico-
spinalis lateralis) zu den
motorischen Vorderhörnern
des Rückenmarks. Die restli-
chen 10 – 20 % der Axone
ziehen ungekreuzt als Pyra- Motorische Leitungsbahnen. Abb. 17.18
miden-Vorderstrangbahn
(Tractus corticospinalis ante-
rior) zu ihren Zielsegmenten und kreuzen erst schen Zentren ab, was für die Koordination der
hier auf die Gegenseite. Bewegungsabläufe sehr wichtig ist. Die Pyrami-
Die Axone der Pyramidenbahn geben auf ihrem denbahn übt einen dämpfenden Einfluss auf den
Weg in das Rückenmark über Abzweigungen Ablauf der spinalen Eigenreflexe, die den Mus-
ständig Informationen an die anderen motori- keltonus regulieren, aus (✑ S. 363).
352 17 Nervensystem

Merke rik die Basisimpulse gegeben werden, greift das


EPS regulierend so ein, dass die Bewegungs-
Die Pyramidenbahn wird aus dem Komplex abläufe „glatt“ und individuell werden.
der zentralen motorischen Neurone gebildet. Außerdem ist das EPS für folgende unbewusste
Im Rückenmark wird die Verbindung zu den Muskelaktivitäten zuständig:
Muskeln durch die peripheren motorischen – automatisierte Bewegungsabläufe, z. B. das
Neurone hergestellt. Mitbewegen der Arme beim Gehen und Spre-
chen, sowie

P Schädigungen der Pyramidenbahn führen zu – die Stellung und Haltung im Raum (Gleich-
gewicht).
erhöhtem Muskeltonus und überschießenden
Eigenreflexen (Spastik).
Merke

2. Extrapyramidal-motorische Bahnen Das extrapyramidal-motorische System modi-


Als extrapyramidale Bahnen werden alle motori- fiziert die Willkürmotorik und steuert die
schen Bahnen bezeichnet, die nicht zur Pyrami- unwillkürlichen Muskelbewegungen sowie den
denbahn gehören. Sie ziehen von verschiedenen Muskeltonus. Die Grundlage hierfür sind viel-
subcorticalen (nicht zum Cortex gehörenden) fältige Verschaltungen der extrapyramidalen
motorischen Zentren ebenfalls zu den motori- Kerngebiete untereinander, mit dem Cortex,
schen Vorderhörnern des Rückenmarks und die- dem Gleichgewichts- und Gesichtssinn.
nen der unwillkürlichen Motorik. Pyramidales und extrapyramidales System
Die extrapyramidalen Bahnen bilden zusammen sind auf das engste miteinander verknüpft.
mit ihren Kerngebieten das „extrapyramidal-
motorische System“ (EPS) mit: ❑
P Typische Zeichen bei Störungen im EPS
– dem roten Kern (Nucleus ruber) als zentrale sind Ataxien (ungeordnete Bewegungen),
Umschaltstation (✑ S. 343), Tremor (Zittern), Hypokinesen (Bewegungs-
– der schwarzen Substanz (Substantia nigra), armut) und Hyperkinesen (Bewegungsunruhe)
– den Kernregionen des Gleichgewichtsnerven, (✑ S. 343).
vor allem der Nucleus vestibularis lateralis
(Deit’scher Kern),
– Anteilen der Netzsubstanz (Formatio reticula-
ris; ✑ S. 344),
– den Basalganglien (✑ S. 339), 17.9 Peripheres Nervensystem
– dem Kleinhirn (Cerebellum; ✑ S. 343), (PNS)
– Teilen des Cortex im Stirnlappen, den sog.
prämotorischen Feldern, und Das periphere Nervensystem besteht aus sensi-
– den extrapyramidalen Bahnen. blen und motorischen Nervenfasern, die sich in
den peripheren Nerven befinden, und aus Gan-
Wichtige extrapyramidale Bahnen glien. Es dient der nervlichen Versorgung der
Bahn Ursprung Funktion Organe. Dies bezeichnet man als Innervation.
Tractus Nucleus Zu den peripheren Nerven gehören
rubrospinalis ruber Über diese – 31 Rückenmarksnervenpaare,
Bahnen werden – 12 Hirnnervenpaare und
Tractus Nucleus Beuger und
vestibulospinalis vestibularis Strecker – alle weiteren Nerven im Körper (z. B. Arm-
lateralis und Beinnerven, Magennerven, Zwerchfell-
erregt oder nerven etc.).
Tractus Formatio gehemmt.
reticulospinalis reticularis
Ganglien sind Anhäufungen von Nervenzell-
Aufgaben des EPS körpern, die sich außerhalb des ZNS in Ver-
Die entscheidende Aufgabe des EPS ist die dickungen von Nerven und Nervenwurzeln
Koordination der willkürlichen Bewegungen. befinden. Sie fungieren als synapthische Um-
Während vom Primärzentrum der Willkürmoto- schaltstationen.
17.9 Peripheres Nervensystem 353

Man unterscheidet Hirnnerv VII,


– sensible Ganglien, z. B. Spinalganglien in den Gesichtsnerv (N. facialis)
hinteren Rückenmarkswurzeln und Hirn- verlängertes Hirnnerv VIII, Hör- und Gleich-
nervenganglien im Kopf. Sie enthalten die Mark gewichtsnerv (N. vestibulo-
Nervenzellkörper der 1. animalen und vegeta- cochlearis)
tiven afferenten Neurone (✑ Abb. 17.17, Hirnnerv IX, Zungen-Rachen-
S. 350), Nerv (N. glossopharyngeus)
Hirnnerv X, Herz-Lungen-
Tab. 17.5 Afferente Leitung. Magen-Nerv (N. vagus)
Hirnnerv XI, Beinerv (N.
sensibles Ganglion accessorius)
(Spinal- und Hirnnerv XII, Unterzungen-
Hirnnervenganglien)
nerv (N. hypoglossus)
Haut-
rezeptoren 

Rückenmark
Merke
peripherer zentraler Es gibt sensible, motorische und gemischte
Fortsatz Fortsatz
des pseudo-unipolaren Hirnnerven.
afferenten Neurons
I. Hirnnerv (N. olfactorius) – sensibel
Eingeweide-
rezeptoren 

Rückenmark Der Riechnerv ist ein Teil des Endhirns. Von den
Riechzellen (= 1. Neuron) der Nase ziehen ca.
vegetatives Ganglion
20 Nervenfaserbündel durch die Siebbeinplatte
in den Riechkolben (Bulbus olfactorius). Hier
wird auf das 2. Neuron umgeschaltet, dessen
– vegetative Ganglien (= Ganglien des vegetati- Neuriten dann zu den Riechzentren des Endhirns
ven Nervensystems), z. B. Grenzstranggang- gelangen.
lien und vegetative Kopfganglien. Sie enthal-
ten die Zellkörper der 2. efferenten sympathi- II. Hirnnerv (N. opticus) – sensibel
schen und parasympathischen Neurone. Der Sehnerv ist ca. 5 cm lang. Er zieht vom
Augapfel in der Augenhöhle durch den Canalis
opticus in die Schädelhöhle. Vor der Hypophyse
17.9.1 Hirnnerven (✑ Abb. 17.19, S. 343) vereinigen sich beide Nerven zur Sehnerven-
kreuzung (Chiasma opticum), um dann als Seh-
An der Hirnbasis treten 12 Paar Hirnnerven aus. nervenstrang (Tractus opticus) zunächst zum
Nach der Reihenfolge ihres Austritts aus den ver- Thalamus und von dort aus als Sehstrahlung
schiedenen Hirnabschnitten werden sie mit den (Radiatio optica) zur Hirnrinde zu ziehen
Zahlen I bis XII bezeichnet. (✑ Abb. 16,19, S. 329).
Hirnabschnitt austretende Hirnnerven III., IV., VI. Hirnnerv (= Augenmuskelnerven) –
Endhirn Hirnnerv I1), überwiegend motorisch
Riechnerv (N. olfactorius) Diese Nerven ziehen durch den oberen Augen-
Zwischenhirn Hirnnerv II1), höhlenspalt (Fissura orbitalis superior) zu den
Sehnerv (N. opticus) Muskeln am Augapfel. Der N. oculomotorius
Mittelhirn Hirnnerv III, Augenbewegungs- führt außerdem parasympathische Fasern zur
nerv (N. oculomotorius) Verengung der Pupille.
Hirnnerv IV,
Augenrollnerv (N. trochlearis) ❑
P Bei Ausfall des N. abducens kommt es zum
Brücke Hirnnerv V, Einwärtsschielen.
Drillingsnerv (N. trigeminus)
Hirnnerv VI, Augenabzieh-
nerv (N. abducens) 1) Hirnnerv I und II sind keine echten peripheren Nerven,
sondern vorgeschobene Hirnteile.
354 17 Nervensystem

I. Hirnnerv: Riechkolben II. Hirnnerv:


Riechnerv Sehnerv
(N. olfactorius) (N. opticus)

Siebbeinplatte

Riechfäden
(Fila olfactoria)
Riechfeld
(Area olfactoria)

Sehnerv
(N. opticus)

III. Hirnnerv:
Augenbewegungsnerv
(N. oculomotorius)

VI. Hirnnerv:
Augen-
abziehnerv
(N. abducens)

IV. Hirnnerv:
Augenrollnerv
(N. trochlearis)

Ganglion trigeminale V. Hirnnerv: Ganglion trigeminale


Drillingsnerv N. ophthalmicus (V1)
(N. trigeminus)
N. maxillaris (V2)
N. mandibularis (V3)
V3

Schläfenmuskel
(M. temporalis) V1
Kaumuskel
(M. masseter)
V2

Motorische Fasern versorgen die V3


Kaumuskeln

Abb. 17.19 Innervationsgebiete der I. – VI. Hirnnerven.


17.9 Peripheres Nervensystem 355

VII. Hirnnerv: VIII. Hirnnerv:


Gesichtsnerv Hör- und Gleichgewichtsnerv
(N. facialis) (N. vestibulocochlearis)

oberer
Facialiskern


unterer Speichelkern
Facialiskern
mimische N. facialis
Muskulatur ➞

Felsen-
bein
X. Hirnnerv:
Nervengeflecht Herz-Lungen-
(Plexus parotideus) Magennerv
(N. vagus)

IX. Hirnnerv:
Zungen- rückläufiger
Rachennerv Kehlkopfnerv
(N. glossopharyngeus) (N. laryngeus
recurrens)

Ohrspeicheldrüse

XI. Hirnnerv: XII. Hirnnerv:


Beinerv Unterzungennerv
(N. accessorius) (N. hypoglossus)

Trapezmuskel
(M. trapezius)

Innervationsgebiete der VII. – XII. Hirnnerven. Abb. 17.20


356 17 Nervensystem

V. Hirnnerv (N. trigeminus = Drillingsnerv) – nur von der vorderen Zentralwindung der
überwiegend sensibel Gegenseite versorgt.
Zunächst bilden die sensiblen Fasern im Bereich
der Pyramidenspitze das mächtige Ganglion tri- ❑
P Ausfall des rechten zentralen motorischen
geminale (Gasser-Ganglion). Aus diesem Gan- Neurons, z. B. infolge eines Schlaganfalls, be-
glion treten die 3 Hauptäste des Trigeminus. deutet Lähmung der mimischen Muskulatur
1. N. ophthalmicus (V1). Er versorgt sensibel: der linken unteren Gesichtshälfte.
• Dura mater der vorderen Schädelgrube, Ausfall des rechten peripheren motorischen
• Stirnhaut, • Nasenrücken, Neurons, z. B. infolge eines Schädelbasisbru-
• Auge, • Nasenhöhle, ches oder einer Mittelohrentzündung, bewirkt
• Stirnhöhlen, • Keilbeinhöhlen, totale Lähmung der rechten Gesichtshälfte
• Siebbeinzellen. (u. U. fließt aus dem herabhängenden Mund-
2. N. maxillaris (V2). Er versorgt sensibel: winkel der Speichel und das Auge kann nicht
• Haut des unteren Augenlides, mehr geschlossen werden.
• Wangen,
• Oberlippe, • Nasenhöhle, VIII. Hirnnerv (N. vestibulocochlearis = Hör-
• Gaumen und Zähne des Oberkiefers. und Gleichgewichtsnerv) – sensibel
3. N. mandibularis (V3). Er versorgt sensibel: Dieser Nerv tritt ebenfalls durch den inneren
• Haut, • Kinn, Gehörgang in das Felsenbein. Ein Teil leitet die
• Unterlippe, • vordere Zungenabschnitte, Erregungen vom Gleichgewichtsorgan und ein
• Zähne des Unterkiefers, zweiter die vom Gehörorgan.
• untere Wangenbereiche bis Gehörgang und
Trommelfell IX. Hirnnerv (N. glossopharyngeus = Zungen-
• sowie motorisch: die Kaumuskulatur. Rachen-Nerv) – sensibel, motorisch, parasym-
pathisch
VII. Hirnnerv (N. facialis = Gesichtsnerv) – Dieser Nerv innerviert
überwiegend motorisch – motorisch die Rachenmuskeln,
Zusammen mit dem Hör- und Gleichgewichts- – sensibel die hintere Rachenwand und das hin-
nerv zieht der Gesichtsnerv durch den inneren tere Drittel der Zunge,
Gehörgang in das Felsenbein und verlässt durch – parasympathisch die Ohrspeicheldrüse (Spei-
eine Öffnung (Foramen stylomastoideum) die chelsekretion).
Schädelhöhle und gelangt so an die äußere Schä-
delbasis. Von hier zieht er durch die Ohrspei- X. Hirnnerv (N. vagus = Herz-Lungen-Magen-
cheldrüse in den Gesichtsschädelbereich. Nerv) – überwiegend parasympathisch
Der N. facialis enthält Der N. vagus ist der wichtigste Nerv des Para-
– motorische Fasern zur Innervation der mimi- sympathicus.
schen Muskulatur, Er tritt mit 10 – 15 Faserbündeln aus der Medulla
– sensorische Nervenfasern (Geschmacksfasern) oblongata und verlässt die Schädelhöhle durch
aus den vorderen zwei Dritteln der Zunge und das Drosselloch (Foramen jugulare).
– parasympathische Fasern zu den Unterkiefer-
und Unterzungendrüsen, Tränendrüsen, Becher- Verlauf
zellen der Mund- und Nasenschleimhaut. Der X. Hirnnerv ist zunächst Bestandteil des
Gefäß-Nerven-Stranges des Halses, gelangt
Der motorische Ursprungskern des Facialis in durch die obere Thoraxöffnung in das hintere
der Brücke besteht aus 2 Anteilen, Mediastinum und von dort mit der Speiseröhre
– dem oberen Facialiskern (Augenfacialis): Er durch den Hiatus oesophageus in den Bauch-
versorgt die obere Gesichtshälfte und wird raum.
von den motorischen Rindenzentren sowohl
der rechten als auch der linken Zentral- Entsprechend dieses Verlaufes werden 4 Teile
windung innerviert; unterschieden:
– dem unteren Facialiskern (Mundfacialis). Er • Kopfteil: Er innerviert sensibel die Dura mater
innerviert die untere Gesichtshälfte und wird der hinteren Schädelgrube.
17.9 Peripheres Nervensystem 357


P Eine Reizung durch Meningitis hat reflekto- XII. Hirnnerv (N. hypoglossus = Unterzungen-
risches Erbrechen zur Folge. nerv) – motorisch
Innervationsgebiet: Zungenmuskulatur.
• Halsteil: Er innerviert motorisch den Kehl-
kopf, parasympathisch das Herz.

P Einseitige Lähmung des Hypoglossus führt

• Brustteil: Er innerviert zu erheblichen Behinderungen beim Kauen,


– durch rückläufige motorische Äste (N. Schlucken und Sprechen.
laryngeus recurrens) die Kehlkopfmuskeln,
– parasympathisch: Herz, Bronchien, Speise-
röhre. 17.9.2. Rückenmarksnerven (Nn. spinales)
• Bauchteil: Hier bilden die beiden Vagusnerven
Geflechte mit Nerven des Sympathicus. Para- Die Rückenmarksnerven gehen vom Rückenmark
sympathisch innerviert werden Leber, Pan- ab und treten durch das jeweilige Zwischenwir-
kreas, Milz, Nieren, Nebennieren, Magen, belloch aus dem Wirbelkanal heraus. Entspre-
Dünndarm, Dickdarm bis zur Mitte des Quer- chend den 31 Rückenmarkssegmenten gibt es
colons (= Cannon-Böhm-Punkt). 31 Rückenmarksnervenpaare.

XI. Hirnnerv (N. accessorius = Beinerv) – Während der Embryonalentwicklung bleibt das
motorisch Wachstum des Rückenmarkes gegenüber dem
Innervationsgebiete: Kopfwendermuskel, Tra- der Wirbelsäule zurück. Das hat zur Folge, dass
pezmuskel. sich die Austrittsstellen (Zwischenwirbellöcher)

Nervengeflechte. Tab. 17.6


Plexus hervorgehende Nerven Versorgung

Halsgeflecht Zwerchfellnerven motorisch: Zwerchfell und Zungenbeinmuskel


(Plexus cervicalis) (Nn. phrenici)
C 1 – C4 weitere Nerven sensibel: Haut und Muskeln der Hals- und
Schulterregion

Armgeflecht Hautmuskel-Nerv motorisch: Flexoren (Beuger) des Oberarmes


(Plexus brachialis) (N. musculocutaneus) sensibel: Haut am Oberarm und an der
C5 – Th1 Außenseite des Unterarmes
Ellennerv (N. ulnaris), motorisch: Unterarmflexoren auf Kleinfingerseite
er ist am Epicondylus sensibel: Haut des Unterarms bis zum kleinen
medialis tastbar, Finger
„Musikantenknochen“,
Mittelnerv (N. medianus) motorisch: Unterarmflexoren
Speichennerv (N. radialis) motorisch: Extensoren (Strecker) an Unterarm und
Oberarm

Lendengeflecht Oberschenkelnerv motorisch: Muskeln und Haut an der Vorderseite


(Plexus lumbalis) (N. femoralis) des Oberschenkels
L1 – L4

Kreuzgeflecht Ischiasnerv motorisch Gesäßgegend, Damm,


(Plexus sacralis) (N. ischiadicus), u.sensibel: Oberschenkelflexoren
L4 – S3 oberhalb der Kniekehle
teilt er sich in:
– Schienbeinnerv motorisch: Wadenmuskulatur
(N. tibialis) sensibel: Haut an der Hinterseite des Unter-
schenkels
– Wadenbeinnerv motorisch: vordere Unterschenkelmuskeln
(N. peroneus communis) sensibel: Haut an der Vorderseite des Unter-
schenkels
358 17 Nervensystem

Arm von der Arm von der


Beugeseite Streckseite

Armgeflecht
(Plexus brachialis)
Axillararterie
(A. axillaris)

Axillarnerv
(N. axillaris)
Ellennerv
(N. ulnaris)
Hautmuskelnerv
(N. musculocutaneus)

Mittelnerv
(N. medianus)

Speichennerv
(N. radialis)

Ellennerv
(N. ulnaris)

Mittelnerv
(N. medianus)

tiefer Ast des Speichennerves


(Ramus profundus nervi radialis)

oberflächlicher Ast des Speichennerves


(Ramus superficialis nervi radialis)

Ellennerv
(N. ulnaris)

Abb. 17.21 Innervation des Armes.


17.9 Peripheres Nervensystem 359

für die Rückenmarknerven zu-


nehmend weiter caudal verschie-
ben. Die Wurzeln der Lenden-,
Kreuz- und Steißnerven errei- Halsgeflecht
(Plexus cervicalis)
chen deshalb im Wirbelkanal eine
Länge bis zu 20 cm, ehe sie „ihr“
Zwischenwirbelloch erreichen. Armgeflecht
Diese Wurzelansammlung unter- (Plexus brachialis)
halb des l./2. Lendenwirbels bil-
det den sog. Pferdeschweif (Cauda Zwerchfellnerv
equina). (N. phrenicus)
Die gemischten Rückenmarks-
nerven teilen sich entweder schon
im Zwischenwirbelloch oder kurz Zwischen-
danach in einen hinteren und rippennerven
einen vorderen Hauptast. Die (Nn. intercostales)

hinteren Äste versorgen sensibel


die Haut vom Hinterkopf bis zum
Steißbein und motorisch die tiefe
Rückenmuskulatur. Die vorderen
Äste bilden mit Ausnahme der
Brustäste Nervengeflechte (Ple-
xus), aus denen wichtige periphe-
re Nerven hervorgehen (✑ Tab.
17.6. S. 357).
Hals- und Armnervengeflecht. Abb. 17.22

L1
Lendengeflecht
(Plexus lumbalis) L2

L3
N. ileohypogastricus
N. ileoinguinalis L4
N. genitofemoralis
N. cutaneus femoris L5
lateralis

N. femoralis
Kreuzbeingeflecht
(Plexus sacralis)

Ischiasnerv*)
(N. ischiadicus)

*) Mächtigster Nerv
des Körpers

Lenden- und Kreuzbeinnervengeflecht. Abb. 17.23


360 17 Nervensystem

Bein von vorn Bein von hinten

Lendengeflecht
(Plexus lumbalis)

Gluteus-Nerven
(Nn. glutaei)
Oberschenkelnerv
(N. femoralis) Kreuzbeingeflecht
(Plexus sacralis)

Obturator-Nerv Obturator-Nerv
(N. obturatorius) (N. obturatorius)
Ischiasnerv
(N. ischiadicus)

Wadenbeinnerv
(N. peroneus communis)
Schienbeinnerv
(N. tibialis)

tiefer Wadenbeinnerv
(N. peroneus profundus)
oberflächlicher
Wadenbeinnerv
(N. peroneus superficialis)
Fußnerven
(Nn. plantares)

Abb. 17.24 Innervation des Beines.

Merke ❑
P Folgen von Nervenausfällen

Der Rückenmarksnerv (N. spinalis) entsteht N. ulnaris = Krallenhand.


aus dem Zusammenschluss der vorderen moto- N. medianus = Schwurhand.
rischen Wurzel und der hinteren sensiblen N. radialis = Fallhand.
Wurzel eines Segmentes. Die hintere Wurzel N. femoralis = keine Streckung im Kniegelenk,
enthält das Spinalganglion (Ganglion spinale), Beugung im Hüftgelenk ist erschwert.
das als deutliche Verdickung zu erkennen ist. N. tibialis = Fußspitze kann nicht mehr gesenkt
werden.
Im Spinalganglion befinden sich die Neurone N. peroneus communis = Spitzfuß.
(pseudounipolare Zellen) der sensiblen Fasern,
deren distale Fortsätze Informationen aus der Merke
Körperperipherie erhalten und deren zentrale Hautnerven werden von den sensiblen Nerven-
Fortsätze ins Rückenmark ziehen. fasern der Wärme-, Kälte-, Druck- und
Schmerzpunkte der Haut gebildet. Das sensi-
Die Rückenmarksnerven liegen in den Zwi- ble Versorgungsgebiet eines Spinalnerven in
schenwirbellöchern und sind etwa l cm lang. der Haut wird als Dermatom bezeichnet.
17.10 Reflexe 361

17.10 Reflexe Reflexbogen. Tab. 17.7

Der Mensch ist in der Lage, durch spezifische afferentes efferentes


Rezeptoren Veränderungen in der Umwelt bzw. (sensibles) Neuron (motorisches) Neuron
in sich selbst zu erkennen und darauf zu reagieren.
Diese Veränderungen werden als Reize bezeich- Afferenz Reflexzentrum Efferenz
(Rückenmark,
net (✑ S. 311). Der Organismus reagiert auf Hirnstamm)
einen Reiz bzw. beantwortet einen Reiz. Reiz- (Umschaltung)
beantwortung bedeutet, dass eine Information,
z. B. in Form einer Bewegung, abgegeben wird. Rezeptor Effektor
Beim Menschen gehören hierzu auch die
Sprachbewegungen. (Reizaufnahme) (Reaktion)

Reflexe stellen die einfachste Form der Reiz- Monosynaptische Eigen- oder Dehnungsreflexe
beantwortung dar. Es handelt sich hierbei um Beispiel: Kniesehnenreflex
eine unwillkürliche stereotypisierte Reaktion auf Ein leichter Schlag auf das rechte Kniesehnen-
einen Reiz, die unter gleichen Bedingungen band (Lig. patellae) führt zu einer passiven Deh-
immer in der gleichen starren und schnellen Art
und Weise abläuft. Die Reflexzentren hemmendes
(Umschaltstellen) liegen im Rückenmark und Zwischenneuron
Hirnstamm. Hinterhorn sensorische Bahn
Vorderhorn motorische Bahn
Beispiele
– Zurückziehen der Hand beim Anfassen eines
heißen Gegenstandes;
– Saugen und Schlucken,
– Reaktionen zur Bewahrung der Körperhaltung,
– Aufrechterhaltung von Atmung und Kreislauf.

Reflexbogen (✑ Tab. 17.7)


Grundlage eines jeden Reflexes ist der sog.
Reflexbogen, der eine funktionelle Einheit aus
5 Gliedern darstellt.
Der kurze direkte Informationsweg Erregung
Rezeptor ➝ sensibles Neuron ➝ Reflexzentrum
im ZNS ➝ motorisches Neuron ➝ Effektor Hemmung
(Muskel, Drüse) heißt Reflexbogen.
Die biologische Bedeutung der Reflexe liegt in
der sofortigen und sehr schnellen Reaktion auf
Reize. Dadurch werden die Reflexe zu wichtigen Reiz
Schutzmechanismen (z. B. Fluchtreflexe), sichern vierköpfiger
elementare Lebensvorgänge (z. B. Atmung, Ver- Oberschenkel-
dauung) und stellen die Grundlagen für das muskel
(M. quadriceps
Erlernen komplizierter Bewegungsvorgänge dar. femoris) zweiköpfiger
Oberschenkel-
Merke muskel
(M. biceps femoris)
Es gibt angeborene und durch Lernvorgänge
erworbene Reflexe. Bei den angeborenen Re-
flexen unterscheidet man monosynaptische
Eigenreflexe und polysynaptische Fremd-
Eigenreflex (Kniesehnenreflex). Abb. 17.25
reflexe.
362 17 Nervensystem

nung des rechten vierköpfigen Oberschenkel- Merke


muskels (M. quadriceps femoris) sowie einer
Dehnung und damit Erregung seiner Muskel- Bei den Eigenreflexen befinden sich die Rezep-
spindeln (= Rezeptor). toren (Muskel-, Sehnenspindeln) im Erfolgs-
Die Erregung wird durch sensible Neurone über organ (Muskel).
die rechte Hinterwurzel in das Hinterhorn des Charakteristisch für diese Reflexe ist:
betreffenden Rückenmarksegmentes geleitet. – in der Regel ist nur 1 Synapse beteiligt,
Auf der gleichen Seite des Segmentes wird über – kurze Reflexzeiten (Zeit von der Reizeinwir-
nur 1 Synapse (daher monosynaptischer Reflex) kung bis zur Kontraktion ca. 20 – 50 ms),
auf das motorische Neuron des Vorderhorns – fehlende Ermüdbarkeit,
umgeschaltet. Die Folge ist eine Kontraktion des – laufen unabhängig von der Reizstärke ab.
gedehnten Muskels, wodurch die passive Deh- Die Eigenreflexe halten Muskellänge und
nung rückgängig gemacht bzw. die ursprüng- Muskelspannung konstant und gleichen auf
liche Muskellänge wieder hergestellt wird. diese Weise den Einfluss der Schwerkraft aus.

Damit die Kontraktion des vierköpfigen Ober- Weitere Beispiele:


schenkelmuskels (als Reaktion auf seine Deh- – Achillessehnenreflex. Schlag auf Achilles-
nung) nicht dazu führt, dass seine Antagonisten sehne ➞ Flexion in den Sprunggelenken.
(als Reaktion auf ihre Dehnung) nun auch reflek- – Bicepssehnenreflex. Schlag auf Bicepssehne
torisch kontrahieren, werden diese gehemmt. ➞ Flexion im Ellenbogengelenk.
Das geschieht, indem das erregte sensible – Tricepssehnenreflex. Schlag auf Tricepssehne
Neuron des vierköpfigen Oberschenkelmuskels ➞ Extension im Ellenbogengelenk.
über eine Abzweigung seines Neuriten gleichzei-
tig ein hemmendes Zwischenneuron im Vorder- Polysynaptische Fremd- oder Hautreflexe
horn erregt, welches die -Motoneurone der Bei den Fremdreflexen findet die Reizaufnahme
Antagonisten hemmt. durch Hautrezeptoren statt und als Reaktion
erfolgt eine Muskelkontraktion.
Neben der Muskellänge wird nach dem gleichen Beispiel: Beugereflex (= typischer Schutzreflex)
Prinzip auch die Muskelspannung (= Muskel- Tritt man mit dem rechten Fuß auf einen spitzen
tonus) konstant gehalten. Als Rezeptoren fungie- Gegenstand, so führt dies zur Beugung in allen
ren Sehnenspindeln (= Golgi-Sehnenorgane) in Gelenken des rechten und Streckung im linken
den muskelnahen Bereichen der Muskelsehnen. Bein. Wie ist dies zu erklären?

Bestreichen des Bauches von der


Lende zur Bauchmitte und damit
Reizung der Hautrezeptoren führt Meißner’sches Tastkörperchen
zur Kontraktion der der Haut
Bauchmuskeln
(Nabel verzieht
sich zur
Reizseite)

Muskel

Abb. 17.26 Fremdreflex (Bauchdeckenreflex).


17.10 Reflexe 363

– Die durch den Schmerzreiz entstehende Er- ❑


P Reflexprüfungen sind wichtige diagnostische
regung wird über sensible Neurone der Hinter- Verfahren. Typisches Beispiel für einen patholo-
wurzeln in das Rückenmark geleitet. gischen Reflex ist der Babinski-Reflex (Dorsal-
– Im Rückenmark werden die Motoneurone der flexion der Großzehe bei Streichen des seitli-
Beuger (liegen in verschiedenen Segmenten) chen Fußrandes), der bei Schädigung der
des rechten Beines über erregende Zwischen- Pyramidenbahn auftritt.
neurone erregt und die Motoneurone der Stre-
cker (liegen ebenfalls in verschiedenen Seg- Stützmotorik
menten) über hemmende Zwischenneurone Die motorischen Leistungen, die der Haltung des
gehemmt. Das rechte Bein wird gebeugt und Körpers im Raum dienen, werden als Stütz-
„flieht“ von der Schmerzursache weg. motorik bezeichnet. Sie wird durch eine Vielzahl
– Gleichzeitig werden über erregende Zwischen- von Reflexen realisiert. Die Reflexzentren befin-
neurone die Motoneurone der Strecker des lin- den sich in Rückenmark und Hirnstamm.
ken Beines erregt und über hemmende Zwi-
schenneurone die Beuger gehemmt. Dadurch Motorische Leistungen des Rückenmarks
wird die „Flucht“ noch vergrößert und der Auf Rückenmarksebene existiert eine Vielzahl
Körper kann abgestützt werden. von Verschaltungen, über die Bewegungen ausge-
löst oder gehemmt werden können. Die spinalen
Merke Reflexe beinhalten gewissermaßen einen Vorrat
Bei Fremdreflexen finden Reizaufnahme und elementarer Haltungs- und Bewegungsprogram-
-beantwortung in verschiedenen Organen statt. me, die je nach Bedarf vom Organismus genutzt
Die Erregungen laufen über mehrere Neurone werden können, ohne dass sich die übergeordne-
und Zwischenneurone in mehreren Rücken- ten Abschnitte des ZNS im Einzelnen um die
marksegmenten und damit über mehrere Ausführung der Programme bemühen müssen.
Synapsen, so dass auch mehrere Muskeln an- Auf diese Weise werden Änderungen in der Be-
gesprochen werden können. lastung der Muskeln automatisch ausgeglichen
Fremdreflexe sind außerdem charakterisiert oder Muskeln aufeinander abgestimmt. So ist z. B.
durch beim Streckreflex zu erkennen, dass Schrittbe-
– verlängerte Reflexzeiten, wegungen nur möglich sind, wenn die motori-
– schnelle Ermüdbarkeit und Anpassung, schen Neurone der Strecker und der Beuger
– die Tatsache, dass sich unterschwellige Reize wechselseitig aktiviert bzw. gehemmt werden.
summieren können, um dann den Reflex aus-
zulösen (z. B. Niesen). Motorische Leistungen des Hirnstamms
Die motorischen Leistungen des Hirnstamms
sorgen mit Halte- und Stellreflexen für die
Weitere Beispiele für Fremdreflexe Aufrechterhaltung des Gleichgewichts und der
– Bauchdeckenreflex ( ✑ Abb. 17.26) normalen Körperhaltung.
– Schutzreflexe: Husten, Niesen, Erbrechen,
Tränenfluss, Fluchtreaktionen (z. B. Zurück- Merke
ziehen der Hand infolge eines Schmerzreizes).
Willkürmotorik und Stützmotorik sind eng
– Nutrationsreflexe: Saugen, Schlucken.
miteinander verknüpft, denn jede gezielte
– Vegetative Reflexe: Kreislauf, Atmung, Ver-
Bewegung muss von einer Neueinstellung der
dauung, Blasen- und Darmentleerung, Sexual-
Stützmotorik begleitet werden.
funktionen.


P Neugeborene reagieren in erster Linie mit Erworbene Reflexe (bedingte Reflexe)
Reflexen auf Reize, da die Großhirnrinde Wird einem Menschen seine Lieblingsspeise ge-
noch nicht funktionsreif ist. zeigt oder beschrieben, reagiert er mit Speichel-
absonderung, also mit einem Reflex, der nicht
angeboren ist, sondern erlernt wurde.
In der Abbildung 17.27 ist die Herausbildung
des bedingten Speichelreflexes dargestellt.
364 17 Nervensystem

Sehzentrum erregt und ...

sehen
und ... Speichelreflexzentrum erregt
schmecken
= Speicheldrüsen werden
angeregt

1. Schritt: angeborener Reflex Speichelsekretion erfolgt

zeitweilige Verbindung

nur Sehzentrum erregt


nur sehen
Bahnung
(durch wiederholte gleichzeitige Erregung
von Seh- und Speichelreflexzentrum
entsteht eine zeitweilige Verbindung
zwischen beiden Zentren)

= Speicheldrüsen werden
angeregt

2. Schritt: erworbener Reflex Speichelsekretion erfolgt

Abb. 17.27 Entstehung eines erworbenen (bedingten) Reflexes (Beispiel: Speichelreflex).

Zunächst erzeugen sowohl der 1. Reiz (Sehen 17.11 Vegetatives Nervensystem


der Nahrung) als auch der 2. Reiz (Schmecken
der Nahrung) nur getrennt Wahrnehmungen im (VNS)
Sehzentrum und Speichelreflexzentrum. Wenn
sich dieser Vorgang (sehen – dann essen) oft Das VNS erfüllt gemeinsam mit dem Hormon-
genug wiederholt hat, genügt allein der 1. Reiz – system 2 Aufgaben.
das Sehen der Nahrung – für das Einsetzen der – Es regelt die Funktion der inneren Organe
Speichelsekretion durch die Bahnung (= Einprä- wie Atmungs-, Verdauungs-, Kreislauf- und
gung). Drüsentätigkeit und stimmt ihre Aktivität
entsprechend der aktuellen Situation sinnvoll
Merke aufeinander ab.
– Es regelt die Homöostase des inneren Milieus,
Bedingte Reflexe werden auf der Grundlage d. h., es beeinflusst die Stoffwechselprozesse
angeborener Fremdreflexe durch Lernvorgänge so, dass sich der Organismus den wechseln-
herausgebildet. Der biologische Sinn besteht den inneren und äußeren Bedingungen an-
darin, besser und müheloser auf wechselnde passen kann.
Situationen in der Umwelt zu reagieren.
Die bedingten Reflexe laufen über die Hirn- Da das VNS die Organfunktionen regelt, die
rinde und werden bei mehrmaligem Fehlen des unbewusst und unwillkürlich ablaufen, wird es
2. Reizes wieder „vergessen“. auch „autonomes“ Nervensystem genannt.
17.11 Vegetatives Nervensystem 365

Funktionell basiert das VNS hauptsächlich auf Merke


dem Reflexbogen. Im Unterschied zum somati-
schen Nervensystem wird die efferente Strecke Das VNS wird wie das somatische Nerven-
von 2 efferenten peripheren vegetativen Neuro- system aus zentralen und peripheren Neuronen
nen gebildet. Die synaptische Umschaltung vom gebildet.
1. auf das 2. Neuron erfolgt in vegetativen Im ZNS gibt es verschiedene vegetative Zen-
Ganglien. Das 1. Neuron liegt demnach vor dem tren, deren oberste Steuereinheit der Hypotha-
Ganglion und wird präganglionäres Neuron lamus ist.
genannt, das 2. Neuron liegt hinter dem Ganglion Der efferente Teil besteht aus 2 vegetativen
und heißt postganglionäres Neuron. Neuronen.

Die Effektorgane (= Erfolgsorgane) des VNS


sind: VNS (efferenter Leitungsweg). Tab. 17.8
– das glatte Muskelgewebe der inneren Organe,


Hypothalamus
– das Herzmuskelgewebe und
– die Drüsen. zentrales efferentes Neuron
Hirnstamm


Merke Seitensäulen des Rückenmarks
Das VNS ist mit dem somatischen Nerven- Th1 – L3 und S2 – S4
system vielfach verknüpft. 1. peripheres efferentes oder
präganglionäres Neuron
(markscheidenarm)
Aufbau

VNS vegetatives Ganglion


2. peripheres efferentes Neuron oder
zentraler Teil peripherer Teil postganglionäres Neuron
= zentrale afferente = periphere afferente (meist markscheidenlos)

und efferente und efferente


vegetative Neurone vegetative Neurone Erfolgsorgan
im ZNS in der Peripherie
Das VNS wird nach morphologischen und funk-
Die Perikaryen der peripheren afferenten Neu- tionellen Gesichtspunkten in 2 Teile gegliedert:
rone liegen in den Spinalganglien. Ihre Fort- – den Sympathicus oder das sympathische Ner-
sätze leiten die Afferenzen von den Eingeweide- vensystem,
und Schmerzrezeptoren in die Hinterhörner des – den Parasympathicus oder das parasympathi-
Rückenmarks. Von hier kann über Zwischen- sche Nervensystem.
neurone auf die präganglionären (1. efferenten)
Neurone umgeschaltet werden oder auf zentrale 1. Sympathicus
Neurone, die die Informationen in höhere vege- Die Perikaryen der präganglionären Neurone
tative Zentren und zum Cortex cerebri (Groß- liegen in den Seitenhörnern der grauen Rücken-
hirnrinde) weiterleiten. marksubstanz (Nuclues intermediolateralis) vom
1. Brust- bis zum 3. Lendensegment (Th1 – L3).
Die Perikaryen der zentralen efferenten Neuro- Die Axone der präganglionären Neurone ziehen
ne liegen im Gehirn. Ihre Axone schalten entwe- über die motorischen Vorderwurzeln und die
der im Hirnstamm oder in den Seitenhörnern des weißen Verbindungsäste (Rami communicates
Rückenmarks auf die 1. peripheren efferenten albi) zu den 25 – 30 paarigen sympathischen
Neurone um. Die synaptische Umschaltung auf Grenzstrangganglien (= paravertebrale Gan-
das 2. periphere efferente Neuron erfolgt in den glien) oder durch diese hindurch zu den unpaari-
vegetativen Ganglien. Von den Neuriten dieser gen prävertebralen vegetativen Ganglien.
Neurone werden die Erfolgsorgane innerviert.
366 17 Nervensystem

Innervationen durch Steuerung durch übergeordnete Zentren


Sympathicus + Parasympathicus (z. B. Hypothalamus)

parasympathische
N. oculomotorius Kopfganglien

Ganglion
cervicale
Auge •N. facialis

••
superius

Speichel- und


Grenzstrang

Ganglion
Tränendrüsen

• •
N. glossopharyngeus
stellatum
Kopfgefäße
Th1
Th2
• •
N. vagus

Th3


Herz
organnahe
Th4 Nn. splanchnici parasympathische


major und minor Ganglien
Th5
Th6
• Ganglion
coeliacum Lunge •
Th7

Th8
• •

Magen
Th9
Th10
• •

Ganglion
mesenteri-
Th11 cum Leber

Th12
• superius

L1
• •

Pankreas
L2
L3
• •
L4
• Niere

L5
••
S2
S3
•• Darm •
••
S4
S5 •• Urogenital-Trakt
(Rektum, Blase,
Genitale)

Ganglion Plexus N. splanchnici
mesentericum inferius hypogastricus pelvini

Zentren und Funktionen des vegetativen Nervensystems


Abb. 17.28 (Sympathicus = rot, Parasympathicus = blau).
17.11 Vegetatives Nervensystem 367

Sympathische Innervation. Tab. 17.9


Erfolgsorgan Segmentbezug und Verlauf der Verlauf der postganglionären
präganglionären Neurone Neurone

glatte Muskulatur Th1 – L3 graue Verbindungsäste


– Hautgefäße


– Schweißdrüsen
weiße Verbindungsäste Nn. spinales


Grenzstrangganglien periphere Nerven
(synaptische Umschaltung)


Erfolgsorgane
➞ Hautgefäße – Vasokonstriktion
➞ Schweißdrüsen – Sekretion


Drüsen und glatte Th1 Axone der postganglionären
Muskulatur des Neuronen winden sich um die

Kopfes versorgenden Arterien und er-


weiße Verbindungsäste reichen mit ihnen die Erfolgs-
organe.

Ganglion cervicale superius


(synaptische Umschaltung)

Herz und Lungen Th1 – Th5 spezielle Nerven



weiße Verbindungsäste Erfolgsorgane


➞ Herzfrequenz

➞➞
Ganglion stellatum ➞ Atemfrequenz
(synaptische Umschaltung)

Baucheingeweide Th5 – Th12 Axone bilden Nervengeflechte


(z. B. das sog. Sonnengeflecht

des Ganglion coeliacum =


weiße Verbindungsäste Plexus solaris), von denen sie
mit den Gefäßen zu den Erfolgs-

organen ziehen
Nn. splanchnici major und minor
➞ Motilität

➞ Kontraktion der
prävertebrale Ganglien Schließmuskeln
(Ganglion coeliacum, Ganglion
mesentericum superius)
(synaptische Umschaltung)

Beckenorgane L 1 – L4 Plexus mesentericus inferior



weiße Verbindungsäste Erfolgsorgane


• Harnblase: Entleerung wird

gehemmt, Kontraktion des


Ganglion mesentericum inferius Schließmuskels
(synaptische Umschaltung)
• Genitalien:
Ejakulation
Kontraktion
368 17 Nervensystem

1. efferentes
sympathisches Neurone Spinalganglion prävertebrales Ganglion
Rückenmarknerv weißer Verbindungsast
Hinterwurzel
zum Grenzstrang
grauer Verbindungsast
zum Grenzstrang
sensible Afferenz

Vorderwurzel ➋
Vorderhorn
Seitenhorn sympathische ➋ sympathische ➊
Efferenz ➊ Efferenz Haut
Hinterhorn
Baucheingeweide
Hautblutgefäße
Schweißdrüsen
Beispiele: viscerale Afferenz
zwischen Baucheingeweiden und
➊ Hautblutgefäßen bzw. Schweißdrüsen 2. efferentes Grenzstrangganglion
sympathisches
zwischen Haut Neuron
➋ und den Baucheingeweiden

Abb. 17.29 Eingeweidereflexbogen der sympathischen Innervation (Schema).

Merke Transmitter
Die chemischen Überträgerstoffe im sympathi-
Die paarigen sympathischen Grenzstranggang- schen Nervensystem sind:
lien sind beiderseits der Wirbelsäule von der • Acetylcholin vom prä- auf das postganglio-
Hirnbasis bis zum Kreuzbein in einer Doppel- näre Neuron in den Grenzstrang- und prä-
reihe angeordnet und werden als Grenzstrang des vertebralen Ganglien.
Sympathicus bezeichnet. Sie sind untereinan- • Noradrenalin vom postganglionären Neuron
der verbunden. In den Grenzstrangganglien oder auf das Erfolgsorgan.
praevertebralen Ganglien wird von den prä-
auf die postganglionären Neurone synaptisch Da die sympathischen Ganglien organfern lie-
umgeschaltet. Die Neuriten der postganglio- gen, sind die präganglionären Axone kurz und
nären Neurone ziehen zu den Erfolgsorganen. die postganglionären lang.

Es gibt auch präganglionäre Neurone, deren Efferente Leitungsbahn


Axone direkt zu den Zellen des Nebennieren- des Sympathicus. Tab. 17.10
markes (diese entsprechen den postganglionären
Neuronen) ziehen und hier die Sekretion von Rückenmark vegetatives Ganglion Organ
Adrenalin und Noradrenalin veranlassen. Beide
Hormone unterstützen die Wirkungen des Sym-
pathicus auf die Organe. So regen sie vor allem


1. efferentes 2. efferentes
die biologische Oxidation in Belastungs- Neuron Neuron
situationen (Stress) an. (= präganglionäres (= postganglionäres
Neuron) Neuron)

P Langfristig erhöhte Adrenalinspiegel im Blut mit kurzer
Nervenfaser
mit langer
Nervenfaser
infolge emotionalen Stresses können die Entste-
hung verschiedener Erkrankungen begünstigen. Acetylcholin Noradrenalin
17.11 Vegetatives Nervensystem 369


P
Arzneimittel, die die gleiche Wirkung wie
Merke
Adrenalin und Noradrenalin haben, heißen Nach der Lage der zentralen Teile unterschei-
Sympathomimetika. Arzneimittel, die die det man einen cranialen (Pars encephalica)
Wirkung dieser Hormone blockieren oder und sacralen (Pars sacralis) Parasympathicus.
abschwächen, nennt man Sympatholytika.
Die synaptische Umschaltung von den prä- auf
Noradrenalin und Adrenalin erzeugen an den die postganglionären Neurone erfolgt in peri-
sympathisch innervierten Erfolgsorganen ver- pheren parasympathischen Ganglien, die entwe-
schiedene physiologische Wirkungen. Das ist der in unmittelbarer Organnähe oder im Organ
möglich, weil diese Organe 2 Arten von Rezep- (= intramurale Ganglien) liegen.
toren besitzen, die - und -Rezeptoren. Erstere Die präganglionären Axone ziehen in speziellen
sprechen besser auf Noradrenalin, letztere besser Nerven zu den postganglionären Neuronen, sind
auf Adrenalin an. also im Vergleich zum Sympathicus sehr lang.
Allgemein gilt: Entsprechend kurz sind die postganglionären
-Rezeptoren vermitteln die erregende (Aus- Axone.
nahme: Magen-Darm-Trakt), -Rezeptoren die
hemmende (Ausnahme: Herzerregung) Wirkung Parasympathische Innervation
des Sympathicus. Cranialer Parasympathicus
Von den präganglionären Perikaryen des Hirn-
2. Parasympathicus stammes ziehen die Axone in den Hirnnerven III
Die Perikaryen der praeganglionären (1. efferen- (N. oculomotorius), VII (N. facialis), IX (N. glos-
ten) parasympathischen Neurone liegen: sopharyngeus) und X (N. vagus) zu den post-
– im Hirnstamm (Pars encephalica), v. a. im ganglionären Neuronen der vegetativen para-
Mittelhirn und verlängerten Mark, und sympathischen Kopf- bzw. Brust- und Bauch-
– im Kreuzmark (Pars sacralis) in den Seiten- ganglien. In den Kopfganglien werden die prä-
säulen der Rückenmarksegmente S2 – S4. ganglionären Neurone, deren Axone in den
Hirnnerven III, VII und IX verlaufen, auf die
postganglionären Neurone umgeschaltet. Die

Parasympathische Innervation. Tab. 17.11


Parasympathi- vegetatives Ganglion Erfolgsorgan
sche Axone der
Hirnnerven

III Ganglion ciliare1) M. sphincter pupillae – Pupillenadaptation


M. ciliaris – Akkommodation

VII Ganglion pterygopalati- Tränendrüsen, Nasen-


num1) und Gaumendrüsen – Sekretion

Ganglion submandi- Unterkiefer- und


bulare Unterzungenspeichel-
drüsen – Sekretion

IX Ganglion oticum1) Ohrspeicheldrüse – Sekretion

X parasympathische Brust- Herz – Herzfrequenz


➞ ➞

und Bauchganglien
Lunge – Atemfrequenz
intramurale Ganglien Gastrointestinaltrakt bis
Cannon-Böhm-Punkt2) – Motilität

1) Kopfganglien 2) Grenze zwischen mittlerem und linkem Drittel des Colon trans-
versum
370 17 Nervensystem

synaptische Umschaltung jener, die im Hirn- Merke


nerv X verlaufen, erfolgt in den Brust- und
Bauchganglien. Die meisten inneren Organe werden sympa-
thisch und parasympathisch innerviert, wobei
Sacraler Parasympathicus die Effekte antagonistisch sind.
Die Axone der präganglionären parasympathi-
schen Neurone ziehen über die Vorderwurzel der Reizung des Reizung des
Rückenmarksegmente S2 – S4 in die Spinalner- Beispiele Sympathicus Parasympa-
ven. Ab hier verlaufen sie in den Beckeneingewei- bewirkt thicus bewirkt
denerven (N. splanchnici pelvini) in die parasym-
pathischen Ganglien des Plexus hypogastricus. Schlagfrequenz Zunahme Abnahme
und -volumen
Hier erfolgt die synaptische Umschaltung auf die des Herzens
postganglionären Neurone. Die Axone dieser
Neurone innervieren den Dickdarm ab Cannon- Darmmotorik Abnahme Zunahme
Böhm-Punkt (Sekretion , Schließmuskel ), die
➞ Gallenblasen- Erschlaffung Kontraktion

Harnblase (Entleerung), die Harnleiter (Kontrak- muskulatur


tion) und die Genitalorgane (
Erektion). Bronchial- Erschlaffung Kontraktion
muskulatur
Transmitter
Als Transmitter dient sowohl in den Ganglien als Vorwiegend parasympathisch werden innerviert:
auch auf das Erfolgsorgan Acetylcholin. – Harnblase und Speicheldrüsen.
Nur parasympathisch werden innerviert:
Efferente Leitungsbahn – Tränendrüsen und
Tab. 17.12 des Parasympathicus. – Drüsen des Nasen-Rachen-Raumes.
Nur sympathisch werden innerviert:
Rückenmark vegetatives Ganglion Organ – fast alle Blutgefäße, Milz.
Sakralmark oder Nervengeflecht Genitalorgane werden sowohl parasympathisch

als auch sympathisch innerviert..

1. efferentes 2. efferentes ❑
P Bei verschiedenen Erkrankungen innerer
Neuron Neuron Organe kann die Haut über dem Krankheits-
(= präganglionäres (= postganglionäres
Neuron) Neuron) herd, aber auch in weiterer Entfernung,
mit langer Nervenfaser mit kurzer Nervenfaser schmerzhaft und gerötet sein. Der Eingeweide-
Acetylcholin Acetylcholin schmerz wird also auf die Hautoberfläche
übertragen (übertragener Schmerz). Wichtig zu
wissen ist, dass diese gürtelförmigen Hautareale
Wirkungsweise des VNS (= Dermatome) nicht immer unmittelbar über
Sympathicus und Parasympathicus weisen je dem erkrankten Organ liegen (Head’sche
nach Situation unterschiedliche Erregungszu- Zonen: nerval mit inneren Organen verbundene
stände auf. Der Sympathicus bewirkt eine Hautregionen). Der Grund dafür: Von einem
Leistungssteigerung, die als ergotrope Reaktion Rückenmarksegment werden sowohl das Organ
bezeichnet wird (vorherrschend bei Arbeit). Der wie die entsprechende Hautregion innerviert.
Parasympathicus sorgt für die Aktivierung jener
Organfunktionen, die für den Aufbau der Ener-
giereserven nötig sind, d. h., er hat eine tro- Vergleich Sympathicus und Parasympathicus.
photrope Wirkung (vorherrschend bei Ruhe). Die wichtigsten Gemeinsamkeiten:
– Meist 3 Neurone bilden die efferente Strecke
von ZNS zum Erfolgsorgan (Effektor),

P Arzneimittel, die so wirken wie Acetylcholin,
– gleicher Transmitter zwischen prä- und post-
werden Parasympathomimetica genannt. ganglionären Neuronen,
Arzneimittel, die die Wirkung von Acetylcholin – oft gemeinsame Nervengeflechte um Arterien.
blockieren oder abschwächen, heißen Para-
sympatholytica.
17.12 Zusammenwirken der Koordinationssysteme 371

Die wichtigsten Unterschiede: sowie Motorik und Sekretorik,


– Hemmung der Skelettmuskeldurchblutung.
Beispiele Sympathicus Parasympa- Abwehrverhalten:
thicus – Erhöhung der Skelettmuskeldurchblutung,
Lage der organferne organnahe – Blutdruckerhöhung,
Perikaryen der sympathische parasympa- – Erhöhung der Herzfrequenz,
postganglionären Ganglien thische – Steigerung der Atemfrequenz,
Neurone Ganglien – Hemmung der Magen-Darm-Durchblutung.
präganglionäre kurz lang Fortpflanzungsverhalten:
Neuriten (Axone) – Steuerung des Sexualverhaltens und der
postganglionäre lang kurz Sexualerregung.
Neuriten (Axone)
physiologische ergotrop trophotrop Die Aktivierung bzw. Hemmung der einzelnen
Wirkung Organe erfolgt bei Sofortreaktionen durch Ak-
Transmitter Noradrenalin Acetylcholin tionspotentiale der schnell leitenden Nerven und
zwischen über - und bei Dauerleistungen durch anhaltend wirkende
postganglionären -Rezeptoren Hormone (✑ Abb. 9.45, S. 199).
Neuronen und
Effektor

P Die Vorgänge des Abwehrverhaltens werden

Wegen der unterschiedlichen Transmitter zwi- oft aufgrund vieler täglicher Belastungen
schen postganglionären Neuronen und Effektor (Verkehr, Schule, Arbeit u. a.) in Gang gesetzt,
wird der Sympathicus als adrenerges und der ohne dass danach die körperliche Handlung
Parasympathicus als cholinerges System be- (Abwehr, Flucht) erfolgt.
zeichnet. Folgen können z. B. sein: Herz-Kreislauf-
Erkrankungen, Magengeschwüre, Drüsenfunk-
tionsstörungen.
17.12 Zusammenwirken der
Koordinationssysteme Verarbeitung
VNS, animales Nervensystem
und Hormonsystem Umwelt

Die verschiedenen Verhaltensformen, wie z. B.


Nahrungs-, Abwehr- oder Fortpflanzungsver- Sinnesorgan
halten, sind das Ergebnis des engen Zusammen- Information
wirkens von animalem und vegetativem Nerven-
system sowie dem Hormonsystem. Der Hypo-
thalamus als oberstes Steuerzentrum aller vege-
tativen und der meisten endokrinen Prozesse
erhält vom Endhirn Informationen aus der
Umwelt. Daraufhin steuert er die ihm unterge-
ordneten hormonellen, vegetativen und animalen
Prozesse so, dass z. B. Ernährung und Verdau-
ung gefördert werden, ein Abwehrverhalten vegetatives NS Hormonsystem
(Alarmstellung) praktiziert wird oder ein Ver-
halten entsteht, das der Fortpflanzung dient. Bei
den 3 genannten Verhaltensformen werden die
Körperfunktionen wie folgt beeinflusst (verein- Herzfrequenz, Atemfrequenz

facht dargestellt): Stoffwechsel, Muskeltonus


Nahrungsverhalten:
– Blutdrucksenkung, Koordinationssysteme. Abb. 17.30
– Erhöhung der Magen-Darm-Durchblutung
372 17 Nervensystem

14 – 30 Hz 8 – 13 Hz 14 – 30 Hz

EEG-Ableitpunkte
Wachsein Ruhe Wachsein

Abb. 17.31 EEG-Wellen.

17.13 Wachsein und Schlafen und Pläne zu haben,


– die Selbsterkenntnis und das Erkennen ande-
Der Aktivitätszustand der Neurone des Gehirns rer Individuen,
(„Wachheitsgrad“) ist ständigen Schwankungen – das Akzeptieren ästhetischer und ethischer
unterworfen. Ursachen sind z. B. die Afferenzen, Werte.
die aufgrund von Umweltreizen bzw. Reizen aus
dem Körper selbst entstehen. ❑
P Abweichungen vom normalen Bewusstsein
werden als Bewusstseinsstörungen bezeichnet.
Elektroencephalogramm (EEG) Sie äußern sich in einem veränderten Ablauf
Durch das EEG ist es möglich, die elektrische oder Ausfall der genannten Merkmale.
Hirnaktivität zu registrieren. Das geschieht mit Im Vergleich zur normalen Bewusstseinslage
Hilfe von Elektroden von der Kopfhaut aus. Je (Bewusstseinsklarheit) spricht man von ver-
nach Wachheitsgrad variieren die Potential- schiedenen Schweregraden wie leichte Bewusst-
schwankungen in Amplitude und Frequenz. seinstrübung (= leichte Benommenheit), schläf-
riger Zustand, Schläfrigkeit (= Somnolenz),
Wachsein und Bewusstsein mittelgradige Bewusstseinsstörung (= Sopor),
Wachsein bedeutet, dass der Mensch aktiv mit Bewusstlosigkeit (= Koma).
der Umwelt in Kontakt tritt und auf einwirkende
Reize entsprechend reagiert. Herzfrequenz, Atem-
frequenz, Stoffwechsel und Muskeltonus sind im Schlafen
Vergleich zum Schlafzustand erhöht. Schlafen dient der Erholung, ist aber nicht ein-
Beim Menschen ist Wachsein eng mit Bewusst- fach ein Ruhen des Gehirns, sondern eine vom
sein verknüpft, das durch folgende Merkmale Wachsein unterschiedliche Organisationsform
gekennzeichnet ist: der Hirnfunktion.
– die Aufmerksamkeit und Fähigkeit, die Rich- Im Schlafzustand ist die Informationsaufnahme
tung der Aufmerksamkeit gezielt zu wechseln, aus der Umwelt auf ein Minimum eingeschränkt,
– die Kreativität und den Umgang mit abstrak- aber bestimmte Schlüsselreize, wie beispielswei-
ten Ideen sowie ihr Ausdrücken durch Worte se das Wimmern des Säuglings, werden von der
oder andere Symbole, Mutter aufgenommen. Stoffwechsel, Herz und
– die Fähigkeit, die Bedeutung einer Handlung Atemfrequenz sind gedrosselt (= parasympathi-
im Voraus abzuschätzen, also Erwartungen sche Reaktionslage).
17.13 Wachsein und Schlafen 373

Darüber hinaus können unterschiedliche Schlaf-


stadien als Ausdruck der Schlaftiefe abgegrenzt
werden.
Während eines normalen Nachtschlafes werden
die REM- und Non-REM-Phasen und die
Schlafstadien im Durchschnitt 3 bis 5 mal durch-
laufen. Dabei treten charakteristische EEG-
Wellen auf.
Parasympathicus
- trophotrop - Non-REM- oder orthodoxer Schlaf
Diese Schlafphase umfasst beim Erwachsenen
ca. 80 % der Gesamtschlafdauer. Sie ist durch
5 Schlafstadien (A, B, C, D, E) gekennzeichnet
und läuft wie in der Tabelle 17.33 dargestellt ab.

5 Schlafstadien. Tab. 17.13



Herzfrequenz Muskeln Atemfrequenz Schlaf- Schlaftiefe EEG- Frequenz

Schlagvolumen erschlafft Atemtiefe


stadium Wellen (in HZ)

A entspanntes Alpha () 8,0 – 13,0


Abb. 17.32 Parasympathische Reaktionslage. Wachsein



B Einschlafen Theta (
) 5,0 – 7,0


Mit dem EEG lassen sich 2 Schlafphasen fest-
stellen: C Leichtschlaf Delta ( ) 4,0
– der REM (Rapid Eye Movements = schnelle


Augenbewegungen) oder der paradoxe Schlaf
D mitteltiefer Delta ( ) 3,0 – 3,5
und Schlaf

– der Non-REM (ohne diese Augenbewegungen) ➞


oder orthodoxe Schlaf. E Tiefschlaf Delta ( ) 0,5 – 1,2

Merke
10 min 20 min 30 min 40 min EEG
Der erste Tiefschlaf (D, E) einer
Schlafperiode wird etwa 30 bis
wach
90 Minuten nach dem Einschlafen
A REM-Schlaf (B) über das Stadium C erreicht.
paradoxer
Schlaf

Die maximale Schlaftiefe nimmt


B mit zunehmender Schlafdauer ab.
Schlafstadien

C In der orthodoxen Schlafphase sind


verschiedene Lebensfunktionen her-
orthodoxer
Schlaf

abgesetzt und zwar


D
– die Herz- und damit die Puls-
frequenz,
E – der Blutdruck,
– die Atemfrequenz,
0 1 2 3 4 5 6 7 – die Drüsentätigkeit,
Schlafdauer – der Stoffwechsel,
– der Muskeltonus und
Abb. 17.33 Schlafstadien im Verlauf einer Nacht. – die Reizschwelle der Sinnes- und
Nervenzellen.
374 17 Nervensystem

REM- oder paradoxer Schlaf ❑


P Ein gesteigertes Schlafbedürfnis kann Hin-
Der REM-Schlaf stellt eine besondere Phase dar: weis auf Störungen sein (z. B. Allgemein- oder
Das EEG gleicht dem Schlafstadium E (deshalb hirnorganische Erkrankungen).
paradoxer Schlaf). Schlafstörungen (Einschlaf-, Durchschlaf-
störungen, frühes Erwachen, Schlafumkehr)
Merke sind sehr häufig. Bevor Schlafmittel verab-
Die erste REM-Phase wird schon beim reicht werden, sollte versucht werden, mög-
Einschlafen durchschritten (Sekundenschlaf) liche Störfaktoren auszuschalten.
und wiederholt sich etwa alle 1,5 Stunden. Schlafmittel stören den Ablauf der natürlichen
Die einzelnen Phasen dauern im Mittel Schlafphasen und sind daher bei Dauer-
20 Minuten, wobei die längsten gegen gebrauch gesundheitsschädigend.
Morgen auftreten.

Der REM-Schlaf zeichnet sich aus durch:


– schnelle Augenbewegungen und Muskel-
zuckungen (z. B. Gesichtsmuskeln);
– das fast vollständige Erlöschen des Muskel-
tonus der Skelettmuskulatur;
– Zunahme der Atem-, Herz- und Pulsfrequenz,
wobei gewisse Unregelmäßigkeiten auftreten.
– Auftreten von Peniserektionen sowie der
meisten Träume.

Merke
Zu einem erholsamen Schlaf gehören sowohl
Non-REM- als auch REM-Schlaf-Phasen.

Entsprechend der Dauer des Nachtschlafes kann


man von 3 Schlaftypen sprechen:
– Kurzschläfer < 6 Stunden,
– Mittelschläfer 6 – 9 Stunden,
– Langschläfer > 9 Stunden.

Im Allgemeinen nimmt mit zunehmendem Alter


die Gesamtschlafdauer ab, wobei vor allem die
Non-REM-Perioden erheblich kürzer werden.
Der hohe Anteil des REM-Schlafes bei Säuglin-
gen und Kleinkindern könnte möglicherweise
ein gewisser Ersatz für fehlende äußere Reize
sein.

Der normale Schlaf-wach-Rhythmus wird von


einer in ihrer Wirkungsweise noch weitgehend
unbekannten „inneren Uhr“ gesteuert.
17 Nervensystem 375

Fragen zur Wiederholung

1. Aus welchen Anteilen besteht das menschliche Nervensystem?


2. Erklären Sie anhand eines Querschnittes den Aufbau des Rückenmarkes.
3. Nehmen Sie eine Gliederung der Rückenmarksegmente vor.
4. Definieren Sie
a) graue Substanz, b) weiße Substanz,
c) Nervenfaser, d) Nerv.
5. Nehmen Sie eine Gliederung der einzelnen Hirnabschnitte vor.
6. Beschreiben Sie den Bau des Endhirns.
7. Nennen Sie die verschiedenen Funktionszentren in der Großhirnrinde, und beschreiben Sie
kurz ihre Aufgaben.
8. Welche Bedeutung haben die Basalganglien?
9. Aus welchen Abschnitten besteht das Zwischenhirn, und welche Aufgaben erfüllen sie?
10. Welche Funktionen erfüllen
a) Mittelhirn, b) Kleinhirn,
c) Medulla oblongata, d) Formatio reticularis?
11. Was sind Hirnventrikel, und welche gibt es?
12. Wie werden Gehirn und Rückenmark geschützt?
13. Unterscheiden Sie inneren und äußeren Liquorraum.
14. Welche Bedeutung hat der Liquor?
An welcher Stelle kann man am günstigsten Liquor gewinnen?
Begründen Sie den Punktionsort aus anatomischer Sicht.
15. Beschreiben Sie die Blutversorgung des Gehirns.
16. Lokalisieren Sie die afferenten und efferenten Fasersysteme des Rückenmarkes und
Gehirns! – Wo liegen die Umschaltstellen zwischen den einzelnen Neuronen?
17. Was verstehen Sie unter dem extrapyramidal-motorischen System, und welche Bedeutung
hat es?
18. Was sind Ganglien?
19. Nennen Sie die 12 Hirnnerven und ihre Aufgaben.
20. Beschreiben Sie die Entstehung und Aufzweigung eines Rückenmarksnerven.
21. Geben Sie einen Überblick über die Innervationsgebiete der Rückenmarksnerven unter
Beachtung der Geflechtbildung.
22. Nennen Sie die wichtigsten Nerven des Armes und ihre Aufgaben.
23. Stellen Sie Ursprung, Verlauf und Versorgungsgebiet des N. ischiadicus dar.
24. Was ist ein Reflexbogen?
25. Erläutern Sie Wesen und Bedeutung von
a) Eigenreflexen, b) Fremdreflexen,
c) bedingten Reflexen.
Beschreiben Sie einige wichtige Reflexe genauer.
26. Welche Leistungen vollbringt die Stützmotorik, und wie werden diese realisiert?
27. Welche Aufgabe erfüllt das VNS?
28. Unterscheiden Sie zentrales und peripheres VNS.
29. Unterscheiden Sie
a) para- und prävertebrale Ganglien,
b) prä- und postganglionäre efferente Neurone.
30. Beschreiben Sie Aufbau und Aufgabe des Sympathicus.
31. Erläutern Sie den Zusammenhang zwischen Sympathicus und den Hormonen Adrenalin
und Noradrenalin.
32. Beschreiben Sie Aufbau und Aufgabe des Parasympathicus.
376 17 Nervensystem

Fragen zur Wiederholung

33. Vergleichen Sie Sympathicus und Parasympathicus hinsichtlich ihrer Wirkungsweise.


34. Erläutern Sie an einem konkreten Beispiel das Zusammenwirken von VNS, animalem
Nervensystem und Hormonsystem.
35. Erläutern Sie die Bedeutung des Schlafes aus physiologischer Sicht.

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