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Die Ethik der „Antigone“ und

Joseph Ratzingers

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades


eines Magisters der Theologie

an der Karl-Franzens-Universität Graz

vorgelegt von

Gunther FLORIAN

am Institut für Ethik und Gesellschaftslehre

Betreuer: Univ.-Prof. Dr. Leopold Neuhold

Graz, 2016
Für meine Eltern und Barbara Johanna Thuswalder

2
VORWORT

Als Kind habe ich die griechischen Sagen in den Fassungen von Michael
Köhlmeier und Auguste Lechner kennengelernt, und meine Mutter hat mich immer
wieder gefragt, ob die Sagenfiguren richtig oder falsch handeln. Dass in den
Rittersagen des Mittelalters ein neuer Ton angeschlagen wird, ist mir als Kind aber
noch nicht aufgefallen. Heute weiß ich, auch aus vielen Gesprächen mit meiner Mutter,
der ich dafür sehr dankbar bin, dass dieser neue Ton durch die christliche
Verinnerlichung unseres Empfindens verursacht ist und dass die Hybris und
vorschnelle Entscheidung, die Menschen aufgrund einer heroischen Ideologie treffen,
immer wieder ihre tragischen Opfer fordert. Es ist aber schon in der heroischen Poesie,
wie z. B. in der Labdakidensage des thebanischen Sagenkreises, unausgesprochen und
mehr geahnt als begriffen, weil dafür der Wortschatz noch fehlt, eine Tendenz zur
Humanisierung angelegt, einfach schon dadurch, dass gezeigt wird, dass man seinen
Neigungen nicht blind und triebhaft folgen soll. Insofern sind sie für den Christen eine
hilfreiche Negativdidaxe.

Ich danke Herrn Prof. Neuhold für seinen Hinweis auf die Ethik Joseph
Ratzingers. Mein ganz persönlicher Ertrag dieser Arbeit ist vor allem Joseph Ratzinger
zu verdanken, seiner Lehre, dass die Gewissensschuld nicht erst in der aktuellen
Entscheidung, sondern meist schon lange vorher, schon in der Vorgeschichte der Tat
zu finden ist. Besonders erhellend ist in dieser Hinsicht Psalm 19,13, der Ratzingers
Argumentation schon keimhaft enthält und dazu beiträgt, uns moralisch zu
sensibilisieren, damit man ahnt oder weiß, dass oft nur ein schlechtes Gewissen ein
gutes Gewissen ist. Für diese Erkenntnisse bin ich ihm sehr dankbar.

3
INHALTSVERZEICHNIS

I. EINLEITUNG ......................................................................................................................... 6

II. NATUR UND NATURRECHT ................................................................................................ 9

III. SOPHOKLES, PROTAGORAS, PERIKLES UND DIE KRISE DER ETHISCHEN WERTE ..... 15

IV. „ANTIGONE“ AUS DER PERSPEKTIVE DES PROTAGORAS, DER SOPHISTIK ................ 21

V. DIE ETHIK DER „ANTIGONE“ IN MULTIPERSPEKTIVISCHER SICHT ............................. 34

V. 1. DAS UNVERFÜGBARE. DIE FAMILIENHERKUNFT ALS RANDBEDINGUNG DER


NARRATIVEN ETHIK. .......................................................................................................... 34

V. 2. GNADENMORAL UND LOHNMORAL. ISMENE UND ANTIGONE. ........................... 38

V. 3. IDEOLOGIE VS. THEONOME ETHIK. KREONS LEGITIMATION SEINES VERHALTENS.


........................................................................................................................................... 47

V. 4. DIE NATURRECHTLICHE VORSTELLUNG VOM PHYLAX ALS DEM MAß ALLER


DINGE. KANN SICH DER PHYLAX ETHISCHES HANDELN LEISTEN? .................................... 54

V. 5. DAS HYBRISLIED DES CHORES............................................................................ 58

V. 6. KREONS UND ANTIGONES VORSTELLUNG VOM GÖTTLICHEN RECHT BZW. DEM


SOGENANNTEN NATURRECHT ............................................................................................ 61

V. 7. DAS SCHICKSALSLIED DES CHORES .................................................................... 68

V. 8. DIE VORSTELLUNGEN KREONS UND HAIMONS VON DEN ETHISCHEN PRINZIPIEN


DES ZUSAMMENLEBENS IN DER POLIS ............................................................................... 71

V. 9. ETHIK UND IDEOLOGIE DES CHORES................................................................... 76

V. 10. ANTIGONES DOPPELTER ETHISCHER MAßSTAB................................................. 82

V. 11. DIE ETHIK DES PRIESTERS TEIRESIAS: DAS ÜBERPOSITIVE RECHT .................. 85

V. 12. ANTIGONE, KREON UND DIE SCHULD ............................................................... 91

V. 13. ETHIK UND IDEOLOGIE ...................................................................................... 97

V. 14. ANTIGONES ARGUMENTATIONSFORMEN ........................................................ 102

V. 15. TRAGIK UND MENSCHENWÜRDE..................................................................... 105

VI. WELCHE LÖSUNG EMPFIEHLT JOSEPH RATZINGER FÜR ZEITEN EINER KRISE DER
ETHIK? .......................................................................................................................... 109

4
VI. 1. JOSEPH RATZINGERS STREIFLICHTER AUF DIE GESCHICHTE DES NATURRECHTS
......................................................................................................................................... 109

VI. 2. JOSEPH RATZINGERS FUNDAMENTALETHISCHE PRINZIPIEN ........................... 115

VI. 3. JOSEPH RATZINGERS DIAGNOSE DES ETHOS DER GEGENWART...................... 118

VI. 4. DAS NATURRECHT AUS DER NONKOGNIVISTISCHEN SICHT HANS KELSENS.


JOSEPH RATZINGERS GEGENARGUMENTE UND STAATSETHIK. ....................................... 122

VI. 5. WIE WIRD DAS ETHISCH GUTE NACH JOSEPH RATZINGER ERKANNT UND
ERREICHT? ........................................................................................................................ 127

VII. ERGEBNIS .................................................................................................................... 134

VIII. A. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS ................................................................................. 137

VIII. B. LITERATURVERZEICHNIS ..................................................................................... 138

5
I. EINLEITUNG

Wir kennen aus der heutigen Weltanschauung die Vorstellung, dass die
Menschheit das Wichtigste ist, dass der Mensch im Mittelpunkt stehen soll. Damit
wird oft implizit gesagt, dass nicht Gottes Wille das Prinzip moralischer Beurteilung
sein soll. Für Sophokles steht dagegen ein Ethos im Mittelpunkt, das seit jeher und
überall gilt und von dessen Ursprung man nicht mehr weiß, als dass es göttlicher
Herkunft ist. Für Sophokles steht also Gott und sein „Naturrecht“ im Mittelpunkt, das
von Hans Kelsen später schlichtweg mit der Moral gleichgesetzt werden wird. Für
Protagoras, den um zehn Jahre jüngeren Zeitgenossen des Sophokles, ist der Mensch
das Maß aller Dinge.

Sind diese Sichtweisen vermittelbar? Zur Beantwortung dieser Frage wird in


einem der ersten Kapitel mit Vorgriffen auf die „Antigone“ gefragt, inwiefern es
zwischen einer theonomen und einer autonomen Ethik Gemeinsamkeiten gibt. Um
diese geht es ja im ursprünglichen Naturrecht, das in der Neuzeit säkularisiert als
Vernunftrecht weiterlebt und dessen letzte Reste in den Menschenrechten und der
Menschenwürde uns alle heute noch leiten (sollten).

In einem weiteren Abschnitt wird die „Antigone“ Schritt für Schritt aus der
Perspektive der Ethik und der kritischen Sicht auf eine den jeweiligen Interessen
dienende ideologisierte Ethik behandelt. Diese beiden Teile der Arbeit werden am
Leitfaden Erik Wolfs erörtert, eines klassischen Kenners des Naturrechts, auf dessen
Fachbegriffe dabei zurückgegriffen wird. - Als Antigone mit ihren aus der Mythologie
und dem Konsensdenken genommenen Argumenten gegenüber dem starren und
letztlich willkürlichen moralischen Tunnelblick der königlichen Autorität scheitert,
entdeckt sie in ihrer Argumentationsnot das, was man später als das sog. „Naturrecht“
bezeichnen wird.

Heute ist es um dieses Naturrecht aber still geworden. Man verdächtigt es,
einerseits zu abstrakt und folglich zu leer zu sein (Leerformelverdacht) und
andererseits willkürliche moralische Forderungen mit dem Mantel des Natürlichen,
Ewigen und Immergültigen umhüllen zu wollen. Es sei nur eine katholische

6
Sondermoral. Abgesehen davon gefährde das als moralisch gut Behauptete die
Freiheit.

Ratzingers Ethik zeigt dagegen, dass das jahrtausendealte Naturrecht trotzdem


nicht tot ist. Denn in einer diskursiven Erörterung der vielen positiven Moralen bzw.
Ethosformen muss immer wieder nach gemeinsamen Prinzipien und insofern nach
einem gemeinsamen natürlichen und universalen Kern, der Moralität, gefragt werden,
wenn der Ausdruck „Menschheit“ einen Sinn haben soll. Auf die Wortwahl kommt es
dabei nicht an.

Dem letzten Teil dieser Arbeit liegen die von Ratzinger selbst ausgewählten
Aufsätze, Vorträge und Predigten zugrunde, in denen er nach bleibenden Werten in
Zeiten des Umbruchs fragt. Hier wendet er sich nicht als Dogmatiker an eine engere
Gruppe von theologischen Fachleuten, sondern an teilweise auch agnostische
Adressatinnen und Adressaten aus der Bevölkerung, der Wirtschaft und der Politik,
die er – und das ist das gemeinsame Anliegen aller seiner Texte – an eine überpositive
und vorpositive Ethik bzw. Moralität im Sinne einer platonischen Anamnese erinnern
möchte.

Sophokles und Ratzinger geht es im Kern um dasselbe Thema: Um ein


nichtpartikulares Ethos der theonomen Menschlichkeit, die uns einerseits wie der
Antigone ins Herz eingeschrieben und von der intuitiven Vernunft erfassbar ist, die
sich aber andererseits im inneren Dialog mit sich selbst gewissenhaft aller
deontologischen und konsequentialistischen Argumente pro und contra in Bezug auf
eine potentielle Handlung versichert. Dazu gehört, dass man das Ergebnis im Blick auf
die tradierte Moral und im Diskurs mit anderen Menschen und Kulturen überprüft, um
so von einem irrtumsfreien, aber abstrakten Gewissen über das irrtumsanfällige
Situationsgewissen zu einem intersubjektiv überprüften Gewissen zu gelangen.

Diese dialogische Nachhilfe wird in der „Antigone“ dem


interessensideologisch verblendendeten Staatsmann Kreon von seinem Sohn und dem
Priester, der ihn ins Staatsamt berufen hatte, vergeblich angeboten. - So ähnlich sieht
Ratzinger (im Sinne des zweiten Vatikanums) das Papsttum als eine ethische
Nachhilfe bei der Schärfung des Gewissens. Letztlich aber ist der Christ nach
Ratzinger verpflichtet, seinem eigenen Gewissen zu folgen. Die Schuld eines
7
Menschen mit irrendem Situationsgewissen besteht aber nicht darin, dass er nach
diesem irrenden Gewissen handelt. Er muss sogar nach seinem irrenden Gewissen
handeln, weil er für seinen Irrtum blind ist. Die Schuld des Verblendeten sieht
Ratzinger nicht beim irrenden Gewissen, sondern im Vorfeld der Gewissensbildung.
So gewinnt er und gewinnen wir eine halbwegs sichere Beurteilungsbasis für die
moralisch bzw. ideologisch fanatisierten Überzeugungstäter von der Art König Kreons
oder von Potentaten des zwanzigsten Jahrhunderts.

Kreon tut nämlich das aus seiner Sicht für das Gemeinwesen Gute. Er tut es
mit konventionellen, aber auch willkürlichen Gründen und mit einem skrupellosen
„Gewissen“. Für den ethischen Standpunkt ist es aber das Böse und Ausdruck eines
irrenden Gewissens. Es handelt sich hier nach Psalm 19,13 um unerkannte Schuld,
deren Nichterkennen aber schuldhaft sein kann. Das Gewissen als Idee und Begriff
gibt es zwar erst seit dem Hellenismus, das Gewissen als Realität, auf die sich der
Begriff bezieht, gibt es aber schon seit der Menschwerdung des Menschen.

8
II. NATUR UND NATURRECHT

Es gibt verschiedene Begriffe von dem, was man als „natürlich“ auffassen
kann.1 Unter einem „natürlichen“ Verhalten kann erstens ein statistisch häufiges und
deshalb statistisch bzw. „naturgemäß“ erwartbares Verhalten verstanden werden.
Diese Art von Natürlichkeit ist ohne sittliche Relevanz. Wer sich auf diese
Natürlichkeit, dieses Sein stützt, um ein bestimmtes sittliches Verhalten zu fordern,
begeht einen naturalistischen Fehlschluss,2 den man auch als Fehlschluss vom Sein auf
das Sollen bezeichnen kann.

Natur ist zweitens die biologische Natur, deren Sein und Gesetze der Mensch3
bei all seinen Experimenten und Gestaltungsversuchen (z.B. Genmanipulationen)
dann beachten soll, wenn er ein Interesse daran hat, sich selbst und seine Mitmenschen
zu erhalten und eine Selbstbeschädigung zu vermeiden. Denn diese biologische Natur
hat ihr eigenes Recht, und wer es nicht beachtet, wird von der Evolution
ausgeschieden.

Natur ist schließlich das Wesen eines Phänomens, das eigentliche Sein im
Vergleich zur Oberfläche und zum Schein, das Platon mit Hilfe des
Höhlengleichnisses erklärt hat. Zur Natur des Menschen in diesem dritten Sinn gehört
nicht nur die biologische Natur im engeren Sinn; hier ist der Mensch ein Ganzes aus
Körper, Geist und Gemeinschaftsbezogenheit. Auf diese Fassung des Naturbegriffs
bezieht sich das Menschenbild der christlichen Theologie, das in der
außermenschlichen und menschlichen Natur einen Ausdruck von Gottes Schöpfung
sieht, die als gut und geordnet gilt und die der Mensch folglich als Richtschnur zu
beachten hat. Mithin darf er diesen Kosmos weder physisch noch moralisch zerstören.

1
Vgl. zur Einleitung: Furger, Franz: Art. Natur, in: Rotter, Hans/ Virt, Günter(Hg.): Neues Lexikon der
christlichen Moral, Innsbruck: Tyrolia 1990, 542-547.

2
Vgl. ebda, 543.

3
Eine gendergerechte weibliche Variante hätte hier einen negativen Wertakzent zur Folge. Die
Formulierung ist also wie alle gleichen oder ähnlichen gendergerecht zu verstehen.

9
Diese natürliche Sittlichkeit hat schon früh in der Goldenen Regel 4 ihren
Ausdruck gefunden. Sie gebietet, andere Menschen (in gewisser Weise gilt das auch
für Tiere5) nicht zu kränken oder sonstwie zu verletzen, weil man selbst ja auch nicht
verletzt, sondern geachtet und respektiert werden möchte. Wie ist das am ehesten
erreichbar? Durch Perspektivenwechsel, dass man sich an die Goldene Regel hält. In
einer naiven Anwendung dieser Was-du-nicht-willst-Regel dürfte einem ein Polizist
beispielsweise keine Verkehrsstrafe auferlegen. Die Goldene Regel ist also nur eine
Faustregel, die vernünftig angewendet werden muss; es ist demnach zu unterscheiden
zwischen der primären Verletzung dieser Regel und der Ahndung der Regelverletzung,
die ihrerseits ein vernünftiges Maß nicht überschreiten darf, weil sie sonst wieder eine
Verletzung der Goldenen Regel wäre.

Das in der Goldenen Regel negativ formulierte Prinzip gibt es auch in einer
positiven Fassung. Jesus Christus hat es in der Bergpredigt so formuliert: „Alles was
ihr […] von anderen erwartet, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die
Propheten.“ (Mt 7,12; vgl. auch Lk 6,31). Nach Paulus ist diese naturrechtliche
Deutung des Kerns des Alten Testaments auch ins Herz der Heiden eingeschrieben, so
dass auch sie dem Gesetz Gottes folgen, wenn sie auf die Stimme ihres Gefühls, ihres
Herzens, ihrer moralischen Intuition und auf ihr Gewissen, also auf die Sprache der
natürlichen Sittlichkeit hören (vgl. Röm 2,14f.). Paulus identifiziert also das
völkerübergreifende natürliche Recht mit dem Gesetz des Alten Bundes.

Der Kerngedanke der Botschaft Jesu Christi und des Alten Testaments ist im
fünften Jahrhundert vor Christus schon den griechischen Weisheits- und
Wanderlehrern, den Sophisten, auf ihren Wanderungen und Seereisen aufgefallen: Es
gibt zwar von Polis zu Polis und von Volk zu Volk kulturell unterschiedliche
Regelungen, Gesetze und Normen im Sinne des positiven Rechts, aber auch einen
universal gleichen Kernbestand an Regelungen, also ein über- bzw. vorpositives, seit
Ewigkeiten geltendes, nichtgesatztes, ungeschriebenes Gesetz, das Naturrecht, das das
positive Recht und die verschiedenen Moralen bzw. Ethosformen aus der Sicht der

4
Vgl. Furger, 543f.

5
Vgl. das Sprichwort: Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt genau wie du den Schmerz.

10
Naturrechtler6 erst legitimiert. Die Beachtung des Naturrechts im Sinne einer
natürlichen Sittlichkeit unterscheidet für sie den sittlichen Staat von einem Staat mit
willkürlich gesetztem Recht.

Die Natur des Menschen ist zwar oft geschwächt durch Eigensucht und
Überheblichkeit (Hybris, Superbia), die bei uns manchmal das pochende Gewissen
zum Schweigen bringen können. Aber gerade deshalb muss sich der Mensch einer
Tatsache bewusst sein: Das Menschenkind ist schon als hilfloser Säugling, dann in der
arbeitsteiligen Gesellschaft und zuletzt im Alter mehr oder weniger auf andere
Menschen angewiesen. Sogar nach dem Tod braucht man jemanden, der einen begräbt,
weil man ja nicht von den Füchsen aufgefressen werden will. Wir brauchen einander
also, wir sollen deshalb aufeinander Rücksicht nehmen, wie es schon die Goldene
Regel7 fordert, die ja als Basistugend auch in die Bibel aufgenommen wurde. Ihre
Botschaft redet nicht der liberalen Rücksichtslosigkeit und der Willkürfreiheit das
Wort, sondern berücksichtigt besonders die Fremden, Benachteiligten und Wehrlosen.
Das dahinterstehende Prinzip ist die schon von den alttestamentlichen Propheten
immer wieder geforderte Gerechtigkeit. Dazu kommt noch eine besondere Form des
Wohlwollens, nämlich das Gebot der Liebe, das über das Gebot der Gerechtigkeit
supererogatorisch hinausgeht. Der Supererogative hilft nach der Art des barmherzigen
Samariters über das von der Pflicht geforderte Maß hinaus, er handelt also nicht nur
gemäß seiner Verpflichtung (deontologisch), sondern darüber hinaus verdienstlich.8
Kern der die Zeiten überwölbenden intuitiven Ethik ist aber das Gebot der
Gerechtigkeit, das den Zusammenhalt der Gemeinschaft und den Frieden zwischen
den Gemeinschaften sichert.

Die sittliche Forderung nach Gerechtigkeit ist „auch die Grundlage der
sittlichen lex naturae, also des sog. ‚natürlichen Sittengesetzes‘, in welchem jede

6
Soweit bekannt, gab es bei den Griechen noch keine in der Öffentlichkeit auftretenden Sophistinnen
bzw. Naturrechtlerinnen.

7
Vgl. Furger, Natur, 543f.

8
Horster, Detlef: Ethik, Stuttgart: Reclam 2009 (=Grundwissen Philosophie. Reclam Taschenbuch
20324), 140.

11
weitere ethische Forderung ihre einsichtige Begründung finden muss, wenn sie sich
nicht autoritär-voluntaristisch und damit letztlich willkürlich oder aus beliebiger
Anmutung (d.h. letztlich un-ethisch) ableiten soll“9. - Dafür gibt das Verhalten des
Königs in der „Antigone“ ein Negativbeispiel, denn seine Begründungen erweisen sich
als willkürlich und seine Anordnungen folglich als tyrannisch (s.u.).

Obwohl sich Kant10 gegen das Naturrecht wendet, sagt er letztlich nichts
anderes als die eben zitierte „lex naturae“: Für ihn darf der Mensch nicht nur als Mittel
zum Zweck instrumentalisiert werden, wozu gerade die arbeitsteilige Gesellschaft
verführen könnte, sondern der Mensch muss bei aller Rädchenhaftigkeit immer auch
zugleich ein Selbstzweck sein, denn darin gründet seine Menschenwürde (wir werden
sehen, wie sich der König Kreon in der „Antigone“ in dieser Hinsicht gegenüber dem
kleinen Mann, dem Wächter, verhält.). Dieses Prinzip gilt ohne Wenn und Aber, also
universal und schlechthin, also kategorisch.11

Kants kategorischer Imperativ und das Jahrtausende alte Naturrecht spiegeln


dieselbe Grundeinsicht, dass der Mensch von seinem anthropologischen Rahmen her
mangelhaft ausgestattet und daher auf die Kultivierung einer Art von minimaler
Gerechtigkeit von Natur aus angewiesen ist. Diese Forderung nach Gerechtigkeit ist
keine hypothetische, sondern eine unbedingte Forderung. Die Naturrechtslehre hat
daraus vier ebenfalls unbedingte, kategorische sittliche Gebote abgeleitet:

1. Alles Endliche ist „von einem unbedingten Ermöglichungsgrund“12 abhängig,


woraus folgt, dass dieses höchste Wesen zu verehren ist. (Antigone tut das auf ihre
Art.)

2. Kinder und Eltern sollten einander achten und füreinander sorgen. (Antigone tut
das für ihren Bruder.)

9
Furger, Natur, 545.

10
Vgl. ebda, 546.

11
Vgl. ebda, 547.

12
Ebda, 546.

12
3. Ohne das Gefühl, dass eine Art von Verteilungs- und Tauschgerechtigkeit
verwirklicht wird, kann es keinen Frieden unter den Menschen geben. (Für dieses
Gebot gibt es in der „Antigone“ kein prototypisches Beispiel.)

4. Wenn der Mensch durch seine Konstitution im Kosmos verwurzelt ist, hat er die
natürliche Umwelt, also die Schöpfung, zu schützen, weil nur sie das Überleben
sichert und der Mensch nicht das Recht hat, anderen Menschen bzw. Generationen
dieses Überleben zu erschweren. Dieser vierte naturrechtliche kategorische
Imperativ ist erst in unserer Zeit dazu gekommen.

Im Dekalog des Alten bzw. Ersten Testaments – Ratzinger wird sich auf ihn
beziehen – werden die ersten drei Gebote des Naturrechts auf der zweiten Tafel
genauer entfaltet. Hier geht es um jene Gebote, die nicht das Verhältnis zu Gott,
sondern das menschliche Zusammenleben regeln (Ex 20, 12-17 sowie Dtn 5, 12-21).
Die oben genannten drei bzw. vier naturrechtlichen Gebote enthalten den Kern, die
Prinzipien der zweiten Tafel. Sie sind primäres Naturrecht, das ausnahmslos, also
kategorisch gilt. Die Gebote der zweiten Tafel sowie die Menschenrechtserklärungen
der Neuzeit sind dagegen sekundäres Naturrecht: Sie sind nämlich Konkretisierungen,
die je nach der Situation auch Ausnahmen zulassen können, z. B. Totschlag in
Notwehr, gerechter Krieg im Sinne des katholischen Katechismus. Wenn aber Indianer
nicht immer als Menschen im Sinne der Menschenrechte galten bzw. nicht als
Menschen behandelt wurden, so war das ein Missbrauch der Ausnahmeregel.

Darf man moderne ethische Begriffe auf ein antikes Drama anwenden? Der
Begriff des Gewissens wurde zwar erst im Hellenismus und in der Pauluszeit, und der
Begriff der Menschenwürde wurde erst in der Aufklärung, im kategorischen Imperativ
Kants, zu vollem Bewusstsein gebracht, aber vorbegrifflich ist das Wesen des
Gewissens, der Menschenwürde, des Naturrechts dem Menschen als menschlichem
Menschen schon von seiner Wesensnatur aus mitgegeben: Es ist insofern eine „
‚natürliche‘ (dem Menschen als solchem schon vorgegebene) sittliche
Wesenseinsicht“13.

13
Ebda, 545. Vgl. auch Golser, Karl: Art. Gewissen, in: Rotter, Hans/ Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon
der christlichen Moral, Innsbruck: Tyrolia 1990, 278-286, 279.

13
Deshalb können die Begriffe des Gewissens, der Menschenwürde und des
Naturrechts in der narrativen Ethik zur Analyse von Werken verwendet werden, deren
Autoren bzw. Figuren deren Wesen noch nicht mit einem prägnanten Namen
ausdrücklich benennen könnten. Man kann hier das schrittweise Erwachen des inneren
Menschen beobachten, aber auch das ethische Zurückgebliebensein von Menschen:
Der König Kreon z. B. sieht am Ende zwar ein, einen Irrtum begangen zu haben; er
sieht ein, dass es falsch war, sich nicht ans ungeschriebene Gesetz gehalten zu haben.
Ihm fehlt aber das Gewissen in der Variante der nachträglichen Gewissensbisse, ihm
fehlt also noch die Verinnerlichung des Seelenlebens durch die Gewissenserfahrung,
zu dem dann Paulus Entscheidendes beitragen wird. Trotzdem ist schon die
„Antigone“ „in der dramatischen Aufklärung über Verblendung und Starrsinn, Moral
und Gesetz […] gleichsam eine ethische Veranstaltung“14.

14
Schmid Noerr, Gunzelin: Geschichte der Ethik, Leipzig: Reclam 2006 (=Grundwissen Philosophie.
Reclam Bibliothek Leipzig, 20304), 16.

14
III. SOPHOKLES, PROTAGORAS, PERIKLES UND DIE KRISE
DER ETHISCHEN WERTE

In der „Antigone“ des Sophokles (497/96 v. Chr. - 406/05 v. Chr.), geboren in


Kolonos, einem Dorf bei Athen, geht es um Grundfragen der Ethik und der Politik. Es
geht darum, ob Politik und Ethik zweierlei sind, ob die Politik ein Gegenstandsbereich
der Ethik oder umgekehrt die Ethik ein Instrument der Politik ist oder sein soll. Es geht
also um ethisch-politische Spannungen. Im Mittelpunkt des Werkes steht die Frage
nach dem wahren Wesen der Dike und des Dikaion, des Rechts und der Gerechtigkeit,
und die Frage nach der Göttin Dike, die das Recht beschirmt. Das Höchste und Beste,
das die Polis verwirklichen kann, ist das Dikaion. Was aber ist dieses Dikaion, wer
darf es definieren?

In der Mitte des fünften Jahrhunderts, im Zeitalter des Perikles, ist Athen die
unbestritten führende Macht in der griechischen Welt, und Sophokles gilt in Athen
unbestritten als führende Dichterautorität. Er ist aber nicht nur Dichter, sondern auch
Priester und insofern der Dichtertheologe seiner Zeit. Er ist inzwischen um die fünfzig
Jahre alt, hat soeben die Aufführung seiner „Antigone“ erlebt und gehört zur
politischen Führungsschicht und zum engeren Kreis um Perikles.15 Athen sonnt sich
noch im Glanz seines Sieges über die Perser und ist das Zentrum eines Imperiums, das
in seinem Seereich von seinen „Verbündeten“ brutal seine Tribute eintreibt. Es strotzt
vor „Schwung, Selbstvertrauen und Optimismus“16. – Oder sollte man besser von
Hybris sprechen? Bei diesen gegensätzlich wertenden Ausdrücken handelt es sich um
synonymische Unterscheidungen17, d.h. dass der Sprecher den Ausdruck mit dem

15
Vgl. Zimmermann, Bernhard: Einführung, in: Sophokles: Tragödien. Übers. v. Wilhelm Willige,
überarb. V. Karl Beyer. Einf. u. Erl. v. Bernhard Zimmermann, München: Deutscher
Taschenbuchverlag 1990 (=Bibliothek der Antike. DTV-Artemis. dtv 2252), 5-29, 5.

16
Flashar, Hellmut: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München: C. H. Beck 2000, 59.

17
Vgl. Neuhold, Leopold: Art. Ideologie, in: Rotter, Hans / Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon der
christlichen Moral, Innsbruck/Wien: Tyrolia 1990, 351-360, 358.

15
positiven Werturteil für die wohlwollend beurteilte Gruppe von Menschen reserviert,
während die ihm fremde Gruppe mit dem abwertenden Ausdruck belegt wird.

Es wird nur noch einige Jahre dauern, und das schwungvoll-hybride Athen
wird sich in einer Art dreißigjährigem Krieg gegen den Rivalen Sparta, im
Peloponnesischen Krieg (431-404), selbst zerstören. Dieser Krieg wird für Athen
unglücklich verlaufen und das Greisenalter des Sophokles beherrschen.

Doch schon die Friedenszeit ist innerlich zerfressen. Sie ist erfüllt von
Spannungen über die ethisch angemessene Art des Zusammenlebens und vom Zerfall
der „Werte in Zeiten des Umbruchs“18. Es ist die Zeit, als sich in Athen die
sophistischen Wanderlehrer immer mehr Gehör verschaffen. Sie gelten den
Bodenständigen als die „Liberalen“, die „Analytiker“, die „Auflöser“ und
„Auslöscher“ der alten ethischen Traditionen, weil sie an die Göttin Dike nicht mehr
glauben, sondern an so etwas wie einen natürlichen Fluss der Dinge, an eine natürliche
Moral im Gegensatz zur traditionellen und dergleichen.

Die Ausdrücke Ethos/Moral, Moral/Moralität, Ethos/Ethik, Sitte/Sittlichkeit


und Ethik/Moralphilosophie haben für die heutige Ethik unterschiedliche Merkmale
bzw. Konnotationen: Die Moral ist aufgrund ihrer römischen Konnotationen strenger
als das Ethos. Die Moral gibt es im Gegensatz zur Moralität auch im Plural, die Ethik
bzw. (strenger) Moralphilosophie analysiert das Ethos und gibt Wegweisungen für die
Suche nach der Moralität. Die genannten Ausdrücke sind manchmal auch synonym.
Das ist vom Kontext abhängig.

Der geistige Vater der sophistischen Intellektuellen war Protagoras (485-415),


ein Wanderlehrer aus Abdera in Nordgriechenland. Für ihn ist nicht mehr das Göttliche
das Maß aller Dinge, wie seine konservativen Kritiker tadeln und beklagen, sondern
der Mensch. Er ist also ein Antipode des Priesterdichters Sophokles, der die

18
Ratzinger, Joseph: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen,
Freiburg i. Breisgau: Herder 2005.

16
sophistischen Intellektuellen insgesamt wohl als feindlich empfunden hat.19 Protagoras
steht (wie auch Sophokles) im Kontakt mit dem im Umgang mit Menschen
verschiedenen Zuschnitts sehr flexiblen Perikles und sonnt sich offenbar in dessen
Gunst.20 Der sophistische Intellektuelle bzw., freundlicher formuliert, der
Weisheitslehrer Protagoras könnte nach Flashar21 als damals etwa Vierzigjähriger
durchaus unter dem Publikum der Aufführung der „Antigone“ gewesen sein. Wir
können uns vorstellen, wie er da im Jahre 442/41 v. Chr. im halbrunden, treppenförmig
aufsteigenden Marmorkreis des Freilufttheaters am Abhang der Akropolis der
Aufführung der „Antigone“ beiwohnt. Solch eine Aufführung war kein lockeres
Event, sondern ein kultischer Akt, bei dem es um ethische und religiöse Fragen ging,
die noch heute zum Kern religiöser Ethik gehören.

Sollte Protagoras unter den Theaterbesuchern gewesen sein, so sieht er auf der
Bühne ein Stück aus dem Mythos der Labdakiden. Es spielt im zweiten Jahrtausend
vor Christus, in der mykenischen Zeit, in der Theben in Mittelgriechenland neben den
peloponnesischen Poleis Argos und Mykene das zweite Herrschaftszentrum
Griechenlands war, und knüpft wahrscheinlich an wirkliche Geschehnisse an. 22 Die
Tragödie zeigt das schreckliche Ende des Herrschergeschlechts der Labdakiden, auf
dem ein sich fortzeugender Fluch lastet, weil sich Laios, der Großvater der Antigone,
an einem Knaben vergangen hat.

Nachdem sich die beiden Enkel des Laios, die Söhne des Oidipus, im Kampf
um die Macht gegenseitig erschlagen haben, ist Kreon, der Onkel der beiden Brüder,
der neue Basileus von Theben. Einer seiner beiden Söhne hat in diesen Kämpfen sein
Leben freiwillig für die Polis geopfert. Der überlebende Sohn ist mit Antigone verlobt,

19
Wolf, Erik: Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der Sophistik, Frankfurt am Main:
Vittorio Klostermann 1952 (=Wolf, Erik: Griechisches Rechtsdenken 2), 250.

20
Vgl. Flashar, Sophokles, 59.

21
Vgl. ebda.

22
Vgl. Latacz, Joachim: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht
²2003 (=UTB 1745), 203.

17
mit der einen der beiden Oidipus-Töchter, die nach dem Tod ihres Vaters im Hause
ihres Onkels leben.

Weil sich Polyneikes, der eine der beiden Oidipus-Söhne, von seinem
Schwiegervater ausländische militärische Hilfe geholt und im Heer der „Sieben gegen
Theben“ gekämpft hat, wird ihm vom König Kreon das Begräbnis verweigert.
Antigone will ihren Bruder trotzdem bestatten, um ein göttliches Gesetz zu erfüllen.

Der Ideologiekritiker Protagoras wird im Alter das Dasein der Olympier


bezweifeln und deshalb um 411 aus Athen fliehen müssen. Mit welchen
Empfindungen mag er, wenn er denn unter den Zusehern gewesen sein sollte, den
Darstellern des religiösen Weihespiels gelauscht haben? Fühlte er sich durch die
Tendenz des Dramas provoziert? Der Sophist und der Theologendichter waren ja
durch eine tiefe weltanschauliche und metaphysische Kluft getrennt, die kein Diskurs
einebnen kann.

Für die meisten Sophisten gibt es im Leben nur Machtkämpfe, Zufälle und
Kontingenzen, so sehen es die Kritiker der Sophisten. Für die Konservativen gibt es
dagegen tiefere religiös-ethische Zusammenhänge, die man zwar nicht immer sicher
erkennen, aber doch erahnen oder manchmal sogar wie durch ein Wunder erleben
kann, wie am Ende der „Antigone“, als das Jenseits mit der Nemesis, der strafenden
Gerechtigkeit, schrecklich und wunderbar eingreift. Das Spiel erhält damit die ethische
Funktion einer Negativdidaxe, weil es zeigt, dass sich das Unrechttun nicht lohnt. Dem
Besucher des Dionysostheaters macht es insofern Hoffnung, als der König Kreon am
Ende selbstkritisch eingestehen muss, dass es doch am besten sei, wenn man die
bestehenden Gesetze einhalte.23 Damit ist nicht nur das positive Recht gemeint;
sondern gemeint sind auch die überpositiven, naturrechtlichen, göttlich legitimierten

23
Vgl. Sophokles: Tragödien. Übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Beyer. Einf. und Erl. v.
Bernhard Zimmermann, München: Deutscher Taschenbuchverlag 1990 (=Bibliothek der Antike. DTV-
Artemis. dtv 2252), V.1113f.. Im Folgenden wird, wenn nichts anderes vermerkt ist, im Fließtext nach
dieser Ausgabe durch Angabe des Verses direkt oder indirekt zitiert. Die in der Bibliographie genannte
griechisch/deutsche Ausgabe von Norbert Zink ist versident.

18
Werte, auf denen das positive Recht in der „Antigone“ beruht. Dieses Naturrecht ist
auch das Thema des Protagoras (s.u.).

Wie sieht es in Athen aus mit den „Werten in Zeiten des Umbruchs“ 24? Auf
welche ethischen Positionen und auf welche geistesgeschichtliche Lage reagiert
Sophokles mit seinem Werk? Protagoras, dem es, wie dem um fünfzehn Jahre jüngeren
Sokrates (470-399) als Basis aller Ethik auf die gemeinsame Reflexion aller
Diskursteilnehmer ankommt25, kann in der „Antigone“ sehen, wie Gespräche
schuldhaft in Streitgespräche abgleiten, in denen nur noch reflexhaft danach geforscht
wird, ob der Gesprächsteilnehmer der Wir-Gruppe angehört oder einer von den
anderen ist, die es mit Hilfe emotionalisierter Feindbilder26 niederzuringen gilt.
Protagoras hat die für Perikles faszinierende27, für naive Polisbürger aber
erschreckende Mehrdeutigkeit28 der Begriffe, die das Zusammenleben regeln,
entdeckt. Sie können nämlich je nach Intention, Standpunkt, sprachlichem und
situativem Kontext in ihrer Bedeutung ausgeweitet, eingeengt oder so verschoben
werden, dass sie im Streit zu Kampfbegriffen verkommen, die der Konstruktion von
Feindbildern dienen. Da wird die eigene Position durch Euphemismen beschönigt, um
mit ihrer Hilfe für die eigene Gruppe zu werben, und die andere Position wird durch
Schwarzmalerei dämonisiert oder sonst irgendwie verächtlich gemacht. Durch diese
Technik der synonymischen Unterscheidung29 wird das sachlich Gleiche je nach
Parteistandpunkt mit Hilfe der Wortwahl ethisch auf- oder abgewertet. So erzeugt man
den Anschein, als handle es sich um sachlich Verschiedenes.

24
Vgl. Anm. 14.

25
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 19.

26
Vgl. Neuhold, Ideologie, 358.

27
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 20.

28
Vgl. ebda, 19.

29
Vgl. Neuhold, Ideologie, 358.

19
Kreon, der sich als Basileus im Besitz von absoluten Wahrheitsansprüchen30
wähnt, ist das beste Beispiel für solch ein sachfremdes, rein interessengeleitetes
Argumentieren. Antigones Schwester Ismene dagegen ist, wie noch zu zeigen sein
wird, das Opfer dieser Sprachspiele, bei denen Menschen die Spielsteine sind, wenn
sie die vorgegebenen Begriffe ethisch überzeugt, aber naiv anwenden.

Für Joseph Ratzinger schreitet der Mensch „fort in dem Maß, in dem er sich an
Gott annähert, denn in demselben Maß nähert sich die Welt an das Reich Gottes an,
das Reich Gottes ist Gott selbst, niemand und nichts sonst. Und nur wenn der Mensch
ihm nahe wird, wird er wahrhaft Mensch“31. Dieser Gedanke scheint der Welt der
Sophisten sehr fern zu sein. Auch für den geistigen Vater dieser Wanderlehrer, für
Protagoras? Das nächste Kapitel wird zeigen, dass Protagoras zwar andere Worte und
Bilder wählt, in der Substanz aber Ratzinger und wohl auch Sophokles trotz der tiefen
Kluft, die sie trennt, vielleicht doch nicht so fern steht.

30
Vgl. ebda.

31
Papst Benedikt XVI. [=Joseph Ratzinger]: Buch der Antworten, Linz: Modern Times 2006 (=Edition
Modern Times), 15.

20
IV. „ANTIGONE“ AUS DER PERSPEKTIVE DES

PROTAGORAS, DER SOPHISTIK

Nach Erik Wolf32 und Werner Jäger33 geht es Protagoras abstrakt um ethische
Fragen des guten politischen Zusammenlebens. Das zeigt sich schon an seinem
berühmten Homomensura-Satz. Dieser Homomensura-Satz bedeutet, dass der Mensch
als Mitglied seiner Moralgemeinschaft und als Ich seine je eigene Sichtweise auf die
Dike hat. Sein Horizont bestimmt seinen ethischen Maßstab. Dike und Nomos sind
wandelbar, und auch jeder Einzelne (wie z. B. Kreon oder Antigone) anerkennt sie aus
seiner Perspektive, so dass sich ein kulturell-ethischer Relativismus ergibt, d. h. eine
Kritik am „naiven Absolutismus“34 der traditionellen Mythen.

Der in einer Polis geltende Begriff des Gerechten bzw. des positiven Gesetzes,
das Ethos, ist aber noch nicht das Dikaion an sich, sondern nur das, „was jedem
Einzelnen das Gesetzliche, Geziemende und Gebührende zu sein scheint, d.h. wofür
er es gelten läßt, als was er es anerkennt“35. Wenn der Mensch sich die Götter nur nach
seinem Bilde vorstellen kann, hätte das zur Folge, dass das Recht nicht mehr göttlichen
Ursprungs, also nicht mehr absolut verpflichtend wäre. Es gäbe nur noch
ausverhandelte und/oder aufgezwungene Nomoi, wie es der Kontraktualismus36 sieht.
Es wäre zu Ende mit der Unabänderlichkeit und dem überzeitlichen Geltungsanspruch
heiliger Satzungen, weil oft (aber nicht immer notwendigerweise) von menschlicher

32
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 33.

33
Jäger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 2. ungekürzter Photomechan.
Nachdr. In einem Bd, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989, 373.

34
Wolf, Rechtsphilosophie, 24.

35
Ebda, 23f..

36
Zum Kontraktualismus vgl. Fenner, Dagmar: Ethik. Wie soll ich handeln?, Tübingen/Basel: A.
Francke 2008 (=UTB basics. UTB 2989), 77-84.

21
Willkür abhängig wären.37 Dieser Auffassung kommt König Kreon nahe, wenn er sagt,
durch Ungehorsam gegenüber den Gesetzen könne man die fernen Götter gar nicht
beleidigen (vgl. V. 104438). Protagoras lässt offen, ob es bestimmte und konkrete,
göttlich gestiftete Satzungen gibt. Er wendet sich nur gegen die Behauptung, dass
bestimmte Gesetzesparagraphen von Natur aus (physei) unveränderlich seien, weil sie
ein Gott gestiftet habe. Gegen diese Sicht wendet sich Sophokles, indem er mit dem
Begräbnisgebot eine spezifische Satzung herausgreift und mit Hilfe des mythischen
Apparats zu zeigen versucht, dass sie sehr wohl jenseitiger, transzendenter Herkunft
ist. Auch Protagoras gibt ja zu, dass irgendwelche konkreten Satzungen göttlich
eingestiftet sein könnten.39 Letztlich aber war ihm die jenseitige Welt irgendwie
unheimlich und unbegreiflich.40

Auch durch Tradition oder Autorität verfestigte Nomoi sind noch nicht
absolut, sondern nur zeitlich und örtlich begrenzt gültig, also nicht Ausdruck eines
Naturrechts. Sie beruhen auf einer Vereinbarung, einem Kontrakt, oder gelten dadurch,
dass sich die Menschen mit ihnen identifizieren, weil sie sich durch sie geschützt
fühlen, weil sie also im Sinne des ethischen Utilitarismus41 nützlich sind. Manchmal
ist ihre Quelle auch die Willkür von Menschen, die als Tyrannen einen ihren Interessen
dienenden Nomos für das Volk zur Richtschnur machen.42 Aus der Figurenperspektive
der Antigone ist genau das der Fall des Kreon (s.u.).

Für Protagoras ist es einerlei, ob ein Nomos seit alter Zeit unbestritten gilt (wie
z.B. das Bestattungsgebot) oder von einem Basileus spontan erlassen wurde, denn es
ist für ihn weder von Natur aus (physei) noch von Gott (theo) so vorgesehen, sondern

37
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 26.

38
Vgl. Fußnote 19.

39
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 26.

40
Vgl. ebda 27.

41
Vgl. Fenner, Ethik, 140-150.

42
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 30.

22
interessenbedingtes Menschenwerk und folglich hinterfragbar.43 So wird es auch
Antigone sehen. Auch sie wird nicht nur den Befehl Kreons, sondern auch die
sekundäre naturrechtliche Begräbnisverpflichtung hinterfragen, als sie auf ihrem Weg
in den Tod zugesteht, dass sie den ungeschriebenen Nomos, der die Bestattung der
Toten gebietet, nicht in jedem Fall befolgen würde (Vgl. V. 905-912), sondern an
ihrem Überlebensinteresse, d.h. am Naturrecht auf Leben, das Maß nimmt. Es gibt
meines Erachtens wahrscheinlich nur wenige Ausnahmen, in denen das eigene Leben
aus ethischer Sicht nicht supererogatorisch geopfert werden könnte, sondern
verpflichtend geopfert werden müsste, z.B. dann, wenn ein Terrorist einen vor die
Alternative stellen würde, die Mutter oder andere Menschen zu töten oder von ihm
selbst getötet zu werden.44

Für Protagoras ist der Nomos aber nicht nur relativierbar, sondern auch die
Erfindung guter, alter Gesetzgeber. Folglich ist der Nomos nicht nur ein Instrument
des Adels und derer, die in der Polis die Stärkeren sind, sondern auch ein Instrument
der gesamten Polis und ihrer Intentionen.45 Wer aber hat da im Zweifelsfall das
Interpretationsrecht? Aus dem Werk des Sophokles ist erschließbar, dass die
Entscheidung des Basileus mit Maß und Ziel erfolgen sollte, d.h. indem er auf die
Meinung des Volkes Rücksicht nimmt. Daraus ist aber kein Sein-Sollens-Schluss
zwingend ableitbar (vgl. den statistischen Naturbegriff der Einleitung). Der Basileus
sollte, so sagt es Antigone (vgl. V. 450-470), von einem metaphysischen Hintergrund
des Ewigen und Göttlichen gelenkt sein. Dieser metaphysische Hintergrund wird dann
in der Neuzeit säkularisiert werden und erscheint dann unter dem Namen eines
(transzendentalen) Vernunft- bzw. Natur- und Menschenrechts.

Damit sich eine Gruppe von Menschen im Diskurs auf das von Natur aus oder
von Gott Gemeinte einigen kann, bedarf es der Dialektik, die in der „Antigone“ von
Kreon aber nur im Dienste seiner Interessen benützt, jedoch nicht dazu verwendet
wird, um das Gesollte herauszufinden. Als naiver Absolutist ist er von seiner Vernunft

43
Vgl. ebda.

44
Der Fall des Muttermörders Orest, auf den J. Ratzinger eingeht (s.u.), ist etwas anders gelagert.

45
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 30.

23
und seinem Bezug zum Jenseits restlos überzeugt. Er braucht nur noch reflexhaft zu
handeln und nicht mehr zu reflektieren. Wäre Kreon ein moderner, aufgeklärter
Ideologe, könnte er seine Gegner als „Essentialisten“ verspotten, die nach dem
„Wesen“, also nach der Natur des Rechts suchten und nicht sähen, dass das positive
Recht nur der geweihten königlichen Setzung entspringt, denn er allein, der König, sei
ja der Eigentümer des Staates (vgl. V. 738).

Die dialektische Kunst des Protagoras hilft dem Menschen, sich „aus seiner
ungeprüften, unkritisch gelebten Überlieferungswelt“46 herauszuheben, indem er aus
der Perspektive des natürlich Rechten argumentiert wie Antigone (vgl. V. 450-470)
oder indem er sich zu einer Ich-bin-ich-Haltung emanzipiert, wie Kreon, aber auch
Antigone in den Versen, in denen sie das Bestattungsgebot aus der Perspektive des
natürlichen Überlebenstriebs für sich relativiert (vgl. V. 905-912).

Die Sophisten wurden von ihren Gegnern häufig pauschal als Falschspieler
klassifiziert und abgewertet. Protagoras, der Vater der Sophisten, war jedoch kein
sophistischer Falschspieler. Sein Denken intendiert keine verantwortungslose
hedonistische oder machtpolitische Beliebigkeit. Hintergrund seines Relativismus ist
nicht eine moralfreie Flexibilität, sondern Zurückhaltung, Selbstbeherrschung und die
„Bereitschaft zum friedlichen Ausgleich der (nie geleugneten) Gegensätze“47.

Es geht ihm um die Essenz von Charakter und Sittlichkeit, um das Ēthos im
Sinne von Moralität. Seine ideologiekritische Sprachanalyse hat die Suche nach dem
Wesen zum Ziel, und das ist das Gegenteil zum sturen essentialistischen Beharren auf
„wahren Wesenheiten“48 und seiner polarisierenden monologischen
Geschlossenheit49. Hier wird Sokrates anknüpfen.

46
Ebda, 31.

47
Ebda, 32f.

48
Neuhold, Ideologie, 358.

49
Vgl. Neuhold, Ideologie, 358f..

24
Dagegen ist bei Sophokles die Dike noch das göttliche Wort wie im „Oidipus“,
wo Hera das Haus der Labdakiden bestraft, weil Laios durch die Entführung des
schönen Knaben Chrysippos die Polis befleckt hat50, oder in der „Antigone“, wo die
Götter wegen Kreons polarisierender tyrannischer Hybris und seinem Todesurteil
gegen Antigone das Opfer nicht mehr annehmen.

Die Dike ist für Protagoras zwar nicht mehr die Göttin der strafenden
Gerechtigkeit oder das göttliche Wort. Sie stammt aber dennoch aus dem Logos und
ist Voraussetzung aller guten Nomoi, ob sie nun von der staatlichen Macht festgesetzt
oder durch Übereinkunft entstanden sind. Dieses positive Recht sei so lange gut und
gerecht, solange es für gut und gerecht gehalten werde. Die Dike sei zwar nicht mehr
das wahre, göttliche Wort, aber das wahre Recht, und dieses Recht stammt für
Protagoras aus dem Logos, und insofern gibt es für das Seinsollende etwas Höheres,
an dem die Nomoi gemessen werden.51 Es ist das Höhere, auf das sich Antigone in den
berühmten Versen (vgl. V. 450-470) beruft und das man als Naturrecht bezeichnet und
von dem Hans Kelsen sagt, dass es letztlich nichts anderes als die Moral bedeute.52

Protagoras, wie ihn Platon in dem nach ihm benannten Dialog darstellt,
erläutert seine Auffassung von der jenseitigen Herkunft des Naturrechts im Gespräch
mit dem Sokrates, wie ihn Platon schildert, in einer Gleichnisrede (Prot., 320c-322e)53:
Athene und Prometheus hatten den Menschen zwar die Klugheit gebracht, die von den
Menschen aber dazu ausgenutzt wurde, einander zu quälen. Deshalb sandte der
Göttervater zwei andere Boten, den Hermes, der ihnen die Ehrfurcht vor dem Höheren
einpflanzen sollte, und die Dike, die Göttin der Gerechtigkeit, die jedem gemäß seinem
Wesen proportional zukommt. Diese Scheu vor dem Höheren und die
Wesensgerechtigkeit wurden nun die Grundlage der Ordnung, des Kosmos, und der

50
Vgl. Kelsen, Hans: Die platonische Liebe, in: Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur
Ideologiekritik. Mit einer Einl. hrsgg. v. E. Topitsch, München: Fink 1989, 114-197, 144.

51
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 34f..

52
Vgl. Kelsen, Hans: Die Idee des Naturrechts, in: Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufs. zur
Ideologiekritik. mit einer Einl. hrsgg. v. E. Topitsch, München: Fink 1989, 73-113, 82.

53
Vgl. auch Wolf, Rechtsphilosophie, 35.

25
Polis. Sie werden jedem Menschen eingestiftet, dem Niedrigen wie dem Hohen. Und
wer dagegen verstößt, der soll, so will es das archaische Ethos, getötet werden.

Diese Scheu vor den Göttern und die dem Menschen wesensgemäß
zukommende proportionale Gerechtigkeit sind nach den Weltanschauungsanalytikern
natürlich Leerformeln54, also Formeln mit einem großen Bedeutungsumfang
(Extension), so dass sie auf viele konkrete Fälle anwendbar sind. Man kann sie also
(intentional) mehr oder weniger willkürlich definieren und auslegen.

Dieser ideologiekritische Maßstab der eben genannten


Weltanschauungsanalytiker gefällt aber auch denen, die gegen die Gebote der
Ehrfurcht und Gerechtigkeit, der beiden Gaben des Zeus, verstoßen, weil damit ihrem
Interesse gedient wird. Der Fromme aber misst mit dem ihm eingestifteten Maß, dem
Gewissen. Den Gewissensbegriff gibt es zwar erst seit Hellenismus und Christentum,
aber die „Erfahrung des Gewissens, vor allem des sogenannten nachfolgenden
Gewissens, ist eigentlich so alt wie die Menschheit selbst“55. Für den selbstkritischen
Menschen ist der berechtigte Leerformelverdacht nur ein Anlass, das jeweilige
Problem in der Kommunikation mit sich selbst und womöglich auch mit anderen zu
durchdenken. So kann man der Gefahr entgehen, von irgendwelchen mehr oder
weniger willkürlichen Autoritäten als Mittel zum Zweck instrumentalisiert zu werden.
So kann man der Gefahr des naiven sprachlichen Absolutismus entgehen.

Für Protagoras56 braucht die Kunst der Politik ein ethisches Fundament. Und
das ist göttlich eingestiftet. Die Polis in einem höheren Sinn entsteht nämlich erst dann,
wenn die Physis (Natur) und der Logos (Geist) zusammenkommen. Der Logos steht
für eine innere Gemeinsamkeit, die aus der Scheu gegenüber einem Höheren kommt.

54
Zu den Leerformeln vgl. Topitsch, Ernst / Salamun, Kurt: Ideologie. Herrschaft des Vor-Urteils,
München/Wien: Langen-Müller 1972, 113-126. Und Salamun, Kurt: Ideologie und Aufklärung.
Weltanschauungstheorie und Politik, Köln/Graz: Böhlau 1988 (=Studien zu Politik und Verwaltung
24), 22f..

55
Golser, Karl: Art. Gewissen, in: Rotter, Hans / Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon der christlichen
Moral, Innsbruck: Tyrolia 1990, 278-286, 279.

56
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 36.

26
Für Protagoras ist das Recht im Sinne der Gerechtigkeit etwas, um das sich der Mensch
bemühen, das er selbstständig suchen muss. Erst das hebt den Menschen über die
Physis des Tieres hinaus und macht ihn zum ganzen Menschen. Ohne einen inneren
Zusammenhang mit der vor- bzw. überpositiven Dike ist der Nomos kein Nomos,
sondern nur Gewalt.

Am Logos hat der Anteil, der scheu und ehrfürchtig einsieht, dass ihm nicht
alles zusteht. Den Tieren fehlt die Scheu vor dem Bösen. Ihnen fehlt die Dike, das
Gefühl für das Gute und Rechte. Ihnen fehlt also der Anteil am göttlichen Logos, am
Jenseitigen, am metaphysischen Hintergrund.57

Allerdings gibt es auch eine metaphysikfreie Sicht auf den Logos. Dann ist der
Logos nur ein Synonym für die Vernunft, also die Fähigkeit, in Proportionen,
Aspekten und Bezugssystemen zu denken und mit Pro und Contra zu argumentieren.
Man kann aber auch die Vernunftbehauptungen als Leerformeln bezeichnen, weil man
gegensätzliche Ansichten oder Handlungen aus der eigenen Perspektive willkürlich als
„vernünftig“ bezeichnen kann. Dann können sich die Kontrahenten gegenseitig als
unvernünftig beschimpfen. Dann entscheidet in weiterer Folge die Autorität oder die
Mehrheit über das, was als vernünftig zu gelten hat. Aber auch Autoritäten oder
Mehrheiten können sich irren. In der „Antigone“ sagt der Wächter, der dazu bestellt
wurde, ein rituelles Begräbnis des Polyneikes zu verhindern, dem König Kreon auf
witzige Art ins Gesicht, dass auch Könige irren können (s.u.).

Auch über Dikebehauptungen kann gestritten werden. Dies geschieht in der


„Antigone“. Hier stützt der König seine Politik mit Dikebehauptungen. Wäre er damit
erfolgreich, würde er politische Realitäten schaffen, die er dann mit Hilfe von
Interpretationsmonopolen58 als das Vernünftige und Gerechte ausgeben könnte. Zu
behaupten, dass etwas vernünftig oder gerecht ist oder wäre, ist aber noch nicht
identisch mit der Vernunft oder der Gerechtigkeit.

57
Vgl. ebda 38.

58
Vgl. zu den Interpretationsmonopolen Topitsch / Salamun, Ideologie, 87-101.

27
Deshalb hat nach dem Willen des Sophokles die Gottheit Dike das letzte Recht
der Grenzziehung zwischen Gut und Böse. Und in der Gleichnisrede des Protagoras
steigt der Logos in der Gestalt der Dike zur Erde herab. Die Dike ist der Maßstab für
das, was gilt und was nicht gilt. Sie selbst untersteht aber keinem Maßstab, denn sie
gründet im Logos. Nicht der Nomos ist der Maßstab für die Dike, sondern die zu
suchende Dike ist der Maßstab für den Nomos.59 Demnach steht Kreon, der den
Nomos des Bestattungsverbotes dekretiert, unter dem Maßstab der Dike. Er hat nicht
das Interpretationsmonopol über die Dike, auch wenn er es sich als der angebliche
Träger und Eigentümer der Polis anmaßt. Das aus dem Jenseits herabsteigende Recht
hat also nach Protagoras den Vorrang vor dem Gesetz des Basileus und vor dem
Nomos. Zu diesem jenseitigen Recht gehört auch Antigones Recht zur Erhaltung des
eigenen Lebens.60 Es ergibt sich also für Antigone folgende Wert-Hierarchie: Je nach
der Situation steht an der Spitze ihrer Werte entweder die Erhaltung des eigenen
physischen Lebens oder die Totenbestattung und das ewige Leben im Schoß ihrer
Familie. Beide gehören zum sogenannten Naturrecht.

Zum unscharfen Begriff des Naturrechts gehört nicht nur die Dike als Dikaion,
als Gerechtigkeit, sondern auch Themis, das nach der Göttin Themis benannte
sozusagen biologisch Notwendige.61 Es ist nämlich nicht immer klar und evident, wo
das Biologische endet und das eigentlich Menschliche beginnt. Vielleicht gibt es da
ein Kontinuum. Die Themis gilt nicht als ein diskursiv zu erörterndes Recht wie die
Gerechtigkeit, sondern als ein unumstößliches, absolut bindendes, in der
Geschlechtsgemeinschaft gründendes Recht. Im Fall der Antigone gründet es in ihrer
Geschlechtsgemeinschaft mit den toten Brüdern und den toten Eltern.

Das, was den Griechen als Themis gilt und von Erik Wolf dem Bereich des
„biologisch“ Notwendigen zugeordnet wird, entspricht einerseits dem biologischen
Naturbegriff, der in der Einleitung dargestellt wurde, andererseits aber auch dem
ebenfalls in der Einleitung dargelegten Wesensbegriff der menschlichen Natur. Dieser

59
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 40.

60
Vgl. Fenner, Ethik, 178, über das Leben als Wert, Prinzip und Recht.

61
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 41.

28
Wesensbegriff entfaltet sich in die vier absolut bindenden Naturrechtsprinzipien, von
denen auch schon in der Einleitung die Rede war. Man kann die Bindung an die
Herkunftsfamilie also aus der einen Perspektive als eine Art biologische Themis-
Notwendigkeit auffassen, und aus der anderen als ein kategorisch geltendes
Naturrecht.

Die Themis ist im Vergleich zur Dike das Archaischere, das den Menschen mit
dem Tierreich verbindet, während die Dike eine Erscheinung des göttlichen Logos ist
im Gegensatz zum Nomos, um den man feilschen kann, weil es verschiedene Bilder
der Dike gibt. Wenn man lernwillig ist, kann man die verschiedenen Bilder vielleicht
integrieren, dann nähert man sich der Polis an, die „eine eingestiftete göttliche Gabe“62
ist. Um die Dike zu verstehen, muss die tierische Physis domestiziert und zur Ehrfurcht
vor der Dike erzogen werden. Das Ergebnis ist Bildung im Sinne einer Teilhabe am
Logos, an der Paideia, an der nicht nur der Herrscher und seine Freunde, sondern alle
Menschen guten Willens teilnehmen können. Deshalb gibt es für den Unwilligen, der
sich der Paideia entzieht, nach dem Willen des Zeus auch eine archaisch-barbarische
Strafe (vgl. Prot. 322d63), der in gewisser Weise auch der befleckte Laios, aber auch
Kreon und deren Familien verfallen, einschließlich der Unschuldigen.

Werner Jäger hat Protagoras als einen der Väter der „politisch-ethischen
Bildungsidee“64, also der Paideia, klassifiziert. Diese Bildungsidee hat nichts mit
einem nonkognitivistischen Skeptizismus65 zu tun, sondern beruht trotz des
Relativismus „auf dem Grund eines Wahrheits-Glaubens“66. Es handelt sich also nicht
um eine Freiheit zur Willkür und Beliebigkeit, sondern um eine Freiheit, für die sich
alle immer wieder auf die Suche machen müssen, um bis zum Grund des Logos

62
Ebda.

63
Wolf, Rechtsphilosophie,43 verweist (fälschlich?) auf Prot. 329e ff..

64
Jäger, Paideia, 272.

65
Vgl. Fenner, Ethik, 57-68.

66
Wolf, Rechtsphilosophie, 44.

29
vorzudringen. Das gehört zum Wesen, zur Natur des Menschen gemäß der
griechischen Bildungsidee, die das Natürliche vom Übernatürlichen nicht strikt trennt.

Protagoras hat diesen zeitlosen Glauben an der Gleichnisrede von Zeus


verdeutlicht, der, wie schon gezeigt wurde, die Dike zu den Menschen gesandt hat.
Das ist eine deutliche Parallele zur Formulierung des Naturrechtsgedankens durch
Antigone, den sie als göttlich eingestiftet, zeitlos gültig und insofern als natürlich
empfindet. Hier wird das Irdische über das Zeitlose, Immergültige und insofern
Natürliche mit dem Jenseitigen, Ewigen und Gerechten verbunden. Der Chor, der sich
an alle politischen Gegebenheiten schlank anpasst, tadelt an Antigone allerdings, dass
sie sich zu nahe an den Sockel der Dike, also an das Ewige und Zeitlose, herangewagt
habe (s.u.). Das Problem, wie das Aktuelle und Interessenbedingte mit dem Zeitlosen
vermittelt werden kann, wurde oft gesehen und ist insofern ein Gemeinplatz. Damit
hängt zusammen, dass das Naturrecht missbrauchbar ist. Deshalb wurde ihm oft
vorgehalten, es sei inhaltlich beliebig auffüllbar, also nur eine leere Formel. Um
diesem Vorwurf zu entgehen, unterscheidet man zwischen einem primären und einem
sekundären Naturrecht (s.o., Einleitung).

Damit das schwächere Argument nicht durch ein Machtwort der Autorität zum
stärkeren Argument gemacht werden kann, wie es Kreon versucht, bedarf es der
Möglichkeit der Gegenrede, also der gemeinsamen Suche nach der Dike. Nur durch
die Möglichkeit der Gegenrede kann „einer nach Zeit, Ort und anderen Umständen
ungünstig liegenden Sache, der aber größeres moralisches Recht zukommt, gegenüber
ihrem günstiger gestellten, aber sittlich fragwürdigeren Gegenspieler zum Siege“ 67
verholfen werden. Kreon aber agiert wie ein traditioneller Grundherr, der durch sein
Machtwort zu herrschen versucht und der es folglich nicht nötig zu haben versucht,
nach allen Aspekten eines Sachverhaltes zu fragen. Er bindet einen Teil der
Oberschichten zwar in seine Entscheidung rhetorisch ein und instrumentalisiert ihn; er
gebraucht ihn also als Mittel zum Zweck. Er missachtet aber die Volksmeinung und
entscheidet eigensinnig und souverän, ohne sich sachlich auf Contra- Argumente
einzulassen.

67
Ebda, 46.

30
Zur Dike gehört zwar auch die Eris, der Streit um das, was die Dike wesentlich,
eigentlich, essentiell, also der Substanz nach meint. Dieses Wesentliche wird aber dann
zur Ideologie, wenn es als wahre Wesenheit auf einen Sockel gehoben und durch
Interpretationsmonopole, durch „monologische Geschlossenheit“68 gegen kritische
Argumente immunisiert wird. Genau das versucht Kreon, indem er in Schwarz-Weiß-
Manier denkt und gegenteilige Auffassungen mit Hilfe von emotionalisierten
Feindbildern69 als irrsinnig verteufelt (s.u.).

Die Gottheit will den König Kreon durch ihren Diener, den Priester Teiresias,
ermahnen, um ihn zu erziehen, doch Kreon will auf die Stimme der Dike nicht hören.
Er befragt nicht jenes Naturrecht, sondern meint, dass man die Götter gar nicht
beleidigen könne (vgl. V. 1044), d.h. dass sie nie eingreifen würden, fern von der Welt
seien, so dass der Mensch auf sich zurückgeworfen ist.

Damit entspricht seine Position der des Protagoras, der eine alte
Denkhemmung abgeworfen und erkannt hat, dass die religiös-ethische Substanz der
Polis verloren gegangen und die Polis von ihren alten Göttern entfremdet ist.70 In dieser
Situation einer Krise der Religiosität fragt Protagoras, so wie heute Joseph Ratzinger,
nach den Werten in Zeiten des Umbruchs. Er findet sie im sogenannten Naturrecht,
dem unbedingt gültigen Kernbestand der Moral, den er in seiner mythischen
Beispielserzählung von Zeus, der die Dike zur Erde herabgesandt hat, anschaulich
darstellt. Antigone beruft sich auf diese Minimalethik in den berühmten Versen 450 –
470. Dafür ist Kreon aber blind und taub, weil es ihm an Selbstkritik mangelt, so dass
er unfähig ist, seinen eigenen Hochmut kritisch zu beurteilen. Er war zwar einst von
Oidipus, seinem Vorgänger im Amte des Basileius, zur Pythia nach Delphi gesandt
worden, um dort für seinen König ein Orakel einzuholen. Aber den Spruch über dem
Eingang zum Apollotempel, das „Erkenne dich selbst!“, hat er offensichtlich nicht
gesehen. Er bleibt blind und taub.

68
Neuhold, Ideologie, 359.

69
Vgl. ebda, 358.

70
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 53.

31
Der alte Protagoras hat nicht mehr nach dem Jenseitigen des Naturrechts
gesucht, sondern sich resignierend zum Agnostizismus bekannt. Damit fällt der
göttliche Ursprung der Nomoi weg. Und auch die Ehrfurcht vor einem mit dem
Höheren verbundenen König fällt weg. Damit wird auch die Funktion der Priester, z.B.
des Teiresias, fragwürdig. Es gibt dann kein geheiligtes Wissen und keine Befleckung
mehr, es ist vieles erlaubt, vielleicht auch die Knabenliebe des Laios. Diesen
Agnostizismus haben die Athener Protagoras nicht verziehen und ihn deshalb aus der
Polis verbannt, wie er selbst es ja für den vorgesehen hatte, der die Prinzipien der Polis
nicht akzeptiert. Er selbst hat sogar die Tötung des Abweichlers empfohlen (s.o.).

Es gibt aber auch ein Argument für Protagoras: Er hat in einer Zeit der Krise
das Dikaion, das diskursiv zu erfassende sekundäre Naturrecht, als ein neues
Göttliches begriffen. An die Stelle der Olympier tritt der Logos, der die Dike zur Erde
gesandt hat, so dass sich der Mensch bemühen kann, das Dikaion, die natürliche
Sittlichkeit des Naturrechts, zu erkennen. Das kann man als einen Schritt zum
Christentum deuten mit dem Heiland als dem Logos und Erlöser.

Wenn Protagoras also unter den Zusehern der „Antigone“ gewesen sein sollte,
wie es Flashar71 als möglich annimmt, und am Ende des religiösen Weihespiels mit all
den anderen Zusehern von seinem Marmorsitz im Theaterrund am Abhang des
heiligen Burgbergs der Akropolis wieder aufsteht und seine warme Sitzdecke wieder
einpackt, dann hat er an der Paideia teilgenommen, die auf einem frommen Glauben
beruht. Erik Wolf vermutet72 zwar, dass der konservative Sophokles die Sophisten
wohl als fremd und feindlich angesehen hat. Aber das bezieht sich vielleicht bloß auf
das Äußere, weil der Sophist und der Dichter unterschiedlichen politisch-
weltanschaulichen Gruppen angehören. Nach dem Dargestellten, das sich stark auf
Wolf stützt, ist es aber auch gut möglich, dass Protagoras dem Dichtertheologen
Sophokles gar nicht so fern steht, wenn es um das Essentielle, das Wesentliche und
Innere geht. Und das ist das beiden gemeinsame Naturrecht. Das Naturrecht ist auch
das Verbindungsglied zu Paulus, zur Bibel und zu Joseph Ratzinger. Insofern kann das

71
Vgl. Flashar, Sophokles, 59.

72
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 250.

32
Naturrecht durchaus friedensstiftend sein. Voraussetzung ist aber ein Diskurs, in dem
man behutsam argumentiert und im Rahmen des Möglichen Schwarz-Weiß-Malerein,
Verteufelungen und Interpretationsmonopole zu vermeiden versucht und für Kritik
dankbar ist. Wer zukünftige Fehler vermeiden will, ist auf wohlwollende Kritik
angewiesen.

Dazu gehört auch, dass man sich gegenüber dem Kontrahenten um ein bisschen
Wohlwollen für seine Eigenarten bemüht. Denn er ist nie nur abstrakter Mensch,
sondern in gewisser Weise immer auch zugleich Angehöriger einer weltanschaulichen
oder religiösen Gemeinschaft, einer bestimmten Familie, eines bestimmten Staates
oder einer anderen Interessengruppe. Er ist also nie nur Mensch an sich. Das ist zu
berücksichtigen, wenn man sagt, dass der Mensch das Maß aller Dinge ist.

Wenn man den neutestamentlichen Begriff der Liebe in einem extensional sehr
weiten Sinn auffasst, dann ist das Wohlwollen ein Fall der supererogatorischen Liebe.
Meines Erachtens ist die Art und Weise, wie Papst Benedikt XVI. mit der
österreichischen Pfarrerinitiative umgegangen ist, von diesem behutsamen Geist
geprägt. Es gibt allerdings Kämpfe und Kriege, in denen alles Wohlwollen versagt. In
solch einem Kampf hat Antigones Vater Oidipus als junger und noch lediger Mann die
Stadt Theben von der Sphinx befreit, nachdem er vorher schon zu einem
überreagierenden Totschläger (Notwehrüberschreitung) oder gar Mörder geworden
war. Wie ist das gekommen?

33
V. DIE ETHIK DER „ANTIGONE“ IN

MULTIPERSPEKTIVISCHER SICHT

V. 1. DAS UNVERFÜGBARE. DIE FAMILIENHERKUNFT ALS RANDBEDINGUNG


DER NARRATIVEN ETHIK.

Die narrative Ethik betont, dass für die moralische Beurteilung menschlichen
Verhaltens die Kenntnis der Handlungssituation, des kulturellen und
familiengeschichtlichen Kontextes wichtig ist und dass nicht nur nach Prinzipien,
Schemata und Tugendrastern geurteilt werden darf.73 Deshalb ist es notwendig, einen
ausführlichen Blick auf die Vorgeschichte der „Antigone“ zu tun, wie sie für das
Publikum des Sophokles aus dem Mythos bekannt ist und die wir aus griechischen
Dramen erschließen können, die, mit Ausnahme des Aischyleischen Werks, allerdings
erst nach der „Antigone“ geschrieben wurden.74

Die Tragödie spielt in Theben, in Mittelgriechenland, in der mykenischen


Epoche des alten Griechenlands, also in den Jahrhunderten, in denen auch die „Ilias“
und die „Odyssee“ spielen. Die Großeltern der Antigone, das thebanische Königspaar,
Laios und Iokaste, hatten ihr Kind Oidipus mit gefesselten Füßen („Schwellfuß“)
ausgesetzt, weil ihnen von diesem Sohn gemäß dem Orakel Unheil kommen sollte,
weil den Göttern der befleckte Lebenswandel des Laios, seine Knabenliebe, nicht
gefiel. Oidipus wird vom kinderlosen korinthischen Königspaar aufgezogen und
erfährt als junger Mann gerüchteweise von seiner unsicheren Abstammung. Deshalb
pilgert er nach Delphi, wo er erfährt, dass es ihm schicksalshaft aufgegeben sei, seinen
Vater zu töten und seine Mutter zu ehelichen. Deshalb kehrt er nicht mehr nach
Korinth zurück, sondern zieht in die Ferne. Auf diesem Weg in die Ferne erschlägt er

73
Vgl. Horn, Christoph: Art. Narrative Ethik, in: Höffe, Otfried (Hg.): Lexikon der Ethik, München:
CH. Beck 7 Aufl. 2008, 222f..

74
Vgl. Latacz, Joachim: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen: Vandenhoeck u. Ruprecht
²2003 (=UTB 1745), 202-205.

34
einen „präpotenten“ Passanten, der mit seinem Gefährt und seinem Gefolge nicht
ausweichen will. Dann kommt er an Theben vorbei und tötet dort in einem
gigantischen Kampf die Sphinx, die die Stadt bedroht. Er heiratet die Königin Iokaste
und zeugt mit ihr vier Kinder: Eteokles und Polyneikes, Antigone und Ismene. Als
Apoll eine Seuche über Theben schickt, weil die Polis befleckt sei, muss Oidipus als
Basileus des Stadtstaates nach der Ursache forschen. Die Suche nach den Verursachern
verbindet er mit Verteufelungen und Verleumdungen derer, denen er eine
Verschwörung gegen seine Herrschaft unterstellt, u. a. seinem Schwager Kreon. Er
erfährt schließlich von seiner heillosen Herkunft. Das hätte er schon früher aus
Indizien erfahren können, wenn er kritische und selbstkritische Fragen gestellt hätte.
Er nimmt sich das Augenlicht. Seine Mutter und Gemahlin Iokaste, die mit ihm die
vier Kinder gezeugt hatte, erhängt sich. Das erfährt man aus dem „König Oidipus“ des
Sophokles.

Kreon, der Bruder der Iokaste, übernimmt die Regierung für die kleinen Buben
des Oidipus. Nachdem sie großjährig geworden sind, sollen Eteokles und Polyneikes
einander in der Regierung ablösen. Der blinde Oidipus wird von seinen beiden Söhnen
verstoßen, weil ein Gerücht umläuft, wonach er die Polis gefährde. Wegen dieser
Verbannung verflucht der alte Basileus seine Söhne und verlässt die Stadt. Er wird von
seinen beiden Töchtern, die mit ihm seine Not im Exil teilen, geführt und umsorgt. Er
kommt mit seinen beiden Töchtern schließlich in den heiligen Hain von Kolonos,
einem Dorf in der Nähe von Athen. Der Hain ist jenen göttlichen Wesen geweiht, die
den Bösen als Furien und Erinnyen verfolgen, unnachsichtig Rache üben, die aber auch
wohlwollend und besänftigend auftreten können und dann Eumeniden genannt
werden. Hier, im Hain der Eumeniden, kommen die Leiden des blinden Königs
Oidipus an ihr Ende. Hier wird er mit der Gnade des Königs von Athen, des Theseus,
begraben. Das erfahren wir aus dem „Oidipus auf Kolonos“, dem letzten Werk des
Sophokles.

Inzwischen bricht in Theben ein neuer Streit aus. Als das Regieren gemäß dem
Rotationsprinzip an Polyneikes käme, verweigert ihm sein Bruder die Amtsübergabe.
Um zu seinem Recht zu kommen, holt sich Polyneikes militärische Hilfe bei seinem
Schwiegervater, dem König von Argos. Die sieben Tore der Stadt werden belagert.
Polyneikes und sein Bruder Eteokles fallen am siebenten Tor. Nun übernimmt Kreon
35
die Verteidigung der Polis und das Amt des Herrschers. Um die Stadt zu retten,
veranlasst Kreon, dass sich Megareus, der ältere seiner beiden Söhne, von der
Stadtmauer stürzt, wie es der Orakelpriester Teiresias als notwendig bezeichnet hatte.
Die Argiver werden in die Flucht geschlagen und müssen sich wieder in den
Peloponnes, in die Argolis, zurückziehen. Die Polis ist gerettet. Antigone sieht „eine
Doppel-Schuld der Brüder“75.

Diesen Teil der Vorgeschichte kann der heutige Leser aus den „Sieben gegen
Theben“ des Aischylos und aus den „Phoinissen“ des Euripides erfahren. Der Zuseher
im Theater auf dem Abhang der Akropolis, der Hochburg von Athen, kennt ihn in
großen Zügen aus dem Mythos.

Die thebanische Gesellschaft ist eine Gesellschaft, in der ein irrationales,


magisches, archaisches und mythisches Weltbild herrscht, in dem alles mit allem
verbunden ist. Die griechische Tragödie wurzelt in diesem Denken, das der Mythos,
die Sage, aufbewahrt. In diesem Mythos stehen die Götter für das Unverfügbare und
Schicksalshafte. Die weitgereisten und welterfahrenen Sophisten erkennen aber, dass
manches davon bloß Zufall ist oder menschengemacht und dass jedenfalls nicht alles
mit allem magisch verbunden ist. Das ermöglicht die Emanzipation vom Schicksal,
bedeutet aber auch, dass man sein Tun und Handeln verantworten muss und folglich
schuldig werden kann. Daraus folgt etwas Wesentliches: „Durch die Ethik […] wird
die Schuld subjektiv und damit prinzipiell vermeidbar.“76

Wenn man nun die mythische Sprache der „Antigone“ in eine rationale Sprache
zu übersetzen versucht, wird sichtbar, dass Antigone und ihre Verwandten aus einer
Familie stammen, in der noch ein archaisches Denken vorherrscht und eine Neigung
zur naiven Egozentrik, einem naiven Absolutheitsdenken. Dieses Denken ist mit
einem adeligen Hochmut verbunden, aber auch mit einer Neigung zu einer
supererogatorischen Aufopferung für das Ganze. Das sind vielleicht nur zwei Aspekte
derselben Sache. Wer das Verhalten tadeln will, spricht von adeligem Hochmut; wer

75
Wolf, Rechtsphilosophie, 266.

76
Schmid Noerr, Gunzelin: Geschichte der Ethik, Leipzig: Reclam 2006 (=Grundwissen Philosophie.
Reclam Bibliothek Leipzig 20304), 20.

36
es achtet, spricht von einer Aufopferung. Es sind also beide Aspekte zu
berücksichtigen, wenn man der Denkfalle der synonymischen Unterscheidung
entgehen will.

Allerdings ergibt sich aus der Familiengeschichte kein starrer, unverfügbarer


Mechanismus, denn Haimon, der jüngere Sohn Kreons, der Cousin von Antigone und
Ismene, wird zeigen, dass man sich mit Hilfe der Vernunft aus der hochmütigen
Ichbezogenheit, wie sie sein Vater Kreon zeigt, befreien könnte. Folglich ist freies und
vernünftiges Handeln nicht unmöglich. Der Vernunftbegriff darf nur nicht willkürlich
verwendet werden, indem man die eigene Position erhöht, indem man sie naiv-
absolutistisch als vernünftig bezeichnet, aber die Gegenposition vorschnell als
irrsinnig verteufelt. Dazu neigt Kreon. Aber auch Antigone neigt dazu, was sich darin
zeigt, dass sie ihre maßvollere Schwester als aus der Art geschlagen abwertet (s.u.).

Zur Vernunft gehört zuallererst, dass man den egozentrischen Mechanismus


des ideologischen In-sich-selbst-Eingesponnenseins durchschaut, der sich sprachlich
in synonymischen Unterscheidungen zeigt, indem z. B. die „Befreiung von
ungerechter Herrschaft“ durch Hilfeholen beim Schwiegervater als „Hoch- und
Landesverrat“ ausgelegt wird (so deutet Kreon das Verhalten des Polyneikes), ohne
dass man die ganze Vorgeschichte in die Beurteilung einbezieht. König Kreon ist zwar
insofern in einem gewissen Recht, als sich aus der Intervention der Truppen aus Argos
eine Fremdherrschaft des Königs der Argiver über die Thebaner ergeben könnte. Diese
Gefahr ist durch den Tod der beiden Brüder und den Abzug des Heeres der Argiver
aber gebannt. Wirklich „irrational“ wird Kreon, als es sich zeigt, dass er ein
Gefangener seiner selbst ist, weil er nicht erkennen will, dass die Tat der Antigone
keine politisch-oppositionellen, sondern rein menschlich-familiäre Motive hat.
Allerdings ist sein Verhalten insofern doch wieder rational, als die rein menschlichen
Motive der Antigone von einer im Stillen auf ihre Stunde wartenden Opposition im
eigenen politischen Interesse instrumentalisiert werden können. Kreons Schuld besteht
in seiner Überreaktion, so wie schon sein Schwager und Rivale Oidipus sein Leben
lang überreagiert hat.

Kreons Verhalten ist also das einer adelig-hochmütigen Überreaktion. Aber


auch Antigones Opfer ihres Lebens wurzelt in diesem adeligen Hochmut und ebenso

37
ihr wenig sanftmütiges Verhalten gegenüber ihrer Schwester und ebenso Kreons
überheblicher und hybrider Umgang mit seinen beiden angeblich „irren“ Nichten
(s.u.). Wer den Hochmut moralisch negativ bewertet, muss sich aber zuerst fragen, ob
er nicht als psychisch verstehbarer „Hochmut“ bei Antigone wie bei ihrem Onkel
Kreon vielleicht nur Ausdruck einer Angst vor dem Verletztwerden ist. Erst wenn
diese ethisch- psychologische Vorfrage geklärt ist, darf moralisch geurteilt werden.
Diese Frage ist für die „Antigone“ aufgrund des Textes nicht klar und eindeutig
beantwortbar. Auch für den Christen sieht letztlich nur Gott ins Herz des Menschen.
Folglich haben alle weiteren Urteile auch etwas Hypothetisches. Vor dem moralischen
Verurteilen sind also die vorethischen, narrativen und psychologischen
Zusammenhänge zu erforschen. Es sind also die Randbedingungen der archaischen
Ideologie und Psychologie zu berücksichtigen.

Und von diesem Kontext her ist es aus der Perspektive der Menschenwürde
vielleicht vertretbar, wenn im Folgenden von Kreon einmal in einem wohlwollenden
Sinn als vom „armen“ Kreon gesprochen werden sollte. Das ist ein schwaches
Gegengewicht in der ethischen Beurteilung eines Menschen, gegen den die Mehrzahl
der ethischen Argumente spricht und den man nicht aus einer von außen an das Werk
herangetragenen, den Staat und eine sogenannte Realpolitik vergötternden Ideologie
heraus voreilig freisprechen sollte. Eine selbstgerechte, blinde und ansatzweise
totalitäre Einseitigkeit wie die König Kreons, die das Ich bzw. das Wir einer Gruppe
mit dem Ganzen verwechselt und dementsprechend extrem agiert, kann nämlich nicht
nur moderate Rebellinnen, sondern in anderen Zusammenhängen auch Terrorismen
provozieren, die das Gemeinwesen selbst gefährden. Darauf wird auch Joseph
Ratzinger zu sprechen kommen (s.u.).

V. 2. GNADENMORAL UND LOHNMORAL. ISMENE UND ANTIGONE.

Nachdem König Oidipus in Kolonos, im dortigen Hain der Eumeniden,


begraben worden ist, kehren die beiden Waisenmädchen aus Attika nach
Mittelgriechenland, nach Theben, zurück. Seit dem Tod ihres Vaters leben Ismene und

38
Antigone wieder im Königshaus von Theben, und zwar gemeinsam mit ihrem Onkel,
dem König Kreon, dessen Gemahlin Eurydike und deren Sohn Haimon, dem einzigen,
den Kreon und seine Frau noch haben, seitdem sich der ältere für die Freiheit der Stadt
geopfert hat bzw. geopfert worden ist.

Kreon ist siegreicher Feldherr und Befreier der Stadt, der dafür seinen Älteren
hingegeben hat. Das hat seine Position als Herrscher und König, als Basileus, gestärkt.
Und aus der so gestärkten Amtsposition heraus hat er ein Edikt erlassen, wonach der
tapfere Streiter für die Polis, Eteokles, ein würdiges und großes Leichenbegängnis
erhält. Dessen Bruder aber, Polyneikes, darf nicht bestattet werden. Ihn sollen die
Vögel und Hunde auffressen, wie es einem Landesverräter gebührt. Was Kreon in
seine Rechnung aber nicht einbezieht, ist die Tatsache, dass beide Oidipussöhne ihren
blinden Vater nur deshalb verstoßen haben, um von der Stadt neues Ungemach
abzuwenden (den Vater der Stadt aufzuopfern, um selbst herrschen zu können, ist aber
sittlich fragwürdig), und dass Polyneikes unrechtmäßig vertrieben wurde und nur
deshalb in der Argolis um militärischen Beistand angesucht und für den Feldzug gegen
die sieben Stadttore Thebens auch erhalten hat.

Kreon denkt also in starr bipolaren Kategorisierungen und in affektgetriebenen


Feindbildern. Er ist kampfblind. Dem König, der sein eigenes Kind für die Stadt
geopfert hat, fehlt also die souveräne Überschau eines wahren Basileus. Aus Kreon
spricht ein starker Affekt. Ein guter und „souveräner“ Feldherr und Herrscher würde
sich zügeln können und Maß halten, und das alles aus einem Glauben an den Menschen
und den Kosmos bzw. die Schöpfung und eine gut geordnete Welt, also aus einem
grundsätzlichen Wohlwollen für andere Menschen und sogar den Feind. Solch ein
König zeigt sein Königtum darin, dass er friedensfähig ist und Frieden schließen kann.
Er ist jemand, der sich seiner eigenen Menschenwürde und der seines Feindes intuitiv
bewusst ist und der deshalb als Pontifex Brücken baut.

Ein „souveräner“, cleverer und gerissener Herrscher ohne Moral würde die
Ethik ebenso wie die ideologischen Verfahrensweisen rechnerisch, spielerisch, ohne
Glauben an den Kosmos bzw. die gute Ordnung der Schöpfung, affektfrei einsetzen.
Gemessen an solch einem „modernen“ Souverän ist Kreon seinem Wesen nach

39
gewissermaßen doch noch menschlicher, weil er nicht nur Geist oder Intellekt und
Interessen hat, sondern auch Emotionen.

So wie Kreon mit Polyneikes, dem Sohn seiner Schwester Iokaste, umgeht, so
geht man als Grieche vielleicht mit ausländischen Feinden, mit Barbaren um, aber
nicht mit Landsleuten, es sei denn, sie seien Verräter. In diesem Bereich denkt man
nicht in ethischen Kategorien der Universalisierung, die sich ja überhaupt erst im
Zeitalter des Hellenismus ausbreiten, sondern in der partikularen Ethik des „naiven
Absolutismus“77 von Freund und Feind. Die Begräbnisverweigerung für Verräter ist
zwar etwas Grauenhaftes, Ungeheuerliches und Barbarisches. Sie ist aber jedenfalls in
Athen und zur Zeit des Sophokles juristisch gedeckt78 und insofern für das Publikum
plausibel und nachvollziehbar. Allerdings würde es die Billigkeit erfordern, dass die
Verwandten ihren Toten außerhalb der Polisgrenzen bestatten dürfen, damit auch dem
ungeschriebenen Nomos, der die Bestattung der Toten vorschreibt, nachgekommen
und das sittliche Maß gewahrt werden kann. Begraben zu werden ist ein universales,
sekundäres Naturrecht, das für die jeweils Nahestehenden eine Rechtspflicht nach sich
zieht. Ein primäres Naturrecht gilt kategorisch, ein sekundäres lässt Ausnahmen zu.

Kreon verhindert eine kluge, vernünftige und billige Politik dadurch, dass er
eine etwaige Dennochbestattung seines toten Neffen, des angeblichen
Landesverräters, mit der Todesstrafe der „Steinigung durchs Volk“ (V. 36) bedroht.
Ein Zuschauer, der die Vorgeschichte kennt und sich um Einfühlung bemüht, wird
Kreons und Antigones seelische Verletzung spüren, vielleicht auch einen familiär
ererbten Hang zum Mit-dem-Kopf-durch-die-Wand-gehen und das bei der
tugendethischen Beurteilung der Personen berücksichtigen. Kreons Handeln kann
übrigens auch als wertfreie Staatsraison begriffen werden, als Abschreckungspolitik,
die selbst Unschuldige nicht schont, sofern dadurch dem Telos der Staatsinteressen
gedient ist.79 Kreon wäre demnach zwar nicht moralisch im Recht, wohl aber – bis auf
weiteres – politisch. Und diese Politik könnte er mit einer utilitaristischen

77
Wolf, Rechtsphilosophie, 24.

78
Vgl. Latacz, Einführung, 205.

79
Vgl. Schmid Noerr, Geschichte, 16.

40
Argumentation „ethisch“ bzw. richtiger: ideologisch absichern; solange, bis eine
stärkere Macht ihm den Prozess macht.

Es gehört zur Hygiene, zur Menschwerdung, zum natürlichen Wesen des


Menschen, und zur weltweit, universal beobachtbaren natürlichen Sittlichkeit, also zur
natürlichen Rechtspflicht, dass man Tote nicht den Füchsen zum Fraße liegen lässt,
sondern auf die jeweils kulturell angemessene Art rituell verabschiedet. Denn der
Mensch ist kein Tier. Deshalb hat Antigone ihre Schwester beim heraufgrauenden Tag
vor das Haustor gebeten, um mit ihr die letzte Schwesternpflicht für den toten Bruder
zu besprechen.

Ismene identifiziert den Willen des Basileus, den sie als einen Nomos
empfindet (vgl. V. 59) mit dem Willen der Polis. Für sie ist Kreons Verbot „der Stadt
Verbot“ (V. 44), und wenn sich ihre Schwester dem Basileus widersetzt, sei sie eine
„freche Frevlerin“ (V. 3880). Auch der Chor (vgl. V. 213) und Kreon (vgl. V. 449)
werden von einem Nomos sprechen. Aber das sind nur ihre Bilder der Dike. Antigone
dagegen sieht sich selbstironisch als eine fromme Frevlerin (vgl. V. 74). Sie beklagt
ihre Entehrung (vgl. V. 5) durch ihren Onkel, den Militärchef Kreon (vgl. V. 8), den
sie als guten Kreon (vgl. V.31) ironisch entwertet. Sie sieht sich von ihm ihrer Dike,
des ihr zukommenden Rechts, beraubt. Sie beharrt auf dem Dikaion, dem Gerechten,
und auf dem Nomos, dem positiven Recht (vgl. V. 24), auch für ihren zweiten Bruder.
Für sie als Basilissa gehört es zur adeligen Herkunft, der Gewalt zu widerstehen und
das Rechte zu tun.

Das Bestattungsgebot ist aber nicht primäres Naturrecht, sondern nur eine
Entfaltung des ersten und vor allem des zweiten Gebots der vier kategorisch geltenden
naturrechtlichen Gebote, von denen in der Einleitung die Rede war: Man hat das
Göttliche und seine Familienangehörigen zu achten. Folglich ist das Bestattungsgebot
nur ein sekundäres Naturrecht, das Ausnahmen erlaubt. Es kann Situationen geben, in
denen das Bestattungsgebot gegenüber anderen Geboten81 sekundär ist. Es durch

80
Hier in der Übersetzung von Wolf, Rechtsphilosophie, 251.

81
Vgl. „Folge mir nach; lass die Toten ihre Toten begraben.“ (Mt 8, 21f.).

41
Einsatz des eigenen Lebens auch gegen Widerstände durchzusetzen, ist nicht universal
und kategorisch verpflichtend, sondern eine Angelegenheit der supererogatorischen
Liebesethik und der partikularen, supererogatorischen Adelsethik, wie Antigone sie
versteht. Jedenfalls argumentiert Antigone in dieser Szene so, als wäre das Begraben
des Bruders für sie als Basilissa deontologisch verpflichtend. Dass sie hier willkürlich
argumentiert und einen willkürlichen Begriff von Adelsethik anwendet, wird sich erst
in einer späteren Szene zeigen, wo sie sagt, dass sie für ihr eigenes totes Kind ihr Leben
nicht für ein Begräbnis aufs Spiel setzen würde. Antigone bekennt sich dort also zu
einem normativen Relativismus82. Hier und jetzt allerdings empfindet sie das
Bestattungsgebot als ihre absolute und religiöse Pflicht, die aber zugleich ihrer
Herzensneigung entspricht.

Für Antigone gibt es einen Bereich, in den kein Basileus und keine Polis
eingreifen dürfen, es ist der Bereich des Frommen und Heiligen (vgl. V. 74). Ein
Basileus, der es dennoch tut, wird zum Tyrannen (vgl. V. 506). Und eine Basilissa, die
einem ungerechten Gebot gehorcht, sei „von schlechtem Adel“ (V. 38 83). Denn am
Höchsten stehe, „was bei Göttern hoch in Ehren steht“ (V. 77), und dafür zu sterben
sei „ein edler Tod“ (V. 97).

Der Einsatz des eigenen Lebens ist in dieser Situation für Antigone und ihre
partikularistische Adelsethik kategorisch verpflichtend, für ihre Schwester Ismene
aber nur supererogatorisch; er ist für sie also zwar ethisch verdienstlich, aber doch
unangebracht, da für sie der Machtanspruch Kreons die das Ethische brechende Norm
ist. Und deshalb hofft Ismene auf die Gnade der Götter, die ihr ihre Schwachheit
verzeihen werden. Wenn man zwischen (a) dem Typus einer Erfolgsethik
(Konsequentialismus), bei der man den Erfolg seines Handelns vor sich selbst wie
auch vor anderen zu verantworten hat, und (b) dem Typus einer Ethik des guten

82
Zum normativen Relativismus vgl. Fenner, Ethik, 121.

83
Hier in der Übersetzung Wolfs, in: Wolf, Rechtsphilosophie, 251.

42
Willens, der guten Absicht, der guten Gesinnung (Gesinnungsethik), unterscheidet84,
so ist die Haltung der Ismene eher auf dem Pol der guten Gesinnung einzuordnen.

Ismene ist, da sie zu schwach ist, ihr Leben einzusetzen, im Sinne der
Erfolgsethik einerseits ethisch erfolglos, andererseits aber insofern erfolgreich, als sie
ihr Leben rettet. erfolglos. Aber sie hat eine gute Gesinnung, die sie später unter
Beweis stellen wird, als sie sich in der Todesnot ihrer Schwester auf deren Seite stellt
und sich als Mittäterin zu einer Tat bekennt, die sie nicht begangen hat. Wenn Ismene
hier in der Eingangsszene auf die Verzeihung der Götter bzw. einer Verzeihung durch
die eine Untat verfolgenden Erinnyen hofft, so unterstellt sie den Göttern, dass sie auch
eine gute Gesinnung achten und ihr mithin verzeihen können. Wenn sie verzeihen, so
heißt das wohl auch, dass der Einsatz des Lebens, um ein Begräbnisgebot
durchzusetzen, nicht kategorisch erforderlich, sondern bloß verdienstlich, bloß
supererogatorisch ist. Auch Antigone ist ja letztlich nur teilweise erfolgreich, weil sie
nur eine symbolische Bestattung vollziehen kann. Sie hat aber ihren guten Willen
durch den Einsatz aller ihrer Kräfte gezeigt. „Nur wo die Absicht und nicht das
Ergebnis zählt, ist das G. [das Gewissen] als moralische Instanz gefragt […].“85

Antigone begründet ihren Vorsatz aber nicht nur deontologisch bzw.


partikularistisch als Pflicht einer Königstochter, sondern auch hinsichtlich der
Handlungsfolgen, also konsequentialistisch. Es geht ihr insofern um das Telos der
Eudämonie, also darum, dass sie trotz ihres vorzeitigen Todes letztlich ein insofern
doch noch geglücktes Leben hat, als das Opfer ihres Lebens dafür Voraussetzung ist,

84
Vgl. Fenner, Ethik, 128f.. Fenner verweist auf Immanuel Kants Ethik des guten Willens und Max
Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik.

85
Keppel, Lutz: Art. Gewissen. II. Griechisch-römische Antike, in: RGG 3 (4. Aufl. 2003), 900f..
Keppel verweist zur Illustration dieses Satzes auf V. 265f. der „Antigone“, wo davon die Rede ist, dass
die Wächter bereit sind zu schwören, dass sie selbst den Toten nicht begraben haben und auch keine
Mitwisser waren, d.h. dass sie die symbolische Bestattung nicht verhindern konnten, also erfolglos
waren, aber einen guten Willen hatten, weshalb der Basileus ihnen verzeihen müsse (vgl. V. 264-267).
Sie berufen sich also auf die Ethik, die die gute Absicht und das gute Gewissen anerkennt, weil dieser
Typ der Ethik ihren augenblicklichen Interessen entspricht. Der König dagegen setzt auf die
Erfolgsethik.

43
dass sie im ewigen Leben mit ihrer Familie wieder so vereint ist, wie sie es in ihrer
Kindheit war. Die Psychoanalyse würde Antigones Verhalten auf eine Regression
reduzieren, und die Verhaltensforschung könnte es mit Antigones Prägung durch ihre
Familie erklären. Unfreundlich formuliert, also mit einer synonymischen
Unterscheidung, könnte man auch sagen, Antigones Ethos sei in gewisser Weise
prudentiell, also klugheitsorientiert (griech. phronēsis) und in gewisser Weise
utilitaristisch, nützlichkeitsorientiert, bzw. ethischer Egoismus. Antigone ist aber kein
naiver Egoist, der sich hauptsächlich um den Gegenwartsnutzen kümmert. Sie ist aber
doch insofern an den eigenen Interessen ausgerichtet, als zu ihnen ja auch altruistische
Interessen gehören wie z. B. das Wohl der Familie oder der Freunde86.

In späteren Epochen87 wird diese Lohnmoral von Spinoza, Fenelon und Kant
abgelehnt werden; die Lohnmoral wird von der Kirche aber nicht abgelehnt werden,
und zwar deshalb nicht, weil ihr Lehramt eine quietistische Selbstaufgabe verurteilt
und das Ethos des Mädchens Antigone folglich wohlwollend als ein Ethos der Liebe
beurteilen würde. Auch für Schiller wäre das Mädchen, das sich für seinen
gedemütigten Vater Oidipus aufgeopfert hat, gerechtfertigt, wie seine bekannten Verse
„Über die Grundlage der Moral“ bezeugen: „Gerne dien ich den Freunden, doch tu ich
es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mich oft, dass ich [nach den Begriffen Kants]
nicht tugendhaft bin. / Da ist kein anderer Rat, du musst mich verachten, / Und mit
Abscheu alsdann tun, wie die Pflicht dir gebeut.“88 Es wäre ja auch sonderbar, wenn
eine Mutter für ihr Kind nur pflichtbewusst, aber mit Widerwillen sorgen würde und
nicht aus automatischer mütterlicher Liebe und Freude. Pflicht und Freude sind also
dort, wo man liebt bzw. geliebt wird, keine Gegensätze.

Antigone handelt also aus Pflicht gegenüber einem göttlichen, naturrechtlichen


und selbstgesetzten Gebot ihrer partikularistischen, sie verpflichtenden Adelsethik,

86
Zu den altruistischen Interessen vgl. Fenner, Ethik, 74.

87
Vgl. Wolkinger, Alois: Art. Lohnmoral, in: Rotter, Hans / Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon der
christlichen Moral, Innsbruck/Wien 1990, 451-453, 451f..

88
Zit. nach Wolkinger, Lohnmoral, 451f.. Vgl. auch Schiller, Friedrich: Gedichte. Dramen 1, hrsg. v.
Albert Meier, München: Carl Hanser 2004 (=Sämtliche Werke in 5 Bänden, 1), 299f..

44
aber auch supererogatorisch aus einer Liebe, die alle „Pflicht“ hinter sich lässt. Die
Adelsethik, auf die sich Antigone beruft, ist gegenüber ihrer Liebe zum Bruder nur ein
sekundäres Argument für ihr Handeln.

Ein Handeln wie das der Antigone ist in der gegebenen Situation, unter der
Todesdrohung, also wohl nicht mehr allgemein verpflichtend. Daran orientiert sich
Ismene, die überzeugt ist, dass ihr eigener Gehorsam gegenüber der staatlichen
Autorität von den Göttern verziehen wird (Gnadenmoral89). Ismene sagt sinngemäß,
dass ihre Schwester falsch handelt im Hinblick darauf, wie ein statistisch normaler,
natürlicher Mensch, der sein Leben liebt, handelt. Dieses Argument der Ismene ist ein
Fehlschluss vom statistischen Sein auf das Sollen. Ismene differenziert aber: Sie
schließt die Eingangsepisode mit dem versöhnlichen Wort ab, dass ihre Schwester
ihrer Ansicht nach zwar irre geht, doch wahrhaft lieb den Lieben ist (vgl. V. 98f.),
denn durch ihre Tat wird Antigone ihrem Bruder die Totenruhe im Jenseits
verschaffen. Für Erik Wolf und andere Ethiker90 wird schon aus der Eingangsepisode
deutlich, dass die hier strittige Dike „in sich mehrdeutig, zweifelhaft, gegenwendig ist;
dass es wohl kein Endgültiges-sich-ins-Recht-setzen und Recht-behalten darin geben
wird“91.

Inwiefern ist der Begriff der „Dike“ „gegenwendig“, also ein Wendewort, eine
Leerformel, die man gegenläufig auslegen kann? Ich verstehe die Aussage Wolfs
folgendermaßen: Der König ist insofern im Unrecht, als er ein undifferenziertes
Begräbnisverbot ausspricht. Nach dem positiven Recht ist ihm höchstens gestattet, ein
auf den Boden der Polis bezogenes Begräbnisverbot auszusprechen, und auch das nur,
wenn Polyneikes tatsächlich ein Landesverräter wäre. – Antigone ist insofern im
Unrecht, als sie ihren Bruder innerhalb der Polisgrenze begräbt, sie ist aber nur dann
im Unrecht, wenn ihr Bruder tatsächlich ein Landesverräter wäre. Für sie sind aber
beide Brüder gleich schuldig (s.o.). Es muss offen bleiben, ob Eteokles, dem ein

89
Vgl. Wolkinger, Lohnmoral, 452.

90
Vgl. Flashar, Sophokles, 64. Flashar bezieht sich hier auf Hegel.

91
Wolf, Rechtsphilosophie, 252.

45
Staatsbegräbnis gewährt wird, nur einen Verrat am Bruder oder auch einen
Landesverrat begangen bzw. einen „Landesverrat“ des Polyneikes provoziert hat.

Kreon und Antigone sind insofern schuldig, als sie kein Gespräch gesucht
haben. Dass Kreon sein Edikt erlassen hat, ohne sich vorher mit seiner Nichte
ausgesprochen zu haben, kann von ihr als provokanter Affront gesehen werden. Kreon
ist zu diesem Gespräch aber wohl nur im Sinne der Goldenen Regel verpflichtet, aber
nicht im Sinne des positiven Rechts. Außerdem muss er als Politiker rasche
Entscheidungen treffen und darf nicht warten, bis die Gefahr so groß geworden ist,
dass es für ein Reagieren zu spät ist. Wenn das gegenseitige Vertrauen fehlt, weil man
nicht gelernt hat, beim potentiellen Gegner um Vertrauen zu werben, weil die
Gegensätze so groß sind, dass kein Vertrauen aufkommen kann, dann muss man wohl
so rabiat bzw. geistesgegenwärtig handeln, wie Kreon handelt. Antigone ist es
andererseits nicht zu verargen, dass sie auf Kreons Provokation ihrerseits nicht das
Gespräch sucht, sondern so tätig wird, wie es ihr spontanes Gewissen befiehlt.

Wenn Antigone und Kreon schuldig sind, dann ist diese Schuld schon lange
vor ihrer Entscheidung bzw. Gewissensentscheidung zu suchen, die der Basilissa bzw.
dem Basileus kategorisch befiehlt, Polyneikes zu begraben bzw. nicht begraben zu
lassen. Im Augenblick müssen der König Kreon bzw. die Königstochter Antigone
offensichtlich so handeln, wie sie handeln: Ob Kreon nur aus den Interessen seiner
Staatsraison handelt, aus einem Verantwortungsgefühl heraus, oder ob er auch eine
rationale Gewissensprüfung angestellt hat, muss offen bleiben. Das Drama sagt
darüber nichts aus. Aber aus Kreons späterem verbalen affektgesteuerten Verhalten
gegenüber dem Chor, Antigone, Haimon und Teiresias ist wohl zu folgern, dass er
spontan und affektiv entschieden hat. Wenn man diese Gefühls-, Herzens- bzw.
intuitive Entscheidung als Gewissensentscheidung bezeichnet, dann verwendet man
einen weiten Gewissensbegriff. Der enge Gewissensbegriff verlangt, dass man
zusätzlich zur Befragung der Intuition auch noch alle Pro- und Contra- Argumente in
Bezug auf die Gewissens- Entscheidung sorgfältig abgewogen, also gewissermaßen
hin und her gewälzt hat. Auch bei Antigone ist es eher so, dass sie sich aus dem Affekt
der Liebe und dem spontanen religiösen Gefühl heraus, also intuitiv zum Begraben
ihres Bruders entschlossen und die Argumente erst im Gespräch mit ihrer Schwester
und in der Verteidigung gegen Kreon nachgeschoben oder zusammengesucht hat.
46
Wenn man Antigone eine spontane Gewissensentscheidung zubilligt92, dann müsste
auch Kreon eine spontane Gewissensentscheidung zugebilligt werden. Dass es sich bei
ihm um eine unlautere moralische Urteilsbildung93 oder um ein irrendes Gewissen
handelt, ergibt sich ja erst aus der Analyse des Dramas aus der Perspektive der Ethik.

Jemand kann trotz seines guten Gewissens und trotz seines im Augenblick
vermeintlich richtigen Handelns schuldig sein, weil er im Vorfeld nicht die ethischen
Überlegungen angestellt hat, wie man eine zukünftig vielleicht gefährliche Situation
entschärfen könnte. Diese für die ethische Interpretation der Antigone wichtige
Unterscheidung zwischen einem diskursiven und einem spontanen Gewissen hat
Joseph Ratzinger in Bezug auf die Frage entwickelt, ob Politiker, die unter Berufung
auf ihr Gewissen Krieg geführt bzw. politische Verbrechen begangen haben, trotzdem
schuldig sind. Darauf wird unten noch eingegangen.

V. 3. IDEOLOGIE VS. THEONOME ETHIK. KREONS LEGITIMATION SEINES


VERHALTENS.

Kreon scheint keineswegs willkürlich zu handeln. Die Mächtigen und Adeligen


des Landes sind die Berater des Basileus, sie sind der Chor, der das Wir-Gefühl dieser
Schicht ausspricht. Für den Chor ist Kreon der legitime Herrscher, weil er von den
Göttern zum Königtum berufen worden sei (vgl. V. 158f.). Er gilt als der Rechtliche
und Gerechte, wie er sich auch selbst darstellt (vgl. V. 208). Er ist also nicht durch
einen willkürlichen Nomos König geworden, sondern aufgrund heiliger Satzungen; er
ist also kein Tyrann eigenen Rechts. Sein Selbstbild und das Bild, das sich der Chor
von ihm macht, entsprechen einander. Die ganze Macht des Thrones steht ihm
obendrein deshalb zu, weil er, so der Chor, als der Sohn des Meneukeus (vgl. V. 156f.)
der nächste männliche Blutsverwandte des Hauses der Labdakiden ist (vgl. V.173-

92
Vgl. Schmid Noerr, Geschichte, 16.

93
Vgl. Forschner, Maximilian: Art. Gewissen, in: Höffe, Otfried (Hg.) Lexikon der Ethik, München: C.
H. Beck 7. Aufl. 2008 (=beck’sche reihe 152), 110-112, 111.

47
175). Kreon hat sich in der Abwehr der Argiver bewährt und veranlasst, dass sich einer
seiner beiden noch lebenden Söhne, Megareus, freiwillig den Göttern geopfert hat, um
die Stadt zu retten. Die Götter haben ihn und die Stadt mit einem Unwetter überzogen,
dann aber wieder aufgerichtet (vgl. V. 163f.).

Damit ist er auch naturrechtlich als Herrscher legitimiert, denn für das
Naturrecht ist die Selbsterhaltung im Sinne der Erhaltung der Physis und der Erhaltung
der Selbstachtung, aber auch die Erhaltung der Familie, der (gerechten) Gesellschaft
und der weltanschaulich religiösen Orientierung legitim und dem positiven Recht
vorgeordnet.94 Aus naturrechtlicher Sicht hat das positive Recht diesen vier
anthropologisch fundierten Werten zu dienen. Sie fallen im Schutz der
Menschenwürde, also in der Achtung des Selbst und des Anderen, zusammen. Diese
Gebote der Erhaltung des Ichs, der Familie, der (gerechten) Gesellschaft und der
religiös-weltanschaulichen Orientierung sind an die vier in der Einleitung genannten
kategorischen naturrechtlichen Gebote anknüpfbar. Sie unterscheiden sich von ihnen
wohl nur insofern, als sie etwas konservativer formuliert sind. Sie unterscheiden sich
also vor allem in den Gefühlswerten, den Konnotationen, laufen aber auf dieselben
Begriffe bzw. Konzepte hinaus. Da der Mensch ein soziales Wesen ist, bedarf er zur
Erhaltung des Selbst einer Familie oder Ersatzfamilie, einer (gerechten) Gesellschaft,
einer metaphysischen Orientierung und einer menschenwürdigen Umwelt, die der
Christ als Pflicht zur Erhaltung der Schöpfung interpretiert. Erhaltung des Selbst ist
Erhaltung der Menschenwürde.

Hierher gehört ja auch das Bestattungsgebot, aber auch das Bestattungsverbot,


sofern es der Erhaltung der Gesellschaft bzw. der Selbstachtung Antigones, aber auch
Kreons dient. Kreon steckt aber nicht wirklich in einem moralischen Dilemma, weil
die Rechtslage im Kern klar ist, von ihm aber einäugig interpretiert wird. Es geht ihm
wirklich oder angeblich nur um die „Wohlfahrt“ (V. 186) der Polis. Kreon spricht aus
einer politisch gestärkten Position: Der Chor der „Rechtlichen“ (V. 208) ist auf seiner
Seite; Chor und König stützen sich gegenseitig. Der Chor umfasst aber nur die

94
Vgl. Anzenbacher, Arno: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schöning
1998 (=UTB für Wissenschaft), 66f..

48
„Rechtlichen“ der gesellschaftlichen Elite; er repräsentiert nicht den Adel an sich,
sondern nur die von Kreon ausgewählten Aristoi (vgl. V. 164f.), für die das Vaterland
der angeblich höchste Wert ist (vgl. V. 182f.95).

Der Begriff des Vaterlandes und der Rechtlichkeit sind Wendeworte


(Leerformeln), die man je nach Ethik oder Interesse mit verschiedenen Bedeutungen
füllen kann. Kreon hat offenbar die Jasager ausgewählt, die seine Begriffe teilen. Und
da er in Polarisierungskategorien denkt, ist jeder, der seinen Anordnungen nicht
zustimmt, ein „Feind des Heimatlandes“ (V. 187). Die potentiellen Kritiker bzw.
Neinsager sind nicht geladen, sondern zu Hause geblieben, oder sie treffen sich zu
dieser Zeit in oder vor den „Cafes“, Gasthäusern, Tavernen und Osterias der Stadt, wo
sie die Meinung machen, die Kreons Sohn Haimon dann erforschen und dem König
als die Stimmung der Polis berichten wird. Die Oberschicht ist also irgendwie
gespalten, und damit ist auch die militärisch gestärkte Position des Königs doch wieder
geschwächt. Das Bestattungsverbot dient folglich auch der Einschüchterung einer
potentiellen Opposition.

Kreon verkündet sein Edikt, das die Bestattung des Polyneikes bei Todesstrafe
verbietet, also nur einer ausgewählten Gruppe. Und vor diesem Forum kann er seinen
„Machtspruch“96 mit einer synonymischen Unterscheidung als einen „Rechtsspruch“97
legitimieren. Das ist keine ethische, sondern eine ideologische Verfahrensweise, denn
Kreon rekurriert „auf, absolut wahre‘ Prinzipien und Einsichten“98, auf „universal
anwendbare Orientierungsinstrumente“99 und Interpretationsmonopole, um sich so
gegen Kritik abzuschirmen. Er polarisiert und monologisiert, er bemüht

95
Hier in Anlehnung an die Übersetzung von Norbert Zink. Vgl. Sophokles: Antigone.
Griechisch/Deutsch. Übers. u. hgg. v. Norbert Zink, Stuttgart: Reclam 2007 (=Reclams Univ.-Bibl.
7682), V. 182f..

96
Wolf, Rechtsphilosophie, 253.

97
Ebda.

98
Neuhold, Ideologie, 358; in Bezug auf Salamun.

99
Ebda.

49
„emotionalisierte Feindbilder“100. Eteokles ist für ihn der Rechtliche und Ehrenhafte,
weil er der Polis gegenüber angeblich „wohlgesinnt“ (V. 209) ist. Polyneikes dagegen
steht für das Schlechte und Unehrenhafte. Kreon fragt nicht nach der Archē, dem
Ursprung der Auseinandersetzung zwischen den Brüdern. Er blendet die Präzedentien,
die Vorgeschichte, aus. Er will nicht wahrnehmen, dass die Rechtsverletzung von
Eteokles ausgegangen ist und Polyneikes nicht so ohne weiteres und reflexhaft als
Landesverräter bezeichnet werden dürfte. Jedenfalls ist eine Verurteilung des
Polyneikes als Landesverräter vor einer näheren Untersuchung nur eine politisch
motivierte, aber unbegründete und willkürliche Unterstellung101 und folglich ohne
vielleicht ethisch verwerfliche Relevanz.

Der Chor passt sich den Mächtigen diplomatisch an. Er gesteht dem Basileus
zu, dass er das Recht habe, zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Es stehe dem
König zu, „jede Satzung anzuwenden“ (V. 213) also auch das relative
Begräbnisverbot. Es ist anzunehmen, dass die Sicherheit des Staates genauso
satzungsgemäß bzw. positivrechtlich geregelt ist wie das Begräbnisgebot. Und wenn
die Staatssicherheit nicht positivrechtlich gewährleistet wäre, dann träte dafür das
Naturrecht auf Selbsterhaltung des Staates ein. Eine positivrechtliche Regelung wäre
ohnedies nur eine Anwendung des Naturrechts auf die Erhaltung der als gerecht
empfundenen Gesellschaft. Kreon steht also nicht außerhalb des Nomos, auch wenn
dieser Nomos nur ein Gewohnheitsrecht ist.

„Gewohnheitsrecht ist Recht, und zwar eine Art des positiven Rechts im
Unterschied zum Naturrecht und/oder Vernunftrecht.“102 Dazu ist in der archaischen
Frühzeit keine schriftliche Satzung notwendig. Das Gewohnheitsrecht hat die beiden
Merkmale der (a) langandauernden Übung und (b) ihrer Anerkennung durch die Polis
als rechtsverbindlicher Nomos.103 Dazu kommt noch ein drittes Merkmal, das sich

100
Ebda.

101
Vgl. Flashar, Sophokles, 64.

102
Dreier, Ralf: Art. Gewohnheitsrecht, in: StL 2, 7Aufl. (1986) 1059-1063, 1059.

103
Vgl. ebda.

50
später auch im kanonischen Recht finden wird, das vorschreibt, „dass die Gewohnheit,
die gegen göttliches Recht verstößt, keine Gesetzeskraft erlangt“104, weil das göttliche
Recht einen höheren Rang hat als nur menschliches Recht. Und für den Fall, dass
menschliches mit göttlichem Recht zusammenprallt, wusste jeder echte Grieche, dass
er sich an das göttliche Recht zu halten hatte.105

Der König Kreon darf also nur im Namen des Nomos Recht sprechen, aber
nicht selbst Recht schöpfen, es sei denn, es herrsche ein Staatsnotstand, aber dann gilt
nur noch das überpositive Recht, dessen Verletzung auch ohne positive Satzung
strafbar ist106. Der König darf gemäß dem Nomos und aufgrund seiner Verantwortung
für die Polis dem Landesfeind das Begräbnis verweigern, das ist positiver
Rechtsbrauch. Andererseits verlangt der göttliche Nomos, dass jedem Toten sein Grab
gebührt. Das ist der Rahmen, in dem sich der König zu bewegen hat, wenn er Recht
spricht. Diese Grenze darf er nicht überschreiten. Dazu dürfte auch gehören, dass in
einer elementaren Krise, in der das naturrechtliche Dasein der Moral- und
Rechtsgemeinschaft selbst auf dem Spiel steht, sogar die ansonsten naturrechtlich
zwingende Totenbestattung ausnahmsweise suspendiert werden darf oder suspendiert
werden muss, weil es ja nur sekundäres Naturrecht ist.

Doch nach Einschätzung des Priesters Teiresias, des Königssohnes Haimon


und der gesamten öffentlichen Meinung, wie sie von Haimon wahrgenommen wird,
besteht diese Gefahr nicht. Das heißt nicht, dass der König mit seiner
Gefahreneinschätzung nicht trotzdem Recht haben könnte, und zwar unabhängig
davon, dass er nicht wohlwollend argumentiert, wie es die Ethik der Goldenen Regel
verlangen würde, sondern rabiat, selbstbezogen und bipolar. Aber für das Bestehen
einer großen politischen Gefahr gibt es im Text keine Anhaltspunkte. Voraussetzung
dafür, dass der König mit seinem Argwohn trotzdem im Recht wäre, wäre ein absolut
negatives Weltbild, bei dem das Böse immer nur darauf lauert, hervorzubrechen,

104
Ebda. 1060.

105
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 255.

106
Vgl. Horster, Detlef: Ethik, Stuttgart: Reclam 2009 (=Reclam Taschenbuch 20324), 108-120. Detlef
Horster bezieht sich hier auf den Nünberger Prozess.

51
weshalb man selbst immer rechtzeitig präventiv zum Erstschlag bereit sein muss. Das
entspricht aber nicht dem Weltbild des Dichters Sophokles.

Nach der Logik und dem Arrangement des Dichters scheint es, dass der König
die Wirklichkeit unzulässig dramatisiert, ob seine Dramatisierung nun aufgrund seiner
Lebensgeschichte psychologisch nachvollziehbar ist, oder ob es schuldhaft geschieht
im Sinne einer Schuld, die man schon tief in der Vorgeschichte des aktuellen Handelns
ansetzen muss, weil der König schon seit jeher bipolar und reflexhaft gedacht und
gehandelt hat, obwohl oder weil er selbst Opfer von Verdächtigungen und irrationalem
Feindbilddenken war, denn Oidipus hat ihn seinerzeit so verdächtigt, wie Kreon jetzt
alle Welt verdächtigt. Das muss aber offen bleiben.

Folglich kommt es Kreon nicht in den Sinn, einen humanen Ausweg zu suchen.
Und der Chor ist nur auf die Erhaltung seiner Position bedacht, wenn er den König
nicht explizit und brachial vor einem Rechtsbruch warnt, weil dem König ja nur
Rechtsauslegung erlaubt ist, aber nicht Rechtsschöpfung. Den Toten außerhalb der
Polis begraben zu lassen, wäre nicht nur Billigkeit, sondern Nomos. Mehr noch: Wenn
es sich um die Brüder vom gleichen Geschlecht handelt, dann ist die Grabspende für
die Griechen „Themis“, d. h. ein unumstößlich bindendes Gesetz107. Die Themis hat
im Gegensatz zur Dike noch etwas vom Hordenhaften und Triebhaften an sich108, das
auf den Menschen einen fast unüberwindlichen Zwang ausübt. Das nicht zu sehen,
wäre Hybris. Hybris und Machtgehabe sind Antonyme zur Dike.109

Es bleibt aber immer noch die Frage offen, inwiefern die unumstößlich
bindende Themis der Begräbnispflicht das Opfer des eigenen Lebens tatsächlich so
kategorisch verlangt, wie es Antigone in der Eingangsszene, im Gespräch mit Ismene,
für sich als Basilissa behauptet hat. Schon dadurch, dass der Einsatz des Lebens für sie
ein Teil der Adelsethik ist, ergibt sich, dass das Begräbnisgebot, mag es auch
„unumstößlich“, also Themis sein, dennoch nicht primäres Naturrecht ist. Gemessen

107
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 254.

108
Vgl. Wolf, 41.

109
Vgl. Wolf 70 u. 132.

52
an einer universalen Moral ist es nur ein sekundäres Naturrecht, also eines, das bei
aller sonstigen Unumstößlichkeit doch Ausnahmen zulässt. Hätte Antigone z. B. schon
ein kleines Kind, dürfte sie sich vielleicht gar nicht opfern, weil gemäß dem zweiten
Gebot der vier kategorischen naturrechtlichen Gebote die Sorge für ihr Kind ein
primäres Naturrecht wäre und das Nichtbegraben des Bruders von der Polis und von
den Göttern verziehen werden kann, wie die auf Gnade hoffende Ismene argumentiert
hat.

Kreon hat einen Spruch gefällt, durch den er die Dike verwirklichen sollte, das
Recht im Sinne der Götter, d. h. das überpositive Naturrecht. Dieses Recht der
Götter ist kein Gegensatz zu gerechter königlicher Macht, die ausgleichend wirkt und
sich dadurch selbst stabilisiert. Es ist aber sehr wohl ein Gegensatz zu einer
menschlichen Macht, die arrogant Erkenntnismonopole beansprucht und ihre
Entscheidungen dadurch abzusichern versucht, dass sie sich willkürlich auf die
Jenseitigen, also auf „wahre Wesenheiten“ beruft, um sie der eigenen Willkür und dem
eigenen Machtwillen dienstbar zu machen. Das ist nicht mehr Dike, sondern Hybris.

Das weiß Kreon natürlich. Deshalb versucht er, seinen willkürlichen


Machtspruch als Rechtsspruch zu legitimieren, indem er sich auf die Götter des Landes
beruft (vgl. V. 199). Aber auch Antigone beruft sich gegenüber ihrer Schwester auf
Nomos und Dike (vgl. V. 23f.), auf ein „heiliges Gesetz“ (V. 23), so dass Dike-
Behauptung gegen Dike- Behauptung steht. In solch einem Fall suchen sich
diplomatische Machtpolitiker und Machtpolitikerinnen Verbündete, denen man
Prestige oder sonstige Vorteile verschafft, denen man schmeichelt oder die man zuvor
eingeschüchtert hat, wie es Kreon mit dem Chor praktiziert. Das ist diplomatisches,
pragmatisches, aber nicht ethisches Handeln, weil die Menschen nur als Instrumente
eingesetzt werden und nicht zugleich Selbstzweck sind.

Der Chor hat Kreon zugestanden, dass er berechtigt sei, „jede Satzung
anzuwenden“ (V. 213). Damit hat er aber nicht mehr gesagt, als dass sich Kreon an
den Nomos, das ungeschriebene positive Recht, zu halten hat. Der Chor handelt also
genau so diplomatisch und pragmatisch wie der König: Er lässt offen, ob Kreons
Richterspruch im konkreten Fall noch innerhalb des Rechts ist oder nicht mehr. Ein
überpositives Naturrecht wird von ihm in diesem strategischen Gespräch nicht

53
thematisiert. Der Chor ist ohne ethisch-politische Initiative im Sinne einer
Durchsetzung des vorgegebenen positiven und überpositiven Rechts. Ihm fehlt das
Wohlwollen gegenüber Kreon und gegenüber Antigone. Er hält sich heraus und denkt
offensichtlich nur an sich. Er hängt sein Mäntelchen nach dem Winde. Der König hat
die opportunistischen Jasager als Berater, die er sich in seinem Eigensinn selbst
ausgesucht hat. Deshalb ist er letztlich allein. Dafür ist er aber selbst verantwortlich.

V. 4. DIE NATURRECHTLICHE VORSTELLUNG VOM PHYLAX ALS DEM MAß


ALLER DINGE. KANN SICH DER PHYLAX ETHISCHES HANDELN LEISTEN?

Der Phylax, der Wächter, meldet, dass Kreons Gebot übertreten wurde. Er ist
kein Held, sondern nur ein kleines Rädchen in der Maschinerie der Polis und richtet
sich auf diese Rolle ein. Er passt sich den Trägern der Macht schlau an, er hat kein
Rückgrat, er bleibt „eifrig auf dem Boden des ‚bestehenden Rechts‘ […], wie es die
Macht gesetzt hat und gehalten wissen will, ohne Sinn für den tragischen Konflikt,
[…] jedenfalls entschlossen, sich so zu verhalten, als existiere dieser Konflikt
nicht“110. Die Dike Antigones oder Kreons geht ihn nichts an, nur die Dike, die er sich
selbst zugesteht (vgl. V. 228), nämlich dass der König dem Überbringer der Nachricht
die Tat nicht selbst anlastet. Dieser Wächter ist der kleine Angestellte. Er übernimmt
die Rechtsbehauptungen des politisch Mächtigen, er „gehorcht demjenigen, was die
bestehende politische Macht für Recht gesetzt hat, traut aber (entsprechend) dieser
Macht auch jede Willkür zu“111. Er fühlt, dass diese Macht kein idealistisches
Naturrecht, kein Vernunftrecht, kein göttliches Recht kennt, sondern nur das Gesetz,
das sie politisch durchsetzen kann, das sie dann mit dem (schönen) Schein des Rechts
umgibt. Er traut dem Herrscher alles zu, sich selbst aber nichts; „um sich die
Zufriedenheit der Mächtigen zu erringen“112, ist dieses Rädchen äußerlich eilfertig und

110
Wolf, Rechtsphilosophie, 255.

111
Ebda, 256.

112
Ebda.

54
eifrig, ihm kommt alles darauf an, dass der Schein gewahrt bleibt. Er kann sich nichts
anderes leisten als eine innerliche Anpassung an den augenblicklich Mächtigen.
Sobald der Mächtige aber von einem noch Mächtigeren gefällt wird, orientiert sich das
Rädchen um und läuft und schnurrt ebenso geschmeidig und schicksalsergeben 113 in
die andere Richtung.

So wie Oidipus einst den Kreon mit der Unterstellung der Bestechlichkeit
verletzt hatte, so verletzt jetzt Kreon den Phylax mit der gleichen Unterstellung der
Korrumpierbarkeit. Auf diese Provokation wird ihm vom Wächter mit der
schnippischen Bemerkung geantwortet, dass auch Befehlshaber irren können (vgl. V.
323). (Damit ist zwar nur der Korruptionsvorwurf gemeint, der Zuschauer kann die
Aussage des Phylax aber auch auf den Richterspruch des Basileus gegen den
Polyneikes anwenden.)

Der mächtige Basileus lässt sich mit einem Statusniedrigem aber auf keine
Debatte ein. Er ist sich seiner Position so sicher, dass er die Warnung des
ohnmächtigen Mannes aus dem Volk spöttisch als witzig (vgl. V. 324) abtun kann.
„Das ist der Spott der nackten Gewalt über den nach ihrer Rechtfertigung und
Begrenzung verlangenden Geist.“114 Der Spott des Königs ist also der Spott über das
Naturrecht der menschlichen Würde, wonach niemand nur als Mittel zum Zweck
ausgenützt und bezahlt werden darf, sondern das Menschenrecht hat, trotz aller
untergeordneten Dienstverrichtung als Mensch geachtet zu werden. Mit diesem
Vokabular aus der Schule Kants115 kann Kreon charakterisiert werden. Der Phylax
könnte sich mit solchen Worten allerdings noch nicht verteidigen, weil der Ausdruck
und der Begriff der Menschenwürde in diesem Sinn zur Zeit des Sophokles noch nicht
bekannt war. Durch seine gewitzte Antwort gibt der Phylax aber zu erkennen, dass er
sich gegen die Verletzungen seiner Menschenwürde zu wehren weiß, auch wenn er
über das angemessene Wort und das begriffliche Konzept noch nicht verfügt. Im

113
Vgl. Wolf, Rechtsphilosphie, 257.

114
Wolf, Rechtsphilosophie, 256.

115
Vgl. Schaber, Peter: Menschenwürde, Stuttgart: Reclam 2012 (=Grundwissen Philosophie. Reclam
20338), 39-48.

55
fünften Jahrhundert vor Christus fehlt auch noch der spätere Begriff der
Gewissensmoral, der erst in der Stoa, im Hellenismus aufkommt.116 Deshalb ist von
Irrtum, von Blindheit und Taubheit die Rede, wo man auch von Klugheit bzw.
Gewissen und irrendem Gewissen sprechen könnte. Wenn das Wort bzw. das
begriffliche Konzept noch fehlt, heißt das ja nicht, dass der ihnen entsprechende
Sachverhalt noch nicht bekannt sein muss; man kann das Gemeinte ja auch
umschreiben, wie es der Phylax umschreibt.

Kreons Status als König, als erfolgreicher Feldherr und angeblicher


Eigentümer des Staates hat ihn zur Hybris, und diese hat ihn zur sittlichen Blindheit
und Taubheit verführt. Die Sprache Kreons ist also (wie die des Phylax) die Sprache
der Klugheitsmoral. Das wird sich besonders dort zeigen, wo er sein Tun im Sinne der
Gewissensmoral bereuen müsste. Er wird seine Schuld aber zuerst auf die Götter
schieben, dann seine mangelnde Klugheit eingestehen, aber nie Gewissensbisse
zeigen, weil ihm für die schrille Antigone jedes Feingefühl fehlt. Er sieht nicht, wie
sie sich aufopfert, er sieht nur die angeblich Irre, er sieht nur die Feindin (s.u.).

Als der Phylax Antigone als Täterin vorführen kann, hat er mit dem Mädchen
zwar Mitleid, aber das wiegt bei ihm naturgemäß nicht so schwer wie die Rettung
seiner eigenen Haut. Hätte er mit seinen Freunden die Tat der Antigone verschleiern
können? Darauf gibt das Werk keine Antwort. Der Phylax ist weder ein kreonhöriger
Fanatiker noch ein sogenannter irrer Held, sondern ein vernünftiger Mensch, der zuerst
an seine Gesundheit, sein „eigenes Heil“ (V. 440) denkt. In seinem moralischen
Dilemma zwischen dem Mitleid mit dem Mädchen und dem Rollenzwang des
Rädchens im Dienste der Klugheit und der Selbsterhaltung (ein Naturrecht) liegt ein
Hauch von Schicksalstragik, der vom Dichter aber nicht näher thematisiert wird.

Es ist aber auch die Auffassung vertretbar, dass Sophokles hier die
naturrechtliche Vorstellung der Sophisten vom Menschen als dem Maß aller Dinge
ironisiert.117 Der Phylax sieht sich selbst als das Maß aller Dinge. – Die Rollen des

116
Vgl. Forschner, Gewissen, 111.

117
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 258.

56
Spaßvogels, des Hofnarren, des Schneiders118, aber auch die des Ideologiekritikers,
der Ideologiekritikerin, des Ethikers bzw. der Ethikerin, die nach der Moralität suchen,
bedingen unterschiedliche Maßstäbe. Der Versuch, sie in einer Person, in der des
Phylax, zu integrieren, führt zu den Ambivalenzen, die man als die kleinen Tragödien
des Alltags bezeichnen könnte, weil die Menschen an sich selbst und an ihren Rollen
scheitern.

Sein Leben als tragischer Held bzw. als tragische Heldin für andere Menschen
hinzugeben, ist dagegen fast immer supererogatorisch. Das könnten ein Spötter und
eine Spötterin aber auch als hybrid und irrsinnig abtun, weil sie nach ihrem Schwarz-
Weiß-Maß messen und sich damit selbst indirekt als naive Absolutisten
charakterisieren.

Der Wächter denkt in den ihm zugänglichen Kategorien einer Katze-Maus-


Natur und einer sich an dieser Gegebenheit orientierenden klugen Vernunft im Sinne
von vernünftiger Anpassung an den Brotgeber. Er hat allerdings Mitleid. Damit wäre
er nach der Mitleidsethik vielleicht doch noch gerechtfertigt. Der Wächter muss sich
entscheiden zwischen einer moralischen Selbstachtung von der Art der Antigone und
der Erhaltung seiner physischen Existenz. Er entscheidet sich für seine physische
Selbsterhaltung, so wie es auch Antigone täte, wenn sie an seiner Stelle wäre. Sie
würde (s.u.) unter einer Todesdrohung ja nicht einmal ihr eigenes Kind begraben. Der
Wächter opfert zwar seine moralische Selbstachtung, einen Teil davon versucht er sich
aber doch durch seinen ohnmächtigen Witz und sein Mitleid zu bewahren. Die
religiöse Dimension, die sich dem Wächter entzieht, thematisiert der Chor, als er
Kreon zu bedenken gibt, ob die vom Phylax gemeldete Tat nicht gottgewirkt sei.119

118
Vgl. ebda, 258f.

119
Vgl. ebda, 278f.

57
V. 5. DAS HYBRISLIED DES CHORES

Die männliche bzw. menschliche Grenzenlosigkeit ist etwas Ungeheures,


Monströses, Unheimliches und Gigantenhaftes. Die Ungeheuer, man könnte ergänzen:
die Krokodile, Drachen, Riesen und Giganten sind nicht ungeheurer als der maßlose
(vgl. V. 366) Mensch in seiner Hybris. Der Gegensatz dazu ist der menschliche
Mensch, der seine Grenzen kennt und sich selbst durch Nomoi begrenzt. Das ist ihm
aber nicht angeboren, nicht physei, nicht von der Natur aus mitgegeben, wie die nach
Protagoras kommenden Sophisten lehrten120, sondern diese Grenzziehungen muss der
Mensch selbst lernen.

So kann man die Grundaussage des berühmten Hybrisliedes der „Antigone“


interpretieren. Auch Joseph Ratzinger hat in einer seiner Predigten einmal darauf
angespielt und den Inhalt dieses Chorliedes mit folgenden Worten wiedergegeben:
„Die Macht des Menschen hat sich fast ins Grenzenlose gesteigert, und wir können
beinahe alles. Wir können zum Mond fahren, wir können den Mars erforschen, wir
können Bilder aus allen beliebigen Teilen der Welt an jedem Ort gleichzeitig
empfangen, wir können in einem winzigen Computerblättchen Millionen von
Informationen speichern. Nur das Eigentliche können wir nicht mehr recht – das
Menschsein!“121

Die Nomoi sind zum Teil Ausdruck des ewigen und immer gültigen
Naturrechts, das kein Mensch außer Kraft setzen kann und das das positive Recht erst
legitimiert, jedenfalls aus der Sicht der Naturrechtler und Naturrechtlerinnen. Zum
anderen Teil sind sie in der Zeit, in der die „Antigone“ spielt bzw. aufgeführt wird,
auch Ausdruck einer alten, verfestigten Macht des Adels und der Grundbesitzer. Und
dagegen begehrten die Nachfolger des Protagoras auf, und zwar im Namen der
kraftstrotzenden, starken, jungen Naturen, aber auch im Namen des neuen Geldadels.
Das ist ein Kampf zwischen Giganten, in dem Kreon so wie vor ihm Oidipus die Gier

120
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 261f..

121
Papst Benedikt XVI. [=Joseph Ratzinger], Buch, 9.

58
nach dem Geld, nach der materiellen Form des „Heldentums“ und der „Ehre“, am
Werk sieht.122

Der Chor ehrt den, der die Nomoi des Landes und der Götter ehrt. Wer sich
dagegen selbst ausgrenzt, indem er die Nomoi frivol bricht, der wird gemäß der
Goldenen Regel ausgeschlossen, und der Platz am Herd, d.h. die Gemeinschaft wird
ihm verweigert (vgl. V. 367-375). Dieses Urteil des Chores kann sich kurzschlüssig
auf Antigone beziehen, die büßen muss, weil sie den Richterspruch des Königs nicht
beachtet, sondern sich auf das höhere, göttliche Recht, das Naturrecht, berufen hat.
Das Urteil kann sich aber auch auf Kreon beziehen, der behauptet, dass ihm kein
ungeschriebener Nomos zu sagen braucht, was die Götter wollen, weil er es in seiner
Funktion als Basileus ohnedies weiß bzw. zu wissen wähnt.

Er weiß, dass die Götter die Dike mit dem Maßstab des Basileus messen. Er
selbst, als der Basileus, ist für ihn das Maß aller, auch der göttlichen Dinge. Das wird
Antigone als Tyrannenart klassifizieren (Vgl. V. 506). Aus Kreons Perspektive ist aber
nicht er der Frevler, sondern der Chor, die Geronten, der Rat der Alten, weil dieser
Chor da hinter der gottgewirkten (vgl. V. 278) Totenbestattung entweder die Götter
selbst vermutet hat oder einen Täter, für den nicht der Mensch, sondern das göttliche
Recht, das Naturrecht, das Maß aller Dinge ist. Kreon sieht nicht, dass der Chor durch
die Frage, ob nicht die Götter hinter der Totenbestattung stünden, seine Politik
indirekt, diplomatisch, in Frage stellt. Aus Kreons Sicht haben ihm die Götter und
nicht etwa die Machtverhältnisse oder die pragmatische und diplomatische Politik des
Teiresias die Stellung eines Basileus zuerkannt, deshalb sind sie auf seiner Seite und
deshalb hat für ihn der Chor Unrecht mit seiner Vermutung eines wunderbaren
göttlichen Eingriffs.

Deshalb sieht Kreon sich selbst als die tatsächliche Quelle wahrer Wesenheit.
Er beansprucht ein Interpretationsmonopol auf die Deutung des göttlichen Wortes. Er
misst das Göttliche so nach seinem Maß, wie er auch das Frevelhafte nach seinem Maß
misst, das er aber reflexhaft für das gottgefällige Maß hält, das er selbst zu vollstrecken
hat. Er sieht sich von Verrätern umgeben, für die das Geld das Maß aller Dinge ist, die

122
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 261f..

59
durch Geld zur Macht gelangen wollen oder sich durch Geld bestechen lassen. Mit
Hilfe solcher Verteufelungen hat schon Kreons Schwager Oidipus regiert, von dem
sich dann herausstellte, dass er ein Neffe Kreons, also mit Kreon blutsverwandt war.
Dieser Neffe Oidipus hat sich damals genau so geirrt, wie sich jetzt sein Onkel Kreon
irrt.

Wenn Antigone in Kreon also einen hybriden Tyrannen sieht, hätte sie ihn auch
in ihrem Vater finden können. Hinter der Verachtung des Geldes steht aber auch die
Abwehr des konservativen Grundbesitzeradels gegenüber den liberal-städtischen
Neureichen, für die der Geldmensch das Maß aller Dinge ist. Der selbstherrliche
Tyrann ist also eine Art emanzipiertes Verbindungsglied in Umbruchsepochen. 123 Er
glaubt an diejenige religiöse Begründung und an die Deutung des Daseins, die seinen
Interessen dient. Er ist also geistig im Kern nicht anders organisiert als der Phylax, der
mit Witz argumentiert, während Kreon seine Bewertungen aus seiner Position als
Basileus ableitet und religiös unterfüttert.

Die Götter haben Kreon also aus seiner Sicht und nach seinem Maß angeblich
in seiner Stellung legitimiert. Frevler haben sie dagegen noch nie geehrt (vgl. V. 288).
Deutet Kreon hier das Naturrecht? Spricht er hier schon im Namen des Naturrechts
das Urteil über sich selbst? Ja. Der Schluss des Werks wird nämlich zeigen, das Kreon
selbst ein Frevler ist, der sich am gottgewirkten Naturrecht vergangen hat. Er selbst
wird die beiden Fragen implizit bejahen und damit ein überpositives göttliches
Naturrecht anerkennen, an dessen Maßstab sich alle Könige und Richter zu halten
haben. Das gilt auch für die Königinnen und Richterinnen früherer oder späterer
Menschheitsepochen.

Dieser Grundgedanke steht, säkularisiert, noch hinter den Urteilssprüchen des


Nürnberger Tribunals von 1946.124 Dieser Grundgedanke steht auch hinter den
heutigen „internationalen Interventionen“ (synonymische Unterscheidung: „Kriegen“)
des Westens. Dieser Grundgedanke steht auch hinter dem überpositiven

123
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 261f..

124
Vgl. Horster, Detlef: Ethik, Stuttgart: Reclam 2009 (=Reclam Taschenbuch 20324), 108-120.

60
Menschenrecht, an dem sich auch die positiven Menschenrechtskodifikationen messen
lassen müssen. Aber auch die Interventionen müssen sich daran messen lassen, wenn
sie sich nicht dem Vorwurf der Hybris aussetzen wollen, Krieg im Namen humanitärer
Interventionen zu behübschen, sondern wirklich auch den Menschen der betreffenden
Weltregion und der Menschlichkeit des Naturrechts dienen und also gerechtfertigt sein
wollen.

Verbrecherische Regierungen können bzw. müssen also auch ohne die


Grundlage eines positiven Rechts bestraft werden, da die positivrechtliche bzw.
„sittliche“ Grundlage solch eines Staates ja nicht schlichtweg herangezogen werden
kann. Die Bestrafung solcher Staaten ist nur möglich im Namen des Naturrechts.

V. 6. KREONS UND ANTIGONES VORSTELLUNG VOM GÖTTLICHEN RECHT


BZW. DEM SOGENANNTEN NATURRECHT

Kreon versteht sein Edikt im Rahmen der Themis125, des Naturgegebenen, des
schicksalshaft Unverfügbaren, also der unbedingten und deshalb gottgefälligen
Notwendigkeit. Das, was die Griechen als Themis empfinden, bildet den Rahmen für
ihre sittlichen Urteile. So ist es ja auch bei Antigone, wenn sie gegen das Edikt
Widerstand leistet. Jeder lebt in seinem Bezugssystem, das er als absolut gesetzt
empfindet, als gleichsam naturgegebene Themis. Deshalb empfindet Kreon Antigones
Tat als Hybris und Religionsfrevel (vgl. V. 480).

„Frevel“ ist ein Wendewort mit religiösen Konnotationen, das über den
Sprecher und sein Bezugssystem (indirekte Selbstcharakteristik) nicht weniger aussagt
als über den Adressaten des Vorwurfs. Denn wer „frevelt“, der wird charakterisiert als
jemand, der sich an göttlichen Ordnungen vergeht. Und der Sprecher charakterisiert
sich selbst indirekt als den, der die göttlichen Ordnungen einhält. Wenn Antigone
frevelt, dann ist das Edikt des Basileus Ausdruck einer göttlichen Ordnung, und jedes

125
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 262.

61
Zuwiderhandeln ist ein Vergehen an der göttlichen Dike. Kreon ist also aus seiner
Perspektive ein Wächter der Dike, an der seine Nichte frevelt.

Frevel ist aus seiner Sicht auch die Art, wie sich Antigone lachend zu ihrem
Frevel bekennt (vgl. V. 482f.). Ganz abgesehen davon, dass sie aus der Perspektive
Kreons nur „Knecht im Hause ist“ (V. 479) und dem weiblichen Geschlecht lachender
Übermut angeblich nicht ziemt, denn das unterwühlt die angeblich naturgegebene
Themis des Mannes (vgl. V. 484f.). So wehrt sich ein königlicher Sophist, der von
seinem Dikeanspruch überzeugt ist, gegen ein Mädchen, dem er sophistische
Subversion unterstellt, nämlich den Dike-Anspruch auf Diskursgleichheit.

Schließlich versucht er, Antigone als in der Polis isoliert darzustellen, um sie
bei der Isolationsangst zu packen (vgl. V. 508). Aber selbst wenn sie in der Polis
isoliert wäre, wäre sie damit noch nicht im Unrecht, denn vom Sein einer statistischen
Mehrheit darf noch nicht automatisch und reflexhaft auf ein moralisches Sollen
geschlossen werden. Denn auch Mehrheiten können sich irren.

Kreon arbeitet mit bipolaren Freund-Feind-Schemata, in die er auch die Toten


einbezieht (vgl. V. 522). Wenn er die eigenen Dike-Positionen verteidigt, greift er auf
die Topoi der religiösen Tradition zurück, die er aber sophistisch durch seine Brille
sieht. Wenn er die ebenfalls in der Transzendenz wurzelnden gegnerischen
Dikebehauptungen kritisch aufzulösen versucht, greift er auf die rhetorischen
Techniken der Demokratie des fünften Jahrhunderts zurück. Er wechselt also je nach
Intention die Bezugsfelder. Das ist aber auch bei Antigone nicht anders.

Antigone hat den sittlichen Anspruch des Basileus bisher schon ironisch
entwertet, nun nennt sie ihren Onkel offen einen Tyrannen (vgl. V. 506), der im Glück
der Eudaimonia ist und alles tun und reden kann, was ihm beliebt, während die Männer
rund um ihn furchtsam schweigen, im Inneren aber auf ihrer Seite stünden (vgl. V.
502-507). Seit ihre Brüder tot seien, gelte für sie nicht mehr der Nomos der Polis und
des Basileus, der zwischen Freund und Feind strikt unterscheidet, sondern der Nomos
des Hades (vgl. V. 519), der nach anderen Dike-Maßstäben misst, nämlich nach denen

62
der Freundschaft. In solchen Kategorien der Freundschaft, des Diskurses und der
Humanität denkt auch Protagoras.126

Antigone behauptet von sich, sie denke nicht wie Kreon in Feindschafts-,
sondern in Freundschaftskategorien. Sie möchte die Bipolarität von Freund und Feind
überwinden. Ihrem Wesen, ihrer Natur, entspreche nicht das Mithassen, sondern das
Freundsein, das Mitleiden, das Symphilein, wie ihr berühmtes Bekenntnis lautet (vgl.
V. 523). Wenn sie nur ein bisschen davon im Gespräch mit ihrer Schwester gezeigt
hätte und wenn sie nur ein eigenes Kind ebenso lieben würde wie ihre Brüder, dann
wäre sie glaubwürdiger. Dann könnte man ihr nicht so leicht Fanatismus unterstellen.
Antigones Denken und Empfinden beruht also letztlich wie das Kreons auf ihrer
Physis, ihrer Natur, ihrem Wesen, ihrer Vorstellung von Gerechtigkeit, ihrer
Personalperspektive.

Wenn sie sich gegenüber Kreon auf die Meinung der Polis beruft, so antwortet
sie nur in dem von ihm vorgegebenen Rahmen, um zu widerlegen, dass sie
gesellschaftlich isoliert wäre. In Wirklichkeit handelt Antigone aber nicht nach dem
Bezugssystem der Polis, sondern nach dem Bezugssystem des Naturrechts, nach dem
auch die Polis urteilt. Sie würde nötigenfalls wohl auch gegen die ganze Polis handeln,
so wie sie jetzt gegen Kreon handelt. Und gegen ihre Schwester ist sie deshalb so
aggressiv, weil die Schwester nicht bereit ist, für das von Antigone als das Wahre,
Gute und Schöne Erkannte zu handeln.

Antigone weiß die Polis und vor allem den ungeschriebenen religiösen Nomos
hinter sich. Das gibt ihr die Kraft, sich gemäß dem Fanum, dem Heiligen, zu verhalten.
Das Fanum und der Fanatismus sind etymologisch verwandt. Sie unterscheiden sich
im Wertakzent. Wenn man ein und dasselbe Verhalten im einen Fall als ein Verhalten
im Sinne des Fanum bezeichnet, im anderen aber als Fanatismus, dann verwendet man
die antiethische Strategie der synonymischen Unterscheidung.

126
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 265.

63
Die Auflösung des einheitlichen Denkraumes in Perspektivismen ist
sophistisch.127 Das ist die Folge, wenn das göttliche Dikaion strittig wird und der
Mensch keine Autorität mehr hat, der er sich anvertrauen kann, weil er vermutet, dass
sie das Dikaion in ihrem eigenen Interesse auslegt, wie das bei Kreon der Fall zu sein
scheint, dem der Chor aus Eigeninteresse nicht offen widerspricht.

Dass Kreon nur Polyneikes einen Frevler nennt, obwohl Antigone in den
„Sieben gegen Theben“ beide Brüder gleichermaßen schuldig gesprochen hat128, ist
ein Indiz dafür, dass hinter seinem Dike-Anspruch eine persönliche Aversion gegen
seinen Neffen Polyneikes steckt. Und hinter Antigones Einstehen für ihn steckt wohl
auch eine Zuneigung gegenüber dem ungerecht Behandelten.

Ismene ist jetzt bereit, mit ihrer als Täterin entdeckten Schwester in den Tod
zu gehen. Sie wird von Antigone aber zurückgestoßen. Darin offenbart sich kein
Mitlieben, sondern im Dienste des Fanums dieselbe schroffe, fanatische, hysterische
und hybride Art, die auch Kreon eigen ist, der beide Mädchen als irrsinnig (vgl. V.
561) klassifiziert und damit wohl auch wieder zugleich seine persönliche Abneigung
offenbart. Solche Animositäten gehören zur Themis, zum Naturhaften, zum Menschen
im Urzustand. Die Ethik fordert aber, dass der Mensch diese Animositäten,
Perspektivismen und naiv-totalitären Automatismen bezähmen soll, denn erst durch
Empathie und Überwindung dieses Tierhaften wird der Mensch zum menschlichen
Menschen. Wer diese natürlichen Animositäten nicht bezähmt, sondern sich zu ihnen
vielleicht noch zynisch bekennt, der verstößt damit gegen die Goldene Regel und
gegen die Menschenwürde. Kreon sieht nicht, dass das Wort von den beiden irren
Mädchen auch auf ihn selbst angewendet werden könnte. Wer sieht, dass er mit seiner
Argumentation nicht durchkommt, hat in der Verteufelung des Kontrahenten als „irr“
einen bequemen Ausweg. So kann er sich weiterhin als den Vernünftigen sehen und
sein Selbstbild gegen kritische Gedanken abschotten.

127
Vgl. ebda.

128
Vgl. ebda, 266.

64
Der Mensch kann vom Menschlichen aber auch dadurch abweichen, dass er
autonom wie Gott über Gut und Böse urteilt und in dieser Hybris seine persönlichen
Interessen mit dem Guten und Göttlichen gleichsetzt und so für sich ein
Erkenntnismonopol beansprucht, was man als „Frevel“ bezeichnen kann. Für Kreon
hat nicht nur Polyneikes gefrevelt, sondern auch seine Schwester Antigone hat sich in
ihrer Hybris an Zeus vergangen.

Antigone hat bisher in den traditionellen Topoi vom unterirdischen Reich und
vom Recht der Hadesgötter argumentiert, das mit dem Recht der Themis, dem
Naturhaften, wenn nicht ident, so doch verwandt ist. Doch konnte sie ihren Onkel, den
König, der sich auf die Olympier beruft, nicht überzeugen. Deshalb ändert sie ihre
Argumentationsstrategie. Sie antwortet dem Onkel mit den berühmten acht Versen,
die die prototypische Formulierung des Naturrechts enthalten. Sie spricht vom
überpositiven Gebot, an dem sie sich bei ihrer Tat orientiert hat:

„Es war ja Zeus nicht, der es mir verkündet hat,


noch hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt,
je für die Menschen solche Satzungen bestimmt.
Auch glaubte ich, so viel vermöchte kein Befehl
von dir, um ungeschriebne, ewige, göttliche
Gesetze zu überrennen als ein Sterblicher.
Denn nicht von heut und gestern, sondern immerdar
bestehn sie: niemand weiß, woher sie kommen sind.“ (V. 450-457 in
der Übersetzung von Wilhelm Willige; vgl. oben Anm. 15)

Der Nomos des Naturrechts stammt also nicht von Zeus, aber auch nicht von
der Göttin Dike (vgl. V. 451129), die drunten im Hades wohnt. Dieser Nomos des
Naturrechts gilt von jeher, und kein menschlicher Nomos kann ihn je überholen. Wer
es sich dennoch zutraut, der ist ein maßloser, vermessener, frevelhafter, hybrider und

129
S.o. die griechische Fassung und die Übertragung von Norbert Zink.

65
fanatischer Mensch. Er ist es auch dann, wenn er Kreon heißt und König ist, und auch
dann, wenn er sich auf die Stimmung der Bevölkerung berufen könnte und wenn er
sich auf Zeus beruft.

Dike ist in diesen Versen also nicht die Beisitzerin im Gerichtssaal des Zeus
und auch nicht die Rachegöttin des Totengerichts im Hades. Dike ist hier also keine
so oder so personifizierte Gottheit, die immer nach dem Maß des Menschen
wahrgenommen wird, sondern Ausdruck eines „Anderen“. Sobald man versucht,
dieses Recht als staatliches oder staatenübergreifendes Recht festzusetzen, ist es nur
noch geschriebenes, kodifiziertes, oder ungeschriebenes Recht, das sich immer wieder
an diesem Anderen messen lassen muss, dem man sich im Diskurs aber auch in
Metaphern und Bildern nähern kann wie z.B. im Mythos von Zeus, der die Dike zur
Erde sendet, wie ihn Platons Protagoras erzählt (s.o.).

Die Dike des Naturrechts ist also keine „Satzungsgottheit“130. An dieses


Andere reicht kein Ideologiekritiker und keine Ideologiekritikerin heran, auch wenn
er bzw. sie dem in Wortform gegossenem Naturrecht zu Recht Leerformelhaftigkeit
unterstellt. Sobald dieses Andere aber in die Welt tritt, ist es tatsächlich dem
Leerformelverdacht ausgesetzt. Wie eine „Leerformel“ aufgefüllt wird, entscheidet
der Diskurs oder eine Autorität – oder das Gewissen, z. B. der Antigone. Im
Christentum könnte man etwas im weitesten Sinn Ähnliches beobachten, wenn man
Vater, Sohn und Heiligen Geist als Entfaltungen des Einen, des Tetragramms, sieht.
Die Dogmengeschichte ist dann das Bemühen, sich diesem Anderen als einem
Dauernden, zu nähern, sofern es nicht „schon vorhanden und gefunden“131 ist, wie Erik
Wolf den Gedanken des Dauernden im Zusammenhang mit der „Antigone“ formuliert.

Menschliche Satzungen sind vergänglich, wandelbar und zerstörbar; sie sind


ein Ergebnis nicht nur des ehrlichen Bemühens und des Gewissen, sondern auch der
Klugheit bzw. Cleverness, also etwas Gemachtes, hinter dem oft nur ein diesseitiger,
politischer Geltungsanspruch steht. Dagegen besitzt das Recht, auf das sich Antigone

130
Wolf, Rechtsphilosophie, 263.

131
Ebda.

66
beruft, nach Erik Wolf132 die Merkmale des Göttlichen und Dauerhaften, des
Ursprünglichen und doch auch des Gewachsenen, weil das Andere, Göttliche ja erst
vom menschlichen Menschen erkannt werden kann.

Das Merkmal des Gewachsenen ist deshalb wichtig, weil sich dieses Recht
nicht auf den Menschen im hordenhaften Urzustand bezieht, sondern auf den
Menschen, der sich aus dem Hordendasein herausentwickelt hat. Wenn Antigone das
Naturrecht auf den verstorbenen Bruder anwendet, es auf einen zukünftigen Ehemann
oder ein zukünftiges Kind aber nicht anwenden würde, dann könnte man ihr, wenn
ihre Aussage ernst zu nehmen ist, durchaus eine Nähe zum Hordenhaften unterstellen.
Die Themis ist dem Hordenhaften ja noch ganz nahe, sofern das Hordenhafte und die
Themis nicht überhaupt bloß synonymische Unterscheidungen sind.

Die Sophistik zur Zeit des Sophokles spricht dem Naturrecht die drei Merkmale
des Ursprünglichen, Dauerhaften und Höchsten zu. Für Sophokles gehören diese drei
Merkmale des sophistischen Naturrechts aber zum göttlichen Nomos: Das, was die
Sophisten in der Natur suchen, das Richtmaß, den legitimierenden, unvertilgbaren,
unverfügbaren Grund der politischen Nomoi, ist für Sophokles also „längst schon
vorhanden und gefunden“133, denn es ist ja der nicht auf Zeus und nicht auf den Hades
bezogene göttliche Nomos, der synonym mit dem göttlichen Dikaion ist. Das primäre
Naturrecht ist also vorgegeben, schon vorhanden. Das sekundäre Naturrecht muss der
Mensch dagegen suchen.

Dem Christen wird dabei vom Lehramt geholfen, das ihn anleitet, wie er auf
sein Gewissen zu hören hat. Auf Joseph Ratzingers Unterscheidung wurde schon
hingewiesen, und in dem ihm gewidmeten Teil der Arbeit wird auf diese
Unterscheidung Ratzingers noch genau und einlässig eingegangen werden.

132
Vgl. ebda.

133
Ebda.

67
V. 7. DAS SCHICKSALSLIED DES CHORES

Das Hybrislied hatte gezeigt, dass der stolze Mensch alles kann, nur das
Menschsein beherrscht er nicht so recht. Das Schicksals- bzw. Atelied sucht dafür nach
einer Ursache. Warum also finden Antigone und Kreon keinen in ihrem Fall zum
Greifen nahen Kompromiss, der das Dikaion des Natur- bzw. Gottesrechts
verwirklichen würde?

Der Chor sieht die Ursache in der Ate, dem bösen, schicksalshaft-
unvermeidbaren Verhängnis, das das Haus der Labdakiden heimsucht, seitdem Laios
heillos in eine für die Griechen der archaischen Zeit unnatürliche Knabenliebe
verstrickt worden war. – Wer ein Verhalten wie das von der politischen Autorität nicht
erlaubte Begraben eines Toten negativ beurteilen will, wie Ismene es tut (V. 558), kann
es mit einem sehr allgemeinen Ausdruck als einen Fehler, ein Vergehen, einen Irrtum,
also als Hamartia bezeichnen und damit vielleicht aus der Sicht eines strengen oder
misswollenden Beurteilers verharmlosen.

Der Chor dagegen, der die Hybris der negativen Handlung, das von der
Autorität nicht erlaubte Totenbegraben, im mythischen Rahmen sehen will, benennt
sie mit einer synonymischen Unterscheidung mit dem Namen der Ate (vgl. V. 584),
der Tochter des Zeus, die das Gemüt und den Geist des Menschen verblendet und so
Unheil über ihn bringt. Die Ate ist von den Urmächten schicksalshaft verfügt. Wer in
ihre Fänge gerät, bei dem herrscht nicht mehr die Menschlichkeit, der Logos, der Kopf,
die vernünftige Entscheidung, sondern Erinnys, das Blut, die Rache, der Rausch; und
dieser Erinnys kann er dann nicht mehr entrinnen. In seinem Hochmut wird er zum
verbohrten und fanatischen Rechthaber. In seiner Nebelwelt dünkt ihm dann das Böse
als gut und das Gute als böse (vgl. V. 622-624). So verwirren sich ihm die Begriffe,
und so wird die Dike verfehlt. Mit der Berufung auf ein Unverfügbares und
Schicksalshaftes wirbt der Chor um Verständnis für Antigone, indem er ihr Verhalten
aus dem Bereich des Bezugssystems der Ethik, also dem Bezugssystem der
Zurechenbarkeit und Verantwortbarkeit, herausnimmt. Um Kreon aber nicht zu
erzürnen, rät der Chor zugleich, sich an das Gesetz des ewigen, alterslosen Zeus und
seiner unvergänglichen Macht (vgl. V. 610-613) zu halten. Dieses Gesetz des Zeus,
68
auf das sich der Chor beruft, ist aber eine Anwendung des primären Naturrechts. Es ist
selbst immer noch ungenau und bedarf einer sorgfältigeren Argumentation. Eine sture
Behauptung, die eigene Position wäre im Einklang mit Zeus, die man dann mit Hilfe
von Deutungsmonopolen absichert, die man für sich als Basileus beansprucht,
entspricht nicht dem Standard des immer nur diskursiv ermittelbaren sekundären
Naturrechts.

Der Chor denkt und formuliert zwar noch in den alten mythologischen
Kategorien von Zeus und Ate, aber der Substanz nach entspricht seine ethische Lehre,
dass der Mensch die Hybris vermeiden soll, der ewigen, immer schon geltenden Lehre
des Naturrechts, wie es Antigone in ihrer Not formuliert hat. Diese Lehre entspricht
auch der Goldenen Regel, denn niemand will, dass ihm der andere Mensch hybrishaft,
hochmütig und arrogant gegenübertritt und folglich nur seine eigenen Maßstäbe und
Perspektiven zulässt, also mit einem doppelten Boden misst und damit das Gegenüber
in seiner Menschenwürde entwertet. Dann ist ein Dialog mit dem Niedrigen ja nicht
nötig, oder es erscheint bestenfalls ein wohlwollend herablassendes, asymmetrisches
Gespräch angebracht, sofern man den anderen nicht überhaupt stehen lässt und
ignoriert.

Wer hinter menschlicher Arroganz eine mentale Schwäche vermutet, will


durch diese Zuordnung der Hybris zu einer psychischen Kategorie vielleicht auch das
Bild, das er vom anderen hat, retten und es so vor einer moralischen Verurteilung
bewahren. Diese Rolle spielt im Schicksalslied wohl der Verweis auf die Ate. Der
Hinweis auf die Ate bzw. der psychologische Hinweis auf die potentielle mentale
Schwäche des Hybriden kann also durchaus ethische Wurzeln haben, aber auch bloß
eine psychologische Waffe sein.

Es ist aber auch möglich, dass beide Aspekte mehr oder weniger zutreffen. Der
Chor verficht ja einerseits seine politischen Eigeninteressen, sieht sich aber auch
andererseits als einen ethischen und psychologischen Kommentator des Geschehens.
Seine verschiedenen Intentionen sind nicht immer klar trennbar. Soweit er allgemeine
ethische Sentenzen verbreitet, wie z. B. die auch von Joseph Ratzinger herangezogene
Erkenntnis des Hybrisliedes, hat er die Rolle des auktorialen, olympischen Ethikers.
Das entspricht der Rolle des auktorialen Erzählers in der Epik, der ein Geschehen aus

69
einer olympischen Überschau beurteilt. Im Bezug auf den Chor trifft das auch dort zu,
wo er, wie im Atelied, das komplexe Geschehen auf ein überpersönliches Schicksal
zurückzuführen versucht.

Sobald es dem Chor aber um die ethische Beurteilung des konkreten Falles
geht, also um die Anwendung der ethischen Sentenzen in den Bereichen, wo auch die
Interessen des Chores berührt werden, wird er aufgrund seiner Interessenlage
parteiisch, mithin partiell blind, z. B. dort, wo er die dem Tod entgegengehende
Antigone – noch ist Kreon der Starke – nachruft, sie habe sich an der Dike vergangen
(s. u.).

Zwischen Kreon und Antigone kommt kein verstehendes, empathisches


Gespräch, kein Dialog zustande, sondern nur ein Streitgespräch, da beide auf ihrem
Bezugssystem beharren. Kreon beharrt auf dem Erkenntnismonopol, das er für sich als
Basileus beansprucht, und Antigone beharrt auf dem Bezugssystem des ewigen,
unabänderlichen und göttlichen Naturrechts des Menschen, der aus der blinden Natur
herausgetreten ist. Das Naturrecht spricht zum Menschen im geschulten Gewissen,
dessen Prinzipien jeder intuitiv erkennen kann, mag die Anwendung auch häufig
strittig und folglich diskursbedürftig sein.

Auf wessen Seite stellt sich der Chor? Obwohl er aus Adeligen besteht, die zur
Klientel Kreons gehören und die von Kreon nach ihrer politischen Zuverlässigkeit
ausgewählt wurden, lässt sich diese Gruppe nicht zum Echo des Basileus erniedrigen.
Der Chor sieht deutlich, dass der Mensch, dem Ate das Wahrnehmungsvermögen für
die natürliche Sittlichkeit geraubt hat, zwischen dem ethisch Wertvollen und dem
Bösen nicht mehr klar unterscheiden kann, sondern die Begriffe solange dreht und
wendet, bis sie nicht mehr Ausdruck des an sich Guten sind, sondern nur noch
Ausdruck seiner Interessen. Das ist eine deutliche Anspielung auf die
Auseinandersetzung zwischen Kreon und Antigone.

Der Chor hält sich aber insofern bedeckt, als er sich nicht festlegt, wer denn
nun unter einer Begriffsverwirrung leidet, Antigone, von der auch ihre Schwester
gesagt hat, dass sie irre ginge, oder ihr Onkel Kreon. Damit ist der Chor dem Basileus
gegenüber neutral, denn Zustimmung erhält der Basileus nur in Bezug auf schöne
sprichwörtliche Wendeworte, auf sentenzenhafte Leerformeln (Gnome), aber nicht
70
dann, wenn es um die Konkretisierung geht. Das ist diplomatisch. Ethisches
Argumentieren müsste sich um die mühsamen und konfliktträchtigen
Differenzierungen und Konkretisierungen bemühen.

V. 8. DIE VORSTELLUNGEN KREONS UND HAIMONS VON DEN ETHISCHEN


PRINZIPIEN DES ZUSAMMENLEBENS IN DER POLIS

Als Haimon auftritt, der Verlobte der Antigone und doch auch der letzte
überlebende Sohn des Herrschers, dann fragt sich der Zuseher, ob bei Haimons
Stellungnahme zum Geschehen der Eros den Ausschlag geben wird oder die
Blutsverwandtschaft oder eine Politik, die nicht nur klug und konsequentialistisch
nach den augenblicklichen oder langfristigen Stärkeverhältnissen fragt, sondern auch
das natürliche sittliche Empfinden befragt.

Kreon erwartet von seinem Sohn, dass er in allem den Ansichten, Begriffen
und Bewertungen des Vaters folgt, d.h. den Begriffen patriachalischer
Herrschaft (vgl. V. 639-680). Hier herrscht der Vater über die Frauen, Sklaven und
Kinder des Hauses so, wie die anderen Adeligen bzw. Oligarchen ihre Häuser und,
unter der Leitung des Basileus, die Polis beherrschen. In diesem Bezugssystem ehren
die Söhne die Freunde der Väter und vergelten dem Feinde seine Übeltaten (vgl. V.
641-644): Gut und Böse scheinen in diesem System klar nach Schwarz und Weiß
aufgeteilt. Der Feind wird also prinzipiell als der Üble gesehen; darüber wird kein
einziges Mal reflektiert. Diesem Denken, das grundsätzlich von der Polis aus
argumentiert (polisübergreifend und universal wird erst der Hellenismus denken),
muss sich auch das weiblich-religiöse Sippenempfinden der Antigone einordnen,
möge es sich auch, wie Kreon spottet, auf Zeus, den Beschützer der Sippe (vgl. V.
659), berufen.

Deshalb lässt er Antigone hinrichten, mag sie zu Zeus beten, so viel sie will.
Und wenn Haimon Kreons Polarisierungen und Verteufelungen widerspricht, wird
ihm nicht zugestanden, dass er die Entscheidung des Vaters argumentativ nach Pro
und Contra reflektiert, sondern es wird ihm vorurteilshaft erotische Verblendung und
71
Weiberdienerei (vgl. V.756) unterstellt. Er wird also ins reflexhafte Freund-Feind-
Denken des Patriachalismus eingereiht, ohne dass näher darüber reflektiert wird, ob
der so Abgestempelte nicht vielleicht doch aus einer dritten Position urteilt, nämlich
vom unparteiischen Standort des ethischen Empfindens oder zumindest vom
Standpunkt der politischen Klugheit.

Kreon betont den inneren Zusammenhang von Mannesherrschaft,


Hausherrschaft und Polis, die er als erweiterte Hausherrschaft auffasst134: Wer sich im
Kreis des Häuslichen als fester Mann, als ein Chrestos, bewähre, der zeige sich auch
im Staate stets gerecht, dikaios (vgl. V. 661). Er werde im „Sturm der Speere“ (V. 670)
ein guter und gerechter Kamerad sein (vgl. V. 668-671). Das ist keine
universalistische, sondern eine männerzentrierte, partikulare Ethik.

Kreon setzt das Rechtliche, das Dikaion, mit dem Recht im Sinne des Gesetzes,
des Nomos, totalitär gleich: Er beansprucht als Basileus die Herrschaft über die
Begriffe von Recht und Unrecht. Wer sich mit seiner Begrifflichkeit nicht identifiziert,
sondern andere Wortbedeutungen festzusetzen versucht, den verteufelt er als einen
Vergewaltiger des Nomos (vgl. V. 663-665), der „meint, daß er den Führenden
befehlen“ (V. 664) dürfe. Kreon denkt also im Bezugssystem militärischer
Hierarchien. Und diese militärische Logik sucht er in den Bereich der Ethik und des
Rechtsdenkens auszuweiten. Diese Systematisierung empfindet er als das Herstellen
von Ordnung. Hier hat der Hausvater den Code zu bestimmen, wenn nicht Chaos und
Anarchie ausbrechen sollen (vgl. V. 672). Wo sich Zügellosigkeit ausbreitet, gehen
das Haus und die Polis zugrunde. „Drum gilt’s zu schützen, was der Ordnung dienen
will / und einem Weibe niemals untertan zu sein.“ (V. 677f.)

Der Basileus entwirft ethische Prinzipien einer geordneten und folglich


funktionsfähigen Polis, denen der Chor zustimmt, weil sie ihm vernünftig begründet
erscheinen (vgl. V. 681f.). Die von Kreon herausgeforderte Antigone denkt zwar in
ebenso schroffen ideologischen Antithesen wie Kreon, sie hat aber nie beansprucht,
Kreons Lehrmeister zu sein, sie hat sich nur auf das oberpositive Naturrecht von Dike
und Themis berufen, das im Fall des Begräbnisverbotes auch dem positiven Recht

134
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 269.

72
Thebens entspricht. So wie Kreon in Bezug auf eine politische Opposition das Gras
wachsen hört, so sieht er hinter einem simplen Anspruch auf Einhaltung der Gesetze
schon die Gefahr einer Frauenherrschaft.

Kreon aber fordert provokant, dass der von der Polis eingesetzte Basileus auch
dann das Recht auf absoluten Gehorsam hat, wenn er etwas fordert, das ungerecht und
nicht dikaion ist (vgl. V. 666f.). Er setzt sich selbstherrlich und reflexhaft mit der Polis
und dem Göttlichen gleich. Diese Hybris gipfelt in einer Reihe von rhetorischen
Fragen. Kreon: „Die Sache wäre, daß man die Empörer ehrt? / […] Ist die da drin von
[…] Krankheit nicht durchseucht?/ […] Soll denn die Stadt mir sagen, wie ich
herrschen muß? / […] Soll es nach andren oder mir gehn hier im Land? / […] Gilt
denn der Staat nicht als des Herrschers Eigentum?“ (V. 734-739)

Haimon ist bereit, sich von seinem Vater lenken zu lassen; allerdings nicht
bedingungslos, wie sich Kreon das vorstellt, sondern nur dann, wenn Kreons
Gedanken (Gnome) gut, rechtschaffen und von „edlem Sinn“ (V. 635) geprägt sind
und er ihn „auf rechtem Wege“ (Zink, V. 638, für „kalos“) führt. Das ist kein absoluter
oder blinder Gehorsam, sondern ein überlegter, der sich dem sittlich Guten der
Kalokagathie verantwortlich fühlt. An diesem ober- bzw. überpositiven Wert prüft er
die väterlichen Vorgaben. So wird er ein mündiger Mensch. Es ist für ihn zwar schön,
wenn er seinem Vater folgen kann, aber nur dann, wenn das Denken des Vaters im
Sinne der Kalokagathie auch gut und edel ist.

Woher weiß er aber, was sittlich wertvoll ist? Er weiß es offenbar aus derselben
Quelle, aus der auch Antigone und die Menschen der Polis schöpfen, wenn sie Kreons
Politik oder sonst einen willkürlich festgesetzten Nomos beurteilen, nämlich aus der
intuitiv, also mit dem Gewissen erfassten und danach gewissenhaft und diskursiv
abgeklärten natürlichen Sittlichkeit, von der man allerdings weiß, dass sie durch
Interessen und durch Selbstgerechtigkeit zum Schweigen gebracht werden kann. Bei
diesem Diskurs handelt es sich um ein inneres Pro und Contra oder um eine
gewissenhafte Erörterung im Dialog mit Gesprächspartnern. Zwar kennt man im
fünften Jahrhundert vor Chr. den expliziten Gewissensbegriff noch nicht, der
Sachverhalt ist aber schon bekannt (s.o.).

73
Der Chor hat das konservativ-patriachalische Weltbild Kreons wohlbegründet
genannt, und auch Haimon, der soeben aus der Stadt zurückgekehrt ist, stellt das
väterliche Weltbild nicht in Frage. Er berichtet aber, dass man dem Basileus dort in
der Stadt zwar nicht offen zu widersprechen wage, dass das Todesurteil jedoch
heimlich missbilligt werde (vgl. V. 695). Der Vater solle auf diese Stimmen hören,
sich beraten lassen und dann selbstständig und vernünftig entscheiden. Die höchsten
Güter seien Vernunft und Besinnung, die zur Natur des Menschen gehören und das
edelste Geschenk der Götter seien (vgl. V. 683f.). Kreon muss nach der vom Chor (vgl.
V. 681f.) und der von Haimon (vgl. V. 685f.) akzeptierten patriotischen Weltsicht zwar
das letzte Wort haben, aber immer nur im Rahmen des ganzen Nomos, nicht eines von
ihm nach eigenem Geschmack willkürlich ausgelegten Nomos.

Diese Vertrauenswerbung ist jedoch vergeblich. Kreon bringt dagegen in der


schon zitierten Stichomythie sachfremde Argumente ins Spiel: Er will sich von einem
jungen Mann nicht „das Denken lehren lassen“ (V. 727), obwohl das Differenzieren
und die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel insofern altersunabhängig sind, als sie
schon Achtzehnjährige beherrschen können. Kreon ist gegen die Ehrung von
Empörern (vgl. V. 730), obwohl Polyneikes genauso gut oder mehr noch als Kreon als
jemand gesehen werden kann, der ehrlich um sein Recht streitet. Kreon sieht in
Antigone eine Irre, die von einer Krankheit verseucht ist (vgl. V. 733), obwohl man
diese Dämonisierung auch auf ihn selbst anwenden könnte. Es handelt sich hier nicht
um eine Sachfrage, sondern um eine Definitionsfrage. Wenn man den Begriff „irr“ im
weiten bzw. metaphorischen Sinn auffasst, sagt er nur aus, dass ein anderes
Wertsystem deshalb abgewertet wird, weil man sich mit ihm nicht verständigen kann,
weshalb man es von sich mit Hilfe von Vokabeln wie „irr“, „wirr“, „wahnhaft“,
„irrational“, „unvernünftig“ usw. abwehrt, weil ein auf Konsens ausgerichteter
ethisch-vernünftiger Diskurs aufgrund unterschiedlicher Interessen oder dergleichen
unmöglich scheint und weil man die Ursache dafür nicht bei sich selbst suchen möchte.

Kreon ist dagegen, dass ihm die Stadt sagt, wie er herrschen soll (vgl. V. 735),
während es in Wirklichkeit darum geht, dass er seiner Aufgabe als Hüter des in der
Stadt unter vorgehaltener Hand erörterten und allgemein akzeptierten göttlich-
naturrechtlichen Nomos nachkommen soll. Er stellt Besitzansprüche (vgl. V. 738) und
wirkt folglich nicht integrierend, sondern wie ein Tyrann.
74
Vor allem aber versucht er, das überpositive Recht, das die positiven Normen
überhaupt erst legitimiert, zu instrumentalisieren, indem er sich je nach seiner
augenblicklichen Lage einmal auf Zeus beruft, den er dann aber wieder als so fern
darstellt, dass er vom Menschen nie beleidigt werden kann, auch wenn man seinem
ungeschriebenen Nomos zuwider handelt. Nach der Logik des Dramas werden die
Götter aber beleidigt, wenn man ihren Gesetzen, dem göttlichen Gesetz der natürlichen
Sittlichkeit, dem Naturrecht, zuwiderhandelt. Deshalb verwerfen sie auch die Opfer,
die ihnen vom blinden Priester im Namen des Basileus dargebracht werden.

Abgesehen vom Ungehorsam gegenüber dem Naturrecht missbraucht Kreon


das Postulat vernünftiger Kommunikation, indem er seine eigenen Argumente
einäugig mit dem Etikett des Vernünftigen versieht, den Gesprächspartner aber als
unvernünftigen, sinnlosen und verrückten Schwätzer (vgl. V. 754-756) abtut. Er sieht
sich einer Rebellion, einem Religionsfrevel gegenüber und, „beim Olympus droben“
(V. 758), wie er sagt, in seinem heiligen Herrscheramt (vgl. V. 744) verhöhnt (vgl. V.
759). Kreon beruft sich als König also auf seine Dike135, die Heiligkeit seines Amtes.
Und auch der Königsohn Haimon beruft sich auf seine Dike, auf das Dikaion des
Hades (vgl. V. 749).

Er hat das ganze Gespräch über beim Vater um Vertrauen geworben und hat
sich aus seiner Sicht an die Themis gehalten, an die natürliche Anhänglichkeit an den
Vater, wie sie für ein Kind üblich und wie es vom primären Naturrecht gefordert ist.
Kreon aber will das Mädchen vor den Augen seines Bräutigams töten lassen, ohne auf
Haimon Rücksicht zu nehmen. Damit ist die Basis für ein vernünftiges Gespräch
zerstört, und Haimon geht nun ab mit den Worten, jetzt könne der Vater rasen „mit
Freunden, die gefügig sind“ (V. 765). Damit klassifiziert er seinen Vater so als irr, wie
der Vater die beiden Mädchen als irr bezeichnet hatte.

Die Diskursethik funktioniert also meist nur innerhalb der eigenen moralischen
Gemeinschaft, die auch eine globale Gemeinschaft sein kann. Sie versagt mithin oft
dort, wo es um „hard cases“ geht, also dort, wo jemand fundamentale Interessen
durchsetzen oder verteidigen will. Sie versagt also dort, wo es um eine maßlose, irre

135
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 272.

75
und verbohrte ideologische oder materielle angebliche Selbstbehauptung geht, die aber
möglicherweise im guten Glauben, also mit irrendem Gewissen als angeblich
„moralisch“ verhüllt und verbrämt wird, weil man sich in den Kontrahenten nicht
einfühlen will oder kann, weil man ein naiver egoistischer Absolutist ist.

Im Extremfall sind die Reziprozitätsforderung der Goldenen Regel und die


Forderungen der vier kategorischen naturrechtlichen Gebote nur noch Ideologie, also
nur noch Instrumente einer naiven oder gar zynischen Ichbesessenheit bzw. Hybris,
die man nur dort einsetzt, wo sie einem nützen. Handke erzählt von einem
randständigen Mann in einer Pariser Kaschemme, den er sagen lässt: „,Wenn ich im
Recht bin, rege ich mich auf – wenn ich im Unrecht bin, lüge ich.‘“136 Solch eine
ethische Skrupellosigkeit gibt es in der „Antigone“ noch nicht, und zwar bei keiner
einzigen Figur, auch nicht bei Kreon. Insofern ist die Welt des Sophokles und seines
Kreon noch naiver als das Weltbild von gerissenen Menschen, die das Böse mit klarem
Bewusstsein oder gar mit Lust betreiben. Dort ist auch das positive Recht nur noch ein
Instrument der Naiven und ihrer zynischen Freunde. In der „Antigone“ gibt es aber
keinen Hinweis auf eine bewusste ethische Skrupellosigkeit, von der Art des Marquis
Posa in Schillers „Don Carlos“, und zwar bei keiner einzigen Figur, auch nicht bei
Kreon. Insofern gehört das Werk nach der bekannten Diktion Friedrich Schillers137 zur
naiven Klassik im Gegensatz zur zynischen Moderne, die das Naive instrumentalisiert
bzw. dessen Verlust sentimentalisch betrauert.

V. 9. ETHIK UND IDEOLOGIE DES CHORES

Antigone hat sich auf den liebevollen Einwand ihrer Schwester, dass sie das
Menschenunmögliche begehre (vgl. V. 90), zur Unverständigkeit, also zur
„Unvernunft“ und zum Ungeheuren eines edlen Todes bekannt (vgl. V. 95-97), und

136
Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers. Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989
(=suhrkamp taschenbuch 1668), 63.

137
Über naive und sentimentalische Dichtung.

76
der Chor hat im Hybrislied bestätigt, dass der Mensch etwas Unheimliches, Irres und
Ungeheures an sich hat. Nach dem Abgang Haimons versichert sich Kreon des Chors
der gefügigen Freunde, indem er seinen Sohn als jemanden abwertet, der das Maß
nicht vom Menschen nehme (vgl. V. 778) und der „vergebens Unterirdische verehrt“
(V. 780). Kreon tritt ab, und nun nennt der Chor den Eros als den Urschuldigen am
Streitfall. Zwar ist die Urschuld bei Kreon zu suchen oder bei Polyneikes oder bei
Eteokles oder schon bei Laios und der Ate, man kann sie perspektivisch verkürzt aber
auch in der Liebe Antigones zu ihrer Familie sehen oder in der Liebe Haimons zu
seiner Braut. Das hängt davon ab, wen man auf Grund von subjektiver
Voreingenommenheit oder auf Grund eines psychologischen Konzepts moralisch
belasten oder entlasten will. Dementsprechend wird man vom Schicksal (Ate) oder
von Irrtum bzw. mehr oder weniger großer moralischer Schuld (Hamartia) sprechen.
Wie schon Kreon, so fehlt auch dem Chor jene Fähigkeit zum Perspektivenwechsel,
die Ismene (ansatzweise) und Haimon haben und die die Bedingung verantwortlicher
Kommunikation und einer Ethik ist, die man als transitorisch138 bzw. als eine
dialektische Ethik bezeichnen kann.

Der Chor sagt, dass Eros den Gerechten zur Adikia, zur Ungerechtigkeit,
verführe (vgl. V. 791f.). Damit verdreht er aber die Sachlage, denn Haimon hat nicht
aus blinder Liebe gehandelt, sondern seine Worte sorgfältig abgewogen, also mit
Einsicht und Vernunft gesprochen. Haimon orientiert sich am Dikaion im Sinne des
Naturrechts und der Gesamtpolis. Dagegen wird ihm vom Chor der Mächtigen
erotische Triebhaftigkeit unterstellt. Wenn der Chor Haimon zubilligt, dass er der
natürlichen Macht der Themis verfallen sei, gibt er sich den Anschein eines
wohlwollenden, aperspektivischen Betrachters, zeigt aber, dass es ihm in Wirklichkeit
an einer souveränen Überschau mangelt. Der Chor hat im Hybrislied und im
Schicksals- bzw. Atelied große Worte gefunden und vor vorschnellen Verurteilungen
gewarnt. Jetzt zeigt sich, dass er selbst interessenbedingt verblendet ist. Er sieht nur
einen Aspekt, den des Eros und mithin der „Irrationalität“ Haimons, er sieht aber nicht,
dass Haimon vernünftige Argumente vorbringen kann. Ob bei Haimon die Vernunft
oder die Emotion, der Eros, das Primäre ist, könnte erst dann entschieden werden,

138
Vgl. F. W. Menne, zit. Nach Neuhold, Ideologie, 360.

77
wenn Vernunft bzw. Emotion zu deutlich unterscheidbaren Handlungen motivieren
würden. Da das nicht der Fall ist, kann der Beurteiler willkürlich den einen oder
anderen Aspekt hervorheben oder verabsolutieren. Das hängt von seiner Intention ab.

Kreon hat das auf Steinigung lautende Todesurteil gegen Antigone aufgehoben
und das Mädchen zum Tod in der Felsenkammer begnadigt, so dass der Tod nicht
durch einen Steinhagel der Polisbevölkerung eintritt und die Polis am Tod der
Antigone in der zugemauerten Felsenkammer insofern „unschuldig“ ist. Dahinter steht
die naive psychologische bzw. atavistische Vorstellung, dass man für einen absichtlich
„indirekt“ herbeigeführten Tod moralisch weniger verantwortlich wäre und also
reinere Hände hätte, als wenn man den Tod direkt durch die eigene Hand herbeigeführt
hat.

Als Antigone auf ihrem letzten Weg zum Felsengrab am Chor der Geronten
vorbeikommt, erhofft sie sich von ihm, dass er das Dikaion ihres Tuns bestätigt. Aus
der Perspektive dieser Oligarchen ist sie aber wegen ihres verwegenen Tuns am Sockel
der Ordnungsgöttin Dike angestoßen (vgl. V. 853-855). Das ist eine einseitige und
verkürzte Perspektive, die ihren Grund im Opportunismus der Etablierten hat. Sie sind
unfähig, hinter Antigones Tat den Eros, die Liebe zum Bruder, zu erkennen. Auf den
Begriff der Themis kommt der Chor nicht.

Dieser Chor der Oligarchen hat sich im Hybrislied zur Menschlichkeit bekannt,
also dazu, dass der Mensch die Menschenwürde des anderen achten soll. Jetzt ist für
ihn nicht Kreon, sondern Antigone hybrid, und das begründet er so: „Der Macht […],
der Macht gebührt“ (V. 873), darf keiner trotzen, auch nicht im Namen eines
überpositiven Dikaion. Wenn sich Antigone dennoch auf „ungeschriebne, ewige,
göttliche / Gesetze“ (V. 454f.), also auf eine vorpositive, also natürliche und göttlich
legitimierte Sittlichkeit beruft, mithin auf eine im Rahmen einer von Natur aus
möglichen, nichtutopischen Menschlichkeit, so gilt ihm das als eigensinnig. Antigone,
so behauptet er, „stürzt ein eigenwillig Trachten“ (V. 875), und sie stirbt folglich „nach
eignem Gesetz“ (V. 821). Und damit hat er vielleicht gar nicht so Unrecht.

Er ahnt vielmehr etwas Richtiges, denn Antigone handelt nicht nur aus
naturrechtlichen Überlegungen, sondern auch aus Liebe zu ihrer Familie. Also nicht
nur aus Pflicht, sondern aus Zuneigung. Die naturrechtliche Argumentation ist zwar
78
sekundär, aber nicht im Widerspruch zum entscheidenden Motiv, dem Erosmotiv. Das
kann der Chor aber noch nicht wissen, da Antigone erst später zwischen Liebe und
Liebe unterscheiden und sagen wird, dass die Liebe zu einem potentiellen Ehemann
oder Kind nicht so groß wäre, dass sie dafür in den Tod ginge.

Man sollte aber nicht sagen, dass sie das Naturrecht für sich selbst
zurechtschneidet im Sinne eines eigenwilligen Trachtens und einer
Eigengesetzlichkeit, denn das Naturrecht verlangt nicht, dass man für das rituelle
Begraben eines Verwandten sein Leben opfert. Das Opfer des Lebens aus Liebe zu
den Seinen ist etwas Supererogatorisches. Wenn der Chor sagt, Antigone sterbe nach
eigenem Gesetz, dann hat er insofern Recht, als es sich um das Gesetz der Liebe und
der Themis handelt. Mit Abstraktionen wie der vom „eigenen Gesetz“ kann man also
vieles so drehen, dass es ins eigene Konzept passt, sei es das Konzept der Antigone
oder das des Chores.

Der Chor hat behauptet, dass man der Macht nicht trotzen darf, der die Macht
gebührt. Dabei bleibt aber offen, wer denn „der Macht […], der Macht gebührt“ (V.
873), die Legitimation erteilt hat. Im Falle Thebens ist es aus der Sicht des Chores der
Etablierten offensichtlich schon der Besitz der Macht, der die Macht legitimiert. Und
die endgültige Legitimation erteilt aus der Sicht der Oligarchen erst der Chor der
Oligarchen selbst, der gemeinsam mit Kreon die Macht besitzt, und zweitens eine
ideologisch verfremdete Religion, die an das patriachale Herrschaftssystem gebunden
wird. Diese Instrumentalisierung der Religion dient dem, was man als „Absicherung
nicht gerechtfertigter gesellschaftlicher Macht durch die Religion“139 bezeichnen
kann. Solch eine Instrumentalisierung von Religion ist das Gegenteil von
Wahrhaftigkeit, Lebendigkeit und Transitorität. Sie ist, wie im Falle des Chores, mit
der Anwendung synonymischer Unterscheidungen verbunden.

Als sich der Priester dann gegenüber dem Basileus, der gemeinsam mit dem
Chor der Oligarchen der Träger der Staatsgewalt ist, explizit auf die wahre göttliche
Macht beruft (vgl. V. 1064-1090) und davon spricht, dass sich der König eine göttliche
Dike anmaßt, wenn er es zulässt, dass Tote dadurch entweiht werden, dass man wilde

139
Neuhold, Ideologie, 359.

79
und verwilderte Tiere sich an ihnen sattfressen lässt, da kommt der Chor zur Besinnung
und ruft Kreon auf, mit sich zu Rate zu gehen (vgl. V. 1098). Die Geronten rufen den
Heilgott Dionysos an. Sie bitten ihn, er möge die von übler Gewalt kranke Polis heilen
und läutern (vgl. V. 1141). Es ist aber zu spät.

Der Chor hat zu Beginn des Dramas zwar gemahnt, sich ans Gesetz zu halten,
es aber so zurückhaltend formuliert, dass Kreon die Worte des Chors naiv im Licht
seiner eigenen Interessen auslegen konnte. Und am Ende wird Antigone vom Chor
zwar bedauert, aber allein gelassen. Wenn sie irre gegangen ist, so ist das aus seiner
Sicht ihre eigene Schuld, weil sie ja autonom gehandelt habe und ihr Tod folglich nur
die Folge der Wahrnehmung ihrer Autonomie sei. Der Chor verwendet hier das
Instrument der synonymischen Unterscheidung: Er bezeichnet Antigones Handeln, das
im Namen des überpositiven Nomos geschieht, als autonom, weil es sich nicht an die
Nomosfestsetzung des Basileus hält. Der Chor weiß, was Recht und was Unrecht ist.
Er hat dem König zu Beginn des Dramas ausdrücklich gesagt, dass der König das
Recht nur interpretieren, aber nicht ins Gegenteil verkehren darf. Trotzdem dreht er
den Begriff der Autonomie, der Eigengesetzlichkeit (vgl. V.821) willkürlich so, dass
er seinen eigenen Interessen entspricht. Mit solchen Verdrehungen könnte man jeden
Widerstand gegen totalitäre Strukturen welcher Art auch immer denunzieren. Dass
Antigone tatsächlich insofern teilweise autonom handelt, als sie ihre
supererogatorische Selbstverpflichtung zum Begräbnis auch um den Preis des eigenen
Todes nur auf ihren Bruder bezieht, aber nicht auf einen potentiellen Ehemann und ein
potentielles Kind, hat mit dem Autonomiebegriff des Chores nichts zu tun. Außerdem
weiß er von dieser Differenzierung der Antigone nichts.

Der Chor hat im Hybrislied davon gesprochen, dass es schwer ist, ein Mensch
zu sein. Er kennt also das Grundprinzip sittlichen Handelns, versagt aber bei der
Anwendung in einer konkreten Situation, obwohl sein Naturrecht auf eine
angemessene Selbstbehauptung als Oberschicht wahrscheinlich gar nicht berührt wird,
denn gegen die Gruppe der Mächtigen kann Kreon natürlich nicht so selbstherrlich
vorgehen wie gegenüber der scheinbar vereinzelten und isolierten Antigone. Er kann
die einzelnen Glieder aber gegeneinander ausspielen, wie er es ja schon bei der
Einberufung des Chores insofern getan hat, als er nur die Jasager zur
Informationsausgabe bzw. Beratung zusammengerufen hat.
80
Auf der einen Waagschale ist das Leben der Antigone, auf der anderen das
Interesse des Chores, vom König dem übrigen Adel weiterhin vorgezogen zu werden.
Den Großen der Polis ist die Erhaltung der herausgehobenen Position und der
Privilegien wichtiger als ein Menschenleben. Die Selbstbehauptung der Geronten ist
eine Selbstbehauptung in einem sehr weiten Sinn, der moralisch nicht mehr zu
verantworten ist, es sei denn, es stehe auch das Leben der Choreuten auf dem Spiel.

Der Phylax und seine Kollegen hätten Antigone nur um den Preis des eigenen
Todes (vgl. V. 308) zu decken vermocht. Aber diese Wächter dachten gar nicht so
weit, dass sie Antigone, der von ihrer Familie her Befleckten, heimlich helfen könnten.
Ihre Sicht ist nur die des Königs, wonach Polyneikes für den Krieg der Sieben gegen
Theben verantwortlich ist. Und folglich ist für sie Kreons Bestattungsverbot legal und
Antigones Handlungsweise illegal.

Der Chor steht zwar genauso unter der Todesdrohung wie der Phylax und seine
Kollegen. Allerdings hat er andere Voraussetzungen als die kleinen Funktionäre rund
um den Phylax. Der Chor kennt die Rechtslage und hat den König auf die Rechtslage
aufmerksam gemacht. Wo es dem Chor um die Erhaltung seiner Vorzugsstellung geht,
wechselt er das Bezugssystem: Er beruft sich nicht mehr auf das Recht, das vom
Mächtigen angewendet und geschützt werden soll, sondern deutet das als rechtmäßig
und als gerecht, was dem Mächtigen nützt. Er wechselt mithin vom Bezugssystem des
Rechts zum Bezugssystem der Macht. Das könnte er als das natürliche Recht, als das
Naturrecht des Mächtigen, beschönigen. Dann wird das Recht zu einer Funktion der
Macht, mit der sich die Macht absichert. Die Polis, zu der auch die Wächter gehören,
sind dann nur noch Spiel-und Manipulationsmaterial im Dienste des Königs und seiner
Oligarchen. Aber noch gibt es selbstständige Denker wie Haimon und den Priester
Teiresias, und noch glaubt das Volk an das Naturrecht im Sinne einer natürlichen
Sittlichkeit, das noch über dem „Naturrecht“ der Mächtigen steht.

81
V. 10. ANTIGONES DOPPELTER ETHISCHER MAßSTAB

Als Antigone auf ihrem letzten Weg zum Felsengrab am Chor der Aristoi
vorbeikommt, aber den von ihr erwarteten Zuspruch, im Sinne der Dike gehandelt zu
haben, nicht erhält, fühlt sie sich missverstanden. Da sie sich so ganz verlassen fühlt,
stellt sie sich in einen mythischen Zusammenhang hinein, um wenigstens ein wenig
menschliche Gemeinschaft zu spüren: Sie vergleicht ihr Leiden mit dem der Niobe,
der verfluchten Tochter des verfluchten Giganten Tantalus, wird vom Chor aber
verhöhnt, weil Niobe als eine hybride Gestalt gilt. Durch den Vergleich mit der
überheblichen und auch deshalb leidenden Niobe charakterisiert sich Antigone ja
selbst indirekt als überheblich.

Der Chor bringt für Antigone also kein Verständnis auf. Antigone fühlt sich
verflucht (vgl. V. 862-867) und von Ate verfolgt. Sie hat das sittlich Gute getan und
wird deshalb verspottet und getötet. In ihrer Not ruft sie sogar die Bäume des heiligen
Hains an und die Quelle des Dirkebaches, der Theben mit Wasser versorgt (vgl. V.
845).

Sie weiß, dass sie den Spruch des Königs übertreten hat, fühlt sich aber im
Recht, weil sie das getan hat, was der göttlich-unterirdischen Dike zukommt (vgl. V.
921). Sie hat für ihren Bruder den Nomos des Basileus übertreten und ihr Leben
gewagt, das sie für kein eigenes Kind (!) und für keinen Gatten aufs Spiel gesetzt hätte.
Damit gibt sie Kreon zwar nicht nachträglich Recht, aber es zeigt sich, dass er sie
vielleicht doch nicht völlig falsch eingeschätzt hat. In der Todesnot argumentiert sie
nicht mehr rational und naturrechtlich, sondern greift auf die mythisch gebundene
Argumentationsform zurück, auf die sie in ihrer Kindheit geprägt worden ist. Das zeigt
sich auch darin, dass sie das Wasser und die Bäume wie ein Kleinkind animistisch
beseelt und anredet. Und in dieser Situation des Regredierens auf den Status eines
Kleinkindes sagt sie die Worte, dass sie für ein etwaiges Kind das supererrogatorische
Opfer ihres Lebens nicht auf sich nähme. Insofern wird jede Aussage durch den
situativen Kontext gewichtet. Und das müsste in jedes moralische Urteilen und Richten
einbezogen werden.

82
In ihrer Not denkt Antigone in den numinosen Kategorien der Erdtiefe. Das ist
ein Denken, das die Blutsverwandtschaft mit der Herkunftsfamilie höher bewertet als
das Band der Ehe und sogar der Mutterschaft. Das ist ein archaisches und atavistisches
Denken.

Antigone fühlt, dass ihr Handeln und ihre Begründung ungeheuerlich sind (vgl.
V. 915), aber doch einem „Naturgesetz“ (V. 913 in der Übersetzung Zinks)
entsprechen. Damit sind wir bei der Natur des Naturrechts, die jeder bzw. jede ethisch
Argumentierende mitbedenken muss, der bzw. die auf eine empirisch tragfähige Ethik
setzt und jeden utopischen Rigorismus vermeiden und also eine lebendige und lebbare
Ethik will. Allerdings gilt auch, dass aus der Natur, der Empirie, dem Sein, noch nicht
auf ein sittlich akzeptables Verhalten geschlossen werden darf, wenn man den
naturalistischen Fehlschluss vom Sein auf das Sollen vermeiden will.140

Für Antigone gebietet die Themis offensichtlich nur das Begraben ihres
Bruders, aber nicht das Begraben eines Kindes, das sie noch gebären könnte. Diese
Naturmacht der Themis, so denkt Antigone, sei stärker als die Dike, von der der
politische Nomos abgeleitet wird. „Das und nur das allein setzt Antigone gegenüber
Kreon wirklich ins Recht“141, so urteilt Erik Wolf.

Das Dikaion, das Gerechte, kennt auch Ausnahmen. Es ist diskursiv erörterbar
und entspricht nach meinem Erachten den sekundären Naturrechtsprinzipien, die in
der Einleitung den vier naturrechtlichen Primärprinzipien nachgeordnet werden.
Dagegen gelten die Themis und die vier naturrechtlichen Primärprinzipien
kategorisch. Es ist allerdings fraglich, ob das Begräbnisgebot, das von Erik Wolf der
Themis zugeordnet wird und das einer Anwendung des zweiten naturrechtlichen
Primärprinzips entspricht, der gegenseitigen Achtung von Eltern und Kindern, auch
unter Todesdrohung kategorisch gilt. Wenn das der Fall wäre, würde Antigone
nämlich nicht supererogatorisch handeln und Antigones rüde Beschimpfung ihrer
Schwester würde verständlich sein. Aus ihrer eigenen Sicht handelt Antigone ja nicht

140
Vgl. Fenner, Ethik, 88f. u. 95.

141
Wolf, Rechtsphilosophie, 276.

83
supererogatorisch, sondern so, wie es ihre Pflicht als Basilissa gebietet. Sie deutet ihre
Pflicht im archaischen Bezugssystem der Herkunftsfamilie.

Man könnte eine Bedeutungsvariante der Themis auch in die Nähe des
biologischen Naturbegriffs der Einleitung stellen. Denn „Themis“ ist auch der Name
für eine wirkliche oder angebliche natürliche Macht, eine zwischenmenschliche
„Chemie“, z.B. die der Geschwisterbindung oder der Bindung an die Mutter, die von
der Gesellschaft nicht leicht beeinflussbar ist. Deshalb sind Konflikte zwischen
Brüdern oder Vater-Sohn-Konflikte oder gar ein Vatermord (der Fall des Oidipus)
oder, als das Ärgste, ein Muttermord (der Fall Orests) nicht zufällig Aufsehen erregend
und in der Literatur oft Thema in Zeiten politischen oder gesellschaftlichen Umbruchs,
wie z.B. im fünften Jahrhundert vor Chr. oder im Sturm und Drang des achtzehnten
Jahrhunderts.

Wie ist der Fall der Antigone ethisch zu beurteilen? Das Gesetz des Hades und
wohl auch das der Polis verlangt wahrscheinlich nicht, dass jemand sein Leben
supererogatorisch hingibt, um den toten Bruder oder das tote Kind davor zu bewahren,
dass es von Wölfen und wilden Hunden angefressen wird. Wenn es aber ein absolut
bindendes Gesetz ist, wie es Antigone bisher behauptet hat, dann legt sie es gewiss
nach ihrer Natur willkürlich aus, wenn sie den Bruder begraben will, aber nicht ihr
Kind. Dann handelt sie gewissermaßen ebenso willkürlich wie Kreon. Dann nehmen
beide ihr Sosein, ihre „Themis“ als das Maß aller Dinge und entwerten damit wie die
Sophisten den Nomos – sei es nur den Nomos der Polis oder den göttlichen Nomos.
Der Name „Themis“ kann also auch willkürlich zugeordnet werden, um ein
bestimmtes, moralisch anfechtbares Verhalten als zwanghaft zu entschuldigen. Wenn
die Interpretin bzw. der Interpret ein Verhalten als „Themis“, als „naturbedingt“
beschönigt, während das Verhalten von der anderen bzw. dem anderen als „moralisch
fragwürdig“ dramatisiert wird, dann liegt eine synonymische Unterscheidung vor. Und
wenn die eigene Position als die einzig wahre angesehen wird, dann ist zu prüfen, ob
die eigene Position tatsächlich intersubjektiv als evident gilt oder ob sie Ausdruck
eines essentialistischen Vorurteils ist.

Die Götter greifen zwar gegen den Religionsfrevler Kreon ein, und Antigone
wird zwar schließlich rehabilitiert, aber von keinem Deus ex machina befreit. Und der

84
unschuldige und bedächtig abwägende Haimon wird schließlich mitgerissen, als er
sieht, dass sein rationales Argumentieren nicht angenommen wird. Trotzdem kann für
Antigones Denken mit einem doppelten Maßstab ein entlastendes Argument angeführt
werden: Sie hat noch kein Kind und denkt in ihrer Extremsituation auf dem Weg zur
langsamen Hinrichtung im Felsengrab auch nicht wehmütig an Haimon, der wohl eine
andere Frau heiraten wird, so wie sie nach dem Tod eines Mannes oder Kindes ein
neues Kind und einen neuen Mann bekommen würde, aber keinen zweiten Bruder.

Die Verse 904-915, in denen Antigone diese Gedanken äußert, geben aber nur
abstrakte und virtuelle Überlegungen wieder. Der Rezipient der Antigone muss selbst
urteilen, ob er Antigone in Kenntnis ihrer Persönlichkeit zutraut, dass sie ein totes Kind
auf offenem Feld den Füchsen zum Fraße liegen ließe, wenn dem Kind dadurch das
ewige Leben im Jenseits verweigert wäre. Warum sollte Antigone ihr Leben nicht für
ihr Kind opfern, die sich ja für ihren blinden Vater aufgeopfert und den Befleckten
gemeinsam mit Ismene in die Emigration begleitet hat? – Im konkreten Fall opfert die
befleckte Antigone ihr Leben für ihren befleckten Bruder unter Berufung auf den
göttlichen Nomos, also theonom bzw. deontologisch im Sinne des Naturrechts und mit
einer Art von teleologischer Begründung, denn es geht ihr im Sinn der Lohnmoral
nicht um das kurze diesseitige Leben, sondern um das Zusammensein mit ihrer Familie
im ewigen Leben, das im archaischen Griechenland im Hades angesiedelt wird.

Ethisch, so kann man das bisher Dargestellte vielleicht zusammenfassen, ist


Antigone ein gemischter Charakter. Was sie ethisch vielleicht verliert, gewinnt sie an
psychologischer und ästhetischer Wahrhaftigkeit. Wer von utopischen ethischen
Vorstellungen ausgeht, der wird sie wegen der Verse 904-915 natürlich tadeln.

V. 11. DIE ETHIK DES PRIESTERS TEIRESIAS: DAS ÜBERPOSITIVE RECHT

„So wie physisch die Erde der Sonne bedarf, um ein Gestirn des Lebens zu
bleiben, und wie sie des Zusammenhalts im All bedarf, um ihre Bahn zu gehen, so
braucht auch der geistige Kosmos der Erde das Licht von oben, zusammenhaltende

85
Kraft, die sie erst öffnet.“142 Diese „zusammenhaltende Kraft“143 ist dort bedroht, wo
das Ich das „natürliche“ Maß der Reziprozität, wie es die Goldene Regel formuliert,
verliert und durch sein willkürliches eigenes Maß ersetzt, das es verabsolutiert. Das ist
auch die Sicht der großen Religionen; Ratzinger (s.u.) verweist dazu auf das Tao, das
Dharma, die Ethik des Neuen Testaments und die Stoa mit ihrem Konzept des
natürlichen Sittengesetzes. Im Drama des Sophokles beziehen sich Antigone, Teiresias
und die Bevölkerung der Polis auf dieses natürliche Sittengesetz. Haimon will
pragmatisch und diplomatisch vermitteln, ohne seinen tyrannischen Vater vor den
Kopf zu stoßen.

Im Konflikt um diese wahre Dike, die nach der Vorstellung des Sophokles und
der Logik seines Dramas nicht nur ein willkürlich deutbares Wendewort, also nicht
nur eine essentialistische Leerformel ist, hat Antigone den Kürzeren gezogen. Der
Chor hat ihr das deutlich gesagt. Kreon hat also gesiegt. Wie sähe die mögliche
Zukunft aus, wenn die Dinge durch keine höhere Gerechtigkeit wieder ins Lot gebracht
würden? Stellen wir dazu ein Gedankenexperiment an. Eine sorgfältige
hermeneutische Interpretation der Antigone aus der Sicht der Ethik sollte zunächst
folgende Potentialitäten in Erwägung ziehen und sie dann mit der Lösung des Autors
vergleichen.

Die Geschichte könnte nach Antigones Tod folgendermaßen weitergehen:


Nach dem Sieg Kreons wird man in Theben die Basilissa Antigone früher oder später
vergessen. Über sie wird das Gras wachsen. Es hat sich gerächt, dass sie in ihrem
Eigensinn (vgl. V. 875) der Dike des Basileus und der Olympier nicht gehorcht hat.
Da der Chor der Oligarchen zu den Meinungsmultiplikatoren gehört, ist dafür gesorgt,
dass die Bürger der Polis in ihrer panischen Angst zunächst opportunistisch schweigen
werden. Das dient dem Selbstschutz und gehört zur Natur der Sache. Allmählich
werden sie sich in ihren Äußerungen in ihrer Mehrheit zunächst äußerlich, dann aber

142
Papst Benedikt XVI. [=Joseph Ratzinger], Buch, 37.

143
Ebda.

86
auch innerlich anpassen und sich so selbst konditionieren. So könnte die Geschichte
potentiell enden.

Vor diesem Hintergrund eines potentiellen Ablaufs der Ereignisse hebt sich
dann der tatsächliche Ablauf in der „Antigone“ umso deutlicher ab. Der Chor der
Geronten, der sich im Einklang mit der Polis und dem göttlichen Nomos sieht, sagt zu
Antigone:

„Wir ehren den, der fromm verehrt.

Der Macht jedoch, der Macht gebührt,

zu trotzen, hat stets ins Leid geführt:

dich stürzt dein eigenwillig Trachten.“ (V. 872-875)

Die ersten drei Verse dieser Aussage sind leer, weil nicht gesagt wird, ob den
Olympiern oder den Hadesgöttern die primäre Verehrung gebührt und weil auch nicht
gesagt wird, welcher Art die Macht ist, der die Macht gebührt: Ist das der König, die
Polis, oder sind es religiöse Instanzen? Der Chor äußert also eine sprichwörtliche
Weisheit. Er äußert somit Wendeworte, die er dann im vierten Vers gemäß seinen
Interessen auslegt bzw. kontextiert und folglich ideologisiert. Auch der König sieht
sich im Einklang mit dem göttlichen Nomos, weil ihn die Olympier durch Teiresias
als Regierungschef berufen haben.

Antigone und das Volk können der sprichwörtlichen Weisheit zustimmen, dass
die Ehre dem gebührt, dem die Ehre gebührt (vgl. V. 872-874). Sie kontextieren diese
Topoi aber ganz anders. Folglich kann in diesem Perspektivenkonflikt nur noch eine
stärkere Macht entscheiden.

Als Angelos, als Bote dieser höheren Macht, erscheint der Priester Teiresias.
Er ist im Konflikt der Parteiungen der Neutrale. Sein Wort gilt. Als er aber sein Urteil
fällt, dass wegen Kreons Eigenwillen die ganze Polis leide (vgl. V. 1015), zeigt es sich,
dass Kreon, der sofort Bestechung am Werk sieht, verblendet ist. Er sieht nicht, dass
sein Schwager Oidipus ihn einst in ungerechter Weise desselben Delikts der
Bestechung geziehen hatte, weil er ebenso verblendet war. Kreon stellt willkürliche
Behauptungen auf, ohne dass es für deren Wahrheit auch nur ein Indiz gäbe. So hat er

87
schon die Wächter ungerecht der Bestechlichkeit beschuldigt. Wie ein hochmütiger
Herrscher meint er, dass er mit seinem Amt auch schon den Verstand hätte und dass
seine ideologische Sichtweise für jedermann die essentielle und evidente Wahrheit
wäre. Er bedarf keiner Fachleute, schon gar nicht theologischer Fachleute. Deshalb hat
er ja den Chor der Oligarchen zu seinem Auditorium degradiert. Der arme Kreon ist
also starrsinnig und folglich lernunwillig.

Sein Zorn steigert sich zur Hybris: Er bleibt bei seinem Richterspruch. Er
spricht den Priester als Greis an und verhöhnt ihn so: Wenn Menschen, „Greis
Teiresias“ (V. 1045)! , ein schmähliches Werk aus Nützlichkeitserwägungen
beschönigen, kommt auch der Mächtigste zu Fall (vgl. V. 1045-147)! Kreon verwendet
damit einen Topos, der empirisch nur fallweise verifizierbar und folglich in diesem
Kontext nur Ideologie ist, die sich einen ethischen Anstrich gibt. In Bezug auf Kreon
erweist sich dieser Topos als eine tragische Ironie, denn Kreon selbst beschönigt sein
schmähliches Werk und wird deshalb, obwohl der scheinbar Mächtigste, selbst durch
einen Deus ex machina schmählich zu Fall kommen. So will es die Logik des Autors,
der sich in dieser Hinsicht an der naiven Vorstellung eines Tun-Ergehen-
Zusammenhangs orientiert, der im Falle der Antigone aber auch dem ethischen
Handeln gemäß der Lohnmoral entspricht. Die Wunsch-bzw. Drohvorstellung eines
Tun-Ergehen-Zusammenhangs gehört wohl auch zum Assoziationskreis der Goldenen
Regel, mit der er aber nicht identisch ist.

Für die Fälle, in denen dieser Tun-Ergehen-Zusammenhang von dem


Menschen, der sich nach einer proportionalen Gerechtigkeit sehnt, nicht konstruierbar
bzw. verifizierbar ist, bleibt zumindest für uns Heutige im Sinne der Theodizee die
Ethik des Vertrauens auf die Weitsicht und Güte Gottes, der auch die Zusammenhänge
sieht, die wir nicht begreifen. Auch die Menschen des archaischen Griechenlands
hatten ihre Methoden, mit dem ihnen begegnenden Bösen umzugehen. Hier ist z. B.
an Antigones Ausweichen in die Identifikation mit Niobe zu denken und an ihre
animistische Ansprache an das Wasser des Dirkebaches und an ihre Ansprache an die
Bäume des heiligen Hains.

Weil Kreon das Göttliche geschmäht und folglich befleckt hat, wird er durch
einen göttlichen Richterspruch verurteilt werden, als dessen Sprecher der Priester

88
Teiresias auftritt. Noch aber fühlt sich Kreon sicher. Er sagt sinngemäß (vgl. V. 1039-
1043), dass er weder Polyneikes noch die Stadt oder die Götter befleckt habe und solch
eine sog. Befleckung – ein leeres Wort – auch nicht fürchte, denn „die Götter zu
beflecken, das vermag kein Mensch“ (V. 1044). Die Götter werden von Kreon also,
wie es den Trend der Sophisten, der Aufklärer, der Liberalen, entspricht, weit
weggeschoben. Mit dieser Sicht hat er aber für den Theologen Sophokles seine
Überheblichkeit, seine Vermessenheit und seine Hybris offenbart.

„Antigone“ zeigt also, wie ein tradiertes Ethos in die Krise kommt, die von den
Sophisten aufgedeckt und verschärft wird. Folglich muss man nach der wahren Moral,
der Moralität, suchen. Antigone denkt einerseits bis zu ihrem Tod in den tradierten
mythischen Kategorien der Olympier und des Hades, antwortet aber, von Kreon in die
Enge getrieben, mit der Formulierung einer religiös-naturrechtlichen Moralität, auf die
sich auch das Neue Testament in seiner berühmten Naturrechtsstelle (Röm 2, 12-16)
bezieht.

Zuerst hat Teiresias versucht, den König dadurch auf einen geraden Weg zu
bringen, dass er ihm berichtet, dass die archaischen Riten der Götterbefragung nicht
mehr funktionieren, doch damit ist er beim aufgeklärten Sophisten Kreon an den
Falschen geraten. Nun versucht es der Seher mit der Vernunft: Den Menschen, sagt er,
sei „gemeinsam allen, dass sie manchmal irre gehen“ (V. 1024), dass sie manchmal
fehlerhaft handeln. Er verwendet also denselben Topos der Hamartia, mit dessen Hilfe
Ismene (vgl. V. 558) Antigone zur Reue zu bewegen versucht hat. Noch heute deutet
Joachim Latacz die griechische Tragödie als ein „Scheitern des Menschen an seiner
menschlichen Beschränktheit“144.

Die Hamartiatragödie ist folglich (im Gegensatz zur Schicksals-bzw.


Atetragödie) ein Scheitern an der eigenen Ungeheuerlichkeit und Grandiosität, also
ein Scheitern an der eigenen Hybris und an einem Mangel an Selbstkritik. Der Chor
hatte im Hybrislied gesungen: „Vieles ist ungeheuer, nichts / ungeheuerer als der
Mensch“ (V. 332f.). Peter Handke hat folgende Übersetzung vorgeschlagen: „,Vieles
ist schrecklich, aber nichts schrecklicher als der Mensch‘: Schrecklich? Sonderbar?

144
Latacz, Einführung, 387.

89
Ungeheuer? Erstaunlich? Wunderbar? Unfassbar? Unerschöpflich?“145Demnach wäre
eine Irrtums- bzw. Schuldtragik, also Hamartiatragik, das Scheitern des Menschen an
seiner eigenen Wunderbarkeit, Unfassbarkeit und folglich Gottähnlichkeit, also an
seiner irren und wirren Hybris, an seinem wahnhaften Hochmut.

Der blinde und von jedem Hochmut weit entfernte Gottesdiener Teiresias
ermahnt den König, er solle den Tod nicht nochmals töten (vgl. V. 1030). Die
Menschen gingen zwar immer wieder in die Irre, sie könnten aber immer wieder
umkehren; Eigensinn aber bewirke Unverstand (vgl. V. 1028). Sich raten zu lassen,
sei verständig, und Wohlberatenheit sei das höchste Gut (vgl. V. 1050). Für den König
zählen die rationalen Aspekte und Argumente des Priesters aber nicht. Sie sind für ihn
nur Gemeinplätze (vgl. V. 1049 in der Übertragung Zinks) eines Unvernünftigen (vgl.
V. 1051), der so seine Interessen als Priester verteidigt. Deshalb spricht ihm Teiresias
seinerseits Argumentationsfähigkeit und Urteilskraft ab und bescheinigt dem König
die Krankheit der Unvernunft (vgl. V. 1051f.), so wie Kreon die beiden Mädchen als
Irrsinnige abgestempelt (vgl. V. 561) und so wie Ismene ihre Schwester zwar als
sittlich einwandfrei („lieb den Lieben“, V. 99), aber trotzdem auf einem Irrweg
gesehen hatte (vgl. ebda). – Die verinnerlichte Sprache des Gewissens (syneidesis)
werden ja erst der Hellenismus und Paulus entwickeln.146

Wenn die Vernunft nur eine Leerformel und ein Wendewort wäre, dann müsste
die Ethik im engeren Sinn resignieren, dann gäbe es nur noch Kompromisse zwischen
Interessen wie im Kontraktualismus oder die autoritäre Entscheidung der stärkeren
Macht, die das Ethische benützt, um eigene oder Gruppeninteressen durchzusetzen,
die selbst nicht unbedingt ethisch sein müssen, sondern einfach nützlich sein können.
Die Ethik läuft dann Gefahr, als Ideologie missbraucht zu werden. In dieser Hinsicht
ist der Konsequentialismus besonders gefährdet, selbst dann, wenn das
erstrebenswerte Ziel nicht im außermoralischen, sondern im moralischen Sinn

145
Handke; Peter: Kinonacht, Kinotiernacht. Vom Antivampirkino des Paares Straub/Huillet, aus Anlaß
[sic] des Films Antigone, in: Handke; Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln 1967-2007, Frankfurt
am Main: Suhrkamp 2007, 555-563, 563.

146
Vgl. Dautzenberg, Gerhard: Art. Gewissen. III. Neues Testament, in: RGG 3 (2003) 901f., 900.

90
gedeutet wird. Dann darf man vielleicht auch unschuldige Menschen töten, wenn es
dem „Moralganzen“ dient. So wird die Problematik auch von Joseph Ratzinger
gesehen (s.u.).

Noch meint Kreon, er als der Eigentümer der Stadt (vgl. V. 738) sei die stärkere
Macht, der auch die Wesenserkenntnis über das sittlich Gute zukomme. Tatsächlich
aber hat er diese Macht von Teiresias nur unter der Voraussetzung verliehen
bekommen, dass er sich nicht anmaßt, am überpositiven Natürlichen, am Göttlichen
zu freveln. Dieser Frevel ist sogar den Olympiern versagt, auf die sich Kreon immer
wieder beruft.

Der Seher prophezeit eine irdische Strafe. Er beruft sich dabei zwar auf die
Erinnyen, die Rächerinnen des unteren Bereichs, aber diese Erinnyen sind durchaus
komplementär mit einem psychologischen Tun-Ergehen-Zusammenhang, der sich
zwar der exakten Verifizierung entzieht, der also kein Automatismus ist, kein
„Gesetz“, der aber als eine Faustregel (auch die Goldene Regel ist nur eine
Faustregel147) noch nicht als völlig unplausibel abgetan werden muss, sofern man ihn
nicht im materialistisch-finanziellen Sinn deutet, sondern im psychologischen Sinn.
Eine Alltagsweisheit sagt, dass Untaten gerne auf den Täter zurückfallen. Hinter
diesem volkstümlichen Topos steckt zumindest eine Hoffnung auf eine Art von
Gerechtigkeit oder die Erfahrung, dass Böses oft mit Bösem vergolten wird, vor allem
dann, wenn das Opfer des Bösen stark genug ist, um sich im Sinne des Talion-Prinzips
zu wehren oder sich bei anderen Menschen oder Staaten Hilfe zu holen, so wie sich
der ungerecht behandelte Polyneikes bei seinem Schwiegervater Hilfe geholt hat, was
dazu führte, dass der Streit der Brüder eskaliert ist.

V. 12. ANTIGONE, KREON UND DIE SCHULD

Das Konzept des Tun-Ergehen-Zusammenhangs suggeriert dem, der den


Willen hat, das Gute zu tun, einen psychisch beruhigenden Automatismus. Es soll aber

147
Vgl. Fenner, Ethik, 151-159.

91
auch den warnen, der sich durch das Böse leicht verführen lässt. Sofern dieses Konzept
ein unhaltbarer Wunschtraum wäre und das ungerechte Handeln Kreons straflos
bliebe, so bliebe doch Antigones deontologische Berufung auf jene höhere Macht
bestehen, von der sie gesagt hat: „Es ist ja nicht Zeus, der es mir verkündet hat, / noch
hat die Gottheit, die den Toten Recht erteilt, / […] solche Satzungen bestimmt.“ (V.
450-453)

Es sind „ungeschriebne, ewige, göttliche / Gesetze“ (V.454f.); es ist also


primäres Naturrecht, dass das Gute zu tun und das Böse zu lassen ist, und zwar
unabhängig von den Handlungsfolgen, die der Konsequentialismus betont. Diese
ewigen Gesetze blieben selbst dann gültig, wenn Kreons Übertretung dieser ewigen
Gesetze (Antigone und die Polis sehen Kreons Politik ja als eine Übertretung des
ewigen Gesetzes) ungestraft bliebe. Für Antigone sieht es ja so aus, als liefe alles auf
Kreons Triumph hinaus. Mit diesem Bewusstsein geht sie jetzt ihren letzten Weg. Sie
wird auch im Bewusstsein sterben, dass der Befehl des Mächtigen über das vorpositive
göttliche Recht triumphiert.

Die Themis ist das Naturgegebene, das unumstößlich Bindende, die


Notwendigkeit.148 Das, was von den Griechen als Themis empfunden wird, bildet den
Rahmen für ihre ethischen Urteile. Die Themis steht also an der Grenze der
menschlichen Wesensnatur (vgl. die Einleitung), dort, wo gewissermaßen am anderen
Ufer die biologische Natur schon ganz nahe ist. Die Themis ist der Rahmen der Dike.
Und die biologische Natur ist, so können wir ergänzen, der Rahmen der Themis. Erik
Wolf setzt die Themis überhaupt mit dem Biologischen gleich.

Das könnte aber problematisiert werden, denn es gibt vielleicht ein Kontinuum
zwischen dem Biologischen und der Themis: Vielleicht ist es so, dass die biologische
Natur im engen Sinn der Rahmen für die Themis ist, den Graubereich zwischen Natur
und Kultur, und die Themis ist der Rahmen für die Dike. Vielleicht gibt es zwischen
diesen Größen aber überhaupt ein Kontinuum, aus dem wir durch unsere Begriffe
etwas herausgreifen, um das Kontinuum zu ordnen. Daraus ergeben sich dann in der
Anwendung Zuordnungsfragen. In den Überschneidungsbereichen werden die

148
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 14.

92
Zuordnungen zu subjektiven bzw. gruppenbezogenen Begriffen, und das kann dann
letztlich zu den synonymischen Unterscheidungen führen.

Die Hybris ist der Gegensatz zur göttlichen Dike, zur überpositiven
Gerechtigkeit, die dem Nomos erst das innere und tiefere Recht verleiht. Der hybride
Mensch kann es offen verhöhnen; er kann sich aber auch hinter einer Dikebehauptung
verstecken. Der arme, tyrannische Kreon hat es auf beide Arten versucht. Wenn der
Hybride die unangefochtene Macht hat, kann es so weit kommen, dass der im Sinne
der göttlichen Dike Gerechte an seiner Dike zu zweifeln beginnt. So geht es Antigone,
die nach Erik Wolf nicht nur nach der Dike, sondern nach der Themis gehandelt hat.149
Diese Themis ist mit dem ethischen Naturrecht insofern identisch, als beide ein
Gemeinsames haben, das Immergültige, dessen Konkretisierung aber dort, wo es nicht
wirklich evident ist, im Diskurs erfolgen muss. Das hängt mit dem Problem des
Kontinuums zwischen Natur und Kultur zusammen. Das Immergültige wird in der
Themis auf die Natur zurückgeführt und im religiösen Naturrecht auf das Göttliche.
Daraus entwickelt sich in der Neuzeit das Vernunft- und Menschenrecht.

Antigone fehlt es zwar begreiflicherweise an der „Gelassenheit im


Unrechterleiden“150. Aber das wird aufgewogen durch die Tugend „des sich
verschwendenden Einsatzes für andere“151, was ja auch eine Teiltugend der Liebe und
Verinnerlichung der Liebe ist. Antigone hat aus Liebe und aus gutem Willen
gehandelt, fühlt sich aber in ihrer Menschenwürde verletzt. Sie hat deontologisch
gehandelt und zugleich im Blick auf das Telos des ewigen Lebens. Jetzt sieht sie ihr
Handeln aus der Sicht des Chores als falsch bewertet und wird sich unsicher darüber,
ob auch die Götter diese Perspektive teilen. Sie beginnt an ihrer Dike zu zweifeln.
Antigone ist „dem inneren Befehl ihres Gewissens“152gefolgt. Da sie nun trotzdem als

149
Vgl. ebda, 276.

150
Forschner, Maximilian: Art. Christliche Ethik, in: Höffe, Otfried (Hg.): Lexikon der Ethik, München:
C.H. Beck 7.Aufl. 2008 (=beck’sche Reihe 152), 42.

151
Ebda, mit Bezug auf Matthäus 5.

152
Schmid Noerr, Geschichte, 16.

93
„gottlos“ (V. 924) gilt, verfällt sie dem Leid, weil sie nicht versteht, dass ausgerechnet
sie eine Frevlerin sein soll (vgl. V. 926). Gemäß dem Tun-Ergehen-Zusammenhang
dürfte sie nicht so leiden. Sie fragt sich deshalb auf ihrem letzten Weg, was sie denn
falsch gemacht habe, dass sie für das Tun des Guten bestraft werde, und formuliert
dabei zugleich das Theodizeeproblem:

„Wie soll in meinem Leid ich zu den Göttern noch

aufblicken, wen um Hilfe bitten, da ich nun

als gottlos gelte für mein gottesfürchtig Tun?

doch wenn die Götter damit einverstanden sind,

so muss ich duldend wohl gestehen: ich frevelte;

doch freveln die hier, mögen sie kein größres Leid

erdulden, als sie widerrechtlich mir getan!“ (V. 922-928)

Der Chor der Oligarchen hat die Antigone als eine Befleckte und
Fluchbelastete gesehen, die am Thron der Dike rüttelt. Antigone beharrt aber darauf,
dass sie aus Gottesfurcht gewissenhaft und obendrein rechtlich gehandelt hat. Dazu
stellt sie aber auch eine Gegenüberlegung an. Diese Gegenüberlegung steht zwar nur
im Konditionalis (vgl. V. 925f.), sie wird aber nicht völlig abgewiesen und bleibt als
eine Möglichkeit bestehen. Antigone ist also zwar nicht im Kern, wohl aber vom Rand
her verunsichert. Sie erfährt zu ihren Lebzeiten nicht mehr, dass sie durch den
Seherspruch des Teiresias ethisch rehabilitiert wird, wenn sie auch nicht im Sinn eines
Tun-Ergehen-Automatismus am Leben bleibt.

Vom Seherspruch aufgerüttelt, wacht der Chor endlich auf und ermahnt den
König Kreon zur Besinnung und zur Umkehr. Weil Kreon nun um das Leben seines
Sohnes fürchtet, sieht er doch noch ein, dass es am besten ist, wenn man den Nomos
achtet (vgl. V. 1113f.). Das heißt wohl, dass es auch im Sinne des Konsequentialismus
bzw. einer Art Tun-Ergehen-Zusammenhangs am besten ist, wenn man den vor- und
überpositiven Nomos des Naturrechts achtet, der im spezifischen Fall des
Begräbnisgebots mit dem positivrechtlichen Gewohnheitsrecht zusammenfällt.

94
Hat Kreon aber ein Bewusstsein davon, dass er religiös gefrevelt und dass er
Antigone Unrecht getan hat? Hat er Gewissensbisse? Mit modernen Begriffen könnte
man sagen, dass Kreon das Böse mit gutem Gewissen getan hat. Er hat sich für sein
Handeln auf den angeblichen Landesverrat des Polyneikes berufen, also auf die
Sicherheit der Polis und somit auf moralisch nachvollziehbare Gründe. Allerdings hat
er die Situation sachlich falsch bewertet, weil er verblendet war. Eine
Gewissensprüfung im Sinne einer Verinnerlichung oder das Gefühl, aufgrund einer
inneren Stimme so und nicht anders handeln zu müssen, sind bei ihm aber nicht zu
sehen.

Er hat beim Aussprechen des Begräbnisverbotes auf den ersten Blick rational
im Sinne des Staatsinteresses, aber zugleich auch affekthaft gehandelt und wollte nach
der Entdeckung der Täterin sein Gesicht wahren, was ihn zu seinem impulsiven Reden
verführt hat. Weil bei ihm das Hin und Her des Überlegens, also das „Soll ich?“ bzw.
das „Soll ich nicht?“ fehlt, wird man bei ihm von einem irrenden Gewissen nur
sprechen können, wenn man sehr großzügig ist und den Begriff des irrenden
Gewissens extrem ausdehnt. Dann wird der Gewissensbegriff aber entleert. Während
Antigone im Nachhinein ihr Handeln und den „inneren Befehl ihres Gewissens“153 im
Konditionalis problematisiert (vgl. V. 925f.) und sich fragt, ob sie mit ihrem Gehorsam
gegenüber dem Göttergebot nicht doch den Göttern gegenüber gefrevelt habe (vgl. V.
924-928), lassen sich bei Kreon keine derartigen Überlegungen und
Problematisierungen finden.

Kreons Triumph über seine Kontrahenten ist der Triumph eines verbohrten
Menschen, der nur seine eigenen Argumente zur Kenntnis nimmt. Wie ein politischer
Fanatiker sieht er am Schluss zwar ein, dass er pragmatisch falsch gehandelt hat. Es
gibt aber kein moralisch verinnerlichtes Schuldbekenntnis, keine Zerknirschung des
Herzens. Es fehlt auch das Mitleid mit Antigone und insofern eine verinnerlichte
Schuldeinsicht. Darin gleicht Kreon den homerischen Helden. Auch er scheint das
Gewissen im engeren Sinn eines „inneren Bewusstseins von Gut und Böse, das sich
nach einer Tat krit[isch] (Reue) oder affirmativ (gutes G[ewissen]) mit dieser

153
Ebda.

95
auseinandersetzt, nicht gekannt zu haben. Reue artikuliert der homerische Held
lediglich als nachträgliches Bewusstsein von Verblendung, damals nicht das Richtige
gesehen zu haben“154. Genauso ist es bei Kreon. Erst der von den Erinnyen (Furien,
Rachegöttinnen) verfolgte Orest (s.u.) des Euripides hat Gewissensbisse. Erst hier
werden die Erinnyen psychologisch zum Gewissen rationalisiert und verinnerlicht.
Dahinter steht eine Verinnerlichung der Gesellschaft und ein Wandel „von einer
‚Ergebnis- und Erfolgsethik‘ zu einer ‚Gesinnungsethik‘“155. Bei Kreon ist es noch
nicht so weit.

Es ist auch in späteren Zeiten selten, dass ein Politiker nach einem
Fehlverhalten Reue zeigt, denn Politiker tun das Unrechte oft mit dem Gefühl, dass sie
legitim handeln: „Wer in einer Kultur aufgewachsen ist, in der es völlig richtig
erscheint, sich auf Kosten anderer nach oben zu drängeln, kann kein
Unrechtsbewusstsein haben.“156 Das Unrechtsbewusstsein setzt eine Gewissensethik
und eine Verinnerlichung voraus, die Kreon fehlt, der kurzschlüssig nur an die
negativen Konsequenzen für den Staat denkt, wenn die Partei der Polyneikesanhänger
erstarkt. Damit provoziert er das Tun der Antigone.

Kreons Anagnorisis im Sinne der äußeren Einsicht, dass er falsch gehandelt


hat, kommt zu spät. Er nimmt zu spät wahr, was die Dike im Sinne des positiven
Gewohnheitsrechtes, des Nomos, der Themis und des überpositiven Naturrechts
gewesen wäre. Er hat nicht nur den Tod seiner Nichte, den er offensichtlich nicht
bedauert, sondern auch den von Frau und Sohn wegen eigener Unberatenheit, also
ethisch zurechenbar, verschuldet (vgl. V.1269). Weil er den Diskurs verweigert hat,
hat er eine schwere Schuld auf sich geladen. Das sagt ihm auch der Chor, der ihm die
Alleinschuld am Untergang seiner Familie zuschiebt (vgl. V.1260). Der Chor warnt
vor großen Worten und wiederholt das, was schon der Priester gesagt hat:

154
Keppel, Lutz: Art. Gewissen. II. Griechisch-römische Antike, in: RGG 3 (2003) 900-901, 900.

155
Ebda, 901.

156
„Die Politik wurde aufgeklatscht [.]“ Der Klagenfurter Soziologe Paul Kellermann über das fehlende
Unrechtsbewusstsein korrupter Politiker und die Mitschuld der Wähler, in: Kleine Zeitung (Klagenfurt)
230 (19.08.2012) 22f., 23.

96
Besonnenheit ist das höchste Gut (vgl. V. 1347-1352). So zeigt sich schließlich am
Fall des Kreon, dass „Vernunft“ nicht nur ein leeres Wendewort ist, das man nach
Belieben drehen und wenden kann, sondern auch etwas zu tun hat mit dem
ungeschriebenen, ewigen, göttlichen Gebot des Naturrechts.

V. 13. ETHIK UND IDEOLOGIE

Protagoras war ein humaner Sophist, der, abgesehen von seinem späteren
Agnostizismus, mit Sophokles wohl mehr gemeinsam hat als mit seinen sophistischen
Nachfolgern, von denen sich Sophokles deutlicher abhebt als von Protagoras.
Sophokles hat in seiner „Antigone“ einem sophistischen König, der sich, weil und
solange er mächtig ist, hinter einer Dikebehauptung verstecken kann, die wahre Dike
entgegengestellt. Diese wahre Dike kann von Spöttern und/oder Ideologiekritikern als
eine „essentialistische Leerformel“ gesehen werden, womit sie nicht immer Unrecht
haben, denn große und abstrakte Worte laden zum Missbrauch ein.

In Griechenland war die Folge dieses Missbrauchs, dass die Begriffe Themis,
Nomos und Dike ihres transzendenten Bezugs beraubt wurden. Das erschütterte die
sakralen Grundlagen des Gemeinwesens. Das metaphysische Sein und Wesen löst sich
in solch einem Fall auf. Skeptizismus, Relativismus, Individualismus, Agnostizismus
und (nun im positiven Sinn) Ideologiekritik sind die Folge; das Ethos löst sich auf.157

Das ist dann eine Befreiung, wenn „Ethik“ bzw. „Ethos“ und „Religion“ nur
noch Tarnworte sind für machtpolitische oder sonstige Ideologien, die man an den von
ihnen meist bevorzugten Verfahrensweisen leicht erkennt. Es geht dabei um die
Verhinderung des kritischen Denkens mit Hilfe einer Dämonisierung des Gegners, um
Schwarz-Weiß-Malerei, Rechthaberei und Deutungsmonopole. Auf der Grundlage des
Logos und der Vernunft kann sich ein zynischer politischer Realismus entwickeln, der
sich von der Mythosreligion befreit hat. Mit diesem Realismus ist dann häufig die
raffinierteste ideologische Verfahrensweise verbunden, die deshalb auch am

157
Vgl. Wolf, Rechtsphilosophie, 12.

97
schwersten zu erkennen ist, nämlich die Tarnung von Bewertungen durch eine
geschickte Auswahl von einseitigen Tatsachenbehauptungen.158

In solch einer neuen Situation, in der Ethik durch Ideologie ersetzt wird, sind
die Nomoi nur noch positives Recht, das von den Machtträgern zwar ideologisch
gestützt wird, aber nicht mehr von einer nicht hinterfragten oder diskursiv
ermittelbaren natürlichen Sittlichkeit.

Weil dieser Zustand für viele Menschen nicht befriedigend ist, sucht man nach
einem Recht, das nicht so künstlich ist wie es die positiven Rechtssätze sind, die oft
nur das Ergebnis eines Kontrakts bzw. einer Machtkonstellation sind. Man sucht also
nach etwas „Natürlichem“. Ein Paragraph des positiven Rechts muss sich also für das
ethische Empfinden als evident und „natürlich“ gegeben legitimieren lassen. Es muss
im Gegensatz zu zeitlich und örtlich variierenden positivrechtlichen Bestimmungen
etwas den Wandel und Wechsel Überdauerndes haben. Dieses Naturrechtliche muss
evidentes „Richtmaß, kritische Ordnung, Korrektiv“159 sein, also ein absoluter
Maßstab, mit dem man die bloß relativen positiven Gesetze von einem höheren
Standpunkt aus messen kann.

So trat im fünften Jahrhundert v. Chr. an die Stelle des Glaubens an Themis,


Nomos und Dike, die mythologisch gebunden waren, bei kritischen Menschen das
sogenannte Naturrecht, das Antigone in ihrer Sprache als „ungeschriebne, ewige und
göttliche Gesetze“ (V. 454f.) bezeichnet hat. Dieses Recht war nicht nur ein Recht des
augenblicklich juridisch oder gesellschaftlich Stärkeren, es konnte auch den
Rechtsanspruch des politisch oder sozial Benachteiligten meinen. Zwischen den
verschiedenen Rechten hatte die Argumentation pro und contra zu vermitteln und
dabei mehrere Aspekte zu berücksichtigen, nicht nur den einen Aspekt des subjektiven
königlichen oder adeligen Interesses, sondern eben das sogenannte Natürliche. Diese
Argumentation vom Natürlichen her gilt heute aber als ein naturalistischer
Fehlschluss.

158
Vgl. Topitsch/Salamun, Ideologie, 103-112.

159
Wolf, Rechtsphilosophie, 13.

98
Es gibt Stimmen, die sagen, dass das menschliche Miteinanderleben wenig mit
Ethik zu tun habe, sondern vor allem ein Ausdruck von Macht und Ohnmacht wäre.
Das ist die gewissens- und schamlose bzw. realpolitische Perspektive, die man dem
ethischen Typ des kognitivistischen Subjektivismus160 zuordnen kann. Der
kognitivistische Subjektivismus ist ein Gegenbegriff zum ethischen
Nonkognitivismus. Der ethische Nonkognitivismus bestreitet, dass das Gute vom Ich
erkannt werden kann. Für ihn ist das Gute etwas Irrationales, das mehr mit den
Emotionen (Emotivismus) und letztlich willkürlichen Entscheidungen
(Dezisionismus) zu tun hat als mit dem Verstand. In Grenzfällen entscheidet ja
wirklich letztlich das Gefühl bzw. die Autorität.

Dagegen behauptet der kognitivistische Subjektivismus, dass man „das Gute“


wenigstens insofern erkennen könne, als jedes Individuum subjektiv, also für sich
selbst, erkennen kann, was seinen Bedürfnissen entspricht. Insofern kann es auch das
erkennen, was für die Interessensdurchsetzung des Ichs das Gute ist. Das ist die
Position von Egoisten, die sich als Egoisten sehen, die mit anderen Egoisten Kontrakte
schließen, um die unter Umständen mörderischen Konsequenzen der völlig
moralfreien Interessendurchsetzung im Griff zu behalten (Konsequentialismus161).

Dagegen will Sophokles mit der „Antigone“ zeigen, dass das Zusammenleben
der Menschen ein objektiv erkennbares ethisches Fundament braucht. Dass das
Sittliche objektiv erkennbar ist, lehrt heute die Ethik des kognitivistischen
Objektivismus.162 Diesen kognitivistischen Objektivismus kann man weiter
differenzieren (a) in den Konstruktivismus (z.B. die auf Kant fußende Diskursethik
von Habermas), der das Gute diskursiv erörtern will, und in den (b) Naturalismus, der
das Gute aus der Natur des Menschen abzulesen versucht und den man heute des

160
Vgl. Fenner, Ethik, 72-84.

161
Vgl. ebda, 128-140.

162
Vgl. ebda, 85-119.

99
naturalistischen Fehlschlusses bezichtigt163, und schließlich (c) in den Intuitionismus,
das Herzensgefühl, bei dem das Gefühl nicht als etwas bloß Irrationales gilt wie im
Emotivismus, sondern als ein Erkenntnisorgan gesehen wird.

Antigone erfasst das, was für sie als Basilissa zu tun notwendig und gut ist, aus
ihrer Adelsmoral (Traditionsrelativismus164), sie begründet es aber auch in gewisser
Weise konsequentialistisch im Sinne der Lohnmoral, erfasst es intuitiv mit ihrem
Gewissen165 und versucht, es im Diskurs mit dem Basileus zu erörtern. Sie beruft sich
auf die empirisch ermittelbare Meinung der Polis, also auf das „Natürliche“ im Sinne
einer statistischen Größe, aber auch auf das Immergültige, das der Willkür und dem
geschichtlichen Wandel von Ideologien entzogen ist und das man deshalb mit der
Natur gleichsetzen kann. Antigone weiß nicht, woher dieses Naturrecht kommt, sie hat
es jedenfalls im Gefühl. Insofern kann man ihr Verhalten gemäß der Logik des Dramas
und aus ihrer Sicht dem kognitivistischen Objektivismus der Ethik zuordnen.

Es wäre sogar möglich, Antigones Handeln dem nonkognitivistischen


Emotivismus zuzuordnen. Den Nonkognitivismus würde man dann aber von außen an
das Werk herantragen. Dann wäre Antigones Handeln in einem wertfreien Sinn irre
und irrational, vernunftlos und gefühlsgetrieben. Dann wären alle vernünftigen
Argumente nur Rationalisierungen des Triebhaften und Tierischen. Dann wären
Antigone und Kreon irr und wahnhaft. Der Kognitivismus ist dagegen optimistisch.
Wer emotional oder intuitiv verunsichert ist, greift auf die Hilfe des inneren und/oder
äußeren Diskurses zurück. Und dort, wo das Argumentieren mit Pro- und Contra-
Argumenten zu einer Pattsituation führt, tritt wieder das Gefühl ein.

Dieser innere bzw. äußere Diskurs bzw. das Rechtsgefühl kann im Fall von
verhärteten Interessensgegensätzen aber auch massiv gestört sein. Deshalb empfiehlt
Joseph Ratzinger dem verunsicherten Gewissen, wie wir noch sehen werden, sich Rat

163
Vgl. ebda, 88-96. Fenner unterscheidet allerdings zwischen einem naturalistischen und einem Sein-
Sollen-Fehlschluss; dazu kommt noch der hedonistische und der genetische Fehlschluss.

164
Vgl. ebda, 119-126.

165
Vgl. Schmid Noerr, Geschichte, 16.

100
und Nachhilfe beim kirchlichen Lehramt zu holen. Er setzt also auf das dialektische
Diskursgewissen.

Antigone ist sich ihrer Sache so sicher, dass sie in der Eingangsszene mit
Ismene nur einen Überredungsdialog führt. Im Kern hält sie ihre Disposition bzw.
Haltung bis zum Schluss durch. Sie wird aber nur durch die Logik des Dramas
bestätigt, nämlich dadurch, dass der Stellvertreter des Deus ex machina in Gestalt des
Priesters erscheint und Kreons Handeln verwirft. Damit ist Antigones Handeln aber
noch nicht legitimiert.

Kreon lehnt eine ethisch-politische Nachhilfe so lange wie möglich ab. Er sucht
die Schuld für das Nichtgelingen seiner Politik so lange wie möglich bei anderen
Menschen. Für ihn und für Antigone, für beide gilt letztlich der Satz des Alten
Testaments: „Wer bemerkt seinen eigenen Fehler? Sprich mich frei von Schuld, die
mir nicht bewusst ist!“ (Ps 19,13) – Kreon hat mit seinem Bestattungsverbot nicht
situationsberuhigend, sondern eskalierend gehandelt. Er wollte vor allem seine Macht
festigen.166 Und Antigone hat durch ihre Reaktion auf Kreons zwar politisch
plausibles, aber ethisch wohl nicht schlechthin legitimierbares Bestattungsverbot auf
eine auch aus der Sicht der Polis im ethischen Sinn plausible Art eskalierend reagiert.

Das ethische Fundament des Sophokles, das das Zusammenleben der


Menschen vermittelt, ist auf ein durch Gefühl, Intuition und diskursiven Verstand
objektiv erkennbares Jenseitiges und Göttliches bezogen. Ob man es als „Naturrecht“
bezeichnet oder als ungeschriebenes, ewiges und göttliches Recht, wie es Antigone
tut, ist abhängig vom weltanschaulichen Hintergrund des Sprechers.

Man könnte es auch als eine Leerformel bezeichnen, da es einen großen


semantischen Spielraum hat, der dann vom Ich und seinen Gewissen bzw. vom
konditionierten Überich bzw. von den Interessen des Ichs eingeschränkt wird. Die
Interessen eines Menschen und seine Überlegungen, ob es überhaupt eine Chance für
einen Konsens gibt, entscheiden, ob er sich auf einen Diskurs, der den Namen verdient,
überhaupt einlässt. Haimon muss sich eingestehen, dass sein Vater einen

166
Vgl. ebda.

101
symmetrischen und autoritätsfreien Diskurs des besseren Arguments gar nicht will.
Folglich bleibt Haimon nur der Abbruch des Gesprächs. Antigone führt gegenüber
ihrer Schwester nur einen Überredungsdialog, den sie abbricht, als sie sieht, dass sie
bei ihr keinen wirklichen Erfolg in dem Sinne hat, dass sie sie zum Mithandeln
bewegen kann.

V. 14. ANTIGONES ARGUMENTATIONSFORMEN

Antigone begründet ihr Zuwiderhandeln gegen Kreons Bestattungsverbot im


Eingangsgespräch mit ihrer Schwester und auch in ihrem Abschiedsmonolog aus der
Perspektive einer jenseitsbezogenen Lohnmoral bzw. aus der Perspektive eines auf das
Jenseits bezogenen sozusagen eudaimonistischen Lebenssinns, also im Sinne einer
konsequentialistischen bzw. teleologischen Ethik. Handelt sie auch utilitaristisch?
Utilitaristisch handelt sie nur dann, wenn man den Begriff des Utilitarismus (Analoges
gilt auch für den Hedonismus) so ausweitet, dass er auch auf den Fall einer jenseitigen
Lohnmoral passt. Hinter solch einer Begriffsausweitung kann die Intention stehen, die
(jenseitsbezogene) Lohnmoral abzuwerten, um so die Lohnmoral mit den
Konnotationen des Egoistischen, Nützlichen, nicht eigentlich Moralischen zu
verbinden.

Antigone argumentiert im Eingangsgespräch mit der Schwester ebenso wie in


ihrem Abschiedsmonolog insofern teleologisch bzw. konsequentialistisch, als sie die
Folgen ihres Handelns bedenkt. Im Dialog mit der Schwester rangiert der Wert bzw.
das Telos des ewigen Lebens im Kreise der Herkunftsfamilie über dem des irdischen
Lebens. Daraus zieht sie die Konsequenzen für ihr Handeln.

In ihren Schlussversen dagegen ist für sie der Wert des irdischen Lebens (vgl.
V. 917) höher als der Wert eines ewigen Lebens im Kreise einer potentiellen Familie
mit z.B. Haimon und einem gemeinsamen Kind, aber niedriger als der Wert des
Zusammenlebens mit ihren befleckten und verfluchten Eltern und Brüdern. Für
Haimon würde sie ihr Leben nicht opfern. Das weiß Haimon aber nicht. Für ihn ist es

102
ein höherer Wert, mit Antigone im Tode und wohl auch im Hades vereint zu sein, als
physisch allein zu überleben.

Im Gespräch mit ihrer Schwester hat Antigone ihr Tun insofern auch
partikularistisch begründet, als sie traditionsrelativistisch im Sinne des Adelsethos und
der Selbstachtung argumentiert. Im Streitgespräch mit ihrem Onkel, dem Basileus,
begründet sie ihr Tun zunächst dadurch, dass sie sich für die rechtliche Beurteilung
ihrer Sicht auf die Sicht der Gesamtpolis beruft. Das stößt beim König aber auf taube
Ohren. Die Meinung des Volkes bzw. der Polis und die jahrhundertelange Übung
(siehe den ersten Naturbegriff der Einleitung) begründet nämlich, streng genommen,
noch kein Sollen. (Ratzinger wird dazu eine Differenzierung anbringen, s.u.) Kreon
könnte Antigone entgegenhalten, dass ihre Argumentation mit der allgemeinen
Volksmeinung und auf dem seit Ewigkeiten Üblichen auf einem Sein-Sollen-
Fehlschluss beruht. Aber das gälte auch für Kreons Berufung auf seine Autorität als
Basileus und für seine Behauptung, dass Antigone in der Polis isoliert wäre. Selbst
wenn Antigone in der Polis isoliert wäre, wäre sie damit noch nicht automatisch im
Unrecht.

Weil Antigones statistische Argumentation beim autoritären König also nicht


fruchtet, der sich seinerseits, wenn auch empirisch zu Unrecht, auf das Volk beruft,
begründet Antigone ihr Tun schließlich als eine nichthinterfragbare deontologische
und theologische, seit Ewigkeiten geltende, ungeschriebene und göttliche Pflicht. Man
könnte das Merkmal des Ewigen dadurch entwerten, dass man sagt, aus dem Sein des
Ewigen bzw. seit Ewigkeiten Geltenden lasse sich nur eine konservative Ideologie,
aber noch kein Sollen ableiten. Und auch das Merkmal des Ungeschriebenen ist nicht
wesentlich. Denn es sagt nur, dass sich aus der Tatsache, dass etwas aufgeschrieben
ist, noch kein Sollen ergibt. Aus dem Ungeschriebenen ergibt sich aber auch noch kein
Sollen. Dann bleibt nur das Merkmal des Göttlichen übrig. Und dann handelt es sich
beim Naturrecht um eine kategorische, deontologische und theologische Pflicht, die
nur deshalb seit Ewigkeiten gilt, weil sie göttlicher Herkunft ist und die deshalb auch
über bzw. hinter allem Geschriebenen oder Ungeschriebenen stehen muss. Denn nur
das Göttliche gibt dem Geschriebenen oder Ungeschriebenen seinen Wert. Das
Naturrecht gilt nicht, weil es ungeschrieben und ewig ist, sondern es ist ewig und

103
ungeschrieben, weil es deontologisch bzw. theologisch als ewige Pflicht erkannt
werden kann.

Was allerdings ein Fall des von Gott seit Ewigkeiten Geforderten, also des
primären Naturrechts ist, das setzt Antigone selbstherrlich fest, indem sie sich
willkürlich bzw. gemäß ihrer Themis für ihren Bruder und gegen ein potentielles Kind
und einen potentiellen Gatten entscheidet. Antigones Entscheidung für den Bruder und
gegen das potentielle Kind ist zwar nicht irr, aber doch irrational. Die sittlichen
Irrationalismen der Bindung an die Geschwister und an die Vorfahren wird erst das
Christentum aufheben, indem es die konkrete Familie aufwertet und das „Blut“
abwertet. Das Entscheidende wird Joseph Ratzinger sagen in seiner Lehre vom
diskursiven Gewissen (s.u.).

Antigones Handeln ist also aus ihrer Sicht einerseits theonom. Es ist
andererseits aber auch supererogatorisch, weil ein Opfer des physischen Lebens in
Bezug auf eine Begräbnisverpflichtung über das hinausgeht, was von der
Gemeinschaft der Polis naturrechtlich bzw. moralisch gefordert werden kann. Es ist
zwar im Sinne der religiösen Pietät verpflichtend, einen Leichnam den Füchsen,
Wölfen und Raben zu entziehen. Es ist aber nicht absolut verpflichtend. Wer diese
Begräbnisverpflichtung also unterlässt, weil er zu gerne lebt und sich zu schwach fühlt,
um sein Leben zu opfern, dem kann verziehen werden. Deshalb hofft Ismene, dass ihr
verziehen wird. Hätte ihre Schwester Antigone ein Kind unter dem Herzen getragen,
wäre das Leben dieses Kindes in der naturrechtlich-göttlichen Rangordnung höher
gestanden als das Begräbnis des armen toten Bruders.

In der christlichen Tradition ist das ordnungsgemäße Begräbnis für das


Erlangen des ewigen Lebens keine Voraussetzung. Es ist also kein absoluter, sondern
ein relativer Wert, der mit anderen Werten vermittelt werden muss, z. B. mit dem
Recht eines gefährdeten Staates oder mit der Pflicht zur Lebensrettung.

Antigone hat also zwar die auf das Telos ihres Handelns bezogene Pflicht zur
Totenbestattung und zur Sicherung des ewigen Lebens erfüllt. Hat sie aber auch das
Mittel klug gewählt? Hätte sie ihr Ziel auch ohne „Leid“ (V.922 u.927) erreichen
können? Möglicherweise hätte sie beide Ziele, die Vermeidung von eigenem Leid und
die Erlösung des toten Bruders, auf eine humanere Art leichter erreicht, nämlich
104
dadurch, dass sie um die Freigabe der Leiche für ein Begräbnis außerhalb der Polis
bittet. Diese Frage kann aus dem Text heraus aber nicht schlüssig beantwortet werden.
Es hätte dazu einer Demut bedurft, die die Basilissa Antigone mit ihrem schroffen
Adelsethos wohl nicht aufbringen konnte; schon gar nicht Kreon gegenüber, dem
Nutznießer des Todes von Vater und Brüdern, der sie mit seinem Edikt brutal,
undiplomatisch und provokant vor vollendete Tatsachen gestellt hat. Adlige Demut ist
erst ein christliches Konzept.

V. 15. TRAGIK UND MENSCHENWÜRDE

Was bleibt? Antigone ist bereit, ihr Leben hinzugeben. Sein Leben hingeben
kann aber auch ein Fanatiker. Man könnte in Antigone eine Fanatikerin, aber auch eine
Heldin sehen. Das hängt von der Perspektive und vom Wohlwollen ab, das man ihr
entgegenbringt und davon, wie man ihre einzelnen Aussagen gewichtet. Bei dieser
Gewichtung kann der Diskurs hilfreich sein, hier kommt er aber vielleicht auch an
seine Grenzen. „Held“ bzw. „Fanatiker“ sind manchmal synonymische
Unterscheidungen, also Parteivokabeln.

Kreon will schließlich nur noch das Leben Haimons, seines Kindes, retten, das
ihm nun plötzlich wichtiger zu sein scheint als das Gedeihen der Polis. Bisher hatte er
behauptet, dass der Wert des Gedeihens der Polis über dem Wert des Lebens von
Verwandten stehe. Wenn er diese Argumentation immer noch ernst nähme, dürfte er
das Todesurteil gegen Antigone nicht zurücknehmen und müsste er auch den Tod
seines letzten Kindes hinnehmen. Er hat der Polis und ihren Göttern ja schon einen
Sohn geopfert. Diese Kindesopferung hat gezeigt, wie sehr der König und seine Polis
noch dem magischen Denken verhaftet sind oder zumindest in einer krisenhaften Lage
zu ihm regredieren.

Als Kreon sieht, dass das Leben seines Sohnes Haimon gefährdet ist, nimmt er
das Todesurteil gegen Antigone zurück. Damit zeigt sich aber endgültig, dass die Polis
durch Antigones eigenwilliges Begraben ihres Bruders nicht wirklich gefährdet war.
Folglich hat Kreon in Bezug auf Antigone bisher nicht ethisch, sondern ideologisch
105
verbohrt argumentiert. Selbsterhaltung des Ichs und der Familie gehört neben der
Erhaltung der (gerechten) Gesellschaft und der (gerechten) Religion zur
Prioritätenliste des Naturrechts. Die Selbsterhaltung gehört zu den ethischen Pflichten
des Menschen.167 Kreon, Antigone und Ismene ist es nicht gelungen, die körperliche
und seelische Identität und Selbsterhaltung mit der Erfüllung der menschlichen und
religiösen Pflichten gegenüber Polyneikes zu harmonisieren. Das ist ihre Tragik.

Kreons Tragik besteht darin, dass er an seinem Starrsinn scheitert. Starrsinn,


Störrischsein, Verbohrtheit, Sturheit sowie lineares bzw. konsequentes Denken und
Handeln bilden einerseits ein Kontinuum. Andererseits sind sie für synonymische
Unterscheidungen verwendbar. Das hängt vom Kontext ab. Solch ein Starrsinn kann
im Irrtum wurzeln und/oder schuldhaft sein. Es ist ein Irregehen im Sinne der
Hamartia. „Hamartia“ ist ein sehr weiter Begriff, der alles umfassen kann, von der
Voreiligkeit und vom lässlichen Irrtum bis zur schuldhaften Hybris. Kreons Hamartia-
Tragik ist mit einem größeren Anteil an Schuld vermischt als die Tragik der störrischen
und doch auch hingebungsvollen Antigone. Antigones Tragik beruht auf ihrer
Charakterstruktur, auf ihrer Herkunft und auf der Art, wie Kreon mit ihr umgeht. Das
ist ihr Schicksal. Ihre Tragik ist im Wesentlichen eine Schicksalstragik. Aber genau ist
die Schicksals- von der Hamartiatragik weder bei ihr noch bei Kreon abgrenzbar.

Haimon stirbt aus Liebe zu seiner Braut, die für ihn ihr Leben vielleicht nicht
hingäbe. Das ist seine Tragik. Seine Tragik ist in dieser Hinsicht eine Irrtumstragik.
Es ist aber kein verschuldeter Irrtum. Insgesamt ist Haimons Tragik also eher
Schicksalstragik, weil sein Irrtum in Bezug auf Antigone auf einem schicksalshaften
Irrtum beruht. Zwischen Hamartiatragik und Schicksalstragik gibt es also ein
Kontinuum.

Für Sophokles handelt es sich bei der Lösung des Konflikts um das Eingreifen
einer höheren Macht, die ein Sophist bzw. Aufklärer zwar außerreligiös als Zufall oder
als soziologischen Druck seitens der Polis interpretieren könnte. Aber selbst dann
bleibt die Frage: Woher kommt der Druck der Polis? Aus Hygieneüberlegungen, aus

167
Vgl. Anzenbacher, Sozialethik, 67. Anzenbacher beruft sich auf Thomas von Aquin und den
Naturrechtler Johannes Messner.

106
der Angst vor einem konditionierten Überich, aus Mitleid mit Antigone, aus der
Ehrfurcht vor einem Höheren, also aus dem Gewissen, das ja die Verinnerlichung
dieser Ehrfurcht ist? Was geschieht mit einer Polis, in der sich der Basileus aufgrund
seiner subjektiv utilitaristischen Empfindungen, die er deontologisch als Amtspflicht
beschönigt, wie ein Tyrann über ein allgemein anerkanntes Recht und Naturrecht
hinwegsetzt? Das sind konsequentialistische Überlegungen. Welche Antwort gibt es
darauf?

Ohne das Eingreifen der Transzendenz könnte es so weitergehen wie bisher:


„In dick aufgetragener Schwarz-Weiß-Malerei“168 würde man heute oder morgen
einen neuen Eteokles suchen und als gut und gerecht etikettieren – und einen neuen
Polyneikes, der als ehrlos und schlecht verteufelt würde und als Agent der Argiver,
der Ausländer mit Diskriminierung und Ausgrenzung leben müsste. Und es gäbe eine
Bevölkerung, die heimlich murrt, dann nicht mehr murrt, sich dann anpasst, bis man
mit bestem Gewissen eine neue Antigone hinrichtet.

Nach Erik Wolf sieht der Priester Teiresias, „dass Selbstzerfleischung das Los
einer Polis sein müsse, in welcher Tote entweiht, entheiligt, den wilden Tieren zum
Fraße blieben“169. Das ist eine konsequentialistisch-utilitaristische Interpretation. Der
ethische Utilitarismus strebt nach dem Glück der größten Zahl. Dieses Glück kann
man zwar auch im heiter-hedonistisch-materialistischen Sinn auffassen. Ihr ernster
Kern ist aber wohl für jeden Menschen stets die Menschenwürde, zumindest insofern,
als sich wahrscheinlich jeder Mensch wünscht, dass seine Menschenwürde geachtet
wird und dass er sie nicht für ein materiell gutes Leben verkaufen muss.

„Antigone“ ist „das erste Widerstandsstück der Weltliteratur“170. Für den


Christen hat Gott den Menschen mit der Schöpfung eine gute Welt gegeben. Wenn
sich jemand daran versündigt, gibt es ein Recht bzw. eine Pflicht zu einem
gewissenhaften Widerstand, wie ihn die katholische Kirche in der Lehre vom

168
Wolf, Rechtsphilosophie, 254.

169
Ebda, 278.

170
Latacz, Einführung, 202.

107
gerechten Krieg entwickelt hat, die, wenn man sie ernst nimmt, kaum noch als gerecht
klassifizierte Konflikte oder Kriege zuließe.171 Heute spricht man oft von
„humanitären Interventionen“, eine Klassifikation, die manchmal ein Euphemismus
ist oder das Problem zumindest verkürzt und bipolar darstellt, manchmal aber auch
berechtigt ist. Das kann nur im Einzellfall und mit genauer Situationskenntnis
entschieden werden.

Für Gott hat jeder Mensch seine Würde. In der „Antigone“ haben die Polis,
Antigone selbst und der Priester Teiresias die Menschenwürde implizit als das
moralische Prinzip der Polis festgesetzt. Ist „Menschenwürde“ bloß eine Emotion, wie
es der Nonkognitivismus sieht, oder erfassen wir sie auch kognitiv mit der Intuition
und der Vernunft? Welche Funktion hat das Gewissen, in dem unser Konzept von
Menschenwürde wurzelt? Das Gewissen kann ja auch irren, wie auch Antigone
einräumt (vgl. V. 825f.). Wie sieht das Joseph Ratzinger?

171
Vgl. Spindelböck, Josef: Moraltheologische Überlegungen zum „Krieg gegen den Terrorismus“, in:
Pribyl, Herbert (Hg.): Terrorismus – eine apokalyptische Bedrohung? Das Phänomen „Terrorismus“ in
interdisziplinärer Sicht, Heiligenkreuz: Be&Be-Verlag 2010 (=Schriftenreihe des Instituts für Ethik und
Moraltheologie an der Phil.-Theol. Hochschule Benedikt XVI. Heiligenkreuz. 2), 189.

108
VI. WELCHE LÖSUNG EMPFIEHLT JOSEPH RATZINGER FÜR
ZEITEN EINER KRISE DER ETHIK?

VI. 1. JOSEPH RATZINGERS STREIFLICHTER AUF DIE GESCHICHTE DES


NATURRECHTS

Zunächst eine Vorbemerkung: Eine Minimalmoral, die mit einer minimalen


Gerechtigkeit auskommt, verbietet es, die Mitmenschen seelisch oder körperlich zu
verletzen und sie willkürlich ungleich zu behandeln. Dieser enge Begriff von Moral
liegt zumindest theoretisch allen positiven Moralen und allen kodifizierten
Rechtssystemen als Basisnorm zugrunde172, auch dem von Antigone formulierten
Naturrecht mit dem Merkmal des Immergültigen, wozu in der „Antigone“ noch das
Merkmal des von Gott Eingestifteten hinzukommt (die Geister scheiden sich erst bei
der Konkretisierung). Gemessen daran ist die Ethik der Bergpredigt eine Ethik im
weiteren Sinn, eine supererogatorische Ethik, die für einen Christen aber das höchste
Gut darstellt und die ihn erst zum Christen macht.

Kreon hat gegen die Ethik im engsten Sinn verstoßen, denn er hat die beiden
Brüder mit zweierlei Maß gemessen und die Suche nach der Ursache für den Konflikt
an der für ihn günstigen Stelle willkürlich abgebrochen. Es ist ebenso verletzend, wenn
er in Hinsicht auf Haimons und Antigones Leben mit zweierlei Maß misst. Zwar misst
auch Antigone in Bezug auf ihren Bruder und ihren Verlobten mit zweierlei Maß. Sie
verletzt aber keine Pflicht, wenn sie in einem Fall ihr Leben aus Liebe hingibt, während
sie im anderen Fall zu einer supererogatorischen Tat nicht bereit wäre. Kreon hat die
Menschenwürde des Polyneikes und seiner überlebenden Geschwister verletzt, weil er
ihnen ihr Menschenrecht auf eine menschliche Verabschiedung des Toten verweigert
hat. Nun zu Ratzinger.

172
Vgl. Schröder, Winfried: Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den Sophisten bis
Nietzsche, Stuttgart: Reclam 2005 (=Reclams Univ.-Bibl. 18382), 16.

109
Joseph Ratzinger bezieht sich in dem Buch, das uns als Bezugstext dient173,
zwar nirgends explizit auf die „Antigone“, im Hintergrund seines Denkens steht aber
ein in seiner Struktur ähnliches Weltbild, das auf einer naturrechtlichen Basismoral
aufbaut, die aber erst dann vollendet wird, wenn sie von einem Ethos der Liebe, des
Wohlwollens und der Mitmenschlichkeit erleuchtet ist. Die in den folgenden Text
eingeschobenen Verweise auf das Drama des Sophokles stammen nicht von Ratzinger
selbst, sondern von mir. Dasselbe gilt im Folgenden von den metaethischen
Zuordnungen Wiederholungen haben die Aufgabe, die Teile zu verklammern.

Wenn sich Ratzinger in Vorträgen, Reden und Aufsätzen an die Kreons,


Haimons und Ismenens unserer Zeit richtet, um sie an ihre Verpflichtung zur Moralität
zu erinnern, greift er immer wieder vergleichend auf die tradierten Moralen zurück,
um ihren Kern herauszuarbeiten und seine Adressaten im Guten zu bestärken. So zeigt
er (W. 10 – 27), dass Christus die Welt nicht konservieren, sondern als Salvator
politisch und ethisch verbessern wollte. Schon Israel orientiert sich in der Zeit der
Makkabäer (Danielsvision) und in der des Bar Kochba nicht auf ein Beharren, sondern
auf eine Dynamik, die auf die Überwindung eines Zustandes gerichtet ist, in dem das
Existenzrecht Israels von den gefräßigen Tieren der großen Imperien bedroht ist.

Die Hoffnung auf eine Überwindung der Tierheit und eine neue Weltordnung
der unverletzten Menschlichkeit kennzeichnet auch die christliche Ethik, die diese
alttestamentliche Vorstellung mit einer gewissenhaften, d. h. sorgfältigen, aber nicht
bedenkenlosen und automatischen, sondern nur mit einer gewissensgehorsamen
Unterordnung unter die Obrigkeit kombiniert. Der christliche Gehorsam gegen die
Obrigkeit (Röm 13, 1- 6 und 1 Petr 2, 13 – 17) findet seine Grenzen also in den
Pflichten gegen Gott (Mk 12, 13-17) und in den Moralitätspflichten gegen die
Mitmenschen, die für den Christen ja zugleich Pflichten sind, für deren Erfüllung er
Gott gegenüber verantwortlich ist. Wie die Pflichten gegen Gott erkannt werden,
darum geht es Joseph Ratzinger. – Ismene ist im Bezug auf ihre Pflichten gegenüber
der Obrigkeit sogar übergewissenhaft, weil sie im Frühmorgensgespräch mit Antigone

173
Ratzinger, Joseph: Werte in Zeiten des Umbruchs. Die Herausforderungen der Zukunft bestehen,
Freiburg i. Breisgau: Herder 2005. Im Folgenden wird auf diese Primärquelle im Text durch das Kürzel
W. und die Seitenangabe verwiesen.

110
dem Staat mehr Recht zugesteht, als ihm zusteht. Als sie von ihrer Schwester
zurechtgewiesen wird, zeigt es sich, dass sie dem diesseitigen Richter auch dann
gehorsam sein will, wenn er religiös und sittlich Ungerechtes fordert. Sie hofft auf die
Gnade des jenseitigen Richters, weil sie für das Selbstopfer Antigones zu schwach ist.

Der Christ wirkt und arbeitet nach Joseph Ratzinger zwar für eine neue Welt,
aber das „hebt die bestehenden staatlichen Ordnungen nicht auf, die auf der Basis der
natürlichen Vernunft und ihrer Logik weiter walten müssen […]. Ein schwärmerischer
eschatologisch-revolutionärer Messianismus ist dem Neuen Testament absolut fremd“
(W.20f.). Das Salvatorische, das Lösende und Heilende des christlichen Ethos
unterscheidet sich zwar von der Bewahrung der ewigen kosmischen Ordnung im
chinesischen Tao, im indischen Dharma oder von der buddhistischen Verabschiedung
aus der Welt. Die Grundlegung des Staates in der natürlichen Vernunft hat die Ethik
des Neuen Testaments aber mit dem Tao, dem Dharma und „der stoischen Idee des
sittlichen Naturgesetzes“ (W., 21), also mit dem Naturrecht, gemeinsam.

Andererseits bleibt die Geschichtsdynamisierung des Danielbuches im


Christentum immer gegenwärtig durch die messianische Dynamik, dass das Gute zu
tun und das Böse zu lassen sei, die auch dem obersten Grundsatz des Naturrechts
entspricht. Strittig sind aber die Konkretisierungen. Ratzinger empfiehlt als
Konkretisierung dieses obersten ethischen Prinzips den Dekalog, weil dessen Ethos
nicht nur eine jüdisch-christliche Sondermoral darstelle, sondern Ausdruck der recta
ratio, der moralischen Vernunft ist, was sich darin zeigt, dass es mit dem Ethos der
anderen Großkulturen weithin übereinstimmt (Vgl. W. 26). – J. Ratzinger hätte sich
auch auf Antigones Naturrechtsdefinition beziehen können, wenn er sagt, dass schon
die griechische Aufklärung gefordert habe, dass es ein Recht geben müsse, „das aus
der Natur, dem Sein des Menschen selbst folgt“ (W. 34) und nicht nur aus staatlichen
Vorgaben.

In der Neuzeit habe Francisco de Vitoria im Blick auf die amerikanischen


Ureinwohner ein über den einzelnen Völkern stehendes Völkerrecht entdeckt, also ein
Recht, „das der christlichen Rechtsgestalt vorausliegt und ein rechtes Miteinander aller
Völker zu ordnen hat“ (ebda). In der Reaktion auf die Glaubensspaltung wurde von
Hugo Grotius und Samuel v. Pufendorf die Idee eines „Naturrechts als eines

111
Völkerrechts“ (W., 35) entwickelt. Die katholische Idee einer in sich vernünftigen
Natur sei aber im Zeichen der Evolutionstheorie zusammengebrochen, so dass vom
Naturrecht in der Evolutionslehre manchmal nur das geblieben sei, was wir mit allen
Tieren gemeinsam haben (vgl. ebda). Ein letzter Rest des alten Naturrechts seien die
Menschenrechte, die man aber durch Menschenpflichten ergänzen müsste.

Wenn die Christen das Naturrecht als das Recht des Schöpfers der Schöpfung
begreifen, die Inder es als Dharma fassen, als die innere Struktur des Seins, und die
Chinesen es als Tao, als Himmelsordnung erkennen, dann gäbe diese
Übereinstimmung einen fruchtbaren Boden für einen Dialog der Kulturen. – Schon
Antigones Naturrechts-Definition kann man als deduktiv bzw. top down (gott- und
gewissensgegeben), aber auch als diskursiv und induktiv ermittelt sehen, weil es die
Menschen ja aus dem geschichtlichen Vergleich bottom up ermitteln können.

Der Dialog der Kulturen ist nach Ratzinger nicht schwer, weil zum christlichen
Schöpfungsglauben und seinem Naturrecht das von der Gnosis in Frage gestellte
Vertrauen in die Vernunft gehört und weil man in Europa generell nur noch einer
vernunftgelenkten Moral vertraut, die der höchste Wert sein sollte. Um diesen Wert zu
erkennen, hat man langhin auf das moralisch Natürliche, die recta ratio, also auf das
Naturrecht gesetzt. Dieses Naturrecht gelte aber nicht mehr als evident, sondern nur
noch als katholische Parteilehre. Das ist für Ratzinger „eine Krise der politischen
Vernunft, die eine Krise der Politik als solcher ist“ (W., 25, kursiv schon im Original).
Die christliche Kultur und die des säkularen Europa deuten sich nach Ratzinger (vgl.
W., 36f.) zwar als universalistisch, werden von den anderen Kontinenten aber nicht als
universalistisch, sondern nur als westlich wahrgenommen und sind obendrein in sich
vielfach differenziert wie auch der Islam oder Indien. Die Rationalität der säkularen
westlichen Rationalität ist somit gar nicht so universal und evident, wie sie zu sein
scheint. Es gibt also keine rationale, ethische oder religiöse Weltformel und folglich
auch kein Weltethos (vgl. W., 36-38).

Aus jedem rationalen oder ethischen Hochmut quillt allerdings ein gefährlicher
Drang nach Totalität. Deshalb ist in Europa schon Papst Gelasius I. (492-496) mit
seiner Zwei-Schwerter-Lehre für eine Gewaltenteilung zwischen Kirche und Staat
eingetreten (vgl. W., 72). Dieses Prinzip kann aber dort gefährlich werden, wo es um

112
die richtige Art des politisch-moralischen Lebens geht (vgl. W., 72f.). Der säkulare
Staat (s.u., Kelsen) lehnt nämlich die göttliche Verbürgung und Normierung des
Politischen als eine sog. mythische Weltansicht ab. Die Willensbildung wird von ihm
als eine Sache der Vernunft angesehen (vgl. W., 75f.). – Eine Tendenz zu diesem
säkularen Denken zeigt schon Kreon, der ja letztlich nur seine Vernunft kennt und den
Götterglauben nur für seinen Machterhalt einsetzt, mag das auch eher unbewusst vor
sich gehen.

Wenn es nur noch eine säkulare und universale Rationalität gibt, dann ist die
Kirche nur noch eine „Überzeugungsgemeinschaft“ (W.,48),die sich für eine Ganzheit
verantwortlich fühlt, die sie zu überzeugen versucht; sie kann aber nur den überzeugen,
der überzeugt werden will. Letztlich steht also, so kann man Ratzinger
zusammenfassen, die Prinzipiengemeinschaft derer, die sich um die Erkenntnis der
Moralität bemühen, der Prinzipiengemeinschaft der ethischen Egoisten174 gegenüber,
für die nur das kurz- oder langfristige Eigeninteresse zählt und die deshalb unter
Umständen auch die Moralisten als Heuchler zu entlarven versuchen. Ratzinger fragt:
Woher soll der Staat die moralische Wahrheit empfangen? Kann er sie selbst
produzieren? Soll er die empirisch erfassbare Bevölkerungsmeinung umsetzen, also
aus dem Sein ein Sollen ableiten? Sind nicht auch Mehrheiten und ihre Lenker bzw.
Moderatoren und Vermittler irrtumsanfällig und verführbar?

Für Platon, sagt Ratzinger, komme die Wahrheit von dem, der auf die eigene
Höhenfreiheit verzichten kann und der Wahrheit dient, die die Politik selbst nicht
produzieren kann. Dem entspricht nach Ratzinger (vgl. W., 61) das Christentum zwar
nicht als Offenbarungsreligion, wohl aber als Lebensform – eine Ansicht, die
allerdings eine Evidenz in Bezug auf einen Zusammenhang von Moralität und
Christlichsein voraussetze, die zwar im siebzehnten Jahrhundert noch zum
allgemeinen Bewusstsein gehörte, von den heutigen Relativisten aber bestritten wird:

174
Zum Begriff des ethischen Egoismus vgl. Fenner, Ethik, 73. Die metaethische Charakterisierung
stammt hier nicht von Joseph Ratzinger, sondern von mir, G.F.. Auch alle weiteren metaethischen
Einfügungen stammen von mir.

113
Heute ist die Evidenz der Moral so zerfallen, wie der Mensch sich auflöst und zerfällt
(s. u.).

Zwar scheint die „reine Einsicht der Vernunft“ (W., 63) weiterzuhelfen; sie
erscheint in dieser Welt aber nur praktisch als metaphysische und moralische Vernunft,
die ihrerseits teilweise geschichtsabhängig ist. Diese moralische Vernunft haben alle
Staaten (auch das Theben der Sage!) aus vorausliegenden religiösen und zugleich
moralischen und erzieherischen Überlieferungen bezogen, die allerdings nicht
gleichermaßen durch die Aufklärung durchgegangen und deshalb gegenüber dem
Guten nicht im gleichen Maße vernunftoffen sind.

Zwar hat sich von allen religiösen Kulturen primär die christliche als universal
und rational erwiesen, doch zeigen auch die anderen religiös-moralischen
Überlieferungen genauso wie die großen politischen Gebilde wenigstens hinsichtlich
einiger Bereiche der Moralität einen gewissen Grundkonsens. Es sind die Bereiche,
die wir mit dem Begriff des Naturrechts bezeichnen können. Jedenfalls reicht im
Bereich der Moral die reine Vernunft nicht aus: Sie kann den Staat nicht allein tragen,
sondern sie bedarf im Wesentlichen einer geschichtlich gereiften Vernunft, die sich in
der Gestalt des Glaubens zeigt (vgl. W., 64).

Das neue Europa verneint seine sittlichen und religiösen Traditionen. Es hat
versucht, Afrika und Asien zu kolonialen Ablegern Europas umzugestalten. Das hatte
zur Folge, dass die religiösen Überlieferungen nicht nur Europas und Amerikas,
sondern auch Afrikas und Asiens in die Krise gekommen sind und das öffentliche
Leben von säkular denkenden Schichten beherrscht wird (vgl. W., 77). Allein der
Islam scheint noch „eine tragfähige geistige Grundlage für das Leben der Völker zu
bieten […], die dem alten Europa abhanden gekommen zu sein scheint“ (W., 77). In
dieser Lage fragt Ratzinger nach dem, was „unsere Kultur“ (W., 78) noch sei? Man
habe weltweit den Eindruck, die europäische Wertwelt sei schon abgetreten, innerlich
leer, abgestorben, untergehend, am Ende, ohne tragfähige Seelenkraft im Gegensatz
zur Mystik Asiens oder zum Wertesystem des Islam: Was also ist das, unsere
europäische Kultur? Technik, Kommerz, Säkularismus, Zivilisation? Oder ist das
posteuropäisch? Was verspricht ein Dasein, das dem Naturrecht auf Menschenwürde
entspricht? Der große moralische Impuls der Aufklärung?

114
Die Moral der Aufklärung ist für Ratzinger (vgl. W., 90) die rationale Variante
der christlichen Moral. Gott greift – so sieht es die Aufklärung – zwar nicht ständig
durch Wunder ins Weltgeschehen ein, aber er ist immer noch der „Initiator des Alls“
(W., 93). Er hat es so gut geordnet, so dass man seine Struktur studieren und aus ihr
Hinweise auf ein auch moralisch gutes Leben gewinnen kann. Man glaubt also immer
noch „an eine Art von göttlich geprägter Natur“ (ebda), die der Mensch verstehen und
nach der er handeln kann. Das heißt aber auch, dass Gott dem Menschen das
Erkenntnisorgan gegeben hat, mit dem er das von ihm Geschaffene in seiner Gutheit
erkennen und auf den Einzelfall anwenden kann, wenn er es will. – Kreon wollte es
nicht.

Ratzinger fasst das Problem des Naturbegriffs zusammen: „Die Idee des
Naturrechts setzte einen Begriff von Natur voraus, in dem […] die Natur selbst
vernünftig ist. Diese Sicht von Natur ist mit dem Sieg der Evolutionstheorie zu Bruche
gegangen.“ (W.,35) Aber das ist noch nicht Ratzingers letztes Wort. Denn auch der
evolutionistische Naturbegriff kann Hinweise auf das diskursiv zu ermittelnde und im
Gewissen zu uns sprechende Sollen geben. Es gibt freilich keinen Immer-wenn-dann-
Automatismus, der zwischen dem Sein und dem Sollen vermittelt. Reflexhaft einen
solchen logischen Automatismus anzunehmen, wäre tatsächlich ein naturalistischer
Fehlschluss (s.u.).

Ratzinger vergleicht also, so kann man dieses Kapitel resümieren, die


Weltreligionen und sieht in ihnen einen gemeinsamen Kern, den man mit dem Wort
„Naturrecht“ belegen kann, dessen Konkretisierungen aber oft strittig sind, vor allem,
wenn es um grundlegende Fragen und Interessenskonflikte geht.

VI. 2. JOSEPH RATZINGERS FUNDAMENTALETHISCHE PRINZIPIEN

Ratzinger charakterisiert das Gute als eine immer wieder zu verbessernde bzw.
zu erneuernde Ordnung, ob es nun als Tao, als Dharma, als Kosmos oder als
Schöpfung bezeichnet wird. Ordnung heißt Überwindung der Tierheit und Aufhebung
von jeder Art von Unterdrückung und Beleidigung der Menschenwürde. „Innerer und
115
äußerer Friede sind [aber] nur möglich, wenn die wesentlichen Rechtsgüter des
Menschen und der Gesellschaft gesichert sind“ (W., 20), dass also, wenn schon nicht
das Supererogatorische, Verdienstliche, so doch zumindest das universal sittliche
Naturgesetz anerkannt wird, durch das schon die Stoa das begrenzte Polisdenken
aufzuheben versucht hat.

Mit dem Frieden ist also die Idee aller Spielarten der Gerechtigkeit verbunden,
unabhängig von Geschlecht und Hautfarbe. Das Apriori aller Spielarten von
Gerechtigkeit ist die gleiche Würde aller Menschen, die Denk- und Glaubensfreiheit,
aber auch die Erhaltung der Schöpfung. Diese Werte seien allerdings wie der Wert des
Friedens und der Gerechtigkeit unbestimmt bzw. unterbestimmt (vgl. W., 25). Man
kann sie also, so könnte man Ratzinger interpretieren, durch Zwar-Aber-Formeln
rückgängig machen. Das heißt, man gesteht z.B. die Wissenschafts- und
Religionsfreiheit zwar zu, nennt dann aber selbstherrlich und willkürlich
einschränkende konkrete Bedingungen, die das, was man vorher theoretisch und
prinzipiell zugestanden hat, praktisch wieder aufheben und dem Menschen mithin das
Recht, als Mensch geachtet zu werden, vorenthalten. Das wäre ein Angriff auf die
Selbstachtung des Menschen und sein zentrales ethisches Prinzip, die
Menschenwürde.

Für Ratzinger sind diese ethischen Grundprinzipien aber trotz ihrer


Unbestimmtheit und Manipulierbarkeit unverrückbares Recht (vgl. W., 30), durch das
die Welt zusammengehalten wird (vgl. W., 40). Dieses unverrückbare Recht, von dem
Joseph Ratzinger hier spricht, entspricht genau dem Naturrecht, wie es in der
Einleitung anhand der vier Gebote des primären Naturrechts dargestellt wurde.

Ohne das Prinzip der Menschenwürde löst sich die Person auf und ist nur noch
ein Bündel von unterschiedlichen Theaterrollen. Dann wird der Mensch zu dem
Rädchen, das sich - wie der Phylax in der „Antigone“ - brav und ergeben in die von
anderen Rollenträgern bzw. Funktionären vorgegebene Richtung dreht, um seinen
Frieden zu haben. Auf diese Funktionäre wird auch Ratzinger noch zu sprechen
kommen (s. u.).

Bedingung dafür, dass sich die Welt nicht auflöst, ist eine Freiheit, „die auf
ihren sittlichen Grund und ihren sittlichen Auftrag bezogen bleibt“ (W., 43). Es ist eine
116
Freiheit mit den Merkmalen der Gebundenheit an das Rechtliche und Gute, zu der der
Verzicht gehört, das Opfer und die Bindung an eine gemeinschaftliche Moral (vgl. W.,
44). Das ist das wahre Gute und der nichtrelativistische Kern (vgl. W., 51) aller
Moralität.

Der Chor in der „Antigone“ hat seinen Status durch offene Formulierungen,
die dem König nicht weh tun, zu erhalten versucht. Ratzinger würde dieses Verhalten
so beurteilen: „Der Einzelne darf seinen Aufstieg, sein Wohlbefinden nicht durch
Verrat an der erkannten Wahrheit erkaufen. Die Menschheit darf es nicht.“ (W., 111)
Wer nur den Weg der Macht geht und des Könnens, der handelt nicht
gottesebenbildlich, denn der gottesebenbildliche, menschliche Mensch tut nicht, was
er aufgrund seiner Position – z.B. als Basileus – tun kann, sondern das, was er aus der
Sicht der natürlichen Sittlichkeit tun soll (vgl. W., 112-114). Letztlich aber ist die
Moralität zu Hause nur im Reiche Gottes. Dieses Reich Gottes ist in der Wirklichkeit
dieser Welt aber nirgends zu finden. Es kann das Dasein aber doch zumindest innerlich
verwandeln, wenn sich der Mensch der Vernunft und der Liebe öffnet: Wenn sich der
Mensch Gott nähert, dann wird die Welt dem Reich Gottes angenähert und wird der
Mensch zum menschlichen Menschen.175 Diese supererogatorische Liebesethik wird
schon bei Platon präfiguriert und vom Christentum „zu seiner vollen Gültigkeit
gebracht“ (W., 135). – Bei Antigone ist sie noch an die Familie ihrer Kindheit
gebunden. Das Christentum will sie universalisieren.

Wer den Menschen nur als Mittel zum Zweck der Verfolgung seiner Interessen
sieht, nimmt dem Menschen die Menschenwürde. Insofern ist Ratzingers Ethik
teleologisch bzw. konsequentialistisch auf die Menschenwürde bezogen, die der Christ
aus der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ableitet: Wer gottesebenbildlich ist, darf
nicht wie eine Sache instrumentalisiert werden. Und als Ebenbild Gottes muss er auch
mit der übrigen Schöpfung, mit Tieren und Pflanzen, behutsam umgehen, weil sie ein
Geschenk Gottes ist.

175
Vgl. Benedikt XVI. [=Joseph Ratzinger], Buch, 15.

117
VI. 3. JOSEPH RATZINGERS DIAGNOSE DES ETHOS DER GEGENWART

Es hat immer wieder Zeiten der Unterdrückung Israels gegeben. Zur Zeit der
Makkabäer und des Bar Kochba erwartet Israel die Wende durch das Eingreifen
Gottes. Wenn das positive Recht das Recht eines totalitären Staates ist, der sich selbst
verabsolutiert und für das Ganze ausgibt, sind Frieden und Recht nicht wirklich
möglich (vgl. W., 20). Parteiliche Mythen wie die des Rassismus oder der
Revolutionsvergottung sind böse. Mythisch vereinseitigte Werte wie Wissenschaft,
Freiheit und Fortschritt sind Zeichen einer „Krise der politischen Vernunft, die eine
Krise der Politik als solcher ist“ (W., 25). Die säkulare Rationalität kann in eine
pathologische Hybris ausarten, wenn sie gegenüber der in den Glaubenstraditionen der
Menschheit aufgehobenen moralischen Vernunft verblendet ist (Vgl. Kreon!). Joseph
Ratzinger verweist diesbezüglich auf jenen geistig beweglichen, rationalen Offizier,
der nur Fachkompetenzen kennt und deshalb beliebigen Interessen und Maßstäben
gehorcht, die sich selbst absolut setzen (vgl. W., 42).

Negativ zu bewerten ist nach Ratzinger auch die Spielart der Freiheit, deren
Merkmale Würdelosigkeit, Egoismus, Selbstbezogenheit, sittenlose
Bedürfnisbefriedigung, Animalität und ordnungslose Anarchie sind (vgl. W., 43).
Wenn eine politische Institution, auch wenn sie von einer Mehrheit getragen wird, um
ihrer Freiheit willen den von den geschichtlich tradierten Kulturen aufbewahrten
Grundbestand der sittlich religiösen Einsichten nicht achtet und sich „von den großen
sittlichen und religiösen Kräften der eigenen Geschichte“ (W., 47) abschneidet, dann
ist das der „Selbstmord einer Kultur und einer Nation“ (ebda).

Dann kann es so weit kommen, dass sogar der Mensch als Person als
freiheitsgefährdend gilt, weshalb das Ich aufgelöst werden muss zu einem „Phänomen
ohne Zentrum und ohne Wesen“ (W., 57), also zu einem Rollenträger auf der Bühne
der Freiheit. Auflösung der Evidenz der Moral und Auflösung und Zerfall des
Menschen entsprechen einander (vgl. W., 61). Wo immer sich ein Teil angemaßt hat,
das Ganze zu sein (wie der hybride Kreon, aus einer bestimmten Perspektive aber auch
Antigone in ihrem adeligen Hochmut gegenüber Ismene), wurde er zu einem

118
totalitären Raubtier, das die Person in seine Fänge nimmt, um sie zu zerreißen (vgl.
W., 66).

Es ist Hybris, wenn man sich dem Schöpfer nicht mehr unterwirft (vgl. W., 84).
Dieser Hochmut und der Drang nach Totalität bedingen einander (vgl. W., 72). Um
dieser Totalität willen wird der Mensch funktionalisiert, als Mittel zum Zweck
degradiert. Dem dient auch, dass man die moralischen Werte und religiösen
Urgewissheiten auflöst. Auflösung der Person, Auflösung der kulturell-moralischen
Traditionen und Auflösung der Religion sind wesensident.

Hinter dieser Tendenz zur Auflösung kann zwar auch ein Wille zur
Wahrhaftigkeit stehen, oft steht hinter dieser Wahrhaftigkeit aber nicht der Wille zur
Moralität, sondern nur die banale sog. Subjektivität eines konformistischen
Liberalismus: Man braucht nur von seiner Persönlichkeit und Einzigartigkeit
überzeugt zu sein und sich zugleich an den Mainstream anzuschließen, um von ihm
bestätigt zu werden, dann hat man sein gutes Gewissen, und im Prozess der
gegenseitigen Meinungsbestätigung „erniedrigt sich das Niveau der herrschenden
Meinungen selbst von Tag zu Tag“ (W., 108). Das Gewissen wird dann mit dem
Maßstab des eigenen Aufstiegs und Wohlbefindens gemessen; an die Stelle der
Wahrheit tritt die Nützlichkeit und die Ethik des Erfolgs, in der jeder selbst der
Maßstab ist (vgl. W., 113).

Wo die ordnungsstiftende Rolle des Staates als Mittel zum bösen Zweck
funktionalisiert wird, muss sich jeder bzw. jede durch lügnerische Anpassung
schützen, so dass er bzw. sie in erkannter oder unerkannter Schuld (hier verweist
Ratzinger auf Psalm 19,13) dem Bösen dient, das sich maskiert, indem es sich auf eine
von ihm selbst verdrehte Moral und Rechtmäßigkeit beruft (vgl. W., 125) und so seine
Macht festigt. Wo das positive Recht auf Gottesferne, Willkür und Lüge beruht, wie
z. B. bis 1989 in einem Teil Osteuropas, zerbricht jede Gemeinschaft, weil sie nur
durch Vertrauen zusammengehalten werden kann. Allerdings sei zu fragen, so
Ratzinger (vgl. W., 125f.), warum die meisten Völker Asiens und Afrikas dem
osteuropäischen politischen System mehr vertrauten als dem des Westens und es für
moralischer hielten. Daraus ergeben sich für ihn zwei allgemeinere Fragen.

119
Erstens: Warum sind das Recht und die Versöhnungsfähigkeit in Gefahr,
aufgelöst zu werden? Ratzinger sieht zwei Zynismen als Ursache: Erstens in ihrer
Mittelwahl skrupellose Ideologien, die den Begriff des angestrebten Guten so
verschieben, dass für das gute Ziel jedes böse Mittel recht ist. Es gibt da ein Kontinuum
von der Schadenslüge bis zum politischen Mord bzw. souverän angezettelten Krieg
und ihren verschiedenen Maskierungen. Als zweite Ursache für die Auflösung von
Recht und Versöhnungsfähigkeit sieht Ratzinger die zynisch-skrupellose
Durchsetzung der Interessen und der Gewinnmaximierung. Wenn man das berechtigte
Ethos der Interessen, des Gewinnstrebens und der moralischen Bestandteile der
Ideologien aus Hybris und Gier innerlich auflöst, dann verfehlt man schließlich auch
das Strebensziel der rationalen Ethik des Egoismus und der Nützlichkeit. Damit das
Gewissen nicht von der Ideologie und den Interessen aufgelöst wird, müssen wir nach
Ratzinger also Versöhnlichkeits- und Friedensfähigkeit als Merkmale der
Wahrheitsfähigkeit erkennen können. Das sind zwei Ursachen dafür, warum das Recht
und die Versöhnungsfähigkeit auflösungsgefährdet sind.

Nun zur zweiten Frage: Woher kommt der Terror? Er kommt nach Ratzinger
zwar aus dem verbrecherischen Impuls des Terroristen, dessen Tun manchmal aber
auch „aus bestehendem Unrecht“ (W., 129) quellen kann, dem nicht wirksam entgegen
getreten wurde. Dieser zweiten potentiellen Quelle des Terrors können wir begegnen,
indem wir „auf die Beseitigung des vorausgehenden Unrechts“ (ebda) bedacht sind.
Nur durch Einbeziehung der Präzedentien und durch das auf Vorschuss
Vergebenkönnen ist der „Ring der Gewalt“ (ebda) durchbrechbar. Das gilt auch für
jene Fälle, wo eine entgegenkommende Menschlichkeit im ersten Augenblick als
Ressourcenverschwendung erscheint.

Wo eine Macht im Staat oder eine staatliche Macht auf den Kontinenten eine
Hegemonie ausübt und folglich ein Monopol auf die Rechts- und Moralinterpretation
(s.o., die Zwar-aber-Formeln) beansprucht, sind das Völkerrecht und die Sicherung
des Rechts aller gefährdet. Das kann die unterdrückte Vernunft und das pathologische
Religionsverständnis von Fanatikern provozieren. Das geschieht, wenn die staatliche
Macht glaubt, den Menschen in seine Teile zerlegen, dann wieder neu
zusammensetzen und das gewünschte Menschenprodukt so konstruieren zu können
wie ein lebloses Ding. Dann ist die Menschenwürde nur noch ein Wort, mit der das
120
Kunstprodukt Mensch wie in der Werbebranche beworben und auf reflexhaftes
Denken konditioniert wird. Folglich zählt man das Sittliche und Religiöse zum
Subjektiven, verneint einen objektiven, aus der Natur gewonnenen Maßstab176, mit
dem Sittlichkeit und Unsittlichkeit gemessen werden könnten, und die Religion gilt
dann als „eine Art subjektiver Verzierung“ (W., 132) des synthetisch hergestellten
Menschen.

Wenn die „Wirklichkeit nur Produkt mechanischer Prozesse ist“ (ebda), mithin
nur das Ergebnis einer Konditionierung, dann bleibt für das moralisch Gute kein
Raum; übrig bleibt nur eine darwinistische Erfolgs- und Interessenethik: Der
nachhaltige Erfolg im Konkurrenzkampf und der Erfolg im Krieg gelten dann als das
Gute. Man kalkuliert die Konsequenzen seines Tuns in kaufmännischen Argumenten
pro und contra, man kalkuliert auch mit moralischen Größen und rechnet nach, ob sie
den kurz- oder langfristigen Gewinn steigern. Ja, „es kann [für Utilitaristen] auch
einmal gut sein, unschuldige Menschen umzubringen“ (ebda), wenn man dadurch dem
Ziel einer vernünftigen Ordnung der Welt näher kommt. Damit wendet sich Joseph
Ratzinger gegen die Ethik des Utilitarismus, der mit dem Glück der größten Zahl
kalkuliert. Wer immer noch glaubt, er könne ethische Werte mit seiner Vernunft
definitiv erkennen, wird dann von der erkrankten Vernunft als Fundamentalist
gebrandmarkt. Dann ist „Vernunft“, wie man Ratzinger interpretieren könnte, nur noch
eine Leerformel und ein Wendewort. Jaques Derrida habe, so Ratzinger, solcherart die
Begriffe von Staat, Demokratie und Terror aufgelöst und dekonstruiert (vgl. W.,
132f.).

Für Joseph Ratzinger sind eine Religion ohne Vernunft und eine Vernunft ohne
Religion bedroht, an sich selbst zu erkranken. Dann kommt es zum Missbrauch der
Religion, aber auch zum Missbrauch der Vernunft, die glaubt, das „Vernünftige“ und
„Menschliche“ willkürlich konstruieren und den Menschen und sein „Gewissen“
konditionieren zu können. Wo eine Macht „den Menschen nicht mehr als Geschenk
des Schöpfers (oder der ,Natur‘)“ (W., 131) sieht, sondern die „Vernunft“ unterdrückt

176
Zum naturalistischen Fehlschluss s.o.. Vgl. auch Fenner, Ethik, 87: Der Bezug auf die Natur sei
wahrscheinlich der im Alltagsdiskurs meistgebrauchte Argumentationstypus.

121
und ihre eigene, zum Pathologischen tendierende zerstörerische „Vernunft“ (vgl. W.,
131) durchdrückt und glaubt, dass man den Menschen wie eine Maschine
ummontieren kann, dort können ebenfalls die pathologische „Vernunft“ und das
pathologische Moral- und Religionsverständnis von Fanatikern provoziert werden
(vgl. W., 130f.).

„Lebensgefährliche Pathologien für den Frieden“ (W., 130) sind für Ratzinger
ethisch kontraproduktiv. Denn sie bewirken nur „Auflösungen des Rechts und der
Versöhnungsfähigkeit“ (W., 126).

VI. 4. DAS NATURRECHT AUS DER NONKOGNIVISTISCHEN SICHT HANS


KELSENS. JOSEPH RATZINGERS GEGENARGUMENTE UND STAATSETHIK.

Zunächst eine Vorbemerkung: Schon der idealtypische Jurist des neunzehnten


Jahrhunderts neigt zum Rechtspositivismus. Er geht wie jener oben genannte Offizier
von der faktischen Geltung seiner Paragraphen aus und will sich deshalb nicht mit
einem sogenannten „Naturrecht“ herumschlagen. Er nimmt es aber solange hin, als es
bereit ist, die gesetzgeberische Willkür metaphysisch zu legitimieren. Für ihn bzw.
auch für eine heutige Juristin ist nur sein bzw. ihr Recht das ganze Recht. Daneben
lässt der idealtypische Jurist bzw. die idealtypische Juristin zwar eine Moral bzw. ein
Naturrecht gelten, aber nicht als eine Norm, die über dem positiven Recht steht und
beansprucht, eine höhere Instanz zu sein, die das positive Recht erst legitimiert. Das
Naturrecht gilt nicht als verbindlicher Maßstab oder ewiger und metaphysischer
Grund, sondern als Unkraut und Nonsens.177

Gleichgültig, ob sich Naturrechtler bzw. Naturrechtlerinnen bei ihrem Tun auf


ein religiöses Gesetz, auf ein Ethos, die Natur oder die Vernunft berufen: Es werden
ihnen zwar subjektive Motive und Intentionen zugestanden, der Rechtspositivismus
bestreitet ihren Argumenten aber jeglichen übersubjektiven Geltungsgrund: Der
Rechtspositivist bzw. die Rechtspositivistin sieht im Naturrecht nur leere Worte. Er

177
Vgl. Ružička, Rudolf: Art. Naturrecht. VI. Neuzeit, in: HWP 6 (1984), 609-623, 611.

122
bzw. sie entspricht jenem oben genannten Offizier: Der Jurist bzw. die Juristin macht
das Recht im Dienste seines bzw. ihres Souveräns, also dessen, der die faktische Macht
hat und dafür seine bzw. ihre bestimmte Rechtlichkeit beansprucht. Das ist auch die
Argumentation des Pilatus. – Nun zu Hans Kelsens Rechtspositivismus.

Nach Hans Kelsen entspricht es der naturrechtlichen Idee „als einer


,natürlichen‘ Ordnung […], daß [sic] deren Normen, weil sie unmittelbar aus der
Natur, aus Gott oder der Vernunft hervorgehen, ebenso einleuchtend sind wie etwa die
Regeln der Logik; und daß [sic] es daher keines Zwanges bedarf, um sie zu
realisieren“178. Dagegen gewinnt für ihn179 die positivrechtliche Norm ihre sogenannte
Rechtmäßigkeit nur dadurch, dass sie von einem spezifischen Menschen performativ
erzeugt wird. Weil er die Macht hat, einen gewollten Sachverhalt auf den Namen
„Recht“ zu taufen, gilt er als „,Autorität‘ “180. Sein positives Recht verzichtet auf eine
naturrechtliche Legitimierung, die Kelsen als „Metaphysik“181 und als „Ideologie“182
abwertet. Er bescheidet sich damit, Kelsens´ „Naturrecht“ eine relative Gerechtigkeit
zuzugestehen. Dass es ein Naturrecht gibt, das er mit der Moral gleichsetzt183, wird
von ihm nicht bestritten: „Die Norm des Naturrechtes gilt kraft ihres inneren Gehaltes,
weil sie ,gut‘, ,richtig‘, ,gerecht‘ ist“184, aber es fehlt ihr die Möglichkeit, dieses Gute
und Gerechte zu erzwingen185, weil ihm die politische Macht fehlt: „Die

178
Kelsen, Hans: Die Idee des Naturrechts, in: Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur
Ideologiekritik. Mit e. Einl. hgg. v. Ernst Topitsch, München: Fink ²1989, 73-113, 78.

179
Vgl. zu Kelsen auch Kühl, Kristian: Art. Naturrecht. V. Neuere Diskussion, in: HWP 6 (1984), 609-
623, 607.

180
Kelsen, Idee, 78.

181
Ebda, 86.

182
Ebda, 106.

183
Vgl. ebda, 82.

184
Ebda, 78.

185
Vgl. ebda, 79.

123
Naturrechtsnorm realisiert sich sozusagen ,von selbst‘.“186 Deshalb ist ihr Ergebnis
nicht eine staatliche „Zwangs-,Organisation‘. Versteht man unter ,Anarchie‘ nicht
schlechthin Ordnungslosigkeit, sondern nur die Idee einer zwangsfreien,
nichtstaatlichen Ordnung, dann kann man das Naturrecht als „eine ,anarchische‘
Ordnung bezeichnen“187. - Nun zu Ratzingers Staatsethik.

Die naturrechtliche Moral bzw. Moralität ist, wie schon Kelsen sieht, auch für
Joseph Ratzinger wehrlos, ohne Macht, ohne Zwangsgewalt. Deshalb fordert
Ratzinger die Regierungen auf, dass sie dieser überpersönlichen Moral, der Moralität,
„die eigentliche Macht“ (W., 44) zuerkennen und sie als über sich stehend anerkennen.

Es ist für Joseph Ratzinger ein Problem, wenn im Staat nicht der Generalwille
der Machtträger bestimmend bleibt, sondern sich der Machtwille der Funktionäre (vgl.
Kreon!) verselbstständigt. Damit sich dieser Machtwille der Funktionäre nicht
verselbstständigt, sondern der Allgemeinwille der machtübertragenden Bevölkerung
bestimmend bleibt, wird in der Demokratie ein größtmögliches Maß an Freiheit
gefordert.

Aber solch eine „inhaltslose Individualfreiheit“ (W., 50) ist für Ratzinger nur
der erste Schritt zur totalen Gewalt. Deshalb bedürfe es einer auf das Rechte und Gute
bezogenen, also einer moralischen „Ordnung der Freiheiten“ (ebda), die aber nicht
vom Staat aufgedrängt werden soll. Wenn der Staat seinen Begriff des Guten allen
anderen aufzuerlegen versucht, knechtet er deren Gewissen.

Das wahre Gute ist aber auch nicht kollektiv erkennbar, sondern strittig. Wie
findet man dann „einen nichtrelativistischen Kern“ (W.,51), einen unverzichtbaren,
unantastbaren „Grundbestand […] an sittlicher Wahrheit“ (ebda)?

Die relativistische Position Hans Kelsens will nach Ratzinger (vgl. W., 52f.)
den Begriff des moralisch Guten nicht, weil er die Freiheit gefährde. Und den
Naturrechtsbegriff lehne Hans Kelsen ab, weil das Naturrecht metaphysikverdächtig

186
Ebda, 81.

187
Ebda.

124
sei. Folglich bleibt dieser relativistischen Position nach Ratzinger nur die Willkür des
positiven Rechts. Das ist eine nonkognitivistische188 Position, die, so Ratzinger, der
skeptische Römer Pilatus vertritt, wenn er den Messias fragt: „Was ist Wahrheit?“ (Joh
18,38). Für die entgegengesetzte Position muss die Wahrheit das Apriori der Politik
sein und sie erleuchten; diese kognitivistische Position (z.B. Haimons) vertraut darauf,
dass die Vernunft „die Wahrheit zeigen kann“ (W., 52). Der vor Pilatus stehende Jesus
erinnert seinen skeptischen Richter daran, dass er seine Vollmacht „nicht aus sich
selbst, sondern von oben‘“ (Joh. 19,11)189 hat.

Ein Staat (z. B. das im Augenblick tyrannisch regierte Theben Kreons), der
sich selbst ausgibt als die Quelle der Wahrheit und des Rechts, verdient keinen
Gehorsam, weil er sich an der ihm nur treuhänderisch übergebenen Macht vergeht (vgl.
W., 53). Der Staat muss „die Wahrheit über das Recht immer wieder von außen
empfangen“ (W., 56).

Aber woher? Für Kelsen und die Relativisten könne die Quelle der Wahrheit
nicht das Gute sein, weil das Gute die Freiheit gefährde – und die Herrschaft der
Mehrheit. Aber, so argumentiert Ratzinger, auch Mehrheiten sind „verführbar und
manipulierbar“ (W., 57); auch Mehrheiten können sich irren, sie können die
Menschenrechte willkürlich auslegen und so die menschliche Würde mit Füßen treten.
– Auch wenn die Mehrheit, ja sogar die ganze Polis im griechischen Theben die
Menschenwürde augenblicklich nicht mit Füßen tritt, sondern sie vielmehr im Stillen
hochhält.

Wenn das positive Recht nicht im Dienste aller Menschen steht, ist es Ausdruck
der Willkür und der berechnenden „Rechtsanmaßung derer, die die Macht dazu haben“
(W., 30). Dann ist der letzte Geltungsgrund „die Macht des Stärkeren, der die Mehrheit
für sich einzunehmen weiß“ (W., 58). Joseph Ratzinger wendet sich also gegen jede
Form von ethischem Egoismus, gegen den egoistischen Kontraktualismus, aber auch
gegen die utilitaristische Nutzenmaximierung. Ratzinger geht es in seiner Staatsethik

188
Die metaethische Kennzeichnung stammt – hier, wie im ganzen Ratzinger-Kapitel – von mir, G. F..

189
Die Bibelstelle wird hier im Wortlaut Ratzingers (W., 54) zitiert.

125
um die Menschenwürde jeder einzelnen Person. Hier wird keine Minderheit einer
Mehrheit utilitaristisch aufgeopfert. Seine Ethik ist insofern teleologisch, als sie ihr
Ziel in der personalen Würde hat, die ja mit der Gottesebenbildlichkeit auch noch des
verachtetsten Menschen zusammenhängt. Wie schon für Kant in seinem kategorischen
Imperativ (s.o. Einleitung) haben auch für Ratzinger der Mensch und der Staat dafür
zu sorgen, dass der Mensch nicht nur Mittel ist (das ist er auch!), sondern immer auch
Endzweck. Somit ist der Staat für ihn dazu da, dass nicht nur eine relevante Mehrheit,
sondern „jeder ein menschenwürdiges Leben führen kann“ (W., 54). – Auch Antigone
hat dieses Recht.

Ein Staat kann sich über eine Größe von Klasse oder Rasse, aber auch über die
Perspektive einer selbstherrlichen Gruppe oder aufgrund von Mehrheitsverhältnissen
definieren. Wenn er glaubt, aus diesen Größen die Wahrheit oder eine wahre Moral
schöpfen zu können, dann überschreitet er seine Zuständigkeiten, denn er ist nicht
selbst die absolute Quelle der Wahrheit und Moralität.

Das Staatsziel darf aber auch nicht eine inhaltsleere Freiheit sein. Für eine
„Ordnung des Miteinander“ (W.,63) bedarf es eines nichtmanipulierbaren Apriori „an
Wahrheit, an Erkenntnis des Guten“ (ebda). Ein Staat ohne „Gerechtigkeit, die gut ist
für alle“ (ebda), wäre nur eine gut funktionierende augustinische Räuberbande (vgl.
ebda).

Die Werte der Freiheit und der Demokratie könnten nach Karl Popper, so
referiert ihn Ratzinger, zwar annäherungsweise erkannt, aber nicht rational begründet,
sondern nur im Dialog erörtert und nur einer Abstimmung zugeführt werden (vgl. W.,
60-62). Daraus folgt nach Joseph Ratzinger (vgl. W., 62), dass von der Moral zwar nur
eine Minimalmoral bleibt, die ihre Abkunft aus der jüdisch-christlichen Sittlichkeit
aber nicht verleugnen kann.

Der Staat hat nach Ratzinger jedenfalls nicht das Recht, Wahrheit und Moral
autoritär zu verordnen, auch nicht unter dem Diktat von Mehrheit, Klasse oder Rasse.
Wenn der Staat nicht zu einer Gruppe von Beutemachern herabsinken will, bedarf es
einer von staatlichem und wirtschaftlichem Zwang freien Erörterung des Wahren und
Guten. Da der Staat das Gute nicht selbst erkennen kann, muss er es von einer von ihm
unabhängigen Instanz beziehen, z. B. von einer Vernunft, die im Diskurs autonomer
126
Denker erörtert wird. Diese Vernunftmenschen sind in ihren moralischen
Vorstellungen aber immer schon geschichtsabhängig, und tatsächlich ist der Staat
immer schon in religiösen Traditionen gestanden, die allerdings von Religion zu
Religion unterschiedlich vernünftig sind.

Das Christentum hat mehr rationale und universale Elemente als andere
Religionen und kann mit dem Staat deshalb gut kooperieren. Die durch den
christlichen Glauben gereifte Vernunft ist eine tragfähige Basis des Staates. Allerdings
hat der Christ seine Heimat und seinen Staat letztlich im Himmel (Ratzinger verweist
auf Phil 3, 20.). Er bleibt also ein Fremdling und Mitbewohner, der nach der Stadt und
dem Staat Gottes sucht (vgl. W., 65f.). „Das Zugehen auf die andere Stadt entfremdet
[aber] nicht, sondern ist in Wirklichkeit die Voraussetzung dafür, dass wir gesunden
und dass unsere Staaten gesunden. […] Wenn wir nicht erneut in die Fänge des
Totalitarismus geraten wollen, müssen wir über den Staat hinaussehen, der ein Teil
und nicht das Ganze ist.“ (W., 66)

Recht ist nur „das, was seinem Wesen nach unverrückbar Recht ist“ (W., 30),
und zwar, unabhängig davon, ob es von einer Macht oder einer Mehrheit getragen
wird, denn es gibt auch blinde und ungerechte Mächte bzw. Mehrheiten. Eine
essentielle Moral muss evident sein, wenn sie sich durchsetzen und die Menschen zu
moralischem Handeln motivieren soll. Was aber macht das „Wesentliche“ und
„Essentielle“ zum wirklich Wesentlichen und Essentiellen?

VI. 5. WIE WIRD DAS ETHISCH GUTE NACH JOSEPH RATZINGER ERKANNT
UND ERREICHT?

Beginnen wir dieses Kapitel mit einem Motto aus einer Predigt Ratzingers. Er
sagt: „Wir haben von unseren Vätern ein kostbares Gut geerbt, den wahren Glauben
und mit ihm die wahre Menschlichkeit des Menschen, den eigentlichen Fortschritt, die

127
Möglichkeit, in Jesus Christus Gott zu berühren und das Reich Gottes.“190 Hier finden
wir einen sicheren Wegweiser.

Die Dynamisierung der Geschichte, wie sie das Danielbuch aus der
Makkabäerzeit zeigt, bleibt auch heute noch gegenwärtig durch die messianische
Dynamik, die befiehlt, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Das ist nach dem
Naturrecht des Thomas von Aquin191 der irrtumsfreie Bereich des Gewissens im
Gegensatz zum irrtumsanfälligen Gewissen, das sich mit der Konkretisierung des
Guten und Bösen befasst.

Zum Schöpfungsglauben und seinem Naturrecht gehört auch das Vertrauen auf
die Vernunft. Diese im Dienst des Friedens und der Gerechtigkeit stehende moralische
Vernunft ist für Ratzinger das Korrektiv gegen die Gewissensverblendungen durch
Parteimythen, die die intuitive moralische Einsicht des Gewissens behindern. Da auch
Mehrheiten blind und ungerecht sein können (vgl. W., 30), sollte nicht die Mehrheit,
sondern die vernunftgelenkte Moral der höchste Wert sein.

Um diesen Wert, also die Moralität, zu erkennen, hat man langhin auf das
Naturrecht und seine natürliche Sittlichkeit gesetzt. Hinter ihm steht der Glaube an
eine „gemeinsame Vernunft aller Menschen“ (W., 25) als das Apriori allen Rechts.
Zwar stimmt der von Ratzinger empfohlene jüdisch- christliche Dekalog mit dem
Ethos der anderen Großkulturen weithin überein, aber dennoch sei die Frage
wissenschaftlich unbeantwortet, was das essentiell Gute sei und weshalb man es auch
gegen seine eigenen, individuellen Interessen verwirklichen müsse.

Die Wissenschaft hat nach Ratzinger die alten sittlichen Gewissheiten


aufgelöst. Sie hat die moralische Berufung auf die Natur als einen Sein-Sollens-
Fehlschluss entlarvt und der Stimme des subjektiven Gewissens, mit dem das
Naturrecht erkannt wird, den Universalitätsanspruch und damit seine kategorische
Verbindlichkeit streitig gemacht. Wenn das positive Recht nicht im Dienste aller

190
Papst Benedikt XVI. [=J. Ratzinger], Buch, 23.

191
Vgl. Specht, Rainer: Art. Naturrecht. III. Mittelalter und frühe Neuzeit, in: HWP 6 (1984), 571-582,
572f..

128
Menschen steht, ist es nur Ausdruck der Willkür und der „Rechtsanmaßung derer, die
die Macht dazu haben“ (W., 30).

Wie aber entsteht das Apriori der vorpositiven Rechtlichkeit? Recht ist nur
„das, was seinem Wesen nach unverrückbar recht ist“ (W., 30), und zwar unabhängig
davon, ob es von einer Macht oder Mehrheit getragen wird oder nicht, denn es gibt
auch blinde und ungerechte Mehrheiten. Eine essentielle Moral muss evident sein,
wenn sie sich durchsetzen und die Menschen zu moralischem Handeln motivieren soll.
Ratzinger fragt nun provokant, ob es nicht doch „eine Vernunft der Natur und so ein
Vernunftrecht für den Menschen“ (W., 36) geben könne? Diese Frage wäre in einem
interkulturellen Dialog zu klären.

Die Vernunft sei zwar ein Kontrollorgan gegen religiöse Pathologien, könne
als säkulare Rationalität aber ihrerseits in Hybris ausarten, wenn sie sich gegenüber
der moralischen Vernunft in den religiösen Lehren der Menschheit verschließe. In
solch einem gegenseitigen Reinigungsprozess könnten die „von allen Menschen
irgendwie gekannten oder geahnten wesentlichen Werte und Normen neue Leuchtkraft
gewinnen“ (W., 40) und die Welt zusammenhalten. - Wer aber sein Gewissen nicht
befragt, wie Pilatus oder jener schon genannte Offizier, weil er die Zusammenhänge,
die ihm dieses Erkenntnisorgan vermittelt, aus Existenzgründen gar nicht verstehen
will, verwirft „die Wahrnehmungsfähigkeit des Gewissens“ (W., 44).

Die Aufklärung glaubte noch an eine göttlich geprägte Natur, die die Welt
innerlich strukturiert. Heute wird selbst dieser ausgedünnten Variante des Deus sive
natura die ethische Bedeutung abgesprochen. Gelehrte wie z. B. Singer oder Sloterdijk
suchen eine rationale Ethik (vgl. W., 93-95). Damit kommt nach Ratzinger oft eine
hochmütige Rechenhaftigkeit und kalkulatorische Güterabwägung ins Spiel (vgl. W.,
96).

Geschichte und Natur geben keine linearen Rezepte. An solche Rezepte zu


glauben, wäre ein naturalistischer Fehlschluss. Geschichte und Natur helfen uns aber
doch, uns zu besinnen über die „Wegweisung, die von der Natur ausgeht“ (W., 96).
Was aber, wenn es mehrere Ziele und mehrere Wege zu den Zielen gibt? Wo findet
man dann den richtigen Weg? – „Über die Autorität“, sagt die Autoritätsmoral. –
„Vorkonziliar“, kontert dagegen die Gewissensmoral, für die das sittlich Gute von
129
jedermann und damit natürlich auch von jeder Frau erkannt werden kann. Wenn das
konkrete Gute nun aber für jedermann und natürlich auch jede Frau erkennbar ist, dann
ist dieses Gute die übergeordnete Autorität, die über dem Einzelgewissen steht.

Wenn das Gute aber nicht sicher erkennbar ist, dann gibt es für das Gewissen
des Ichs keine höhere Warte, aus der die Qualität eines Gewissensspruchs beurteilbar
wäre. Dann gibt es aber auch keine Gewähr, dass das „Gute“ letztlich nicht das Böse
ist und dass uns das Gewissen oder unser als „Gewissen“ verkleidetes Interesse
betrogen hat. Joseph Ratzinger (vgl. W., 101) sagt dazu: Wenn der Spruch des
Gewissens klar und eindeutig ist, dann muss man ihm jederzeit folgen, was aber nicht
heißt, dass dieses Urteil deshalb unfehlbar wäre. Denn das klare Gewissensurteil ist
keine objektive, sondern nur eine subjektive Wahrheit, also nur Ausdruck von
Wahrhaftigkeit. Wenn man andererseits der Gefahr eines konformistischen
Liberalismus entgehen will, muss man die oberflächlichen Durchschnittshaltungen
bezweifeln und sich persönlich, gewissenhaft und zu sich selbst ehrlich um die
Wahrheit bemühen.

Was aber, wenn radikale Politiker „mit einer völligen Gewissenssicherheit ihre
Untaten vollbracht“ (W.,104) haben? Dann ist der subjektive Gewissensbegriff falsch:
Wenn nämlich aus einer subjektiven Gewissensüberzeugung Skrupellosigkeit folgt,
dann muss der subjektive Gewissensbegriff falsch sein. Es gibt Fehler und Schuld, die
man nicht bemerkt (Ps 19,13). Diese nichtgesehene Schuld ist aber schlimmer als die
erkannte Schuld. Wer so selbstgerecht und so verblendet ist, dass er bei seinen
Handlungen gar keine Schuldgefühle mehr hat, der hat eine kranke Seele (vgl. W.,
105). – Wenn man den Begriff der kranken Seele in dieser Art auffasst, dann kann man
auch von Kreon sagen, dass er eine kranke Seele hat. Kreon sieht das aber weder
während seines Tuns ein noch nach seiner Tat. Er gesteht bloß zu, einen pragmatischen
Fehler begangen zu haben, es fehlt aber eine Zerknirschung des Herzens im Sinne
einer echten, innerlichen Reue und eines innerlichen Schuldgefühls. Zu seiner kranken
Seele im Sinne Ratzingers gehört auch, dass er die beiden Mädchen als „irr“
bezeichnet, also die Haltet-den-Dieb-Technik verwendet, um andere zu beschuldigen,
um sich selbst zu entlasten, also Gut und Böse zu vertauschen. Jaques Derrida wird
dann das Gute und das Böse wissenschaftlich selbstsicher (selbstgerecht?)
dekonstruieren (s.o.).
130
Der Selbstgerechte ist für Ratzinger ein verlorener, pharisäerhafter Mensch,
weil er für das anklagende Gewissen unzugänglich ist (Ratzinger verweist auf Lk 18,
9-14, auf die paradigmatische Gegenüberstellung von Pharisäer und Zöllner.). Er weiß
nach Paulus nämlich auch ohne das Gesetz des Alten Testaments, was Gott von ihm
erwartet (Röm 2, 1-16). Diese naturrechtliche Wahrheit ist im Menschen schon immer
gegenwärtig. Das richtige Gewissen hat nämlich nichts mit dem selbstsicheren
subjektiven moralischen Gewissen zu tun, denn dieses ist vielleicht nur ein
unkritischer Reflex der Meinungen des sozialen Milieus, also des Überichs der
Psychoanalyse. Wenn die Menschen gar „in einem System des Betrugs lebten“ (W.,
107), dann verdunkelt sich die Wahrnehmungsfähigkeit und verstummt das Gewissen;
dann wird der Mensch entmenschlicht und todgefährlich. – Das wäre der Staat Kreons,
wenn ihm kein Deus ex machina dazwischen käme.

Also subjektive Gewissensmoral oder doch päpstliche Autoritätsmoral? Oder


ist diese Entgegensetzung eine Schwarz-Weiß-Malerei? Das Papsttum muss nach
Ratzinger mit dem Gewissen insofern zusammengesehen werden, als beide in der
Wahrheit einen gemeinsamen Überbegriff haben. Gewissen ist (Ratzinger verweist
hier auf Sokrates und den amerikanischen Kardinal Newman) „die vernehmliche und
gebieterische Stimme der Wahrheit im Subjekt selbst; Gewissen ist die Aufhebung der
bloßen Subjektivität in der Berührung zwischen der Innerlichkeit des Menschen und
der Wahrheit von Gott her“ (W., 110).

Im Zeitalter wechselnder Bezugssysteme (Ratzinger bezieht sich hier auf


Albert Einstein) wird die Wahrheit aber unsichtbar, weil an ihre Stelle die Nützlichkeit
tritt. Ratzinger hält aber trotzdem an seiner Position fest: Wahrheit ist wichtiger als
Ansehen, Billigung durch die herrschende Meinung oder irgendeine soziale Instanz.
Folglich darf das Gewissen des Einzelnen weder mit dem Maßstab des eigenen
Wunsches gemessen werden noch mit der einer politischen oder sozialen Macht: „Der
Einzelne darf seinen Aufstieg, sein Wohlbefinden nicht durch Verrat an der erkannten
Wahrheit verkaufen. Die Menschheit darf es nicht.“ (W., 111)

Das unfehlbare Gewissen im Sinne der mittelalterlichen Synderesis


(Synteresis) verlangt, das Gute zu tun und das Böse zu lassen. Dieser Begriff ist
Ratzinger aber zu unklar; er verwendet lieber den auf Platon zurückgehenden Begriff

131
der Anamnesis, wie ihn Paulus (Röm 2,14f.) formuliert. Danach handelt der Heide
dann gerecht, wenn er sich selbst insofern Gesetz und das Maß der Dinge ist, als es
dem Maß der Tora entspricht. Dieses Maß ist ihm ins Herz (leb) geschrieben. Folglich
sind das Gute und das Wahre identisch, und wir haben daran eine Art Urerinnerung
(vgl. W., 115f.). Es handelt sich um ein vorbegriffliches Urwissen, das in uns in der
Anamnese echohaft aufsteigt; es ist diese uns ins Herz geschriebene
Gottesebenbildlichkeit, die uns sagt, was wir tun sollen.

Der Mensch kann das Maß aller Dinge sein im Sinne liberalistischer
Autonomie, aber auch in dem Sinn, dass man nicht sich selbst gehört, sondern dem
Gesetz des Gewissens und der natürlichen Sittlichkeit, das sich als ein Urwissen
besonders dann rein entfaltet, wenn es nicht von der Eigenmächtigkeit der Zivilisation
verstellt wird (vgl. W., 116). Das Urwissen ist unserer Natur von Gott (vgl. W., 117)
eingeprägt (wie es ja schon Antigone sieht). Um diese „unserem Sein eingesenkte
Anamnese“ (W., 117) aber fruchtbar zu machen, bedarf es der Nachhilfe (die in der
„Antigone“ von Haimon und dem Priester geleistet wird), die das Ich zu sich selbst
führt, zu seinem eigentlichen Ich (was die relativistischen Ideologiekritiker, so kann
man hinzufügen, als Essentialismus brandmarken (s.o.)), zum Gewissen. Das ist
zugleich „Entfaltung des Erinnerns“ (W., 118) im Gegensatz zu seiner Verfälschung
oder gar Zerstörung.

Der Begriff des Papsttums ist in diesem Sinn einer Nachhilfe bei der Bildung
des Gewissens zu verstehen. Ohne dieses Gewissen gäbe es kein Papsttum (vgl. W.,
118). Von einem subjektiven Willen des Papstes zu sprechen, schreibt Joseph Kardinal
Ratzinger 1992 (vgl. W., 155), also mehr als zehn Jahre vor seiner eigenen Berufung
zum Papst, wäre ein voluntaristisches Missverständnis (vgl. W., 117).

Das Urwissen, die Anamnesis, ist ein Grundwissen. Dieses Urwissen hat dem
Menschen eingeprägt, dass er das Gute tun und das Böse unterlassen soll, sodass sich
diese Haltung schließlich zu einem dauerhaften Sein, einem Habitus, einer
Charakterprägung verfestigen kann. In der konkreten Situation wird dann das
Urwissen der Anamnese als Anwendungsgewissen (Conscientia) angewendet.

Ob man das Urwissen in dieser Conscientia auf die konkrete Situation bezieht,
hängt davon ab, ob man den Zusammenhang zwischen der Situation und dem
132
Urwissen erkennen oder verdrängen will; und dieses Wollen oder Nichtwollen ist
abhängig davon, wie man Gewohnheiten ausgebildet hat (vgl. W., 118). Auf der Ebene
des Anwendungsgewissens ist man an das Gewissen gebunden. Wenn man gemäß
dieser inneren Überzeugung handelt, handelt man richtig, selbst wenn die Anwendung
falsch und das Gewissen folglich ein irrendes Gewissen ist.

Wenn ein politischer Übeltäter seine Untat also „mit einer völligen
Gewissenssicherheit“ (W., 104) begangen hat, liegt die Schuld nicht erst im Bereich
der Conscientia, des Anwendungsgewissens, sondern schon im Bereich des
Urwissens, der Anamnese.

Ratzinger (vgl. W., 121) erläutert das Phänomen der Gewissenstat nicht nur an
politischen Gewalttätern und politischen Mördern aus der Geschichte des zwanzigsten
Jahrhunderts, sondern auch am Fall des Orest ( des Aischylos und Euripides), der seine
Mutter auf den Befehl Apolls ermordet hat und nun von seinem Gewissen verfolgt
wird, das in den Erinnyen personifiziert ist, die ihn dauernd daran erinnern, dass sich
sein Gewissen in Gestalt eines Gottesspruches geirrt hatte, als es ihm die
Notwendigkeit des Gehorsams gegen Apoll suggerierte. Diesen „Widerspruch des
Gewissens“ (W., 121) bezeichnet Ratzinger als Tragik. Im Falle des Orest wandeln
sich die Erinnyen allerdings durch das Wohlwollen Athenes zu den versöhnlichen
Eumeniden, und das Blutracherecht verwandelt sich in das von der Polis getragene
gemeinsame Recht. - Man kann hier noch hinzufügen, dass die Erinnyen, also die
Furien, die Rachegöttinnen, im „Orest“ des Euripides psychologisch rationalisiert, also
zu den Gewissensbissen verinnerlicht werden.192

192
Vgl. Käppel, Gewissen, 901.

133
VII. ERGEBNIS

Gegen die Tendenzen, das Sittliche und Religiöse nur zum Subjektiven zu
zählen und/oder auf eine darwinistische Erfolgs- und Interessenethik zu setzen, die nur
mit moralischen Größen kalkuliert und konsequentialistisch auf den kurz- oder
langfristigen Gewinn blickt, setzt Joseph Ratzinger darauf, dass man das Gute mit dem
uns von Gott eingesenkten Gewissen, mit dem aus der Schöpfung bzw. Natur (vgl. W.,
131) ablesbaren Maßstab und mit der im Diskurs der Kulturen erprobten Vernunft
„definitiv“ (W., 132) erkennen kann. Erkenntnisorgane für das sittlich Gute sind für
Ratzinger also die Vernunft und das mit der Stimme des Herzens sprechende
Gewissen. Das ist eine Position, die den Emotivismus und den Kognitivismus insofern
vermittelt, als sich beide Erkenntnisakte ergänzen.

Gegen die aufgeklärte Suche nach metaphysikfreien Moralbegründungen


beruft sich Ratzinger auf den polnischen Marxisten L. Kolakowski, der gezeigt hat,
dass sich das Moralische in einer agnostischen Gesellschaft in der Relativität und im
Unbestimmten wechselnder Bezugspunkte und doppelter Standards verliert, so dass
der Mensch letztlich zum Opfer des Bösen wird. Deshalb lädt Ratzinger die Agnostiker
ein, die Moral im Himmel zu beheimaten, also „sich einer Moral zu öffnen, si Deus
daretur‘. Kolakowski hat von den Erfahrungen einer atheistisch-agnostischen
Gesellschaft herkommend eindringlich gezeigt, dass ohne diesen absoluten
Bezugspunkt das Handeln des Menschen sich im Unbestimmten verliert und dann den
Mächten des Bösen heillos ausgeliefert ist“ (W., 133).

Joseph Ratzinger empfindet eine auf das Wertfreie und Kalkulatorische


reduzierte Vernunft, den Reduktionismus, als eine Verengung. Er will die Ethik aus
der Perspektive des Nonkognitivismus befreien und bekennt sich als Kognitivist dazu,
dass der Mensch das sittlich Gute mit seiner Vernunft und seinem Herzen wahrnehmen
kann. Er wendet sich gegen den Nonkognitivismus, für den die Moral nur aus
willkürlichen subjektiven Emotionen, willkürlichen subjektiven Präskriptionen oder
willkürlichen subjektiven Dezisionen193 besteht. Er wendet sich gegen den

193
Vgl. Fenner, Ethik, 57-68.

134
rationalistischen Reduktionismus, der glaubt, das „Vernünftige“ und „Menschliche“
willkürlich konstruieren und die Menschen und ihr „Gewissen“ konditionieren zu
können. In dieser bloß instrumentellen Vernunft sieht er einen Missbrauch der
Vernunft. Ratzinger wendet sich aber auch gegen den kognitivistischen ethischen
Subjektivismus, der sich zum Egoismus und/oder Kontraktualismus bekennt194, für
den das „Ethische“ aus konsequentialistischem Kalkül resultiert und die Moral zu einer
Rechengröße mit einem bestimmten Marktwert erniedrigt wird, den man mit
Wohltätigkeit subjektiv verziert (vgl. W., 132).

Ratzinger glaubt zwar nicht, dass man aus der Statistik und aus dem
„Positivismus des Mehrheitsprinzips“ (W., 136) unmittelbar auf ein Sollen schließen
kann. Das wäre ein Fehlschluss vom Sein auf das Sollen. Die Wesensnatur im Sinne
der Schöpfung gibt aber Fingerzeige, Hinweise, Wegweiser. Und hier setzen das
Gewissen, die Vernunft und der Diskurs ein.

Für den Christen ist Gott selbst als der Logos die schöpferische Vernunft (vgl.
W., 134). Hier hat zwar nicht in jedem Fall das Menschenrecht als positive Moral und
positives Recht des Westens, wohl aber das Menschenrecht als diskursiv gesuchte und
für alle Kulturräume verbindliche Moralität ihre tiefe Quelle (vgl. ebda).

Gott ist die Vernunft, aber auch die Liebe – und der Richter. Als göttlicher
Richter sieht er jede Willkür, jede Lüge, jeden Hochmut, aber auch jede geheuchelte
Frömmigkeit und Ehrlichkeit und Recht und Gerechtigkeit. Ratzinger formuliert das
so: „Auch wenn äußerlich die Welt von heute sehr weit von Gott weg liegt, so kann
doch die Frage nicht verstummen, ob es da hinter den Mächten der Welt eine Urmacht,
ein Göttliches gebe. Und deswegen bleibt auch unauslöschlich im Herzen der
Menschen das Verlangen, dass doch diese Macht, wenn es sie gibt, sich zeigen möge.
Dass sie eine Spur ihrer selbst in die Welt hineinsetzen möge. Dass ihr Licht aufleuchte
in der Dunkelheit ihres Fragens, damit wir wissen, woher wir kommen, wohin wir

194
Vgl. ebda, 69-84.

135
gehen.“195 Was hat das alles mit den aus archaischen Zeiten überlieferten Sagen, Epen
und Tragödien zu tun?

Die rauen alten Sagen enthalten unausgesprochen schon die Sehnsucht danach,
dass Gott sich also zeigen möge, sie enthalten die Sehnsucht nach einer
Verwirklichung einer überpositiven Gerechtigkeit und weiterhin die Hoffnung nach
dem verinnerlichten Konzept des Christentums. Deshalb sind sie als Negativdidaxe
sittlich wertvoll, wenn man sie aus der Perspektive der narrativen Ethik rezipiert, wie
es Joseph Ratzinger an der Sage vom Muttermörder Orest gezeigt hat. Unser Mitleid
gebührt diesem verblendeten Orest genauso wie dem verblendeten Kreon, gegen den
zwar die Indizien und seine eigene bloß äußerliche Fehlereinsicht sprechen. Dennoch
sind er und seinesgleichen nicht vorschnell zu verurteilen, da ihm und uns nur Gott ins
Herz sehen kann. Es bleibt für uns also doch eine Art von nonkognitivistischem Rest.
Daran erinnert uns auch Joseph Ratzinger, indem er auf den Psalm 19,13 verweist, in
dem die Bitte ausgesprochen wird: „Von meiner unerkannten Schuld befreie mich.“
(W., 120, hier in der Übersetzung Ratzingers.)

195
Papst Benedikt XVI [=J. Ratzinger], Buch, 48.

136
VIII. A. ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

HWP = Historisches Wörterbuch der Philosophie

RGG = Religion in Geschichte und Gegenwart

StL = Staatslexikon. Recht. Wirtschaft. Gesellschaft. Hrsgg. v. d. Görres-Gesellschaft

137
VIII. B. LITERATURVERZEICHNIS

1. Anzenbacher, Arno: Christliche Sozialethik. Einführung und Prinzipien, Paderborn: Schönigh


1998 (=UTB für Wissenschaft).

2. Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Gesamtausgabe. Hrsgg. i. Auftrag d.


Bischöfe Deutschlands u. a., Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 5 2004.

3. Dautzenberg, Gerhard: Art. Gewissen. III. Neues Testament, in: Religion in Geschichte und
Gegenwart. 3, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 4 2003, 901f..

4. "Die Politik wurde aufgeklatscht [.]" Der Klagenfurter Soziologe Paul Kellermann über das
fehlende Unrechtsbewusstsein korrupter Poliktiker und die Mitschuld der Wähler (Interview:
Wolfgang Rössler), in: „Kleine Zeitung" (Klagenfurt) 230 (19. 8. 2012), 22f..

5. Dreier, Ralf: Art. Gewohnheitsrecht, in: Staatslexikon. Recht. Wirtschaft. Gesellschaft. Hrsgg.
v. d. Görres-Gesellschaft. 2. Freiburg/Basel/Wien: Herder 7 1986, 1059-1063.

6. Fenner, Dagmar: Ethik. Wie soll ich handeln?, Tübingen/Basel: August Francke 2008 (=UTB
basics. UTB 2989).

7. Flashar, Hellmut: Sophokles. Dichter im demokratischen Athen, München: C. H. Beck 2000.

8. Forschner, Maximilian: Art. Christliche Ethik, in: Höffe, Otfried (Hg.): Lexikon der Ethik,
München: C. H. Beck 7 2008 (=beck'sche reihe 152), 41-44.

9. Forschner, Maximilian: Art. Gewissen, in: Höffe, Otfried (Hg.): Lexikon der Ethik, München:
C. H. Beck 7 2008 (=beck'sche Reihe 152), 110-112.

10. Golser, Karl: Art. Gewissen, in: Rotter, Hans/ Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon der
christlichen Moral, Innsbruck/Wien: Tyrolia 1990, 278-286.

11. Handke, Peter: Nachmittag eines Schriftstellers. Erzählung, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1998 (=suhrkamp taschenbuch 1668).

12. Handke, Peter: Kinonacht, Kinotiernacht. Vom Antivampirkino des Paares Straub/Huillet, aus
Anlaß [sic] des Films "Antigone", in: Handke, Peter: Meine Ortstafeln. Meine Zeittafeln 1967-
2007, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007, 555-563.

138
13. Horn, Christoph: Art. Narrative Ethik, in: Höffe, Otfried (Hg.): Lexikon der Ethik, München:
C.H. Beck 7 2008 (=beck'sche reihe 152), 222f..

14. Horster, Detlef: Ethik, Stuttgart: Reclam 2009 (=Grundwissen Philosophie. Reclam
Taschenbuch 20324).

15. Jäger, Werner: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. 2., ungekürzter
photomechan. Nachdruck in einem Band, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1989.

16. Käppel, Lutz: Art. Gewissen. II. Griechisch-römische Antike, in: Religion in Geschichte und
Gegenwart. 3, Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 4 2003, 900f..

17. Kelsen, Hans: Die Idee des Naturrechts, in: Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur
Ideologiekritik. Mit einer Einl. hrsgg. v. Ernst Topitsch, München: Fink 1989, 73-113.

18. Kelsen, Hans: Die platonische Liebe, in: Kelsen, Hans: Staat und Naturrecht. Aufsätze zur
Ideologiekritik. Mit einer Einl. hrsgg. v. Ernst Topitsch, München: Fink 1989, 144-197.

19. Kühl, Kristian: Art. Naturrecht. V. Neuere Diskussion, in: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 6, Basel/Stuttgart: Schwabe 1984, 609-623.

20. Latacz, Joachim: Einführung in die griechische Tragödie, Göttingen: Vandenhoeck und
Ruprecht 2 2003 (=UTB 1745).

21. Neuhold, Leopold: Art. Ideologie, in: Rotter, Hans/ Virt, Günter (Hg.): Neues Lexikon der
christlichen Moral, Innsbruck/Wien: Tyrolia 1990, 351-360.

22. Papst Benedikt XVI. [=Joseph Ratzinger]: Buch der Antworten, Linz: Modern Times
Verlagsgesellschaft 2006 (=Edition Modern Times).

23. Platon: Protagoras. Griechisch/Deutsch. Übers. u. komm. v. Hans-Werner Krautz, Stuttgart:


Reclam 2009 (=Reclams Univ.-Bibl. 1708).

24. Ratzinger, Joseph Kardinal (=Papst Benedikt XVI.): Werte in Zeiten des Umbruchs. Die
Herausforderungen der Zukunft bestehen, Freiburg im Breisgau: Herder 2005.

25. Ružička, Rudolf: Art. Naturrecht. IV. Neuzeit, in: Ritter, Joachim/ Gründer, Karlfried (Hg.):
Historisches Wörterbuch der Philosophie. 6, Basel/Stuttgart: Schwabe 1984, 582-609.

26. Salamun, Kurt: Ideologie und Aufklärung. Weltanschauungstheorie und Politik, Köln/Graz:
1988 (=Studien zu Politik und Verwaltung 24).

139
27. Schaber, Peter: Menschenwürde, Stuttgart: Reclam 2012 (=Grundwissen Philosophie. Reclam
Taschenbuch 20338).

28. Schmid Noerr, Gunzelin: Geschichte der Ethik, Leipzig: Reclam 2006 (=Grundwissen
Philosophie. Reclam Bibliothek Leipzig 20304).

29. Schröder, Winfried: Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den Sophisten bis
Nietzsche, Stuttgart: Reclam 2005 (=Reclams Univ.-Bibl. 18382).

30. Sophokles: Antigone. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsgg. v. Norbert Zink, Stuttgart: Reclam
2007 (=Reclams Univ.-Bibl. 7682).

31. Sophokles: Tragödien. Übers. v. Wilhelm Willige, überarb. v. Karl Beyer. Einf. u. Erl. v.
Bernhard Zimmermann, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1990 (=Bibliothek der
Antike, DTV-Artemis, dtv. 2252).

32. Specht, Rainer: Art. Naturrecht. III. Mittelalter und frühe Neuzeit, in: Ritter, Joachim/
Gründer, Karlfried (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. 6, Basel/Stuttgart:
Schwabe 1984, 574-582.

33. Spindelböck, Josef: Moraltheologische Überlegungen zum „Krieg gegen den Terrorismus", in
Pribyl, Herbert (Hg.): Terrorismus - eine apokalyptische Bedrohung? Das Phänomen
„Terrorismus" in interdisziplinärer Sicht, Heiligenkreuz: Be & Be-Verlag 2010
(=Schriftenreihe des Instituts für Ethik und Moraltheologie an der Phil.-Theolog. Hochschule
Benedikt XVI. Heiligenkreuz. 2), 177-197.

34. Topitsch, Ernst/ Salamun, Kurt: Ideologie. Herrschaft des Vor-Urteils, München/Wien:
Langen-Müller 1972.

35. Wolf, Erik: Rechtsphilosophie und Rechtsdichtung im Zeitalter der Sophistik, Frankfurt am
Main: Vittorio Klostermann 1952 (=Wolf, Erik: Griechisches Rechtsdenken, 2).

36. Zimmermann, Bernhard: Einführung, in: Sophokles: Tragödien. Übers. v. Wilhelm Willige,
überarb. v. Karl Beyer. Einf. u. Erl. v. B. Zimmermann, München: Deutscher Taschenbuch
Verlag 1990 (=Bibliothek der Antike. DTV-Artemis. dtv 2252), 5-29.

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