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So Einfach Ist Mathematik - Basiswissen Für Studienanfänger Aller Disziplinen (PDFDrive)
So Einfach Ist Mathematik - Basiswissen Für Studienanfänger Aller Disziplinen (PDFDrive)
Vanessa Sommer
So einfach ist
Mathematik
Basiswissen für Studienanfänger
aller Disziplinen
2. Auflage
So einfach ist Mathematik
Dirk Langemann Vanessa Sommer
2. Auflage
Dirk Langemann Vanessa Sommer
Institut Computational Mathematics Institut Computational Mathematics
TU Braunschweig TU Braunschweig
Braunschweig, Deutschland Braunschweig, Deutschland
Springer Spektrum
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2016, 2018
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V
VI Inhaltsverzeichnis
5 Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5.1 Begriff und Notation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
5.2 Graphen von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
5.2.1 Beispielfunktion aus einer Klausur . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.2.2 Geradengleichung durch zwei Punkte . . . . . . . . . . . . . 113
5.2.3 Verschieben einer Funktion im Koordinatensystem . . . . . 117
5.2.4 Der runde Kreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
5.3 Die bekanntesten Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
5.3.1 Potenzfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
5.3.2 Exponentialfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
5.3.3 Sinus- und Kosinusfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
5.3.4 Betragsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
5.4 Verkettung von Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
5.5 Flächen und Änderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
5.6 Integrale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
5.7 Ableitungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138
5.8 Ableitungs- und Integrationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
5.8.1 Produktregel und partielle Integration . . . . . . . . . . . . . 143
5.8.2 Kettenregel und Integration mit Substitution . . . . . . . . . 145
5.9 Aufgaben, Rechenaufgaben und Lösungen . . . . . . . . . . . . . . . 150
7 Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
7.1 Auflösen von linearen Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171
7.2 Quadratische Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175
7.3 Noch allgemeinere Gleichungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178
7.4 Textaufgaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
7.4.1 Die Mutter vom Prenzlauer Berg . . . . . . . . . . . . . . . . 184
7.4.2 Ein Verein sammelt Geld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
7.4.3 Hauskauf bei den Brandts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
7.5 Lineare Gleichungssysteme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189
Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Bevor’s richtig losgeht
1
1
Wir meinen mit der weiblichen grammatikalischen Form immer auch Jungs, mit der männlichen
Form ebenso immer die weibliche und beziehen gedanklich auch alle sozialen und biologischen
sowie alle anderen eigenen und fremden Einordnungen ein.
Das Buch ist auch aus der schmerzvollen Erfahrung vieler Studierender entstan-
den, dass sie trotz Schulbildung von den elementaren Grundlagen der Mathematik
entfremdet waren. Genau deshalb beginnen wir mit diesen elementaren Grundla-
gen. Wir rechnen und reden darüber. Wir deuten die Bezeichnungen und Begriffe,
und wir reden darüber, wie wir deuten und wie wir rechnen. Wir zeigen Wege, wie
man sich unbekannte Bezeichnungen und Begriffe erschließt.
Dazu enthält dieses Buch Erklärungen, Veranschaulichungen und Deutungen,
aber nur wenige Aufgaben und keine Rechenrezepte. Insbesondere Rechenrezep-
te sind keine Mathematik. Man kann sie durcheinanderbringen, vergessen und auf
Falsches anwenden. Niemand kann sich so viele Rezepte einpauken, wie es mögli-
che Aufgaben gibt, und kein Mensch arbeitet in seinem Berufsleben Rechenrezepte
ab. Dafür gibt es Computer. Wir dagegen reden über Mathematik. Die Lösungswe-
ge zu denkbaren Aufgaben ergeben sich aus dem Verständnis der dahinterstehenden
Sachverhalte und Zusammenhänge fast von selbst.
Das Buch beginnt mit mathematischen Zusammenhängen aus den unteren Schul-
klassen, beschreibt sie aber so, wie sie an einer Hochschule dargestellt und verwen-
det werden. Sie werden vor allem die ersten Abschnitte völlig problemlos lesen
und den Argumentationen ohne Mühe folgen können. Möglicherweise werden Sie
den Eindruck haben, alles sei zu einfach. Mathematik beginnt in diesen einfachen
Zusammenhängen. So sind
8 C 1 D 9; 8 1 D 7;
8 C .1/ D 7; 8 .1/ D 9
zunächst nur zusammengestellte Rechenaufgaben mit ganzen Zahlen. Wenn Sie die
Struktur hinter diesen Aufgaben ergründen und sich verdeutlichen, was dort über
Umkehroperationen und die Struktur der ganzen Zahlen beispielhaft gezeigt wird,
betreiben Sie sofort höhere Mathematik.
Vielleicht werden Sie jetzt fragen, wo genau Sie solche Erkenntnisse im Berufs-
leben verwenden werden? Seien Sie unbesorgt. Wenn Sie die Grundlagen so sicher
verstanden haben, dass Sie sie als völlig natürlich ansehen, wird es Ihnen umso
leichter fallen, die Abschnitte des Buches zu lesen, die sich mit Themen beschäfti-
gen, die ihre Anwendungen deutlicher offenbaren.
Die Frage, wozu man die Mathematik oder bestimmte mathematische Themen
braucht, ist für einige Studierende unheimlich bedeutsam. Doch weiß man am An-
fang des Studiums im Allgemeinen nicht, was einen erwartet. Gleich im ersten
Semester zu fragen, wozu man etwas, das man lernt, braucht und ob man es über-
haupt braucht, ist so, als würde man in einer Fahrradmanufaktur eine Schraube mit
einem Loch im Gewinde finden und laut ausrufen, dass doch niemand eine Schrau-
be mit Loch braucht. Manch älterer Meister würde Ihnen lächelnd den Bowdenzug
an der Bremse zeigen.
Dieses Buch ist kein Lehrbuch im herkömmlichen Sinn. Es erzählt und philoso-
phiert vielmehr über mathematische Zusammenhänge, logische Überlegungen und
das Verständnis des mathematischen Formalismus. Dazu beginnt es in Kap. 3 bei
den Grundrechenarten mit natürlichen Zahlen. Es richtet sich dennoch an Leserin-
1.1 Herzlichen Glückwunsch 3
nen und Leser, die Mathematik schon in der Schule hatten, denn bereits an diesen
einfachen Dingen werden Verbindungen zu Sachverhalten aus der Abiturstufe und
aus dem Studium sichtbar. Nach einem Ausflug in die Geometrie in Kap. 4 stür-
zen wir uns in Kap. 5 in die Welt der Funktionen. Dort beleuchten wir kurz die
Differenzial- und Integralrechnung.
Zugegeben, das ist ein Höhenflug. Es ist sogar ein gewaltiger Höhenflug, wenn
man bedenkt, dass wir uns zwei Kapitel zuvor mit der Addition und Subtraktion von
ganzen Zahlen beschäftigen und uns vergewissern, in welchem Sinne die Merk-
regel Punkt- vor Strichrechnung angewendet wird. Jedoch sind Sie, liebe Leserin
und lieber Leser, einerseits zur Schule gegangen und hören von der Plus- und Mi-
nushandlung nicht zum ersten Mal. Andererseits sind eine Funktion, eine Ableitung
und ein Integral zunächst einmal Begriffe, die man kennen und als Begriff verste-
hen soll, bevor man etwas mit ihnen macht. Da man einige Vorbereitungen für sie
braucht, werden Ableitungen und Integrale üblicherweise erst weiter hinten in ei-
nem Lehrbuch behandelt. Doch keine Angst, Sie haben diese Vorbereitung bereits,
und das Buch, das Sie in den Händen halten, eröffnet Ihnen einen weiteren Blick
auf die Begriffe.
Nach dem Höhenflug wieder gelandet, sammeln wir in Kap. 6 und Kap. 7 aller-
lei Nützliches über Termumformungen, Gleichungen und Textaufgaben. Kapitel 8
widmet sich dem mathematischen Kerngeschäft, nämlich den Beweisen, und be-
spricht die Frage, wie man sie versteht. Die Themen aus diesen drei Kapiteln sind –
natürlich nur im Prinzip und keinesfalls in jedem Detail – schon Teil des Schulun-
terrichts. Vielleicht ist es dennoch treffender zu behaupten, dass ein geübter und
interessierter Mathe-Freak diese Themen aus dem Schulunterricht heraus erfas-
sen kann. Sie sind damit nicht leichter als die Differenzial- und Integralrechnung.
Man kann sogar sagen, Termumformungen, Gleichungen und Textaufgaben sind
schwieriger, weil Sie hierbei dazu befähigt werden sollen, selbst einen zielführen-
den Weg durch das Labyrinth der denkbaren Umformungsschritte, der zur Auswahl
stehenden Beweisgedanken und der möglichen Interpretationen einer Textaufgabe
zu finden.
Die mathematischen Inhalte werden von einer Bedienungsanleitung für die Ma-
thematik in Kap. 2 und praktischen Tipps für die Reise ins Land der Mathematik
und der Hochschule in Kap. 9 bis Kap. 11 eingerahmt. Am besten lesen Sie diesen
Reiseführer von vorn und mit Zettel und Stift in der Nähe und setzen die kleinen
eingestreuten Aufforderungen und Aufgaben in Skizzen und kurze Überlegungen
um.
Die Tipps, was man unbedingt bestaunen soll, und die Warnungen, was man bloß
nicht tun soll, kommen immer wieder. Wenn Sie einmal einen Skikurs gemacht oder
ein Musikinstrument erlernt haben, wissen Sie, dass die Lehrerin oder der Lehrer
wieder und wieder dasselbe erzählt, eventuell auf unterschiedlichem Niveau. So ist
es auch hier. Die Grundgedanken tauchen in unterschiedlichsten Themen wieder
und wieder auf, und dies auf unterschiedlichem Niveau.
Das Buch setzt darauf, dass Sie etwas Mathematik aus der Schule mitbringen und
in den Vorlesungen Ihres Studiums noch einiges mehr erfahren. Dieses Buch hilft
Ihnen, in den Vorlesungen das wiederzuerkennen, was Sie in der Schule gelernt
4 1 Bevor’s richtig losgeht
haben. Es hilft Ihnen auch zu verstehen, worüber Ihre Dozentin oder Ihr Dozent
redet, wenn sie oder er Mathematik lehrt.
Wir haben uns erlaubt, einige einfache Notationen und Bezeichnungen erst spät
zu erklären, weil Sie sie aus der Schule kennen. Ein abstraktes mathematisches
Thema, nämlich die formale Logik, die oft als Grundlage von allem angesehen wird,
besprechen wir erst ganz am Schluss. Schließlich erdreisten wir uns sogar, Begriffe
wie den Grenzwert und die Stetigkeit nicht im mathematisch strengen Sinne zu
definieren. An manchen Stellen sind wir lax, weil erzählte Sprache gar nicht so
genau wie der mathematische Formalismus sein kann. Es ist jedoch die Sprache,
die uns den Weg zur Mathematik und zum mathematischen Formalismus weist.
Auch davon erzählt dieses Buch.
Mathematik sei „so logisch“, sagen manche. Ja, Mathematik ist sehr logisch.
Aber kein Mensch denkt unlogisch. Wir können gar nicht unlogisch denken. Pro-
bieren Sie als erste Aufforderung dieses Buches einfach einmal aus, unlogisch zu
denken. Es geht kaum. Wenn wir denken, dann denken wir logisch. Die „ach so
logische“ Mathematik liegt uns logisch denkenden Menschen sehr nahe.
Lassen Sie uns eine Anekdote erzählen. Vom Philosophen Ludwig Wittgen-
stein erzählt man, dass er sich in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts
als Dorfschullehrer versuchte und seinen Schülern eines Tages die Hauptstädte der
österreichischen Bundesländer eintrichterte. Am nächsten Tag wussten die Schüler
tatsächlich einige Landeshauptstädte. Allein die Hauptstadt des Landes Salzburg
kannte keiner mehr. Erst auf die strenge Nachfrage, was die Schüler am Tag zuvor
gelernt hätten, sagten einige: „Salzburg ist die Hauptstadt von Salzburg.“ Die Schü-
ler hatten den scheinbar sinnlosen Satz auswendig gelernt, ohne eine Chance, ihn
zu deuten.
Alles, was man nur auswendig lernt, ist so sinnvoll wie es der Satz, dass Salzburg
die Hauptstadt von Salzburg sei, für die Schüler war. Wir wünschen Ihnen, dass
Sie alles, was Sie lernen, aus einem verständlichen inhaltlichen Zusammenhang
lernen, und zu Ihrer eigenen Begeisterung werden Sie all das so Erlernte, auch ohne
nachzuschlagen, wissen und benutzen können.
Wir beschreiben Ihnen jetzt einen Ausschnitt aus dem Innenleben vieler Dozentin-
nen und Dozenten an deutschen Hochschulen. Vielleicht hilft Ihnen dieser kleine
Einblick zu verstehen, warum Sie sich mit den in diesem Buch besprochenen, bei-
nahe zu einfachen Fragen und Themen beschäftigen sollen.
Zur Einstimmung erinnern wir uns an Witzfragen wie die, warum Ostfriesen mit
einem Stein und einem Streichholz ins Bett gehen – nämlich, um die Kerze mit dem
Stein auszuwerfen und dann mit dem Streichholz nachzuschauen, ob sie getroffen
haben. Hihi. In Frankreich behandeln die entsprechenden Witzfragen die Belgier
und in der Schweiz die Leute aus Hinterarlberg, womit scherzhaft der Teil Öster-
reichs bezeichnet wird, der aus Schweizer Sicht hinter dem kleinen Bundesland
Vorarlberg liegt. Alle diese Witzfragen haben gemeinsam, dass sie den genannten
1.2 Ostfriesen, Belgier und Österreicher 5
vor der Bewerbung damit beschäftigen, was sie erwartet und welche Aussichten auf
Erfolg oder Bloßstellung sie haben. Doch die Geschichte mit den Zahllernwürfeln
ist gewiss ein Einzelfall unter Tausenden. Manche mögen glauben, jeder der Einzel-
fälle belege den Niedergang der Jugend und ihres Bildungshungers. Doch schon bei
Platon kann man nachlesen, dass die Jugend verderbe. Zitiert sei nur der Sokrates
zugeschriebene Satz: „Der Lehrer fürchtet und hätschelt seine Schüler, die Schüler
fahren den Lehrern über die Nase und so auch ihren Erziehern. Und überhaupt spie-
len die jungen Leute die Rolle der alten.“ Das war vor zweieinhalbtausend Jahren.
Jede der Geschichten scheint den weiteren Untergang der Welt zu belegen. Und? Ist
sie untergegangen?
Doch die obige Geschichte haben wir in abgemilderter Variante mehrfach nach-
erlebt. In sehr traurigen Prüfungen kommt es vor, dass am Ende sehr, sehr leichte
Fragen gestellt werden, um eventuell doch noch ein paar mathematische Vorstel-
lungen zu finden, auf denen man aufbauen könnte. Falls aber keine zu finden sind,
wissen die Beteiligten, auf welchem Niveau das Unbehagen mit der Mathematik be-
ginnt. Eine typische Frage ist z. B. die oben erwähnte, wie sich das Volumen eines
Würfels oder einer Kugel ändert, wenn man die Kantenlänge bzw. den Durchmesser
verdoppelt. Als Hilfestellung haben wir mit Taschentücherpackungen nachgeprüft,
mit wie vielen davon man einen Quader mit doppelten Abmessungen in allen drei
Dimensionen bauen kann. Wir haben uns mit angehenden Bauingenieurinnen und
Bauingenieuren gefragt, wie teuer die Elbphilharmonie in etwa geworden wäre,
wenn sie halb so lang, halb so hoch und halb so tief wäre und auf halb so sump-
figem Grund stehen würde. Einmal haben wir zur Veranschaulichung aus einem
Apfel acht Würfelchen geschnitzt. Zusammen mit dem Einspruch gegen das Nicht-
bestehen dieser Prüfung hat uns ein Anwalt später ohne Erfolg mitgeteilt, dass die
Prüfungskandidatin eine attestierte mathematische Hochbegabung hätte.
Ganz sicher haben Sie das begrüßenswerte Gefühl, dass in diesen Geschichten
etwas steckt, das Sie nicht wiederholen wollen und nicht wiederholen werden.
Eine andere kleine Geschichte erzählt von einer Studentin, die Maschinenbauin-
genieurin werden wollte und diesen Traum seit Langem hegte. Sie wurde nach dem
Aussehen der Funktion f .x/ D ex , genauer des zugehörigen Graphen, befragt.
Nach langem Zögern und ohne Skizze antwortete sie traurig: „Ich habe ganz viel
gelernt, aber e weiß ich jetzt nicht.“ Spüren Sie, welche Absurdität in dieser Aus-
sage liegt? Kann man die Euler’sche Zahl e „wissen“? Was hat die Studentin zur
Mathematik im ersten Semester gelernt, wenn ihr f .x/ D ex nicht untergekommen
ist, und was meint sie mit dem Wort „lernen“? Wie hat sie sich Funktionen und
Zusammenhänge auch in anderen Lehrveranstaltungen veranschaulicht und vor-
gestellt? Wie weit weg war diese junge Frau vom Pflichtfach Mathematik, das in
den ersten Semestern ihres Wunschstudiengangs lauerte? Das Schlimmste an dieser
Antwort ist keineswegs das Unwissen, sondern die Abwegigkeit und die Entfrem-
dung, die aus ihr spricht. Vielleicht verstehen Sie an solchen Geschichten, warum
einzelne Studierende den Lehrenden als Ostfriesen, Belgier und Österreicher er-
scheinen. Dieses Buch ist auch geschrieben, um solchen Studierenden einen Weg
zu zeigen, mit Mathematik entspannt und nutzbringend umzugehen.
1.3 Zur zweiten Auflage 7
Wir freuen uns, dass dieses Buch so viel Zuspruch erfahren hat, dass wir Ihnen
im Jahr 2018 die zweite Auflage präsentieren können. Dazu haben wir den Text
gründlich durchgesehen, an einigen Stellen ergänzt und kleine Ungenauigkeiten
ausgebessert. Die Kapitel zur Geometrie und zur Differential- und Integralrechnung
haben wir vorsichtig um weitere Aspekte und kleine Aufgaben ergänzt.
Beim Durchblättern des Buches entdecken Sie keine ausgewiesenen Aufgaben
außer im neu eingefügten Abschn. 5.9. Aber beim Lesen finden Sie viele weitere
Aufgaben – kleine und größere, oft mit Lösungshinweisen und manchmal mit einer
ausführlichen Lösung etwas weiter im Text. Versuchen Sie sich an den Aufgaben.
Werden Sie aktiv. Machen Sie sich eigene Gedanken, und skizzieren Sie Ihre Bear-
beitung auf einem Zettel. Sie schaffen das.
Die eingestreuten Bemerkungen dazu, wie die mathematischen Inhalte und der
Umgang einiger Studierender aus Sicht der Lehrenden aussehen, haben wir geprüft,
überdacht und an manchen Stellen erklärt. Grundsätzlich haben wir diese Anmer-
kungen im Buch belassen, weil wir es für wichtig halten, Ihnen, liebe Leserinnen
und Leser, einen Eindruck davon zu vermitteln, was die Dozentinnen und Dozenten
Ihnen beibringen wollen und wovor sie Sie bewahren wollen.
Eben haben Sie bereits zwei Geschichten gelesen. Vielleicht war der Lehramts-
kandidat nervös und aufgeregt. Sehr wahrscheinlich war er dies. Aber auch Ner-
vosität und Aufregung entschuldigt es aus Sicht der meisten Lehrenden nicht, zu
raten statt zu überlegen. Selbst der Hinweis auf die tausend Kubikzentimeter im
Zahllernwürfel, der viel kleiner als der Tisch ist, hat den angehenden Lehrer nicht
8 1 Bevor’s richtig losgeht
Die wichtigste Grundlage für das Erlernen und Verstehen von Mathematik – im
Studium, in der Schule und ganz allgemein – ist die Fähigkeit, Gedankengänge
und Zusammenhänge nachzuvollziehen und sich selbst neue zu erschließen. Dazu
brauchen die zunächst spröden mathematischen Zeichen etwas Leben und eine Ver-
bindung zu Ihrer Gedankenwelt und Ihrem Denken. Dieser Text gibt Ihnen anhand
einfacher und dennoch nützlicher und grundlegender mathematischer Überlegun-
gen einen Leitfaden, wie Sie sich mathematischen Zusammenhängen, Begriffen und
Schreibweisen nähern.
Das unverzichtbare Basiswissen besteht ausdrücklich nicht in einer Sammlung
von Formeln oder Regeln oder Rezepten. Eine solche Sammlung wird hier nicht
angeboten, denn Sie brauchen eine solche Sammlung nicht, wenn Sie einen ent-
spannten Umgang mit der mathematischen Sprache entwickeln. Mathematik ist
nichts zum Anschauen oder zum Nachhausetragen, sondern etwas zum Selberma-
chen. Mathematik findet in Ihrem Kopf statt.
Manchem mögen die hier vorgestellten Überlegungen vor allem in den vorderen
Kapiteln sehr einfach erscheinen. Und tatsächlich, so einfach ist Mathematik. An
einfachen Sachverhalten erlernen Sie den Umgang mit Mathematik. Sie erschließen
sich grundlegende mathematische Zusammenhänge, und die einfachen Überlegun-
gen zielen schon auf das Kernstück der Mathematik. Denn jede Überlegung ist ein
kleiner Beweis.
Manche mögen denken, dass die Grundlagen der Mathematik im Studium viel
schwieriger und komplizierter sein müssten. Nein, sind sie nicht. Wenn Sie die
hier vorgestellten Überlegungen nicht nur abnicken, sondern selbst reproduzieren,
sind Sie bestens auf Ihre Vorlesungen vorbereitet. Natürlich ist es hilfreich, wenn
Sie darüber hinaus Vorwissen und etwas Übung im Umgang mit Mathematik aus
der Schule mitbringen. Dies wird jedoch in den meisten Mathematikvorlesungen
nicht zwingend vorausgesetzt. Typischerweise baut eine Mathematikvorlesung auf
Basiswissen auf und setzt dabei grundlegende Vorstellungen zu mathematischen
Begriffen sowie einige Fertigkeiten im Umgang mit mathematischen Ausdrücken
und mit der mathematischen Symbolik voraus. Alles andere wird erklärt, wenn auch
oft recht schnell. Dieses notwendige Basiswissen und die grundlegenden Vorstel-
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 9
D. Langemann, V. Sommer, So einfach ist Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55823-2_2
10 2 FAQ – häufige Fragen
lungen zu mathematischen Begriffen können Sie mit diesem Buch auffrischen oder
auch erwerben.
In diesem Kapitel finden Sie wichtige allgemeine Betrachtungen und Hinweise
zum Umgang mit Mathematik und ganz nebenbei erste mathematische Überlegun-
gen, die in späteren Kapiteln präzisiert werden.
Sie hat in diesem Punkt viel mit einer guten Lösung oder einem guten Werkzeug für
ein praktisches Problem gemeinsam. Eine gute Umsetzung ist einfach, elegant und
kommt mit vorhandenen Mitteln aus. Einmal ausgetüftelt, ist ein gutes Werkzeug
leicht verständlich – so leicht verständlich, dass wir kaum noch darüber nachden-
ken. Oder wann haben Sie zuletzt über die Bedienung und die Funktionsweise einer
Internet-Suchmaschine, Ihres Fahrrads oder eines Zugfahrplans nachgedacht?
Aber viele Menschen sagen, Mathematik sei kompliziert. Das, was die Mathema-
tiker aufschreiben, seien schwer verständliche Geheimzeichen, und überhaupt sei
alles abgehobener theoretischer Kram. Wenn man sich mit einer Sache nicht be-
schäftigt hat, dann ist diese Sache unverständlich und mysteriös. Jedoch werden
Sie in Ihrem zukünftigen Beruf mit mathematischen Formulierungen leben und
arbeiten. Sie werden dabei – gewiss auf unterschiedlichem Niveau – Mathematik
betreiben.
Mathematik zu erlernen bedeutet, die Einfachheit und die Eleganz in den Gedanken-
gängen und Zusammenhängen zu erkennen und zu verinnerlichen. Jeder einzelne
mathematische Sachverhalt, egal wie kompliziert er erscheint, kann auf einfache
Überlegungen zurückgeführt werden. Dieser Text wird Ihnen die Einfachheit an
besonders grundlegenden Beispielen vor Augen führen.
Aus einfachen Sachverhalten und Zusammenhängen kann man vielfältige und
komplexe Überlegungen entwickeln, so wie man aus einfachen Bauteilen eine
schließlich komplexe und anspruchsvolle Maschine zusammenbauen kann. Schaut
man auf die fertige Maschine und das komplexe Zusammenspiel der einzelnen
Bauteile, so erscheint dies auf den ersten und vielleicht auch noch auf den zweiten
Blick kompliziert.
Um Mathematik zu erlernen, braucht man vier unverzichtbare Säulen: Akzep-
tanz, Notation, Übersetzung, Argumentation. Lassen Sie sich auf Mathematik ein.
Der sichere und unverkrampfte Umgang mit Mathematik unterscheidet die gute
Volkswirtin von einer schlechten, den guten Ingenieur von einem schlechten und
2.1 Wie lerne ich Mathematik? 11
im Zeitalter der Systembiologie sogar gute Biologinnen und Biologen von weni-
ger guten. Das trifft auf viele Arbeitsgebiete zu, denn Mathematik steckt in sehr,
sehr vielen Anwendungen, wenn auch ihre Ausprägung je nach Gebiet sehr unter-
schiedlich ist. Mathematik ist einerseits Multifunktionswerkzeug und internationale
Sprache vieler Wissenschaften, und andererseits ist Mathematik ein Gedankenland
voll Schönheit, Kraft und Eleganz. Mathematik macht Freude.
2.1.1 Akzeptanz
Zuerst akzeptieren Sie, dass die vielleicht vorerst abstrakt erscheinende Beschäfti-
gung mit Begriffen aus unserem Denken, also die Beschäftigung mit Mathematik,
für Sie und Ihren Bildungsweg – in irgendeinem Sinne – sinnvoll ist, selbst dann,
wenn Sie noch nicht wissen, wann und wozu genau Sie welches Wissen brauchen
werden. Vertrauen Sie darauf, dass die Mathematik nicht umsonst seit Langem oder
gar seit jeher zu Ihrem Studienfach gehört und dass sie ein wichtiger Werkzeug-
kasten zur Behandlung vielfältiger Probleme ist. Lassen Sie sich auf Mathematik
ein.
2.1.2 Notation
2.1.3 Übersetzung
deren Rückübersetzung nicht sofort einleuchtend erscheinen mag. Das sind aber
nur sehr, sehr wenige Zusammenhänge. In diesem Buch werden wir die Technik
des Übersetzens mathematischer Schreibweisen an vielen Stellen aufgreifen und
sie dort erläutern.
2.1.4 Argumentation
Mathematik ist redelastig. Sie erleben dies unmittelbar bei Textaufgaben. Doch hin-
ter aller Mathematik stehen logisch einwandfreie Argumentationen, die gesprochen
und in Sprache gedacht werden. Argumentationen sind die Essenz und das Wesen
der Mathematik. Sie werden in Ihrem Berufsleben keine Klausuraufgaben lösen
müssen. Sie werden argumentieren, diskutieren und überzeugen müssen und wol-
len.
Jeder Mensch denkt logisch. Man kann sogar sagen, dass es unmöglich ist, unlo-
gisch zu denken. Wenn wir denken, dann denken wir logisch. Haben Sie also keine
Angst vor der Argumentation. Reden Sie über Mathematik. Verfolgen Sie die Ge-
dankengänge und Argumentationen. Ordnen Sie sie für sich selbst, und erzählen Sie
sie anderen. Im Erzählen ordnen Sie Ihre Argumentation auf wieder andere Weise,
und Nachfragen helfen Ihnen, die Argumentation immer weiter zu verbessern.
Die heutige Sprache der Mathematik ist aus Argumentationen und aus dem Be-
streben, Zusammenhänge sehr genau auszudrücken, entstanden. Indem Sie reden,
erlernen Sie Mathematik samt ihrer Sprache.
Sie haben einen mathematischen Zusammenhang verstanden, wenn Sie ihn ande-
ren vollständig erklären können, d. h. wenn Sie ihn auf einfachere Überlegungen
zurückführen können. Wenn Sie ihn so tief durchdacht haben, wird Ihnen der Zu-
sammenhang völlig natürlich und einleuchtend vorkommen.
Oft ist es aber gerade dann nicht leicht, einen Zusammenhang zu erklären, wenn
er einem völlig natürlich und absolut klar erscheint. Probieren Sie es mit einem
supereinfachen Beispiel wie der Addition zweistelliger Zahlen, allerdings mit Über-
trag. Niemand von Ihnen wird ernsthaft bezweifeln, dass die Addition 17C45 D 62
richtig ist. Denken Sie sich einen Zuhörer, der 52 für ein mögliches Ergebnis hält
oder der in seinem Ergebnis schwankend ist. Versuchen Sie, diesem gedachten Zu-
hörer zu erklären, wie der Übertrag über den vollen Zehner funktioniert.
Allerdings kann man das pure Ausrechnen jedes Ergebnisses, also etwa die Ar-
beitsanweisung, dass man bei zweistelligen Ergebnissen der Einerstellen 7C5 D 12
eine Übertrags-1 zu den addierten Zehnern hinzuaddiert, einem begabteren Ver-
suchsäffchen beibringen. Es wird dies mechanisch abarbeiten können, aber es wird
vermutlich nicht verstehen, was es tut. Eine solche Arbeitsanweisung ist keine Er-
klärung und bringt kaum Verständnis.
2.2 Wann ist ein mathematischer Zusammenhang verstanden? 13
Wenn Sie aber versuchen zu erklären, wie man den Übertrag begreifen kann, d. h.
woher er kommt und wie er in einer konkreten Rechnung eingesetzt wird, so lernen
Sie dabei viel darüber, wie in der Mathematik argumentiert wird. Zuerst sollte Ihr
gedachter Zuhörer akzeptieren, dass der Übertrag für das Verständnis der Addition
notwendig ist. Dann sollte er die Notation zweistelliger Zahlen verstehen und in
eine für ihn einfachere Verdeutlichung übersetzen. Und schließlich ist das Ziel, in
dieser einfacheren Verdeutlichung so zu argumentieren und zu denken, dass Ihrem
gedachten Zuhörer 62 als das ganz natürliche Ergebnis erscheint.
Zugespitzt kann man sagen, dass Sie einen mathematischen Zusammenhang ver-
standen haben, wenn er Ihnen genauso natürlich vorkommt, wie die Addition von
zweistelligen Zahlen mit Übertrag. Falls sich bei Ihnen jetzt der Reflex meldet, dass
mathematische Zusammenhänge nie natürlich seien, weil sie ja mathematisch und
damit unnatürlich sind, dann schauen Sie bitte in den Aufsatz „Zugbrücke außer Be-
trieb, oder die Mathematik im Jenseits der Kultur“ von Hans Magnus Enzensberger.
Dort wird sehr eindringlich beschrieben, wie zahlreiche Menschen einen gewissen
Chic darin sehen zu behaupten, sie hätten Mathematik nie verstanden und nach der
Schule niemals wieder irgendeinen mathematischen Gedanken gefasst. Abgesehen
davon, dass die meisten Menschen bei der Planung ihrer Küche oder ihres Haus-
kaufs durchaus mathematische Überlegungen anstellen, fragt Herr Enzensberger in
seinem Aufsatz, wie wir auf jemanden reagieren würden, der behauptet, er habe
Musik nie verstanden und nach der Schule niemals wieder irgendetwas mit Musik
zu tun gehabt. Ein komischer Jemand wäre dies.
Beachten Sie bitte, dass in der Besprechung des Verstehens nicht von der Lö-
sung einer konkreten Aufgabe die Rede war. Wenn Sie verstehen, worum es geht,
wenn Sie wissen, was die Bezeichnungen bedeuten, und wenn Sie diese übersetzen
können, ergibt sich die Lösung einer Übungs- oder Klausuraufgabe fast von selbst.
Natürlich muss man auch diesen Prozess üben, aber das Verstehen passiert vorher.
Selbst wenn Sie von hundert Aufgabentypen je hundert rechnen können, so sagt
dies noch nichts darüber, ob Sie die Zusammenhänge verstanden haben.
Zudem wäre das Auswendiglernen von Hunderten Aufgabentypen und den zuge-
hörigen Lösungsrezepten eine unnötige Form von Emsigkeit und Fleiß. Verwenden
Sie Ihre Zeit mit Mathematik lieber darauf, die Begriffe, Schreibweisen und Zu-
sammenhänge zu durchdenken, zu reproduzieren und zu ordnen, sich Bilder und
Vorstellungen zu erarbeiten und das logisch saubere Argumentieren zu üben. Ja,
Sie können das.
Aus diesem Grund finden Sie in diesem Buch Aufgaben nur vereinzelt und im
Text versteckt. Sehr wohl finden Sie kleinere und größere Zwischenfragen und Auf-
träge, über die Sie nachdenken sollen. Glauben Sie daran, dass Sie sie beantworten
bzw. erfüllen können. Sie werden Argumentationen finden. Wenn Sie das Lösen von
Aufgaben üben wollen, so konstruieren Sie sich am besten selbst Aufgaben. Allein
durch das Erstellen der Aufgaben lernen Sie schon viel. Wenn Sie die Aufgaben so
erstellen, dass Sie die Lösung bereits kennen, können Sie gleichzeitig überprüfen,
ob Ihre Rechnung zum richtigen Ergebnis führt.
14 2 FAQ – häufige Fragen
Vergessen scheint ganz leicht. Man kann vergessen, was ein bestimmtes Wort in
einer Fremdsprache heißt. Manche vergessen den Namen ihrer ersten Liebe. Man
scheint alles vergessen zu können. Und wenn man etwas vergessen hat, dann ist
es einfach weg. Wenn Sie es tatsächlich vergessen haben, dann finden Sie ohne
Hilfsmittel nicht heraus, wie das französische Wort für Birne lautet oder wie Ihre
Jugendliebe hieß. Dabei hilft auch nicht, dass Sie es einmal wussten.
Mit mathematischen Sachverhalten ist es etwas anders. Selbstverständlich kann
man auch hier einen Begriff vergessen und weiß nicht mehr, was er bedeutet. Aber
es ist schwierig, einmal verstandene Zusammenhänge ernsthaft zu vergessen. Neh-
men wir beispielsweise an, jemand hätte die elementaren Potenzgesetze vergessen,
könnte sie also nicht mehr auswendig und vollständig – wie vielleicht in der Schule
gefordert – aufsagen, und nehmen wir an, dieser Jemand käme an eine Stelle, an
der er 23 24 zusammenfassen sollte oder wollte.
Ohne die anwendbare Kenntnis des zugehörigen Potenzgesetzes würde dieser
Mensch nicht so hilflos dastehen wie jemand auf der Suche nach dem französischen
Wort für Birne. Er hätte auch keinen Grund, ohne nachzudenken 212 , 412 oder 6 8
zu notieren. Denn durch Nachdenken kann der benötigte Zusammenhang jederzeit
in spezieller oder allgemeiner Form reproduziert werden.
Wir stellen uns vor, dass der obige Jemand die Bezeichnungen in unserem Bei-
spiel, also die Potenz 23 mit der Basis 2 und dem hochgestellten Exponenten 3,
deuten kann, denn irgendwie ist er bis zum Ausdruck 23 24 gekommen. Aber selbst
wenn nicht, gibt es eine Chance: Eine Wohnungsgröße wird in Quadratmetern ge-
messen, die Wohnung ist lang und breit, also scheint 1 m2 D 1 m 1 m sinnvoll.
Richtig ist also m2 D m m. Die Chance, dass m2 dasselbe wie 2 m bezeichnen
würde, ist sehr, sehr gering, denn dann könnte man statt m2 gleich den zweiten
einfacheren Ausdruck 2 m verwenden.
Wir wissen somit, dass beispielsweise 42 D 4 4 D 16 gilt, und wir merken
uns, dass wir Bezeichnungen und Begriffe zuerst deuten und übersetzen wollen,
bevor wir sie verwenden (Abschn. 2.6). Also müssen 23 D 2 2 2 D 8 und
24 D 2 2 2 2 D 16 auch richtig sein. Dann ist
Ebenso zielsicher kann man das Potenzgesetz ab ac D abCc herleiten. Die vorge-
stellte Rechnung ist fast schon ein generischer Beweis, weil sie mit anderen Zahlen
völlig analog, also mit derselben Argumentation, durchführbar ist.
Nebenbei haben wir bemerkt, dass 42 D 24 gilt. Kann es sein, dass Basis
und Exponent in einer Potenz immer vertauschbar sind? Nein. Denn 21 D 2 und
12 D 1 1 D 1 ¤ 2. Dieses eine oder jedes andere Gegenbeispiel reicht, um nach-
zuweisen, dass Exponent und Basis in einer Potenz nicht immer vertauschbar sind.
In der Tat ist 42 D 24 die absolute Ausnahme. Damit sind wir bereits der spannen-
den Frage der Vertauschbarkeit von Handlungen auf der Spur. Meistens sind sie
2.4 Wie schreibe ich mathematische Zusammenhänge auf? 15
nicht vertauschbar. Erst kämmen und dann photographieren! Nicht umgekehrt. Igel
und Kahlköpfige sind Ausnahmen wie 42 D 24 .
Der Versuch, das Potenzgesetz ab ac D abCc auswendig zu lernen, ist nicht
sinnvoll, weil wir es so verstanden haben wollen, dass wir es als etwas Natürliches
anwenden. Auswendig gelernt nützt es nur so viel wie das Wort „poire“ ohne die
zugehörige Übersetzung. Bezeichnet es eine Birne, einen Pfirsich oder ganz etwas
anderes?
An der eben vorgestellten kleinen Rechnung erkennen wir ein Grundprinzip
beim Erlernen und Verinnerlichen mathematischer Sachverhalte. Man rüstet die
komplizierteren Ausdrücke zu einfacheren ab, d. h. man übersetzt die Ausdrücke
in weniger abstrakte Formulierungen, und wird hoffentlich irgendwann auf einen
Zusammenhang stoßen, der so einsichtig, so elementar und so klar ist, dass an dem
komplizierter formulierten, zusammengefassten Ausdruck keinerlei Zweifel mehr
besteht.
In diesem Beispiel haben wir die Potenzen 23 und 24 in die länglicheren Produkte
2 2 2 und 2 2 2 2 übersetzt und mussten nur die Anzahl der Faktoren zählen. Wir
haben die Abstraktionsebene der Potenzen verlassen und konnten auf der weniger
abstrakten Ebene der Produkte die Frage nach einem zusammengefassten Ausdruck
für 23 24 beantworten.
menhang mit einem Gleichheitszeichen, auf dessen rechter und linker Seite auch
wirklich etwas Gleiches steht. Die oft anzutreffenden mehrfachen Gleichheitszei-
chen sind schwierig und eigentlich nur für Fortgeschrittene geeignet.
Schreiben Sie mit wenigen Worten oder Zeichen dazu, was mit den Formeln ge-
meint ist und ggf. in welchem Sinne sie gelten. Schreiben Sie auf, wie Sie von einer
Zeile zur nächsten Zeile kommen. Schreiben Sie alle Gedankengänge so auf, dass
Sie und ggf. andere sie nachvollziehen können. Hier reicht oft ein ) für „daraus
folgt“, ein 8x für eine Aussage, die für alle x gilt, oder ein Kurzwort. Schreiben Sie
alle Zwischenschritte auf, die Sie brauchen, um wirklich sicher zu sein. Schreiben
Sie aber nur das auf, was für den Gedankengang nötig ist. Sie werden sich auch an
der Schönheit der kurzen Schreibweisen freuen.
Vereinfachen Sie komplizierte Terme, wo immer dies möglich ist, bevor Sie wei-
terrechnen. Sie werden Ihr Empfinden dafür, was ein komplizierter und was ein
geeigneter Term ist, im Laufe der Beschäftigung mit Mathematik weiterentwickeln.
Begleiten Sie, wo immer dies möglich ist, Ihre Überlegungen mit Skizzen, Veran-
schaulichungen und manchmal auch mit Beispielen. Schreiben Sie – und dies fasst
alle Empfehlungen zusammen – alles so auf, dass Sie selbst es nach zwei Mona-
ten noch verstehen. Und denken Sie daran, dass die überwiegende Mehrheit der in
Ihrer Mathematikvorlesung vorgestellten Zusammenhänge sowie die Lösungen der
allermeisten Übungs- und Klausuraufgaben selbst bei großer Schrift in der oberen
Hälfte einer A4-Seite Platz haben.
Das ist eine bizarre Frage. Es gibt so vieles auf der Welt, was der Mensch nicht
braucht. Diogenes war zufrieden mit einer Tonne und seinen Gedanken. Wer
braucht beispielsweise eine Schaumkelle, also einen breiten Löffel, in den nichts
passt und aus dem alles herausläuft? Wer außer den Französinnen und Franzosen
braucht die französische Sprache und wozu? Brauchen Sie Wale oder Dänemark?
Falls Sie also in Gefahr sind, der Brauchbarkeitszwangsanforderung zu erliegen,
trennen Sie sich bitte in Ihrem eigenen Interesse von der verführerischen Vorab-
verurteilung: „Das brauch ich gar nicht. Mein Papa sagt, dass er nie Differenzial-
gleichungen gebraucht habe. Mein Onkel ist ohne die komplexen Zahlen reich
geworden.“ Denken Sie ggf. darüber nach, was Sie mit dem Wort „brauchen“ mei-
nen.
An einem modernen Auto macht der Entwicklungsaufwand bis zu Zweidrittel
des Preises aus – und vieles davon ist Mathematik. Ärzte durchleuchten im Compu-
tertomographen Menschen von allen Seiten und sehen ein realistisches dreidimen-
sionales Bild des Inneren – dank Mathematik. Kaum ein naturwissenschaftliches
oder medizinisches Experiment kommt ohne ein signifikantes statistisches Test-
ergebnis aus. Jede halbwegs rentable, kompliziertere Logistik ist Resultat feinster
Mathematik. Und Sie wollen wirklich sagen, das braucht man alles nicht?
Selbst wenn Sie in einem heutigen Unternehmen Menschen in Ihrem angestreb-
ten Beruf finden, die scheinbar mathematikfern arbeiten, so weiß niemand genau,
2.6 Warum gibt es so viele neue Bezeichnungen? 17
wie sich das Berufsbild entwickeln wird. Was werden studierte Absolventen tun,
was qualifizierte Facharbeiter? Wenn Sie Ihr Studium abgeschlossen und eine län-
gere Einarbeitungsphase überstanden haben, werden viele Sachen, von denen man
heute glaubt, jemand würde sie „ganz konkret“ in seiner Berufsausübung brauchen,
veraltet und vergessen sein. Mathematik ist ein Werkzeug, das bleibt.
Mathematik kommt auch nicht aus dem Computer. Diese Vermutung wäre so
albern wie die Annahme, der Strom käme aus der Steckdose, die man im Baumarkt
kauft und irgendwo anschraubt. Ein Computerprogramm berechnet nur das, was Sie
ihm beibringen. Wollen Sie klicken, oder wollen Sie entwickeln?
Die permanente Suche danach, wo genau im Berufs- oder Alltagsleben Sie etwas
brauchen könnten, lenkt Sie vom Lernen ab. Viele, viele Dinge lernen Sie, ohne dass
Sie einen konkreten Nutzen vor Augen haben. Oder haben Sie in der Grundschule
zuerst gefragt, wozu man die Multiplikation oder die Buchstaben J, Q, X und Y
wirklich braucht. Und nun kommt’s: Die braucht man gar nicht. Es geht auch ohne:
„Schüler iammern über kwälende ikse und üpsilons im Matheunterricht.“ Es geht
sogar ohne Ä, H und Ü, nicht wahr?
Von noch viel mehr Dingen können Sie den Nutzen zum Zeitpunkt des Erlernens
nur erahnen. Ganz sicher wird die Beschäftigung mit Mathematik Ihnen im Studium
und im Beruf nützen, selbst wenn Sie später einen Weg einschlagen sollten, bei dem
Sie wenig direkten Umgang mit Mathematik haben.
Wenn Sie ohne einen handfesten Grund partout nicht lernen können, bekommen
Sie hier drei Argumente: Mathematik ist die Sprache, in der naturwissenschaftliche
und ingenieurwissenschaftliche Zusammenhänge, aber auch viele andere Sachver-
halte formuliert sind. Die Vorlesungen zur Mathematik liefern den Werkzeugkasten,
aus dem sich weiterführende Vorlesungen bedienen werden. Und zum Schluss der
simple Holzhammer: Das Bestehen der Mathematikklausuren ist ein Pflichtteil Ih-
res Studiums.
Wenn Sie kein Kuscheltier besitzen und Ihre Großmutter Ihnen einen seltsamen
Plüschaffen von einer Reise nach Molwanien mitbringt, so können Sie dieses Mit-
bringsel ohne Bedeutungsverlust als „das Kuscheltier, das Oma Eulalia von ihrer
Reise nach Molwanien mitgebracht hat“ oder einfach als „das Kuscheltier“ bezeich-
nen. Würden Sie es nur als „das Ding“ bezeichnen, so würde diese Bezeichnung
möglicherweise mit anderen Dingen in Ihrem Besitz kollidieren.
Wenn Sie allerdings mehrere Kuscheltiere besitzen, so wäre die Bezeichnung
„das Kuscheltier“ für den seltsamen Plüschaffen nicht mehr eindeutig und für einen
Dritten – sofern Sie mit ihm über Ihre Großmutter oder Ihren Plüschaffen zu spre-
chen wünschen – unverständlich. Deshalb würde der seltsame Plüschaffe, den Ihre
Großmutter von ihrer Reise nach Molwanien mitgebracht hat, einen Namen verdie-
nen und bekommen, z. B. „Wuschiwuschi“. Die Definition der Bezeichnung „Wu-
schiwuschi“ wäre dann: Wuschiwuschi ist der seltsame Plüschaffe, den Oma Eulalia
von ihrer Reise nach Molwanien mitgebracht hat.
18 2 FAQ – häufige Fragen
Definitionen sind Namensgebungen. Sie vereinfachen die Sprache und die Ar-
gumentation. Die Rückbesinnung auf die Definition der Begriffe ermöglicht es uns,
auf die Begriffsinhalte zurückzugreifen und mit ihnen zu denken und zu argumen-
tieren. Beispielsweise ist der Malpunkt in der Multiplikation eine Bezeichnung.
Demnach bedeutet 3 4 D 4 C 4 C 4, dass eine Summe aus drei Vieren zu bil-
den ist. Nachdem wir ihn in der Grundschule verstanden haben, verwenden wir den
Malpunkt als etwas völlig Natürliches. Nebenbei bemerkt liefert uns diese Rückbe-
sinnung auf die Definition des Malpunkts 4 3 D 3 C 3 C 3 C 3 als Summe aus
vier Dreien. Wenn wir uns auf diese pure Definition zurückziehen, ist es durchaus
erwähnenswert, dass 3 4 D 4 3 tatsächlich gilt, dass also die Reihenfolge der Fak-
toren vertauschbar ist. Versuchen Sie sich an einem Nachweis. Wenn Dinge oder
Handlungen vertauschbar sind, dann ist dies etwas ganz Besonderes, und deshalb
erwähnen und beweisen Mathematiker es. Was nicht ausdrücklich vertauschbar ist,
ist meist nicht vertauschbar.
Die Definition der Potenzen ist vielen schon nicht mehr so vertraut wie die
des Malpunkts. Aber ähnlich wie die Multiplikation eine mehrfache Wiederholung
der Addition ist, so ist das Potenzieren eine mehrfache Wiederholung der Multi-
plikation. Mit dieser Definition wird auch klar, dass wir zunächst nur natürliche
Exponenten n 2 N zulassen. Die Bedeutung von Potenzen mit rationalen und
gar reellen Exponenten bedarf aus mathematischer Sicht weiterer Überlegungen
(Abschn. 3.9). Für natürliche n 2 N ist also
an D „
a a ƒ‚
a :::…
a oder am Beispiel 23 D 2 2 2 D 8: (2.1)
n-fach
Der Übersetzungsprozess besteht nun darin, eine Potenz in ein mehrfaches Pro-
dukt zu übersetzen, mit dem wir hoffentlich leichter nachdenken können. Natürlich
könnten wir das mehrfache Produkt ggf. weiter auf mehrfache Additionen wie in
23 D 2 2 2 D 2 .2 2/ D 2 2 C 2 2 D 2 C 2 C 2 C 2 D 8
zurückführen, was wir vielleicht wiederum als ein wenig zu detailliert empfinden
würden.
Da es sehr viele Begriffe gibt, gibt es für all diese Begriffe Bezeichnungen –
quasi Namen, die in den zahlreichen Definitionen exakt bestimmt werden. Ein ganz
entscheidender Teil der mathematischen Kultur besteht darin, Eigenschaften der
betrachteten Objekte genau abzugrenzen und dann zu untersuchen, was aus diesen
Eigenschaften folgt.
Nehmen Sie als Beispiel den Begriff der Primzahl. Eine Primzahl wird im Be-
reich der natürlichen Zahlen N D f0; 1; 2; 3; : : :g typischerweise als eine Zahl
p > 1 definiert, die nur durch sich selbst und durch eins teilbar ist (Abschn. 3.4).
Es verhält sich wie mit dem Namen für das obige Kuscheltier. Das Wort Primzahl
ist schlicht kürzer als die definierenden Eigenschaften. Gleichzeitig haben wir eine
Primzahl durch ihre Eigenschaften genau beschrieben und können damit feststellen,
dass die Zahlen 2, 3, 5, 7, 11; : : : diese Eigenschaften haben und daher Primzahlen
2.6 Warum gibt es so viele neue Bezeichnungen? 19
sind. Wir entwickeln eine Vorstellung vom Begriff einer Primzahl und arbeiten dann
mit diesem Begriff auf einer höheren Abstraktionsebene. Die Definition beschreibt
den Begriff der Primzahl scharf. Alle anderen Zahlen sind keine Primzahlen. Es ist
undenkbar, dass Zahlen „beinahe“ oder „fast“ Primzahlen sind.
Es ist eine philosophische Frage, ob eine solche scharfe Abgrenzung eines Be-
griffs für Gegenstände unserer Anschauung überhaupt möglich ist. Denken Sie
beispielsweise an den Begriff Tisch und die Schwierigkeiten, diesen durch eine
Beschreibung seiner Eigenschaften von einem Hocker abzugrenzen. Erst die Ver-
wendung unterscheidet einen kleinen Tisch von einem Hocker. Die Objekte unseres
Denkens aber, mit denen sich die Mathematik beschäftigt, werden durch Defini-
tionen scharf abgegrenzt. Eine Definition teilt die Objekte in diejenigen, die alle
Eigenschaften der Definition vollständig und exakt erfüllen, und alle übrigen Ob-
jekte, die dies nicht tun.
Betrachten wir nun die Aussage, dass sich jede natürliche Zahl n 2 in ein-
deutiger Weise durch ein Produkt von Primzahlen darstellen lässt, so haben wir
einerseits einen mathematischen Satz formuliert, andererseits erahnen wir, aus wel-
chen Blickwinkeln Mathematik schwierig sein kann. Wenn jemand beispielswei-
se nicht weiß, was eine Primzahl ist, so ist der Satz sinnlos und unverständlich.
Wenn man den Satz betrachtet und ihn beweisen möchte, was in aller Strenge üb-
rigens nicht ganz leicht ist, sucht man nach einer geschickten Kombination von
einsichtigen Argumenten, was ohne Übung schwierig erscheinen mag. Und na-
türlich kann man sich auch fragen, unter welchen Umständen, also in welchen
mathematischen Strukturen, die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung nicht gelten
könnte. In den Überlegungen zur letztgenannten Frage versuchen wir, diejenigen
Argumente aufzuspüren und einzugrenzen, die für die Gültigkeit des Satzes unver-
zichtbar sind.
Um solche Aussagen wie die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung zu bewei-
sen, also logisch unanfechtbar aus einsichtigen Argumenten herzuleiten, geht die
Mathematik in vielen kleinen Schritten vor. Nimmt man z. B. die Eigenschaft zu
Hilfe, dass aus der Teilbarkeit – und Teilbarkeit meint ganzzahlige Teilbarkeit, 12
ist also durch 3 teilbar, nicht jedoch durch 5 – des Produkts a b durch eine Prim-
zahl p die Teilbarkeit mindestens eines Faktors durch p folgt, dann kann man die
Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung recht leicht beweisen. Denn angenommen, es
gäbe eine Zahl mit zwei unterschiedlichen Primzahlzerlegungen. Dann wären bei-
de Produkte von Primzahlen gleich. Nach Division der Gleichheit durch die auf
beiden Seiten auftauchenden Primfaktoren erhielten wir zwei Produkte von Prim-
zahlen, die das gleiche Ergebnis liefern und in denen jede Primzahl, die in einem der
Produkte auftaucht, in dem jeweils anderen nicht auftaucht. Eine kleine Verallge-
meinerung der obigen Eigenschaft auf mehr als zwei Faktoren führt diese Folgerung
aus unserer Annahme zum Widerspruch (vgl. das Prinzip des indirekten Beweises in
Abschn. 8.1.3). Es bleibt allerdings die Schwierigkeit bestehen, die oben genann-
te Eigenschaft zu beweisen. Welche genau? Sehen Sie, es wäre besser gewesen,
wenn wir der Eigenschaft, dass aus der Teilbarkeit eines Produktes a b durch eine
Primzahl p die Teilbarkeit mindestens eines Faktors durch p folgt, einen Namen,
20 2 FAQ – häufige Fragen
Die Formelzeichen sind ebenfalls Bezeichnungen, nur noch kürzere. Sie verkür-
zen verbale Beschreibungen, die ggf. umständlicher handhabbar sind (siehe auch
Abschn. 3.7, wo einige Zeichen und Bezeichnungen erklärt sind).
Wichtig ist, dass Sie die Zeichen und Bezeichnungen in etwas Lebendiges über-
setzen. Nehmen Sie beispielsweise die Bezeichnung einer Funktion f W R ! R
mit x 7! y D f .x/, die in Abschn. 5.1 noch ausführlicher besprochen wird.
Der Name der Funktion ist f . Dieses f steht hier für eine noch nicht festgeleg-
te Funktion, die durch eine konkrete Wahl spezifiziert wird. Die Bezeichnung f
ist sozusagen eine Variable, die Funktionen als Werte annimmt. Auch die anderen
Zeichen haben eine Bedeutung, denn die Funktion f W x 7! y ordnet jeder Zahl x
eine Zahl y zu. Man sagt, dass f die Menge aller möglichen x-Werte in die Menge
aller für y möglichen Zahlen abbildet. Diese Mengen sind genauer angegeben. Vor
dem Pfeil steht nämlich die Menge der reellen Zahlen R. Das heißt, dass x alle re-
ellen Zahlen annehmen kann. Hinter dem Pfeil in f W R ! R, der die Abbildung
beschreibt, steht wieder ein R, welches sagt, dass die Zahlen x wiederum in die
Menge der reellen Zahlen abgebildet werden, aus denen damit die Funktionswerte
y stammen. Schließlich ist der Doppelpunkt an dieser Stelle ein Trennzeichen, das
man hier mit „bildet ab“ übersetzen kann. Der Pfeil 7! besagt, dass der Urbild-Zahl
x, auch Argument genannt, der Funktionswert y zugeordnet wird, der sich mit der
noch nicht spezifizierten Vorschrift y D f .x/ aus x berechnet. Unsere Bezeich-
nung besagt also, dass das noch nicht näher beschriebene f wie ein Automat aus
einer reellen Zahl x einen reellen Funktionswert y produziert.
Prinzipiell kann jedes Objekt unserer Anschauung oder unseres Denkens, jede
Schlussweise und jede Relation von Objekten mit Bezeichnungen belegt werden.
Deshalb gibt es recht viele Bezeichnungen. Aber für lange Zeit werden Sie bei der
Beschäftigung mit Mathematik mit einer überschaubaren Zahl von Bezeichnungen
auskommen, sodass Sie Zeit haben, diese zu übersetzen und zu durchdenken. Die
Bezeichnungen sind fast immer so reduziert, dass jedes Teilzeichen seine Bedeu-
tung hat und nichts weggelassen werden kann.
Zur Wahrung der Übersicht hilft es, einige Schreibkonventionen einzuhalten.
So bezeichnet man mit x, y, z, u gern unbekannte oder frei veränderliche Va-
riablen. Parameter, die quasi vorab festgelegt sind, werden gern a, b, c genannt,
wogegen ganzzahlige Werte wie Indizes eher mit den Buchstaben k, `, m, n be-
zeichnet werden. Falls man noch eine weitere Gruppe von vergleichbaren Variablen
hat, verwendet man r, s, t. Insgesamt werden zusammenhängende oder verwand-
2.8 Was fange ich mit den vielen Regeln an? 21
Abb. 2.1 Griechische Buchstaben, ungeordnet und mit Großbuchstaben, wenn diese von latei-
nischen Buchstaben graphisch unterscheidbar sind. Die Buchstaben in der rechten Spalte taugen
kaum als Variablenbezeichnung
chene Mensch ein Schultafelwerk bräuchte, um die Fläche und den Umfang seines
unregelmäßig geformten Grundstücks näherungsweise nachzurechnen?
Viel wahrscheinlicher ist es, dass dieser Mensch sein Grundstück gedanklich
in Rechtecke und Dreiecke zerlegt und ohne besondere Recherche die Fläche eines
Rechtecks als Produkt der Seitenlängen und die Fläche eines Dreiecks als Hälfte der
Fläche eines passenden Rechtecks gleicher Grundseite und Höhe berechnet – und
das vielleicht, ohne diese Begriffe zu kennen oder sie ausdrücklich zu benutzen. Aus
diesen Überlegungen können Sie Flächenformeln für andere gradlinig berandete
Figuren herleiten. Versuchen Sie es beispielsweise mit dem Trapez.
Den Zustand einer so natürlichen Anwendung von mathematischen Regeln wol-
len Sie im Rahmen der Übungen und des Selbststudiums zu Ihrer Mathematikvorle-
sung erreichen. In Abschn. 2.3 haben wir die Natürlichkeit der Rechenregeln bereits
an den Potenzgesetzen ausprobiert. Und alle anderen mathematischen Rechenre-
geln, die man auf einen Spicker oder auf einen Formelzettel schreiben könnte, sind
letztlich ebenso natürlich und eingängig.
Die meisten mathematischen Zusammenhänge kann man leichter und schneller
reproduzieren als formelhaft anwenden. Um die Natürlichkeit der Zusammenhänge
zu verinnerlichen, erarbeiten wir uns Herleitungen, Motivationen und Methoden,
wie wir die Rechenregeln auf einfachere Zusammenhänge zurückführen. Nehmen
wir beispielsweise mit der binomische Formel
einen Zusammenhang, der für alle Zahlen a und b gilt. Wollte man diese Formel
memorieren, also schlicht auswendig lernen, so verhielte es sich wie mit einem
Fremdwort. Das Auftauchen der Zweien vor und rechts oberhalb der Buchstaben
müsste mühsam auswendig gelernt werden, so wie die Schreibweisen mancher
Fremdwörter mühsam auswendig gelernt werden. Oder finden Sie die Schreibwei-
se des im Frühjahr gelb blühenden, leicht giftigen Stadtdekorationsbuschs namens
Forsythie eingängig?
Die Nummer 2.2 an der obigen Formel ist ein Name oder eine Bezeichnung, und
sie dient dazu, im weiteren Text auf diese Gleichung Bezug zu nehmen, wie dies
z. B. gleich im folgenden Absatz geschieht.
Die Formel in Gl. 2.2 sollte niemand auf seinem Formelzettel notieren müssen,
denn durch Übersetzung der Notation als zweite Potenz in ein Produkt mit sich
selbst und durch danach folgendes Ausmultiplizieren sieht man
.a C b/2 D .a C b/ .a C b/ D a a C a b C b a C b b D a2 C 2ab C b 2 :
64 D 82 D .5 C 3/2 D .5 C 3/.5 C 3/ D 5 5 C 3 5 C 5 3 C 3 3
D 25 C 2 15 C 9 D 64:
Damit haben wir noch nichts bewiesen. Aber wir wissen schon, dass alle vermeint-
lichen Formeln, die andere Ergebnisse als 64 liefern, falsch sind. Insbesondere ist
64 D .5 C 3/2 etwas anderes als 52 C 32 D 25 C 9 D 34. Es entstehen also zwei un-
terschiedliche Ergebnisse, wenn wir zuerst die beiden Zahlen 5 und 3 addieren und
dann das Ergebnis quadrieren oder wenn wir die beiden Zahlen erst einzeln qua-
drieren und dann addieren. Die Reihenfolge von Handlungen ist im Allgemeinen
nicht vertauschbar.
Man hüte sich vor der freigeistigen Erfindung eigener Regeln. Meistens sind sie
falsch. Bei Mark Twain klingt diese Warnung so: „It ain’t what you don’t know that
gets you into trouble. It’s what you know for sure that just ain’t so.“
Beispielsweise wird in Übungs- und Klausuraufgaben gern die Reihenfolge von
Addition und Wurzelziehen vertauscht. Dabei reicht doch ein Test, z. B.
p p p p
5 D 25 D 16 C 9 ¤ 16 C 9 D 4 C 3 D 7; (2.3)
p p p
um zu sehen, dass a C b und a C b in der überwältigenden Mehrheit mögli-
cher Belegungen mit Zahlen unterschiedliche Ergebnisse liefern. Man sagt, dass ein
solcher Zusammenhang im Allgemeinen nicht gilt, auch wenn er im Einzelfall für
sehr spezielle Belegungen der Variablen gleiche Werte liefert. Die Nichtvertausch-
barkeit wird für praktisch alle Ausdrücke wirksam, so ist auch
49 D 72 D .3 C 4/2 ¤ 32 C 42 D 9 C 16 D 25
und im Allgemeinen
In der Nähe von Gl. 3.15 diskutieren wir den einen einzigen Fall, in dem die An-
wendung eines Ausdrucks mit der Addition x C y oder genauer mit der Bildung der
sogenannten Linearkombination x C y mit reellen ; 2 R vertauschbar ist.
Und selbstverständlich ist ein Halbes und ein Halbes kein Viertel oder zwei Viertel,
sondern ein Ganzes (vgl. Gl. 3.12).
Sehr viel zerstörender als die Unkenntnis einer Rechenregel wirkt die undurch-
dachte Anwendung einer falschen, frei erfundenen Rechenregel. Man hüte sich
davor.
24 2 FAQ – häufige Fragen
Mathematik beschäftigt sich mit Gegenständen unseres Denkens, und sie sucht
nach Zusammenhängen zwischen diesen. Da die Mathematik sich nicht mit Ge-
genständen unserer Anschauung beschäftigt, ist sie keine Naturwissenschaft, und
sie braucht die Realität nicht zu fürchten. Mathematische Aussagen sind Gewiss-
heiten, wie es sie in den Naturwissenschaften nicht gibt. Denken Sie beispielsweise
daran, dass leider nur fast alle Säugetiere, ausgenommen z. B. das Schnabeltier und
der Ameisenigel, lebendgebärend sind und dass leider auch nicht alle lebendgebä-
renden Tiere Säugetiere sind, denn manche Haie sind auch lebendgebärend. Die
Frage nach dem Warum ist in beiden Aussagen sinnlos. Denn es ist so, wie es ist.
Eine logische Begründung, warum die Natur so ist, wie sie ist, wird kein Mensch
erwarten.
Typischerweise führen wir in den Naturwissenschaften Beobachtungen auf
allgemein akzeptierte Gesetzmäßigkeiten zurück. Fragen wir uns beispielsweise,
warum ein Apfel vom Baum auf die Erde fällt, so können wir antworten, dass dies
geschieht, weil alle Dinge nach unten fallen. Fragen wir wiederum, warum alle
Dinge nach unten fallen, so ist der Verweis auf die Erdanziehungskraft eine akzep-
table Antwort. Die Frage nach der Erdanziehungskraft würde man mit dem noch
allgemeineren Verweis auf die Gravitation zwischen Massen im Raum beantworten
können. Und jetzt kommt die nächste Frage: Warum ziehen sich Massen im Raum
an? Ja, warum?
Mathematische Aussagen sind von anderer Art. Nehmen Sie als Beispiel die
Aussage, dass die Summe von drei aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen durch
drei teilbar ist. Natürliche Zahlen sind Gegenstände unseres Denkens oder unserer
Abstraktion. Jedes i-Dötzchen kennt Zahlen und kann mit ihnen umgehen, und doch
sind Zahlen keine Gegenstände unserer Anschauung. Wir können sie nicht im Feld-
versuch einsammeln und vorzeigen. In der Natur finden Sie keine Zahlen, obwohl
Sie natürlich Vorgänge und Ereignisse finden, die sich mit Zahlen gut beschreiben
lassen.
Die einfachsten Zahlen sind schon hochabstrakte Begriffe. Mathematiker haben
sogar für die natürlichen Zahlen Definitionen. Es ist nicht schlimm, wenn Sie damit
nicht sofort etwas anzufangen wissen, aber die natürlichen Zahlen kann man mit
Klassen gleichmächtiger Mengen identifizieren oder mit den Axiomen von Peano
beschreiben. Wow. So komplizierte Gebilde haben Sie in der Grundschule verstan-
den. Dann wird Ihnen auch der Rest der Mathematik leichtfallen.
Da wir uns nun verdeutlicht haben, dass Zahlen keine Gegenstände unserer An-
schauung sind und wir nicht befürchten müssen, dass wir mit dem Schnabeltier ein
seltsames Wesen finden, das lange als gesichert geltende Tatsachen über den Hau-
fen wirft, können wir mit an Arroganz grenzender Überzeugung sagen, dass jede
drei aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen durch n, n C 1 und n C 2 mit n 2 N
beschreibbar sind. Denn unter den dreien muss es eine kleinste geben, die wir n
nennen, und den anderen beiden bleibt dann keine andere Wahl, als n C 1 und n C 2
zu sein, denn wir haben von den drei Zahlen vorausgesetzt, dass sie aufeinander-
2.10 Darf ich mal probieren? 25
folgend sind. Addieren wir nun diese drei aufeinanderfolgenden Zahlen, so entsteht
die Summe
n C .n C 1/ C .n C 2/ D 3n C 3 D 3.n C 1/;
die gleich dem Dreifachen der mittleren Zahl ist. Beachten Sie bitte, dass die Klam-
mern auf der linken Seite der Gleichheit zur Verdeutlichung geschrieben wurden,
aber nicht zwingend notwendig sind.
Die Summe von drei aufeinanderfolgenden natürlichen Zahlen ergibt bei Divi-
sion durch drei die mittlere Zahl und ist mithin durch drei teilbar. Unsere Aussage
gilt also für alle Wahlen n 2 N und damit für alle drei aufeinanderfolgenden natürli-
chen Zahlen uneingeschränkt, für immer und ohne jede Chance auf eine Ausnahme
oder Änderung. Diese dauerhafte Gewissheit ist nur möglich, weil wir uns im Vor-
feld auf exakte Begriffe geeinigt haben. Auch entstammt die Gewissheit nicht einer
Autorität, sondern jeder kann sie nachvollziehen und prüfen.
Ihnen diese Besonderheit der Mathematik als ein wesentliches und schönes Ele-
ment nahezubringen, ist ein wichtiges Anliegen dieses Buchs und jeder mathemati-
schen Vorlesung. Die Beweise sind die Spielwiese der mathematischen Begriffe und
Zusammenhänge. In ihnen üben wir logisches Argumentieren und mathematische
Schlussweisen. Beweise sind Mathematik. Rechenaufgaben sind Rechnen.
Deshalb werden Ihnen Beweise keineswegs erspart bleiben. Oft werden Mathe-
matikdozenten bang gefragt: „Auch die Beweise?“ Und hier ist die Antwort: Ja,
meine Damen und Herren, gerade die Beweise, denn diese offenbaren den Charakter
der Mathematik und ihre wahre Stärke. Die mathematischen Beweise ermöglichen
es Ihnen, Zusammenhänge nicht nur zu memorieren, sondern nachzuvollziehen.
Und nur ganz nebenbei: Wissen Sie, wie viele Begriffe, Sätze und Rechenverfah-
ren ein Mathematikdozent in einer neunzigminütigen Vorlesung an die Tafel werfen
könnte, wenn er die Beweise, die Motivation und die Zusammenhänge wegließe?
Aber warum sollte er dies tun? Es wären nur Spielregeln ohne Sinn. Oder gibt es et-
wa eine Antwort auf die Frage, warum man in manchem Würfelspiel bei der Sechs
ein zweites Mal würfeln darf?
Schon zu Beginn dieses Kapitels haben Sie gelesen, dass Mathematik etwas zum
Selbermachen ist. Und immer, wenn man etwas selbst macht, kostet dies ein wenig
Überwindung. Dafür braucht man Selbstvertrauen. Trauen Sie sich, Mathematik zu
entdecken und Mathematik zu betreiben. Die Auseinandersetzung mit Mathematik
ist zu Beginn ein bisschen wie ein Bungee-Sprung. Man muss sich trauen. Und:
Sie sind stets gesichert. Die der Mathematik innewohnende Logik sichert Sie und
bewahrt Sie vor dem Absturz.
Sie werden auf dem Weg durch die Mathematik sicherlich Fehler oder das, was
man gemeinhin so nennt, machen. Das steht hier nicht, weil Sie etwa ungeeignet
für Mathematik seien, sondern weil jeder Fehler macht. Im Gegensatz zu vielen an-
deren Gebieten unseres Denkens und Lernens kann man eventuelle Fehler in einer
26 2 FAQ – häufige Fragen
mathematischen Argumentation allein mit der Kraft seiner Gedanken und damit
der Logik erkennen, ausbessern und schließlich vermeiden. So reflektiert führen
sogenannte Fehler zu etwas Positivem, nämlich zu einem breiteren Erkennen von
Möglichkeiten und Unmöglichkeiten und zu einem tieferen Verständnis der mathe-
matischen Zusammenhänge.
Zur Fehlervermeidung hilft es, das eigene Vorgehen kleinschrittig zu hinterfra-
gen, also zu prüfen, ob alle Folgerungen logisch zulässig sind, welche Überlegun-
gen hinter den Ansätzen und Schritten stehen und ob eventuell gegen mathema-
tische Gesetzmäßigkeiten verstoßen wurde. Formulieren Sie Ihre Gedankengänge,
und stellen Sie sich und Ihre Rechnungen auf die Probe. Oft reicht ein kurzes Zah-
lenbeispiel wie in Abschn. 2.8, um einzusehen, dass vielleicht wünschenswerte,
aber nicht vorhandene Schlussweisen nicht gelten. Trauen Sie sich, und seien Sie
zugleich kritisch.
Es führen gewiss nicht alle Wege nach Rom, doch viele verschiedene Wege füh-
ren zu einer mathematischen Erkenntnis. Auch das Navigationssystem im Auto
schlägt Ihnen unterschiedliche Routen vor. Eine ist angeblich die schnellste, eine
die kürzeste, eine andere wiederum die sparsamste. Aber alle bringen Sie zu Ihrem
Ziel. Und auch wenn Sie die Strecke mit den meisten Umwegen wählen, können
Sie die Aussicht genießen und dabei etwas lernen. Doch eines haben alle Wege ge-
meinsam. Man muss losgehen, um ans Ziel zu gelangen. Während Sie dieses Buch
lesen, haben Sie diesen schwierigsten Schritt schon hinter sich.
Manchmal wird es Ihnen passieren, dass Sie sich auf einem Weg wiederfinden,
der nicht zielführend erscheint. Auch das gehört dazu und bringt Ihnen Erfahrun-
gen. Und für solche Fälle gibt es den Hinweis „Bitte wenden“. Die Mathematik
ist keine Einbahnstraße. Sie birgt auch Sackgassen, aber nur solche mit großzügi-
ger Wendemöglichkeit. Alle mathematischen Wege kann man mit kleinen Schritten
gehen.
Wenn Sie sich mit etwas Neuem beschäftigen, stürzen Sie sich bitte nicht gleich
ohne Sicherung vom Mont Blanc, sondern versuchen Sie es zunächst mit guter
Ausrüstung an ein paar Ausläufern des Harzes. Sie werden Ihre Erfolge sehen.
Mathematisch zu denken, kann man lernen, und Sie werden schneller Fortschrit-
te machen, als Sie jetzt möglicherweise glauben. Ihre Sicherung ist die Mathematik
selbst, es sind die kleinen Schritte, die Gesetzmäßigkeiten und die Proben. Stellen
Sie Ihre Überlegungen und Rechnungen immer wieder auf den Prüfstand. Setzen
Sie Ihr Ergebnis in den ursprünglichen Ansatz ein, und prüfen Sie so, ob es richtig
ist.
Hinterfragen Sie Ihre Lösungen auch inhaltlich. Gelegentlich hört man Aussagen
– gern auch im Radio – wie die, dass eine Aktie, die um 20 % steigt und danach wie-
der um 20 % fällt, auf ihrem alten Kurs stände. Das klingt erst einmal einleuchtend.
Eine kurze Testrechnung lässt aber Zweifel aufkommen, denn wenn eine Aktie von
100 Euro um 20 % steigt, dann kostet sie 120 Euro. Fällt sie danach wieder um
20 %, so kostet sie nur noch 96 Euro. Insgesamt hat diese Aktienbewegung also
4 Euro Verlust gebracht. Um hier ganz sicher zu sein, reicht eigenes Nachdenken.
Man braucht kein Nachschlagewerk, keine Börse und keinen Autoritätsbeweis.
2.10 Darf ich mal probieren? 27
einen großen und wichtigen Schritt in die richtige Richtung gegangen. Wenn Sie
Mathematik betreiben, müssen Sie anfangen zu überlegen. Sie sollten Ihr Vorwis-
sen sortieren und formulieren. Das gilt natürlich nicht nur für Prüfungen. Auch und
vor allem wenn Sie in Ihrem stillen Kämmerlein sitzen, können Sie sich trauen.
Niemand schaut Ihnen zu, niemand lacht über Ihr Ergebnis oder über vermeintliche
Umwege. Manchmal muss man einen Zettel wegwerfen oder sogar vor Wut zerrei-
ßen, aber aus jeder Beschäftigung mit Mathematik nehmen Sie mehr mit, als wenn
Sie gar nichts tun. Trauen Sie sich. Fangen Sie an. Die Mathematik wird Sie sicher
auffangen, wenn Sie sich erst einmal in sie hinein getraut haben.
Zahlen und Bezeichnungen
3
Mathematik ist weit mehr als nur zu rechnen, doch selbst einfache Rechenwege
enthalten schon mathematische Überlegungen. Viele höhere mathematische Überle-
gungen wiederum enthalten die Rechenwege in abstrakter Form. Deshalb beginnen
wir mit der Rechenkunst und schauen auf spannende Themen am Wegesrand.
Stopp. Haben Sie Kap. 1 und Kap. 2 gelesen? Oder nur überblättert – vielleicht,
weil Sie die einfachen Tipps schon zu kennen glaubten?
Wenn Sie die ersten beiden Kapitel gelesen haben, werden Sie damit einverstan-
den sein, dass wir mit sehr einfachen Zusammenhängen beginnen und an diesen
einfachen Zusammenhängen Ihr mathematisches Verständnis, das Sie bereits mit-
bringen, auffrischen und stärken.
Schon die Grundrechenarten mit natürlichen Zahlen schenken Ihnen mathema-
tische Ideen. Auch Sie sollten im Kopf einfache Rechenoperationen ausführen.
Dies ist kein Kunststück. Beispielsweise rechnen einige Gemüseverkäufer auf dem
Markt 700 g Pfirsiche zu 3 Euro pro Kilogramm, ein Bund Petersilie zu 80 Cent und
anderthalb Kilogramm Möhren zu 1.20 Euro pro Kilogramm mühelos zusammen
und reden nebenbei mit Ihnen.
Sie finden vielfältige Rechenmöglichkeiten im täglichen Leben. Rechnen Sie auf
dem Gemüsemarkt mit, rechnen Sie Ihren Einkauf im Supermarkt zusammen, oder
berechnen Sie die Durchschnittsgeschwindigkeit des ICE zwischen zwei Bahnhö-
fen mit den Angaben aus dem Faltblatt. Sie lernen viel daraus.
Wenn Sie beispielsweise auf die Idee kommen, 14 24 berechnen zu wollen, weil
Sie beim Skat in der Bockrunde einen Grand Hand mit Vieren Schneider gewonnen
haben, so können Sie die folgende Überlegung anstellen:
Vielleicht belächeln Sie die Rechnung als einfach, aber mit dieser Rechnung üben
Sie bereits wesentliche Aspekte der Termumformung und der Klammersetzung. Be-
achten Sie bitte, dass das Weglassen einer der Klammern zu anderen Ergebnissen
führt, sodass mindestens eines der Gleichheitszeichen zwischen zwei unterschied-
lichen Zahlen stände, worüber es sehr, sehr traurig wäre. Wenn Sie Ihrer Rechnung
nicht trauen, so können Sie sie wie ein Skatspieler wiederholen, der natürlich weiß,
was ein Grand mit Vieren einbringt, und der daher in seiner Rechnung 5 24 D 120
benutzt. Er würde vielleicht eher
rechnen, was er typischerweise auch am Ende des Kneipenskats noch kann. Sie
haben damit eine Probe Ihres ersten Ergebnisses.
Wenn man – möglicherweise zum Spaß und aus reiner Neugier – ein wenig rech-
net, dann entdeckt man schnell einige Rechenerleichterungen. Stellen Sie sich vor,
Sie wollten, aus welchen Gründen auch immer, herausbekommen, welche Zahl mit
sich selbst multipliziert 1000 ergibt oder dem Wert 1000 möglichst nahe kommt.
Quälen Sie sich nicht mit der Frage, warum genau dies. Beispielsweise könnten
Sie in der Zeitung gelesen haben, wie lange ein Fallschirmspringer aus 5000 Meter
Höhe erst fällt und dann im Schirm hinuntergleitet. Wollen Sie in einer groben
Rechnung überprüfen, wie lange ein Stein im luftleeren Raum fallen würde, so
brauchen Sie eine Näherung für die Wurzel aus 1000, denn gemäß den Fallgeset-
zen ist der zurückgelegte Weg des fallenden Steins gleich dem Quadrat der Fallzeit
multipliziert mit der halben Erdbeschleunigung. Recht schnell stellen Sie fest, dass
30 30 D 900 < 1000 und 40 40 D 1600 > 1000 ist, dass also Ihre gesuchte Zahl
irgendwo zwischen 30 und 40 liegt und zwar näher an 30 als an 40, oder? Probieren
wir
und das Quadrat von 31 kommt 1000 schon recht nahe. Versuchen Sie es mit 32.
Da wir das Quadrat von 31 schon kennen, probieren wir im Kopf sogar noch
rechnen. Denken Sie über die nächste Kommastelle nach und rekonstruieren Sie die
zweite binomische Formel. Lernen Sie sie nicht auswendig.
Für eine weitere Formel aus dieser Familie hat die Schule den Namen „dritte
binomische Formel“ eingeführt. Sie lautet
.a C b/.a b/ D a2 b 2 (3.1)
und gilt wieder für alle Zahlen a und b. Meistens folgt ihrem Aufsagen mit einem
leicht zögernden oder fragenden Tonfall auf dem Minus ein tiefes erleichtertes Aus-
atmen. Auswendig gelernt nützt diese Formel so wenig wie viele andere auswendig
gelernte Formeln. Die dritte binomische Formel erschließt sich wieder durch Aus-
multiplizieren:
.a C b/.a b/ D a a C b a a b b b D a2 C 0 b 2 D a2 b 2 :
Ganz wunderbar ist es, wenn man an dieser Stelle einen Moment innehält und ge-
nießt, wie das Produkt a b beim Ausmultiplizieren einmal hinzuaddiert und dann
sofort wieder abgezogen wird. In unserer Rechnung haben wir dies durch die Null
verdeutlicht. Natürlich können wir auch wieder Zahlenbeispiele durchrechnen, soll-
ten darüber aber das Genießen der Null nicht vergessen.
In Abb. 3.1 ist eine Veranschaulichung für die Aufgabe 119 D .10C1/.101/
gegeben. Denken Sie sich eine quadratische Terrasse, die mit zehn Steinfliesen in
der Breite und zehn Steinfliesen in der Tiefe, also insgesamt einhundert Fliesen,
ausgelegt ist. Wenn Sie eine Reihe von zehn Fliesen am Rand wegnehmen, so er-
halten Sie ein Rechteck von zehn Fliesen in der Breite und neun Fliesen in der Tiefe.
Wenn Sie gedanklich an die nun kürzere Seite wieder neun Fliesen anlegen, so hat
die geflieste Terrassenfläche die Breite von 11 Fliesen und die Tiefe von 9 Fliesen.
Allerdings ist eine Fliese übrig. Es gilt 11 9 D 102 12 D 99, was Sie natürlich
schon vorher wussten. Verwenden Sie dasselbe Argument und schneiden Sie zwei
Streifen ab oder gar drei. Wie viele Fliesen bleiben jeweils übrig?
Üben Sie die Anwendung der dritten binomischen Formel an Aufgaben wie
Die binomische Formel – oder die erste binomische Formel, die die zweite binomi-
sche Formel schon enthält, wenn man mit negativen Zahlen rechnen kann – werden
wir in Abschn. 6.1 noch allgemeiner aufschreiben und dabei viel über den Um-
gang mit der mathematischen Notation lernen. Die dritte binomische Formel ist
von etwas anderer Art. Sie steht recht allein, allenfalls die in Gl. 3.11 verwendeten
Umformungen stellen eine gewisse Verallgemeinerung dar.
Im Allgemeinen ist das Dividieren schwieriger als die anderen Grundrechenar-
ten. Wollen Sie beispielsweise 2363 W 17 ausrechnen, so können Sie sich zunächst
fragen, ob 2363 überhaupt durch 17 teilbar ist, ob man also – in der Sprechweise
der Grundschule – 2363 Bonbons gerecht auf 17 Kinder aufteilen kann.
Dazu können Sie die folgenden Überlegungen anstellen. Wenn 2363 durch 17
teilbar ist, dann ist auch 2363C17 D 2380 durch 17 teilbar. Umkehrt ist 2363 durch
17 teilbar, wenn 2380 es ist. Beachten Sie bitte, dass wir an dieser Stelle noch keine
Aussage über die Teilbarkeit von 2363 machen, sondern nur sagen, dass 2363 und
2380 entweder beide durch 17 teilbar sind oder beide nicht. Wir wissen noch nicht,
ob 2363 durch 17 teilbar ist, aber wir wissen, mathematisch ausgedrückt, dass 2363
genau dann durch 17 teilbar ist, wenn 2380 D 238 10 durch 17 teilbar ist.
Jetzt nutzen wir das Argument, das wir am Ende von Abschn. 2.6 angerissen
haben und welches besagt, dass aus der Teilbarkeit des Produkts a b durch eine
Primzahl p folgt, dass p einen der Faktoren a oder b teilt. Nun ist p D 17 eine
Primzahl, die a D 10 nicht teilt. Also schließen wir, dass genau dann b D 238
durch 17 teilbar ist, wenn a b D 2380 durch 17 teilbar ist. Wir überprüfen nun, ob
238 durch 17 teilbar ist, indem wir 238 10 17 D 68 untersuchen. In der Tat ist
68 D 2 34 D 2 2 17 und damit durch 17 teilbar. Insgesamt haben wir also die
Überlegung angestellt, dass 2363, 2380, 238 und 68 entweder alle durch 17 teilbar
sind oder keine von ihnen. Da nun 68 durch 17 teilbar ist, so ist es auch 2363.
Bemerken Sie bitte, dass wir mit dieser Überlegung einen sehr schönen logischen
Schluss durchgeführt haben. Das ist schon ein Beweis. Wir haben eine Untersu-
chung vorgenommen und sind, gleich Sherlock Holmes, der Zahl 2363 dahingehend
3.1 Natürliche Zahlen und Kopfrechnen 33
auf die Schliche gekommen, dass sie tatsächlich durch 17 teilbar ist. Bemerken
Sie bitte auch, dass wir diese Untersuchung auf vielfältige andere Art und Wei-
se hätten unternehmen können. Insbesondere der erste Schritt, bei dem wir auf
2363 C 17 D 2380 D 238 10 gekommen sind, war ein kleiner Trick, bei dem
wir eine vierstellige „schwierige“ Zahl zu einer dreistelligen „einfacheren“ Zahl
abgerüstet haben. Solche Tricks werden uns häufiger begegnen. Es sind keine syste-
matischen Abarbeitungen, sondern geschickte Wege durch das Labyrinth möglicher
Gedankengänge.
Wollen wir schließlich die Division tatsächlich durchführen, so können wir die
vorigen Überlegungen ausnutzen, indem wir rechnen:
Das pure Ergebnis, also den Quotienten 139 aus dem Dividenden 2363 und dem
Divisor 17, hätten wir natürlich auch ohne den logischen Vorspann zur Teilbarkeit
so oder ähnlich ausrechnen können. Üben Sie solche Rechnungen im Kopf. Stellen
Sie sich selbst Aufgaben, und überprüfen Sie das Ergebnis mit einer Probe.
Wenn Sie dies eine Weile machen, werden Sie viele Rechenvereinfachungen
selbst entdecken, und es wird Ihnen nicht mehr unmöglich erscheinen, im Kopf
eine weitere fünfstellige Primzahl zu suchen, die sich von vorn und hinten gleich
liest, wie z. B. 11 311 eine ist, was trotz aller Übung sehr viel Zeit verbraucht.
3.1.1 Umkehroperationen
Wir nennen die Subtraktion die Umkehroperation zur Addition, weil eine geeignete
Subtraktion die Addition umkehrt, also rückgängig macht. Wenn wir zu 7 die Zahl
2 addieren, so kehrt die Subtraktion von 2 diese Operation, also die Addition von
2, wieder um, denn es gilt 7 C 2 D 9 und wieder zurück 9 2 D 7 C 2 2 D 7.
Entsprechend ist die Addition auch die Umkehroperation der Subtraktion. Ebenso
ist die Division durch eine Zahl die Umkehroperation der Multiplikation mit genau
dieser Zahl und umgekehrt.
Die Idee einer Umkehroperation findet man in der Mathematik recht oft, und wir
werden ihr an mehreren Stellen in diesem Buch wiederbegegnen. Auf dem Compu-
ter gibt es mit „Undo“ oder „Rückgängig machen“ eine Operation, die jede vorige
Handlung zurücknimmt. Im richtigen Leben gibt es Umkehroperationen nur nähe-
rungsweise. In gewissem Sinn kann man das Kämmen als Umkehroperation zum
Verwuscheln der Haare ansehen oder – wenn man will – die Scheidung als Um-
kehroperation zur Heirat.
34 3 Zahlen und Bezeichnungen
3.1.2 Überschlagsrechnung
Oftmals benötigen wir bei einer Rechnung gar kein exaktes Ergebnis, sondern nur
eine ungefähre Vorstellung von der Größenordnung. Man nennt dies eine Über-
schlagsrechnung. Im obigen Beispiel kann man das Ergebnis näherungsweise be-
stimmen, indem man 2363 W 17 2400 W 20 D 120 rechnet. Da hierbei 2363 relativ
gut durch 2400, aber 17 nur relativ grob durch 20 angenähert wird, ist das Über-
schlagsergebnis ungenau, aber es sagt etwas über die Größenordnung aus. Üben
Sie solche Überschlagsrechnungen. Wie teuer ist beispielsweise eine monatliche
Rate für einen Ferrari bei Ratenzahlung über sechs Jahre?
Ein anderes Beispiel ist die Frage, wie viele Sekunden ein Jahr hat. Da wir eine
Überschlagsrechnung üben wollen, nehmen wir allen Gregorianischen, tropischen
und astronomischen Jahren zum Trotz ein Gemeinjahr mit genau 365 Tagen. Man
könnte also das Produkt aus Tagen pro Jahr, Stunden pro Tag, Minuten pro Stunde
und Sekunden pro Minute durch
annähern. Hier haben wir mit Absicht an einer Stelle das Ungefährzeichen ge-
schrieben und an den anderen ein Gleichheitszeichen. Beachten Sie bitte, dass wir
mit 400 25 ein einfach zu berechnendes Produkt gewählt haben. Da wir beide
Faktoren überschätzt haben, erhalten wir zum Schluss eine Überschätzung. Raffi-
niert wäre es gewesen, zum Ausgleich 3600 nach unten auf 3000 abzurunden. Man
braucht dafür etwas Gefühl, was man aber schnell entwickelt. Dann hätten wir mit
30 Millionen eine sehr akzeptable Näherung erreicht.
Überschlagen Sie mal selbst, wie viele Ziegelsteine in der Lübecker Marien-
kirche verbaut sind, wie viele Kohlenstoffatome in einem Schwimmbecken wären,
wenn Sie es mit Ihrem Mineralwasser füllen würden, wie viele leere Flaschen vor
der nächsten Brauerei stehen, an der Sie vorbeikommen, oder gar, wie viel der che-
mischen Energie in Ihrem Tank tatsächlich zur Überwindung des Luftwiderstands
verbraucht wird. Für diese Überschlagsrechnungen brauchen Sie einige Ausgangs-
werte, die Sie sich aus ein paar Erinnerungen oder Plausibilitätsüberlegungen be-
schaffen können.
Antoine de Saint-Exupéry hat im Kleinen Prinzen vorgerechnet, wie groß eine
Insel sein müsste, auf der alle Menschen der Erde dicht gedrängt stehen könnten.
Nun, wie groß wäre sie?
Zugegeben, kaum jemand addiert und multipliziert größere Zahlen heute schriftlich,
denn dafür gibt es Taschenrechner und Computer. Doch hinter den Rechenverfahren
der schriftlichen Addition, Multiplikation und Division stecken einige Überlegun-
gen, die uns bei der Termumformung, beim Umgang mit Klammern und allgemein
bei der Beschäftigung mit Mathematik wiederbegegnen.
3.1 Natürliche Zahlen und Kopfrechnen 35
Beginnen wir mit der schriftlichen Addition, und betrachten wir das Beispiel
794 C 182 C 171. Es entsteht das Additionsschema
794
C182
C171
2
1147
mit dem Ergebnis 1147. Die schriftliche Addition arbeitet ziffernweise. Einerstel-
len, Zehner und Hunderter werden getrennt addiert. In diesem Schema wurde also
die Rechnung
ausgeführt. Wir erkennen in dieser Rechnung die spaltenweise, also die ziffern-
weise Addition im obigen Schema. Die Einerstellen lieferten unproblematisch die
Ziffer 7. Bei der Addition der Zehner 90 C 80 C 70 entstand jedoch ein Wert größer
als 100, was uns den Übertrag 2 eingebracht hat, den wir zu den Hunderterstellen
dazuzählen müssen. Das Additionsschema führt also genau das aus, was wir auch in
der länglichen Addition mittels Umsortieren tun, verzichtet aber auf das Schreiben
der vielen Nullen.
Ähnlich arbeitet die schriftliche Multiplikation. Vergleichen Sie die Rechnung
die die Multiplikation mehrstelliger Zahlen auf die Multiplikation mit einstelligen
Zahlen und eine Addition zurückführt, mit dem Schema
79 123
79
C 158
C 237
11
9717;
und schauen Sie, was dort passiert. Sie erkennen die rezeptartige oder schematische
Umsetzung der obigen Rechnung. Sie erkennen jetzt auch, warum die Ergebnisse
der einzelnen einstelligen Multiplikationen versetzt aufgeschrieben werden. Dort
sind die Nullen aus den Zehner- und Hunderterstellen in Gl. 3.2 mitgedacht.
36 3 Zahlen und Bezeichnungen
Etwas weniger offensichtlich ist das Vorgehen bei der schriftliche Division. Führt
man beispielsweise die schon diskutierte Divisionsaufgabe 2363 W 17 schriftlich
aus, so prüft man zuerst, wie viele Tausender, Hunderter usw. in das Ergebnis pas-
sen. Wegen 17 1000 > 2363 passt kein Tausender hinein, aber wegen 17 100
2363 < 17 200 passt genau ein Hunderter in den Quotienten. Nun rechnet man
mit 2363 1700 weiter und prüft, wie viele Zehner in diesen Wert passen. Dieses
Ausprobieren mündet in der Rechnung
2363 W 17 D 139
17
66
51
153
wiederfindet. Jetzt könnte man lang und breit erklären, was in diesem Schema ab-
läuft. Aber Sie lernen viel mehr darüber, wenn Sie es ausprobieren und wenn Sie
sich selbst verdeutlichen, wie und warum dieses Divisionsschema funktioniert.
Versuchen Sie sich auch an einer Division mit Rest, beispielsweise erkennen Sie
nach der obigen Rechnung schnell, dass 2367 W 17 den Rest 4 lässt, weil 2367 um 4
größer ist als 2363 und weil 4 selbst nicht mehr durch 17 teilbar ist. Das erweiterte
Schema lautet also
Wir werden dieses Vorgehen bei der Polynomdivision in Abschn. 6.3.1 wiederfin-
den.
Um welchen Faktor ändert sich das Gewicht einer Kugel, wenn Sie den Radius
verdoppeln? Bei welcher Konstellation kommt eine Mannschaft in der Vorrunde
einer Fußballweltmeisterschaft mit minimaler Punktzahl weiter? Können die Wahr-
scheinlichkeiten stimmen, die der Bösewicht Le Chiffre im Bond-Film „Casino
3.2 Klammersetzung 37
Royale“ vor sich hin blubbert? Was haben die Division mit Rest und die Betrachtun-
gen in Abschn. 3.3.3 mit einem getakteten Busfahrplan zu tun? Wie viel teurer wird
der Transport einer Flasche Münchner Bier nach Hamburg durch die Lkw-Maut?
Welche Durchschnittsgeschwindigkeit erreicht der Bugatti-Veyron bei Höchstge-
schwindigkeit, d. h. bei 400 km/h, und mit einem Verbrauch von bis zu 100 Litern
auf 100 km, wenn er fünf Minuten zum Tanken braucht? Ist der Verbrauch rea-
listisch, und wie hängt er von der Fahrgeschwindigkeit ab? Wieviel Geld bekäme
jeder, wenn die Politiker ihre nächste Diätenerhöhung oder gleich ihr ganzes Ein-
kommen an die Bürgerinnen und Bürger ihres Landes verteilten? Solche ernsthaften
und weniger ernsthaften Fragen begegnen Ihnen im täglichen Leben. Freuen Sie
sich an ihnen.
Auch im Berufsleben werden Sie sich mit Zahlen und mathematisch beschriebe-
nen Zusammenhängen auseinandersetzen müssen. Nicht nur dort ist klar im Vorteil,
wer rechnen kann. Rechnen Sie. Beschäftigen Sie sich mit Zahlen und Zusammen-
hängen.
3.2 Klammersetzung
Die lieben Klammern wurden in diesem Buch bereits verwendet, und auch Sie ha-
ben schon mit Klammern gerechnet. Sie wissen, mit ihnen umzugehen. Da man
trotzdem immer wieder Fehler findet, folgt hier ein Erklärungsversuch.
Wenn man von Klammern spricht, meint man meistens die in der Grundschule
eingeführten Klammern, die aussagen, dass das, was in den Klammern steht, zuerst
zu berechnen ist. Dazu kommen wir gleich.
Eine etwas andere Bedeutung ist die Verwendung zur Beschreibung einer funk-
tionalen Abhängigkeit in y D f .x/. Es gibt eine gewisse Ähnlichkeit, doch bedeu-
ten Klammern hierbei nicht ganz dasselbe. Es ist erwähnenswert, dass die Funktion
f auf alles wirkt, was in der Klammer steht. Wird f beispielsweise zu f .x/ D x 2
spezifiziert, so ist f .Urmel/ D Urmel2 D Urmel Urmel, wobei man den Zu-
sammenhang, in dem ein Urmel mit sich selbst multipliziert wird, erst noch finden
muss. Diese Funktion f quadriert alles, was in ihr steht. Damit quadriert sie auch
f .x C h/ D .x C h/2 . Die Klammer auf der linken Seite vom Gleichheitszeichen
besagt, dass die Funktion auf das Argument x Ch angewendet wird, dass also zuerst
x C h berechnet und dann die Funktion f auf diese Summe angewendet wird. Al-
lerdings stände sie bei Funktionsanwendung auf das alleinige Argument x genauso
da, da die Klammer Teil der Schreibweise f .x/ ist. Die Klammer auf der rechten
Seite sagt, dass man erst x C h rechnet und das Ergebnis dann quadriert, womit wir
wieder beim eigentlichen Thema dieses Abschnitts sind.
Klammern treten immer zu zweit auf, sie gehen auf und wieder zu. Klammern
sind so unzertrennlich, dass man sprachlich eher von einer Klammer im Singular
sprechen müsste. Eine Klammer umklammert einen Ausdruck, der nicht aus ihr her-
aus kann, bevor er ausgewertet ist. Leider hat es sich eingeschlichen, für die alleine
hoffnungslosen und unbrauchbaren Teilobjekte Klammer-auf und Klammer-zu den
Plural Klammern zu verwenden, obwohl eine Wäscheklammer immer noch eine
38 3 Zahlen und Bezeichnungen
Klammer mit zwei Flügeln ist, die das Objekt ihrer Begierde umklammern. Ein
Wäscheklammerflügel kann allein gar nicht klammern.
Denken Sie zunächst wieder an ganz einfache Beispiele. Da Punktrechnung vor
Strichrechnung geht, da also erst multipliziert und dividiert, dann addiert und sub-
trahiert wird, falls dies nicht durch Klammern ausdrücklich anders geregelt ist, gilt
3 .4 C 5/ D 27 und 3 4 C 5 D 17:
Es ist auch nicht schwierig, mehrfache Klammern auszuwerten, denn man rechnet
leicht
2 .3 .4 C 5/ C 6/ D 2 .27 C 6/ D 66:
Ein klein wenig schwieriger ist es, selbst Klammerausdrücke aufzuschreiben. Aber
man hat nach jeder Zeile, die man aufgeschrieben hat, die Möglichkeit nachzuprü-
fen, ob der Ausdruck das tut, was er tun soll.
Klammern, die beim Weglassen keine Missverständnisse erzeugen können, wer-
den weggelassen. So schreiben wir beispielsweise die Ausdrücke
a C b C c D .a C b/ C c D a C .b C c/ und a b c D a .b c/ D .a b/ c (3.3)
meistens ohne Klammern, weil die Addition und Multiplikation assoziativ sind.
Assoziativität bezeichnet genau die eben genannte Eigenschaft. Sie mag Ihnen so
natürlich erscheinen, dass Gl. 3.3 kaum erwähnenswert ist. Assoziativität ist eine
weit verbreitete Eigenschaft von mathematischen Operationen, aber sie ist nicht
selbstverständlich. Ein Kreistierarzt ist zuerst ein Tierarzt und kein Arzt für ein
Kreistier, also
aber der Nutztierarzt behandelt insbesondere Nutztiere wie Kühe und Schafe, also
9 3 2 D 4; aber 9 .3 2/ D 9 3 C 2 D 8: (3.4)
Bei diesem Beispiel sind die Klammern entscheidend. Wer einen solchen Ausdruck
aufschreibt, muss sich also vorher bewusst machen, was er meint. Werden von 9 Ta-
lern 3 Taler ausgegeben und dann noch einmal 2 verschenkt, oder wird von 9 Talern
3.2 Klammersetzung 39
nur das Geschäftsergebnis eines Finanztransfers abgezogen, der 3 Taler kostet und
2 einbringt. Sie sehen, dass auch in der verbalen Beschreibung der Finanztransfer
erst abgeschlossen wird und dass dann sein 1-Taler-Gesamtverlust vom 9-Taler-
Kapital abgezogen wird. Der Finanztransfer steht sprachlich wie mathematisch in
der Klammer.
Klammern verstecken sich manchmal. Denken Sie an Brüche mit langen Bruch-
strichen, denn diese Bruchstriche zeigen Ihnen an, dass erst Zähler und Nenner
oberhalb und unterhalb des Bruchstrichs zusammenzurechnen sind und dann die
durch den Bruchstrich bezeichnete Division auszuführen ist, z. B.
12
x2 1
D .x 2 1/ W .x 1/ und 3
D .12 W 3/ W .4 W 2/ D 4 W 2 D 2:
x1 4
2
Lassen Sie sich vor allem den Doppelbruch auf der Zunge zergehen. Der längere
Bruchstrich macht sich größer, denn er ist der übergeordnete Bruchstrich. Wenn Sie
also einen Doppelbruch aufschreiben, achten Sie darauf, dass erkennbar ist, wel-
ches der längste Bruchstrich ist. Probieren Sie an diesem Beispiel aus, dass völlig
andere Werte herauskommen, wenn Sie die Klammern anders setzen, d. h. wenn ein
anderer als der mittlere Bruchstrich der längste wird, wobei Sie schnell erkennen,
dass Sie in diesem Fall noch eine weitere Abstufung der Bruchstrichlängen brau-
chen. Sie sehen, wie falsch es sein kann, einen Doppelbruch beispielsweise von
oben nach unten abzuarbeiten. Schauen Sie sich zuerst den ganzen Ausdruck an.
Bei Potenzausdrücken werden laut einer mathematischen Schreibkonvention erst
die Exponenten zusammengefasst, bevor die Potenz gebildet wird. Die Exponenten
stehen sozusagen standardmäßig in Klammern. Daher ist
4 4
23 D 2.3 / D 23333 D 281 ; aber .23 /4 D .2 2 2/4 D 84 D 212 :
Der erste Ausdruck ist mit knapp zweieinhalb Billionen Billionen riesig, nämlich
281 D 2 417 851 639 229 258 349 412 352, wobei eine Billion Billionen auch Qua-
drillion heißt. Der zweite Ausdruck ist mit 212 D 4096 eher mäßig groß. Im ersten
Ausdruck können wir dank der Konvention die Klammer weglassen, im zweiten
Ausdruck nicht. Die Schreibkonvention kommt daher, dass wir den ersten Ausdruck
c c
ab D a.b / im Allgemeinen nicht einfacher schreiben können, sehr wohl aber den
zweiten Ausdruck .ab /c D abc . Wenn Sie die letzte Umformung nicht einleuch-
tend finden, schauen Sie auf das obige Beispiel mit a D 2, b D 3 und c D 4, oder
schauen Sie in Abschn. 3.9 über die Potenzgesetze nach.
Solche Konventionen gibt es bei vielen Ausdrücken. Fast immer klären sich
eventuelle Missinterpretationen schnell an einfachen Beispielen. Noch deutlicher
wird dies bei Summen im Exponenten. So ist
sind nach der obigen Konvention und wegen a0 D 1 für a ¤ 0 (Abschn. 3.9)
0 1
F0 D 22 C 1 D 21 C 1 D 3; F1 D 22 C 1 D 22 C 1 D 5;
2 3
F2 D 22 C 1 D 24 C 1 D 17; F3 D 22 C 1 D 28 C 1 D 257;
an. Sie erkennen an diesen Zahlen, dass zuerst der obere Potenzausdruck, also der
im Exponenten, ausgewertet wird. Sie erkennen weiterhin, dass der Index n die
Zahlen nummeriert, dass also zu jedem n eine Fermat’sche Zahl Fn gebildet wer-
den kann. Sie lernen an diesem Beispiel die Bezeichnung der Glieder einer Folge
kennen. Und, ist es unverständlich? Nein, man wertet zu einem Index n den Formel-
ausdruck aus und erhält automatisch die zugehörigen Zahlen bzw. Folgenglieder.
Wir besprechen dies genauer in Abschn. 3.7.
Die Fermat’schen Zahlen werden sehr schnell größer. Das ist vielleicht auch
der Grund, warum Pierre de Fermat, der neben seinen unbestrittenen Leistungen
recht tapfer im Mutmaßen war, im Jahre 1637 vermutete, dass alle seine Zahlen Fn
Primzahlen seien. Er hat aber nur die hier angegebenen fünf Zahlen daraufhin über-
prüft. Fünf Beispiele sind jedoch kein Beweis, denn die meisten von Ihnen werden
fünf blonde Schauspielerinnen benennen können, ohne dass dies ein Hinweis dar-
auf wäre, dass alle Schauspielerinnen blond seien. Zum Beweis der Behauptung,
alle Schauspielerinnen seien blond, müssten wirklich alle Schauspielerinnen dar-
aufhin geprüft werden, oder es müsste – wie in der Mathematik – eine logische
Schlussfolgerung dafür gefunden werden, dass aus dem Schauspielerinnendasein
das Blondsein folgt. Zum Widerlegen der Annahme, alle Schauspielerinnen sei-
en blond, genügt hingegen die Angabe einer einzigen nichtblonden Schauspielerin
(Abschn. 8.1).
So erging es auch Monsieur Fermats Vermutung, denn im Jahre 1732 berechnete
Leonhard Euler ohne Taschenrechner, dass F5 D 4 294 967 297 durch 641 teilbar
ist. Und natürlich hatte er vorher kleinere mögliche Teiler ausprobiert. Welch eine
Kopfrechenarbeit! Einige andere der Mutmaßungen von Monsieur Fermat hat Euler
auch beweisen können. Bisher hat man übrigens keine weitere Fermat’sche Zahl
gefunden, die eine Primzahl ist. Man vermutet eher, dass es keine weitere gibt, was
aber wiederum bislang nur eine Vermutung ist.
In der damaligen Zeit war es eine ungelöste und heiß diskutierte Frage, welche
regelmäßigen Vielecke mit Zirkel und Lineal ohne Verwendung einer Maßeintei-
lung oder eines Winkelmessers konstruierbar sind. Erinnern Sie sich daran, wie
3.2 Klammersetzung 41
Sie ein regelmäßiges Dreieck, ein regelmäßiges Viereck, also ein Quadrat, oder ein
regelmäßiges Sechseck konstruieren. Sie erinnern sich bestimmt an die mit dem
Zirkel konstruierten Blumen aus Abb. 3.2. Wie ging’s noch mal? Schon haben Sie
ein Sechseck. Aber ist das für alle Eckenzahlen N möglich? Gemeint ist nur eine
theoretische Konstruierbarkeit, denn die praktische Ausführung scheitert oft an der
menschlichen Ungenauigkeit.
Die Fermat’schen Zahlen kamen wieder zu Ehren, als Carl Friedrich Gauß 1796
zeigte, dass alle die regelmäßigen Vielecke mit Zirkel und Lineal konstruierbar sind,
deren Eckenzahl sich als
N D 2k p1 : : : pm mit k 2 N und
Bei Funktionsausdrücken wie sin und cos hält man sich meist daran, dass das Ar-
gument mit dem nächsten Operationszeichen, spätestens mit dem nächsten Plus
oder Minus endet, nicht jedoch innerhalb einer Multiplikation oder eines Bruchs.
Typischerweise benutzt man schon die Reihenfolge der Faktoren, um hier Missver-
ständnisse zu vermeiden. So heißt sin 2x, dass zunächst 2 mit x multipliziert wird
und dann erst der Sinus angewendet wird. Wir lesen also sin 2x D sin.2x/ und
lassen die Klammer hier typischerweise weg. Falls Ihr Schulbuch die Klammern
immer mitgeschrieben hat, so wollte es nett und ganz besonders deutlich sein. Da
aber die große weite Welt leider weder nett noch deutlich ist, findet man die unter-
schiedlichsten Schreibweisen. Deshalb sollten Sie die mathematische Grammatik
zielsicher deuten können.
Missverständlich wäre aber sin 2 x. Wir würden deutlich machen müssen, wenn
der Sinus nur auf die 2 wirken soll, doch den Ausdruck .sin 2/ x würde man x sin 2
schreiben. Ihnen fällt sicher auf, dass dieser Ausdruck seltsam unelegant aussieht,
und er kommt auch kaum vor. Dieses Gefühl hilft oft, sinnvolle von falschen Inter-
pretationen zu unterscheiden.
Auf der anderen Seite schreiben wir sin.x C y/, wenn der Sinus auf die Summe
aus x und y angewendet werden soll. Der Ausdruck sin xCy würde als Anwendung
des Sinus auf x und danach folgende Addition von y gelesen. Wenn dies tatsächlich
vorkommt, so sollte und würde man unmissverständlich y C sin x schreiben.
Wenn Sie unsicher sind oder wenn der Ausdruck dadurch deutlicher und klarer
lesbar wird, setzen Sie lieber ein Klammerpaar zu viel als eins zu wenig. Dies gilt
nur für Klammerpaare, nicht für Singles unter den Klammern, denn eine Klammer
ist nicht gern allein. Leider werden Klammern oft als Dekoration verwendet. In der
Vorstellung manches Studierenden scheint ein mathematischer Text ein paar Klam-
mern haben zu müssen. Das stimmt in dieser Form nicht. Als reines Schmuckstück
sind Klammern ungeeignet.
Dieselben Konventionen gelten für andere Funktionen wie den Logarithmus ln x,
die manchmal so notierte Exponentialfunktion exp x D ex , die unterschiedlichen
Winkelfunktionen – und siehe da – so sehr viele Funktionsnamen verwendet man
gar nicht. Analog gelten die Konventionen für den Grenzwert lim und für andere
Operatoren.
Jetzt müssen Sie tapfer sein. Wir sprechen etwas aus, das wir für wahr halten, ob-
wohl es für den einen oder die andere im Moment schmerzhaft sein kann. Doch wir
sind überzeugt, dass es gerade denjenigen unter Ihnen hilft, denen es im Moment
weh tut. Möglicherweise, sagt die Dozentenstimme, ist es bitter nötig, so sehr es
auch schmerzt. Also, bitte recht tapfer:
Wenn Sie immer noch der Ansicht sind, dass die Klammersetzung eine schwie-
rige und komplizierte Angelegenheit ist, dann fühlen Sie sich bitte nachdrücklich
3.3 Ganze Zahlen 43
Ganze Zahlen, beispielsweise als negatives Guthaben – vulgo Schulden – oder Tem-
peraturen unter dem Nullpunkt der Celsius-Skale, sind den meisten recht geläufig.
Im Grunde sind sie im Alltag um uns. Dies sollten wir uns immer dann zunutze
machen, wenn eventuelle Schwierigkeiten auftreten.
Verdeutlichen wir uns zunächst, dass negative ganze Zahlen Ergebnisse von
Minusrechnungen sind und zwar von unterschiedlichen Minusrechnungen. Das Er-
gebnis einer Subtraktion, das innerhalb der natürlichen Zahlen nicht ausgedrückt
werden kann, bekommt ein Zahlzeichen mit dem Minusstrich davor, das im Rahmen
der natürlichen Zahlen zunächst nur ein theoretisches Zahlzeichen ist. Wir finden
also
2 D 0 2 D 1 3 D 2 4 D : : : D 999 1001 D : : : ;
und wir können das Zeichen 2 durch unterschiedliche Motivationen mit Leben
füllen. Trotzdem bleibt 2 eine Konstruktion unseres Denkens, und für die Existenz
von 2 finden wir in unserer reinen Anschauung noch weniger Anhaltspunkte als
für die Existenz der natürlichen Zahlen. Diese mangelnden Anhaltspunkte für einen
naiven Realismus sind aber kein Grund, auf die negativen Zahlen zu verzichten,
denn die negativen Zahlen erweisen sich in vielfältigen Anwendungen als nützlich.
Bei der Plus- und Minushandlung hilft es, sich die Darstellung der negativen
Zahlen als Differenz ins Gedächtnis zu rufen. Dann wird schnell klar, dass man
beispielsweise
7 C .2/ D 7 C .0 2/ D 7 C 0 2 D 5
6 .2/ D .0 6/ .0 2/ D 0 6 0 C 2 D 4
44 3 Zahlen und Bezeichnungen
rechnen muss. Achten Sie bitte darauf, dass sich zwei Operationszeichen nicht ver-
tragen und dass die mathematische Grammatik selbst dann eine Klammer verlangt,
wenn wie in 6 .2/ auch ohne Klammer kaum Missverständnisse zu befürchten
sind.
Die Mal- und Durchrechnung betreffend kann man sich auf die Vereinbarung
.1/ a D a oder generisch für a D 7 auf .1/ 7 D 7 zurückziehen. Beachten
Sie den Unterschied zwischen der Schreibweise .1/ 7, bei welcher 1 mit 7
multipliziert wird, und 1 7, welche verlangt, dass man erst 1 und 7 multipliziert
und dann das Negative bildet. Natürlich ist der Wert beider Ausdrücke gleich 7.
Mit dieser Vereinbarung wird
Im Produkt ganz links sind die Klammer um 8 und der Malpunkt obligatorisch,
die Klammer um 7 könnten Sie weglassen. Wir benutzen die Kommutativität
der Multiplikation, also die Vertauschbarkeit der Faktoren bzw. die Gültigkeit von
a b D b a. Schließlich verwenden wir bei .1/ .1/ D .1/ wieder die
Vereinbarung .1/ a D a. Wollen wir nun diesen Ausdruck auch entschlüsseln,
d. h. in einfachere Ausdrücke übersetzen, so verwenden wir wieder die Darstellung
als Differenz, nämlich
.1/ D 0 .1/ D 0 .0 1/ D 0 0 C 1 D 1:
Mit diesen Überlegungen und einer lesbaren Schreibweise unter Beachtung der Un-
zertrennlichkeit von Klammerpaaren und der Feindschaft zwischen böse aufeinan-
der knarrenden Operationszeichen geht die Rechnung mit ganzen Zahlen problem-
los vonstatten. Faustregeln wie „Minus mal minus ergibt plus“, die einen richtigen
Kern haben, eignen sich in allen Zweifelsfällen weit weniger zum Auffinden richti-
ger Zusammenhänge als die Rückbesinnung auf die Bedeutung der Notation.
Vielleicht ist noch der Hinweis nützlich, dass
gilt. Der Ausdruck .1/k liefert somit für gerade k den Wert 1 und für ungerade k
den Wert 1, denn immer zwei der k Faktoren von .1/k D .1/ : : : .1/ haben
das Produkt 1, das bei weiteren Multiplikationen nichts ausrichtet.
In diesem Abschnitt besprechen wir ein ganz ungeheuerliches Thema, nämlich den
gefürchteten absoluten Betrag, oft auch nur Betrag genannt. Wenn es dem völlig
mittellosen Paul gelingt, seinem ebenso mittellosen Cousin Peter den Betrag von
einer Million Euro zu überweisen, so weist Peters Konto kurz nach dem Transfer
ein Haben mit dem Betrag von einer Million Euro auf, während Pauls Konto ein
3.3 Ganze Zahlen 45
Soll mit dem Betrag von einer Million Euro aufweist. Die Beträge sind gleich, doch
die Guthaben sind grundverschieden. Wenn man von einem Betrag spricht, so meint
man in diesem Zusammenhang eine Geldmenge, ohne dass genau spezifiziert wird,
ob und von wem sie als Eingang oder Ausgang verbucht wird.
So ist dies auch bei den ganzen Zahlen. Es gilt
Beachten wir vor allem den letzten Ausdruck. Bei den ersten beiden Ausdrücken
klappt die Faustregel, dass der Betrag aus einer Zahl entsteht, wenn man das even-
tuelle negative Vorzeichen weglässt. Allerdings kommt man mit dieser Faustregel
leicht ins Straucheln, denn der letzte Ausdruck offenbart korrekt gelesen, dass man
erst .2/ auswertet, was 2 ergibt, und dann den Betrag anwendet. Der Betrag
wirkt also auf den fertig ausgewerteten Ausdruck und lässt nicht einfach irgendein
Minuszeichen weg.
Werfen wir einen Blick auf die Ausdrücke
und wir erkennen, dass der Betrag genauso wirkt, als würde man die Vorschrift
erlassen, dass negative Zahlen mit 1 multipliziert werden, dass alle anderen Zah-
len hingegen mit 1 multipliziert werden, also unverändert bleiben. Diese anderen
Zahlen nennt man auch nichtnegative Zahlen. Das sind alle Zahlen, die nicht ne-
gativ sind, mithin alle positiven Zahlen und zusätzlich die große, runde Null. Die
Ungleichbehandlung der negativen und der nichtnegativen Zahlen führt dazu, dass
der Betrag etwas Eigenes ist, das nicht durch einfachere Rechenoperationen ausge-
drückt werden kann. In Formeln liest sich die eben beschriebene Fallunterscheidung
(
x für x 0;
jxj D (3.5)
x für x < 0:
schreiben. Dies bedeutet, dass wir das Maximum aus der Menge fx; xg benutzen,
also die größere der beiden Zahlen x und x. Beispielsweise erhalten wir für x D 2
die größere der beiden Zahlen 2 und 2, und das ist jxj D 2. Für x D 3 benutzen
wir die größere der beiden Zahlen 3 und .3/ D 3, und das ist j 3j D 3.
Dies ist noch kein Beweis, dass unsere Maximumformel für den Betrag in Gl. 3.6
gilt, denn wir haben nur zwei Beispiele ausprobiert. Wir können dies jedoch sofort
zu einer allgemein gültigen Überlegung, also zu einem Beweis erweitern. Denn aus
x 0 folgt maxfx; xg D x, und aus x < 0 folgt maxfx; xg D x, was genau
der Fallunterscheidung in Gl. 3.5 entspricht. Da dies dieselbe Überlegung ist, die
wir mit den Beispielzahlen 2 und 3 gemacht haben, und da wir dort den konkreten
Zahlenwert nicht benutzt, sondern uns lediglich auf das Vorzeichen gestützt haben,
kann man unser Zahlenbeispiel einen generischen Beweis nennen.
Der generische Beweis bedarf aber einiger Diskussion und kommentierender
Worte. Denn wenn man ohne Ansehen weiterer Eigenschaften Scarlett Johansson
als Beispielschauspielerin wählt, so ist auch sie – falls sie wirklich blond ist – kein
generischer Beweis dafür, dass alle Schauspielerinnen blond sind. Man muss sich
bei dieser Beweistechnik fragen, warum wir sie bei unserem Zahlenbeispiel aner-
kennen wollen, bei den Schauspielerinnen jedoch nicht. Deshalb sei grundsätzlich
um Vorsicht mit generischen Beweisen oder mit der Argumentation aus Analogie-
gründen gebeten.
Eine andere Möglichkeit, den Betrag in einer Formel darzustellen, ist
p
jxj D x 2 : (3.7)
Diese Formel sieht kürzer aus als die Fallunterscheidung, ist jedoch nicht einfacher,
und vor allem ist sie für praktische Zwecke kaum nutzbar. Stellen wir uns vor, wir
hätten die Aufgabe, die Gültigkeit der Gl. 3.7 nachzuweisen.
Zuerst können wir uns als Plausibilitätsüberlegung fragen, ob es überhaupt mög-
lich ist, dass diese Gleichheit gilt. Wir testen die Gleichheit also mit ein paar Bei-
spielen
p und setzen für x unterschiedliche
p Werte ein. Offenbar ist 32 D 9 und
3 D 3 genauso wie 5 D 25 und 5 D 5. Das Wurzelziehen kehrt das Qua-
2 2 2
drieren in gewissemp Sinne um. Doch tut es dies für alle Zahlen? Aber nein. Denn
.3/2 D 9 und .3/2 D 3 ¤ 3. Wir können hier korrekterweise vermuten,
dass das Wurzelziehen das Quadrieren nur für nichtnegative Zahlen umgekehrt, für
negative Zahlen jedoch nicht. In der Tat ist das Quadrieren keine äquivalente Um-
formung (Kap. 7).
Bis hierhin haben wir an einigen Beispielen ausprobiert, dass Gl. 3.7 plausibel
ist. Aber einige Beispiele sind noch kein Beweis. Wir haben an unseren Beispielen
jedoch schon alle Gedanken zusammengetragen. Diese schreiben wir jetzt allge-
mein auf. Wir unterscheiden dazu zwei Fälle.
Im ersten Fall sei x 0. Dann gilt einerseits nach unserer ursprünglichen Defi-
nition des Betrages jxj D x. Schauen Sie dazu in Gl. 3.5, wo steht, dass für nichtne-
3.3 Ganze Zahlen 47
gative x derpBetrag jxj gleich x selbst ist. Andererseits ist für nichtnegative x die
Gleichheit x 2 D x erfüllt. Dieser Zusammenhang für x 0 ist die Definition der
Wurzel. Ihn genauer zu beschreiben oder zu erklären, ist fast unmöglich. Versuchen
wir es: Die Wurzel einer Zahl z ist diejenige Zahl x 0, die mit sich selbst multi-
pliziert wieder z ergibt. Wenn nun z D x 2 D x x mit x 0 ist, so ist die Wurzel
aus z gerade x.
Nebenbei bemerkt, können wir uns durchaus vorstellen, dass es Studierende gibt,
die auch hierauf reflexartig sagen: „Das verstehe ich nicht.“ Es ist gut denkbar, dass
man an dieser Stelle noch nicht überblickt, wohin die Überlegung führt. Es ist gut
möglich, dass man die Mathematik oder gar das gesamte menschliche Schaffen für
überflüssig hält. Es kann auch sein, dass man die Überlegungen im vorigen Absatz
zu banal und zu simpelp findet, um sie wirklich auszuformulieren. Aber kann man
sich der Gültigkeit von x 2 D x für nichtnegative x wirklich verschließen? Nein.
Uns bleibt noch der zweite Fall mit negativen Werten x. Jetzt ist x < 0, und
damit ist y D x > 0 positiv. Diese Zahl ist einerseits p y D jxj, vgl. Gl. 3.5.
Andererseits ist x 2 D .y/2 D y 2 mit y > 0. Also gilt x 2 D y D x.
Damit haben wir in beiden Fällen, also im ersten Fall mit x 0 und im zweiten
Fall mit x < 0 und somit für alle x, die Gültigkeit von Gl. 3.7 aus der Definition in
der Fallunterscheidung 3.5 bewiesen.
Sicher hätten wir diesen Beweis auch mit einigen Beispielen generisch führen
können, da wir schon bei unseren Versuchen am Anfang dieser Überlegungen kei-
nen Gebrauch von den konkreten Zahlenwerten gemacht haben. Doch haben wir
anhand der blonden Schauspielerinnen die Fallstricke generischer Beweise auf-
gezeigt. Zudem ist es gut, das Beweisen an einfachen Beispielen zu üben, weil
Beweise das Hauptgeschäft der Mathematik sind.
Auf der Zahlengeraden, also auf einer Geraden, auf der in gleichmäßigen Abständen
die ganzen Zahlen nach rechts und links abgetragen sind, kann man den Betrag einer
Zahl als ihren Abstand zur Null deuten. Der Abstand von 2 zur 0 ist 2 0 D 2. Der
Abstand von 3 zur 0 ist 0.3/ D 3. Wir sehen, dass wir die Rollen von Minuend
und Subtrahend in der Differenz je nachdem, ob die Zahl rechts oder links von der
Null liegt, vertauschen müssen. Das passt bestens zum Betrag, und der Abstand soll
wie im Alltag etwas Positives sein. Wir halten fest, dass wir den Betrag als Abstand
vom Nullpunkt verstehen können.
In Abschn. 4.4 werden wir auch den Betrag eines Vektors definieren. Dort wer-
den wir die Beschreibung als Abstand zum Nullpunkt, also die Länge des Vektors,
verwenden. Solch eine Wiederverwendung von Begriffen finden wir in der Mathe-
matik recht oft. Häufig gelten Zusammenhänge in allgemeineren Denkumgebungen
mit den richtigen Begriffen analog. Bei der Übertragung des Betragsbegriffes von
den ganzen Zahlen auf die reellen Zahlen entstehen keinerlei Probleme. Wir können
die Gleichungen 3.5, 3.6 oder 3.7 oder auch den Abstand vom Nullpunkt, auch Ur-
sprung genannt, in gleicher Weise verwenden. Vektoren aber haben kein Vorzeichen
48 3 Zahlen und Bezeichnungen
und kein Quadrat im üblichen Sinn. Auch das Maximum zweier Vektoren ist kein
sinnvolles Konzept. Somit eignen sich die Gleichungen nicht, um den Betrag eines
Vektors zu definieren, wohl aber die Beschreibung als Abstand vom Ursprung.
Doch zurück zu unserer Zahlengeraden. Wenn wir den Betrag jxj D jx 0j als
Abstand des Wertes x vom Nullpunkt der Zahlengeraden akzeptieren, so sehen wir
auch, dass jx yj den Abstand der beiden Punkte x und y auf der Zahlengeraden
angibt. Andererseits ist der Umweg immer länger als der direkte Weg. Der direkte
Weg von x nach y ist also sicher nicht länger als der Weg von x nach z plus dem
Weg von z nach y, also als der Weg von x nach y mit dem Umweg über z. In
Formelzeichen ausgedrückt gilt also gewiss
jx yj jx zj C jz yj:
Für diese Gleichung haben wir eben einen geometrischen Beweis angegeben. Es ist
ein vollwertiger Beweis.
Sie können versuchen, diese Gleichung arithmetisch zu beweisen. Dazu brau-
chen Sie eine große Fallunterscheidung, wann welche Differenz nichtnegativ oder
negativ ist. Dadurch wird der arithmetische Beweis etwas länger und unübersichtli-
cher, führt aber zu demselben überzeugenden Ergebnis.
Wenn wir schließlich die neuen Variablen a D x z und b D z y einführen,
so entsteht mit x y D x z C z y D .x z/ C .z y/ D a C b in schlichter
Schönheit die Dreiecksungleichung
Die Dreiecksungleichung besagt, dass die Summe der Beträge größer gleich dem
Betrag der Summe ist, und sie gilt in vielfältigen Zusammenhängen.
„Das versteh’ ich aber nicht“, ruft jemand dazwischen. Dürfen wir zurückfragen,
was genau? Müssen wir nicht eher fragen, was Verstehen bedeutet? In welchem
Sinne möchten Sie verstehen? Diese Fragen scheinen weit komplexer zu sein als
die Dreiecksungleichung. Aber auch das Nachdenken über diese Fragen hilft.
Wir versuchen eine weitere Deutung der Dreiecksungleichung 3.8. Stellen wir
uns ein Ehepaar aus einer Frau mit dem Vermögen a und einem Mann mit dem Ver-
mögen b vor. Jedes der beiden Vermögen kann klein oder groß und insbesondere
positiv oder negativ sein. Ein negatives Vermögen bedeutet – volkstümlich aus-
gedrückt – Schulden. Auf der linken Seite der Dreiecksungleichung 3.8 steht der
Betrag des zusammengelegten Vermögens. Eventuelle Schulden werden mit even-
tuell vorhandenem echtem, positivem Vermögen verrechnet. Auf der rechten Seite
stehen die beiden Beträge, es würden also unrealistischerweise auch Schuldenbe-
träge zum Vermögen addiert.
Haben nun Mann und Frau beide Schulden oder beide positives Vermögen, so
steht auf beiden Seiten der Dreiecksungleichung der gleiche Betrag. Hat aber nur
der Hallodri von Mann Schulden, während die emsige Frau einen Sparstrumpf samt
Inhalt besitzt, so wird der Betrag vom Sparstrumpf vermindert um den Betrag der
Schulden kleiner sein, als wenn sowohl Schulden als auch Sparstrumpf beide positiv
angerechnet würden, nicht wahr?
3.3 Ganze Zahlen 49
Die Addition, die Subtraktion und die Multiplikation zweier beliebiger ganzer Zah-
len führen nicht aus den ganzen Zahlen hinaus. Das Ergebnis ist wieder eine ganze
Zahl. Aber schon die Division ist innerhalb der ganzen Zahlen Z nicht immer aus-
führbar. So ist beispielsweise 7 W 2 im Rahmen der ganzen Zahlen nicht lösbar,
selbst wenn wir wissen, dass diese Division in einem größeren Zahlbereich wie den
rationalen Zahlen sehr wohl lösbar ist und das Ergebnis 3:5 … Z hat. Deshalb haben
Sie in der Grundschule gelernt, die Division mit Rest auszuführen. In diesem Fall
wäre dies
7 W 2 D 3; Rest 1:
Es gibt sehr viele ganze Zahlen, die bei Division durch 2 den Rest 1 lassen. Wir
nennen sie ungerade Zahlen. Andererseits gibt es auch sehr viele ganze Zahlen, die
bei Division durch 2 den Rest 0 lassen, d. h. sie sind durch 2 teilbar, womit immer
ganzzahlig teilbar gemeint ist. Solche Zahlen nennen wir gerade Zahlen.
Wahrscheinlich ist Ihnen völlig klar, dass die Summe zweier gerader oder die
Summe zweier ungerader Zahlen wieder eine gerade Zahl ist. Dagegen ist die Sum-
me einer geraden und einer ungeraden Zahl eine ungerade Zahl. Mit solchen Über-
legungen sind wir sofort wieder in mathematischen Fragestellungen unterwegs, die
einerseits sehr einfach zu sein scheinen, die aber andererseits – nur ein wenig for-
malisiert oder ein wenig allgemeiner betrachtet – durchaus grimmig daherkommen.
Bleiben wir zunächst bei den geraden und ungeraden Zahlen. In unserer kleinen
Erwärmungsaufgabe gilt offenbar 7 D 2 3 C 1. Das ist kein Wunderwerk, denn
wir haben sieben Kirschen auf zwei Kinder aufgeteilt. Jedes Kind erhält drei Kir-
schen, und eine Kirsche bleibt übrig. Also müssen zweimal drei Kirschen und noch
die eine Restkirsche dazu in der Probe wieder die ursprünglichen sieben Kirschen
ergeben.
Alle ungeraden Zahlen lassen also bei Division durch 2 den Rest 1. Egal, was
herauskommt. Wenn wir das Ergebnis k nennen, wobei wir uns auf einen konkreten
Wert von k nicht festlegen, können wir auf die ursprüngliche Zahl mit 2k C 1
zurückrechnen. Wir stellen also fest, dass wir jede ungerade Zahl u und in analoger
Weise jede gerade Zahl g als
u D 2k C 1; g D 2` mit k; ` 2 Z
darstellen können. Gemeint ist hier einerseits, dass sich jede ungerade bzw. gerade
Zahl in dieser Form schreiben lässt und dass andererseits für alle ganzen Zahlen k
und ` die Zahl u ungerade und die Zahl g gerade ist.
50 3 Zahlen und Bezeichnungen
Nun können wir beweisen, dass die Summe zweier ungerader Zahlen gera-
de ist, denn wir nehmen zwei beliebige ungerade Zahlen u1 und u2 , die wir als
u1 D 2k1 C 1 und u2 D 2k2 C 1 mit ganzzahligen k1 und k2 schreiben. Ihre Summe
ist
und mit ` D k1 C k2 C 1 2 Z ist die Summe u1 C u2 als eine gerade Zahl nach-
gewiesen. Wir können auch formulieren, dass die Summe zweier Zahlen, die bei
Division durch 2 den Rest 1 lassen, bei Division durch 2 den Rest 0 lässt. Zunächst
sieht es so aus, als ließe diese Summe den Rest 2, doch kann man diese 2 erneut
durch 2 teilen. Wenn Sie also eine ungerade Anzahl u1 von Kirschen unter zwei
Kindern aufteilen und gleich danach noch eine ungerade Anzahl u2 unter diesen
beiden Kindern, so haben Sie aus jeder Aufteilung eine Kirsche übrig. Sie können
diese beiden also wieder aufteilen. Wow, Rechnen mit Rest ist einfach.
Es bleibt genauso einfach, wenn wir allgemeiner n W q D k, Rest r schreiben und
für den Rest die mathematischer aussehende Bezeichnung n r; mod.q/, sprich „n
ist kongruent r modulo q“, einführen. Wenn wir nun davon absehen, dass wir immer
so viel wie möglich verteilen, also annehmen, dass man bei der Verteilung von
sieben Kirschen auf zwei Kinder auch drei für sich behalten könnte, dann können
wir sagen, dass sieben und drei bei Teilung durch 2 denselben Rest lassen, dass also
7 kongruent 3 modulo 2 ist. Natürlich ist 7 auch kongruent 1 modulo 2. Die Modulo-
Rechnung ist keine Rechenaufgabe, sondern ähnelt mehr der Gleichsetzung. Die
Zahlen 7, 3 und 1 gleichen sich mit Blick auf den Rest 1 bei der Division durch
2. Also gleichen sie sich abgesehen davon, dass sie sich um Vielfache von q D 2
unterscheiden. Wenn Ihnen diese Formulierung komisch vorkommt, so denken Sie
an zwei Neuwagen, die sich bis auf die Innenausstattung gleichen, sich in dieser
also unterscheiden. Man sagt auch, 7, 3 und 1 seien bis auf Vielfache von q gleich.
Wir definieren
d. h. dass n genau dann kongruent r modulo q ist, wenn die Differenz n r durch
q teilbar ist. Das Zeichen steht für die Kongruenz, also für die Gleichheit von n
und r bis auf Vielfache von q. Der senkrechte Strich in qj.n r/ steht für „q teilt
n r“ bzw. für „q ist ein Teiler von n r“. Verdeutlichen Sie sich bitte, dass diese
Bedingung genau der Bedingung entspricht, dass n und r bei der Division durch q
denselben Rest lassen. Nun gilt
Am Ende von Abschn. 2.9 hatten wir bewiesen, dass die Summe dreier aufeinan-
derfolgender Zahlen immer durch drei teilbar ist. Wir könnten jetzt argumentieren,
dass drei aufeinanderfolgende Zahlen modulo 3 die Reste 0, 1 und 2, wenn auch
möglicherweise nicht in dieser Reihenfolge, annehmen. Die Summe der Reste ist 3,
3.3 Ganze Zahlen 51
was wiederum durch 3 teilbar ist. Sie sehen, dass mathematische Beweise durch gut
gewählte Begriffe kürzer und knackiger werden.
Erstaunlicherweise übertragen sich viele unserer Rechenregeln auf die Reste bei
Division durch eine feste Zahl. Betrachten wir beispielsweise zwei ganze Zahlen n1
und n2 , die bei Division durch q die Reste r1 und r2 liefern, für die also
gilt. Sie vergewissern sich in Anlehnung an die obige Überlegung zur Summe un-
gerader Zahlen schnell, dass die Kongruenzen
gelten. Sie sollten sich auch wirklich vergewissern, denn in der Mathematik darf
es keinen Autoritätsbeweis geben. Wirklich gültig ist nur das, was man selbst
überprüfen kann. Die Anwendung dieser beiden Rechenregeln liefert uns Gründe
dafür, dass Quadratzahlen nur auf die Ziffern 1, 4, 5, 6 und 9 enden, indem wir
modulo q D 10 rechnen und alle möglichen Endziffern ausprobieren. Zahlen n,
die auf die Ziffer 3 enden, erfüllen n 3; mod.10/. Damit gilt n2 32 ; mod.10/,
und die Quadrate solcher Zahlen enden immer auf 9. Entsprechend folgt aus
n 6; mod.10/, dass n2 36; mod.10/ 6; mod.10/ gilt, dass also die Quadra-
te von Zahlen, die auf die Ziffer 6 enden, auch auf 6 enden. In einer Tabelle kann
man dies schnell für alle Endziffern austesten. Auf welche Ziffern enden vierte
Potenzen natürlicher Zahlen?
Oder denken Sie an einen Bus, der laut Fahrplan um 6:00 Uhr fährt und dann im
Takt alle 12 Minuten. Aus den Minuten ihrer Ankunftszeit modulo q D 12 können
Sie berechnen, wie lange Sie noch warten müssen.
Oft wird die Modulo-Schreibweise nur als Abkürzung verwendet. So bedeutet
n 1; mod.4/, dass die Zahl n bei Teilung durch 4 den Rest 1 lässt. Das sind
also die Zahlen aus der Menge f: : : ; 7; 3; 1; 5; 9; : : :g oder die Zahlen der Form
n D 4k C 1 mit k 2 Z. Bemerken Sie kurz, dass bei der Division von 7 durch 4
mit gleichem Recht 2, Rest 1 wie 1, Rest 3 richtig ist.
Eine interessante Frage erhalten wir mit der Aufgabe, welche natürlichen Zahlen
n 2 N bei Teilung durch 5 den Rest 2 und zugleich bei Teilung durch 7 den Rest
3 lassen. Wir müssen ganz schön überlegen, um zu ergründen, welche Zahlen also
zugleich
n 2; mod.5/ und n 3; mod.7/ (3.9)
erfüllen. Die gesuchte Zahl liegt einerseits in der Menge aller Zahlen, die bei Divi-
sion durch 5 den Rest 2 lassen, somit in
und andererseits in
Wir bemerken, dass die Zahlen n, n C 35, n C 2 35 usw. – also alle Zahlen, die
untereinander kongruent modulo 35 D 5 7 sind – bei Teilung durch 5 denselben
Rest lassen, weil 35 durch 5 teilbar ist. Da 7 aber ebenfalls 35 teilt, haben n, n C 35,
n C 2 35 usw. auch bei Teilung durch 7 alle den gleichen Rest. Haben wir also eine
Zahl n, die die Gl. 3.9 erfüllt, so tun dies auch n 35, n C 35, n C 2 35 usw. Es
reicht also, wenn wir eine solche Zahl n zwischen 0 und 35 finden. Siehe da, 17 ist
in beiden Mengen, also eine solche gesuchte Zahl. Alle Lösungen unserer Aufgabe
erfüllen
Man rechnet schnell nach, dass diese Zahlen die geforderten Bedingungen erfüllen,
denn es gilt
Wenn Sie sich nun fragen, ob solche Zahlen für alle gegebenen Werte existieren und
in welchem Sinne sie eindeutig sind, so befinden Sie sich auf einem sehr mathema-
tischen Denkweg. Das hinter diesen Fragen stehende mathematische Prinzip findet
man als Chinesischen Restsatz.
Zum Abschluss präsentieren wir den kleinen Satz von Fermat – schon wieder
Monsieur Fermat – mit
Auch wenn wir diesen Satz hier nicht beweisen, empfehlen wir Ihnen, an ein paar
Zahlenwerten das Rechnen mit Rest zu üben und Ihre Ergebnisse mithilfe dieses
Satzes zu überprüfen.
3.4 Primzahlen
Jeder kennt Primzahlen, diese seltsamen Zahlen, die sich wie 7, 11 oder 101 nur
durch sich selbst und durch eins ganzzahlig teilen lassen. Im alltäglichen Leben
jedoch kommen fast alle Menschen sehr gut zurecht, ohne über Primzahlen nach-
zudenken. Da hilft auch nicht der Hinweis, dass die Verschlüsselung von WLAN-
Signalen in den RSA-Algorithmen, die Geheimzahlen bei Bankkarten und viele
andere Anwendungen, bei denen Informationen für Unbefugte unlesbar übermittelt
werden sollen, auf Algorithmen beruhen, in denen große Primzahlen eine wichtige
Rolle spielen. Im Alltag erscheinen Primzahlen vielen Menschen als eine mathe-
matische Spielerei, ganz nett, aber unwichtig.
Trotzdem lernt man bei der Beschäftigung mit Primzahlen sehr viel über Mathe-
matik und über die Art und Weise, wie in der Mathematik gedacht und argumentiert
wird. Wir haben in Abschn. 2.6 schon darüber gesprochen, dass jede Zahl in ein-
deutiger Weise als ein Produkt aus Primzahlen darstellbar ist. Damit wird auch klar,
3.4 Primzahlen 53
warum wir die Primzahlen als solche Zahlen p definieren, die größer als eins sind
und nur die Teiler 1 und p haben.
Würden wir nämlich die Eins als Primzahl zulassen, wovon die Welt sicher nicht
unterginge, so wäre es um die Eindeutigkeit der Primzahlzerlegung geschehen, denn
6 D 2 3 und 6 D 1 2 3 wären formal zwei unterschiedliche Zerlegungen.
Dass wir die Eins nicht als Primzahl zulassen, hat also den Zweck, die Aussagen
über Primzahlen kurz und knapp zu halten. Denken Sie nebenbei darüber nach,
wie wir die unterschiedlichen Aussagen abändern müssten, wenn wir die Eins als
Primzahl zuließen. Sie werden feststellen, dass für den wirkungslosen Faktor 1 oft
eine zusätzliche Formulierung nötig wäre.
Wir formulieren jetzt die Definition der Primzahl mathematischer als
und dies bedeutet ausgesprochen: Die natürliche Zahl p ist genau dann prim, also
eine Primzahl, wenn sie größer als eins ist und wenn daraus, dass eine Zahl n die
Zahl p teilt, folgt, dass dieser Teiler n ein Element der Menge f1; pg ist, also ent-
weder 1 oder p selbst. Diese Rückübersetzung der mathematischen Formelzeichen
wirkt etwas sperrig, doch die Formelzeichen sind immer noch kürzer als der Satz,
dass die Zahl p größer als eins ist und nur die Teiler 1 und p hat.
Die Beschäftigung mit Primzahlen ist nicht nur eine Spielwiese für mathemati-
sche Argumentation und Beweisführung, sondern hat in anderen mathematischen
Anwendungen wie in der Bruchrechnung einen direkten Nutzen. Wir werden jetzt
Eigenschaften von natürlichen Zahlen, die mit Primzahlen zu tun haben, untersu-
chen.
Beginnen wir damit, dass eine Quadratzahl alle Primfaktoren mit einer geraden
Anzahl enthält. Wenn wir diese Behauptung an zwei Zahlen testen, so finden wir
t D p1 : : : pk und s D q1 : : : q` H) s t D q1 : : : q` p1 : : : pk :
ausrechnen. Überlegen Sie beispielsweise, wie Sie aus der Primzahlzerlegung able-
sen können, wie viele Teiler eine Zahl hat. Vorsicht, Primfaktoren können doppelt
vorkommen. An dieser Stelle blicken wir zurück und fragen uns, wie schwer es uns
möglicherweise fiele zu beweisen, dass die Primfaktoren eines Teilers t von n ei-
ne Auswahl aus den Primfaktoren von n sind. Aber genau das haben wir in diesen
wenigen Zeilen gezeigt.
Wir können jetzt weiter argumentieren, dass der größte gemeinsame Teiler
ggT.r; s/ zweier Zahlen r und s das Produkt der Primfaktoren ist, die in beiden
Primzahlzerlegungen vorkommen. Ebenso ist das kleinste gemeinschaftliche Viel-
fache kgV.r; s/, welches wir als Hauptnenner in der Bruchrechnung verwenden,
das Produkt aller Primfaktoren aus beiden Primzahlzerlegungen, wobei die Prim-
faktoren, die in beiden vorkommen, nur einmal verwendet werden. Wir probieren
dies an r D 60 D 2 2 3 5 und s D 54 D 2 3 3 3 aus und finden, dass nur die
Primfaktoren 2 und 3 beide in beiden Zerlegungen vorkommen. Es gilt also
Sie erkennen, dass wir beim kleinsten gemeinschaftlichen Vielfachen die Primfak-
torzerlegung von r D 60 um die fehlenden Primfaktoren von s D 54 ergänzt haben
und dass 540 somit sicher ein Vielfaches von 60 ist. Gleichzeitig ist 540 auch ein
3.4 Primzahlen 55
Vielfaches von 54, was wir zwar ohne Rechnung erkennen, aber auch daran, dass
die Primfaktoren von s D 54 um die fehlenden Faktoren 2 und 5 ergänzt wurden.
Wenn wir die Primfaktoren nun sortieren und zählen, sehen wir, dass ganz allge-
mein die Aussage
r s D ggT.r; s/ kgV.r; s/
gilt. Denken Sie über einen Beweis nach. Die mathematische Notation dazu ist et-
was sperrig. Doch auch eine sorgfältige sprachlich formulierte Argumentation ist
ein Beweis.
An dieser Stelle überlegen wir, wie wir ohne Hilfe eines Computeralgebra-
systems überprüfen können, ob eine Zahl eine Primzahl ist oder nicht, und wie wir
dies mit möglichst wenig Aufwand tun.
Betrachten wir beispielsweise die Zahl 257 und fragen uns, was wäre, wenn
n D 257 das Produkt zweier Zahlen a b wäre. Wir können die beiden Faktoren
so auf a und b verteilen, dass a b gilt.pDann p wäre a a a b D 257, und
somit wäre ein Teiler von 257 kleiner als n D 257, was wegen 16 16 D 256
nur ein klein wenig größer als 16, aber kleiner als 17 mit 172 D 289 ist. Um nun
zu überprüfen, ob 257 prim ist, probieren wir alle denkbaren Teiler t bis zur Zahl
16 aus. Da jeder Teiler t selbst eine Primzahlzerlegung hat und seine Primfakto-
ren in der Primzahlzerlegung von 257 vorkommen müssten, brauchen wir nur die
Teiler auszuprobieren, die prim und kleiner gleich 16 sind. Das sind die Zahlen
f2; 3; 5; 7; 11; 13g. Wir sind unserem Ziel schon sehr nahe und müssen nur noch die
Teilbarkeit durch diese sechs Zahlen prüfen. Das Nachdenken vor dem Losrechnen
spart also Zeit, Energie und Nerven.
Das Rechnen als langweilige technische Aufgabe können wir mit einem Ta-
schenrechner erledigen, oder wir bemühen unsere Kopfrechenkünste. Denn 257 ist
als ungerade Zahl nicht durch 2 teilbar, und durch 3 ist es nicht teilbar, weil die
Quersumme 2 C 5 C 7 D 14 nicht durch drei teilbar ist. Durch 5 teilbare Zahlen
enden auf 0 oder 5. Wäre 257 durch 7 teilbar, so auch 250 D 2577 D 1025. Also
ist 257 nicht durch 7 teilbar. Ebenso schließen wir die Teilbarkeit durch 11 wegen
257 C 3 11 D 290 D 29 10 und durch 13 wegen 257 C 13 D 270 D 27 10 aus.
Und endlich haben wir n D 257 als Primzahl bestätigt.
Lassen Sie uns diese kleinen Überlegungen zu Primzahlen damit beschließen,
dass wir uns fragen, ob es neben der hübschen Beobachtung
noch weitere Differenzen von zwei Quadratzahlen gibt, die 2015 sind. Wir nennen
die beiden gesuchten Zahlen r und s, und die dritte binomische Formel liefert uns
die Darstellung von r 2 s 2 D .r Cs/.r s/ als Produkt. Also sollte es uns gelingen,
solche natürlichen Zahlen r und s zu finden, wenn wir alle denkbaren Darstellun-
gen von 2015 als Produkt ausfindig machen. Dabei hilft uns die Primzahlzerlegung
2015 D 5 13 31. Zu allen Produktdarstellungen von 2015 D c d , bei denen
56 3 Zahlen und Bezeichnungen
cCd cd
rD und s D
2 2
nach und finden die Lösungen
Mit den acht Teilern von 2015 sind also vier Zerlegungen von 2015 D c d in zwei
Faktoren übrig geblieben, bei denen der Faktor c größer als der Faktor d ist. In der
Tat gilt auch
Probieren Sie doch einmal aus, welche Darstellungen der Form r 2 s 2 D 2014 oder
r 2 s 2 D 2016 es gibt. Der erste Primfaktor von 2014 ist leicht gefunden, denn
diese Zahl ist gerade. Es gilt 2014 D 2 1007. Nun wird es schwieriger. Die mög-
lichen Teiler 2, 3 und 5 sind schnell ausgeschlossen. Falls man die märchenhafte
Primzahlzerlegung
1001 D 7 11 13
kennt, entfallen auch 7, 11 und 13 als Teiler von 1007 D 1001 C 6. Wir müssen
1007 nur noch auf Teilbarkeit durch 17, 19, 23, 29 und 31 testen. So finden wir
Bemerken Sie bitte, dass 2016 D 25 23 7 viel mehr Teiler hat und dass es
deshalb viel mehr der gesuchten Darstellungen gibt. Sind es vielleicht gerade 18
unterschiedliche Darstellungen als Produkt 2016 D c d und, wenn ja, warum?
Allerdings gibt es darunter welche wie 2016 D 1008 2, aus denen Sie r D 505
und s D 503 bestimmen, und welche wie 2016 D 672 3, die keine ganzzahli-
gen r und s ergeben, sodass zum Schluss nur zwölf unterschiedliche Darstellungen
r 2 s 2 D 2016 übrig bleiben. Probieren Sie es aus.
Ganz zum Schluss noch ein seltsamer Tipp zum Alltagsleben. Sollten Sie sich
– aus welchen Gründen auch immer – eine relativ große Zahl merken müssen, so
könnten Sie deren Primzahlzerlegung im Kopf ausrechnen. Danach werden Sie die-
se Zahl so schnell nicht vergessen oder sich zumindest an einige Eigenschaften
erinnern, mit denen Sie diese Zahl rekonstruieren können. In Abschn. 3.1 haben
wir ausgerechnet, dass 2363 D 17 139 gilt. Möglicherweise ist 2363 Ihre PIN-
Nummer fürs Handy, und möglicherweise ist Ihnen von der Primzahlzerlegung z. B.
3.5 Bruchrechnung 57
3.5 Bruchrechnung
Die Bruchrechnung ist deutlich leichter, als man denkt. Viele Kinder, die in den
erstrebenswerten Genuss von Unterweisungen an einem Instrument wie Klavier,
Geige und ganz besonders Schlagzeug kommen, beherrschen die Bruchrechnung,
bevor sie sie erlernen. Niemand würde zudem ernsthaft annehmen, dass eine halbe
Maß und noch eine halbe Maß etwa zwei Viertel Maß sein könnten. Nein, es ist eine
ganze Maß.
Zudem bekommt jeder mehr, wenn man durch weniger teilt. Folglich muss jede
positive Zahl geteilt durch 12 größer sein als die Zahl geteilt durch 1, also als sie
selbst. Das wollen wir ausprobieren, und acht durch einhalb teilen. Unsere Aufgabe
ist also
8
1
D 8 W .1 W 2/ D : : :‹
2
Wir holen uns etwas Hilfe und suchen nach einem generischen Beispiel wie etwa
12 W .6 W 2/ D 12 W 3 D 4 D .12 2/ W 6 D 24 W 6 D 4: (3.10)
In diesem Beispiel haben wir 12 durch die Hälfte von 6 geteilt. Wir hätten also
ebensogut die doppelte Menge durch 6 teilen können. Unser generisches Beispiel
scheint einen gewissen Verallgemeinerungswunsch zu haben, und unsere erste Auf-
gabe wird zu
8
1
D 8 W .1 W 2/ D .8 2/ W 1 D 16:
2
Viele erinnern sich bestimmt an die Regel aus der Schule, dass man den Divisor –
was war das noch mal? – „umdrehen“ muss, um „durch“ zu rechnen. Aber man soll
keine Methoden anwenden, die man nicht versteht, und deshalb haben wir uns den
Hintergrund noch einmal verdeutlicht.
Unsere Rechnung ist konsequent und folgerichtig, denn schauen Sie auf
8 8 8 8 8 8
D 1; D 2; D 4; D 8; 1
D 16; 1
D 32 usw.
8 4 2 1 2 4
58 3 Zahlen und Bezeichnungen
Diese und andere einfache Überlegungen werden wir ausnutzen, um die Bruchrech-
nung ein wenig aufzufrischen.
Eine gebrochene Zahl, wie z. B. 37 , steht für das Ergebnis der Division zweier ganzer
Zahlen wie hier 3 W 7, was nicht ganzzahlig ist. Werden 3 Brote auf 7 gleichhungrige
Esser aufgeteilt, so bekommt jeder drei Siebtel Brote. Die Zahl auf dem Bruchstrich
heißt Zähler. Die Zahl darunter heißt Nenner. Der Nenner 7 benennt die Teile, näm-
lich die Siebtel. Der Zähler zählt sie. Bei unserer Aufteilung von 3 Broten auf 7
bekommt jeder genauso viel, als hätte man 6 D 2 3 Brote auf 14 D 2 7 Esser
aufgeteilt. Deshalb steht der Bruch zwar für eine gebrochene Zahl, aber für eine
ganze Klasse möglicher Divisionen:
3 6 21 15
D3W7D D 6 W 14 D D 21 W 49 D D .15/ W .35/ D : : :
7 14 49 35
Eine gebrochene Zahl kann somit durch viele unterschiedliche Brüche dargestellt
werden. Wenn wir Zähler und (!) Nenner mit derselben Zahl multiplizieren, was wir
„erweitern“ nennen, oder beide durch dieselbe Zahl dividieren, was wir „kürzen“
nennen, ändern wir die gebrochene Zahl nicht. Wir sehen
1 12 2 14 4
D D D D
2 22 4 24 8
und können etwa bei Noten in der Musik interpretieren, dass eine halbe Note so lang
ist wie zwei Viertelnoten oder vier Achtelnoten. Beim Kürzen versucht man oft, die
Zahlen im Zähler und Nenner möglichst klein und damit übersichtlich zu halten.
Um dies in letzter Konsequenz durchzuführen, braucht man die Primzahlzerlegung
wie in
1001 7 11 13 11 13 143
D D D ;
245 577 57 35
was nicht mehr kürzbar ist, weil kein Primfaktor zugleich im Zähler und im Nen-
ner auftaucht. Der größte gemeinsame Teiler von Zähler und Nenner ist eins, also
ggT.143; 35/ D 1. Solche Zahlen nennt man teilerfremd. Brüche, in denen Zähler
und Nenner nicht teilerfremd sind, kann man kürzen und dadurch meistens verein-
fachen.
Um eine Größenvorstellung von einer solchen Zahl zu erhalten, kann man die
Division tatsächlich ausführen. So ist 143 W 35 D 4 Rest 3, also
143 3
D4 D 4:0857 : : : 4:0857:
35 35
Beachten Sie bitte die unterschiedliche Verwendung des Gleichheitszeichens und
des Annäherungszeichens, und üben Sie mal wieder die schriftliche Division. Die
3.5 Bruchrechnung 59
3
Schreibweise als gemischte gebrochene Zahl 4 35 für 143
35
ist gefährlich, denn sie
wird leicht mit der Multiplikation 4 35 D 35 verwechselt.
3 12
Für Größenvergleiche von gebrochenen Zahlen kann man sich oft auf ganz in-
tuitive Betrachtungen zurückziehen. Dass ein Drittel größer ist als ein Viertel, weiß
jeder Gangster in einem Krimi, der den vierten Teilnehmer der Räuberbande oder
die vierte Teilnehmerin einer Räuberinnenbande aus dem weiteren Film entfernt.
Etwas systematischer kann man gebrochene Zahlen vergleichen, indem man die
beiden Divisionen rückgängig macht. Wir probieren es an dem Beispiel der Zahlen
8 5
8 W 11 D und 5 W 7 D :
11 7
Wir fragen uns also, ob es einträglicher ist, 8 Taler durch Ocean’s Eleven zu teilen
oder 5 durch die Glorreichen Sieben. Wir nähern uns dieser Frage, indem wir beide
gebrochenen Zahlen mit 11 multiplizieren. Dann erhalten wir mit
8 5 55
11 D .8 W 11/ 11 D 8 und 11 D .5 W 7/ 11 D
11 7 7
die inhaltlich gleiche Frage, ob es einträglicher ist, 8 Taler allein zu besitzen oder
55 durch 7 zu teilen. Eine weitere Multiplikation mit 7 führt auf den Vergleich
56 D 8 7 > 55, womit also die Frage geklärt ist, dass
8 5
>
11 7
gilt. Natürlich hätten wir, wenn wir nur am Zahlenvergleich interessiert gewesen
wären, die Divisionen auch zu 0:7272 : : : > 0:7143 : : : ausführen können.
Die Rechnung mit Dezimalzahlen, also mit Zahlen mit Komma, sollte man nur
für Messwerte und Kenngrößen verwenden, die natürlicherweise als Näherungs-
werte auftreten. Bei der Beschäftigung mit Mathematik sind Kommazahlen eher
hinderlich als vereinfachend.
Das Kürzen und Erweitern geht natürlich auch dann, wenn die Brüche Variablen
enthalten. Hier tritt die Rolle des Bruchs als Division noch stärker in den Vorder-
grund. Beispielsweise führt das Erweitern mit a bzw. x 1 zu
xC1 .x C 1/ a ax C a .x C 1/.x 1/ x2 1
D D D D ;
y ya ay y.x 1/ yx y
wobei die Klammern nötig wurden, um wirklich den gesamten Zähler und den
gesamten Nenner zu multiplizieren. Manchmal ist es nicht offensichtlich, welche
Terme man kürzen kann. So gilt
x4 1 .x 3 C x 2 C x C 1/.x 1/ x3 C x2 C x C 1
D D ; (3.11)
x3 1 .x 2 C x C 1/.x 1/ x2 C x C 1
was man dem ersten Term ohne Übung nicht ansieht. Wie in diesem Beispiel ist bei
Brüchen mit Variablen nicht immer klar, welches die einfachste oder besser die für
die jeweilige Betrachtung sinnvollste Darstellung ist.
60 3 Zahlen und Bezeichnungen
3.5.2 Grundrechenarten
Die Grundrechenarten mit gebrochenen Zahlen sind keine Hexerei. Aber sie wer-
den zu einer, wenn einige Studierende so seltsame Umformungen machen, dass der
Term
x2 1
zu oder zu x 2
x C1
2 2
wird. Als Lehrerinnen und Lehrer noch nicht befürchten mussten, für solche Sprü-
che von der aufgebrachten Elternschar mit immensen Schmerzensgeldforderungen
überzogen zu werden, gab es den Merkspruch: „In Differenzen und Summen kürzen
nur die Dummen.“ Er bedarf allerdings der richtigen Interpretation. Wie immer die
obigen Umformungen zustande gekommen sein mögen, sie fühlen sich schon selt-
sam an, denn warum sollte man den komplizierten ersten Bruch überhaupt schrei-
ben, wenn man ihn viel einfacher darstellen kann? Der Versuch, x D 2 einzusetzen,
hätte die Umformungen sofort als Unfug entlarvt, denn die drei obigen Terme lie-
fern für x D 2 die ungleichen Werte 45 , 12 und 4.
Um die Vermutung, zwei der Terme seien gleich – würden also für alle x die-
selben Werte liefern – zu widerlegen, hätte dieses eine oder ein einziges anderes
Gegenbeispiel ausgereicht.
Um Sie, liebe Leserin und lieber Leser, vor solch irrigen Umformungen zu be-
wahren, rechnen wir Ihnen einige Grundrechenoperationen mit Brüchen vor. Sie
lernen daran, wie Sie Brüche behandeln, und gleichzeitig, wie Sie Terme behan-
deln, in denen die Division als Bruch geschrieben wird, denn die Lösung vieler
Rätsel der Bruchrechnung besteht darin, den Bruchstrich als Bezeichnung in die
Division zu „übersetzen“.
Zuerst ist es empfehlenswert, sich Beispiele zu suchen, an deren Gültigkeit nie-
mand Zweifel hat. So sind ein halbes Brot und noch ein halbes Brot im wörtlichen
Sinne zwar kein ganzes, sondern zwei halbe, aber es gilt sicher
1 1 1 1 1 1
C D 1 vgl. 1 C 1 D .1 C 1/ D 2 D 1:
2 2 2 2 2 2
Hinter dieser geradezu lapidar wahren Aussage steht eine mögliche Rechnung. Sa-
gen Sie jetzt nicht, dass Sie für diese einfache Aussage keine Rechnung brauchen,
denn jeder weiß, dass man dafür keine Rechnung braucht. Sie sollten jedoch an so
einfachen Aufgaben Ihre Rechenwege überprüfen und Ihre Argumentation schär-
fen.
Ähnlich verhält es sich mit der Aussage, dass jemand, der von einer Hälfte eines
Liters, also von einem halben Liter, einen viertel Liter wegnimmt, einen viertel Liter
übrig lässt. In Zahlen lautet dies
1 1 1 2 1 1
D vgl. D :
2 4 4 4 4 4
Hier haben wir rechnerisch beide Brüche auf einen Hauptnenner gebracht. Verbal
sollten wir uns verdeutlichen, dass das Rechnen mit Brüchen dem mit Äpfeln und
3.5 Bruchrechnung 61
Birnen ähnelt. Zwei Viertel weniger einem Viertel ist ein Viertel, so wie zwei Birnen
weniger einer Birne eben eine Birne ist.
Auf diese Weise können wir zunächst Viertel so wenig von Dritteln abziehen wie
Äpfel von Birnen. Im Gegensatz zum Obst lassen sich die Zahlen jedoch ineinander
umrechnen. Eine schöne Erinnerungsaufgabe ist
1 1 4 3 1
D D :
3 4 12 12 12
Denken Sie beispielsweise an eine Torte, die in zwölf Stücke geschnitten ist. Jedes
Stück ist ein Zwölftel der Torte. Eine drittel Torte sind also vier Stücke, hier vier
Zwölftel. Eine viertel Torte sind drei Stücke, also drei Zwölftel. Die Differenz ist
somit ein Stück Torte. Rechnerisch haben wir wieder den Hauptnenner gebildet.
Mit dem Produkt der Nenner funktioniert es immer, obwohl das kleinste gemein-
schaftliche Vielfache eleganter wäre. Hier ist beides 12 D 3 4. Wir stellen die
Additionsregel (Abschn. 2.8),
a c ad cb ad C bc
C D C D für alle a; c und b; d ¤ 0; (3.12)
b d bd d b bd
also für alle Zahlen a, b, c und d auf, für die die vorkommenden Brüche sinnvolle
Ausdrücke liefern, und durch null kann man nicht dividieren. Bitte lernen Sie die
Rechenregel nicht auswendig, denn dabei laufen Sie Gefahr, sich falsch zu erinnern
(Abschn. 2.3), sondern erweitern Sie jeden Summanden mit einem geeigneten Fak-
tor, beispielsweise mit dem jeweils anderen Nenner, bis Ihnen das Vorgehen ganz
natürlich erscheint. Nehmen wir die Summe
2 4 2.x C 3/ 4.x 3/ 2.x C 3/ C 4.x 3/
C D C D ;
x3 xC3 .x 3/.x C 3/ .x C 3/.x 3/ .x C 3/.x 3/
deren Summanden zunächst auf einen gemeinsamen Nenner gebracht und dann
addiert wurden. Am Ende dieser Rechnung erhalten Sie einen Term, den Sie wei-
ter vereinfachen sollten (Abschn. 6.2), aber die Arbeit des Addierens ist erledigt.
Wenn Sie mehr als zwei Summanden addieren wollen, so tun Sie dies bitte zunächst
Schritt für Schritt in Zweiergruppen, z. B.
1 1 1 1 7 5 13 11 12 24
C C C D C C C D C
5 7 11 13 35 35 143 143 35 143
12 143 C 24 35 2556
D D :
35 143 5005
Ja, auch das kann man gerade noch im Kopf rechnen. Natürlich sollte man versu-
chen, nach jedem Rechenschritt zu kürzen, um die Brüche einfach zu halten.
Zum Abschluss unserer Überlegungen zur Addition und Subtraktion gebroche-
ner Zahlen folgen noch die zwei Beispiele mit Variablen
n nC1 n 1
1 D D
nC1 nC1 nC1 nC1
62 3 Zahlen und Bezeichnungen
und
1 1 nC1 n 1
D D ; (3.13)
n nC1 n.n C 1/ n.n C 1/ n.n C 1/
wobei insbesondere die zweite Rechnung ein leicht verwunderliches Ergebnis hat.
Es sieht für einen Moment so aus, als hätte sich das Minuszeichen auf der linken
Seite in ein Malzeichen auf der rechten Seite und dort speziell im Nenner ver-
wandelt. Aber Vorsicht, oder mit Worten von Mark Twain: „Man entnehme einer
Weisheit nicht mehr als in ihr steckt. Eine Katze, die sich einmal auf eine heiße
Herdplatte gesetzt hat, setzt sich nie wieder auf eine heiße Herdplatte, aber auch
nicht auf eine kalte.“ Denn ein Drittel weniger einem Sechstel ist natürlich ein
Sechstel. Der angesprochene Zusammenhang mit der scheinbaren Umwandlung
des Minus in ein Mal entsteht eher zufällig und gilt nur dann, wenn wirklich wie
in Gl. 3.13 das Reziproke einer Zahl n C 1 vom Reziproken ihres Vorgängers n
abgezogen wird.
Verglichen mit der Addition und der Subtraktion ist die Multiplikation mit ge-
brochenen Zahlen leicht, denn die Hälfte eines viertel Liters ist ein achtel Liter. In
Zahlen und in Erinnerung an Gl. 3.10 liest sich dies
1 1 1
D oder .1 W 2/ .1 W 4/ D ..1 W 2/ 1/ W 4 D 1 W 8:
2 4 8
Versuchen Sie selbst, sich die Rechenregeln
a
a c ac a c ad
D und W D b
D
b d bd b d c
d bc
Wenn Sie die Klammern auf der rechten Seite anders setzen, dann entstehen, wie
schon in Abschn. 3.2 gesagt, im Allgemeinen – also außer für ganz spezielle Bele-
gungen der Variablen – andere Ergebnisse.
3.6 Zahlbereiche
und der Bereich der reellen Zahlen R. Da es oft wichtig ist, für welche Sorten Zah-
len Aussagen gelten, gibt es die seltsam verdoppelten Buchstaben als Abkürzungen
für die Zahlbereiche.
Die Abkürzungen für die Zahlbereiche, die beim Lesen mathematischer Texte
leider leicht übersehen werden, sagen schon viel aus. Denn die Aussage, dass es
keine natürliche Zahl n 2 N gibt, deren Quadrat zwei ist, ist ebenso wahr wie die
Aussage, dass es zwei reelle Zahlen x 2 R gibt, deren Quadrat jeweils zwei ist. Wir
sehen also, dass die Gültigkeit einer Aussage davon abhängt, für welche Art von
Zahlen sie formuliert ist.
Diese Abhängigkeit ist nicht weiter überraschend, wenn wir uns vor Augen
führen, dass viele Aussagen des Alltagslebens auch davon abhängen, für wen sie
formuliert sind. So sollte es jedem gesunden aktiven Vereinsfußballspieler möglich
sein, zehn Kilometer in weniger als einer Stunde zu laufen. Es gibt aber viele Men-
schen, denen dies nicht möglich ist. Die Gültigkeit einer Aussage hängt also fast
immer davon ab, für wen oder für welche Objekte sie formuliert ist.
Die natürlichen Zahlen sind die Elemente der Menge
N D f0; 1; 2; 3; : : :g;
wobei der Zahlbereich der natürlichen Zahlen die Bezeichnung N bekommt. Die
Null wird manchmal zu den natürlichen Zahlen gezählt und manchmal nicht. Das
ist aber nicht entscheidend. Wichtig ist, dass man weiß, was gemeint ist, oder dies
schnell nachprüfen kann.
Wenn wir nach der Struktur der Zahlbereiche fragen, konstatieren wir, dass wir
zwei natürliche Zahlen addieren und multiplizieren können und bei diesen Opera-
tionen wieder natürliche Zahlen erhalten. Für die Subtraktion und Division gilt dies
nicht, weshalb wir in der Grundschule „nicht lösbar“ hinter Aufgaben wie 2 7
oder 3 W 5 geschrieben haben, obwohl wir jetzt natürlich wissen, dass Ergebnisse
für diese Aufgaben sehr wohl existieren, nur eben außerhalb der natürlichen Zah-
len. Wir sagen, dass die Addition und die Multiplikation innerhalb der natürlichen
Zahlen ausführbar sind.
Die ganzen Zahlen enthalten die natürlichen Zahlen und die zugehörigen nega-
tiven Zahlen. Wir haben mit ihnen in Abschn. 3.3 gerechnet. Wir bezeichnen sie
mit
Innerhalb der ganzen Zahlen ist nun neben der Addition und Multiplikation auch die
Subtraktion immer ausführbar. Die Differenz zweier beliebiger ganzer Zahlen ist
wieder eine ganze Zahl. Wir sagen auch, dass die negativen Zahlen die natürlichen
Zahlen so erweitern, dass die Subtraktion immer ausführbar wird. Die Addition von
a 2 Z wird durch die Addition mit der umgekehrten Zahl oder Gegenzahl a 2 Z,
die auch in Z liegt, umgekehrt.
Innerhalb der rationalen Zahlen Q, also innerhalb aller Brüche mit ganzzahligen
Zählern und Nennern, können wir zusätzlich sogar die Division – außer durch null
64 3 Zahlen und Bezeichnungen
– ausführen. Durch null zu dividieren, ist praktisch gar nicht durchführbar, denn
einerseits ist die Vorstellung, eine Menge oder Anzahl auf null Personen aufzutei-
len, absurd, andererseits müsste das Ergebnis x der Division b W 0 die Umkehrung
b D 0 x erfüllen. Diese Gleichheit kann jedoch nur für b D 0 gelten, und in
diesem Fall sofort mit jedem x. Also kann dem Ergebnis x der Division durch null
kein sinnvoller Wert zugeordnet werden. Somit können wir innerhalb der rationalen
Zahlen alle überhaupt irgendwo ausführbaren Grundrechenarten ausführen.
Rationale Zahlen werden als Brüche dargestellt, die man in Dezimalbrüche um-
rechnen kann. So ist
3 5 1
D 0:6 2 Q; D 1:666 : : : D 1:6 2 Q und D 0:142856 2 Q:
5 3 7
Der Oberstrich gibt an, welche Ziffernabfolge sich periodisch wiederholt. Rationale
Zahlen haben entweder endende Dezimalbrüche oder sich periodisch wiederholen-
de unendliche Dezimalbrüche. Jede solche Zahl kann in einen Bruch zurückverwan-
delt werden. Diese Umrechnung zurück ist für endliche Dezimalbrüche einfach,
denn endliche Dezimalbrüche können immer als Bruch mit Zehnerpotenzen im
Nenner geschrieben werden. Beispielsweise gilt
6 3 114 57
0:6 D D und 0:114 D D :
10 5 1000 500
Etwas trickreicher ist es bei periodischen Dezimalbrüchen. Betrachten Sie bei-
spielsweise den Dezimalbruch 0:114 D 0:114114 : : : Hier nutzen wir aus, dass
1000 0:114 D 114:114114 : : : hinter dem Komma dieselben Dezimalstellen hat.
Es gilt dann
114 38
1000 0:114 0:114 D 999 0:114 D 114 und damit 0:114 D D :
999 333
Probieren Sie dieses Prinzip für periodische Dezimalbrüche wie z. B. 0:6 und 0:54
aus, für die Sie Brüche mit recht kleinen Zählern und Nennern erhalten.
Schließlich noch ein Wort zur Neunerperiode. Was könnte die Zahl 0:9 sein?
Wenn wir 1 0:9 ausrechnen, so erhalten wir eine Null und dann für beliebig viele
Stellen jeweils wieder eine Null. Eigentlich müssten wir bei der schriftlichen Sub-
traktion hinten anfangen, doch bei einem unendlichen Dezimalbruch gibt es kein
„Hinten“, und wir erhalten unendlich viele Nullen. Man könnte nun auf die Idee
kommen, dass hinter den unendlich vielen Nullen doch noch einmal die Ziffer Eins
auftaucht. Aber diese Eins kommt nicht nach tausend oder einer Million Stellen,
sondern sie käme – wenn man dies nicht schon als heftigen Widerspruch empfindet
– nach unendlich vielen Stellen. Somit wird die Differenz beliebig klein, kleiner als
jede positive Zahl. Es bleibt nur die Null, d. h. 1 0:9 D 0 und damit 1 D 0:9.
Etwas eleganter und weniger philosophisch wird die Frage, was 0:9 ist, wenn
wir uns vergegenwärtigen, dass
1 1
D 0:1 D 0:111 : : : und damit 1 D 9 D 9 0:111 : : : D 0:999 : : : D 0:9
9 9
3.6 Zahlbereiche 65
gilt. Nach dieser Rechnung kann es nicht anders sein, als dass 1 D 0:9 D 0:999 : : :
ist. Als Drittes bleibt noch die Möglichkeit, wie oben 10 0:9 0:9 D 9 auszu-
rechnen. Damit haben wir auf einer halben Seite drei Erklärungen für 0:9 D 1
zusammengetragen.
Beim Umgang mit rationalen Zahlen ist die Schreibweise als Bruch wesentlich
geeigneter als die Schreibweise als Dezimalzahl. Viele Schüler, aber auch viele
Studierende empfinden Brüche bedauernswerterweise als kompliziert. Brüche sind
aber präziser und letztlich einfacher zu handhaben. Auch müsste man sich bei den
Dezimalzahlen der teilweise langen Periode vergewissern, damit sich Rundungs-
fehler wie in
1 1
0:0769 und damit 1 D 13 0:9997
13 13
nicht einschleichen. Die gegebenenfalls nachfolgende Rechnung mit 0:9997 ist si-
cher unbequemer als die mit 1. Selbst wenn Ihr Taschenrechner weit mehr als vier
Stellen hat, können Sie die hier demonstrierten Rundungsfehler nie ganz ausschlie-
ßen. Rechnen Sie lieber mit Brüchen.
Es gibt jedoch auch unendlich lange nichtperiodische Dezimalbrüche. Zwar wis-
sen wir an dieser Stelle noch nicht genau, was für Werte mit diesen unendlichen
nichtperiodischen Dezimalbrüchen beschrieben werden, doch erweisen sie sich in
der Rechnung als äußerst nützlich. Deshalb fassen wir einfach alle Dezimalbrü-
che zu den reellen Zahlen R zusammen. Der Ehrlichkeit halber muss man sagen,
dass Mathematiker diese Beschreibung als etwas oberflächlich empfinden und des-
halb die reellen Zahlen anspruchsvoller definieren. Für den Anwender sind diese
wunderschönen mathematischen Zugänge jedoch leider von geringem praktischen
Nutzen.
Die Wurzeln aus natürlichen Zahlen sind entweder selbst natürliche Zahlen oder
reelle Zahlen, die keine rationalen Zahlen sind. Um dies nachzuweisen, betrachten
wir die Zahlen r 2 Nnfk 2 W k 2 Ng aus der mit n bezeichneten Mengendifferenz
der Menge der natürlichen Zahlen N und derpMenge der Quadratzahlen, denn die
Wurzeln der Quadratzahlen k 2 erfüllen k D k 2 2pN. Die Mengendifferenz ent-
hält also alle Nicht-Quadratzahlen.
p Man sieht, dass r … Q kein Bruch ist, wenn
man annimmt, dass r der Quotient aus den natürlichen Zahlen n und m, also der
Bruch mit dem Zähler n und dem Nenner m, ist. Aus der Annahme
p n
rD folgt m2 r D n2 :
m
und
p
2 D .x 1/3 2 und schließlich 0 D Œ.x 1/3 22 2:
3.6 Zahlbereiche 67
Ausmultipliziert (Abschn. 6.1) ergibt sich auf der rechten Seite der letzten Glei-
chung ein Polynom mit rationalen oder nach der Multiplikation mit dem Hauptnen-
ner sogar ganzzahligen Koeffizienten. Hier ist dies
und das durch den Wurzelterm beschriebene x ist eine Nullstelle dieses Polynoms
p. Die Nullstellen von Polynomen mit rationalen Koeffizienten heißen algebraische
Zahlen, weil sie Lösungen dieser sogenannten algebraischen Gleichungen sind, d. h.
von Gleichungen, die durch die Anwendung algebraischer Operationen wie Addi-
tion und Multiplikation mit rationalen Zahlen auf x, nicht jedoch durch Verwendung
allgemeinerer Funktionen wie Sinus oder Logarithmus entstanden sind. Rationale
Zahlen sind auch algebraische Zahlen, denn sie sind – wie Sie leicht herausfinden
– sogar Lösungen von sehr viel einfacheren algebraischen Gleichungen. Die alge-
braischen Zahlen haben diesen eigenen Namen verdient, denn nicht alle irrationalen
Zahlen sind algebraisch. Diejenigen irrationalen Zahlen, die nicht Nullstelle irgend-
eines Polynoms sind, heißen transzendent.
Vielleicht kommt dieser Name daher, dass einigen Menschen transzendente Zah-
len als nahezu übersinnlich erscheinen. Es ist auch sehr viel schwieriger nachzu-
weisen, dass bestimmte Zahlen transzendent sind, als beispielsweise zu zeigen,
dass sie irrational sind. Meist ist es schon schwierig, eine geeignete mathemati-
sche Beschreibung für diese Zahlen zu finden. Prominente transzendente Zahlen
sind die Kreiszahl D 3:1415 : : : und die Euler’sche Zahl e D 2:7182 : : : Beach-
ten Sie bitte, dass nicht 3:1415 „ist“, sondern das Verhältnis aus Kreisumfang
und Kreisdurchmesser, welches sich nach langen und schwierigen Überlegungen
als eine Zahl mit einem unendlichen nichtperiodischen Dezimalbruch herausstellt,
der zu einer transzendenten Zahl gehört. Ebenso „ist“ die Euler’sche Zahl e nicht
der Dezimalbruch oder sein Anfang. Wir können e als die einzige Basis einer Ex-
ponentialfunktion definieren, deren Ableitung diese Funktion selbst ist. Doch dazu
kommen wir erst in Abschn. 5.7.
In unserer Darstellung sind wir zu immer umfassenderen Zahlbereichen gelangt.
Wir notieren die Teilmengen- oder Teilbereichskette
N Z Q R;
denn jede natürliche Zahl ist auch eine ganze Zahl, aber nicht umgekehrt, und jede
ganze Zahl ist auch eine rationale Zahl, aber umgekehrt ist nicht jede rationale Zahl
auch eine ganze Zahl und so fort. Wir definieren schließlich noch die algebraischen
Zahlen durch den Ausdruck
also dadurch, dass es ein Polynom an x n C: : :Ca1 xCa0 mit rationalen Koeffizienten
a0 ; : : : ; an gibt, dessen Nullstelle x ist. Nun bilden die transzendenten Zahlen die
Elemente der Menge RnRalg , und wir konkretisieren unsere Teilmengenkette zu
N Z Q Ralg
R:
68 3 Zahlen und Bezeichnungen
Im letzten Schritt haben wir die Gleichheit absichtlich noch nicht ausgeschlossen,
weil wir im Rahmen dieses Buches keine Chance haben nachzuweisen, dass es
wirklich transzendente Zahlen gibt. Aber es gibt sie.
Die einfachsten Bezeichnungen sind solche wie e und , die bestimmte, ansons-
ten schlecht notierbare Zahlen bezeichnen. Wir wissen bereits, dass nicht durch
eine Zahlenfolge wie 3:14 : : : „Viertel vier Uhr“ definiert wird, sondern als das
Verhältnis von Kreisumfang zum Durchmesser, das nicht durch eine einfach dar-
stellbare Zahl ausgedrückt werden kann, weshalb die Abkürzung sinnvoll ist.
Für alle Unkundigen aus anderen Landesteilen sei erklärt, dass Viertel vier die
Zeit bezeichnet, zu der der große Zeiger ein Viertel des Weges bis vier Uhr zurück-
gelegt hat. Zwei Fünftel sieben Uhr bezeichnet demnach 6:24 Uhr preußischer Zeit
(Abschn. 3.5).
Jetzt versuchen wir etwas über Formelzeichen zu lernen, und dazu verwenden
wir Formelzeichen. Wir nehmen absichtlich Formelzeichen und Formeln, die viel-
leicht ein wenig fortgeschrittener sind als die Themen in diesem Kapitel, um das
Wesen der Zeichen zu erklären, weniger das der Formeln.
Mit sin x erhalten wir in Abhängigkeit von x einen Funktionswert, den wir nicht
einfacher ausdrücken können. Wenn man also Aussagen wie das Additionstheorem
wird durch das Einsetzen der Sinusfunktion, also durch diese spezielle Wahl, der
Zusammenhang
d sin.x C h/ sin x
sin x D lim :
dx h!0 h
Beachten Sie die Schlichtheit des Einsetzungsprozesses. Hier ist ein Wort zur ma-
thematischen Grammatik angebracht. Durch die Wahl f .x/ D sin x ist die Si-
nusfunktion spezifiziert worden. Wir könnten diese als sin.x/ schreiben, aber die
Klammer wäre überflüssig, wohingegen ein allgemeiner Funktionswert f .x/ die
Klammer notwendigerweise verlangt. Ebenso braucht sin.x C h/ als Anwendung
der Sinusfunktion auf die Summe x C h eine Klammer, weil sin x C h die Summe
von h und sin x bezeichnen würde (Abschn. 3.2).
An dieser Stelle – und weil es einmal gesagt werden muss – sei angemerkt, dass
der Zusammenhang
f .x C y/ D f .x/ C f .y/; (3.15)
unter allen halbwegs gutartigen, genaugenommen unter allen stetigen Funktionen,
ausschließlich für Funktionen der Bauart f .x/ D c x mit einem Faktor c gilt.
Die nicht gutartigen Funktionen, die ganz anders aussehen und Gl. 3.15 dennoch
erfüllen, sind eine schwer fassbare mathematische Spezialität. Sie taugen nicht als
Ausrede.
In Gl. 3.15 steht links vom Gleichheitszeichen die Vorschrift, dass man erst x
und y addieren und dann die Funktion f auf die Summe anwenden soll. Rechts
vom Gleichheitszeichen wird die Funktion f auf x und y einzeln angewendet, und
dann werden die Funktionswerte addiert. Gl. 3.15 enthält also die Vertauschbarkeit
der Summenbildung und der Anwendung der Funktion f . Diese Vertauschbarkeit
gilt nur für sehr wenige Funktionen f .
Noch einmal: Vertauschbarkeit ist ein ernst zu nehmender Aspekt. Man vertau-
sche nie Handlungen, von denen man nicht sicher weiß, dass sie vertauschbar sind.
Denken Sie sich ein eigenes Alltagsbeispiel aus, das Sie für immer vor der Vertau-
schung unvertauschbarer Handlungen bewahrt.
Für die Funktionen f .x/ D c x mit beliebigen Faktoren c gilt die Vertausch-
barkeit ausnahmsweise, denn dann ist
f .x C y/ D c .x C y/ D cx C cy D f .x/ C f .y/:
Für alle anderen gutartigen Funktionen gilt sie nicht. Denn man kann zeigen, dass
aus der Eigenschaft in Gl. 3.15 für alle x und y folgt, dass f .x/ D x f .1/ für alle
rationalen x 2 Q ist, also die Multiplikation von x mit dem Faktor f .1/ D c.
Versuchen Sie sich an einem Beweis. Beginnen Sie mit f .n/ D f .1/ C f .n 1/
für n 2 N. Untersuchen Sie dann
p p p
f für p; q 2 Z; q ¤ 0; d. h. 2 Q mit q f D f .p/:
q q q
70 3 Zahlen und Bezeichnungen
Warum gilt die letztgenannte Gleichung? Da wir f .x/ D x f .1/ für alle rationalen
x 2 Q kennen, und die rationalen Zahlen dicht in den reellen liegen, können diese
Funktionen nur von der Bauart f .x/ D x f .1/ sein, denn jedes irrationale x kann
durch zwei rationale Zahlen beliebig eng eingeschlossen werden, und damit werden
auch die möglichen Funktionswerte eingeschlossen. Dies ist bereits eine Vorüber-
legung zur Stetigkeit von Funktionen. Die oben erwähnte Spezialität sind unstetige
Funktionen, die auf den irrationalen Zahlen etwas sehr Verrücktes machen.
Bei der Notation der Funktion f .x/ D c x drücken die unterschiedlichen
Buchstaben unterschiedliche Bedeutungen der Größen aus (Abschn. 2.7). Die unab-
hängige Variable heißt wie gewohnt x. Die Funktion f D f .x/ ist von x abhängig.
Natürlich ist sie im weiteren Sinne auch von c abhängig, aber wir betrachten c als
einen Parameter, der hier den Anstieg des Funktionsgraphen enthält. Bei der Unter-
suchung von Funktionen betrachten wir meist die Parameter zunächst als konstant
und untersuchen später auf einem höheren Abstraktionsniveau die Funktion f und
ihre Eigenschaften in Abhängigkeit vom Parameter c. Wir geben die Ableitung von
f mit f 0 .x/ D c an, und niemand würde auf die Idee kommen, nach etwas anderem
als nach x abzuleiten.
Die Entwicklung von Formelzeichen wollen wir noch am Beispiel ak erläutern,
vgl. Fermat’sche Zahlen Fn in Abschn. 3.2, wo der Index n hieß. Wir verdeutlichen
uns, dass die Beschreibung der Fermat’schen Zahlen Fn die Ganzzahligkeit von n
schon enthält. Würden wir nämlich alle reellen Werte für n zulassen, so durchliefe
2n alle positiven reellen Zahlen, und Fn könnte für reelle n alle Werte größer 2 an-
nehmen. Diese Menge von Werten würden wir jedoch viel schlichter beschreiben,
so dass die Hervorhebung der Fermat’schen Zahlen mindestens die Ganzzahligkeit
von n enthält. Fordern wir weiter Fn 2 N und sollen die Fn besondere Zahlen sein,
so erschließt sich, dass für n nur natürliche Zahlen zugelassen sind (Bezeichnungs-
konventionen in Abschn. 2.7).
Mit der Bezeichnung ak ist gemeint, dass jedem Index k 2 N eine Zahl ak in Ab-
hängigkeit von k zugeordnet ist. Der Index ist also das Argument k aus dem Bereich
der natürlichen oder manchmal ganzen Zahlen, dem eine Zahl oder allgemeiner ei-
ne Größe ak zugeordnet ist. Wir schreiben den Index als kleine tiefstehende Zahl.
Aber nicht jede solche Zahl ist ein Index, denn dazu muss die tiefstehende Zahl ein
zählbares Argument sein, von dem ak abhängt.
Sprachlich korrekt heißt es ein Index, aber mehrere Indizes mit einer langen
letzten Silbe und einer Betonung auf der ersten. Indizes sind immer ganzzahlig, nie
krumm.
Bei der zugeordneten Größe ak kann es sich um die Kreditsumme im k-ten
Monat der Abzahlung eines Reihenmittelhauses handeln, um die Anzahl der Ka-
ninchenpärchen zum k-ten Zeitpunkt der Beobachtung oder um irgendeine andere
– möglicherweise zunächst auch abstrakte, anwendungsentspannte – Zuordnung.
Aus der Vorschrift
1 1 1
ak D entsteht a1 D 1; a2 D ; a3 D usw.,
k 2 3
3.7 Zeichen und Bezeichnungen 71
indem wir für k unterschiedliche Werte einsetzen. Haben wir dagegen eine Rekur-
sion, auch rekursive Vorschrift genannt, wie
so rechnen wir durch das Einsetzen unterschiedlicher Indizes k nach und nach
Werte von ak aus – niemals natürlich alle, denn man kann diese Folge endlos fort-
setzen. Eine rekursive Vorschrift greift zur Bestimmung der Folgenglieder jeweils
auf vorherige Folgenglieder zurück. Für k D 2 wird aus dem obigen allgemeinen
Bildungsgesetz
a2C1 D a3 D a2 C a21 D a2 C a1 D 1 C 1 D 2;
und damit können wir nun mit der Spezifizierung k D 3 das nächste Folgenglied
a4 D a3 C a2 D 2 C 1 D 3
ausrechnen. Setzen wir diesen Prozess fort, so erhalten wir die Folge der sogenann-
ten Fibonacci-Zahlen 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21; : : : Diesen Folgengliedern sieht man
den Index nicht mehr an. Hier wurde dem Index k D 1 das Folgenglied a1 D 1
zugeordnet, dem Index k D 7 das Folgenglied a7 D 13 und so weiter. Diese Zah-
lenfolge hat der Rechenmeister Leonardo Fibonacci im Jahr 1202 benutzt, um das
Wachstum einer Population von Kaninchenpaaren zu beschreiben.
Einige Bezeichnungen erscheinen etwas schwieriger, aber auch diese schwie-
rigen kann man durch Übersetzung und Spezifizierung einfach handhaben. Die
Summe von Folgengliedern vom Index k D m bis zum Index k D n schreiben
wir beispielsweise als Summensymbol
X
n
ak D am C amC1 C : : : C an1 C an :
kDm
X
7
ak D a3 C a4 C a5 C a6 C a7 D 2 C 3 C 5 C 8 C 13:
kD3
Wieder erleben wir, dass wir mit dem Summensymbol bestimmte Aussagen kurz
formulieren können. Es handelt sich wieder um eine verkürzende Namensgebung.
Beispielsweise würde man die Aussage, dass die Summe der ersten n aufeinander-
folgenden Zahlen gleich dem halben Produkt der Zahl n und ihres Nachfolgers ist,
kurz als
Xn
n.n C 1/
kD für alle n 2 N (3.16)
2
kD1
72 3 Zahlen und Bezeichnungen
X
n
n.n C 1/
k D 1C2 C:::Cn D
2
kD1
zurückübersetzt. Wenn man das gemacht hat, kann man – natürlich ohne das Sum-
mensymbol vor dem linken Gleichheitszeichen – mit interessierten Fünftklässlern
untersuchen, ob dieser Zusammenhang gilt und wenn ja, warum. Ja, warum? Ver-
suchen Sie sich an einer Begründung. Als kleinen Tipp sehen Sie, dass 1 C n D
2 C .n 1/ D : : : ist. Da Carl Friedrich Gauß als siebenjähriger Schuljunge auf
diese Rechenvereinfachung gekommen sein soll, heißt die Summe in Gl. 3.16 auch
Gauß’sche Summenformel.
Schließlich erwähnen wir noch eine andere Summe, die so einfach ist, dass sie
schon wieder schwierig wird. Auf den ersten Blick ist
X
5
1D„
1 C 1 Cƒ‚
1 C 1 C…
1D5
kD1 5 Summanden
etwas merkwürdig. Schauen wir genauer hin, so entdecken wir, dass hier der In-
dex k von 1 bis 5 gezählt wird, sodass die Summe folglich fünf Summanden hat.
Jeder Summand ist in diesem Fall unabhängig vom Index k gleich 1. Durch diese
Unabhängigkeit entsteht die ganze Merkwürdigkeit. Genaues Hinschauen offenbart
jedoch, dass die Summanden hier ak D 1 8k erfüllen.
geschrieben. Keine schlechte Idee, denn nicht jeder wird – wie in Abschn. 3.4
scherzhaft empfohlen – im Kopf die Primzahlzerlegung der Telefonnummer seines
Pizzaservices auswendig lernen wollen, zumal diese hier mit 42 862 D 2 29 739
rechenintensiv ist.
Allerdings ist der Ausdruck 3.17 aus mathematischer Sicht haarsträubend, denn
die Berechnung der einzelnen, durch die Gleichheitszeichen verbundenen Terme
ergibt 8 D 2 D 2, was definitiv falsch ist, denn 8 ist nicht gleich 2. Als Werbung
mag die Schreibweise in Gl. 3.17 durchgehen, bei mathematischen Überlegungen
3.8 Variablen und Gleichheitszeichen 73
wirkt 8 D 2 zerstörerisch, denn aus etwas Falschem kann man alles und wirklich
alles folgern. Wenn Peter niemals Auto fährt, so ist die Behauptung, er führe, wenn
er Auto führe, wie ein Berserker, zwar verleumderisch und unnötig, aber als Fol-
gerung inhaltlich nicht widerlegbar. Genauso kann man aus 8 D 2 alles mögliche
Falsche schlussfolgern. Beispielsweise wäre dann 6 D 0 oder 1 D 0. Schließlich
wären alle Zahlen gleich null. Nicht auszudenken.
Sicher werden Sie nicht zwei unterschiedliche Zahlen gleichsetzen. Aber manch-
mal beobachtet man Ketten von Gleichheitszeichen. Bei diesen Gleichheitsketten
schleichen sich nach Umformungen gern Fehler wie der des Pizzaservices ein. Ma-
chen Sie bitte das Gleichheitszeichen nicht dadurch traurig, dass Sie es zwischen
ungleiche Ausdrücke schreiben.
Sehr oft rechnen wir nicht mit ganz konkreten Zahlen ganz konkrete Ergebnisse
aus, sondern beschäftigen uns mit den Zusammenhängen, also mit den Werkzeugen,
mit denen wir an anderer Stelle aus ganz konkreten Zahlen ganz konkrete Ergeb-
nisse berechnen. Überhaupt ist die Wissenschaft nur selten an „ganz konkreten“
Zahlen interessiert. Um dies zu verstehen, können Sie sich eine Antwortmaschi-
ne vorstellen, die auf geheimnisvolle Art und Weise auf jede ihr gestellte Frage
die richtige Antwort gibt. Sicher würde eine solche Antwortmaschine das Leben
ungemein erleichtern, aber der Antwortenkonsument würde von der Welt nichts
verstehen müssen und gemäß dem menschlichen Drange nach Arbeitserleichterung
auch bald nichts mehr verstehen, obwohl er eine Menge nützlicher Antworten er-
hält.
Wenn er die Antwortmaschine nicht vorher trickreich über sie selbst ausfragt,
könnte er sie weder reparieren noch weiterentwickeln oder gar verstehen. Er wä-
re ein reiner Konsument. Die Wissenschaft sucht jedoch nicht allein nach fertigen
Antworten oder Rechenergebnissen, sondern in viel stärkerem Maße nach Zusam-
menhängen, nach Verständnis und nach Einsicht in die Mechanismen hinter realen
und gedachten Prozessen.
Kurz gesagt hat die Flächenformel für das Rechteck F D a b mit den Seiten-
längen a und b viel mehr mit Wissenschaft zu tun als die konkrete Berechnung des
Grundstücksbesitzers, der seine Anliegerbeiträge nachrechnet. Aber es gibt eine
Verbindung zwischen beidem. Der genannte Besitzer rechnet gemäß der einsich-
tigen Flächenformel – wie gesagt, eventuell ohne sie explizit zu kennen – seine
Grundstücksgröße aus, und die Formel F D a b enthält den allgemeingülti-
gen abstrakten Zusammenhang zwischen der Fläche eines Rechtecks und seinen
Seitenlängen. Von dieser allgemeinen Formel kommen wir durch die Technik des
Einsetzens der konkreten Seitenlängen zur Berechnung des Inhalts einer real exis-
tierenden rechteckigen Fläche. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin,
dass die allgemeine Formel für ein idealisiertes Rechteck, was es nur in unseren
Gedanken geben kann, absolut genau und perfekt ist, wohingegen eine reale Flä-
che fehlerbehaftet vermessen wird und meist auch nicht wirklich rechteckig ist.
Wer glaubt, ein echt rechteckiges Werkstück hergestellt zu haben, hatte nur einen
schlampigen Lehrmeister.
Variablen sind zunächst Größen, die unterschiedliche Werte annehmen können,
also variabel sind. Deshalb heißen sie Variablen. Manchmal werden mit Variablen
74 3 Zahlen und Bezeichnungen
3x C 2 D 8 oder 3x C 8 D 24 x
aus, bei der zwei Ausdrücke miteinander verbunden werden. Hier erscheint das
Gleichheitszeichen als eine Forderung, denn für fast alle Belegungen von x sind
die Ausdrücke unterschiedlich. Die Forderung, dass die beiden Ausdrücke rechts
und links des Gleichheitszeichens gleich sein mögen, liefert uns eine Möglichkeit,
eine Zuweisung an x vorzunehmen. Mithin ist das x durch die Gleichung bestimmt,
diesmal im Gegensatz zur expliziten Zuweisung jedoch nur implizit – also verpackt
oder wörtlich „verfaltet“. Bei der ersten Gleichung ist dies x1 D 2 und bei der
zweiten x2 D 4 (Abschn. 7.1). Durch die Lösung der Gleichung wird also die
zunächst freie Größe x festgelegt. In diesem Sinne ist die Zuweisung x D 3 auch
eine triviale Gleichung, denn man kann sie als die Forderung interpretieren, alle x
zu bestimmen, die die Gleichung x D 3 erfüllen, und das ist hier nun gerade der
zugewiesene Wert x D 3.
Erschrecken Sie bitte nicht beim Wort „trivial“. Hier bedeutet es nur, dass x D 3
eine Gleichung ist und zugleich so einfach, dass die Lösung schon dasteht. Wir
besprechen das Wort „trivial“ am Anfang vom Abschn. 7.1 noch einmal. Dort geht
es auch um das Auflösen von Gleichungen.
Von etwas anderer Natur sind Allaussagen, die wir bei Termumformungen nut-
zen (Abschn. 6.2). Als Beispiele mögen
dienen. Dies sind Gleichheiten, die für alle Belegungen der Variablen gelten. Sie
taugen nicht dazu, bestimmte Werte der Variablen auszurechnen. Egal welche Wer-
te für die Variablen eingesetzt werden, es entstehen immer wahre Aussagen. Unter
Umständen muss man die Menge möglicher Variablenbelegungen einschränken.
„Immer“ bedeutet dann „immer im Gültigkeitsbereich“.
Wiederum anders sind Funktionszuweisungen, wie wir sie schon bei der Flä-
chenformel des Rechtecks diskutiert haben. Hier werden weitere Variablen aus
gedanklich gegebenen, aber noch frei wählbaren Größen berechnet. Denken Sie
beispielsweise an
p
y D 2x 3 oder y D x 2 oder y D ln x C x 2 C 1 D arsinh x:
Den Operator in der dritten Formel spricht man area sinus hyperbolicus aus. Er
kommt als abkürzende Bezeichnung zu den Funktionsnamen aus der Schule hinzu.
Die drei Ausdrücke bestimmen jeder die Variable y in Abhängigkeit von x. Ein
zugewiesener Wert von x bestimmt den Wert von y, also hängt y von x ab. Des-
halb bezeichnen wir in solchen Funktionsausdrücken x als unabhängige und y als
abhängige Variable. Für ein bestimmtes x ist eine Funktion also eine Zuweisung
an y. Für ein gewähltes y ähnelt sie einer Gleichung, aus der man die möglichen
Lösungen für die Werte x bestimmen kann, wie Sie dies bei der Nullstellenberech-
nung schon oft gemacht haben. Als Allaussage jedoch ist eine Funktionszuweisung
nicht brauchbar, denn die Gleichheit ist nur für bestimmte zusammenhängende Paa-
re .x; y/ erfüllt, die wir im Graphen der Funktion zeichnen können (Abschn. 5.2).
Die vier Typen Zuweisung, Gleichung, Allaussage und Funktion, die man bei ge-
nauerer Untersuchung noch verfeinern kann, zeigen Ihnen, dass hinter recht ähnlich
aussehenden Ausdrücken unterschiedliche Konzepte stehen. Meist werden Sie die-
se Konzepte intuitiv auseinanderhalten. Wenn aber an einer Stelle nicht offenkundig
sein sollte, was gemeint ist, hilft eine Rückbesinnung auf die unterschiedlichen
Konzepte hinter dem Gleichheitszeichen und den Variablen.
Das Gleichheitszeichen ist nach der Erfahrung vieler Lehrender das am meisten
missverstandene Zeichen. Es will immer Terme verbinden, die gleiche Ergebnisse
liefern. Das Gleichheitszeichen wird sehr traurig, wenn es zwischen zwei unglei-
chen Termen steht.
Wir werden dies in Kap. 7 und in Abschn. 8.2 zu unterschiedlichen Gleichungen
und Ungleichungen weiter diskutieren. Dort geben wir den hier etwas abstrakten
Überlegungen eine handfeste Anwendung beim Umformen von Gleichungen und
Ungleichungen.
Eine Sache über das Gleichheitszeichen muss noch erzählt werden. Wenn näm-
lich a D b und b D c gilt, so gilt auch a D c. Sie werden zugeben, dass dies
eine Aussage von bestechender Einfachheit ist. Wenn man sich drei Belegungen
der Variablen denkt und wenn die ersten beiden sowie die zweiten beiden gleich
sind, so sind alle drei Werte gleich. Man könnte jetzt meinen, eine Aussage von
solcher Trivialität – und diesmal ist wirklich Einfachheit gemeint – könnte man gar
nicht falsch anwenden. Denken Sie beispielsweise an zwei Gleichungen (Gl. 7.13)
76 3 Zahlen und Bezeichnungen
wie
y D 7x und y D 5x C 16:
Nach unserer obigen Überlegung folgt daraus, dass 7x D 5x C 16 ist, denn beide
Seiten sind gleich y. Aus zwei Gleichungen mit den zwei Unbekannten x und y
haben wir eine Gleichung mit der einen Unbekannten x gemacht.
Die zugehörige Umkehroperation kehrt die betroffene Operation um, macht sie also
rückgängig (Abschn. 3.1.1). Die Umkehroperation zur Addition von 1 ist die Sub-
traktion von 1. Also wird y D x C 1 durch x D y 1 wieder umgekehrt bzw.
rückgängig gemacht. Da eine Potenz aber aus zwei Zahlen gebildet wird, nämlich
aus der Basis und dem Exponenten, gibt es auch zwei Umkehroperationen. Es gilt
p
3
23 D 8 und 8 D 2 und log2 8 D 3: (3.19)
Was ist der Logarithmus? Schauen Sie die Beispiele in Gl. 3.19 und Gl. 3.20 an, und
reimen Sie es sich zusammen. Denken Sie an Umkehroperationen. Sie brauchen nur
diese beiden Beispiele. Es hilft.
Stopp. Haben Sie ernsthaft versucht, aus den Beispielen 3.19 und 3.20 die Be-
deutung der Bezeichnungen log2 8 und log10 1000 zu rekonstruieren? Wenn Sie es
aus Eile oder Bequemlichkeit ausgelassen haben, so probieren Sie es bitte trotz-
dem, denn sonst wird Ihnen dieser Abschnitt als unverständliches Kauderwelsch
erscheinen.
Wir gönnen uns einen kurzen Einblick in die Vorstellungswelt von Lehrenden
der Mathematik. Aus ihrer Sicht ist der Logarithmus eine Bezeichnung und zwar
keine besonders schwer zu fassende Bezeichnung für den Exponenten, mit dem
man die Basis potenzieren muss, um das Argument des Logarithmusausdrucks als
Potenz zu erhalten. Das waren viele Fachwörter, einverstanden. Also betrachten wir
ein Beispiel: Die Potenz mit der Basis 2 und dem Exponenten 3 ist 8 D 23 . Diese
Zuweisung
p lässt sich auf zwei Arten umkehren. Die dritte Wurzel aus 8 ist die Basis
2 D 3 8. Der Logarithmus log2 8 sucht aber nach dem Exponenten, welcher hier
3 ist, mit dem man die Basis 2 potenzieren muss, um das Argument 8 als Potenz
23 D 8 zu erhalten. Also ist log2 8 D 3. So, jetzt sind Sie mit dem Beispiel aus
Gl. 3.20 dran.
Aus Dozentensicht ist der Logarithmus eine – anfangs vielleicht etwas sperrige,
aber dennoch nur eine – Bezeichnung, deren Inhalt nicht über das eben Gesagte
hinausgeht. Der Logarithmus ist eine Bezeichnung für den vielleicht schwierig zu
3.9 Potenz-, Wurzel- und Logarithmengesetze 77
1 ab
abc D abC.c/ D ab ac D ab D :
ac ac
Hier könnte man sich fragen, warum der vorletzte Schritt einleuchtend sein soll,
was also negative Exponenten bedeuten. Betrachten wir akC1 als Produkt von k C 1
Faktoren des Wertes a und ak als Produkt von k Faktoren des Wertes a, so erkennen
wir, dass aus
akC1 D a ak D a .a
„ a ƒ‚
:::…
a/
k-fach
der Zusammenhang
akC1 ak 1
Da oder D
ak a kC1 a
folgt. Spezifizieren wir, also setzen wir einmal k D 0 und einmal k D 1, so
erhalten wir aus der zweiten Formel
a0 a0 1 a1 1
1
D D und D :
a a a a0 a
Multiplizieren wir beide Gleichungen jeweils mit dem Nenner a1 D a bzw. a0 der
linken Seite, so erhalten wir die bekannten Zusammenhänge
1
a0 D 1 und damit a1 D für alle a ¤ 0;
a
78 3 Zahlen und Bezeichnungen
wobei wir die Null ausschließen mussten, da wir nie durch null dividieren können.
In der Tat muss 00 als nicht definiert betrachtet werden, denn hier kollidieren die für
alle nichtverschwindenden Werte a, d. h. für alle a ¤ 0, geltenden Regeln a0 D 1
und 0a D 0 bei Anwendung auf a D 0. Schließlich wird gern noch
.ab /c D a
„ ƒ‚
b
: : : a…b D abc (3.22)
c-fach
als Regel angegeben, die sich erschließt, wenn wir die Anzahl der Faktoren a nach-
zählen, denn es sind c Blöcke à b Faktoren. Dieses Argument bleibt sogar richtig,
wenn b und c nicht ganzzahlig sind. Aber dann müssen wir uns auf a 0 ein-
schränken, wie wir gleich sehen werden.
Als wirklich letztes anzugebendes Potenzgesetz erhalten Sie
.a b/k D .a b/ : : : .a b/ D .a
„ ƒ‚
:::…
a/ .b
„ ƒ‚
:::…
b / D ak b k : (3.23)
„ ƒ‚ …
k-fach k-fach k-fach
Auf der entsprechenden Wikipedia-Seite stehen noch mehr Potenzgesetze und man-
che mit ziemlich verrückten Bedingungen. Aus Sicht eines Mathematikers ist es fast
unmöglich, solche Dinge auswendig zu lernen, vor allem aber auch unnötig. Denn
die Potenzgesetze ergeben sich direkt aus dem Wesen der Potenzen.
Ebenso ist es bei Wurzeln. Wurzelnpsind Potenzen. Nehmen wir einmal an, je-
mand hätte vergessen, welche Potenz a für a 0 ausdrückt. Dann könnten wir
einen Ansatz machen. Einen Ansatz zu machen, ist wieder ein typischer Mathe-
matikerausdruck. Er bedeutet, bei einem Problem nach Lösungen von bestimmter
Bauart, hier unter den Potenzen von a, zu suchen.
p Wir versuchen es also mit einer
noch nicht näher bestimmten Potenz ax D a. Somit wäre
p p
a1 D a D a a D ax ax D axCx D a2x ;
natürlich immer vorausgesetzt, dass die Wurzeln gezogen werden können, am bes-
ten mit a 0. Jedes Wurzelgesetz wird so auf Potenzgesetze zurückgeführt, und
trotzdem wird man schnell erkennen, dass man die Regeln
p
k p p k a p
ab D k a b und p D a u. v. a. m.
a
3.9 Potenz-, Wurzel- und Logarithmengesetze 79
auch ohne Umwege verwenden kann. Hier sei noch einmal eindringlich erwähnt,
dass das Verstehen der Potenz- und Wurzelgesetze bedeutet, diese Rechenregeln
auf das Wesen der Potenzen und Wurzeln zurückzuführen und die Rechenregeln
aus dieser Fähigkeit heraus sinnvoll anzuwenden. Das pure Auswendiglernen von
Rechenregeln führt nur zum Vergessen (Abschn. 2.3).
Durch diese Überlegungen können wir aq für alle rationalen Exponenten q 2 Q
und positiven Basen a 0 aus der ursprünglichen Definition in Gl. 2.1 der Poten-
zen für natürliche Exponenten herleiten. Wir haben ähnliche Überlegungen bei der
Suche nach Funktionen, die Gl. 3.15 erfüllen, angestellt. Die Bedeutung des Aus-
drucks ax für irrationale Exponenten x … Q, die aus Sicht eines Anwenders kaum
Probleme bereitet, kann man nun sehr mathematisch ergründen. Man kann sich aber
auch auf den Standpunkt stellen, dass solch ein irrationales x von zwei rationalen
Zahlen q1 und q2 (Abschn. 3.6), beliebig eng eingeschlossen wird. Damit wird auch
ax von aq1 und aq2 beliebig eng umschlossen, sodass es nur einen sinnvollen Wert
für ax geben kann. Die meisten Anwender von Mathematik denken so, und man
darf darauf vertrauen, dass die Mathematikerinnen und Mathematiker diese Frage
wasserdicht und abschließend geklärt haben.
Für nichtganze Exponenten x ist die Potenz ax nur für nichtnegative Basen a 0
erklärt, und wir verwenden diese Schreibweise mit x … Z auch nur für nichtnegati-
ve a, selbst wenn im Einzelfall keine Missverständnisse auftreten.
Damit haben wir wieder a 0 gefordert. Die ständige Wiederholung wirkt ein
wenig pendantisch, aber leider ist sie unumgänglich. Bei derp Diskussion des abso-
luten Betrages haben wir uns in Gl. 3.7 verdeutlich,
p dass .3/2 D j 3j D 3
gilt. Da gewiss .3/ D 9 0 ist, darf man .3/ wenigstens formal als Potenz
2 2
Es sieht für einen Moment so aus, als würde das Potenzgesetz in Gl. 3.22 nicht gel-
ten. Doch des Rätsels Lösung ist, dass die Potenzen mit nichtganzem Exponenten
nur für nichtnegative Basen definiert sind und dass wir das Potenzgesetz in Gl. 3.22
auch nur auf solche anwenden können. Diese Beobachtung hängt eng damit zusam-
men, dass die Wurzel das Quadrieren nur für nichtnegative Basen umkehrt, dass
also das Wurzelziehen nur auf einer eingeschränkten Menge von Zahlen die Um-
kehroperation zum Potenzieren ist. Das ist auch der Grund, warum der Logarithmus
ausschließlich auf positive Argumente angewendet werden kann.
In einer Mathematikvorlesung oder einem Mathematiklehrbuch werden Bedin-
gungen für die Gültigkeit der Aussagen sehr genau, wenn auch kurz formuliert. Sie
sehen an diesem Beispiel, dass die Pendanterie einen Sinn hat.
Eine Warnung am Ende der Wurzelgesetze: Die Wurzel aus einer Summe ist
nicht die Summe der Wurzeln. Nein, ist sie nicht. Suchen Sie ein Beispiel. Wurzel-
und Summenbildung sind nicht vertauschbar. Wurzeln und Summen sind keine
Freunde (Gl. 2.3), wohl aber Wurzeln und Produkte (Gl. 3.23), denn Wurzeln sind
Potenzen, also verallgemeinerte mehrfache Produkte.
80 3 Zahlen und Bezeichnungen
Wenn wir versuchen, mit Logarithmen zu rechnen, dann besinnen wir uns am
besten auf die unvergesslichen Beispiele in Gl. 3.19 und in Gl. 3.20 und gehen von
dem einzig echten Potenzgesetz in Gl. 3.21 aus. Wir bezeichnen
und haben ein Beispiel für eine Bezeichnung, die die Beziehung zwischen als dem
Exponenten, der zu x führt, und als dem Exponenten, der potenziert zu y wird,
deutlich anzeigt (Abschn. 2.7). Jetzt verwenden wir das Potenzgesetz aus Gl. 3.21
in der Form
aC D a a und C D loga aC :
Der zweite Ausdruck enthält nur die Anwendung der Umkehroperation. Der Lo-
garithmus zur Basis a macht das Potenzieren zur Basis a rückgängig, er kehrt die
Rechenoperation um. Genießen Sie diesen etwas verschachtelten Ausdruck. Gemäß
Abschn. 3.2 lesen wir ihn so, dass zuerst die innen stehende Summe C gebildet
wird. Dann wird diese zur Basis a potenziert, worauf schließlich der Logarithmus
zur Basis a angewendet wird. Wir sprechen den Term von links nach rechts, aber
die Operationen werden von innen nach außen ausgeführt.
Nachdem wir uns dies verdeutlicht haben, verwenden wir das einzig wahre Po-
tenzgesetz aus Gl. 3.21 und unsere Bezeichnungen. Wir formen den Term weiter
um, und es entsteht
loga x C loga y D C D loga aC D loga a a D loga .x y/
Mit diesem Zusammenhang übersetzt der Logarithmus – lax formuliert – die Mul-
tiplikation von x und y in die Addition der zugehörigen Logarithmen. Die Gl. 3.24
ähnelt sehr stark der Gl. 3.21. Dies ist kein Zufall und keine Esoterik, denn die
beiden Gleichungen gehen durch pures Logarithmieren und geeignete Bezeichnun-
gen auseinander hervor. Etwas übertrieben könnte man Gl. 3.24 als einzig echtes
Rechengesetz für Logarithmen bezeichnen.
Der Logarithmus war lange Zeit und vor langer Zeit das Werkzeug, um Multi-
plikationen effektiv auszuführen. Der Rechenschieber verhielt sich vom 18. Jahr-
hundert bis in die 1970er-Jahre westlich des eisernen Vorhangs bzw. bis ca. 1990
anderswo zum Ingenieur wie das Stethoskop zum Arzt. Auf einem Rechenschieber
konnte der Ingenieur durch Aneinanderlegen von Strecken, also durch geometrische
Addition von Längen, auf den passend gewählten Skalen Multiplikationen durch-
führen. Für diese Leistung, die dank einiger Tricks mit erstaunlicher Genauigkeit
durchführbar war, wird ein mindestens dreifaches Wow von Ihnen erwartet. Und
sagen Sie nie wieder, Logarithmen seien abstrakter Unfug.
3.9 Potenz-, Wurzel- und Logarithmengesetze 81
Wenn wir Gl. 3.24 auf ein Produkt aus mehreren Faktoren x1 ; : : : ; xn anwenden,
so entsteht
loga .x1 : : : xn / D loga x1 C : : : C loga xn ;
was in der Schreibweise mit einem Produkt- und einem Summenzeichen
Y
n X
n
loga xk D loga xk (3.25)
kD1 kD1
unheimlich mathematisch und abstrakt aussieht. Übersetzen Sie diese Formel bit-
te zurück, nehmen Sie ggf. Abschn. 3.7 zu Hilfe. Die unheimlich mathematisch
aussehende Formel enthält einen sehr typischen Zusammenhang. Der Versuch, auf
der linken Seite den Logarithmus am Produkt vorbeizuschieben, mündet in ei-
nem stärker veränderten Ausdruck, nämlich in der Summe der Logarithmen. Kurz
gesprochen, übersetzt der Logarithmus das Produkt wieder in eine Summe. Vertau-
schen kann man Produkt und Logarithmus nicht.
Wenden wir Gl. 3.24 oder die eben diskutierte Erweiterung auf ein Produkt aus
n gleichen Faktoren x D x1 D : : : D xn , also auf eine Potenz, an, so entsteht
loga x n D n loga x
und damit
p 1 1 1
loga n
x D loga x n D loga x und loga D loga x:
n x
So können wir Gl. 3.24 auch in
x
loga x loga y D loga
y
umschreiben, was aber nichts Neues enthält. Der Logarithmus zur Basis der Eu-
ler’schen Zahl e wird als natürlicher Logarithmus und mit ln x D loge x bezeichnet.
Witz mit Bart: Mathematiker bezeichnen etwas als natürlich, das alle anderen als
unnatürlich ansehen. Das ist Unfug, denn alle, die mit Logarithmen umgehen, und
Ingenieure, Naturwissenschaftler, Soziologen, Psychologen und viele andere mehr
gehören berufsbedingt dazu, sehen den natürlichen Logarithmus als einfachsten und
daher als den natürlichen an.
Schließlich können Sie Logarithmen zu unterschiedlichen Basen ineinander um-
rechnen, indem Sie
loga x
y D .a / D a D x und damit D logy x D
loga y
verwenden. Bei der rechten Gleichheit entsteht das erste Gleichheitszeichen aus
der Definition des Logarithmus zur Basis y und das zweite durch das Einsetzen
der Festlegung von und . Diese letzte Gleichung sieht ein wenig aus, als hätten
wir kreativ gekürzt, aber sie ist natürlich nicht durch Kürzen, sondern durch eine
sorgfältig begründete Umrechnung entstanden.
82 3 Zahlen und Bezeichnungen
Bei der Beschäftigung mit Mathematik stolpert man wie überall über die Möglich-
keit, Fehler zu machen. Man kann sich schlicht verrechnen. Denkfehler können sich
einschleichen. Man kann etwas übersehen. Es soll vorkommen, dass man sich ver-
schreibt und mit dem Falschen weiterarbeitet. Und manchmal passiert einem auch
Unfug, den sich kein Außenstehender erklären kann und auch man selbst nicht. Die-
ser Abschnitt widmet sich unterschiedlichen Fehlertypen. Sie werden sehen, dass
nicht alle Fehler gleich falsch sind.
Nehmen wir zuerst den blanken Rechenfehler. Jemand hat seinen Tisch für sie-
ben Personen gedeckt, nachdem bei zwei Gastgebern von zehn Gästen drei abgesagt
haben. Kinder wollen drei Tennisbälle für 1.60 Euro pro Stück kaufen, haben aber
nur 4 Euro. Ein Student rechnet in einer Klausur 9x und 5x zu 12x zusammen. Ist
das schlimm? Nein. Oder vielmehr, wahrscheinlich nein. Denn vermutlich haben
sich in alle drei Rechenversuche nur ein paar Ungenauigkeiten eingeschlichen, und
jede unserer drei Parteien würde die Aufgabe unter weniger Enttäuschung, weniger
Begierde oder weniger Stress mühelos lösen. Deshalb werden reine Rechenfehler,
solange sie sich in vertretbarem Rahmen halten, in den meisten Klausuren auch
nicht oder nur geringfügig bestraft.
Ein wenig anders würde man möglicherweise reagieren, wenn einem der Au-
tohändler erzählen würde, dass man mit 100 Euro monatlich den nagelneuen Por-
sche schon in drei Jahren abgezahlt hätte, oder wenn jemand ernsthaft glaubt, das
Bruttoinlandsprodukt Deutschlands betrüge 100 Millionen Euro. Bei der zweiten
Behauptung wäre es vielleicht nicht so evident wie bei der ersten, aber ein Größen-
vergleich ergäbe sofort, dass ein paar tausend Beschäftigte zusammen diese Summe
als Lohn und Gehalt erhalten. Auch gibt es einzelne Gebäude dieser Preiskategorie.
Die Größenordnung hält also keiner Plausibilitätsprüfung stand.
Noch schlimmer wäre es, wenn jemand
9x 5x D 4 [Falsch !]
für richtig hielte, weil 9 5 D 4 und x x D 0 und mithin gar nichts ist. Natürlich
kann auch dies ein Schreibfehler sein, aber als Denkfehler wäre es verheerend, denn
neun Äpfel weniger fünf Äpfeln sind vier Äpfel, auch wenn wir sprachlich die
Antwort „Das sind vier“ akzeptieren. „Das ist vier“ würden wir hingegen seltsam
finden.
Richtig kraus wird es, wenn sich jemand Rechenregeln ausdenkt. Ein beliebtes
Beispiel, das sich immer wieder einschleicht, ist die unberechtigte Vertauschung
des Addierens und Quadrierens in beispielsweise
worüber wir schon an einigen Stellen nachgedacht haben (Gl. 2.3 und Gl. 3.15).
Für die Vermutung, solch eine falsche Aussage würde gelten, gibt es keinen Grund.
Ein Gegenbeispiel mit fast beliebigen a und b bringt diese Vermutung zu Fall, und
3.10 Falsche und noch falschere Fehler 83
das Festhalten an einer solche Vermutung zeigt, dass keine Idee einer binomischen
Formel das Innere des Bewusstseins gestreift haben kann. Diese Vermutung kann
man auch nur dann als Rechenfehler betrachten, wenn man Mathematik als ein rein
schematisches Umsortieren von Zeichen begreift. Sie ist in etwa so, als wenn man
beim Schach den Springer wie den Turm ziehen wollte.
Von Zeit zu Zeit werden Studierende dabei beobachtet, wie sie Operatoren wie
Sinusausdrücke, Logarithmen oder Grenzwerte aus Ausdrücken wie
kürzen. Das ist immer falsch, vgl. Überlegungen zu Gl. 3.15, denn man kann nur
gleiche Faktoren im Zähler und Nenner kürzen. Und wären die Operatoren Fak-
toren, so würden wir Faktoren schreiben und nicht Grenzwerte oder Sinus- und
Logarithmusausdrücke.
Halten Sie kurz inne, und vergewissern Sie sich, dass A im Allgemeinen grund-
verschieden von dem Quotienten a W b ist. Noch deutlicher wird dies beim zweiten
Ausdruck. Sollte es in irgendeiner Welt möglich sein, schlicht gleiche Buchstaben
wegzukürzen, dann wäre B in der ersten Formulierung gleich 2, was es nicht ist,
und in der letzten Variante gleich 2=x C 1, was es auch nicht ist und was sich von 2
wiederum unterscheidet. Solch eine Welt wäre nicht unsere Welt. Beim Ausdruck C
würde hanebüchenerweise nur der Operator cos stehen bleiben, welcher allein und
ohne Argument recht verloren aus dem Papierblatt herausschaut. Machen Sie so
etwas nicht. Nie. Auch nicht im Stress.
Eine weniger dramatische, aber auch recht ärgerliche Art von Fehlern entsteht,
wenn man etwas Richtiges benutzt und es dann vergisst. Denken Sie z. B. an ein
Produkt zum Nettopreis von 200 Euro. Inklusive 19 % Mehrwertsteuer hat die-
ses einen Bruttoverkaufspreis von 238 Euro. Es wäre nun sehr unwahrscheinlich,
um nicht zu sagen, widersinnig, wenn ein Produkt zum Bruttoverkaufspreis von
238 Euro eine Mehrwertsteuer von 45:22 Euro enthielte, selbst wenn dies 19 %
von 238 Euro sind. Oder? Irgendwie muss dies zusammenpassen, und in der Tat
entspricht der Bruttoverkaufspreis 119 % des Nettopreises. Es gilt für beide Rech-
nungen
Logarithmus von 1000 ist meistens 100“. Man erahnt manchmal, was Richtiges
oder Falsches gemeint sein könnte, und in einer Prüfung wird intensiv nach dem
Richtigen gesucht. Wenn Sie hier schmunzeln, verstehen Sie sicher den Abschnitt
über die Ostfriesen, Belgier und Österreicher.
Fassen wir zusammen: Die Zahl, die oft Lösung genannt wird, ist nur ein Ne-
benprodukt des Lösungswegs, der die eigentliche Lösung eines Problems darstellt.
Zahlen können Opfer von Verrechnungen werden, aber niemand denkt unlogisch,
und niemand kann unlogisch denken.
Ein bisschen Geometrie
4
Die Geometrie ist ein großes und schönes Teilgebiet der Mathematik. Es ist so groß,
dass es ein eigenes Buch „So einfach ist Geometrie“ verdient, denn viele grundle-
gende geometrische Sachverhalte erschließen sich, wenn man sie auf einem Blatt
skizziert und – wie wir es in Kap. 3 mit den Zahlen gemacht haben – in einfachen
Schritten darüber nachdenkt. Gleichzeitig durchziehen geometrische Überlegungen
viele mathematische Themen, wie Sie unter anderem in Kap. 5 sehen werden, wo
wir fast alles in Skizzen darstellen und dadurch Bilder und handfeste Vorstellun-
gen von Flächen, Integralen und Ableitungen entwickeln. Im Grunde gibt es keine
Mathematik, die frei von Geometrie ist.
Geometrie wird im Schulunterricht oft besonders gefürchtet. Das mag daran
liegen, dass Aufgaben zu geometrischen Sachverhalten weniger als andere standar-
disierbar sind. Es gibt kaum Rezepte. Geometrie enthält immer die Aufforderung,
über Zusammenhänge nachzudenken, und das Nachdenken geschieht am besten auf
ganz grundlegendem Niveau. Ein Zusammenhang ist auch hier erst dann verstan-
den, wenn er als nahezu alltägliche Anschauung erscheint.
Dieses Kapitel reißt nur wenige geometrische Themen an. Genießen Sie sie und
nehmen Sie sich Zettel und Stift zur Hand. Machen Sie Sizzen, und erspüren Sie
die Verbindung zwischen Geometrie und alltäglicher Anschauung.
4.1 Im Dreieck
Beginnen wir mit dem Flächeninhalt eines Dreiecks. Eine auswendig gelernte For-
mel ist wie ein einzelnes Wort in einer fremden Sprache. Es ist auch nicht nötig, die
Flächenformel für ein Dreieck auswendig zu lernen – und dies nicht, weil Sie sie je-
derzeit nachgucken können, sondern weil sie sich in so natürlicher Weise erschließt,
sodass man sie kaum vergessen kann.
Zeichnen Sie ein Dreieck in möglichst allgemeiner Lage. Das bedeutet, dass das
Dreieck keine besonderen Eigenschaften haben soll, die in der Skizze Zusammen-
hänge vorgaukeln, die nicht für alle Dreiecke gelten. Sie zeichnen also ein Dreieck,
das keinen rechten Winkel, keine zwei oder gar drei gleich langen Seiten und auch
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 85
D. Langemann, V. Sommer, So einfach ist Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55823-2_4
86 4 Ein bisschen Geometrie
keine andere Eigenschaft hat, auf die ein äußerer Betrachter sofort aufmerksam
würde. Am besten beginnen Sie mit einem Winkel, der erkennbar kleiner als ein
rechter Winkel und dennoch größer als 60ı ist. Dann zeichnen Sie die dritte Seite
so ein, dass die Schenkel des ursprünglichen Winkels unterschiedlich weit entfernt
vom Scheitel des Winkels geschnitten werden. So erhalten Sie ein spitzwinkliges
Dreieck mit unterschiedlich großen Winkeln und Seiten.
Es ist nicht ganz leicht, ein Dreieck ohne irgendeine besondere Eigenschaft zu
zeichnen. Meist geraten die drei Seiten in etwa gleich lang. Manchmal sieht auch
eine der Ecken so aus, als läge dort ein rechter Winkel. Das ist nicht schlimm, aber
beim Nachdenken darf man den vermeintlichen Eigenschaften aus der Skizze nicht
erliegen. Sie sehen, dass wir wieder einige Vorabüberlegungen anstellen, bevor die
geometrischen Betrachtungen in Gang kommen.
Die Eckpunkte des Dreiecks bezeichnen Sie mit A, B, C . Meist wählen wir
die Reihenfolge entgegen dem Uhrzeigersinn. Diese Richtung wird mathematisch
positiver Drehsinn genannt. Der Grund dafür, dass der Drehsinn entgegen dem Uhr-
zeigersinn mathematisch positiv heißt, findet man eher in der Mechanik. So zeigt
z. B. der Drehimpuls einer Rotation in der Ebene im mathematisch positiven Dreh-
sinn nach oben, also in positive Richtung der vertikalen Achse. Aber auch innerhalb
der Mathematik erspart uns diese Konvention manch unmotiviertes Minuszeichen.
Für Sie ist der mathematisch positive Drehsinn einfach eine Festlegung, an der Sie
sich nicht zu sehr reiben sollten. Wenn Sie wollen, können Sie die Eselsbrücke ver-
wenden, dass Mathematiker sich anders herum drehen als andere Menschen.
Nach den Eckpunkten bezeichnen Sie üblicherweise die Seiten mit den Klein-
buchstaben a, b, c so, dass die Seite a dem Eckpunkt A, die Seite b dem Eckpunkt
B und die Seite c dem Eckpunkt C gegenüberliegt. Die Winkel in den Eckpunk-
ten heißen oft ˛, ˇ und , wobei ˛ aus purer Bequemlichkeit zum Eckpunkt A
gehört usw. Diesen Winkel bezeichnen wir auch mit ]BAC D ˛, wobei der mitt-
lere Buchstabe A den Scheitelpunkt und die beiden äußeren Buchstaben B und C
Punkte auf den Schenkeln des Winkels beschreiben.
Nun geht’s los. Sie zeichnen von einem der Eckpunkte – egal von welchem, aber
wir nehmen hier ohne Beschränkung der Allgemeinheit den Eckpunkt C – ein Lot.
Vorher überlegen wir kurz, ob wir die Allgemeinheit unserer Überlegungen oder,
flüssiger ausgedrückt, die Allgemeingültigkeit unserer Aussagen durch die Aus-
wahl dieses Eckpunkts wirklich nicht einschränken. Leider enthält der flüssigere
Ausdruck nicht wirklich dasselbe wie die Allgemeinheit der Überlegungen, die hier
nicht eingeschränkt werden soll.
Okay, wir tun es nicht, denn wir haben uns ein Dreieck in allgemeiner Lage
gedacht und gezeichnet. Der Eckpunkt C ist durch keine Eigenschaft aus den an-
deren herausgehoben. Er ist so gut wie jeder andere Eckpunkt. Wir notieren hinter
die Auswahl des Eckpunkts C gedanklich die Abkürzung o. B. d. A. für „ohne Be-
schränkung der Allgemeinheit“.
Das Lot vom gewählten Eckpunkt C auf die gegenüberliegende Seite c ist ei-
ne Gerade durch C , die senkrecht auf der Seite c steht. Wenn Sie tatsächlich ein
spitzwinkliges Dreieck gezeichnet haben, liegt der Fußpunkt des Lotes irgendwo
zwischen den Punkten A und B. Wenn ˛ oder ˇ ein stumpfer Winkel, also größer
4.1 Im Dreieck 87
als 90ı , ist, dann liegt dieser Fußpunkt außerhalb der Seite AB. In diesem Fall wird
die Seite c zeichnerisch verlängert. Den Fußpunkt benennen wir mit H .
Jetzt haben wir das Dreieck 4ABC in die beiden Dreiecke 4AH C und
4HBC zerlegt. Die Bezeichnung der Dreiecke haben Sie sicher intuitiv erkannt,
4 bezeichnet hier das Dreieck, danach kommen die drei Eckpunkte. Die beiden
kleinen Dreiecke haben jeweils einen rechten Winkel an ihrem Eckpunkt H . Die
Flächeninhalte von rechtwinkligen Dreiecken können wir sehr leicht berechnen,
wenn wir sie als halbe Rechtecke ansehen. Ergänzen Sie Ihre Skizze beispiels-
weise durch gestrichelte Linien um diese Rechtecke. In Ihrer Skizze sollte jetzt
ein großes gestricheltes Rechteck über der Seite AB zu sehen sein, auf dessen
gegenüberliegender Seite der Punkt C liegt. Aus purer Ordnungsliebe nennen wir
die neu hinzugekommenen Eckpunkte dieses Rechtecks im mathematisch positiven
Drehsinn D und E, sodass C auf der Seite DE liegt.
Das Dreieck 4AH C hat den halben Flächeninhalt des Rechtecks AH CE und
das Dreieck 4HBC den halben Flächeninhalt des Rechtecks HBDC , sodass der
Flächeninhalt des Dreiecks 4ABC der Hälfte der Fläche des großen Rechtecks
ABDE entspricht. Ohne Skizze wird es jetzt langsam kompliziert, aber mit den
Hilfslinien in der Skizze wird Ihnen jedes Kind diese Beobachtung bestätigen.
Und dies ist ein mathematischer Beweis. Eine mathematischer aussehende Nota-
tion würde die Klarheit lediglich formalisieren. Bezeichnen wir die Länge des Lots
H C mit hc , einem Kleinbuchstaben, weil er die Länge einer Strecke bezeichnet,
und mit dem Index c, weil es das Lot auf die Seite c ist, so erhalten wir die Fläche
des Dreiecks 4ABC als halbe Fläche des Rechtecks AH CE, und damit haben wir
die Flächenformel
1
F4ABC D c hc : (4.1)
2
Diese Formel sollte niemand auswendig lernen müssen. Auch wenn unsere Vor-
überlegungen recht lang waren, sollte die Skizze oder vielmehr das Bild vor Ihrem
inneren Auge so sehr für sich sprechen, dass die Flächenformel in Gl. 4.1 ganz
natürlich erscheint.
Schauen Sie, wie diese Überlegungen lauten, wenn der Winkel ˇ größer als 90ı
ist, und verdeutlichen Sie sich, was sich in der Argumentation ändert.
Einen anderen Weg beschreiten Sie, wenn Sie das Dreieck 4ABC um 180ı
drehen und das gedrehte Dreieck dann so verschieben, dass das verlagerte Dreieck
4A0 B 0 C 0 mit den verschobenen Eckpunkten A0 , B 0 und C 0 an seiner Seite B 0 C 0
mit der Seite BC zusammenklebt. Punkt B 0 liegt jetzt auf C und C 0 auf B. Ein
Blick auf die entstehende Gesamtfigur lässt hoffentlich keinen Zweifel daran, dass
ABA0 C ein Parallelogramm ist, dass also AB und A0 B 0 D A0 C parallel sind. Da
wir schon geübt sind, erkennen wir, dass das Parallelogramm ABA0 C denselben
Flächeninhalt wie das Rechteck ABDE hat. So kommen wir ebenfalls zu Gl. 4.1.
Eine andere schöne Überlegung führt uns zur Winkelsumme im Dreieck. Be-
trachten Sie die Skizze mit dem gestrichelten Rechteck. Das Dreieck 4AH C sieht
genauso aus wie das Dreieck 4CEA, es ist nur gedreht und je nachdem, um wel-
chen Punkt Sie gedreht haben, zusätzlich verschoben. Der Winkel ˛ aus dem Drei-
eck 4AH C taucht als Winkel beim Eckpunkt C im Dreieck 4CEA wieder auf.
88 4 Ein bisschen Geometrie
Zeichnen Sie ihn ein. So finden Sie beim Punkt C die drei Winkel ˛ D ]ECA,
D ]ACB und ˇ D ]BCD, und alle zusammen ergeben den gestreckten Win-
kel, nämlich die Gerade ED auf der C als Scheitel des gestreckten Winkels liegt.
Wir haben damit die Winkelsumme
˛ C ˇ C D 180ı (4.2)
für jedes Dreieck nachgewiesen. Nebenbei bemerkt, ist der Winkel ]ECD im all-
täglichen Sprachgebrauch natürlich kein Winkel, sondern eine Gerade mit Punkten
darauf. Innerhalb der Mathematik wurde dieser entartete Fall mit dem Namen „ge-
streckter Winkel“ belegt, sodass Argumentationen über Winkel diesen seltsamen
Fall des gestreckten Winkels, der wie eine Gerade aussieht, einbeziehen.
Wir tun an dieser Stelle gut daran, uns zu vergegenwärtigen, dass wir mit ei-
nem Dreieck ein ebenes Dreieck gemeint haben. Bewegen wir uns auf einer Kugel,
so gilt die Winkelsumme aus Gl. 4.2 nicht. Denken Sie an zwei Punkte auf dem
Äquator der Erde. Jeweils senkrecht zum Äquator geht es in Richtung Nordpol.
Das Dreieck aus den beiden äquatorialen Punkten und dem Nordpol hat also sicher
eine Winkelsumme, die größer als 180ı ist. Wir können uns auch vorstellen, dass
wir ein Gummidreieck verbiegen, wodurch sich die Winkel ändern. Damit haben
wir uns ins Bewusstsein gerufen, dass wir bei allen mathematischen Aussagen die
möglicherweise versteckten Voraussetzungen – wie hier die Voraussetzung, dass es
sich um ein Dreieck in der Ebene handelt – kennen und berücksichtigen müssen.
Es gibt noch viele andere schöne Eigenschaften von Dreiecken. Manche sind,
anders als die bis jetzt angesprochenen, nicht intuitiv ersichtlich, sondern erklären
sich auf überraschende Weise aus dem Zusammenspiel einfacher Überlegungen.
Solche Eigenschaften finden Mathematikerinnen und Mathematiker schön.
Dieser Abschnitt enthält absichtlich keine Skizze, weil Sie – ja genau, Sie selbst
– diese Skizze machen sollen. Mathematik ist etwas zum Selbermachen. Mathema-
tik nur anzuschauen, verhält sich zur Mathematik wie Sportschaugucken zum Sport.
Vom Zugucken wird man nicht sportlich.
Fast jeder glaubt, den Satz des Pythagoras zu kennen. Fernsehmoderatoren und ganz
normale Menschen, die dem Stichwort Mathematik begegnen, sagen Sachen wie:
„Mathematik, hä? Also ich weiß noch
a2 C b 2 D c 2 ; (4.3)
Pythagoras, oder so. Hihi.“ So gesehen, ist Gl. 4.3 die wohl bekannteste mathe-
matische Formel. Noch populärer ist wahrscheinlich nur die Formel E D mc 2
zusammen mit dem struwweligen Albert Einstein. Spielverderberisch merken wir
an, dass in der zweiten Formel ein anderes c vorliegt und dass beide Formeln ohne
Benennung der auftauchenden Größen allenfalls hübsche Ornamente sind.
4.2 Pythagoras & Co. 89
Natürlich ist Gl. 4.3 nicht der Satz des Pythagoras. Dort steht nur eine Beziehung
zwischen drei Größen a, b und c. Erst wenn man diese Größen als Seiten eines
rechtwinkligen Dreiecks anspricht, wird daraus der Satz des Pythagoras: In einem
rechtwinkligen Dreieck gilt für die Seitenlängen a, b und c die Beziehung in Gl. 4.3.
Vielleicht fällt Ihnen auf, dass wir nicht gesagt haben, welche der Größen a, b
und c zu welcher Seite gehört. Nun ergibt sich aber, dass es wegen der Winkelsum-
me (Gl. 4.2) nur einen rechten Winkel in einem Dreieck geben kann und dass zu
diesem rechten Winkel die längste Seite, also die Seite c in Gl. 4.3, gehört. Verdeut-
lichen Sie sich, dass Seitenlängen immer größer null sind und dass deshalb c > a
und c > b in Gl. 4.3 gilt.
Die anderen beiden Seiten, also die am rechten Winkel anliegenden Seiten, sind
a und b. Da wir diese beiden Seiten in der Beschreibung nicht unterscheiden und
wir die beiden Größen auch in Gl. 4.3 vertauschen können, ohne die Beziehung zu
ändern, brauchen wir sie nicht näher zuzuordnen. Die Seite c heißt Hypotenuse. Die
beiden am rechten Winkel anliegenden Seiten heißen Katheten.
Implizit haben wie in Abschn. 4.1 vorausgesetzt, dass es sich um ein ebenes
Dreieck handelt. Im Begriff Dreieck steckt schon drin, dass es eben ist. Wir benut-
zen, ohne es wirklich auszusprechen, bei der Formulierung des Satzes von Pytha-
goras wieder, dass mit einem Dreieck immer ein ebenes Dreieck gemeint ist. Wir
müssten also ausdrücklich klarstellen, wenn wir in anderem Zusammenhang Drei-
ecke auf gekrümmten Oberflächen wie beispielsweise auf der Erdkugel betrachten.
Dort gilt der Satz von Pythagoras nicht.
Den Satz des Pythagoras kann man als Werkzeug benutzen, wenn man in ei-
nem rechtwinkligen Dreieck etwas ausrechnen will. Er wirkt dann wie ein Rezept,
und vielleicht ist die große Bekanntheit dieses Satzes auf seine rezeptartige Ver-
fügbarkeit zurückzuführen. Trotzdem wollen wir uns an einem Beweis versuchen.
Nun sagen einige Mathematiklernende, dass sie nur die Fakten erfahren und auf
die Beweise verzichten wollen (Abschn. 2.9). Wir beweisen hier dennoch den Satz
des Pythagoras, weil wir während des Beweises auf einige interessante Konzepte
stoßen, weil wir damit einiges über die Geometrie erfahren und weil der Satz des
Pythagoras der erste grundlegende Zusammenhang in diesem Buch ist, den man
nicht durch interessiertes Draufschauen erraten und sofort begründen kann. Zumin-
dest ist er längst nicht so evident wie die Flächenformel des Dreiecks in Gl. 4.1.
Wenn wir uns für einen Moment auf die Vorstellung einlassen, dass wir den
Satz des Pythagoras nicht in- und auswendig kennen, dann sehen wir in Gl. 4.3
die Quadrate von Seitenlängen, die die Einheit Quadratmeter haben, also Flächen-
inhalte repräsentieren. Wenn wir allerdings die Quadrate über den Seitenlängen
einzeichnen, wie es sicher in Ihrem Mathematikbuch abgebildet war, so sieht man
– eigentlich nichts. Zumindest erkennt man nicht sofort einen brauchbaren Grund,
warum die beiden kleineren Quadrate über den Katheten zusammen so groß wie
das größere Quadrat über der Hypotenuse sein sollen.
Im Unterricht wird der Satz des Pythagoras häufig mithilfe eines Quadrats der
Kantenlänge a C b bewiesen. Von jeder Ecke beginnend wird entgegen dem Uhr-
zeigersinn, d. h. im mathematisch positiven Drehsinn, die Länge a abgetragen. Die
vier so konstruierten Punkte auf den Seiten liegen auf einem Quadrat der Kanten-
90 4 Ein bisschen Geometrie
β α
b a
α M β
A q H p B
Abb. 4.1 Schaubild zur Satzgruppe des Pythagoras. Rechte Winkel im Eckpunkt C mit ˛ C ˇ D
90ı und beim Lotfuß H . Strecken CA D b, BC D a, CH D h, AH D q, HB D p,
AB D c D p C q. Die Dreiecke 4ABC , 4CHB, 4AH C haben identische Winkel und ge-
hen durch Streckung, Stauchung, Drehung und Verschiebung auseinander hervor. Die Verhältnisse
der entsprechenden Seiten bleiben erhalten
länge c, dessen Ecken auf dem ursprünglichen Quadrat liegen. Der Flächeninhalt
des äußeren Quadrats ergibt sich nun einerseits als F D .a C b/2 und andererseits
als Summe der Flächeninhalte des inneren Quadrats und der vier rechtwinkligen
Dreiecke an den Ecken, also als F D c 2 C 2ab. Zeichen Sie das bitte auf, setzen
Sie beide Terme gleich, und Sie erhalten nach Anwendung der binomischen Formel
die Beziehung in Gl. 4.3. Da die Längen a und b ohne jede Einschränkung gewählt
wurden, ist der Satz des Pythagoras damit bewiesen.
Hier folgt ein anderer, schönerer Beweis, der auf seinem Weg mehr geometrische
Gedanken aufgreift. Wir zeichnen zuerst ein rechtwinkliges Dreieck in allgemeiner
Lage, d. h. es ist rechtwinklig, hat aber sonst keine speziellen Eigenschaften. Wir
legen den rechten Winkel an den Punkt C , damit die Seite c wirklich die längste ist.
Eine allgemeine Lage sehen Sie beispielsweise in Abb. 4.1. Nicht allgemein wäre
eine Skizze, in der die Katheten a und b gleich lang erscheinen, denn solch eine
Zusatzeigenschaft dürfen wir nicht verwenden.
Ganz wie in Abschn. 4.1 zeichnen wir von C das Lot auf die Seite c und nennen
seinen Fußpunkt H sowie seine Länge h. Dies ist die Höhe des Dreiecks über der
Seite c, und häufig spricht man auch das Lot selbst als Höhe an. Wir bezeichnen
nun die Längen der Hypotenusenabschnitte mit AH D q und HB D p. Offenbar
sind sie zusammen c D p C q so lang wie die Hypotenuse.
Durch das Lot haben wir das ursprüngliche Dreieck 4ABC in die beiden klei-
neren Dreiecke 4CHB und 4AH C unterteilt. Jedes der drei Dreiecke enthält
einen rechten Winkel. Außerdem haben 4ABC und 4CHB den gemeinsamen
Winkel ˇ D ]ABC , und die Dreiecke 4ABC und 4AH C stimmen im Winkel
˛ D ]CBA überein. Wegen Gl. 4.2 stimmen die drei Dreiecke also in allen drei
Winkeln überein. Die wiederkehrenden Winkel sind in Abb. 4.1 insbesondere an
der Ecke C dargestellt.
Die drei Dreiecke 4ABC , 4CHB und 4AH C sehen also gleich aus und sind
nur unterschiedlich groß. Sie gehen durch Streckung und Stauchung auseinander
hervor, wobei Sie sie noch drehen und verschieben müssen, um sie wirklich aufein-
ander abzubilden. Solche Dreiecke nennt man ähnlich.
4.2 Pythagoras & Co. 91
Selbst wenn wir uns keine weiteren Gedanken über die Ähnlichkeit von Drei-
ecken machen, so bemerken wir doch, dass sich die Verhältnisse der Seiten zueinan-
der beim Strecken und Stauchen nicht ändern. Beispielsweise sind in den Dreiecken
4ABC und 4AH C die Verhältnisse der kurzen Kathete – oder schöner formuliert,
der am Winkel ˇ anliegenden Kathete – zur Hypotenuse gleich groß. Es gilt also
p a q b
D und analog D
a c b c
für das andere kleinere Dreieck 4CHB. Nach Multiplikation mit den Nennern er-
halten wir daraus die als Kathetensätze bezeichneten Beziehungen
cp D a2 und cq D b 2 : (4.4)
Fast aus dem Nichts sind Quadrate aufgetaucht, die im Satz des Pythagoras ge-
braucht werden. In der Tat ergibt sich aus der Addition der beiden Gleichheiten in
Gl. 4.4 der Zusammenhang a2 C b 2 D cp C cq D c.p C q/ D c c und damit
die Beziehung in Gl. 4.3, womit wir auch auf diesem Weg den Satz des Pythagoras
bewiesen haben.
Wenn man die Hypotenusenabschnitte miteinander multipliziert, folgt aus
Gl. 4.4 noch ein schöner Satz, nämlich
2
a2 b 2 ab
pq D D D h2 ; (4.5)
c c c
welcher als Höhensatz von Euklid oder einfach als Höhensatz bezeichnet wird. In
Gl. 4.5 haben wir beim ersten Gleichheitszeichen die Kathetensätze leicht umge-
stellt und eingesetzt, dann die Potenzen umgeformt (Abschn. 3.9) und schließlich
mit ch D ab verwendet, dass wir den Flächeninhalt des Dreiecks als halbes Produkt
von Grundseite und Höhe auf unterschiedliche Arten ausrechnen können, nämlich
einerseits mit der Grundseite c und der Höhe h und andererseits mit der Grundsei-
te a und der zugehörigen Höhe b.
Damit haben wir mit dem Satz des Pythagoras selbst, mit den Kathetensätzen
und mit dem Höhensatz die Satzfamilie des Pythagoras zusammengetragen und be-
wiesen.
Schließlich können wir mit diesen Methoden noch einen weiteren klassischen
Satz der Geometrie nachweisen. Der Satz des Thales besagt nämlich, dass ein Punkt
C genau dann auf dem Kreis über dem Durchmesser AB liegt, wenn ]ACB ein
rechter Winkel ist. In unserer Betrachtung liegt beim Eckpunkt C ein rechter Win-
kel. Wir rechnen nach, dass er auch auf dem Kreis über dem Durchmesser liegt,
indem wir den Abstand von C und dem Mittelpunkt M zwischen A und B ausrech-
nen.
In dem rechtwinkligen Dreieck 4MH C gilt natürlich auch der Satz des Pytha-
goras, und wegen MH D AH AM gilt
2
c 2 c2
M C D h2 C q D h2 C q 2 cq C :
2 4
92 4 Ein bisschen Geometrie
Nun wenden wir die Beziehungen aus der Satzfamilie des Pythagoras an. Der Ka-
thetensatz in Gl. 4.4 liefert cq D b 2 , und der Satz des Pythagoras im Dreieck
4AH C lautet b 2 D h2 C q 2 . Damit ist der Abstand von M und C genau halb
so lang wie die Hypotenuse c, und die Punkte A, B und C haben von M alle drei
den Abstand c2 . Sie liegen somit auf einem Kreis um M mit dem Radius c2 , und wir
haben gezeigt, dass daraus, dass das Dreieck 4ABC beim Punkt C einen rechten
Winkel hat, folgt, dass der Punkt C auf dem Halbkreis über der Hypotenuse AB
liegt.
Uns bleibt zu zeigen, dass umgekehrt der Winkel ]ACB für jeden Punkt C
auf dem Halbkreis über AB ein rechter Winkel ist. Dazu schauen wir in Abb. 4.1,
und betrachten auf dem eingezeichneten Halbkreis über AB einen Punkt C , vom
dem wir darüber hinaus nichts voraussetzen. Insbesondere dürfen wir nicht ver-
wenden, dass das Dreieck 4ABC an diesem Punkt einen rechten Winkel hat, denn
genau das wollen wir beweisen. Der Mittelpunkt der Strecke AB sei wie bisher M .
Unabhängig von der speziellen Lage des Punktes C auf dem Halbkreis sind die
Radien AM , CM und BM gleich lang. Also sind die beiden Dreiecke 4AM C
und 4MBC gleichschenklig. Die beiden Winkel an der Basis jedes gleichschenk-
ligen Dreiecks sind einander gleich, und wir haben ]MAC D ]ACM D ˛ im
Dreieck 4AM C sowie ]CBM D ]M CB D ˇ im Dreieck 4MBC . Damit
finden wir ]ACB D ]ACM C ]M CB D ˛ C ˇ. Da die Winkelsumme im Drei-
eck 4ABC wie in jedem Dreieck 180ı D ]ACB C ˛ C ˇ beträgt, haben wir
]ACB D ˛ C ˇ D 90ı nachgewiesen.
Wenn also C auf dem Halbkreis liegt, dann ist ]ACB ein rechter Winkel. Falls
– in einem anderen Dreieck – also ]ACB kein rechter Winkel ist, so liegt C auch
nicht auf dem Halbkreis.
Weiter oben haben wir folgende Aussage gezeigt: Wenn ]ACB ein rechter Win-
kel ist, dann liegt C auf dem Halbkreis. Das heißt, dass, falls C nicht auf dem
Halbkreis liegt, der Winkel ]ACB auch kein rechter Winkel sein kann.
Damit haben wir den Satz des Thales mit der Formulierung „genau dann, wenn“
bewiesen. Die Aussagen, dass C auf dem Halbkreis liegt, und dass ]ACB ein
rechter Winkel ist, treffen beide gleichzeitig zu oder gleichzeitig nicht zu.
Aussagen dieser Stärke werden Äquivalenzen genannt und sagen von zwei Ei-
genschaften, dass sie entweder gemeinsam auftreten oder gemeinsam nicht auftre-
ten. Sie kommen im Alltagsleben selten vor. Meistens enthalten sie dort Zusammen-
hänge, die wir als banal empfinden. Die natürliche Sprache hat wenig Verwendung
für Zwillingsaussagen und erschafft lieber ein gemeinsames Wort für beide Zwil-
linge. In der Mathematik findet man Äquivalenzaussagen häufiger. Suchen Sie nach
Beispielen für mathematische und alltägliche Äquivalenzaussagen.
Betrachten wir einen Kreis mit dem Radius r. Sein Durchmesser d D 2r ist dop-
pelt so groß wie der Radius. Wenn wir uns fragen, wie lang der Umfang u dieses
Kreises ist, so stellen wir zuerst fest, dass sich unterschiedlich große Kreise mit
4.3 Kreis, Bogenmaß und Prozentrechnung 93
u D d D 2 r; (4.6)
weil der Durchmesser doppelt so groß wie der Radius ist. Manche sagen, sie könn-
ten sich nicht merken, in welcher der beiden Formeln u D d und u D 2 r die
Zwei steht und in welcher nicht. Sicher verstehen Sie, dass dies für jeden Lehrenden
eine Stelle zum Haareraufen ist (Abschn. 1.2), denn jeder, der die Begriffe Durch-
messer und Radius kennt, kann über die Stellung der Zwei in den Umfangsformeln
keinen Zweifel haben.
Auch sieht man in einer Skizze oder vor seinem geistigen Auge, dass ein Wande-
rer, der die gesamte Kreislinie entlangwandert, einen weiteren Weg hat als jemand,
der auf dem Durchmesser einmal hin und zurück geht. Der Weg ist weiter, wenn
auch nicht viel weiter. Und wenn man nun noch weiß, dass D 3:1415 : : : ist, was
viele wissen, dann kann man sich Gl. 4.6 jederzeit rekonstruieren. Wir hatten schon
in Abschn. 3.6 angesprochen, dass nicht durch seine Ziffernfolge, sondern als
Proportionalitätsfaktor zwischen Umfang und Durchmesser definiert wird.
Selbst für die Fläche brauchen wir uns keine Formel zu merken. Denken Sie sich
beispielsweise ein regelmäßiges Vieleck mit Eckpunkten auf dem Kreis, wie Sie es
in Abschn. 3.2 konstruiert haben. Wenn Sie die Eckenzahl des regelmäßigen Viel-
ecks immer weiter vergrößern, so schmiegt sich das Vieleck immer näher an den
Kreis. Seine Seiten werden immer zahlreicher und gleichzeitig kürzer. Über jeder
Seite denken Sie sich ein Dreieck bis zum Mittelpunkt des Kreises, dessen Höhe
sich bei der Vergrößerung der Eckenzahl dem Radius des Kreises immer mehr an-
nähert. Im Grenzübergang für immer mehr Ecken und schließlich quasi unendlich
viele Ecken entstehen unendlich viele unendlich schmale Dreiecke der Höhe h D r.
Die Fläche des Vielecks ist die Summe der vielen Dreiecksflächen (Gl. 4.1). Sie nä-
hert sich für eine wachsende Eckenzahl im Grenzübergang der Fläche des Kreises.
Auf diese Überlegung werden wir in Abschn. 5.6 bei der Integration zurückkom-
men. Schon hier können wir die Fläche des Kreises mit
1
F D r u D r2 (4.7)
2
angeben. Es ist also nur auf den ersten Blick erstaunlich, dass in Gl. 4.6 für den
Kreisumfang und in Gl. 4.7 für den Flächeninhalt des Kreises mit derselbe Pro-
portionalitätsfaktor auftaucht.
94 4 Ein bisschen Geometrie
Das Quadrat des Radius in der Flächenformel in Gl. 4.7 ist keine Schikane der
Mathematik, sondern es hilft und informiert uns. Der Flächeninhalt wird in der
Einheit Quadratmeter gemessen, also muss eine Länge mit der Einheit Meter mit
einer Länge mit der Einheit Meter multipliziert werden, damit die Einheiten stim-
men. Hier wird der Radius mit sich selbst multipliziert. Außerdem verrät Ihnen das
Quadrat, dass der Flächeninhalt sich bei Verdopplung des Radius vervierfacht. Sie
erkennen diesen Zusammenhang schnell für Quadrate, von denen Sie vier brauchen,
um eines mit doppelter Seitenlänge zusammenzustellen, was dann viermal so groß
wie das ursprüngliche Quadrat ist. Nach einer kurzen Überlegung bemerken Sie,
dass dieser quadratische Zusammenhang für jedes flächige Gebilde gelten muss.
Versuchen Sie, ihn formal korrekt zu formulieren.
Jetzt beschäftigen wir uns mit einem neuen Maß für den Winkel, nämlich dem
Bogenmaß. Manche Studierende empfinden das Bogenmaß als einen persönlichen
Angriff, weil sie die Vermessung von Winkeln in der Gradskale kennen und nut-
zen. Sie erklären frank und frei, man brauche das Bogenmaß nicht und es sei nur
unverständlicher mathematischer Kram. Das ist etwas zu viel der Emotion für eine
so kleine Sache wie das Bogenmaß, das den altbekannten Winkel in einer etwas
anderen Weise misst und ansonsten ganz harmlos ist.
Wir betrachten einen Kreis vom Radius r D 1, auch Einheitskreis genannt, und
einen Winkel mit dem Scheitel im Mittelpunkt des Kreises. Der Winkel schnei-
det aus der Kreislinie einen Abschnitt heraus, den wir Kreisbogen nennen. Wenn
wir uns vorstellen, dass der Winkel größer wird, so wird auch der Kreisbogen län-
ger und zwar proportional zur Größe des Winkels. Wir können also die Länge des
Kreisbogens benutzen, um die Größe des Winkels anzugeben. Ein rechter Winkel,
der sich bekanntermaßen mit 90ı bemisst, wird ebenso genau durch einen Viertel-
kreis beschrieben. Auf dem Zifferblatt der Uhr könnten wir den rechten Winkel mit
15 Zeitminuten bemessen. Tatsächlich verwendet man beim Segeln den Ausdruck,
dass der Konkurrent in einer Regatta beispielsweise „auf elf Uhr“ sei.
Der volle Winkel, also eine ganze Umdrehung, sind 360ı in der Winkelgrad-
skale, u D 2 als Länge des Umfangs des Einheitskreises oder 60 Zeitminuten auf
dem Zifferblatt. Die Größe eines Winkels ˛ messen wir jeweils mit seinem Anteil
am vollen Winkel. Der rechte Winkel ist ein Viertel davon. Mit gewissem Recht
können wir also
90ı D D 15 Zeitminuten
2
schreiben. Diese Gleichheit ist exakt, wenn wir das Gradzeichen und die Zeitminu-
ten als Einheiten auffassen, die wir in die Länge des Kreisbogens umrechnen.
Auf den ersten Blick sollte das Bogenmaß eine Längeneinheit haben. Für viele
Anwendungen erweist es sich jedoch als einfacher, auf die Einheit zu verzichten.
Auch hat der Umfang des Einheitskreises gemäß Gl. 4.6 die Größe u D 2 und
nicht 2 Meter, weil der Radius 1 und nicht ein Meter ist. Wir rechnen also in einer
gedachten Einheit, für die wir alles, z. B. Meter, Millimeter oder Meilen, einsetzen
dürfen. Die Einheiten verschwinden auch dann, wenn man das Bogenmaß als das
Verhältnis der Länge des Kreisbogens zum Radius auffasst. In diesem Fall ist die
Definition des Bogenmaßes von der Größe des verwendeten Kreises unabhängig.
4.3 Kreis, Bogenmaß und Prozentrechnung 95
100 für die Prozentangabe umgerechnet. Die Prozentrechnung ist so einfach, dass
schlaue mittelalterliche Händler ohne Gymnasialausbildung sie entwickeln und so-
gar weniger schlaue mittelalterliche Händler sie anwenden konnten.
Die einzige Schwierigkeit der Prozentrechnung liegt im Nachdenken, nicht im
Rechnen. Käufer in Deutschland zahlen 19 % Mehrwertsteuer auf den Nettopreis.
Ein Ding für 200 Euro netto kostet im Laden also 200 C 38 D 238 Euro. Wenn man
von diesem Bruttopreis wieder den Nettopreis ausrechnet, ist das Ergebnis wieder
200 Euro. Dies gelingt spielend, wenn man die 238 Euro als 100 %C19 % D 119 %
ansetzt, denn man bezahlt schließlich die Summe aus Nettopreis und Mehrwertsteu-
er. In Formeln entsteht
238 Euro x
D mit x D 200 Euro:
119 % 100 %
Es hat also geklappt, und das Ergebnis hat sinnvollerweise die Einheit Euro. Pro-
zentrechnung ist im Grunde so einfach, dass man sie schon auf Abiturniveau nicht
näher erklären kann. Da hilft nur Nachdenken.
4.4 Vektoren
In diesem Abschnitt beschäftigen wir uns mit Vektoren in der Geometrie, und wir
werden sehen, dass die Verwendung von Vektoren ganz ungewohnte Zugänge zu
geometrischen Fragestellungen ermöglicht.
Es ist schwierig, genau zu sagen, was ein Vektor ist. Natürlich gibt es eine ma-
thematische Definition. Die ist allerdings so, als wollte man Kunst damit definieren,
dass Kunst alles das ist, was wie Kunst behandelt werden kann. So definiert man
Vektoren. Man legt zuerst fest, was man mit Vektoren machen möchte, nämlich, sie
zueinander zu addieren und jeden mit jeder reellen Zahl zu multiplizieren. Dabei
sollen sich beide Rechenoperationen sinnvoll verhalten, d. h. genau so, wie man
es in Analogie zur Rechnung mit Zahlen erwartet. Reelle Zahlen heißen übrigens
in Abgrenzung zu Vektoren Skalare, weil sie sich auf einer Skale, also einem
Zahlenstrahl, anordnen lassen. Eine Struktur, in der man nun Objekte addieren
und mit Skalaren multiplizieren kann und in der sich diese Rechenoperationen
sinnvoll verhalten, heißt Vektorraum. Vektoren sind schließlich Elemente eines
Vektorraums, also die Objekte, die man addieren und mit Skalaren multiplizieren
kann. Das klappt ganz unabhängig davon, was diese Objekte wirklich sind oder zu
sein scheinen. Es ist wie bei der obigen Definition der Kunst. Dinge, die sich so
verhalten, wie wir uns Vektoren vorstellen, bilden einen Vektorraum, und dessen
Elemente heißen Vektoren.
Diese enorm sperrige und für jegliche Anwendung nahezu unbrauchbare mathe-
matische Definition zieht ihre Berechtigung aus der Vielfalt der Möglichkeiten, was
alles ein Vektor sein kann und was man alles mit Vektoren beschreiben kann. Die
Vielfalt war auch der Grund, warum Ihre Mathematiklehrerin oder Ihr Mathema-
tiklehrer bei der Einführung von Vektoren so lange über Mengen von Richtungen,
4.4 Vektoren 97
x
2
E
D a+b
b
b
a F
O
x
1
−b a−b
G
der Punkte, die nun als Komponenten der Vektoren angesprochen werden. Sehen
Sie sich
! ! ! !
a1 b1 a 1 C b1 a1
aD ; bD mit a C b D ; a D
a2 b2 a 2 C b2 a2
an. Die Addition von Vektoren ist als Addition der Komponenten erklärt, und die
Multiplikation eines Vektors mit einem Skalar als Multiplikation der Kompo-
nenten mit diesem Skalar. In diesem Fall können wir die Rechenoperationen mit
der Zusammenfassung der Komponenten zu einem Vektor vertauschen. Diese Ver-
tauschbarkeit erscheint vielleicht etwas banal, doch aus der Erfahrung heraus, dass
die meisten mathematischen Handlungen nicht miteinander vertauschbar sind, wol-
len wir darauf hinweisen.
Die beiden Komponenten unserer Vektoren können als Koordinaten in einem
ebenen Koordinatensystem interpretiert werden. Das ist aber nicht obligatorisch.
Vektorrechnung kann ganz ohne Interpretation geschehen, doch erst eine Anschau-
ung erlaubt es, kreativ über Vektoren nachzudenken. In der Physik und in der Me-
chanik werden Vektoren gern als Kräfte oder Geschwindigkeiten interpretiert. Jede
Anschauung ist hilfreich und nützlich.
Betrachten wir als Beispiel alle Vektoren der Form
! !
1 1
x D a C b mit a D ; bD für 2 R; (4.9)
1 2
in der der Skalar jede reelle Zahl als Wert annehmen kann. Wir sagen, dass alle
reellen Zahlen durchläuft. Wenn wir uns fragen, welche Vektoren x in Gl. 4.9 für
unterschiedliche möglich sind, so interpretieren wir diese Gleichung am besten
geometrisch. Der Cursor wandert, im Ursprung startend, zum Punkt a und hat nun
die Möglichkeit, seine Wanderung beliebig weit in Richtung des Vektors b fort-
zusetzen. Deshalb wird a auch Punktvektor und b Richtungsvektor genannt. Der
geometrische Ort aller x ist somit eine Gerade durch den Punkt a in Richtung b.
Nun setzt man unterschiedliche k für ein und erhält unterschiedliche Punkte
oder Vektoren xk . So liefern 1 D 0, 2 D 1 und 3 D 1 die Vektoren
! ! ! !
1 2 0 1C
x1 D ; x2 D ; x3 D und allgemeiner x D :
1 3 1 1 C 2
Die allgemeine Darstellung ist etwas merkwürdig, denn dem Parameter sind
Punkte in der Ebene mit den Koordinaten x1 D 1 C und x2 D 1 C 2 zuge-
ordnet. Man erkennt auch aus dieser Darstellung, um welche geometrische Figur
es sich handelt, wenn man D x1 1 in die zweite Komponente einsetzt und so
x2 D 1 C 2.x1 1/ D 2x1 1 erhält. Gl. 4.9 liefert also alle Punkte .x1 ; x2 /, die
die Gleichung x2 D 2x1 1 erfüllen. Prüfen Sie dies in Ihrer Skizze, die Sie schon
nebenbei begonnen haben. Die Gleichung x2 D 2x1 1 beschreibt also eine Gerade
im .x1 ; x2 /-Koordinatensystem (Abschn. 5.2.2).
4.4 Vektoren 99
In Abschn. 3.3.1 haben wir den absoluten Betrag einer reellen Zahl eingeführt,
und in Abschn. 3.3.2 haben wir den absoluten Betrag als Abstand einer Zahl von der
Null interpretiert. Da liegt es nun nahe, den Betrag eines Vektors auch als Abstand
von der Null, also vom Ursprung O, zu definieren. Sei nun ein Vektor x in der Ebene
durch einen Punkt mit den Koordinaten x1 und x2 dargestellt. Vom Punkt .x1 ; x2 /
erreicht man O D .0; 0/ über .x1 ; 0/ und schlägt in diesem Punkt einen rechten
Winkel. Ein rechter Winkel schreit sofort nach dem Satz des Pythagoras, denn die
drei Punkte .0; 0/, .x1 ; 0/ und .x1 ; x2 / bilden ein rechtwinkliges Dreieck, sodass
ein Vektor der Form
! q
x1
xD den Betrag jxj D x12 C x22
x2
und wird in Abb. 4.2 bewiesen. Das einzige Geheimnis ist, dass die Norm k k einen
Abstand zur Null bezeichnet. Okay, das ist sehr knapp dargelegt, aber auch diese
Form der Dreiecksungleichung besagt, dass der Weg kürzer als der Umweg ist. Und
das ist schon alles.
Nach dieser Argumentation erkennen wir, dass wir den Abstand zweier Punkte x
und y erhalten, wenn wir in einem neuen Koordinatensystem den Ursprung in x le-
gen und den Abstand des Punkts y, der in diesem neuen Koordinatensystem andere
Koordinaten hat, die wir mit y0 bezeichnen, von dem neuen Nullpunkt betrachten.
Verdeutlichen Sie sich an einer Skizze oder an einer Interpretation von Abb. 4.2,
dass y0 D y x gilt. Dort könnten Sie F als x und E als y interpretieren. Der
Abstand EF ergibt sich als Länge der Differenz der Vektoren. Wir erhalten für den
Abstand von x und y den Ausdruck
p
ky xk D .y1 x1 /2 C .y2 x2 /2 ;
100 4 Ein bisschen Geometrie
wozu Sie in einer Skizze mit eingezeichneten Loten von x und y auf die Koordina-
tenachsen das passende rechtwinklige Dreieck finden.
Bis hierhin haben wir uns damit beschäftigt, Vektoren zu addieren und sie mit
Skalaren zu multiplizieren. Jetzt wollen wir uns mit der Frage beschäftigen, wie wir
zwei Vektoren ansehen, dass sie senkrecht aufeinanderstehen. Abb. 4.3 zeigt Ihnen
die beiden Vektoren
! !
x1 y1 x2 y1
xD und y D mit D ;
x2 y2 x1 y2
wobei sich die Verhältnisgleichung aus der Ähnlichkeit der eingezeichneten Drei-
ecke unter Beachtung von y1 < 0 ergibt. Eine Multiplikation mit dem Term x1 y2
auf beiden Seiten der Verhältnisgleichung zeigt, dass die Vektoren x und y genau
dann senkrecht aufeinanderstehen, wenn x1 y1 C x2 y2 D 0 gilt.
Diesen Ausdruck nennen wir das Skalarprodukt
x y D x1 y1 C x2 y2 (4.10)
der beiden Vektoren. Das Skalarprodukt ist ein Skalar und kein Vektor. Es ist an-
ders veranlagt als das Produkt ganzer Zahlen, das wieder eine ganze Zahl ist. Aus
diesem Blickwinkel ist das Skalarprodukt seltsam und letztlich kein richtiges Pro-
dukt. Deshalb darf der Punkt zwischen den Vektoren beim Skalarprodukt in Gl. 4.10
nicht weggelassen werden. Der Name Skalarprodukt deutet darauf hin, dass es noch
andere produktartige Operationen mit zwei Vektoren gibt.
Wir formulieren unsere Erkenntnis über die Orthogonalität, d. h. darüber, dass
die beiden Vektoren orthogonal, also rechtwinklig, zueinander sind, jetzt als mathe-
matischen Satz. Dieser lautet: Zwei Vektoren x und y sind genau dann orthogonal
zueinander, wenn das Skalarprodukt x y D 0 erfüllt. In zwei Dimensionen haben
wir diesen Satz bereits bewiesen. Den Beweis in höheren Dimensionen bleiben wir
hier schuldig. Versuchen Sie es selbst.
4.4 Vektoren 101
Hier kommen noch zwei nützliche Eigenschaften. Zuerst bemerken wir, dass
x x D x12 C x22 D kxk2 für jeden Vektor x gilt. Dann betrachten wir das Skalar-
produkt paralleler Vektoren. Wenn x und y parallel sind, also in dieselbe Richtung
zeigen, so ist der eine ein Vielfaches von dem anderen, z. B. y D x mit einem
Skalar 2 R. Man rechnet sehr leicht nach, dass in diesem Fall x y D kxk2 D
kxk kyk gilt. Schon mit diesen wenigen Eigenschaften können wir viele geometri-
sche Sätze recht elegant beweisen.
Nehmen wir z. B. den Satz des Pythagoras. Schauen Sie sich noch einmal
Abb. 4.1 an. Wir legen den Ursprung des Koordinatensystems in den Punkt C . Von
dort geht der Vektor a entlang der Seite a zum Punkt B und der Vektor b entlang
b zum Punkt A. Die Bezeichnung, die eben noch wunderbar konsistent erschien,
gerät damit leider etwas durcheinander. Die Längen der Vektoren sind kak D a
und kbk D b, und die Voraussetzung des Satzes von Pythagoras sagt, dass a und b
senkrecht aufeinanderstehen, dass also a b D 0 gilt.
Die Seite c entspricht nun dem Vektor c D b a, und sie hat die Länge kck D c.
In Anlehnung an die binomische Formel gilt
c 2 D kck2 D c c D .b a/ .b a/ D b b a b b a C a a
c 2 D b b a b b a C a a D kbk2 C kak2 D a2 C b 2
und damit der Satz des Pythagoras (Gl. 4.3). Dies erscheint vielleicht nicht als
großes Kunstwerk, weil wir den Satz des Pythagoras schon zur Festlegung des Be-
trags benutzt haben. Der Beweis klappt aber auch, wenn wir das Skalarprodukt
anders und ohne Verwendung des Satzes von Pythagoras erklären.
Setzen wir den Hypotenusenabschnitt p mit dem Vektor p D c mit einem
noch unbekannten Faktor 2 R gleich, so erhalten wir als Vektor von C zum
Höhenfußpunkt H die Höhe h D a C c. Den Faktor bestimmen wir aus der
Bedingung c h D 0, denn die Höhe h steht senkrecht auf der Seite c. Wir erhalten
mit a b D 0 und damit wegen .b a/ a D a a die Beziehung
kak2
0 D c h D c .a C c/ D .b a/ a C c c D a a C c c mit D :
kck2
Da p D c und c in dieselbe Richtung zeigen, sehen wir den Kathetensatz jetzt mit
cp D c p D kck2 D kak2 D a2 . Ebenso, wenn auch länger, beweisen Sie so
den Höhensatz aus pq D kpk kqk D p q D .1 /kck2 und h2 D khk2 D
.a C c/ .a C c/ D .1 /kak2 , was Sie natürlich erst nachrechnen müssen, denn
auf die Schnelle kann man es nicht sehen. Wenn Sie aber scharf auf diese beiden
Ausdrücke und die vorangegangenen Überlegungen sehen, dann erkennen Sie, dass
die Ausdrücke gleich sind.
Benutzen Sie ganz ähnliche Überlegungen, um zu beweisen, dass sich die drei
Höhen in jedem Dreieck in einem gemeinsamen Punkt schneiden. Verwenden Sie
102 4 Ein bisschen Geometrie
dazu zwei Vektoren a und b, die die Seiten a und b eines allgemeinen Dreiecks
beschreiben. Die Vektoren l und k seien die Abschnitte der Höhen von A bzw. B
bis zu ihrem Schnittpunkt Q. Sie wissen jetzt b C l D a C k, weil der Cursor von C
einmal über A und einmal über B zum Punkt Q läuft, sowie l a D 0 und k b D 0,
weil die Höhen senkrecht auf ihren Grundseiten stehen. Behauptet wird nun, dass
die dritte Linie b C l von C zu Q senkrecht auf der dritten Seite b a steht, also
die fehlende Höhe ist.
Die Aufgabe erscheint nach den wenigen Seiten Vektorrechnung kompliziert,
doch brauchen Sie nicht mehr, als bis hierhin ausgeführt. Andererseits ist diese
Aufgabe anspruchsvoll genug, um Ihre Phantasie zu fordern. Mit einer Skizze wird
Ihnen der Beweis gelingen.
4.5 Strahlensatz
Der Strahlensatz ist als einzelner Satz von solcher Offensichtlichkeit, dass man ge-
neigt ist, ihn sofort zu glauben und nicht über ihn nachzudenken. Wir besprechen
ihn, weil er in größeren geometrischen Untersuchungen, bei der Betrachtung von
Funktionen, aber auch in ganz alltäglichen Überlegungen als selbstverständliches
Werkzeug verwendet wird – manchmal sogar, ohne ihn namentlich zu erwähnen,
wie beispielsweise in Abschn. 5.2.2.
In seiner Grundform macht der Strahlensatz Aussagen über Längenverhältnisse
von Streckenabschnitten in der Figur aus Abb. 4.4. Zwei parallele Geraden schnei-
den ein Strahlenbündel mit dem Scheitel S. Die Schnittpunkte der Strahlen mit den
Parallelen haben wir mit A bis F bezeichnet, und Abb. 4.4 zeigt, wie.
Die Stufenwinkel eines Strahls mit den geschnittenen Parallelen sind gleich.
Beispielsweise sind ]CAS und ]FDS gleich. Diese Behauptung müssten wir ei-
gentlich beweisen, weil wir alle verwendeten Zusammenhänge beweisen wollen
und zwar, bevor wir sie verwenden. Versuchen Sie zu beweisen, dass die Stu-
fenwinkel an geschnittenen Parallelen gleich sind. Stellen Sie sich dazu vor, Sie
würden einen Freund, der dies anzweifelt, von der Gültigkeit von ]CAS D ]FDS
überzeugen. Sie bemerken, dass die einzige Schwierigkeit dieses Nachweises darin
besteht auszuwählen, welche Aussagen Sie als bekannt voraussetzen dürfen.
Die Dreiecke 4SAC und 4SDF stimmen in drei Winkeln überein. Bereits
in Abschn. 4.2 haben wir solche Dreiecke zueinander ähnlich genannt. Sie gehen
durch Streckung und Stauchung auseinander hervor, und dabei ändern sich die Ver-
hältnisse der Seitenlängen nicht.
Man bezeichnet ähnliche Dreiecke mit 4SAC 4SDF . Es gilt auch 4SAB
4SDE und 4SBC 4SEF . Im Allgemeinen sind hingegen 4SAB und 4SEF
nicht ähnlich, und sie sehen in Abb. 4.4 auch nicht ähnlich aus.
Da 4SAC und 4SDF ähnlich sind, stimmen die Verhältnisse der Seitenlängen
SA W AC W CS D SD W DF W F S überein. Die Verhältnisgleichheit ist nicht
besonders ordentlich aufgeschrieben, denn es werden jeweils die drei Seitenlängen
zueinander in Beziehung gesetzt. Man kann das Dreieck 4SDF als maßstabge-
4.5 Strahlensatz 103
rechte Verkleinerung von 4SAC deuten, und bei der maßstäblichen Verkleinerung
bleiben die Längenrelationen erhalten.
Die Verhältnisgleichheit überzeugt uns hoffentlich. Möchte man einen Beweis
angehen, muss man sich wieder darauf einigen, welche Aussagen man als wahr
voraussetzt. Davon ist abhängig, wie sperrig der Beweis wird. Vermutlich würden
Sie sich daran stören, dass wir einen Beweis für etwas so Einleuchtendes wie SA W
AC W CS D SD W DF W F S suchen. Wir tun uns schwer damit, aber ja, wir
dürfen sagen, dass wir einen so einfachen Zusammenhang sehen. Wenn wir ihn
etwas ordentlicher aufschreiben, so erhalten wir die Gleichheit der Verhältnisse
SA AC CS
D D :
SD DF FS
Schreiben Sie die Verhältnisgleichheiten aus den anderen ähnlichen Dreieckspaaren
auf, und stellen Sie sie zu
AC AB BC
D D
DF DE EF
um. Hier sehen Sie wieder, dass die drei Punkte A, B und C auf dem Strahlenbündel
zu D, E und F gestaucht werden und sich die Längenverhältnisse nicht ändern.
Insgesamt finden Sie die Figur aus dem Scheitel und den drei Punkten auf einer der
parallelen Geraden in Abb. 4.4 in zwei Größen, die durch Streckung und Stauchung
auseinander hervorgehen.
Zeichnen Sie bitte eine Strahlensatzfigur, bei der die parallen Geraden auf zwei
unterschiedlichen Seiten des Scheitels liegen, und stellen Sie analoge Überlegungen
zu ähnlichen Dreiecken und Verhältnisgleichungen an.
Denken Sie dann über die Umkehrung von Teilaussagen des Strahlensatzes nach.
Beispielsweise könnten Sie zwei Strahlen durch Geraden schneiden. Folgt mit den
Bezeichnungen von eben aus der Gleichheit SA W AB D SD W DE, dass die
Geraden AB und DE parallel sind? Machen Sie eine Skizze, und probieren Sie,
ob die Gleichheit erfüllt sein kann und gleichzeitig die Geraden AB und DE nicht
104 4 Ein bisschen Geometrie
parallel sind. Tatsächlich kann dies passieren. Denken Sie darüber nach, wo der
Punkt B liegen könnte, ohne die Gleichheit zu verletzen. Wir können also nicht
alle Teilaussagen des Strahlensatzes umkehren. Formulieren Sie notwendige und
hinreichende Bedingungen.
Wir benutzen den Strahlensatz häufiger, als uns bewusst ist. Zur Vorbereitung
auf das folgende Kapitel und insbesondere auf Abschn. 5.2.2 denken wir an ein
Kreuzfahrtschiff, das eine Südatlantiktour macht. Dort kann das Schiff keine Le-
bensmittel an Bord nehmen, und deshalb bunkert es 48 Tonnen im Abreisehafen.
Die dreitausend Passagiere verzehren täglich etwa 3 Tonnen, das Personal isst an-
derthalb Tonnen pro Tag. Zeichnen Sie in eine gemeinsame Skizze den Bestand
an Lebensmitteln in Abhängigkeit von der Dauer der Schiffsreise ein, und tun Sie
dies einmal für ein voll besetztes Schiff, einmal für ein Schiff, das ohne Passagiere
fährt, und einmal für ein Schiff, dass von Geisterhand ohne Passagiere und ohne
Personal fährt. Sie erhalten drei Strahlen. Wenn Sie jetzt den dritten, fünften und
achten Tag der Reise durch einen senkrechten Strich kennzeichnen, sehen Sie eine
Strahlensatzfigur. Überlegen Sie, welchen Aussagen über den Lebensmittelbestand
die Verhältnisgleichheiten des Strahlensatzes entsprechen.
Als letzte kleine Aufgabe in diesem Kapitel zeichnen Sie bitte ein Koordinaten-
system und darin eine Gerade mit dem Anstieg 2 und eine andere Gerade mit dem
Anstieg 12 . Zeichnen Sie die zwei Steigungsdreiecke ein, diskutieren Sie deren
Winkel, und geben Sie damit eine Begründung dafür an, dass die Geraden senk-
recht aufeinander stehen. Sie brauchen ausschließlich Überlegungen, die wir bis
hier verwendet haben. Sie schaffen das. Was ändert sich, wenn Sie Steigungsdrei-
ecke unterschiedlicher Größe einzeichnen?
Funktionen
5
Funktionen sind das Werkzeug der Werkzeuge, um reale und mathematische Zu-
sammenhänge zu beschreiben. Jeder Schulabgänger hat von ihnen gehört, so man-
cher fürchtet sie, und doch können nur wenige sagen, was eine mathematische
Funktion ist. Ohne eine Vorstellung, was eine Funktion ist, wird der Inhalt mehrerer
Schuljahre, zahlreicher Buchkapitel und vieler Vorlesungen jedoch zum tönenden
Geklingel. Hören Sie hierzu den folgenden Schwank.
Roda Roda, ein Schriftsteller, der in seinen Kurzgeschichten gern das kaiserlich-
königliche österreich-ungarische Militär aufs Korn nahm, erzählt von einem Ober-
leutnant Glauber vom Eisenbahnregiment, der einen Vortrag über die Elektrizität im
Krieg gehalten hatte: „Seine Exzellenz, der Kavalleriedivisionär, schüttelte Glauber
die Hand: Wirklich sehr klar und instruktiv, Herr Oberleutnant. Man hat doch jetzt
eine Vorstellung von diesen Sachen. – Nur eins, Herr Oberleutnant. Sie haben von
Kilowatt gesprochen; das ist ein kleiner Irrtum; ich kenne den Mann; er ist mein
Freund; er heißt Graf Kolowrat.“
Damit es Ihnen nicht so geht wie dem Kavalleriedivisionär, beschäftigen wir uns
zuerst ausgiebig mit der Frage, was eine Funktion ist.
Nehmen wir als Beispiel das Volumen V einer Kugel mit dem Radius r. Volumen
und Radius sind durch die Formel
4 3
V D V .r/ D r (5.1)
3
miteinander verbunden. Diese Formel enthält eine Vorschrift, wie wir einem Radius
das zugehörige Kugelvolumen zuordnen. Mit dem Radius r D 3 erhalten wir das
Volumen V .3/ D 36, mit dem Radius r D 6 das Volumen V .6/ D 288. Je-
dem r wird ein Volumen V .r/ zugeordnet, wobei negative Radien zunächst ebenso
wirklichkeitsfremd erscheinen wie negative Volumina.
Beachten Sie, dass sich das Volumen wie die dritte Potenz des Radius oder allge-
meiner einer eindimensionalen Ausdehnung verhält. Alle Körper verachtfachen ihr
Volumen, wenn sie in alle Dimensionen um den Faktor 2 gestreckt werden. Diese
Beobachtung ist eng damit verknüpft, dass Volumina in Kubikmetern m3 gemessen
werden. Weiterhin ist bemerkenswert, dass der Proportionalitätsfaktor zwischen V
und r 3 auch ein einfacher Ausdruck mit ist, das wir als das Verhältnis von Kreis-
umfang zum Durchmesser kennengelernt haben, denn es ist nicht ohne Weiteres
klar, warum ähnliche Zusammenhänge für die Kugel ebenfalls enthalten.
Etwas ausführlicher bezeichnen wir die Zuordnungsvorschrift in Gl. 5.1 mit V
und das Volumen zum Radius r mit V .r/. Außerdem bildet die Vorschrift V nicht-
negative Zahlen auf nichtnegative Zahlen ab. Vollständig notiert, liest sich dies als
4 3
V W Œ0; 1/ ! Œ0; 1/ mit V W r 7! V .r/ D r :
3
Diese Schreibweise, die wir schon in Abschn. 2.7 erwähnt haben, erscheint für
das Kugelvolumen vielleicht etwas detailverliebt, aber schwerer wiegt, dass die
Bezeichnung V für die Vorschrift, also für die Funktion selbst, mit der üblichen Ab-
kürzung V für das Bild der Abbildung, welches das Volumen bezeichnet, kollidiert.
Solchen Kollisionen werden wir häufiger begegnen. Bei richtiger Interpretation
schaden sie der praktischen Anwendung nicht. Deshalb ist es um so wichtiger, sich
zu verdeutlichen, was mit einer Funktion gemeint ist.
Wir berechnen Funktionswerte, indem wir das bislang noch nicht festgelegte
Argument spezifizieren. Dies kann eine simple Zahl sein oder aber auch ein mathe-
matischer Ausdruck, für den wir die Funktion auswerten. So erhalten wir
4 3 4
V .2/ D 2 und V .r C h/ D .r C h/3 : (5.2)
3 3
Wir hoffen inständig, dass niemand, aber auch gar niemand, auf die Idee gekommen
ist, durch 2 zu ersetzen. Denn die Funktion V .r/ hängt von r als unabhängi-
ger Variablen ab, und wenn wir sie für ein bestimmtes r auswerten, so müssen
wir auch dieses r in die Formel einsetzen. Wenn Sie nur eines der beiden r rechts
und links des Gleichheitszeichens in Gl. 5.1 spezifizieren, entstehen sinnlose Aus-
drücke. Schauen Sie sich an, wie undeutbar die Zusammenhänge dann werden.
Der zweite Zusammenhang in Gl. 5.2, bei dem wir das Argument r C h gewählt
haben, ist durchaus kritisch. Aller Erfahrung nach gibt es einige Studierende, die
Mühe damit haben. Was ist hier also geschehen? Die Volumenformel berechnet das
Volumen in Abhängigkeit vom Radius. Wir können für den Radius r irgendetwas
einsetzen, und die Formel liefert uns – zunächst rein schematisch – das zugehörige
Volumen. Pfeifen wir für einen Moment auf den Definitionsbereich, so ergibt die
Anwendung der Abbildung V auf das Urmel oder das Halteverbot
4 3 4
V .˝/ D ˝ und V .Urmel/ D .Urmel/3 ;
3 3
5.1 Begriff und Notation 107
eine noch nicht festgelegte Funktion f bezeichnet, die jedem Element oder Ar-
gument x des Definitionsbereichs D ein Bild oder einen Funktionswert f .x/ im
Bildbereich B zuordnet. Und jedem Argument x wird nur ein Bild f .x/ zugeordnet,
d. h. dass mit der Festlegung von x das Bild f .x/ festgelegt ist. Die Funktions-
vorschrift f verarbeitet x zu einem Bild oder Funktionswert f .x/. Dieser mag
unterschiedliche Namen haben, aber aus einem gegebenen x wird genau ein Funk-
tionswert f .x/. Daher ist beispielsweise der in Gl. 5.6 beschriebene Kreis keine
Funktion, weil dort zu den meisten x-Werten zwei y-Werte gehören. Die Vorschrift
wüsste ohne unser Zutun also nicht, welchen von beiden sie berechnen sollte. Wir
merken uns als Haupteigenschaft der Funktion, dass es zu jedem x genau ein f .x/
gibt.
Typischerweise wird die allgemeine Funktionsdefinition durch die Angabe ei-
ner Funktionsvorschrift, also eines Terms, mit dem man aus dem Argument x den
Funktionswert f .x/ ausrechnet, spezifiziert. Da der Funktionswert f .x/ im Funk-
tionsausdruck y D f .x/ vom Argument x abhängt, wird der Funktionswert auch
oft als abhängige Variable und das Argument als unabhängige Variable bezeichnet.
Ein schönes nichtmathematisches Beispiel erhalten wir, wenn wir mit D die
Menge aller bis zu einem fest gewählten Zeitpunkt t geborenen Menschen bezeich-
nen. Der Bildbereich sei dieselbe Menge, also B D D. Die Zuordnung f erfolgt
108 5 Funktionen
gemäß der Vorschrift, dass jedem Element x 2 D, also jedem bis zu t geborenen
Menschen seine biologische Mutter zugeordnet wird. Das Bild f .x/ ist also die
Mutter von x. Die Zuordnung f selbst kann man als „Mutterschaft“ bezeichnen,
aber f ist nicht die Mutter, denn f ist die Zuordnung und kein Element aus dem
Definitions- oder Wertebereich, auch wenn dies häufig etwas schwammig verwen-
det wird. An diesem Beispiel sehen wir auch, dass wir jedem bis zu t geborenen
Menschen wenigstens theoretisch genau eine Mutter zuordnen, selbst wenn dies in
konkreten Einzelfällen schwierig sein mag. Jedes Argument x, also jeder Mensch,
hat ein eindeutiges f .x/, nämlich seine eindeutig bestimmte Mutter. Andererseits
ist nicht jeder Mensch Mutter, die Menge B enthält recht viele Elemente, die nicht
als Bild auftreten. Außerdem haben viele Mütter mehrere Kinder, d. h. Elemente
von B können Bild unterschiedlicher Urbilder x 2 D sein. Aus f .x/ muss x nicht
eindeutig bestimmbar sein.
Falls die Buntheit der Realität dieses Anwendungsbeispiel zu Fall bringen sollte,
so definiere man sich eine abstrahierte Welt, in der jeder Mensch eine Mutter hat.
Dann klappt die Argumentation genauso.
Man findet sogar recht häufig mathematische Aussagen unter einschneidenden,
aber leicht übersehenen Voraussetzungen, die ihre Anwendbarkeit einschränken
und die für die Gültigkeit der Aussagen sehr wesentlich sind. In der Alltagssprache
passiert dies auch, nur oft weniger explizit. Die Behauptung, der schnellste Läufer
zu sein, wird erst durch den Zusatz, wovon der schnellste, sinnvoll und möglicher-
weise richtig. Der Zusatz ist sozusagen die Voraussetzung. Der schnellste Läufer
des Landkreises Helmstedt ist in der Tat der schnellste Läufer, aber eben nur un-
ter der Voraussetzung, dass er und alle anderen in Betracht gezogenen Läufer aus
diesem Landkreis stammen. Schränkt man die Voraussetzungen noch weiter ein, so
kann man beispielsweise alle über fünfzigjährigen Gasthofköche des Landkreises
Helmstedt betrachten. Der schnellste von ihnen muss nicht besonders schnell sein.
Schließlich ist jeder der schnellste Läufer aus der Menge, die nur ihn selbst enthält.
Diese letzte Aussage ist absolut wahr, aber gewissermaßen sinnlos. Es kommt also
sehr wesentlich auf die Voraussetzungen oder den Geltungsbereich an.
Mathematik lebt oft in einer abstrahierten Welt, und nur in einer solchen Welt,
die aus Gegenständen unseres Denkens besteht und auf Gegenstände unserer An-
schauung verzichtet, können mathematisch exakte Aussagen gefunden werden.
Eine der ganz wichtigen Fähigkeiten in sehr vielen Studienfächern, Berufen und Be-
tätigungsfeldern besteht in der Veranschaulichung von funktionalen Zusammenhän-
gen. Angesichts eines formell notierten Zusammenhangs entsteht vor dem inneren
Auge ein Bild, welches ein Gefühl von der Realität hinter den Formeln vermittelt.
Alle, die in ihrem Beruf mit Mathematik umgehen und die wie z. B. Ingenieure Ma-
thematik anwenden und einsetzen, haben dieses Gefühl, und Sie werden es während
Ihres Studiums entwickeln und verfeinern.
5.2 Graphen von Funktionen 109
Trotzdem sagen immer wieder Studierende, dass ihnen gerade die zeichnerische
Darstellung von Funktionen schwerfällt, sogar so schwer, dass sie lieber darauf ver-
zichten. Ehrlich gesagt ist es schwer vorstellbar, wie man ein mathematikhaltiges
Studium sinnvoll abschließen kann, wenn man sich gegen den Erwerb der Fähigkeit
sträubt, sich Funktionen vorzustellen und sie zu zeichnen.
An dieser Stelle hilft auch der Computer mit all seinen nützlichen Programmen
nur eingeschränkt, denn einerseits ist das innere Auge schneller, und andererseits
müssen wir uns oft auch auf den ersten Blick unübersichtliche funktionale Zusam-
menhänge vorstellen, in denen mehrere nicht spezifizierte Variablen und Parameter
vorkommen. Wenn wir den Computer hier als Antwortmaschine benutzen, um für
jede Parameterbelegung einen Funktionsgraphen zu erhalten, so haben wir viele
Bilder, aber immer noch keine innere Vorstellung von dem gesuchten Zusammen-
hang.
Deshalb üben wir die graphische Darstellung von Funktionen und beginnen mit
dem Beispiel
1 1
f .x/ D C : (5.3)
.x C 2/ 2 .x 2/2
Die den meisten aus der Schule bekannte Variante, eine Funktion per Hand zu
zeichnen, besteht in einer Wertetabelle, bei der wir zu mehreren Argumenten x
Funktionswerte f .x/ ausrechnen und diese dann geschickt verbinden. Genau ge-
nommen müssen wir schon bei der Auswahl der Argumente geschickt sein, denn
wir wollen die wesentlichen Eigenschaften des funktionalen Zusammenhangs ab-
bilden, und dazu sollten wir wissen, wo die Funktion interessante Besonderheiten
zeigt und wo sie eher vor sich hin dümpelt.
Im Beispiel 5.3 erkennen wir vorab, dass bei x D 2 und x D 2 durch 0 divi-
diert wird und dass damit die Funktionswerte an diesen Stellen nicht definiert sind.
In der Nähe dieser Stellen werden die Nenner nicht nur winzig, sondern beliebig
klein, und die Beträge der Funktionswerte streben gegen unendlich. Solche Stellen
heißen Polstellen. Außerdem ist es nützlich, sich vorab zu verdeutlichen, dass die
Funktion f außerhalb dieser Stellen recht sanft und langweilig gebogen ist.
Wir müssen also schon viel über die Funktion wissen, bevor wir die Wertetabelle
erstellen. Eine Wertetabelle ist in gewissem Sinne der am wenigsten inspirierte und
am wenigsten inspirierende Zugang zur Darstellung einer Funktion. Trotzdem be-
ginnen wir mit dieser Variante und verdeutlichen uns noch einmal, dass das Wesen
einer Funktion darin besteht, dass wir jedem Argument x des Definitionsbereichs
genau ein Bild f .x/ aus dem Wertebereich zuordnen.
Wir verwenden hier Dezimalzahlen, da es auf die genaue Darstellung und die
genauen Werte bei der Skizze nicht ankommt. Es reichen Näherungswerte, die in
ein Koordinatensystem eingezeichnet werden.
110 5 Funktionen
−4 −2 0 2 x 4
Zusammen mit den Vorüberlegungen können wir aus der Wertetabelle für x-
Werte in Schritten zu 0:5 unter Auslassung der Polstellen
einigen Nutzen ziehen. Bemerken Sie bitte, dass wir recht viele x-Werte brauchen,
um eine Chance zu haben, den Funktionsverlauf aus diesen Werten zu skizzieren.
Bemerken Sie bitte auch, dass wir die Funktionswerte mit zwei Stellen nach dem
Komma sehr genau angegeben haben, genauer jedenfalls, als man sie in einem üb-
lichen Maßstab zeichnen kann.
Nachdem wir die Wertetabelle notfalls mithilfe eines Taschenrechners erstellt
haben, beginnt das eigentlich spannende Problem, denn nun müssen die Punkte aus
der Wertetabelle nicht nur eingezeichnet, sondern sinnvoll verbunden werden. Wenn
Sie nur die verstärkt gezeichneten Punkte in Abb. 5.1 haben und diese verbinden,
so könnten Sie unabhängig von der Funktion f , aber abhängig von Ihrer Phantasie,
unterschiedlichste Varianten wählen, die Punkte zu verbinden. Es entstehen Kame-
le, Gebirgsketten, Sternenhimmel oder Bellatrix Lestrange.
Um die Punkte aus der Wertetabelle jedoch sinnvoll zu verbinden, müssen Sie
genau die Überlegungen zusätzlich zur Wertetabelle anstellen, die Ihnen nun als
eleganter und geschwinder Zugang zur Darstellung von Funktionen nahegelegt wer-
den.
Nachdenken. Ja genau, nachdenken und veranschaulichen.
Die Funktion f besteht aus zwei gleichartigen Summanden, von denen wir den
zweiten als
1 1
y.x/ D mit y.x C 2/ D D x 2
.x 2/2 x2
5.2 Graphen von Funktionen 111
aufschreiben. Die zweite Umformung erkennen wir sofort, wenn wir die Umkehr-
operation zur Subtraktion von 2 auf das x anwenden und somit den Ausdruck
y D y.x/ für das Argument x C 2 spezifizieren. Wenn wir das Aussehen des
Graphen zu x 2 kennen, können wir diesen in ein Koordinatensystem einzeich-
nen. Allerdings liegt die Polstelle nicht im Ursprung bei 0, sondern verschoben
bei xP;1 D 2. Die Subtraktion der 2 vom Argument x bewirkt also eine Verschie-
bung des Graphen nach rechts. Die Umkehroperation dazu ist die Verschiebung
nach links, die einer Addition von 2 zum Argument x in der Funktionsvorschrift
entspricht. Verfolgen Sie dies in einer eigenen Skizze, und Sie erkennen sofort die
Zusammenhänge, die wir hier kompliziert in Worte fassen. In Abb. 5.1 ist y.x/
gestrichelt eingezeichnet. Das ist der Anteil, der für die Polstelle bei xP;1 D 2
zuständig ist. Der erste Summand ist der um 4 nach links verschobene zweite Sum-
mand. Also ist
1
D y.x C 4/
.x C 2/2
der Anteil zur anderen Polstelle bei xP;2 D 2. Haben wir beide Anteile gezeichnet,
so addieren wir die Werte graphisch und erhalten die gesuchte Funktion f .
Nebenbei haben wir beim Zeichnen verwendet, dass die Funktion überall, wo
sie definiert ist, positiv ist, denn die Summanden sind verschobene Varianten des
Quadrats x 2 D .x 1 /2 0. Da x 1 nicht null werden kann, gilt auch x 2 D
.x 1 /2 > 0. Außerdem gehen die Funktionswerte rechts und links der Polstellen
gegen C1, da negative Funktionswerte ausgeschlossen sind.
Eine genauere Betrachtung von y.x C 2/ D x 2 zeigt, dass der Graph über-
all nach oben gekrümmt ist. Dieser Graph hat keine Dellen, und würde man ihn
entlangfahren, so müsste man nur in eine Richtung lenken. Diese Krümmungs-
eigenschaft geht nicht verloren, wenn man zwei gleichartig gekrümmte Funktionen
addiert. Überlegen Sie, warum. Die Funktion f ist also ausschließlich nach oben
gekrümmt (Abb. 5.1). Solche Funktionen nennt man konvex, nach unten gekrümm-
te konkav. Dabei sind konvex und konkav manchmal genau vertauscht definiert. Es
hängt davon ab, von welcher Seite man schaut.
Alle diese Eigenschaften müssen wir ebenfalls berücksichtigen, wenn wir die
Punkte aus der Wertetabelle sinnvoll verbinden wollen. Verdeutlichen Sie sich ins-
besondere, dass f wunderbar rund ist und keinen Knick hat. Knicke brauchen
immer einen besonderen Grund, wie z. B. in der Betragsfunktion, wo sich bei x D 0
die Beschreibung der Funktion in der Fallunterscheidung ändert.
Sie können das Zeichnen an anderen Funktionen üben. Versuchen Sie es mit
1 xC1
g1 .x/ D ; g2 .x/ D oder g3 .x/ D xex :
1 C x2 x1
Übrigens ist die Funktion g6 für alle reellen x 2 R definiert. Für negative x < 0
2
wäre die Schreibweise g6 .x/ D x 3 dagegen sehr unüblich. Im Sinne unserer An-
merkung aus Abschn. 3.9 ist die Schreibweise als Potenz mit nichtganzem Ex-
ponenten zwar in diesem Fall eindeutig interpretierbar, aber für negative Basen x
verwenden wir sie trotzdem nicht.
Verdeutlichen Sie sich beim Zeichnen, dass z. B. die Funktion g1 nur Werte
im Intervall .0; 1 annimmt und dass sie symmetrisch zur y-Achse ist. Für be-
tragsgroße x, d. h. wenn x sehr viel größer als null oder sehr viel kleiner als null
ist, sind die Funktionswerte sehr klein. Außerdem ist g1 für positive x monoton
fallend. Die Funktionswerte f .x/ werden also kleiner, wenn x größer wird. Mathe-
matisch formuliert folgt bei einer monoton fallenden Funktion aus x1 x2 , dass
f .x1 / f .x2 / gilt. Entsprechend ist g1 für negative x monoton wachsend. Damit
können Sie den prinzipiellen Verlauf von g1 ohne Wertetabelle einzeichnen. Naja
fast, denn g1 .0/ D 1 sollte man schon verwenden.
Die Eigenschaft einer Funktion g, dass für das Argument x und für das Ar-
gument x derselbe Funktionswert g.x/ D g.x/ herauskommt, sehen wir
als Symmetrie zur y-Achse. Wir nennen eine solche zur y-Achse symmetrische
Funktion wie g1 eine gerade Funktion. Eine ungerade Funktion erfüllt dagegen
g.x/ D g.x/ für alle x 2 D des Definitionsbereichs. Solche Funktionen haben
einen zum Ursprung drehsymmetrischen Graphen. Denken Sie sich eine ungerade
Funktion aus.
Die Funktion g2 sollten Sie nach den obigen Ausführungen leicht zeichnen kön-
nen. Vielleicht hilft es, den Funktionsterm etwas umzuschreiben, denn für betrags-
große x strebt g2 .x/ gegen 1. Wenn man den Zähler als x C 1 D .x 1/ C 2
schreibt, erschließt sich die Gestalt des Graphen schneller.
Für die Funktion g3 sei darauf verwiesen, dass die Unkenntnis des Aussehens der
Exponentialfunktion für eine angehende Chemikerin, Ingenieurin oder Volkswirtin
oder einen angehenden Biologen, Ingenieur oder Psychologen absolut undenkbar
ist. Die Exponentialfunktion beschreibt ein exponentielles Wachstum, beispiels-
weise einer Population oder eines verzinsten Guthabens. Sie ist immer positiv,
und ex wächst und wächst. Verdeutlichen Sie sich dies an einer Skizze. Überle-
gen Sie selbst, was das Minuszeichen im Exponenten bewirkt, denn Sie wissen,
dass e.x/ D ex gilt. Also sieht ex über der üblichen x-Achse so aus wie ex über
der am Ursprung gespiegelten x-Achse. Danach überlegen Sie sich graphisch, wie
das Produkt der Funktionen, die durch die Terme x und ex beschrieben werden,
aussieht. Tun Sie das. Und tun Sie es selbst. Sie werden es schaffen.
Schließlich präsentieren wir noch den Graphen der Funktion g5 , die zu lesen
schon ein kleines Abenteuer ist. Zuerst wird der Betrag von x gebildet. Dann wird
davon 1 abgezogen. Vom Ergebnis wird wieder der Betrag gebildet, und es wird
wiederum 1 abgezogen. Schließlich wird wieder der Betrag gebildet, und man er-
hält den Funktionswert g5 .x/. Und genau in dieser Reihenfolge gehen wir beim
Zeichnen der Funktion vor. Probieren Sie es aus, und schauen Sie zur Kontrolle in
Abb. 5.2 nach.
5.2 Graphen von Funktionen 113
−1
−4 −2 0 2 x 4
Viele weitere Beispiele für Funktionen, an denen man das Skizzieren und Inter-
pretieren von Funktionsgraphen üben kann, finden Sie überall in diesem Buch – be-
sonders schrille in Abschn. 7.3 – und überall, wo mit mathematischen Ausdrücken
hantiert wird. Sie können Ihre Ergebnisse immer mit Computerprogrammen wie
Matlab und Mathematica überprüfen, und Sie sollten dies auch tun. Die wichtigs-
ten Arbeitsschritte geschehen jedoch immer in Ihrem Kopf, und zwar bevor Sie den
Stift aufs Papier setzen.
Üben Sie das Zeichnen von Funktionen. Üben Sie das Zeichnen von Funktionen
immer wieder. Beginnen Sie mit einem leeren Blatt. Das Anschauen gezeichneter
Funktionen reicht nicht. Üben Sie das Zeichnen von Funktionen, und denken Sie
dabei über ihre Eigenschaften nach.
A
2
0 1 x 4
Selbstverständlich lernen Sie auch diese Formel nicht auswendig, sondern rekon-
struieren sie bei Bedarf.
Um das absolute Glied n herauszubekommen, gibt es nun mehrere Möglichkei-
ten. Eine elegante Variante ergibt sich aus der Verdeutlichung, wie Geraden durch
den Punkt A aussehen. Setzen wir zunächst einen allgemeinen Anstieg m an. Dann
erfüllen die Geraden der Form
die Bedingung y.xA / D yA , also gehen sie durch den Punkt A D .xA ; yA /. Be-
wundern Sie die natürliche Form der Geradengleichung 5.4. An der Stelle x D xA
nimmt y.x/ auf natürliche und kaum mehr begründbare Weise den Wert yA an, denn
der zweite Summand m.x xA / verschwindet für x D xA , d. h. er wird null. Wird
x um den Wert 1 auf x D xA C 1 erhöht, so wächst y.x/ gerade um die Steigung
m auf y.xA C 1/ D yA C m.
Gleichung 5.4 beschreibt, ausgehend vom Punkt A D .xA ; yA /, die Änderung
der y-Werte im Term m.x xA / durch die Abweichung x xA der auszuwertenden
Stelle x von der Stelle xA . Diese Abweichung multipliziert mit dem Anstieg liefert
den Zuwachs des Funktionswerts im Intervall ŒxA ; x und damit die Änderung der
y-Werte.
In Gl. 5.4 bezeichnet y die Funktion der Geradengleichung und y.x/ den Wert
der Funktion an der Stelle x. Oft schreiben wir einfacher y D yA C m.x xA /
und verwenden den Funktionsnamen und die Funktionswerte synonym als y, was
5.2 Graphen von Funktionen 115
meist ohne alle Missverständnisse möglich ist. Verdeutlichen Sie sich die Notatio-
nen in der Skizze, lesen Sie nicht nur darüber hinweg. Versuchen Sie aktiv, solche
Geradengleichungen zu erzeugen.
Indem wir den bereits bekannten Anstieg in diese Geradengleichung einsetzen,
erhalten wir
yB yA
y.x/ D yA C .x xA / mit y.xA / D yA und y.xB / D yB : (5.5)
xB xA
Die beiden angegebenen Eigenschaften an den Stellen xA und xB lesen wir leicht
aus der Geradengleichung ab, denn für x D xA wird die Abweichung von der Stelle
xA zu null, und der Funktionswert besteht allein aus yA , und für x D xB kürzt sich
der Term xB xA heraus, und der Funktionswert besteht aus yB D yA C .yB yA /.
Der Punkt B D .xB ; yB / liegt also ebenfalls auf der Geraden. Eine Gerade ist durch
zwei Punkte eindeutig bestimmt, und wir haben die Geradengleichung berechnet.
Da die unabhängige Variable x in Gl. 5.5 nur in erster Potenz und nicht in
Produkten oder nichtlinearen Funktionsausdrücken vorkommt, handelt es sich – un-
abhängig vom sonstigen Aussehen – um eine Geradengleichung. Somit beschreibt
Gl. 5.5 die Gerade durch die zwei gegebenen Punkte A und B. Im konkreten Bei-
spiel kommt
2 2x 4
y.x/ D 2 C .x 1/ D C
3 3 3
heraus. In dieser Gleichung ist schnell erkennbar, dass die Gerade durch den Punkt
.1; 2/ geht, denn sie ist ausgehend von diesem Punkt formuliert. Für x D 1 wird
x 1 D 0. Im zweiten aufwendigeren Summanden steht der Anstieg multipli-
ziert mit der Abweichung x 1 von dem gewählten Punkt .1; 2/, den wir auch
Entwicklungsstelle nennen, siehe die Taylor-Entwicklung, die in Ihrer Vorlesung
besprochen wird und auf die Sie sich freuen können.
Natürlich gibt es andere Wege zur Geradengleichung durch zwei gegebene Punk-
te, obwohl der eben beschriebene Weg wahrscheinlich der geometrienächste und
damit der anschaulichste ist. Sie könnten beispielsweise eine Geradengleichung mit
bekanntem Anstieg m in Ansatz bringen und das absolute Glied n aus der verblei-
benden Differenz zu den Funktionswerten bestimmen, d. h.
Wenn Sie den letztgenannten Schritt gleich mit unbekanntem Anstieg m und unbe-
kanntem Absolutglied n für beide Punkte A und B durchführen, so erhalten Sie das
lineare Gleichungssystem
yA D mxA C n;
yB D mxB C n
für m und n. Wenn Sie aus der Schule nicht mehr wissen, wie man ein lineares
Gleichungssystem löst, schauen Sie bitte in Abschn. 7.5 nach – oder besser noch,
116 5 Funktionen
ergründen Sie für dieses kleine System selbst einen Weg. Dann finden Sie nach dem
Einsetzen der gegebenen Punkte .xA ; yA / D .1; 2/ und .xB ; yB / D .4; 4/ aus
2 D m C n;
4 D 4m C n
2 4
y.x/ D xC :
3 3
Jetzt können Sie die Probe machen und nachrechnen, dass diese Werte tatsäch-
lich das lineare Gleichungssystem erfüllen, indem Sie x D xA D 1 einsetzen und
y D yA D 2 erhalten und außerdem x D xB D 4 verwenden, um y D yB D 4 zu
überprüfen. Die beiden Gleichungen des linearen Gleichungssystems entsprechen
den beiden Bedingungen, dass die gesuchte Gerade erstens durch den Punkt A und
zweitens durch den Punkt B geht.
Lineare Gleichungssysteme sind auch aus einem anderen Grund interessant. Das
System
3x C 4y D 17;
xCy D5
können Sie sicher auf die eine oder andere Weise lösen, was in Abschn. 7.5 noch
einmal ausführlicher diskutiert wird. Notfalls können Sie die Lösung, die hier ganz-
zahlig ist, raten. Sie können aber auch beide Gleichungen nach y umstellen, die
beiden y gleichsetzen und die entstehende Gleichung in x lösen.
Dieses Vorgehen interpretieren wir aus einem anderen Blickwinkel. Jede der
Gleichungen stellt einen Zusammenhang zwischen x-Werten und y-Werten her.
Durch Umstellen finden wir mit
1
y D f .x/ D .17 3x/ und y D g.x/ D 5 x
4
zwei Funktionen, die Geraden beschreiben. Diese Geraden zeichnen Sie in ein
Koordinatensystem ein. Sie schneiden sich. Der Schnittpunkt ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass beide Funktionen zu einem x-Wert denselben y-Wert liefern. So
übersetzen wir die Eigenschaft, dass zwei Funktionsgraphen sich schneiden, in eine
Gleichheit beider Funktionsterme. Hier entsteht
1
f .x/ D g.x/ oder .17 3x/ D 5 x mit x D 3:
4
5.2 Graphen von Funktionen 117
In der Tat ist f .3/ D g.3/ D 2. Damit liegt der Schnittpunkt bei .x ; y / D .3; 2/,
und die eindeutige Lösung des Gleichungssystems ist x D 3 und y D 2.
In Abhängigkeit von den beteiligten Funktionen entstehen bei der Suche nach
dem Schnittpunkt unterschiedliche Gleichungstypen. Wenn Sie die Parabel y D x 2
mit der Gerade y D x C 2 schneiden, so lösen Sie das nichtlineare Gleichungssys-
tem aus diesen beiden Gleichungen. Beim Gleichsetzen der y-Werte entsteht eine
quadratische Gleichung (Abschn. 7.2). Skizzieren Sie die Funktionen und bestim-
men Sie die beiden Schnittpunkte.
Bei der Diskussion der Funktion f .x/ in Gl. 5.3 haben wir festgestellt, dass diese
Funktion die Summe zweier gleichartiger, aber verschobener Funktionen ist. Wir
wollen uns nun der Frage widmen, was passiert, wenn wir eine Funktion in ei-
nem Koordinatensystem verschieben. Dies entspricht der Situation, dass wir uns
die Funktion als fixiert denken und das Koordinatensystem verschieben.
Wir verwenden dazu die Normalparabel y.x/ D x 2 . Stellen wir uns vor, dass
wir die Funktion auf dem Papier fixiert halten und darunter das Koordinatensystem
zwei Einheiten nach links und eine Einheit nach oben ziehen. Die neue seitliche
Koordinate 0 liegt also dort, wo vorher x D 2 lag. Um nicht durcheinanderzukom-
men, bezeichnen wir die neue horizontale Koordinate mit und die neue vertikale
Koordinate mit . Der Übergang zu anderen Koordinaten heißt Koordinatentrans-
formation. Die häufige Bezeichnung .x 0 ; y 0 / ist wegen der Verwechslungsgefahr
mit Ableitungen zunächst nicht empfehlenswert.
Nun entspricht das neue D 0 dem alten x D 2, und das neue D 0 dem
alten y D 1. Da sich die Längen beim Verschieben nicht ändern, gilt
D x C 2 und D y 1:
Machen Sie unbedingt – keine Ausflüchte, Sie können das – eine Skizze mit den
beiden Koordinatensystemen. Wenn wir die Koordinatentransformation in die Glei-
chung der Normalparabel einsetzen, so entsteht aus y D x 2 die neue Gleichung
was wieder eine nach oben geöffnete Parabel ist, deren Scheitelpunkt aber bei
.2; 1/ in den neuen .; /-Koordinaten liegt. Dieser Scheitelpunkt entspricht dem
Ursprung des .x; y/-Koordinatensystems, was einleuchtend ist, da wir der Funktion
das Koordinatensystem unter dem Allerwertesten weggezogen haben.
Interpretieren wir die Verschiebung des Koordinatensystems um zwei Einheiten
nach links und um eine Einheit nach oben so, dass wir uns das Koordinatensys-
tem fixiert und die Funktion verschoben denken, so entspricht dies einer Verschie-
bung der Funktion um zwei Einheiten nach rechts und um eine Einheit nach unten.
Schauen Sie auf Ihre Skizze. In diesem Fall notieren wir die verschobene Funktion
118 5 Funktionen
y D y.x/
Q D .x 2/2 1 D x 2 4x C 3:
In der letzten Darstellung ist der Scheitelpunkt nicht mehr direkt ablesbar. Mittels
quadratischer Ergänzung (Abschn. 7.2) kann diese Darstellung wieder in die einfa-
cher interpretierbare umgewandelt werden, die zudem nur ein x enthält.
Versuchen Sie bitte nicht, auswendig zu lernen, bei welchen Verschiebungen
welche Koordinaten mit einem Plus oder Minus verändert werden. Wie Sie gesehen
haben, ist es insgesamt unübersichtlich. Es gelingt viel besser, sich zurechtzufinden,
wenn man sich für jede Situation veranschaulicht, was die Terme bewirken und was
ausgedrückt werden soll.
Betrachten wir nun die Menge aller Punkte in einem Koordinatensystem, die vom
Ursprungpden Abstand r haben. Nach dem Satz von Pythagoras bestimmen wir den
Abstand x 2 C y 2 des Punktes .x; y/ vom Ursprung und erhalten die Menge
p
M D f.x; y/ 2 R2 W x 2 C y 2 D rg: (5.6)
Die definierende Gleichung dieser Punktmenge, vulgo Kreis genannt, ist also
x 2 C y 2 D r 2 . Wenn wir den Kreis wie oben um zwei Einheiten nach rechts
und um eine Einheit nach unten verschieben, so erhalten wir die Gleichung
.x 2/2 C .y C 1/2 D r 2 eines Kreises mit dem Mittelpunkt .2; 1/ und dem
Radius r. Dieselbe Gleichung hätten wir auch erhalten, wenn wir mit dem Satz
des Pythagoras den Abstand der Punkte .x; y/ und .2; 1/ gleich r gesetzt hätten.
Verdeutlichen Sie sich dies bitte wieder mit einer Skizze.
Da wir den Kreis problemlos verschieben können, machen wir die nächste
Untersuchung ohne Beschränkung der Allgemeinheit für den Kreis in zentraler
Lage. Wenn wir diese Mathematikerformulierung gebrauchen, sollten wir, wie in
Abschn. 4.1 besprochen, darauf aufpassen, dass unsere Überlegungen tatsächlich
unabhängig von der speziellen Wahl des Kreises sind, mit dem wir jetzt arbei-
ten. Achten Sie beim Weiterlesen darauf, ob wir die Allgemeinheit wirklich nicht
beschränken.
Wenn wir Gl. 5.6 nach y umstellen, so erhalten wir die zwei Lösungen
p
y D ˙ r 2 x 2 für x 2 Œr; r:
Für x-Werte außerhalb des abgeschlossenen Intervalls Œr; r ist die Wurzel
p
r 2 x 2 keine reelle Zahl, und der durch x 2 C y 2 D r 2 beschriebene Kreis
enthält auch keine Punkte mit jxj > r. Für x D r und für x D r finden wir pas-
send zur Skizze y D 0. Dazwischen, also für x-Werte im offenen Intervall .r; r/,
5.3 Die bekanntesten Funktionen 119
d. h. für r < x < r, gibt es zwei y-Werte, einmal den mit positivem Vorzeichen,
einmal den mit negativem Vorzeichen.
Der Kreis beschreibt also keine Funktion, weil zu jedem x 2 .r; r/ zwei
unterschiedliche y-Werte gehören. Beschränken wir uns hingegen auf einen der
Funktionswerte, z. B. auf den nichtnegativen, so erhalten wir die Funktion
p
y D y.x/ D r 2 x2;
die wie von selbst nur für Werte x 2 Œr; r auswertbar ist und die einen Halbkreis
mit dem Radius r um den Ursprung beschreibt. Verdeutlichen Sie sich dies an einer
Skizze. p
Beachten Sie insbesondere, dass der Einheitskreis y D 1 x 2 oberhalb der
Parabel yQ D 1 x 2 liegt, denn die Wurzel einer Zahl kleiner eins ist größer als
diese Zahl selbst.
Ganz zum Schluss machen wir uns noch einmal p die Schwierigkeiten mit der
Vertauschbarkeit bewusst, denn y D y.x/ D 1 x 2 beschreibt einen Halbkreis
und ist nur für x 2 Œ1; 1 reellwertig definiert, wogegen z.x/ D 1 x eine für alle
x 2 R definierte Gerade ist.
Dieser Abschnitt behandelt die bekanntesten Funktionen. Bekannt? Und dann noch
die bekanntesten? Was macht eine Funktion bekannt? Wir können nicht auf Inter-
netseiten sozialer Netzwerke nachsehen, welche Funktion die meisten Likes und
Follower hat. Es geht vielmehr um Funktionen, die eine zentrale Bedeutung haben
und oft gebraucht werden. Zwar findet man zu jeder Funktion irgendeine Anwen-
dung, und sei sie noch so sehr an den Haaren herbeigezogen, doch geht es hier
nicht um Funktionen, die die Populationsentwicklung einer seltenen Geckoart be-
schreiben, sondern um Funktionen, die wiederholt in vielen Kontexten auftreten.
Zusätzlich setzen sich viele andere Funktionen aus den hier beschriebenen Grund-
funktionen zusammen (Abschn. 5.4).
Der Pool möglicher Funktionen ist unendlich groß. Denken Sie nur an die Funk-
tion f W R ! R mit f .x/ D x, wobei Sie die Schreibweise in Abschn. 5.1 erklärt
finden. Allein diese Gerade können wir variieren, indem wir etwa einen Faktor
a 2 R hinzufügen. Da es unendlich viele reelle Zahlen a gibt, gibt es auch un-
endlich viele Funktionen der Form f .x/ D a x. Das ist an und für sich nicht
beeindruckend, denn wie in den beiden vorigen Abschnitten können Sie durch die
Anwendung mathematischer Operationen beliebig komplizierte Funktionen kon-
struieren. Wir werden also niemals in der Lage sein, eine Liste aller Funktionen
aufzuschreiben. Es nimmt einfach kein Ende. Das klingt so, als könne man sich
im Funktionenurwald verlaufen. Aber die Mathematik ordnet dieses vermeintliche
Durcheinander wieder.
Einige Studierende versuchen immer wieder, Funktionen „zu lernen“, um sie
in einer Prüfungssituation „zu können“. In der Regel bleibt es jedoch unklar, was
120 5 Funktionen
hier gelernt oder gekonnt wurde oder werden wollte. Kann man f .x/ D x 2 ler-
nen? Kann man es können? Noch ist keine sprachliche Logik gefunden, in der
die Behauptung, man könne f .x/ D x 2 , inhaltlich sinnvoll erscheint. Funktio-
nen sind keine Fähigkeit wie Fahrradfahren, die man lernt, übt und anschließend
kann. Vielmehr sind Funktionen Werkzeuge zur mathematischen Beschreibung von
Zusammenhängen, deren zentrale Eigenschaften wichtig sind und die man sich je-
derzeit durch pures Nachdenken erschließen kann.
5.3.1 Potenzfunktionen
Bleiben wir zunächst bei der erwähnten Funktion f W R ! R mit f .x/ D x 2 . Ihr
Graph und oft auch die Funktion selbst wird Normalparabel genannt. Einem Wert x
aus den reellen Zahlen wird also sein Quadrat x 2 , das ebenfalls aus den reellen
Zahlen stammt, zugeordnet. Stellen Sie sich diese Funktion als einen Automaten
vor, der jedes x, das in ihn hineingerät, in sein Quadrat x 2 verwandelt. Dazu passt
die Schreibweise f W x 7! x 2 . Schon in Abschn. 3.3 haben wir diskutiert, dass
x 2 D xx 0 gilt, dass also die Funktionswerte von f niemals negativ sind. Unsere
Funktion f oder vielmehr ihr Graph bewegt sich in den nichtnegativen y-Werten,
also immer oberhalb oder auf der x-Achse.
Apropos oberhalb oder auf. Die Punkte des Graphen, die auf der x-Achse lie-
gen, haben die Eigenschaft y D f .x/ D 0. Es sind also die Nullstellen von
f .x/ D x 2 , und x 2 D 0 ist nur für x D 0 erfüllt. Dort liegt also die Nullstelle.
Da die Funktionswerte aller anderen x-Werte positiv sind, haben wir gleichzeitig
das Minimum dieser Funktion gefunden. Dieser Punkt der Parabel heißt Scheitel-
punkt. Er befindet sich genau dort, wo sich die Monotonie des Graphen der Funktion
ändert. Für x 0 ist der Graph monoton fallend, für x 0 monoton wachsend.
Im Vergleich zur Geraden y.x/ D x, bei der jeder x-Wert seinem y-Wert gleicht,
werden die Funktionswerte bei f .x/ D x 2 mit sich selbst multipliziert. Wir ver-
deutlichen uns, was dies für die Funktionswerte bedeutet. Solange die Werte x
zwischen 0 und 1 liegen, also x 2 .0; 1/ gilt, ist das Ergebnis der Multiplikation x x
kleiner als x. Die Parabel f .x/ D x 2 liegt dort unterhalb der Geraden y.x/ D x.
Schauen Sie sich dazu einen Beispielwert an. Dem Argument x D 0:5 wird der
Funktionswert y D f .x/ D 0:52 D 0:5 0:5 D 0:25 < 0:5 zugeordnet. Durch
die Multiplikation mit einem Faktor, der echt kleiner ist als 1, erhalten wir einen
Wert, der kleiner als der Ausgangswert x D 0:5 ist. Das ändert sich, sobald x > 1
gilt. Ist diese Grenze überschritten, sorgt das Quadrat, bzw. die eigentlich dahin-
ter stehende Multiplikation von x mit sich selbst, dafür, dass die Funktionswerte
schnell größer werden. Die Funktion f .x/ D x 2 wächst und wächst und wächst
und wächst. Je größer Sie den x-Wert wählen, desto größer wird der dazugehörige
Funktionswert y D x 2 . Puh. . . , eine Funktion, die schnell wächst und nicht mehr
aufhört zu wachsen.
Bis jetzt waren wir nur im nichtnegativen Bereich für x unterwegs. Schauen
wir im Koordinatensystem etwas weiter nach links. Links von der Null finden wir
die negativen x-Werte. Wir haben bereits festgestellt, dass das Quadrat für aus-
5.3 Die bekanntesten Funktionen 121
x
−2 −1 1 2
−1
Theorie der Kegelschnitte, d. h. der Betrachtung von Schnittfiguren einer Ebene mit
einem Doppelkegel, für die dieses Buch leider zu kurz ist.
Die Beobachtungen an den Funktionen f1 .x/ D x 2 und f2 .x/ D x 3 lassen
sich leicht auf andere Exponenten verallgemeinern. Für ganzzahlige, gerade Ex-
ponenten n der Potenzfunktion f .x/ D x n erhalten wir einen geraden, also zur
y-Achse achsensymmetrischen Graphen, für ungerade Exponenten einen ungera-
den, also zum Ursprung punktsymmetrischen Graphen.
Wir sehen uns die Funktion f .x/ D ax n etwas genauer an. Eben haben wir den
schönen Fall der Funktionen f1 und f2 mit dem Koeffizienten a D 1 betrachtet.
Aber was passiert, wenn wir ein bisschen an a herumschrauben? Aus der Schule
wissen Sie möglicherweise noch, dass der Faktor a, der auf die y-Werte wirkt, den
Graphen der Funktion strecken oder stauchen kann. Sie haben gepaukt, dass a > 1
den Graphen streckt und dass a 2 .0; 1/ ihn staucht. Möglicherweise haben Sie
einen ganzen Zoo von Streckungen und Stauchungen auswendig gelernt. Sinnvol-
ler ist es, immer wieder die Verbindung zur Anschauung herzustellen. Der Faktor
a 2 .0; 1/ staucht die Funktionswerte forg .x/ D x n zu f .x/ D ax n zusammen. Er
wirkt, als würde jemand die Funktionswerte in y-Richtung zusammendrücken. Ent-
sprechend streckt a > 1 die Funktion forg in y-Richtung, d. h. es wirkt, als würde
jemand forg in y-Richtung auseinanderziehen.
Im speziellen Fall einer Parabel können wir dies auch anders deuten. Wir schrei-
ben sie als
p
f .x/ D ax 2 D . a x/2 :
Im ersten Term wird die Wirkung von a auf die Funktionswerte in y-Richtung sicht-
p
bar. Der zweite äquivalente Ausdruck sagt, dass erst die x-Werte mit dem Faktor a
behandelt werden. Ein Faktor a > 1 streckt die Parabel in y-Richtung. Dabei wird
sie schmaler,
p sie wird also gleichzeitig in x-Richtung zusammengedrückt. Der Fak-
tor a wirkt im zweiten Ausdruck auf x und staucht unsere Parabel in x-Richtung.
Da die beiden Ausdrücke äquivalent sind und somit denselben Funktionsgraphen
liefern, entspricht eine Streckung einer Potenzfunktion in y-Richtung einer Stau-
chung in x-Richtung und umgekehrt. Verdeutlichen Sie sich diesen Zusammenhang
durch eine Skizze, und suchen Sie nach Beispielen von Funktionen, bei denen ei-
ne Streckung in y-Richtung nicht als eine Stauchung in x-Richtung ausgedrückt
werden kann. Keine Sorge, Sie finden welche.
Es kommt also auf die Perspektive an, ob die Funktion in x- oder y-Richtung
gestreckt oder gestaucht wird. Ohne Richtungsangabe bleiben beide Ausdrücke
ungenau. Durch diese Vielfalt wird es noch weniger sinnvoll, auswendig lernen
zu wollen, welcher Faktor an welcher Stelle eine Streckung oder Stauchung in
welche Richtung bewirkt. Man kommt zu schnell durcheinander, aber man kann
es sich durch die Interpretation des Funktionsausdrucks jederzeit rekonstruieren.
Überlegen Sie weiterhin, wie ein hinzukommender Faktor a die Wachstumsge-
schwindigkeit der Funktionswerte für wachsende Argumente verändert.
Wenn nun a durch seinen Gegenwert a ersetzt wird, so bleibt der Betrag der
Funktionswerte erhalten, allerdings ändert sich das Vorzeichen. Geometrisch be-
5.3 Die bekanntesten Funktionen 123
trachtet werden also alle Funktionswerte an der x-Achse gespiegelt, der Graph
wird gewissermaßen nach unten um die x-Achse geklappt. Aus der Normalparabel
f1 .x/ D x 2 wird die nach unten geöffnete Parabel f3 .x/ D x 2 . Die Monotonie-
eigenschaften drehen sich um, die Symmetrie bleibt jedoch erhalten. Zeichnen Sie
als Übung f1 und f3 in ein gemeinsames Koordinatensystem, und verdeutlichen Sie
sich das Umklappen.
5.3.2 Exponentialfunktion
Ähnliche, aber doch ganz andere Potenzausdrücke kommen zustande, wenn man
die unabhängige Variable der Funktion f .x/ nicht als Basis, sondern als Exponent
einer Potenz wählt. Funktionen der Form f .x/ D b x mit b > 0 und b ¤ 1 nennt
man Exponentialfunktionen, da die unabhängige Variable x nun im Exponenten
steht.
Man findet Exponentialfunktionen häufig im Zusammenhang mit Wachs-
tumsprozessen. Ihr berühmtester Vertreter ist die Funktion f .x/ D ex , wobei
die Basis e die Euler’sche Zahl ist, die gern als e D 2:7182 : : : angegeben wird, was
leider nichts über die besonderen Fähigkeiten dieser Super-Man-/Super-Woman-
Zahl aussagt. Die spezielle Wahl der Basis macht die Funktion so besonders, dass
sie oft als die Exponentialfunktion und mit f .x/ D ex D exp.x/ bezeichnet wird.
Bevor wir uns an eine derartige Berühmtheit heranwagen, versuchen wir es mit
einem harmloseren Vertreter aus der Gattung der Exponentialfunktionen, nämlich
mit f .x/ D 2x . Hier wird jedem Wert x 2 R seine Zweierpotenz als Funktions-
wert y zugeordnet. Man könnte sich vorstellen, dass die sehr spendable Tante Trude
ihrem Neffen jedes Jahr an seinem Geburtstag etwas Geld ins Sparschwein steckt.
Man soll nicht gierig sein, und so steckt sie ihm am Tag seiner Geburt einen Euro
ins Sparschwein und nimmt sich vor, das vorhandene Kapital jedes Jahr an seinem
Geburtstag zu verdoppeln. So enthält das Sparschwein am ersten Geburtstag des
Neffen 2 1 Euro D 2 Euro, an seinem zweiten Geburtstag 2 2 1 Euro D 4 Euro
usw., und als Sechsjähriger ist der Kleine bereits im Besitz von 26 Euro D 64 Euro.
Als Tante Trude zu seinem zehnten Geburtstag das Geld auf 210 Euro D 1024 Euro
aufstockt, wird ihr etwas mulmig, und am 18. Geburtstag verfügt der Junge über
218 Euro D 262 144 Euro, mit denen er den Führerschein machen und mehrere erste
Autos kaufen kann. Vorher eine Überschlagsrechnung zu machen, ist immer ratsam,
liebe Tante Trude.
Sie sehen, wie schnell eine Exponentialfunktion wächst, und dabei erscheint uns
die Basis 2 sogar noch klein. Die Funktionswerte von Exponentialfunktionen wer-
den sehr schnell sehr, sehr groß. Im Gegenzug dazu können sie aber auch sehr, sehr
klein werden, nämlich dann, wenn negative x-Werte ins Spiel kommen. Der Aus-
druck 2x D 2z D 21z wird für wachsende z > 0, also für negative Exponenten
x D z, ganz schnell ganz klein. Je kleiner – und an dieser Stelle meinen wir je ne-
gativer – wir x wählen, desto kleiner wird also y D 2x . Da 2x für große positive x
beliebig groß wird, wird dieser Term für betragsgroße negative x < 0 beliebig
124 5 Funktionen
x
−2 −1 1 2
−1
klein, aber eben nie null, denn auch für betragsgroße negative Exponenten ist er das
Reziproke einer positiven Zahl.
Eine Exponentialfunktion hat somit keine Nullstellen, ihr Graph berührt die
x-Achse nirgendwo, kommt ihr jedoch beliebig nahe. Falls die Basis b > 1 ist,
ist die Exponentialfunktion monoton wachsend und nähert sich für sehr negative
x-Werte der Null. Für b 2 .0; 1/ ist es umgekehrt, wie Sie sich leicht verdeutlichen.
Übrigens erfüllen alle Exponentialfunktionen f .0/ D b 0 D 1 (Abschn. 3.9), ihr
Graph geht also durch den Punkt .0; 1/. Abb. 5.5 zeigt Ihnen zwei Exponential-
funktionen.
Je größer die Basis b > 1 ist, desto schneller wachsen die Funktionswerte mit
wachsenden x bzw. desto schneller nähern sie sich für x < 0 der Null.
Eine ganz besondere Rolle spielt, wie oben schon angesprochen, die Basis e. Die
zugehörige Exponentialfunktion wird häufig schlicht als e-Funktion bezeichnet. Ge-
meint ist jedoch weiterhin die Exponentialfunktion zur Basis e, also f .x/ D ex . Sie
ist – bis auf die Zulässigkeit eines Vorfaktors a – die einzige Exponentialfunktion
f .x/ D a b x , für die der Funktionswert für jedes x gleich dem Anstieg der Funk-
tion an der Stelle x ist. Greifen wir der Definition der Ableitung in Abschn. 5.7, die
Sie aus der Schule kennen, etwas vor, so können wir sagen, dass die e-Funktion als
einzige die Gleichheit
d
f 0 .x/ D f .x/; also .a ex / D a ex
dx
erfüllt. Diese Besonderheit, die auf den ersten Blick nur eine mathematische Spie-
lerei zu sein scheint, erleichtert den Umgang mit Exponentialausdrücken und später
mit Differenzialgleichungen so entscheidend, dass die Euler’sche Zahl e sich als
beinahe einzige praktisch anzutreffende Basis in Exponentialfunktionen durchge-
setzt hat, denn man kann jede andere Exponentialfunktion über den Zusammenhang
x
b x D eln b D exln b
Da wir hier wieder auf den Logarithmus getroffen sind, vergegenwärtigen wir
uns den in der e-Funktion vorgegebenen Zusammenhang y D ex mit der Um-
kehrfunktion x D ln y. Interpretieren wir also das Bild y der e-Funktion als un-
abhängige Variable und das ursprüngliche Urbild x nun als abhängige Variable, so
können wir den Graphen der e-Funktion ebenso gut als Graphen des natürlichen Lo-
garithmus ansehen – allerdings mit vertauschten Achsen. Wenn Sie die Rollen der
Achsen zurücktauschen, also die x-Achse und die y-Achse gedanklich vertauschen,
so spiegeln Sie damit den Funktionsgraphen an der Diagonalen, und Sie finden den
Graphen der Logarithmus-Funktion u.x/ D ln x in seiner üblichen Darstellung.
Kommen wir nun zu zwei Funktionen, die zwar etwas versteckt, aber vollkom-
men natürlich in unserer Welt auftreten. Die Rede ist von der Sinusfunktion
f1 .˛/ D sin ˛ und der Kosinusfunktion f2 .˛/ D cos ˛, die in die Gruppe der
trigonometrischen Funktionen oder Winkelfunktionen gehören und deren unabhän-
gige Variable wir hier vorübergehend mit ˛ bezeichnen.
In dem Wort „trigonometrisch“ steckt der Begriff des Dreiecks, und die unabhän-
gige Variable als griechischer Buchstabe ˛ erinnert Sie hoffentlich an einen Winkel.
Schon sind wir auf einer guten Spur. Sinus und Kosinus beschreiben Zusammenhän-
ge zwischen Winkeln und Seitenlängen in einem rechtwinkligen Dreieck. Schauen
wir zurück zu Abb. 4.1 in Abschn. 4.2. Der Sinus sin ˛ des Winkels ˛ in dem recht-
winkligen Dreieck 4ABC ist das Verhältnis zwischen der Gegenkathete a und der
Hypotenuse c. Der Kosinus cos ˛ des Winkels ˛ ist das Verhältnis zwischen der
Ankathete b und der Hypotenuse c.
Der Sinus und der Kosinus sind also Verhältnisse im Dreieck. Okay, doch nun
zu den Funktionen. Dazu erweitern wir unseren Blickwinkel ein wenig. Wenn wir
nämlich in einem rechtwinkligen Dreieck argumentieren, so bleiben wegen der
Winkelsumme von 180ı D nur noch maximal 90ı D 2 für einen der anderen
Winkel übrig. Wir stellen uns vor, dass wir diesen Winkel immer weiter vergrö-
ßern, womit das Dreieck im geometrischen Sinne auseinanderbricht. Wir retten es,
indem wir uns in den Einheitskreis begeben. Sein Radius ist r D 1, und in einem
Koordinatensystem besteht er aus allen Punkten, die x 2 C y 2 D 12 D 1 erfüllen
(Abschn. 5.2.4). Wir stellen uns vor, dass die Punkte .x; y/ die Kreislinie in ma-
thematisch positivem Drehsinn, also entgegen dem Uhrzeigersinn, ausgehend von
der x-Achse, durchlaufen und dabei dem Winkel ˛ zugeordnet sind. Wie wir in
Abb. 5.6 sehen, entsteht für spitze Winkel ˛ ein rechtwinkliges Dreieck, an dem
wir die Verhältnisse ablesen können. Das ist einfach, da die Hypotenuse die Länge
r D 1 hat. Wir bemerken, dass die Wahl der Hypotenuse r D 1 keine Einschrän-
kung an die Vielfalt der Dreiecke darstellt, denn beim Sinus und Kosinus kommt es
nur auf das Verhältnis der Seiten an. Jeder andere Radius ergäbe nur eine Streckung
oder Stauchung des Bildes.
126 5 Funktionen
y
1 α=π/2
(x1,y1)
1
r=
sinα
α=π β α=0
cosβ<0 α x
sinβ
−1 cosα 1
(x2,y2)
−1 α=3π/2
Abb. 5.6 Sinus und Kosinus am Einheitskreis. Im ersten Quadranten, rechts oben, sind für einen
spitzen Winkel ˛ Sinus und Kosinus als y1 D sin ˛ > 0 und x1 D cos ˛ > 0 eingezeichnet. Mit
der Verallgemeinerung des Dreiecks durch Weiterdrehen des Winkels in mathematisch positivem
Drehsinn entsteht für ein ˇ > im dritten Quadranten, links unten, y2 D sin ˇ < 0 und x2 D
cos ˇ < 0 in negativer Richtung der Achsen
Wenn wir nun andere als spitze Winkel betrachten, so werden auch diesen Win-
keln Punkte auf dem Einheitskreis zugeordnet. In Abb. 5.6 beispielsweise gehört
zum Winkel ˇ, der etwas größer als 180ı D ist, der Punkt .x2 ; y2 /. Die Koordi-
naten dieser Punkte können negative Werte annehmen, sodass wir in Abb. 5.6 für
unser speziell gewähltes ˇ negative Werte für den Sinus und Kosinus erhalten.
Stellen wir uns diesen Zusammenhang etwas dynamischer vor. Wir legen den
Punkt .x; y/ zuerst in den Punkt .1; 0/ auf der x-Achse, wo ˛ D 0 ist. Das zugehö-
rige Dreieck ist entartet und hat keine Höhe, denn es liegt platt zusammengeklappt
auf der x-Achse, und somit gilt y D sin 0 D 0. Dagegen entspricht die Breite dem
Radius des Kreises, und es gilt x D cos 0 D 1. Wir bewegen nun den Punkt .x; y/
auf dem Einheitskreis gegen den Uhrzeigersinn. Wir vergrößern also ˛, und be-
trachten den Sinus und den Kosinus als Funktion des Winkels ˛. Wir stellen fest,
dass zunächst die Gegenkathete, also der Sinus, wächst, während die Ankathete,
also der Kosinus, kleiner wird. Nehmen Sie sich einen Stift, und zeichnen Sie ein
Koordinatensystem auf ein leeres Blatt Papier. Die waagerechte Achse versehen
Sie mit dem Winkel ˛, und auf der senkrechten Achse tragen Sie x D cos ˛ und
y D sin ˛ ab. Nun schauen Sie auf den Einheitskreis, und tragen die Werte, die
Sie dort ablesen, in das Koordinatensystem ein. Es ist ein bisschen, als würde man
blind durch einen Parcours laufen, während jemand neben einem steht und den Weg
beschreibt.
Sie setzen Ihren Stift also für den Sinus bei .˛; y/ D .0; 0/ und für den Kosinus
bei .˛; x/ D .0; 1/ an. Von dort aus laufen Sie den Parcours ab. Der Sinus steigt,
während der Kosinus fällt. Wenn Sie den Winkel weiter vergrößern, erreichen Sie
bei ˛ D 90ı D 2 den Maximalwert des Sinus, der, gefangen im Einheitskreis, nie
5.3 Die bekanntesten Funktionen 127
−1
−2
größer als 1 oder kleiner als 1 werden kann. Der Kosinus ist an dieser Stelle 0,
denn der zugehörige Punkt .x; y/ D .0; 1/ liegt auf der y-Achse. Von hier aus geht
der Parcours weiter, und der Sinus wird wieder kleiner, während der Betrag des
Kosinus zwar größer wird, jetzt allerdings ein negatives Vorzeichen aufweist, da
die x-Werte negativ werden. In Abb. 5.7 sind die beiden Funktionen für Sie zum
Vergleich dargestellt. Erreichen Sie in Ihrem Parcours auf dem Einheitskreis den
Winkel ˛ D 360ı D 2, so gehört zu diesem Winkel derselbe Punkt .x; y/ D .1; 0/
auf der x-Achse, der schon zum Winkel ˛ D 0 gehört. An diesen Stellen ermitteln
Sie also dieselben Sinus- und Kosinuswerte. Insgesamt stellt man fest, dass eine
Addition des Vollkreiswinkels 360ı D 2 zu ˛ den Punkt .x; y/ und damit den
Sinus und den Kosinus nicht ändert. Wir erhalten die als Periodizität bezeichnete
Eigenschaft
sin.˛ C 2/ D sin ˛ und cos.˛ C 2/ D cos ˛ 8˛ 2 R: (5.7)
Alle Funktionswerte wiederholen sich, ausgehend von jedem Wert ˛ nach einem
Kreisumlauf bzw. nach dem Intervall der Länge 2. Die beiden trigonometrischen
Funktionen sind also periodisch mit der Periodenlänge 2 (Abb. 5.7). Übrigens
folgt aus Gl. 5.7 durch mehrfache Anwendung, dass sin.˛ C 4/ D sin.˛ C 2/ D
sin ˛ und damit sin.˛ C 2k/ D sin ˛ für jedes ganzzahlige k 2 Z gilt.
Schauen wir uns die Symmetrien der beiden Funktionen an. Der negative Ge-
genwert zu ˛ entspricht geometrisch der Spiegelung des rechtwinkligen Dreiecks
an der x-Achse. Die Gegenkathete bleibt gleich lang, zeigt nun allerdings ins Ne-
gative. Wir halten sin.˛/ D sin ˛ fest. Die Sinusfunktion ist eine ungerade
Funktion.
Die Länge der Ankathete bleibt von einer Spiegelung an der x-Achse ebenso
unbeeindruckt wie ihr Vorzeichen. Die Kosinusfunktion ist also gerade. Es gilt
cos.˛/ D cos ˛. Wenn man bedenkt, wie viele Eigenschaften dieser Funktio-
nen man erfahren kann, ohne allzu viele ganz konkrete Werte zu kennen, scheint es
sofort überflüssig, ewig lange Tabellen für Sinus- und Kosinuswerte auswendig zu
128 5 Funktionen
0ı D 0 30ı D 45ı D 60ı D 90ı D
6 4 3 2
p p p p p p p
0 1 1 2 2 3 3 4
p D0 p D p D p D p D 1;
4 4 2 4 2 4 2 4
mit der man schon sehr weit kommt, denn die Funktionen verfügen über die wun-
derschönen Eigenschaften der Symmetrie und der Periodizität. Lassen Sie diese
nicht unbeachtet, sie helfen Ihnen. Überdenken Sie Symmetrien zu anderen Ach-
sen, z. B.
cos ˛ D sin ˛ oder sin. ˛/ D sin. C ˛/:
2
Suchen Sie nach weiteren solchen Eigenschaften. Nutzen Sie die Eigenschaften, um
sich die Arbeit zu erleichtern. Außerdem sind die Additionstheoreme nützlich, von
denen wir schon eines in Gl. 3.14 aufgeschrieben haben.
Eine Auflistung aller Zusammenhänge zwischen den trigonometrischen Funk-
tionen würde den hiesigen Rahmen sprengen, ist aber auch nicht nötig, denn die
meisten ergeben sich durch geometrische Betrachtungen. Der Satz des Pythagoras,
den Sie gebetsmühlenartig in der Schule wiederholt haben, liefert bei Anwendung
auf die rechtwinkligen Dreiecke in Abb. 5.6 die Formel
cos2 ˛ C sin2 ˛ D 1;
5.3.4 Betragsfunktion
Bei unserer Reise durch die Welt der Funktionen und ihrer bekanntesten Vertre-
ter schlagen wir einen kleinen Bogen zur Betragsfunktion f .x/ D jxj, über die
wir nach der Diskussion des absoluten Betrags in Abschn. 3.3 schon fast alles wis-
sen. In der Fallunterscheidung in Gl. 3.5 wurde definiert, dass die Betragsfunktion
f W R ! R mit f W x 7! jxj nichtnegative x-Werte auf sich selbst und negati-
ve x-Werte auf ihren Gegenwert abbildet. Die Betragsfunktion entspricht also für
nichtnegative x 0 der Diagonalen im ersten Quadranten und für negative x < 0
der absteigenden Gegendiagonalen im zweiten Quadranten (Abb. 5.8). Verdeutli-
chen Sie sich die Symmetrieeigenschaften der Betragsfunktion, die übrigens eine
gerade Funktion ist.
Wie bereits gesagt, gibt es unendlich viele Funktionen und Variationen von be-
kannten Funktionen. Sie können aus Funktionen, wie z. B. aus f .x/ D jxj und
g.x/ D x 3 , durch Rechenoperationen wie u.x/ D f .x/ C g.x/ D jxj C x 3 oder
5.4 Verkettung von Funktionen 129
Zu Beginn dieses Kapitels haben Sie gelesen, dass eine Funktion f jedem Argu-
ment x des Definitionsbereichs D eindeutig einen Funktionswert f .x/ aus dem
Bildbereich B zuordnet. Wir stellen uns diese Zuordnung als einen Automaten vor,
in den Sie einen Wert hineingeben und der Ihnen dafür einen Funktionswert liefert,
und wir schauen uns nochmal das Beispiel der Kugel aus Abschn. 5.1 an.
Der Zusammenhang zwischen dem Radius r und dem Umfang U einer Kugel
an ihrer breitesten Stelle wird durch die Gleichung für den Kreisumfang U D 2 r
beschrieben. Eine Funktion, die den Umfang auf den Radius abbildet, entspricht
einem Automaten, der den Umfang U zum zugehörigen Radius r verarbeitet. Die
dazugehörige Funktion ist
U
g W Œ0; 1/ ! Œ0; 1/ mit g W U 7! g.U / D :
2
Nun nehmen wir zu diesem Automaten einen weiteren hinzu, der wie in Gl. 5.1 dem
Radius r der Kugel ihr Volumen V zuordnet, also
4 3
f W Œ0; 1/ ! Œ0; 1/ mit f W r 7! f .r/ D r D V:
3
130 5 Funktionen
Die Funktion f wird also für den Wert g.U / ausgewertet (vgl. das potenzierte
Urmel aus Abschn. 5.1).
In unserem Beispiel passen die beiden Funktionen und insbesondere ihre
Definitions- und Bildbereiche wunderbar zusammen. Der Automat g liefert einen
Radius, und der Automat f verwertet diesen Radius. Häufig ist dies jedoch nicht
ganz so einfach, und es muss darauf geachtet werden, dass der zweite Automat die
ihm vorgelegten Werte auch verarbeiten kann. Mathematisch betrachtet muss der
Bildbereich der ersten Funktion g eine Teilmenge des Definitionsbereichs der zwei-
ten Funktion f sein, damit die Bilder von g als Eingangswerte in f eingespeist
werden können.
Zusammenfassend und ganz allgemein können wir eine Verkettung von zwei
Funktionen
und
schreiben. Wählen Sie Funktionen, und verknüpfen Sie diese miteinander in einer
möglichst sinnvoll interpretierbaren Form wie im Beispiel mit der Kugel. Es übt
auch, wenn Sie mehr als zwei Funktionen oder Automaten hintereinanderschalten.
5.5 Flächen und Änderungen 131
Schon in Abschn. 2.8 haben wir die Berechnung von Flächeninhalten angespro-
chen. Die Fläche eines Rechtecks mit den Kantenlängen a und b ist F D a b. Die
Fläche eines näherungsweise rechteckigen Tischs ist etwa das Produkt seiner Länge
und Breite. Wenn sich Verwandtschaft ankündigt und der Tisch an einer Seite aus-
gezogen werden kann, vergrößern Sie dessen Seitenlänge um den Auszug, den wir
a nennen. Die Breite b bleibt erhalten. Das griechische können Sie als Abkür-
zung für die Differenz von a, also für die Änderung dieser Kantenlänge betrachten
(Abb. 5.9).
Der neue Flächeninhalt des Tischs ist Fneu D .a C a/b. Zieht man den Inhalt
der ursprünglichen Fläche ab, erhält man das Extrastück, das ausgezogen wurde,
also die Vergrößerung des Flächeninhalts F D .a C a/b ab D a b.
Setzen wir nun die Änderung des Flächeninhalts zur Änderung der Kantenlänge in
Beziehung, so erhalten wir die Änderungsrate
F a b
D D b:
a a
Nicht ganz so einfach ist es, wenn Ihre Wohnung etwas weniger klassisch eingerich-
tet ist und rechteckige Tische aus der Mode gekommen sind. Die Tischplatte soll
zunächst ein gleichschenkliges, rechtwinkliges Dreieck sein, und wie in Abb. 5.10
soll die Dreiecksform beim Ausziehen erhalten bleiben.
Grundseite und Höhe des ursprünglichen Dreiecks haben beide die Länge a, und
die Fläche ist F D 12 a2 . Wie oben drücken wir das neue, ausgezogene Flächenstück
nach einer Seitenverlängerung um a als Differenz aus alter und neuer Gesamtflä-
che F D 12 .a C a/2 12 a2 aus. Das Verhältnis zur Änderung der Kantenlänge
ist
F 1
.a C a/2 12 a2 a a C 12 . a/2 1
D 2 D D a C a:
a a a 2
F b ΔF
a Δa
132 5 Funktionen
F ΔF
a Δa
Wenn die Änderung der Kantenlänge a sehr klein ist und im Sinne eines Prozesses
sogar beliebig klein wird, ist der zweite Summand in a C 12 a mehr und mehr
vernachlässigbar.
Wenn eine Größe beliebig klein wird, bedeutet dies, dass die Größe ganz nahe
und immer näher an die Null heranrutscht, jedoch positiv bleibt und die Null nie
erreicht. Man stellt sich einen Prozess vor, in dem die Größe, aus dem Positiven
kommend, immer kleiner wird, und betrachtet die davon abhängigen Änderungs-
prozesse der anderen beteiligten Größen. Wenn also a beliebig klein wird, so ist
die Änderungsrate der Dreiecksfläche die Höhe a, so wie weiter oben die Ände-
rungsrate des Rechtecks dessen Höhe b.
Je unregelmäßiger Ihre Tischplatte geformt ist, desto aufwendiger werden die
Betrachtungen der Veränderungen. Beispielsweise können Sie den letzten Fall ver-
allgemeinern, indem Sie ein nicht gleichschenkliges, rechtwinkliges Dreieck wäh-
len, dessen Höhe b D a ein Vielfaches der Grundfläche ist. Stellen Sie für diese
Figur die Änderungsrate auf. Wenn Sie diese etwas zusammenfassen, erhalten Sie
F
a
D b C 12 a D a C 12 a, wobei der letzte Summand mit beliebig kleinem
a ebenfalls beliebig klein wird.
Betrachten Sie weitere Figuren und bestimmen Sie deren Änderungsrate, wenn
Sie eine Seitenlänge um a vergrößern. Nicht alle Flächen sind geeignet, da in
einigen Fällen komplizierte Rechnungen entstehen, aber es bietet sich etwa ein Tra-
pez an, dessen Grundseite a vergrößert wird. Probieren Sie es aus. Fertigen Sie
eine Skizze an, überlegen Sie, wie sich welche Flächen beschreiben lassen, und
versuchen Sie sich daran. Zur Kontrolle sei verraten, dass die Änderungsrate die
halbe Trapezhöhe ist. Selbstverständlich können Sie auch andere Größen, wie bei-
spielsweise die Trapezhöhe, ändern und die Änderungsrate bestimmen. Drehen Sie
an ein paar Rädchen, ziehen Sie ein paar Tischplatten in verschiedene Richtungen,
und schauen Sie, was passiert.
5.6 Integrale 133
5.6 Integrale
Hier interessiert uns die Fläche zwischen dem Graphen einer Funktion und der
x-Achse im Intervall Œa; b. Am besten erkennt man diese in einer Skizze wie in
Abb. 5.11. Zur Berechnung der Fläche – oder besser zur Annäherung des Flächen-
inhalts – teilen wir die Fläche in mehrere Streifen auf und nähern den Flächeninhalt
jedes Streifens durch ein Rechteck an.
Wir stellen uns eine Wiese vor, die an einer Straße in Richtung der x-Achse zwi-
schen den Meilensteinen a und b liegt. Am anderen Ende wird die Wiese von einem
Bach entlang der Funktion y D f .x/ begrenzt. Jemand mäht nun diese Wiese, in-
dem er mit dem Rasentraktor senkrecht zur Straße über die Wiese fährt. Dadurch
entstehen Streifen von der Breite des Rasentraktors, und die Fläche der Wiese kann
durch die insgesamt gefahrene Strecke des Rasentraktors multipliziert mit seiner
Breite recht gut angenähert werden. Offenbar muss man mit einem schmaleren
Traktor häufiger fahren und erhält mehr Streifen.
Mathematisch erhalten wir die Streifen, indem wir das Intervall Œa; b durch
N 1 Punkte xk mit k D 1; : : : ; N 1 zwischen a und b in N Teilintervalle
zerlegen. Mit der zusätzlichen Bezeichnung x0 und xN der Randpunkte gilt für die
Punkte a D x0 < x1 < < xN 1 < xN D b. Diese Punkte trennen unse-
re Streifen. Die Breite der Streifen bezeichnen wir mit xk D xk xk1 , was
selbstverständlich nur für die Indizes k gilt, für die tatsächlich ein Streifen entsteht.
In unserer Einteilung dürfen die Streifen also unterschiedlich breit sein. Für die
Länge der Streifen verwenden wir näherungsweise die Entfernung von der Straße
zum Bach – entschuldigen Sie, von der x-Achse zum Graphen an der rechten Seite
des Streifens. Wir wissen wohl, dass die Entfernung auf der linken Seite des Strei-
fens ein wenig anders sein kann, aber wenn der Streifen schmal genug ist, sollte
Fk D f .xk / xk eine brauchbare Näherung für die Fläche des Streifens sein.
Insgesamt nähern wir die gesuchte Fläche F unter der Funktion durch die Summe
FQ der Inhalte der Streifen an, und wir erhalten
X
N X
N
F FQ D Fk D f .xk / xk : (5.8)
kD1 kD1
Manche fragen, was das Ungefährzeichen genau bedeutet, und wir antworten
lax, dass es ungefähr genau bedeutet. Viel entscheidender als die echte Nähe der
Zahlenwerte für F und FQ , die wie am rechten Rand in Abb. 5.11 stark voneinan-
der abweichen können, ist hier der inhaltliche Zusammenhang. Dem Zeichen in
Gl. 5.8 liegt die Hoffnung zugrunde, dass immer schmalere Streifen, also immer
schmalere Rasentraktoren, immer bessere Annäherungen liefern.
Wir haben wieder einen Prozess von immer zahlreicheren, schmaler werdenden
Streifen. Schließlich kann man sich winzig schmale Nadeln der Länge f .x/ an jeder
Stelle x vorstellen, die in riesiger Zahl als winzig schmale Streifen die Fläche unter
134 5 Funktionen
y
y=f(x)
...
F F F
1 2 N
... x
x =a x x x b=x
0 1 2 N−1 N
Abb. 5.11 Näherung des Flächeninhalts unter einer Funktion f durch Zerlegung der Fläche in
Streifen der Breite xk und näherungsweise Beschreibung ihrer Flächeninhalte als Rechtecke.
Passable Näherung am linken Rand nahe a, weniger gute am rechten Rand bei b. Ausdruck der
innigen Hoffnung, dass gleichmäßig schmalere Streifen bessere Näherungen des Flächeninhalts
ergeben, was sie in fast allen praktischen Fällen auch tun
Rechts steht unsere bekannte Summe der Flächeninhalte der Streifen, aber links
steht die Summe – eben das Integral – über infinitesimal viele infinitesimal schmale
Streifen der Höhe f .x/ und der Breite dx. Das Wort infinitesimal beschreibt dabei
den Grenzübergang aus unserem Prozess.
Aus der Streifenbreite xk wird im Integral das Differenzial dx. Wenn man sich
das infinitesimale dx vorstellen will, so ist die Aussage, dass es unendlich klein oder
beliebig klein ist, keine zufriedenstellende und auch keine ganz richtige Antwort.
Leider können wir Ihnen hier keine abschließende Antwort geben. Studierende der
Mathematik beschäftigen sich ganze Semester mit dem mysteriösen dx, um ihm
ganz genau auf die Schliche zu kommen. Sie werden jedoch schnell eine Vorstellung
von dem Differenzial dx entwickeln.
5.6 Integrale 135
F
2
F
1
Δx1 Δx2 Δx3
x
a=0 1 2 b=3
Das Differenzial ist nicht null und auch nicht ein klein bisschen mehr als die
Null. Es ist etwas dazwischen, für das wir bisher kein Wort und kein Gespür haben.
Das Differenzial ist gewissermaßen eine Null mit Vergangenheit. Die Vergangenheit
des dx ist dabei der Prozess, wie die Breite x immer kleiner und kleiner wurde.
Die Vergangenheit des Unendlich 1 in der Summe der unendlich vielen unend-
lich schmalen Streifen muss zur Vergangenheit des dx passen, damit die Summe in
Gl. 5.8 gegen die Fläche unter der Kurve strebt.
In unseren Abbildungen zeichnen wir das Differenzial als ein kleines endlich
langes Stück, und wir stellen uns vor, dass dieses kleine Stück so klein ist, dass die
betrachteten Größen und Funktionen sich in diesem Stück nur ganz minimal ändern.
Insbesondere krümmen sie sich in diesen winzigen Abschnitten kaum. Ähnlich wür-
de das Bild unter einer Lupe aussehen. Wenn wir mit einer Lupe eine Parabel, die
ganz sicher gekrümmt ist, betrachten, so werden wir in der Vergrößerung der Lupe
nur eine ganz leicht gekrümmte Kurve entdecken. Je stärker die Lupe vergrößert,
desto kleiner ist der Ausschnitt, den wir sehen, und umso gerader erscheint uns der
Funktionsgraph. Unter einer unendlich stark vergrößernden Lupe wäre er eine Gera-
de. Schließlich würden wir nur ein sehr stark auseinandergezogenes infinitesimales
Stück in Richtung des Funktionsverlaufs sehen. Solch eine Lupe, die es natürlich
nicht gibt, nennen wir hier eine unendliche Lupe. Unter einer unendlichen Lupe
wird nun das Differenzial zu einer endlichen Länge, ein Punkt bleibt jedoch ein
Punkt. Ein endliches Intervall würde unter der unendlichen Lupe unendlich groß,
aber wir zeichnen es trotzdem oft in dieselbe Skizze ein. Wir probieren das.
Wir wollen die Sache mit den Streifen und dem Prozess praktisch ausprobieren
und wählen dazu den einfachen Fall einer Dreiecksfläche, die wir durch f .x/ D x
im Intervall Œa; b D Œ0; 3 beschreiben. Dies bietet gleichzeitig den Vorteil, dass
wir die tatsächliche Fläche F D 92 zwischen dem Graphen und der x-Achse im
angegebenen Intervall kennen, denn dies ist die Fläche des Dreiecks (Abb. 5.12).
Wenn wir nur einen Streifen zur Annäherung der Fläche wählen, erhalten wir
mit x1 D 3 für N D 1, x0 D 0, x1 D 3 die sehr grobe Näherung FQ D 9 aus
Gl. 5.8. Betrachten wir also lieber eine etwas feinere Unterteilung und wählen die
136 5 Funktionen
F5
F4
F
3
F
2
... Δx3 Δx4 Δx5 Δx6
x
a=0 1 2 b=3
ba b a
x D xk D für k D 1; : : : ; N und xk D a C k x D a C k :
N N
Wir haben hier die einheitliche Breite aller Streifen mit x bezeichnet, und damit
wird die Summe in Gl. 5.8 zu
X
N X
N X
N
FQ D f .xk / xk D f .a C k x/ x D .a C k x/ x:
kD1 kD1 kD1
Der letzte Umformungsschritt, bei dem scheinbar nur f wegfällt, ist von so grandio-
ser Schlichtheit, weil wir f .x/ D x betrachten und das f somit in diesem Beispiel
5.6 Integrale 137
nichts verändert. Beim Aufräumen, also hier beim Ausklammern, erhalten wir
XN X
N XN
FQ D a x C k . x/2 D a x 1 C . x/2 k:
kD1 kD1 kD1
Unter Verwendung der schon bekannten Summe aus Gl. 3.16 für den zweiten Sum-
manden und der Summe über N Einsen im ersten Summanden entsteht
2
N.N C 1/ b a ba N.N C 1/
FQ D a x N C . x/2 Da N C :
2 N N 2
Im ersten Summanden kürzt sich das N auf verblüffende Art und Weise, im zweiten
steht wenigstens im Zähler und im Nenner jeweils ein Polynom zweiten Grades.
Diesen Teilterm können wir zu
N.N C 1/ N C1 1
D D1C
N2 N N
verarbeiten. Wir erinnern uns, dass wir die Summe der Flächeninhalte für unendlich
viele unendlich schmale Streifen, also für über alle Maßen wachsende N , ausrech-
nen wollen. An dieser Stelle müssten wir eigentlich ein mathematisches Werkzeug –
nämlich den Grenzwert lim – soweit im Griff haben, dass wir den Grenzübergang
N !1
mathematisch sauber fassen können. Allerdings sehen wir auch ohne die genaue
Kenntnis, was dem Ausdruck N1 passiert, wenn N wächst und wächst. Sie können
sich vorstellen, dass Sie eine Flasche Bier auf N Studierende aufteilen. Je größer N
wird, desto weniger bekommt jeder. Und wenn die Anzahl N unendlich groß wird,
wird die Menge Bier für jeden unendlich klein. So klein, dass sie eigentlich nicht
mehr der Rede wert ist. Also haben wir
N.N C 1/ 1 .b a/2
lim 2
D lim 1 C D 1 und lim FQ D a.b a/ C :
N !1 N N !1 N N !1 2
Wenn wir an die Hoffnung glauben, dass die Summe der Inhalte unserer Streifen
gegen die korrekte Fläche strebt, so können wir
Zb
.b a/2 b a b 2 a2
F D f .x/ dx D a.b a/ C D aC .b a/ D
2 2 2 2
a
festhalten, wobei die letzte Vereinfachung mit der dritten binomischen Formel ent-
standen ist. Für unser Beispiel im Intervall Œa; b D Œ0; 3 erhalten wir tatsächlich
den Flächeninhalt F D 92 des Dreiecks.
Die Einteilung der Intervalle muss nicht so gleichmäßig wie in unserer Rech-
nung sein. Genau genommen müssten wir nachweisen, dass die angenäherte Fläche
FQ für alle und auch für unterschiedliche Breiten xk , die beliebig klein werden,
gegen den Flächeninhalt F strebt. Sie sehen, dass es noch einige Mathematik mehr
138 5 Funktionen
gibt, die schon in diesem einfachen Beispiel steckt und die für schwierigere Inte-
grale, beispielsweise zur Berechnung gekrümmter Flächen im Dreidimensionalen,
bedeutsam wird.
Die Technik, mit der wir die Fläche eines Dreiecks berechnet haben, ist nicht der
Weg, mit dem praktischerweise Integrale berechnet werden. Schauen Sie dazu eher
in Abschn. 5.8. Aber es ist dennoch der Weg, der dem theoretischen Hintergrund
des Integralbegriffs am besten entspricht. Überprüfen Sie Ihr Verständnis, indem
Sie auf die hier vorgestellte Weise das Integral
Zb X
N
N.N C 1/.2N C 1/
F D x 2 dx unter Mithilfe von k2 D
6
a kD1
nachrechnen (Gl. 8.7). Vergessen Sie die Skizze nicht. Ihr Ergebnis überprüfen Sie
mithilfe der in Abschn. 5.8 vorgestellten Stammfunktionen und dem Hauptsatz der
Differenzial- und Integralrechnung.
Die Fläche F beschreibt den Inhalt der von f eingegrenzten Fläche über dem
Intervall Œa; b. Diese Fläche kann damit selbst wieder als Funktion in Abhängigkeit
von der oberen Intervallgrenze aufgefasst werden. In unserem Beispiel entsteht
Zb
b 2 a2
F .b/ D x dx D (5.10)
2 2
a
als Funktion von b. Die untere Intervallgrenze a wird als beliebiger aber fester
Parameter betrachtet. Die Funktion F D F .b/ in Abhängigkeit von der oberen
Intervallgrenze b, die oft auch wieder in Abhängigkeit von x als F D F .x/ aufge-
schrieben wird, heißt eine Integralfunktion zu f D f .x/.
5.7 Ableitungen
In Abschn. 5.5 haben wir uns ausgezogene Tischplatten als Veränderungen von
Flächeninhalten angeschaut. Im vorigen Abschnitt haben wir die Fläche unter Funk-
tionsgraphen als Integrale bestimmt. Hier versuchen wir, beide Themen in Einklang
zu bringen. Wir werden sehen, dass die beiden zunächst ganz unterschiedlichen An-
sätze viel miteinander zu tun haben.
Abbildung 5.14 zeigt uns wie schon Abb. 5.9 und Abb. 5.10 – nun blättern
Sie schon zurück und vergleichen Sie die Bilder – eine Fläche, die sich durch
die Änderung eines Bestimmungsstücks ändert. In Abschn. 5.5 war dieses Bestim-
mungsstück eine Kantenlänge, jetzt ist es die Intervallobergrenze b.
Das ursprüngliche Flächenstück F über dem Intervall Œa; b haben wir schon
in Gl. 5.9 aufgeschrieben. Die vergrößerte Fläche Fneu ist das Integral über dem
Intervall Œa; b C b. Ganz wie in Abschn. 5.5 heißt das hinzukommende Flächen-
5.7 Ableitungen 139
F ΔF
Δb
x
a b
Z
bC b Zb Z
bC b
was wieder einmal mathematisch gewaltig aussieht, sich aber leicht in eine Sub-
traktion von Teilflächen übersetzen lässt. Die hinzugekommene Fläche wird wieder
sehr lax durch ein Rechteck mit der Breite b und der Höhe f .b/ am linken Recht-
eckrand angenähert. Diese Annäherung wird immer besser, je näher das rechte
Intervallende b C b an b heranrückt, also je kleiner b wird. Wir finden
Z
bC b
F
F D f .x/ dx f .b/ b und damit f .b/;
b
b
wobei das Verhältnis der Flächenänderung F zur Änderung b für immer kleiner
und kleiner werdende b immer besser angenähert wird, weil die Abweichung bei
der Annäherung von F durch ein Rechteck immer kleiner wird. Im Laufe des
Prozesses der Verkleinerung von b wird auch F kleiner, und wir können den
Grenzübergang des Prozesses wieder durch Differenziale ausdrücken. Wir erhalten
F dF
lim D D f .b/:
b!0 b db
Diesen Zusammenhang kann man sich wie folgt vorstellen. Die Vergangenheit der
Null dF dividiert durch die Vergangenheit der Null db ist das Verhältnis, in dem
F relativ zu b kleiner geworden ist. Es entspricht der Länge f .b/ der Nadel, die
bei einer infinitesimalen Verschiebung der oberen Intervallgrenze b zur Fläche F
hinzukommt und die den Flächeninhalt f .b/ dx hat.
140 5 Funktionen
y=F(x)
F(b+Δb)
ΔF
F(b)
Δb
x
b b+Δb
Abb. 5.15 Verhältnis der Differenz F D F .b C b/ F .b/ der Funktionswerte zur Diffe-
renz b der Argumente b C b und b als Anstieg im Steigungsdreieck. Sekante (gestrichelt)
und Tangente (durchgezogen) im Punkt .b; f .b//. Unter der unendlichen Lupe wäre die Funkti-
on F in ihrem infinitesimalen Ausschnitt ganz gerade und würde genau mit der Hypotenuse des
Steigungsdreiecks und der Tangente übereinstimmen
Wir formulieren dieselben Zusammenhänge etwas anders, wenn wir in Gl. 5.11
die Integralfunktion F D F .b/, also die Abhängigkeit der betrachteten Fläche von
b, nutzen und Fneu D F .b C b/ schreiben. Gl. 5.11 wird zu
F F .b C b/ F .b/
F D F .b C b/ F .b/ oder D :
b b
F .b C b/ F .b/ F .x C h/ F .x/
lim D f .b/ oder lim D f .x/; (5.12)
b!0 b h!0 h
wobei wir in der zweiten Formel nur die Variablen x D b und h D b umbe-
nannt haben. Bis jetzt drückt diese Gleichung einen Zusammenhang zwischen der
ursprünglichen Funktion f an der Stelle x und ihrer Integralfunktion F , d. h. der
Fläche unter f im Intervall Œa; x, mit variabler oberer Intervallgrenze x aus. Da die
untere Intervallgrenze nicht in unserem Zusammenhang auftaucht, ist sie offenbar
für den Zusammenhang nicht wichtig. Dazu kommen wir gleich. Zunächst interpre-
tieren wir den Zusammenhang in Gl. 5.12 noch anders, nämlich wie in Abb. 5.15.
Dazu betrachten wir nun die Funktion F D F .x/ als gegeben. Das Verhält-
nis aus der Differenz F D F .b C b/ F .b/ der Funktionswerte und der
Differenz b der Argumente b C b und b, auch Differenzenquotient genannt,
beschreibt den Anstieg m der Hypotenuse im Steigungsdreieck (Abschn. 5.2.2).
Für kleiner und kleiner werdende b stimmt der Verlauf der Hypotenuse immer
besser und besser mit dem Verlauf der Funktion f überein, und die Hypotenuse
nähert sich der Tangente an die Funktion f .
5.7 Ableitungen 141
d dF .x/ F .x C h/ F .x/
F 0 .x/ D F .x/ D D lim D f .x/ (5.13)
dx dx h!0 h
eine Formel, wie sie in fast jedem Mathematikbuch steht und wie wir sie schon in
Abschn. 3.7 als Einsetzübung verwendet haben. Die Schreibweise F 0 .x/ ist eine
Abkürzung für den Differenzialquotienten und wird Ableitung genannt.
Nebenbei bemerkt müsste man aus Sicht der Mathematik das alles noch deutlich
präziser formulieren, denn der Grenzübergang von der Differenz b zum Diffe-
renzial db und damit vom Differenzenquotienten zum Differenzialquotienten muss
nicht immer reibungslos gelingen. Mit der Frage, ob der Grenzübergang gelingt
und unter welchen Umständen, wird sich voraussichtlich auch Ihre Mathematikvor-
lesung beschäftigen.
Wenn der Grenzübergang an der Stelle b gelingt, wenn also die Ableitung F 0 .b/
existiert, so können wir die Gleichung der in Abb. 5.15 eingezeichneten Tangente
an die Funktion F D F .x/ an der Stelle b angeben, denn wir kennen ihren Anstieg
m D F 0 .b/ und den Punkt .b; F .b//, an dem sie den Funktionsgraphen berührt.
Wie in Gl. 5.4 hat die Tangente also die Gleichung
Diese Geradengleichung gibt die y-Werte der Tangente in Abhängigkeit von x an.
Der Parameter b bezeichnet die Stelle, an der die Tangente anliegt. Für viele realis-
tische Funktionen F gilt g.x/ F .x/, wenn x nahe an b liegt. Die Tangente ist
übrigens der erste nichttriviale Schritt zur Taylor-Entwicklung der Funktion F an
der Entwicklungsstelle b. Freuen Sie sich darauf in Ihrer Vorlesung.
Jetzt lehnen wir uns einen Moment zurück und genießen die beiden unterschied-
lichen Zusammenhänge, die wir herausgearbeitet haben. Wenn wir erstens von der
Funktion f ausgehen, dann ist die Fläche unter f in Abhängigkeit von der oberen
Intervallgrenze b eine Integralfunktion F D F .b/. Wir sprechen von „einer“ Inte-
gralfunktion, weil es für unterschiedliche untere Intervallgrenzen unterschiedliche
Integralfunktionen gibt. Gehen wir aber zweitens von einer Funktion F D F .x/
aus, ist ihr Anstieg an der Stelle x ihre Ableitung F 0 .x/.
In Gl. 5.13 haben wir herausgearbeitet, dass diese beiden Zusammenhänge eng
zusammengehören, denn es gilt F 0 .x/ D f .x/, zumindest wenn die Ableitung
F 0 .x/, also der Differenzialquotient in Gl. 5.13, existiert. Drehen wir dies noch
einmal um, so heißt eine Funktion F D F .x/ eine Stammfunktion zu f , wenn
F 0 .x/ D f .x/ gilt, wozu es F 0 .x/ natürlich geben muss. Auch hier gibt es wieder
mehrere Stammfunktionen, denn mit jeder Funktion F D F .x/ ist auch Fmod .x/ D
F .x/ C c mit einer Konstanten c eine Stammfunktion, was Sie durch Einsetzen in
Gl. 5.13 leicht nachweisen.
Wir haben die Begriffe der Stammfunktion und der Integralfunktion hier aus
zwei unterschiedlichen Herangehensweisen gewonnen, auch wenn wir wissen, dass
142 5 Funktionen
Zb Zb
0 d
F .b/ D f .x/ dx D f .b/ und F 0 .x/ dx D F .b/ F .a/: (5.15)
db
a a
Den wüsten Term im Zähler vereinfachen wir durch Anwendung der binomischen
Formeln. Da 12 b 2 ebenso wie 12 a2 einmal hinzuaddiert und einmal abgezogen wer-
den, fallen diese Terme weg, und insbesondere ist der Zähler von a unabhängig. Es
entsteht
1 2b b C . b/2 1
F 0 .b/ D lim D lim .2b C b/ D b;
2 b!0 b 2 b!0
was sofort durch f .b/ D b bestätigt wird. Hurra. Die Funktion F D F .b/, welche
eine um 12 a2 nach unten verschobene Parabel ist, hat also an der Stelle b den Anstieg
bzw. die Steigung f .b/ D b.
Berechnen Sie so die Ableitung von anderen Funktionen. Beginnen Sie beispiels-
weise mit der Ableitung von f .x/ D x, und verdeutlichen Sie sich Ihr Ergebnis an
einer Skizze.
Mit den Ableitungen und den Integralen haben wir uns in diesem Kapitel bereits in
unerhörte mathematische Höhen vorgewagt. Wenn Sie Funktionen mit einem Stift
auf einem Blatt Papier ableiten oder integrieren wollen oder müssen, so werden Sie
5.8 Ableitungs- und Integrationsverfahren 143
sicher weder wie in Abschn. 5.6 die Fläche als unendliche Summe über infinitesi-
male Streifen noch wie in Abschn. 5.7 den Anstieg über den Differenzialquotienten
berechnen, was natürlicht geht, aber aufwendig sein kann. Eher leicht finden Sie
wie eben die Ableitung für f .x/ D x 2 , denn es ist
.x C h/2 x 2 2xh C h2
f 0 .x/ D lim D lim D lim .2x C h/ D 2x:
h!0 h h!0 h h!0
Probieren Sie dies auch für f .x/ D x 3 und f .x/ D x 4 . Wenn Sie eine Systematik
für die Ableitungen der Potenzfunktionen vermuten, so finden Sie diese in Gl. 5.16.
Die Ableitungen der bekanntesten Funktionen sind in Tabellen wie
d d 1
.x n / D nx n1 für n ¤ 0 und ln x D (5.16)
dx dx x
sowie
d x d d
.e / D ex ; sin x D cos x und cos x D sin x
dx dx dx
gesammelt. Sie werden diese Ableitungen verwenden, ohne für jede jederzeit im
Detail zu wissen, wie man sie formal herleitet.
Übrigens brauchen Sie – zumindest für so einfache Funktionen – keine eigene
Tabelle für die Stammfunktionen, denn Sie können die Ableitungen der bekanntes-
ten Funktionen umkehren und kommen so zu den Stammfunktionen der bekanntes-
ten Funktionen.
Sie werden sehr schnell verinnerlichen, dass die Ableitung der Summe zweier
Funktionen die Summe ihrer Ableitungen ist und dass ebenso die Stammfunktion
einer Summe die Summe der Stammfunktionen ist. Hier dürfen Sie die Reihenfolge
von Handlungen einmal vertauschen, und diese Vertauschbarkeit ist eine ganz be-
sondere Eigenschaft, nämlich die Linearität der Ableitung oder der Integralbildung
als Handlung auf den Funktionen.
Spannender wird es, wenn die bekanntesten Funktionen durch Produkte oder
Verkettungen zu komplizierten Funktionen übereinandergetürmt werden. In den
beiden folgenden Abschnitten werden wir herausarbeiten, dass die Bestimmung der
Ableitungen von solchen komplizierteren Funktionen meist die rein schematische
Anwendung von nur zwei Regeln – nämlich der Produkt- und der Kettenregel – ist,
während das Auffinden einer Stammfunktion für kompliziertere Funktionen häufig
ein kleines trickreiches Kunstwerk aus Raffinesse und Geschicklichkeit ist.
Betrachten wir ein Rechteck mit dem Flächeninhalt F D a b, und stellen wir
uns vor, dass wir beide Seiten a und b um a bzw. b ändern. Die Änderung des
Flächeninhalts ist dann
F D .a C a/ .b C b/ ab D a b C a b C a b:
144 5 Funktionen
Bitte zeichnen Sie eine Skizze und stellen Sie sich vor, dass die Änderungen der
Seiten sehr klein, im Sinne des schon besprochenen Verkleinerungsprozesses sogar
beliebig klein, werden. Das Produkt a b der beiden kleinen Änderungen wird
dann noch schneller klein, und dies geschieht so viel schneller, dass wir das Pro-
dukt im Grenzübergang vernachlässigen können. Das müssten wir selbstverständ-
lich noch mathematisch sauber begründen, um mit unserer Anschauung kleiner und
noch kleinerer Größen keine unsinnigen Schlüsse zu erzeugen.
Stellen wir uns weiter vor, dass die Seitenlängen a D a.x/ und b D b.x/
von einer Variablen x abhängen. Damit hängt natürlich auch der Flächeninhalt
F D F .x/ D a.x/b.x/ von dieser Variablen ab. Aus unseren obigen Überlegungen
ergibt sich
dF db da
Da C b;
dx dx dx
weil der dritte sehr kleine Summand null wird. Sehr vage stellen wir uns diesen drit-
ten Summanden, also den Quotienten aus dadb und dx, so vor, dass im Nenner eine
Null mit Vergangenheit und im Zähler ein Produkt aus zwei Nullen mit Vergangen-
heit steht. Nachdem der Quotient zweier Nullen mit Vergangenheit eine Ableitung
ergibt, bleibt eine Null mit Vergangenheit übrig. Diese Null mit Vergangenheit ist
nicht gleich null und auch nicht etwa größer als null. Aber wenn man sie zu einem
Wert ungleich null additiert, so bewirkt sie wie eine ganz gewöhnliche Null nichts.
Im Grenzübergang wird der quadratische Ausdruck a b viel schneller klein als
x.
In der letzten Gleichung sehen wir schon die Produktregel, die meist für zwei
Funktionen u D u.x/ und v D v.x/ als
d
Œu.x/v.x/ D Œu.x/v.x/0 D u.x/v 0 .x/ C u0 .x/v.x/ (5.17)
dx
aufgeschrieben wird. Solche Rechenschemata lernt man gut, wenn man sie auf Bei-
spiele anwendet, die keine technischen Schwierigkeiten bereiten. Testen Sie die
Produktregel mit u.x/ D x 3 und v.x/ D x 2 mit den Ableitungen u0 .x/ D 3x 2 und
v 0 .x/ D 2x. Das Produkt u.x/v.x/ D x 5 ist wieder eine Potenzfunktion, die Sie
sozusagen zur Probe auch als fertiges Produkt ableiten können.
Der Hauptsatz der Differenzial- und Integralrechnung aus Gl. 5.15 zaubert uns
aus der Produktregel in Gl. 5.17 sofort eine Regel zur Integration, die partielle In-
tegration genannt wird. Denn aus
Zb Zb Zb
0 0
u.b/v.b/ u.a/v.a/ D Œu.x/v.x/ dx D u.x/v .x/ dx C u0 .x/v.x/ dx
a a a
wird
Zb Zb
0
u.x/v .x/ dx D u.b/v.b/ u.a/v.a/ u0 .x/v.x/ dx: (5.18)
a a
5.8 Ableitungs- und Integrationsverfahren 145
Wenn man also ein Produkt integrieren möchte, so liefert Gl. 5.18 eine Möglichkeit,
es wenigstens umzuformen. Allerdings sollte man die richtige Aufteilung treffen.
Probieren Sie es mit u.x/v 0 .x/ D xex . Sie sehen, dass u.x/ D x und v 0 .x/ D ex
eine brauchbare Aufteilung ist, wohingegen v 0 .x/ D x und u.x/ D ex auch bei
richtiger Anwendung der partiellen Integration in die Irre führt. Mit der Abarbeitung
eines Schemas kommt man also nicht aus. Noch kunstvoller wird es, wenn man eine
Funktion wie die Logarithmusfunktion u.x/v 0 .x/ D ln x D 1 ln x mutwillig als
Produkt darstellt, denn die Multiplikation mit eins ändert nichts. Probieren Sie beide
Varianten in der partiellen Integration. Doch leider führt diese Diskussion über die
Ziele dieses kleinen Ratgebers hinaus.
In den vorigen Abschnitten haben wir besprochen, wie einfache Funktionen wie
f .x/ D x 2 und g.x/ D 4x C3 abgeleitet und integriert werden. Nun versuchen wir
uns an der Ableitung von verketteten Funktionen, wie z. B. f .g.x// D .4x C 3/2 .
Diese Funktion können Sie zu z.x/ D f .g.x// D 16x 2 C 24x C 9 ausmultiplizie-
ren und dann ableiten. Dieser Weg dient als Probe, ob ein anderer Rechenweg das
richtige Ergebnis liefert.
Aber natürlich gibt es auch verkettete Funktionen wie h.x/ D .4x C 3/17 , bei
denen diepbinomische Formel zu sehr langen Ausdrücken führen würde, oder wie
r.x/ D 1 x 2 , die sich nicht sinnvoll vereinfachen lassen. Wir hatten uns ver-
kettete Funktionen als eine Abfolge von Automaten vorgestellt, die die Ergebnisse
des jeweiligen Vorgängerautomaten weiterverarbeiten. Wir werden in diesem Auto-
matengewirr nun ableiten und dazu zuerst einen geometrischen Blick auf verkettete
Funktionen und ihre Ableitungen werfen. Gleichzeitig wiederholen wir damit eini-
ges über Ableitungen.
Wir beschreiben die Verkettung der beiden Funktionen y D g.x/ und z D f .y/
durch z D f .g.x//. Die Funktion f wirkt also auf die Funktionswerte von g, was
durch die Bezeichnungen der Variablen verdeutlicht wird. Die abhängige Variable y
der Funktion g ist die unabhängige Variable in der Funktion f . Natürlich ist es der
Funktion f egal, wie ihre Variable heißt, denn die Funktion f .x/ D x 2 wird ebenso
durch f .u/ D u2 oder f .y/ D y 2 beschrieben (Abschn. 5.1).
Eine beispielhafte Darstellung von g.x/ sehen Sie in Abb. 5.16a. Wir starten
an der Stelle x auf der x-Achse und weichen um ein infinitesimal kleines dx, also
um eine Null mit Vergangenheit, von diesem x ab. Der Prozess der Verkleinerung
hat sie so klein gemacht, dass man ihr ihre einstige Größe nur unter der unendlichen
Lupe ansieht. Unter ihr sehen wir die zwei Stellen x und xCdx und die zugehörigen
Funktionswerte g.x/ und g.x C dx/. Den Abstand zwischen diesen bezeichnen wir
wieder mit dy D dg.x/. Wir betrachten ihn also als infinitesimal kleines Stück, das
zu y D g.x/ hinzukommt. Aus dem Steigungsdreieck, in dem wir die Ableitung
(Abb. 5.15) definiert haben, oder aus dem Umstellen der Gl. 5.13 erhalten wir den
Zusammenhang dy D dg.x/ D g 0 .x/ dx.
146 5 Funktionen
a y
y=x g(x)
g(x+dx)
dy dy=dg(x)
g(x)
dy dx
x
g(x) g(x+dx) x x+dx
b z f(y)
f(g(x+dx))
dz=df(y)=df(g(x))
f(g(x))
dy
y
y=g(x) g(x+dx)=y+dy
Abb. 5.16 Veranschaulichung der Kettenregel, etwas kompliziert, aber lohnenswert: Im oberen
Diagramm die innere Funktion y D g.x/ samt der Diagonalen y D x (gestrichelt). Im unteren
Diagramm die äußere Funktion z D f .y/, die auf die Funktionswerte von g wirkt. a Das Intervall
Œx; x C dx wird auf das Bildintervall Œy; y C dy mit y D g.x/ und y C dy D g.x C dx/
abgebildet. Im Steigungsdreieck (fett) ist g.x/ nahezu linear, infinitesimal gilt dy D dg.x/ D
g 0 .x/ dx. An der Diagonalen wird das Bildintervall Œg.x/; g.x C dx/ auf die x-Achse gespiegelt.
b Die äußere Funktion z D f .y/, die mit der inneren Funktion g zu z D f .g.x// verkettet
ist. Im Steigungsdreieck (fett) gilt wieder dz D df .y/ D f 0 .y/ dy. Aus dz D f 0 .y/ dy D
f 0 .y/ g 0 .x/ dx wird mit y D g.x/ schließlich die Kettenregel dz D f 0 .g.x// g 0 .x/ dx
An dieser Stelle sollte uns ein heimlicher Grusel packen. Wir haben mit Dif-
ferenzialen gerechnet, also den Nullen mit Vergangenheit, die man nur unter der
unendlichen Lupe sieht und die wir uns als Grenzübergänge von Verkleinerungs-
prozessen vorstellen, ohne mathematisch genau zu erklären, was Differenziale sind
und welche Rechnungen man mit ihnen gefahrlos ausführen kann. Wir müssen mit
ihnen deshalb sehr vorsichtig umgehen und uns Schritt für Schritt vergewissern, ob
unsere Überlegungen tragbar sind.
Da wir die Verkettung f .g.x// ableiten wollen, bringen wir die momentan auf
der vertikalen Achse liegenden Werte y D g.x/ und y C dy D g.x C dx/ durch
Spiegelung an der Diagonalen y D x in Abb. 5.16a wieder auf die x-Achse und trans-
5.8 Ableitungs- und Integrationsverfahren 147
portieren sie in ein neues, nämlich das Diagramm in Abb. 5.16b, in dem die Funk-
tion f beispielhaft dargestellt ist. Die Werte y D g.x/ und y C dy D g.x C dx/
liegen nun auf der waagerechten y-Achse im unteren Diagramm. Dort zeichnen wir
wieder das Steigungsdreieck ein, das wir unter der unendlichen Lupe sehen wür-
den und das die Grundseite dy und ganz in Analogie zum eben Gesagten die Höhe
dz D df .y/ D f 0 .y/ dy hat.
Vielleicht fragen Sie sich, warum sich die Rechnungen mit den Differenzialen
hier im Text verstecken. Die Autoren sind voller Ehrfurcht und wollen mit den Dif-
ferenzialen äußerst respektvoll umgehen. Andererseits ist die Rechnung mit ihnen
auch wieder wunderschön, solange man nichts Verrücktes mit ihnen macht.
Jetzt können wir die beiden versteckten Formeln benutzen, um die Ableitung der
verketteten Funktion f .g.x// nach x zu bestimmen. Die Schreibweise ist an dieser
Stelle schwierig, denn ein Strich klärt nicht abschließend, wonach abgeleitet wird.
Deshalb schreiben wir ganz vorsichtig
wobei wir nur das Differenzial dz D f 0 .y/ dy D f 0 .y/ g 0 .x/ dx mit den bei-
den Steigungsdreiecken umrechnen mussten und dann schließlich verwendet haben,
dass die Ableitung von x nach x gleich 1 ist. Dadurch sieht es so aus, als hätten wir
dx im mittleren Term gekürzt, und insgesamt erscheint es so, als hätten wir mit
dy erweitert. Ein leichtes Erschauern angesichts so gewagter Rechnungen ist ange-
bracht.
Gleichung 5.19 führt uns zur Kettenregel, also zu einer Regel, mit der verkettete
Funktionen abgeleitet werden, die mit der Ersetzung y D g.x/ als
d
f .g.x// D f 0 .g.x// g 0 .x/ (5.20)
dx
geschrieben wird. Beachten Sie, dass f 0 die Ableitung von f nach der inneren
Funktion oder inneren Variablen y D g.x/ ist.
Einverstanden, die Kettenregel in Gl. 5.20 sieht sehr theoretisch aus. Doch lassen
Sie uns das obige Beispiel f .g.x// D .4x C 3/2 ausprobieren. Die innere Funktion
ist y D g.x/ D 4x C 3, und die äußere Funktion ist f .y/ D y 2 . Die Verkettung
ergibt z D .4x C 3/2 . Ihre Ableitung ersteht als
dz
D f 0 .y/ g 0 .x/ D 2y 4 D 2.4x C 3/ 4 D 32x C 24;
dx
denn f 0 .y/ D 2y und g 0 .x/ D 4. Die Ableitung der inneren Funktion g wird gern
als innere Ableitung bezeichnet. Hier ist es nur der Faktor 4. Der übliche Merk-
spruch lautet: „Innere mal äußere Ableitung.“ Aber achten Sie darauf, dass die äu-
ßere Funktion f bezüglich der inneren Funktion oder inneren Variablen y D g.x/
abgeleitet wird. Das Ergebnis können Sie nachrechnen, wenn Sie z D .4x C 3/2 in
der Form z D 16x 2 C 24x C 9 nach x ableiten.
148 5 Funktionen
Praktischerweise halten Sie pdie innere Funktion gedanklich fest. Nehmen wir
beispielsweise z D r.x/ D 1 x 2 . Mit der inneren, hier sonst namenlosen
Funktion y D 1 x 2 , wird z D r.x/ zu einer Verkettung recht einfacher Funk-
p
tionen, nämlich z D y und y D 1 x 2 . Die einzige echte Schwierigkeit in der
Anwendung der Kettenregel in Gl. 5.20 besteht darin, die äußere Funktion, hier
die Wurzelfunktion, nach der inneren Funktion oder Variablen y abzuleiten. Die
Anwendung der Kettenregel wird einfach, wenn man die innere Kraft aufbringt,
wirklich nur nach y abzuleiten. Schauen Sie mal auf
d p 1 x
1 x2 D p .0 2x/ D p :
dx 2 1x 2 1 x2
p 1
Hier haben wir die Potenzfunktion z D y D y 2 mit der Ableitungsregel in
Gl. 5.16 für n D 12 abgeleitet und höllisch darauf aufgepasst, den inneren Ausdruck
1x 2 auch ja nicht zu verändern. Denn dieser kommt erst als innere Ableitung, hier
durch y 0 .x/ D 0 2x extra deutlich geschrieben, an die Reihe. Leider haben wir
bei diesem Beispiel keine echte Probe. Zeichnen Sie aber die Funktion z D r.x/
und ihre Ableitung r 0 .x/ in eine Skizze und überprüfen Sie, ob etwas Plausibles
herausgekommen ist.
Beim Verwenden von Merkregeln, die Zusammenhänge als kurze Merksätze
darstellen, sollten Sie wie ein Luchs aufpassen, dass Sie auch das tun, was die
Merkregel meint, und nicht nur das, was sie zu sagen scheint. Andernfalls wäre
es so, als würden Sie Sahne wirklich schlagen oder auf Reisen ein Fertiggericht in
die Mikrowelle des Hostels tun, obwohl Sie vorher übersetzt haben, dass es für die
Mikrowelle ungeeignet ist. Es könnte schließlich sein, dass es doch geeignet ist –
und wer braucht schon Fremdsprachen.
Die Kettenregel haben Sie bei der Umrechnung von Einheiten schon oft verwen-
det, ohne es zu bemerken. Denken wir uns eine Skale x in Millimetern und eine
Skale y D g.x/, die in Metern gemessen wird. Wir bemerken, dass wir den Funk-
tionswert y der Funktion g ohne Bedeutungsverlust mit y D g ansprechen können,
und für die Zahlenwerte gilt
x dg 1
x D 1000g; y D g.x/ D und D g 0 .x/ D :
1000 dx 1000
Wir können uns dies auch einheitenbehaftet denken. Dann hat die Ableitung die
Einheit Millimeter pro Meter, also mm=m, was wir sofort als ein Tausendstel erken-
nen. Mit einer angenommenen Kraft, gemessen in Newton, der Form f D f .g/ D
2g C 1, die wie bei einer Feder mit g anwächst, entsteht
x df df 2 df dg
f .g.x// D 2 C 1 und D 2 sowie D D :
1000 dg dx 1000 dg dx
Die Ableitung von f nach g hat die Einheit Newton pro Meter und die Ableitung
von f nach x die Einheit Newton pro Millimeter. Damit wird der Umrechnungsfak-
tor verständlich, denn pro Meter ändert sich diese Kraft tausend Mal stärker als pro
5.8 Ableitungs- und Integrationsverfahren 149
Millimeter. Versuchen Sie selbst, auch den anderen Termen Einheiten zuzuweisen,
und denken Sie daran, dass auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens nach dem
Kürzen und Umrechnen die gleichen Einheiten stehen.
Eng mit der Kettenregel verwandt ist eine auf den ersten Blick eigenwillige In-
tegrationsregel. Integrieren wir unser f D f .y/ in einem Intervall bezüglich y, so
erhalten wir eine Fläche unter f in der Einheit Newtonmeter, also Nm. Rechnen
wir die Länge y und damit auch unsere Streifenbreite in Millimeter um, so sollten
wir mit y D g.x/ die nun verkettete Funktion f .g.x// bezüglich x in einem ande-
ren Intervall x 2 Œa; b, gemessen in Millimetern, integrieren und ein Ergebnis in
N mm erhalten. Siehe da, es fehlt noch der Umrechnungsfaktor, der hier g 0 .x/ ist.
Formell zusammengefasst liest sich das als
Zg.b/ Zb
f .y/ dy D f .g.x//g 0 .x/ dx; (5.21)
yDg.a/ xDa
was Sie in unserem Beispiel für a D 1000 und b D 2000 unbedingt nachrech-
nen sollten. Links steht das Integral über dem Intervall für y, rechts das Integral
über dem entsprechenden Intervall für x. Damit ist klar, dass sich auch die Inter-
vallgrenzen ändern. Die Ableitung g 0 .x/ enthält sozusagen den Umrechnungsfaktor
zwischen y und x.
Der Zusammenhang in Gl. 5.21 heißt Integration mit Substitution, weil das y
auf der linken Seite mittels y D g.x/ substituiert, also ersetzt, wird. Die Inte-
grationsvariable y wird durch die Integrationsvariable x ersetzt, wodurch sich die
Streifenbreite dy in dy D g 0 .x/ dx ändert (Abb. 5.16) und die Integrationsgrenzen
für y in die Integrationsgrenzen für x übergehen.
Die Anwendung der Integration mit Substitution ist allerdings ein trick- und fin-
tenreiches Kunstwerk. Beispielsweise sieht man dem Integral
Z1 p
1 x 2 dx D : : :
xD1
nicht an, wie man ihm zu Leibe rückt. Mit der Substitution x D sin ' wird jedoch
dx D cos ' d', und das Intervall x 2 Œ1; 1 geht in ' 2 Œ 2 ; 2 über. Dort gilt
p p
1 x 2 D 1 sin2 ' D cos ' 0, und wir erhalten
Z1 p Z2
1 x 2 dx D cos ' cos ' d' D :
2
xD1 'D 2
Das letzte Integral können Sie mittels partieller Integration ausrechnen, oder Sie
machen eine Skizze von cos2 ' D 1 sin2 ', von der Sie es fast ablesen können.
Natürlich kann man das Integral auch ganz formal ausrechnen. Ein Blick in
Abb. 5.6 zeigt Ihnen, dass eine Vierteldrehung des Einheitskreises die Rollen von
150 5 Funktionen
Sinus und Kosinus vertauscht. Mit etwas Herumprobieren wegen der Vorzeichen
entdeckt man immer wieder neu den Zusammenhang cos ' D sin.' C 2 /. Man
muss sich diese Zusammenhänge nicht merken, denn man kann sie aus den Über-
legungen am Einheitskreis wie in Abb. 5.6 und aus dem Graphen der trigonome-
trischen Funktionen jederzeit rekonstruieren. Man sollte aber wissen, dass es diese
Zusammenhänge gibt, damit man nach ihnen Ausschau halten kann. Zusammen mit
der Substitution D ' C 2 und deswegen d D d' entsteht
Z2 Z2 Z
cos2 ' d' D sin2 ' C d' D sin2 d :
2
2 2 0
Dem Integral ist es egal, wie die Integrationsvariable heißt, und deshalb ist das
Doppelte des gesuchten Integrals
Z2 Z2 Z2 Z2
2 cos2 ' d' D cos2 ' d' C sin2 ' d' D 1 d' D :
2 2 2 2
Schick, nicht wahr? Ein paar Integralzeichen weniger hätten sich übereinanderge-
türmt, wenn wir das Additionstheorem cos2 ' D 12 .1 C cos 2'/ verwendet hätten.
Versuchen Sie es, und schauen Sie sich die Funktionsgraphen beider Seiten dieser
Umformung in einer Skizze an.
Doch insgesamt haben wir weit in die Inhalte der Mathematik an der Hochschule
abgehoben. Im nächsten Kapitel landen wir wieder. Suchen Sie bitte noch nicht
nach Rechenaufgaben zur Integration, sondern eher nach Veranschaulichungen.
Lösung Zum Differenzieren der Funktion f verwenden wir die Regel aus Gl. 5.16.
Dort steht, dass eine Potenzfunktion s.x/ D x n mit n ¤ 0 die Ableitung s 0 .x/ D
nx n1 hat. Durch die Spezifizierung des Exponenten n D 2 geht der allgemeinere
Ausdruck x n in x 2 über, und die genannte Regel liefert f 0 .x/ D 2x 21 D 2x, was
wir über den Differenzialquotienten bereits herausgefunden haben.
Beim Zurückblättern entdecken wir jedoch keine Regel, auf die sofort die Funk-
tion g.x/ D 2x passt. Eine gewisse Ähnlichkeit besteht zwischen der Exponenti-
alfunktion und g. Wir können 2 D eln 2 schreiben, weil die Logarithmusfunktion
die Umkehroperation der Exponentialfunktion ist. Mit diesem Trick finden wir
g.x/ D 2x D .eln 2 /x D ex ln 2 . Wir haben den kurzen Ausdruck g also verlängert
und scheinbar verkompliziert. Doch jetzt ist g eine Verkettung von zwei Funktio-
nen, deren Ableitung wir kennen. Die äußere Funktion ist die Exponentialfunktion
y 7! ey , und die innere Funktion ist die lineare Funktion x 7! x ln 2, die das Ar-
gument x auf sein Vielfaches mit dem Faktor ln 2 abbildet. Beachten Sie bitte, dass
die innere Funktion keine Logarithmusfunktion ist.
Da wir eine verkettete Funktion haben, liegt es nahe, die Kettenregel in Gl. 5.20
zu verwenden. Allerdings ist die Kettenregel dort mit zwei allgemeinen Funktionen
f und g notiert, die ganz und gar nicht mit unseren Bezeichnungen aus der Aufga-
benstellung übereinstimmen. Um ganz sicher zu gehen, nennen wir z D g.x/ und
verwenden die Kettenregel in der Form 5.19. Dann ist
dz dz dy
g 0 .x/ D D D ey ln 2;
dx dy dx
was noch kein Ergebnis ist, weil die Ableitung g 0 .x/ bezüglich x durch einen Term
in y ausgedrückt ist. Da y D x ln 2 der Exponent in der äußeren Exponentialfunk-
tion ist, finden wir g 0 .x/ D ex ln 2 ln 2 D 2x ln 2.
Kommentare Niemals sollten Sie eine Rechenregel auf etwas anwenden, für das
sie nicht passt. Gl. 5.16 beschreibt die Ableitung von Potenzfunktionen. In Gl. 5.16
ist die unabhängige Variable x, und n ist ein fester gegebener Wert.
Schauen Sie bitte tieftraurig auf den Ausdruck r.x/ D x 2x1 . Es ist nicht die
Ableitung von g, auch wenn es verlockend ist, das bekannteste Ableitungswerk-
zeug, nämlich Gl. 5.16, auf alles anzuwenden. Aber Gl. 5.16 ist das Ableitungs-
werkzeug für Potenzfunktionen und nur für diese. Wir zitieren noch einmal Mark
Twain: „Wenn Dein einziges Werkzeug ein Hammer ist, wirst Du jedes Problem als
Nagel betrachten.“ Wenn Sie r als Ableitung von g herausbekommen haben, ist es
so, als hätten Sie eine Konservendose mit einem Hammer geöffnet.
Zeichnen Sie bitte f .x/ D x 2 und f 0 .x/ D 2x in ein gemeinsames Koordina-
tensystem. Dort, wo f 0 .x/ < 0 ist, also links vom Ursprung, ist die Funktion f
monoton fallend, und wo f 0 .x/ > 0 gilt, ist f wachsend. Die Ableitung f 0 hält
dieser Plausibilitätsprüfung also stand.
152 5 Funktionen
Die Funktion g ist dagegen für alle x streng monoton wachsen, s. Abb. 5.5.
Deshalb muss die Ableitung g 0 für alle x positiv sein, und die Funktion r ist nicht
überall positiv. Man kann – wie so oft – die Ergebnisse selbst prüfen.
Versuchen Sie außerdem, den Differenzialquotienten der Funktion g.x/ aufzu-
schreiben. Nach dem Ausklammern von 2x kommen Sie auf einen Grenzwert, den
Sie mit den bisherigen Mitteln nicht bestimmen können. Da Sie aber die Ableitung
g 0 .x/ kennen, wissen Sie jetzt, welchen Wert dieser Grenzwert annimmt.
Zu guter Letzt weisen wir auf das gefährliche Wörtchen „nur“ hin. Es klingt
verführerisch einfach, beim Differenzieren „nur“ Gl. 5.16 anwenden zu müssen.
Das Auftauchen des verführerischen „nur“ deutet oft und auch hier darauf hin, dass
ein Zusammenhang sehr verkürzt wiedergegeben wird.
Aufgabe Wenden Sie die Produktregel zur Ableitung von x 5 D x 2 x 3 an, und
prüfen Sie Ihr Ergebnis.
Lösung Offenbar sollen wir die Funktion x 7! x 5 , der wir den Namen w mit
w.x/ D x 5 geben, ableiten. Mit Gl. 5.16 wissen wir schon w 0 .x/ D 5x 4 . Wir
sollen aber die Produktregel, die wir in Gl. 5.17 finden, auf das Produkt von x 2 und
x 3 anwenden.
Also bezeichnen wir u.x/ D x 2 und v.x/ D x 3 . Damit ist u0 .x/ D 2x sowie
0
v .x/ D 3x 2 . Gl. 5.17 lautet
Wir haben offenbar richtig gerechnet. Wir lesen die Aufgabe ganz und prüfen un-
ser Ergebnis explizit: Die Anwendung der Produktregel liefert erwartungsgemäß
dasselbe Ergebnis wie die Ableitung der Potenzfunktion w.
Kommentar Es handelt sich um ein sehr reduziertes Beispiel der Ableitung eines
Produkts. Es ermöglicht uns, das Ergebnis zu überprüfen. Auf diese Weise kann
sich jeder selbst beliebig viele Übungsaufgaben mit Ergebnissen erstellen.
Lösung Gesucht ist das Integral eines Produkts. Wir notieren uns die partielle In-
tegration aus Gl. 5.18 für unbestimmte Integrale. Beim Aufschreiben fällt auf, dass
die Funktion s in Abhängigkeit von t gegeben ist, also ersetzen wir die unabhängige
Variable durch t. Von den beiden Integrationsregeln ist
Z Z
0
u.t/v .t/ dt D u.t/v.t/ u0 .t/v.t/ dt
diejenige, in der ein Produkt von zwei frei wählbaren Funktionen, nämlich von
u und v 0 auftaucht. Jetzt entscheiden wir, welcher der beiden Faktoren t und et im
Produkt s als u und welcher als v in die Rechnung eingeht. Ein Blick auf die Formel
5.9 Aufgaben, Rechenaufgaben und Lösungen 153
zur partiellen Integration sagt uns, dass nach Anwendung von Gl. 5.18 bzw. der eben
aufgeschriebenen Variante immer noch ein zu berechnendes Integral übrig bleibt.
Also versuchen wir u und v 0 so zu wählen, dass auf der rechten Seiten eine einfach
zu integrierende Funktion u0 v steht. Der Faktor et ändert sich beim Differenzieren
und Integrieren nicht. Wir tun also gut daran, u.t/ D t und v 0 .t/ D et zu wählen.
Dann ist u0 .t/ D 1 und v.t/ D et , und wir erhalten
Z Z
te dt D te 1 et dt D tet et C c D .t 1/et C c
t t
Z1
x
p dx:
1 x2
0
Lösung Integrale p
und Wurzeln sind keine Freunde. Eventuell erinnern wir uns dar-
an, dass wir eben 1 x 2 abgeleitet haben, und die Ableitung enthielt weiterhin
denselben Wurzelausdruck. Wir könnten also bereits wissen, was herauskommt.
154 5 Funktionen
Wir versuchen es mit der Integration mittels Substitution. Wir wissen, dass die
Wurzel aus 1 x 2 der problematische Anteil ist, und sind deshalb geneigt, y D
1 x 2 zu substituieren. Dies liefert dy D 2x dx, und in der Tat entdecken wir im
Integranden den Ausdruck x. Zusammen mit dem Differenzial steht dort x dx, und
wir werden es durch 12 dy ersetzen.
Die Integrationsgrenzen im gesuchten Integral sind x-Werte, die wir in die neue
Variable y umrechnen. Für x D 0 entsteht aus y D 1 x 2 die untere Grenze y D 1.
Insgesamt wird die sinnhafte Übertragung der Substitutionsregel Gl. 5.21 zu
Z1 Z0 Z0 ˇ0
x dx 1 dy 1 1 1 ˇ
p D p D y 12
dy D .2y 2 /ˇˇ D 0 .1/ D 1:
1x 2 2 y 2 2 yD1
0 1 1
1
Bei der Integration der Potenzfunktion y 2 haben wir die Ableitungsregel in
Gl. 5.16 umgekehrt. Wir haben uns also gefragt, welche Potenzfunktion die Ablei-
1
tung y 2 hat. Da der Exponent der Potenzfunktion beim Ableiten um eins abnimmt,
finden wir den Exponenten 12 D 12 C 1 der Stammfunktion schnell und brauchen
dann noch den passenden Faktor 2.
Etwas überraschend ist vielleicht, dass die untere Integrationsgrenze y D 1 nach
der Integration größer als die obere Integrationsgrenze y D 0 ist. Wir lesen die
Fläche unter der Kurve in umgekehrter Richtung. Denken Sie darüber anhand von
Gl. 5.11 mit einem negativen b < 0 nach. Eine Plausibilitätsprüfung des Ergeb-
nisses scheint angebracht: Zeichnen Sie den Integranden im Intervall Œ0; 1, und
lassen Sie Ihr Gefühl sprechen, ob die Fläche darunter 1 sein kann.
Kommentar In dieser Aufgabe integrieren wir eine Funktion, die an der oberen
Intervallgrenze eine Polstelle hat. Sie strebt für x ! 1 gegen unendlich. Die Fläche
unter der Kurve ist also unendlich hoch, aber ihr Flächeninhalt ist dennoch endlich.
Das zugehörige Integral nennt man ein uneigentliches Integral. Diese Eigenschaft
verschwindet in diesem Beispiel nicht durch das Substitutieren, denn der Integrand
in y hat eine Polstelle bei y D 0, was wenig verwundert, da wir lediglich die
unabhängige Variable transformiert haben, aber die zu integrierende Funktion unter
Beachtung dieser Transformation noch dieselbe ist.
Handlungen mit mathematischen Symbolen
6
Das ein oder andere Mal geraten Sie bei der Beschäftigung mit Mathematik an gars-
tig aussehende mathematische Ausdrücke, die Sie in einer anderen Form brauchen,
als sie angegeben sind. Dann folgen meistens rein technische Umformungen der
Ausdrücke, die manchmal so lang sind, dass die Umformungen selbst mit echter
Mathematik verwechselt werden. In diesem Kapitel werden wir typische Werkzeu-
ge dieser technischen Umformungen besprechen, und in der Tat steckt ein wenig
Mathematik darin. Doch die wahre Mathematik sind die Überlegungen und Gedan-
ken, denen die technischen Umformungen dienen.
Man erkennt bereits eine Systematik. Die ausmultiplizierte Potenz der Summe ist
eine Summe von Produkten, deren Exponenten sich zum urspünglichen Exponen-
ten ergänzen. Das klingt komisch. In der Tat. Eine verbale Beschreibung fällt hier
etwas schwer. Es scheint aber eine gewisse Regelmäßigkeit in den Formeln zu ge-
ben. Es ist eine zutiefst mathematische Neugier zu fragen, ob man nicht auch einen
.a C b/n D .a C b/ : : : .a C b/ (6.1)
„ ƒ‚ …
n Mal
entsteht. Gewiss könnten Sie dies für jedes gegebene natürliche n 2 N ausführen,
auch wenn es für große n lange dauert. Wenn Sie aber an eine Stelle kommen,
an der Sie den Ausdruck in Gl. 6.1 für allgemeine, also noch nicht festgelegte, n
in einer mathematischen Untersuchung verwenden wollen oder müssen, so nützt
die Fähigkeit, den Ausdruck für jedes n ausmultiplizieren zu können, wenig. Also
machen wir uns auf die Suche nach einer allgemeinen binomischen Formel.
Wir verdeutlichen uns, dass wir beim Ausmultiplizieren von n Klammern mit
je zwei Summanden zunächst 2n Summanden erhalten, die jeweils Produkte von
n Faktoren sind, wobei jeder Faktor nur a oder b sein kann. Für die Beispiele mit
kleinen Exponenten n erhalten wir für n D 2 die Summe von vier Produkten mit
jeweils zwei Faktoren
.a C b/2 D .a C b/.a C b/ D aa C ba C ab C bb
und entsprechend für n D 3 die Summe von acht Produkten mit je drei Faktoren
In diesen langen Summen gleich langer Produkte sind einige Summanden, also ei-
nige der Produkte wie baa D aba D aab, gleich. Diese gleichen Summanden
möchten wir gern zusammenfassen. Daher ergründen wir, wie viele es davon gibt.
An dieser Stelle wird unsere Suche nach einer allgemeinen binomischen Formel
unterbrochen. Wir sind auf eine Teilaufgabe anderen Typs gestoßen. Um abzuzäh-
len, wie viele gleiche Summanden es gibt, lesen wir die Produkte als Wörter aus
den beiden Buchstaben a und b und suchen alle Wörter der Länge n, die dasselbe
Produkt beschreiben. Für n D 3 sind baa D aba D aab D a2 b drei Wörter, die
aus k D 1, also einem Buchstaben b und n k D 2 Buchstaben a bestehen. Es gibt
genau drei Stellen, an denen der Buchstabe b stehen kann, nämlich an der ersten,
an der zweiten oder an der dritten Stelle.
Fragen wir nun allgemein, wie viele Wörter der Länge n es gibt, die .n k/ Mal
den Buchstaben a und k Mal den Buchstaben b enthalten, so entspricht dies der
Frage, wie viele Möglichkeiten es gibt, aus n Stellen genau k Stellen für b auszu-
wählen. Für die Stelle, die wir als Erstes auswählen, gibt es n Möglichkeiten, weil
noch alle Stellen unbesetzt sind. Für die Stelle, die wir als nächstes auswählen, gibt
es nur noch n 1 Möglichkeiten. Nachdem wir die zweite Stelle ausgewählt haben,
sind bereits zwei Stellen mit b belegt. Aber wir können gar nicht mehr unterschei-
den, welche der beiden Stellen wir zuerst ausgewählt haben, die erste zuerst oder
die zweite zuerst. Diese beiden Möglichkeiten fallen wieder zu einer Auswahlmög-
lichkeit zusammen, und es gibt
n.n 1/ n.n 1/
D
2 12
6.1 Binomische Formeln 157
kŠ D k .k 1/ : : : 2 1 sprich „k Fakultät“
Beachten Sie bitte, dass die Binomialkoeffizienten etwas anderes sind als Brüche
mit dem Zähler n und dem Nenner k. Sie werden auch ganz anders geschrieben,
nämlich ohne Bruchstrich und mit Klammern.
Wir sehen jetzt, dass wir mit der Festlegung 0Š D 1 einen guten Griff ge-
macht haben, denn es gibt genau ein n-buchstabiges Wort ohne ein b und genau ein
n-buchstabiges Wort, in dem n Mal b vorkommt. Und tatsächlich gilt
! !
n nŠ nŠ n
D D D1D : (6.4)
0 0Š.n 0/Š 1 nŠ n
Es war klar, dass bei der Auswahl von 0 Stellen und bei der Auswahl von n Stellen
dasselbe herauskommt, denn die Auswahl von k zu besetzenden Stellen entspricht
der Auswahl von n k freibleibenden Stellen. Es gilt also
! !
n n
D ;
k nk
was man leicht an der rein rechnerischen Definition in Gl. 6.3 überprüft.
Wir wissen nun, dass es unter den 2n Summanden, die wir beim Ausmultiplizie-
ren von .a C b/n erhalten haben, n über k gibt, in denen k Variablen b vorkommen.
Wenn wir nun über alle denkbaren k summieren, haben wir die Anzahl der Sum-
manden abgezählt und erhalten mit
! ! ! !
n n n X
n
n
2 Dn
C C:::C D (6.5)
0 1 n k
kD0
einen Zusammenhang, den aus der arithmetischen Definition in Gl. 6.3 allein zu
beweisen einige Mühe gemacht hätte.
Jetzt können wir unseren ursprünglichen Plan, eine allgemeine binomische For-
mel zu erarbeiten, erfüllen. Denn wir kennen nun die Anzahl der Summanden, die
wir als gleich zusammenfassen können, und erhalten
! ! !
n n1 n n2 2 n
.a C b/ D a C
n n
a bC a b C :::C ab n1 C b n :
1 2 n1
schreiben. Formulieren Sie diese allgemeine binomische Formel ohne das Sum-
menzeichen, um sich mit ihr vertraut zu machen. Auch lernen Sie sie näher kennen,
6.1 Binomische Formeln 159
1
1 1
1 2 1
1 3 3 1
1 4 6 4 1
1 5 10 10 5 1
:::
für alle passenden n und k, also für alle Belegungen, für die drei Binomialkoeffi-
zienten sinnvoll auswertbar sind, gilt. Übersetzen Sie Gl. 6.5 und Gl. 6.7 in Eigen-
schaften am Pascal’schen Dreieck und verdeutlichen Sie sich auch dort, warum sie
gelten.
An dieser Stelle rekapitulieren wir den weiten Weg, den wir bis zur allgemeinen
binomischen Formel 6.6 zurückgelegt haben. Ausgehend von dem Plan, eine allge-
meine Formel für .a Cb/n zu entwickeln, sind wir auf die Teilaufgabe gestoßen, die
Anzahl der Möglichkeiten zu ermitteln, aus n Stellen k Stellen auszuwählen. Diese
Teilaufgabe hat uns wiederum auf die Teilaufgabe der Teilaufgabe geführt, die An-
zahl der Möglichkeiten, k Objekte in einer Reihenfolge anzuordnen, zu bestimmen.
Bildlich gesprochen sind wir von unserem Plan zur ersten Teilaufgabe ein Stock-
werk hinabgestiegen – und zur Teilaufgabe der Teilaufgabe noch ein weiteres Stock-
werk abwärts im Gebäude der mathematischen Sachverhalte, welches auf dem Fun-
dament des Zahlempfindens und der einfachen geometrischen Vorstellungen steht.
Dieses Abwärts und Aufwärts hat den Weg sehr lang gemacht. Unsere Darstellung
wäre natürlich kürzer geworden, wenn wir vorher ein wenig Kombinatorik, also die
Lehre von den Anzahlen von Möglichkeiten und Anordnungen, betrieben hätten.
Dann hätten wir darauf zurückgreifen können, dass es kŠ Möglichkeiten gibt, um k
Objekte anzuordnen. Noch besser wäre es gewesen, wenn wir schon vorher gewusst
hätten, wie viele Möglichkeiten es gibt, aus n Objekten k Objekte auszuwählen. Wir
hätten dann auf den Abstieg zu den Teilaufgaben und den Wiederaufstieg zur Fra-
gestellung verzichten können. Der Gedankengang zur eigentlichen Fragestellung,
nämlich zur binomischen Formel, wäre klarer und kürzer geworden.
Das ist ein Grund, warum wir häufig am Anfang der Beschäftigung mit Ma-
thematik Sachverhalte untersuchen, deren Verwendung zu diesem Zeitpunkt noch
160 6 Handlungen mit mathematischen Symbolen
nicht vollständig einleuchtend ist. Bei der Beschäftigung mit der Anzahl möglicher
Anordnungen wäre die Antwort auf die Frage, wozu man dies genau im Berufs-
leben braucht, für die meisten Berufe etwas vage ausgefallen. Aber man braucht
diese mathematischen Grundlagen für darüberliegende mathematische Überlegun-
gen, denen man ihre Anwendbarkeit viel besser ansieht. Denken Sie beispielsweise
an die Primzahlen in Abschn. 3.4, die dort wie eine mathematische Spielerei er-
scheinen. Schon im darauffolgenden Abschnitt über die Bruchrechnung haben wir
erlebt, dass der sichere Umgang mit Primzahlen einiges erleichtert.
Allen Erfahrungen nach hat es sich als ausgesprochen schwierig erwiesen, Sach-
verhalte, die gerade benötigt werden, im Sinne der obigen Teilaufgaben neu zu
erfinden. Man muss in der praktischen Ausführung wenigstens wissen, wonach man
sucht, damit die Überlegungen zur jeweiligen Fragestellung über die Länge des
Wegs nicht zu sehr in Vergessenheit geraten. Vertrauen Sie in den Vorlesungen, die
Sie besuchen oder besuchen werden, darauf, dass die Dozentinnen und Dozenten
die mathematischen Inhalte so systematisch darbieten, dass die vermittelten Begrif-
fe, Sachverhalte und Zusammenhänge später genutzt und gebraucht werden. Dank
des systematischen Aufbaus gehen Sie im Gebäude der mathematischen Sachver-
halte langsam aufwärts.
Zum Ende dieses kleinen Ausflugs in die mathematische Fachkultur und Syste-
matik könnten Sie überlegen, dass für Primzahlen p der Zusammenhang
.a C b/p ap C b p ; mod.p/
gilt. Aber Vorsicht, diese kühne Rechenvorschrift gilt natürlich nur modulo einer
Primzahl p. Sie wissen, warum. Genau, die Reihenfolge von Rechenoperationen ist
im Allgemeinen nicht vertauschbar.
6.2 Termumformungen
Indem man Terme umformt, kann man mathematischen Ausdrücken durch andere
Darstellungen andere Informationen entlocken. Dabei besteht für viele die Haupt-
schwierigkeit nicht in den Umformungen selbst, sondern in der Entscheidung, wel-
che Darstellungen geeignet sind, um die gewünschten Informationen abzulesen.
Nehmen Sie beispielsweise die schon in Gl. 5.3 in Abschn. 5.2.1 verwendete Funk-
tion
1 1 8 C 2x 2
yD C und zD :
.x 2/2 .x C 2/2 x 4 8x 2 C 16
Der Term für z ist aus dem für y hervorgegangen, indem die Addition der Brüche
korrekt ausgeführt wurde (Abschn. 3.5.2). Also ist y D z. Es ist gewiss nicht of-
fenkundig, welcher der beiden Ausdrücke der einfachere ist. Der Ausdruck y ist
eine Summe von zwei recht übersichtlichen Brüchen, und der Ausdruck z ist ein
einziger Bruch von etwas unübersichtlicheren Ausdrücken.
6.2 Termumformungen 161
Es gibt aber einige Unterschiede. Am Term y können Sie wie in Abschn. 5.2.1
ablesen, dass beide Summanden die Reziproken von Quadraten sind. Diese sind be-
kanntlich nichtnegativ, und somit sind die beiden Summanden positiv. Sie erkennen
schnell, dass y > 0 für alle x 2 R gilt. Selbstverständlich kann man dies auch an
dem Term für z ablesen, aber dazu muss man erkennen, dass es sich beim Nenner
um ein vollständiges Quadrat x 4 8x 2 C 16 D .x 2 4/2 handelt.
In ähnlicher Weise liest man aus y D y.x/ leicht die Polstellen xP D ˙2 ab, was
nach einer Rechnung auch aus dem Term z D z.x/ möglich wäre. Die Rechnung
ist zwar kurz, aber eben notwendig.
An diesem Beispiel sehen wir, dass der ganz Unkundige auf beide Terme mit
dem gleichen erstaunten Entsetzen schaut und der sehr Findige vielleicht aus beiden
Darstellungen dasselbe herauslesen kann, dass aber der durchschnittliche Betrachter
unterschiedlich schnell auf unterschiedliche Aspekte der Terme aufmerksam wird.
Und genau dies ist ein zentraler Grund, warum wir Terme ineinander umformen.
Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen beiden Darstellungen beim Ver-
such, die Ausdrücke y D y.x/ und z D z.x/ als Funktionen anzusehen und nach
x abzuleiten. Der Term y ist eine Summe von verschobenen Potenzfunktionen mit
negativen Exponenten und kann in der Form y D .x 2/2 C .x C 2/2 durch
Anwendung von Gl. 5.16 und der Kettenregel 5.20 mit den inneren Variablen x 2
bzw. x C 2 abgeleitet werden. Wir erhalten
2 2
y 0 .x/ D :
.x 2/3 .x C 2/3
Der andere Ausdruck
8 C 2x 2 1
z.x/ D D .8 C 2x 2 / 4
x4 8x 2 C 16 x 8x 2 C 16
verlangt nach der Ableitung eines Quotienten. Dies gelingt, indem man den Quo-
tienten als Produkt des Zählers und des Reziproken des Nenners schreibt und jetzt
die Produktregel und innerhalb dieser die Kettenregel für das Reziproke des Quo-
tienten verwendet. Manchmal wird dies auch als Quotientenregel zusammengefasst.
Probieren Sie es für einen allgemeinen Quotienten zweier Funktionen aus. Hier er-
halten wir
1 1
z 0 .x/ D 4x C .8 C 2x 2 / 4 .4x 3 16x/:
x 4 8x 2 C 16 .x 8x 2 C 16/2
Der Term y 0 .x/ ist nicht wesentlich komplizierter geworden als y.x/, aber der Term
für z 0 .x/ sieht furchteinflößend aus, und er ist furchteinflößend, denn selbst nach-
dem man die beiden Summanden auf einen gemeinsamen Bruchstrich gebracht und
den Zähler zu 4x 5 32x 3 192x D 4x.x 4 C 8x 2 C 48/ umgeformt hat, braucht
man noch einiges Geschick, um zu erkennen, dass
gilt. Probieren Sie aus, in welcher Darstellung der Ableitung y 0 .x/ D z 0 .x/ ihre
Nullstellen am einfachsten auffindbar sind. Hier geht es wahrscheinlich am besten
in
2 2 2 2
0D mit D ;
.x 2/3 .x C 2/3 .x 2/3 .x C 2/3
woraus x 2 D .x C 2/ und damit xE D 0 folgt. Diese einzige Extremstelle
hätte man noch schneller durch Überlegungen zu Eigenschaften der Funktion y.x/
erkannt (Abschn. 5.2 und dort insbesondere Abb. 5.1).
Oft braucht man nur einen einfachen oder kurzen Term, aber auch die Entschei-
dung, was einfach ist, liegt – wie wir gesehen haben – im Auge des Betrachters. Ein
Computerprogramm hat dieses Auge nicht. Zwar liefern Mathematica und Maple
recht gute Vereinfachungen, aber Programme werden niemals die Terme in der Art
umformen können, wie Sie es gerade wünschen oder brauchen. Deshalb gehören
geschickte Termumformungen zu den Dingen, die immer noch von Hand gemacht
werden.
Nichtsdestotrotz gehört die freiwillige Beschäftigung mit den in der industriellen
und universitären Forschung weitverbreiteten Programmen zur Rechenerleichtung,
z. B. dem Formelmanipulationssystem Mathematica, und mit leicht handhabbaren
Programmierumgebung wie Matlab zu den unverzichtbaren Anteilen eines natur-
oder ingenieurwissenschaftlichen Studiums. Heute arbeiten auch Biologinnen und
Chemiker am Computer, und in vielen anderen Wissenschaften wie der Psychologie
und Soziologie kommen rechnergestützte Methoden zum Einsatz.
Obwohl es manchmal nicht evident ist, welche Darstellung die einfachste und
geeignetste ist, sollte man bei mathematischen Überlegungen die Terme immer auf-
räumen. Das vereinfacht die Rechnung, spart Zeit und erlaubt es, Eigenschaften aus
den Termen abzulesen.
Beispielsweise tauchte einmal in einer Klausur für Master-Studierende in einem
recht fortgeschrittenen Zusammenhang der Ausdruck
2
bD C C C1
4 2 2 2
auf. Dieser Ausdruck ist sperrig und sieht auf den ersten Blick nicht danach aus,
als ob wir ihn besonders stark vereinfachen könnten, denn er enthält Summen von
Brüchen, die die Unbekannte an unterschiedlichen Stellen im Zähler und Nenner
enthalten. Trotzdem empfiehlt uns unser innerer Wunsch nach Ordnung und Klar-
heit noch einen zweiten Blick. Mit dem kann man erkennen, dass die Nenner wegen
4 2 D 2.2 / zusammenpassen, dass also 4 2 der Hauptnenner ist.
Da das obige b in der gegebenen Form zu unhandlich ist, um damit weiterzurech-
nen, räumen wir durch Anwendung dieser Erkenntnis ein wenig auf und erhalten
nach dem Erweitern der einzelnen Brüche
2 2 .2 / 4 2
bD C C C
4 2 2.2 / 2.2 / 4 2
C 2 C .2 / C .4 2/
2 2
D ;
4 2
6.3 Ein paar Tricks 163
wobei die Klammern im Zähler nur dazu dienen, die ursprünglichen vier Summan-
den zu kennzeichnen. Durch das Zusammenfassen der passenden Terme im Zähler
entsteht mit
4 C 2 2C
bD D
4 2 2
ein deutlich einfacherer Ausdruck für b, aus dem man viel mehr Eigenschaften
direkt ablesen und mit dem man leichter weiterrechnen kann. Aufräumen ist immer
eine gute Sache.
Beachten Sie bitte, dass bei der Vereinfachung von b das Zusammenfassen auf
einen Bruchstrich zum Erfolg geführt hat, dass aber das Zusammenfassen auf einen
Bruchstrich bei der Behandlung des vorherigen Ausdrucks y eher zu einer Verkom-
plizierung des Terms geführt hat. Die Termumformung und Termvereinfachung ist
kein abarbeitbarer Algorithmus, sondern man benötigt ein wenig mathematisches
Geschick und eine Zielvorstellung, was man mit den Ausdrücken unternehmen
möchte, um zu entscheiden, welche Form die geeignetere ist. Aber Aufräumen
bleibt immer eine gute Sache.
Zur Umformung von Termen braucht man die Potenzgesetze, die binomischen
Formeln, die Bruchrechnung und all die Sachen, die wir in diesem Buch zusam-
mentragen. Deshalb kann man die Termumformung auch nicht gesondert erklären.
Man benutzt und übt sie beständig, wenn man Mathematik betreibt.
Jetzt besprechen wir ein paar Tricks, von denen es bei der Termumformung viele
gibt. Je mehr Terme man umformt, desto mehr von diesen Tricks lernt man kennen
und schätzen. Hier sind einige wenige, wenn auch wichtige, exemplarisch zusam-
mengestellt.
6.3.1 Polynomdivision
6x 4 C x 3 C 4x 2 C 3
g.x/ D :
3x 2 x C 1
Angesichts dieses Quotienten gewinnt man leicht den Eindruck, dass man durch
eine andere Darstellung ein wenig mehr aus ihm ablesen kann.
Die Polynome verhalten sich hinsichtlich der ausführbaren Rechenoperationen
ähnlich den ganzen Zahlen, denn in beiden Strukturen führt die Addition und Sub-
traktion sowie die Multiplikation zweier Objekte nicht aus der Menge der betrach-
teten Objekte hinaus. So wie das Produkt zweier ganzer Zahlen immer wieder eine
ganze Zahl ist, so ist das Produkt zweier Polynome immer wieder ein Polynom.
164 6 Handlungen mit mathematischen Symbolen
Hingegen ist der Quotient zweier ganzer Zahlen nicht immer eine ganze Zahl,
sondern oft eine gebrochene Zahl, und auch der Quotient zweier Polynome, z. B.
der Quotient aus dem linearen Polynom x C 1 und dem quadratischen Polynom x 2 ,
nämlich .x C 1/ W x 2 , ist nicht immer ein Polynom. Wir nennen eine Funktion wie
das obige g eine gebrochen rationale Funktion oder einfach eine rationale Funktion.
Nach Addition der nahrhaften Null x C 1 .x C 1/ D 0 gilt nun die Umfor-
mung
6x 4 3x 2 2 3x x C 1 .x C 1/
2
D 2x 2
D 2x D :::
3x 2 x C 1 3x 2 x C 1 3x 2 x C 1
und damit
x1 2x 3 2x 2
: : : D 2x 1 C 2
2
D 2x 2 C :
3x x C 1 3x 2 x C 1
Wir stehlen jetzt die Idee des schriftlichen Dividierens aus Abschn. 3.1. Denn der
abgespaltete polynomiale Term entsteht gerade aus 6x 4 W .3x 2 / D 2x 2 , und unter
Verwendung der obigen Umformung entsteht mit
6x 4 C x 3 C 4x 2 C 3 .2x 3 2x 2 / C .x 3 C 4x 2 C 3/
D 2x 2
C
3x 2 x C 1 3x 2 x C 1
eine Divisionsaufgabe, bei der im Zähler ein Polynom von kleinerem Grad als in
g.x/ steht. Nach dem Zusammenfassen des Nenners kann man dieselbe Überlegung
noch mal durchführen und den Polynomgrad weiter abrüsten. Versuchen Sie es.
Dieses Verfahren heißt Polynomdivision, und wir notieren es etwas flüssiger.
Hierzu schreiben wir die Divisionsaufgabe in der Form
.6x 4 C 1x 3 C 4x 2 C 0x C 3/ W .3x 2 x C 1/ D ‹;
.6x 4 C 1x 3 C 4x 2 C 0x C 3/ W .3x 2 x C 1/ D 2x 2 ;
6x 4 2x 3 C 2x 2
und nach dem Subtrahieren – wieder ganz analog zur schriftlichen Division ganzer
Zahlen – finden wir
.6x 4 C 1x 3 C 4x 2 C 0x C 3/ W .3x 2 x C 1/ D 2x 2 :
6x 4 2x 3 C 2x 2
3x 3 C 2x 2
6.3 Ein paar Tricks 165
Die Division der höchsten Terme ergibt nun 3x 3 W .3x 2 / D x, und das Schema der
Polynomdivision liefert
Hier haben wir Ihnen doch ein Rechenrezept präsentiert. Rechnen Sie den oben
vorgeschlagenen umständlichen Rechenweg nach, und vergleichen Sie die auftau-
chenden Zahlen mit denen aus dem Rezept.
Mit der Polynomdivision haben wir herausgefunden, dass die Division des Po-
lynoms 6x 4 C x 3 C 4x 2 C 3 durch das Divisorpolynom 3x 2 x C 1 das Ergebnis
2x 2 C x C 1 mit einem Rest 2 ergibt. Die Argumentation ist analog zur Division
mit Rest in Abschn. 3.3.3, wo wir 7 durch 2 geteilt und „3, Rest 1“ herausbekom-
men haben. Mathematiker freuen sich ganz besonders darüber, wenn sie Strukturen
und Argumentationen in abstrakteren Zusammenhängen wiederfinden, und hier ha-
ben wir beim Umgang mit Polynomen die Division mit Rest aus der Grundschule
wiedergefunden. Fast genau wie dort können wir das Ergebnis nun als
6x 4 C x 3 C 4x 2 C 3 2
g.x/ D D 2x 2 C x C 1 C 2
3x x C 1
2 3x x C 1
schreiben, was eine Probe durch Multiplikation mit dem Divisor bestätigt. Solch
eine Probe entspricht der Rückumformung der rechten Seite, sozusagen des ge-
mischten Bruchs in Polynomen, auf einen gemeinsamen Bruchstrich. Hier kommt
noch einmal eine Divisionsaufgabe mit ganzen Zahlen zum Vergleich:
2367 4
2367 W 17 D 139; Rest 4 oder D 139 C :
17 17
Schließlich könnten wir uns fragen, für welche Werte a 2 R die Polynomdivision
.6x 4 C x 3 C 4x 2 C a/ W .3x 2 x C 1/
ohne Rest aufgeht. Probieren Sie es aus. Es klappt gerade für a D 1. Aber das reine
Ergebnis ist nur ein Abprodukt unseres Lösungswegs. Also frisch ans Werk, führen
Sie die Polynomdivision in Abhängigkeit von dem Parameter a aus, und schauen
Sie, warum genau für a D 1 kein Rest auftritt.
Da für a D 1 kein Rest auftaucht, können wir sagen, dass das Polynom
6x 4 C x 3 C 4x 2 C 1 durch 3x 2 x C 1 teilbar ist. In der Menge der Polyno-
me beobachten wir also ähnliche Strukturen wie im Bereich der ganzen Zahlen. Die
166 6 Handlungen mit mathematischen Symbolen
Division mit Rest von ganzen Zahlen sieht genauso aus wie die Division mit Rest
im Raum der Polynome. Damit können wir auch andere typische Überlegungen
aus dem Zahlbereich Z, wie beispielsweise die Teilbarkeit oder den Begriff der
Primzahl, importieren. Allerdings muss man achtgeben und die Begriffe ein wenig
anpassen. So ist mit der Teilbarkeit eines Polynoms natürlich die Teilbarkeit durch
ein anderes Polynom – und zwar durch ein wirklich anderes Polynom – gemeint.
Das ursprüngliche Polynom multipliziert mit 2 zählt nicht. Versuchen Sie dies
zu sortieren. Was ist eine sinnvolle Übertragung des Teilbarkeitsbegriffs auf die
Polynome?
Noch verzwickter wird es bei dem Begriff der Primzahl. Schon in Abschn. 2.6
haben wir eine Primzahl in N als eine Zahl größer eins definiert, die keine ande-
ren Teiler als eins und sich selbst hat. In Abschn. 3.4 haben wir dann ausgiebig
ausgenutzt, dass in einem Produkt zweier ganzer Zahlen, das durch eine Primzahl
teilbar ist, einer der beiden Faktoren durch diese Primzahl teilbar ist. Aber gilt das
auch für Polynome und noch allgemeinere Objekte, die zueinander addiert, von-
einander subtrahiert und miteinander multipliziert werden können, ohne dass die
Division immer ohne Rest ausführbar ist? Doch diese Frage führt direkt ins Innere
der Mathematik und würde mal wieder unseren Rahmen sprengen. Schade.
6.3.2 Partialbruchzerlegung
Den Quotienten zweier Polynome haben wir eine gebrochen rationale oder rationale
Funktion genannt. Die Namensgebung macht die Analogie zu den rationalen Zah-
len, die Quotienten zweier ganzer Zahlen sind, noch einmal deutlich. Nehmen wir
ein sehr einfaches Beispiel und betrachten den Quotienten aus dem Zählerpolynom
p.x/ D 4x D 4x 1 vom Polynomgrad 1 und dem Nennerpolynom q.x/ D x 2 1
vom Polynomgrad 2. Der Quotient ist die rationale Funktion
p.x/ 4x
D 2 :
q.x/ x 1
Möglicherweise fällt Ihnen auf, dass Sie den Nenner als eine Seite der dritten bino-
mischen Formel kennen, denn es gilt x 2 1 D .x 1/.x C 1/. Das Nennerpolynom
hat also die beiden Teiler x 1 und x C 1 von niedrigerem Polynomgrad. Diese
beiden Teiler sind nicht weiter zerlegbar. Denn wären diese Polynome vom Grad 1
als Produkt darstellbar, so hätte einer der Faktoren den Polynomgrad 1 und wäre
damit ein skalares Vielfaches des ursprünglichen Polynoms.
Bevor wir anfangen, die rationale Funktion umzuformen, nehmen wir nach den
Überlegungen zur Teilbarkeit von Polynomen ein verwandtes Zahlenbeispiel, z. B.
35 D 5 7 als Produkt zweier Primzahlen, und betrachten
4 a b 7a C 5b 2 2
D C D D :
35 5 7 57 5 7
Hier haben wir einen Bruch mit einem großen Nenner in zwei Brüche mit kleine-
ren Nennern zerlegt, dazu zunächst einen Ansatz mit noch unbekannten Zählern a
6.3 Ein paar Tricks 167
und b gemacht und dann durch Rückführung auf einen gemeinsamen Bruchstrich
den gegebenen Zähler 4 mit dem allgemeinen Zähler 7a C 5b aus dem Ansatz ver-
glichen. Es kann recht schwierig sein, aus diesem Vergleich die noch unbekannten
Werte a und b zu bestimmen, aber, wie wir gleich sehen werden, ist es das in unserer
ursprünglichen Aufgabe nicht.
Betrachten wir den Ansatz
p.x/ 4x A B A.x C 1/ C B.x 1/
D 2 D C D
q.x/ x 1 x1 xC1 .x 1/.x C 1/
.A C B/x C A B
D ;
x2 1
in dem wir die Darstellung sofort wieder auf einen gemeinsamen Bruch zurückge-
führt haben. Im letzten Ausdruck haben wir die Terme im Zähler nach Potenzen der
unabhängigen Variablen x sortiert. Wir haben also den Zähler wieder als ein Po-
lynom in der Standardschreibweise notiert. Ganz links und ganz rechts stehen nun
zwei Quotienten mit denselben Nennern, die gleich sein sollen, weshalb auch die
Zähler gleich sind. Es gilt also
4x C 0 D .A C B/x C A B;
welches zwei lineare Polynome sind, die nur gleich sein können, wenn die An-
stiege und die absoluten Terme übereinstimmen. Wir finden also 4 D A C B und
0 D A B, was zu A D 2 und B D 2 führt.
Wir erhalten
p.x/ 4x 2 2
D 2 D C ;
q.x/ x 1 x1 xC1
was wir als Partialbruchzerlegung unserer rationalen Funktion bezeichnen und was
in dem ein oder anderen Zusammenhang einfacher weiterzuverarbeiten ist als die
ursprüngliche Form (Abschn. 5.2.1). Als Partialbrüche werden dabei die Summan-
den der rechten Seite betrachtet, deren Brüche nur einen Teil oder auch einen Teiler
des ursprünglichen Nennerbruchs enthalten.
Wie immer ist es wichtig, die eben vorgestellte Methode nicht schematisch an-
zuwenden, denn hier lauern Faktoren, die bei einer rezeptartigen Anwendung leicht
übersehen werden, sodass etwas Unsinniges herauskommt. Auch ist die Partial-
bruchzerlegung ein typischer Fall für die Probe. Man baut sich Aufgaben zusam-
men, indem man vom Ergebnis, also von einer Summe von Partialbrüchen, ausgeht,
diese auf einen gemeinsamen Bruchstrich schreibt und dessen Partialbruchzerle-
gung wiederum als Aufgabe begreift.
Wenn der Nenner mehr als zwei Teiler oder kompliziertere Teiler hat, so achtet
man darauf, dass der Ansatz so viele frei zu wählende Parameter enthält, wie Koef-
fizienten des Zählerpolynoms auftauchen. Wir schauen uns dies an einem Beispiel
an. Nehmen wir als Nennerpolynom q.x/ D x 4 C 3x 2 C 4x 2 C 3x C 1 mit der
Zerlegung q.x/ D .x C 1/2 .x 2 C x C 1/, wobei man sich sofort fragen kann und
168 6 Handlungen mit mathematischen Symbolen
muss, wie man von einem Polynom vierten Grades herausbekommt, dass es gerade
diese Zerlegung hat, und warum der Faktor x 2 C x C 1 nicht weiter in Polynome
ersten Grades zerlegt werden kann. Sie sehen, dass auch in Rechenaufgaben viele
weiterführende Gedanken und Anregungen stecken.
Wenn wir nun eine rationale Funktion mit dem Nennerpolynom q.x/ betrachten,
so kommt uns vielleicht der Ansatz
x 3 C 3x 2 C 5x C 2 ‹‹ ‹‹
D C 2
x 4 C 3x 2 C 4x 2 C 3x C 1 .x C 1/2 x CxC1
in den Sinn. Das Produkt der Nenner auf der rechten Seite ist der Nenner auf der
linken Seite, und im Zähler müssen vier Koeffizienten gleichgesetzt werden. Im vo-
rigen Beispiel stand im Zähler jedes Bruchs auf der rechten Seite genau eine noch zu
bestimmende Variable A und B, und in der Tat entstand im Koeffizientenvergleich
mit dem Zählerpolynom ein lineares Gleichungssystem (Abschn. 7.5) mit zwei
Gleichungen und zwei Unbekannten. Hier stehen jedoch links vier Koeffizienten,
und aus jedem Koeffizienten entsteht eine Bedingung an unsere Unbekannten A,
B; : : : Da wir also vier Unbekannte brauchen, drängt sich der Ansatz
x 3 C 3x 2 C 5x C 2 Ax C B Cx C D
D C 2
x C 3x C 4x C 3x C 1
4 2 2 .x C 1/2 x CxC1
auf, bei dem Polynome ersten Grades im Zähler stehen. Jetzt können Sie selbst
weiterrechnen. Besser noch, Sie überlegen sich, welcher Ansatz jeweils zu dem
Ziel führen kann, die großen Terme aus den rationalen Funktionen etwas schlanker
als Summe von Partialbrüchen aufzuschreiben.
Wenn Sie in andere Bücher oder Skripte schauen, ist die Partialbruchzerlegung
meist länger. Einfach länger. Nämlich weil es mehr Fälle und Sondersituationen
gibt. Lernen Sie diese nicht auswendig. Überlegen Sie sich diese selbst. Was passiert
beispielsweise, wenn das Nennerpolynom einen kleineren Grad als das Zählerpo-
lynom hat, und somit die Polynomdivision noch ein Polynom ergibt, dessen Grad
mindestens eins ist? Sie kriegen das heraus.
Wenn wir diese Funktion für einige Zahlen auswerten, so erhalten wir
p p p p
f .0/ D 1 0 D 1; f .1/ D 2 1 D 0:41 : : : ;
p p
f .10/ D 11 10 D 0:15 : : :
6.3 Ein paar Tricks 169
und
p p
f .100/ D
101 100 D 0:0498 : : : ;
p p
f .1000/ D 1001 1000 D 0:0158 : : :
Auch ohne diese Zahlenwerte könnte unser Zahlengefühl uns sagen, dass der Bei-
trag der addierten 1 durch das Wurzelziehen für größer werdende x immer geringer
wird. Mit einem zunächst etwas trickreich gewählten Ausdruck lehrt uns die bino-
mische Formel für positive x die Umformung
2
p 1 1 p p 1
xC p DxC1C und damit x C 1 < x C p : (6.9)
2 x 4x 2 x
Die Funktion f .x/ wird für wachsende x immer kleiner, denn mit dieser Abschät-
zung gilt
p p 1
f .x/ D xC1 x< p ;
2 x
und wegen x 2 C x x 2 erkennt man, dass die Quadrate der Funktionswerte f .x/2
und damit auch die positiven Funktionswerte selbst für alle x 0 kleiner als 1 sein
müssen, weil zur 1 ein negativer Term hinzuaddiert wird. Außerdem können wir
nach quadratischer Ergänzung (Abschn. 7.2) mit
s
p
1 2 1 1
x x2 Cx D xC <xC
2 4 2
die nur für bestimmte Variablen x erfüllt ist. Sie kann also dazu benutzt werden,
diejenigen Werte der Variablen x zu bestimmen, für die Gl. 7.1 gilt.
In diesem Beispiel erfüllt x D 5 die Gleichung nicht, denn 2.5 C 16/ D 42 und
35 D 15 sind nicht gleich. Andererseits erfüllt x D 32 die Gleichung. Für einfache
Beispiele kann man leicht erlernen, die gesuchte Variable aus der Gleichung zu
bestimmen. Man nennt dies „die Gleichung auflösen“. Gleichungen können beliebig
kompliziert sein. Manche kann man auch nicht auflösen.
Wir beginnen – wie so oft in der Mathematik – mit einem denkbar einfachen Bei-
spiel. Ganz einfache Beispiele werden oft als trivial bezeichnet, was viele Menschen
verschreckt. Zudem bezeichnet das Wort „trivial“ Sachverhalte oder Spezialfälle,
die aus sehr viel einfacheren Überlegungen als den gerade diskutierten folgen. Bei-
spielsweise wäre die Antwort „mindestens zwei“ auf die Frage nach der Anzahl
der Menschen auf der Erde eine triviale, da es mindestens den Fragenden und den
Antwortenden gibt.
Ein ganz einfaches Beispiel einer Gleichung ist
x C 2 D 5; (7.2)
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 171
D. Langemann, V. Sommer, So einfach ist Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55823-2_7
172 7 Gleichungen
was mit der Textaufgabe, zu welcher Zahl man zwei addieren müsse, um fünf zu
erhalten, etwa ab der zweiten Grundschulklasse thematisiert wird. Gesucht ist also
die Zahl x, die die Gleichung 7.2 erfüllt. Die hier offensichtliche Lösung x D 3
hat auch wieder die Gestalt einer Gleichung, denn zwei Terme, nämlich links x und
rechts 3, werden gleichgesetzt. Genau für x D 3 gilt die Gleichheit.
In Abschn. 3.8 haben wir x D 3 als Zuweisung gedeutet. Genauso sieht x D 3
als triviale Gleichung mit der Lösung x D 3 aus. Manchmal erscheinen triviale
Gleichungen sogar schwieriger, weil es an ihnen gar nichts zu tun gibt und wir
sorgfältig zwischen den unterschiedlichen Bedeutungen der aufgeschriebenen Aus-
drücke unterscheiden müssen.
Gl. 7.2 können wir formal lösen, indem wir auf beiden Seiten 2 abziehen, näm-
lich ist
x D x C 2 2 D 5 2 D 3:
Hier haben wir die Umkehroperation zur Addition von 2 durchgeführt. Diese Um-
kehroperation ist die Subtraktion von 2, die die gesuchte Variable x von der Addi-
tion befreit. Selbstverständlich müssen wir auf beiden Seiten der Gleichung gleich
viel abziehen, um die Gleichheit zu erhalten. Manchmal wird dies mit einer Bal-
kenwaage erklärt. Wenn eine Waage mit x C 2 in der linken und 5 in der rechten
Waagschale ausgeglichen ist, so bleibt sie ausgeglichen, wenn wir auf beiden Seiten
2 hinzutun, also gleich viel wegnehmen. Überhaupt bleibt die Waage ausgegli-
chen, wenn man auf beiden Seiten dasselbe tut.
Durch die Subtraktion der 2 auf beiden Seiten hat sich nichts daran geändert,
für welche Werte x die Gleichheit gilt und für welche nicht. Solche Umformun-
gen heißen äquivalente Umformungen. Das Addieren, Subtrahieren und Dividieren
mit allen möglichen Zahlen sind äquivalente Umformungen, ebenso das Multipli-
zieren mit allen Zahlen außer mit null. Die Multiplikation einer Gleichung mit null
kann ihre Gültigkeit dagegen dramatisch verändern. Beispielsweise ist 5 ¤ 7, aber
0 5 D 0 7. Eindrucksvoll wird es auch, wenn wir uns verdeutlichen, dass die
Gl. 7.2 die Lösung x D 3 hat, während nach Multiplikation mit null
0 .x C 2/ D 0 5 D 0
entsteht, was für alle Zahlen x richtig ist. Durch die Multiplikation mit null hat
sich die Lösungsmenge der Gleichung von einer einzigen Zahl auf die gesamte
reelle Achse ausgedehnt. Die Multiplikation mit null ist daher keine äquivalente
Umformung.
Ein anderes Beispiel für nichtäquivalente Umformungen ist das Quadrieren.
Durch das Quadrieren wird beispielsweise aus der Ungleichheit 2 ¤ 2 die Gleich-
heit .2/2 D 22 D 4. Das Wurzelziehen kehrt das Quadrieren nicht vollständig
um, denn durch das Wurzelziehen gelangen Sie von der 4 zurück zur 2, aber nicht
zur 2. Wir haben dies im Abschn. 3.3.1 bei den Ausdrücken für die Betragsfunk-
tion diskutiert. Allgemein kann man sagen, dass alle die Umformungen äquivalent
sind, die man ohne Bedeutungsänderung umkehren kann. Ihr Ergebnis lässt sich
7.1 Auflösen von linearen Gleichungen 173
eineindeutig – und mit eineindeutig bezeichnen wir genau diese Eigenschaft – auf
die Ausgangswerte zurückführen.
Hier könnten wir überlegen, ob nicht auch andere Umformungen möglich sind,
um zur Lösung von Gl. 7.2 zu gelangen. Wenn wir beispielsweise beide Seiten
der Gleichung durch 3 dividieren, was auch eine äquivalente Umformung ist, so
erhalten wir
xC2 5
D :
3 3
Da diese Umformung äquivalent ist, ist sie zumindest nicht falsch. Sie ist nur im
Moment nicht zielführend, weil wir x nicht befreit, sondern vielmehr noch wei-
ter verbaut haben. Unter allen zunächst richtigen, äquivalenten Umformungen gibt
es also einige zielführende und viele, viele nicht zielführende. Wir sehen damit
schon an diesem einfachen Beispiel, dass einiges Geschick dazu gehört, unter den
richtigen Umformungen die zielführenden zu finden, um die gesuchte Variable zu
bestimmen.
Im Beispiel Gl. 7.1 ist die Auswahl der zielführenden Umformungen noch recht
einfach, wenn man die Klammer ausmultipliziert und
2x C 32 D 3x
erhält. Trotzdem haben wir hier den neuen Umstand, dass die gesuchte Variable
zweimal auftritt. Unser Ziel ist es, diese beiden zu einer Variablen zusammenzufas-
sen. Dies gelingt, indem wir auf beiden Seiten 2x abziehen und
32 D 2x C 32 2x D 3x 2x D .3 2/x D x
erhalten, was sofort die Lösung x D 32 offenbart. Wenn man die Zusammenhänge
verkürzt und zusammengefasst wie in der letzten Gleichgung aufschreibt, muss man
beachten, dass das wiederholte Gleichheitszeichen auch tatsächlich gleiche Terme
verbindet.
Etwas gründlicher und schulischer notiert man
2x C 32 D 3x j 2x
und
2x C 32 2x D 3x 2x
und dann
32 D x bzw. x D 32:
wobei wir durch die Multiplikation mit dem Hauptnenner jeweils die Nenner aus-
geglichen, also die Division durch die Terme x C1 bzw. 2x C1 rückgängig gemacht
haben. Ausmultipliziert führt dies auf
Nach der Subtraktion von 4x 2 auf beiden Seiten entsteht die lineare Gleichung
1 D 7x C 3:
Diese Gleichung hat nicht die Form ax C b D 0, aber man erkennt trotzdem sofort,
dass sie durch eine ganz einfache Umformung, nämlich durch die Addition von 1,
in diese Form gebracht werden kann. Oft spricht man Gleichungen als linear an,
sobald man ihnen ansieht, dass sie leicht in diese Form gebracht werden können.
Die lineare Gleichung hat übrigens die Lösung x D 47 . Der Term 4x 2 ist in
Gl. 7.4 eher zufällig auf beiden Seiten identisch aufgetaucht und konnte auf beiden
Seiten abgezogen werden, sodass in diesem glücklichen Fall Terme mit x 2 vollstän-
dig verschwunden sind.
Bei einer komplizierten Gleichung wie Gl. 7.3 bietet sich eine Probe an. Die
Probe besteht darin, die gefundene Lösung in die Gleichung einzusetzen und nach-
zurechnen, dass es tatsächlich eine Lösung ist. Hier ist dies
2 . 47 / 1 4 . 47 / C 3
D :
47 C 1 1 C 2 . 47 /
7.2 Quadratische Gleichungen 175
2x 2 2x D 12: (7.5)
Zunächst genießen wir diese Gleichung. Formen Sie sie ein wenig um, und Sie
werden erkennen, dass Sie das gemeinsame Auftreten von x und x 2 durch einfache
Anwendung der Grundrechenoperationen nicht überwinden können. Diesmal ist es
schwieriger, das x zu befreien.
Die Gleichung gilt wieder nicht für alle x, denn beispielsweise für x D 4 ist
2x 2 2x D 24, also nicht 12. Durch ein wenig Probieren können wir jedoch die
beiden Lösungen
x1 D 3 und x2 D 2
erraten und sie mittels einer Probe bestätigen. Es gibt also mindestens zwei Lösun-
gen von Gl. 7.5.
Zwei Lösungen erscheinen auch einleuchtend, wenn man die noch einfachere
Gleichung
x2 D 4
Zurück zur Gl. 7.5: Wir vereinfachen die Gleichung durch Division durch zwei
ein wenig zu
x 2 x D 6: (7.6)
Wenn wir uns auf die erste binomische Formel, also auf eine unserer ersten For-
meln in Gl. 2.2 in der Form .x C a/2 D x 2 C 2a x C a2 , besinnen, so finden wir
links des Gleichheitszeichens einen Term mit nur einem x, rechts einen Term mit
x und x 2 . Diese binomische Formel verbindet also den relativ einfachen Ausdruck
.x C a/2 mit dem von uns schon als schwieriger erkannten Ausdruck, der den li-
nearen Term 2ax und den quadratischen Term x 2 enthält. Das wollen wir auch mit
unserer Gl. 7.6 erreichen. Die Wahl a D 12 formt unsere Terme so um, dass sie
dem Aussehen nach der binomischen Formel ähneln, nämlich zu
1
x2 x D x2 C 2 x D 6:
2
2
Schließlich entsteht nach der Addition von 12 D 14 und dem Zusammenfassen
der linken Seite
2 2
1 2 1 1 1 25
x D x2 C 2 xC D6C D :
2 2 2 2 4
Wir haben mit den äußeren Termen also eine Gleichheit, in der nur noch ein x vor-
kommt, das wir befreien können, und zwar wieder durch sinngemäße Anwendung
der Umkehroperation
1 2 25 ˇˇ p
x D ˙ :::
2 4
mit den zwei Lösungen
1 5 1 5
x1;2 D ˙ und umgestellt x1;2 D ˙ ;
2 2 2 2
welche somit x1 D 3 und x2 D 2 sind. Das Zeichen ˙ ermöglicht uns, etwas lax
zwei Werte in einem Term aufzuschreiben.
Die vorgestellte Technik heißt quadratische Ergänzung, weil sie einen Ausdruck
in x und x 2 zu einem vollständigen Quadrat der Form .x C a/2 ergänzt. Sie wird
besonders dann benötigt, wenn quadratische Gleichungen, die weitere Variablen
enthalten, umgeformt werden.
Wenn man die quadratische Ergänzung für eine quadratische Gleichung mit all-
gemeinen Koeffizienten durchführt, kommt man zur Auflösungsformel für qua-
dratische Gleichungen, die auch pq-Formel oder in abgewandelter Form Mitter-
nachtsformel genannt wird. Manche empfinden ihre Anwendung als schneller. Eine
quadratische Gleichung der Form
r
p p2
x C px C q D 0 hat die Lösungen x1;2 D ˙
2
q: (7.7)
2 4
7.2 Quadratische Gleichungen 177
Sie rechnen diese Formel leicht nach, indem Sie den Ausdruck x 2 C px durch
die Addition von 14 p 2 ganz analog zur obigen Rechnung für Gl. 7.6 quadratisch
ergänzen. Selbstverständlich müssen Sie zusätzliche Terme auf beiden Seiten der
Gleichung, also auch auf der, wo die Null steht, addieren. Probieren Sie es aus. Lei-
ten Sie selbst und ohne weitere Hilfsmittel die Auflösungsformel her. Mathematik
ist wie Sport. Beides nützt nur, wenn man es selber macht.
Hier wäre das Nachrechnen der quadratischen Ergänzung mit allgemeinen p und
q ein Beweis der Auflösungsformel. Auch die Probe, also das Einsetzen von x1 und
x2 in x 2 C px C q und der Vergleich des nach recht wilder Rechnung vereinfachten
Terms auf der linken Seite mit der Null auf der rechten Seite, wäre ein Beweis dafür,
dass x1 und x2 Gl. 7.7 lösen. Diese Probe beweist aber nicht, dass x1 und x2 schon
alle Lösungen sind. Probieren Sie beides aus.
Auf keinen Fall sollten Sie die Auflösungsformel anwenden, ohne die dahinter-
stehende Methode der quadratischen Ergänzung verstanden zu haben. Es ist immer
sehr gefährlich, einen Zauber anzuwenden, den man nicht versteht, wie Johann
Wolfgang von Goethe im Zauberlehrling eindrücklich vorgeführt hat. Im Fall von
Gl. 7.5 müsste man diese erst zu
2 .x 2 x 6/ D 0 bzw. x 2 1 x 6 D 0
umformen, ehe man p D 1 und q D 6 ablesen kann. Beachten Sie bitte, dass
p D 1 und nicht etwa 0 ist.
Die Nullstellen einer quadratischen Gleichung x 2 CpxCq D 0 erfüllen übrigens
x1 x2 D q und x1 C x2 D p. Dieser Zusammenhang heißt Vieta’scher Wurzelsatz.
Zum Beweis rechnet man die Ausdrücke x1 x2 und x1 C x2 mit den Termen für x1
und x2 aus der Auflösungsformel aus Gl. 7.7 nach, oder – eleganter – man verdeut-
licht sich, dass sowohl f .x/ D x 2 C px C q als auch g.x/ D .x x1 /.x x2 /
zwei nach oben geöffnete Parabeln mit denselben Nullstellen und demselben qua-
dratischen Term x 2 und mithin gleich sind. Es gilt also f .x/ D g.x/, und nach dem
Ausmultiplizieren von g.x/ entsteht
x 2 C px C q D x 2 .x1 C x2 /x C x1 x2 :
Dieser Zusammenhang gilt für alle x, da f und g zwei gleiche Parabeln beschrei-
ben, aber natürlich nur für die zu den Koeffizienten p und q passenden Nullstellen
x1 und x2 . Insbesondere gilt der Zusammenhang, wenn wir x D 0 setzen. Er liefert
hier q D x1 x2 . Mit der Wahl x D 1 entsteht 1 C p C q D 1 .x1 C x2 / C x1 x2 . Da
schon q D x1 x2 gilt, entsteht nach der Subtraktion von 1 und q auf beiden Seiten
p D .x1 C x2 /.
Allgemein gesprochen, sind zwei Polynome f .x/ und g.x/ genau dann gleich,
d. h. f .x/ D g.x/ für alle x, wenn die Koeffizienten übereinstimmen. Die Technik,
aus der Gleichheit von zwei Polynomen auf die Gleichheit der Koeffizienten zu
schließen, ist der Koeffizientenvergleich, den wir im Abschn. 6.3.2 schon eingesetzt
haben.
Wir wollen am Ende dieses Abschnitts nicht verschweigen, dass wir bis hier-
her zwar Beispiele untersucht haben, in denen eine quadratische Gleichung zwei
178 7 Gleichungen
Lösungen hat, dass eine quadratische Gleichung aber nicht notwendigerweise zwei
reelle Lösungen haben muss. Einfache Beispiele hierfür sind
x 2 D x 2 C 0 x C 0 D 0 und x 2 C 1 D x 2 C 0 x C 1 D 0;
wobei die erste Gleichung genau eine Lösung, nämlich x1 D 0, und die zweite
Gleichung wegen x 2 C 1 > 0 für alle x keine reelle Lösung hat. Wir treffen auf
dasselbe Dilemma, wenn wir die entsprechenden p und q in die Auflösungsformel
in Gl. 7.7 einsetzen. Im Falle der ersten Gleichung ziehen wir dann die Wurzel aus 0,
und die formell zwei Lösungen x1 D x2 fallen zu einer sogenannten doppelten
Nullstelle zusammen. Im zweiten Fall müssten wir die Wurzel aus 1 ziehen, was
im Bereich der reellen Zahlen R nicht durchführbar ist.
So wie wir in Abschn. 3.3 durch Paarbildung aus natürlichen Zahlen ganze Zah-
len als Differenzen natürlicher Zahlen und gebrochene Zahlen in Abschn. 3.5 als
Quotienten ganzer Zahlen eingeführt haben, kann mit den komplexen Zahlen C ein
weiterer Zahlbereich eingeführt werden, in dem alle quadratischen Gleichungen
lösbar sind.
Gleichungen, in denen noch allgemeinere Funktionen auftreten, sind nur mit etwas
Glück tatsächlich lösbar. Aber natürlich kann es Ihnen bei allen praktischen Pro-
blemen passieren, dass Sie auf kompliziertere Gleichungen als bisher besprochen
treffen. Viele Aufgaben aus den Grundvorlesungen versuchen, Sie nicht mit auf-
wendigen Rechnungen zu behelligen. Doch möglicherweise rechnen Sie ein wenig
anders, als die Dozentin oder der Dozent es geplant hat, und schon treffen Sie auf
verzwicktere Gleichungen. Auch Menschen, die sich beruflich mit Mathematik be-
schäftigen, finden bei der Behandlung von Gleichungen und bei Termumformungen
nicht sofort den Königsweg, sondern geraten auf Umwege und in Sackgassen. Doch
bei vielen verzwickteren Gleichungen kommen Sie mit ein paar Tricks recht weit,
oft bis zur Lösung.
Nehmen Sie beispielsweise die Gleichung
p p
x2 C 3 x 2 2x D 2; (7.8)
auf die wir uns in Abschn. 6.3.3 mit der Diskussion über Differenzen von Wurzel-
ausdrücken schon vorbereitet haben. Die Befreiung des x erfordert hier Geschick
und dauert länger. Beispielsweise könnte man damit beginnen, auf beiden Seiten
zu quadrieren, damit nur noch eine Wurzel stehen bleibt. Zugegeben, man kommt
nicht sofort darauf, wenn
p man es zum ersten
p Mal probiert. Außerdem ist es noch ge-
schickter, Gl. 7.8 zu x 2 C 3 D 2 C x 2 2x umzuformen und dann auf beiden
Seiten zu quadrieren. Wir überlassen Ihnen diesen eleganteren Weg zur Übung, die
Sie am besten parallel zu den folgenden anderthalb Seiten auf einem Zettel selbst
durchführen. Wir tun hier so, als ob wir nur auf die naheliegende Idee gekommen
7.3 Noch allgemeinere Gleichungen 179
wären, den Wurzeln in Gl. 7.8 durch Quadrieren beizukommen. Mit der Zeit und
mit etwas Übung entwickeln Sie einen Blick dafür, welche Umformungen zum Ziel
führen.
Quadrieren ist allerdings keine äquivalente Umformung, denn – noch einmal –
ungleiche Ausdrücke wie 3 ¤ 3 können beim Quadrieren gleiche Ergebnisse
liefern. Wir müssen also darauf gefasst sein, dass wir uns zu den echten Lösungen
zusätzlich scheinbare Lösungen einfangen. Wir erhalten nach dem Quadrieren und
nach Anwendung der binomischen Formel
p
x 2 C 3 2 .x 2 C 3/.x 2 2x/ C x 2 2x D 4:
Beachten Sie bitte, dass wir den Term unter der Wurzel zunächst in dieser Produkt-
form belassen. Ausmultiplizieren können wir ihn immer, aber einen ausmultipli-
zierten Term in ein Produkt zurückzuverwandeln, kann schwierig sein. Nachdem
wir mit
p
2 .x 2 C 3/.x 2 2x/ D 1 C 2x 2x 2
etwas aufgeräumt haben, quadrieren wir wieder und achten dabei, wie eigentlich
immer, besonders darauf, dass .1 C 2x 2x 2 /2 D .1 C 2x 2x 2 /.1 C 2x 2x 2 /
nicht dasselbe ist wie die Summe der Quadrate von 1, 2x und 2x 2 (Abschn. 2.8).
Durch diese wiederum nichtäquivalente Umformung entsteht
4.x 2 C 3/.x 2 2x/ D 1 C 4x 8x 3 C 4x 4 :
Diese Gleichung sieht noch komplizierter als eine quadratische Gleichung aus. Sie
enthält sogar Terme mit x 4 . Hier sei ein Zwischenruf erlaubt. Man könnte glauben,
dass es zu allen Gleichungen Auflösungsformeln gäbe oder dass sich welche fin-
den ließen, wenn man nur lange genug darüber nachdenkt. In der Tat gibt es die
Auflösungsformel für quadratische Gleichungen (Gl. 7.7). Ähnliche Auflösungs-
formeln, die viel komplizierter aussehen und die niemand auswendig weiß, gibt es
für Gleichungen dritten Grades, also solche, die einen Term mit x 3 enthalten, und
für Gleichungen vierten Grades, die sogar einen Term mit x 4 enthalten. Ein jun-
ger Mann namens Evariste Galois entwickelte jedoch, bevor er im Alter von nur 20
Jahren 1832 bei einem Duell starb, eine mathematische Theorie, aus der unter an-
derem folgt, dass es keine allgemeine Auflösungsformel für Polynomgleichungen
höheren als vierten Grades geben kann. Bei solchen Gleichungen kann es also gar
kein Rezept für eine Lösung geben, so sehr sich manche Leute Rechenrezepte auch
wünschen.
Doch zurück zu unserer Gleichung. Zum Glück fällt dort nach dem Ausmultipli-
zieren der linken Seite zu
4.x 2 C 3/.x 2 2x/ D 4x 4 8x 3 C 12x 2 24x
einiges weg, und wir erhalten die quadratische Gleichung
7 1
12x 2 28x 1 D 0 bzw. x2 x D0
3 12
180 7 Gleichungen
Eine Größenschätzung liefert uns wegen 3:52 D 12:25 schnell x1 > 2 und x2 < 0,
wobei x1 nur wenig größer als zwei ist.
Allerdings ist x2 keine Lösung der ursprünglich betrachteten Gleichung 7.8, wie
die Proberechnung belegt. Diese scheinbare Lösung haben wir uns durch die nicht-
äquivalenten Umformungen eingebrockt, ohne die wir allerdings nicht bis hierhin
gekommen wären. Hingegen hält x1 der Probe stand, denn nach dem Einsetzen von
x1 liefert der Term
q q
x12 C 3 x12 2x1 D : : :
und q
p p
209 C 28 13 D 14 C 13 > 0;
und das Schönste daran ist, dass wir es selbst herausgefunden haben und nicht der
Computer. Versuchen Sie sich selbst am zweiten Wurzelterm. Nun ist die Probe
ganz leicht, x1 erfüllt die Gleichung, denn der Term in Gl. 7.9 ist wirklich gleich 2,
nicht nur ungefähr. Für x2 versuchen Sie sich bitte selbst an einer Probe, denn Sie
wissen, dass Mathematik etwas zum Selbermachen und nicht nur zum Anschauen
ist. Der entsprechende Term mit x2 in Gl. 7.9 ist übrigens
q
1 p
8 13 ¤ 2:
3
Eine andere und möglicherweise einfachere Möglichkeit, sich zu verdeutlichen,
ob x1 und x2 Lösungen sein können, besteht darin, sich wie in Abschn. 5.2.1 den
Verlauf der Funktion
p p p p
f .x/ D x 2 C 3 x 2 2x D x 2 C 3 .x 2/x
anzusehen, der wir jetzt mit f D f .x/ endlich einen Namen gegeben haben. Wir
haben ihn in Abb. 7.1 dargestellt.
Denken Sie daran, die Funktion f als Übung selbst zu zeichnen. Beachten Sie
bitte, dass für 0 < x < 2 der Ausdruck .x 2/x unter der zweiten Wurzel negativ
ist, sodass die Funktion
p dort nicht definiert
pist. An den Rändern des Definitionsbe-
reichs gilt f .0/ D 3 < 2 und f .2/ D 7 > 2. Nun machen wir uns Gedanken
über das Wachstumsverhalten der Äste der Funktion f . Wenn wir uns x als über alle
Maßen wachsend vorstellen, so entsteht in der Differenz der Wurzelausdrücke von
f ein x plus etwas Kleinkram minus einem x weniger etwas Kleinkram. Auf diese
Art und Weise erhalten wir also noch keine Aussage über das Wachstumsverhalten.
182 7 Gleichungen
Mit den Tricks aus Abschn. 6.3.3 können wir unter Ausnutzung der dritten bino-
mischen Formel .a b/.a C b/ D a2 b 2 unsere Funktion auch als
p p p p
. x 2 C 3 x 2 2x /. x 2 C 3 C x 2 2x /
f .x/ D p p
x 2 C 3 C x 2 2x
und damit als
3 C 2x 3
C2
f .x/ D p p Dq x
q
x C 3 C x 2 2x
2
1C 3
C 1 2
x2 x
schreiben, wobei wir für den letzten Ausdruck ein x gekürzt, also im Zähler und
Nenner ausgeklammert haben. Nun sehen wir, dass die Funktionswerte für wach-
sende x p! 1 gegen eins streben. Die Funktion scheint also, vom Funktionswert
f .2/ D 7 an tendenziell zu fallen. Sie kommt beim Wert f .x/ D 2 vorbei, denn
sie macht keine Sprünge. Denken Sie darüber nach, ob die Funktion f auf dem
rechten Ast immer fällt und auf dem linken Ast immer steigt. Trauen Sie sich, auch
wenn dies eine recht schwierige Angelegenheit ist.
Wenn p uns diespzu kompliziert erscheint, könnten wir darüber nachdenken, ob
f .10/pD 103 80 schon kleiner als 2 ist. Eine Überschlagsrechnung p zeigt uns,
dass 103 wegen 102 D 100 nur ein klein wenig größer als 10 und 80 wegen
92 D 81 nur eine Winzigkeit kleiner als 9 ist. Somit ist f .10/ ein klein wenig größer
als 1. Wir können jedoch noch nicht sicher sagen, dass f .10/ kleiner als 2 ist. Dies
gelingt aber, wenn wir mit der binomischen Formel wie in Abschn. 3.1
und
Beachten Sie bitte, dass das Rechnen mit Dezimalzahlen hier ausnahmsweise hilf-
reich war.
Die Welt der Gleichungen ist noch weitaus vielfältiger. Bei manchen Gleichun-
gen braucht man kompliziertere Umkehroperationen. Betrachten wir z. B.
2x D 1024;
d. h. die Suche nach derjenigen Zahl x, die als Potenz zur Basis 2 den Wert 1024
ergibt. Wir finden im Zweierlogarithmus die Umkehroperation (Abschn. 3.9), die
wir wieder auf beiden Seiten zu
anwenden. Das nützt uns zunächst nichts, da man sich zur Berechnung von
log2 1024 auf die Suche nach dem x begeben muss, für das 2x D 1024 ist –
also auf die Suche nach der Lösung der Gleichung selbst. Trotzdem betrachten wir
die Zuweisung x D log2 1024 als Lösung der Gleichung 2x D 1024. Die Lösung
ist übrigens x D 10.
Es gibt darüber hinaus eine große Vielfalt an Gleichungen, die man nicht
geschlossen lösen kann, obwohl sie Lösungen haben. Beispielsweise sieht man
schnell, dass die Gleichung
cos x D x
eine Lösung haben muss, weil sich die Funktion f .x/ D cos x und die Gerade
y.x/ D x für x-Werte zwischen 0 und , also für ein x 2 Œ0; , genau einmal
schneiden, denn die Funktion f fällt von f .0/ D 1 auf f ./ D 1, und die
Gerade steigt von y.0/ D 0 auf y./ D . Da sich die beiden nicht aus dem Weg
gehen können, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als sich zu schneiden. Die Lage
des Schnittpunkts bezeichnen wir mit x 2 Œ0; , und dort gilt f .x / D g.x /,
also cos x D x . Wir wissen also, dass die Gleichung cos x D x mindestens eine
Lösung hat, aber wir wissen nicht genau, welche. Können Sie nachweisen, dass es
nur eine Lösung gibt? Versuchen Sie es.
Keine Umformung ist in der Lage, das doppelte Auftreten von x in cos x D x
auszubessern. Es werden immer mindestens zwei x und damit mindestens eines als
Argument einer trigonometrischen Funktion bestehen bleiben. Interessanterweise
erhalten Sie den Zahlenwert von x , wenn Sie beim Taschenrechner nach einer be-
liebigen Zahleneingabe immer wieder auf die Kosinustaste tippen. Aber warum ist
das so? Natürlich erhalten Sie zwei unterschiedliche Werte, wenn Sie im Bogenmaß
oder in Winkelgrad rechnen.
Sie werden im Laufe der Beschäftigung mit Mathematik und mit mathematisch
formulierten Zusammenhängen bald ein Gespür dafür entwickeln, welche Glei-
chungen durch Umstellen und Umformen auflösbar sind und welche nicht.
7.4 Textaufgaben
Textaufgaben sind ganz besondere Schmankerl. Der eine oder andere Studierende
hat schon beschworen, dass er vieles tun würde, wenn er dafür nie wieder in seinem
Leben eine Textaufgabe bearbeiten müsste. Sie ahnen bei diesem Anfang sicher
schon, dass dieses Ansinnen als unvernünftig gebrandmarkt werden soll. Ihr Stu-
dium enthält Mathematik, und Sie werden Mathematik in Ihrem Beruf anwenden,
aber das Berufsleben besteht nicht darin, Übungs- und Klausuraufgaben zu rechnen.
Vielmehr werden Sie – sicher unterschiedlich oft und auf unterschiedlichem Ab-
straktionsniveau – Sachverhalte der realen Welt in mathematische Formulierungen
und umgekehrt mathematische Formulierungen in anwendbare Zusammenhänge
und Algorithmen zur Behandlung von Problemen der realen Welt übersetzen. Die-
ser Übersetzungsprozess ist der wesentliche Inhalt einer jeden Textaufgabe. Die
184 7 Gleichungen
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Ein Verein macht eine Sammlung. Der große
Vorsitzende gibt 20 Euro. Der Stellvertreter riskiert nur 99 % dieses Betrags, der
Schriftführer gibt wiederum maximal 99 % dessen, was der Stellvertreter gespendet
hat, und so hält es fortan jedes weitere Mitglied. Wie viel Geld kommt höchstens
zusammen?
7.4 Textaufgaben 185
Für solch eine Textaufgabe kann es natürlich kein Rezept und keine Re-
chenvorschrift geben. Wir müssen schlicht überlegen, was hier erzählt wird.
Der große Vorsitzende spendet generös a1 D 20 Euro. Der Stellvertreter gibt
a2 D 0:99 20 Euro D 19:80 Euro, der Schriftführer lässt sich zu höchstens
0:99 0:99 20 Euro herab. Es gilt also a3 0:99 0:99 20 Euro, wobei wir die
Einheit fortan weglassen, da wir ja wissen, dass es um Geld geht. Setzen wir dies
weiter fort, so entsteht die Abschätzung
Vielleicht haben wir das Gefühl, dass wir gern wüssten, wie viele Mitglieder der
Verein hat. Da uns dies jedoch nicht gegeben ist, können wir die Gesamtsumme
wenigstens dadurch abschätzen, dass wir die gesammelte Summe eines Vereins mit
N Mitgliedern gegen die eines Vereins mit unendlich vielen Mitgliedern abschät-
zen. Mit der unbekannten Mitgliederzahl N wissen wir also wenigstens, dass für
die insgesamt gesammelte Summe
X
N 1
X
ak ak D a1 C a2 C : : : 20 C 0:99 20 C 0:992 20 C : : :
kD1 kD1
1
X
D 20 0:99k1
kD1
gilt. An dieser Stelle sind wir wieder im Land der Formeln und Abschätzungen,
wobei wir wie nebenbei eine Summe über unendlich viele Zahlen – Reihe genannt
– eingeführt haben, und jetzt machen wir Mathematik. Ab hier wird es leicht.
Betrachten wir zunächst die endliche Summe
X
N
sD qk D 1 C q C q2 C q3 C : : : C qN :
kD0
X
N X
N C1
N C1
qs D q kC1
D q C q Cq C:::Cq
2 3
D qk :
kD0 kD1
Der letzte Ausdruck ist entstanden, indem wir die ausgeschriebene Summe wie-
der zusammengefasst haben. Wir haben also die Übersetzung in eine einfachere
Schreibweise genutzt und nicht irgendeine Rechenregel. Nun ist
X
N X
N C1
s.1 q/ D s sq D qk q k D 1 q N C1 ;
kD0 kD1
186 7 Gleichungen
weil alle anderen Summanden, also alle anderen Potenzen q k , sowohl in der Summe
s D 1 C .q C : : : C q N / als auch in sq D .q C : : : C q N / C q N C1 auftauchen. Mit
der Subtraktion fallen die vielen Terme in der Klammer weg. Also gilt
X
N
1 q N C1
sD qk D 1 C q C q2 C : : : C qN D :
1q
kD0
Für sehr große und immer größer werdende N ! 1 kommt der Term q N C1
der Null beliebig nahe, wenn und nur wenn q zwischen 1 und 1 liegt, d. h. für
q 2 .1; 1/. Damit gilt
1
X 1
qk D 1 C q C q2 C q3 C : : : D für jqj < 1: (7.10)
1q
kD0
Diese spezielle Summe mit unendlich vielen Summanden der Form q k , auch geo-
metrische Reihe genannt, hat also einen endlichen Wert. Wir passen natürlich auf,
dass wir die Summenformel 7.10 der geometrischen Reihe nicht aus Versehen für q
außerhalb des offenen Intervalls .1; 1/ anwenden, für die sie nicht gilt. Beispiels-
weise für q D 2 würde mit
1
X 1
2k D 1 C 2 C 4 C 8 C 16 C : : : ¤ D 1
12
kD0
eine Summe mit unendlich vielen Summanden entstehen, die sicher unendlich groß
ist und ganz bestimmt nicht negativ und damit auch nicht gleich 1.
Im Falle unserer Aufgabe ist nun q D 0:99 < 1 und damit
1
X 1
X 1
20 0:99k1 D 20 0:99k D 20 D 2000:
1 0:99
kD1 kD0
Die Höchstsumme, die der Verein auf die beschriebene Weise sammelt, ist
2000 Euro. Sie sehen, dass diese Abschätzung recht grob sein kann. Denn wenn der
Verein zu den drei genannten nur noch vier weitere Mitglieder hat, dann sammelt
er sogar weniger als 140 Euro oder genauer weniger als 135:87 Euro. Doch der
Zahlenwert der Lösung ist nur ein Nebenprodukt des Gedankengangs.
Gönnen wir uns noch ein drittes Beispiel: Familie Brandt nimmt einen Kredit auf,
den sie in monatlichen nachschüssigen Raten in einem bestimmten Zeitraum ab-
zahlen möchte. Welchen Zinssatz kann Familie Brandt bei fester Kreditsumme
maximal akzeptieren, wenn dies mit beschränkten monatlich zur Verfügung ste-
henden Beträgen gelingen soll?
7.4 Textaufgaben 187
Bei dieser Textaufgabe stellen wir zunächst fest, dass keine Zahlen gegeben sind.
Gefragt ist also kein Zahlenwert, sondern ein Zusammenhang, mit dem wir das Pro-
blem allgemein lösen. Nennen wir die Kreditsumme K0 , und betrachten wir sie als
Soll-Kontostand, also als negative Zahl K0 < 0. Der monatliche Verzinsungsfaktor
sei q > 1, d. h. dass unser Kontostand monatlich mit diesem Faktor multipliziert
wird. Im realen Bankleben wird die Verzinsung jährlich berechnet, aber unser mo-
natlicher Faktor q steht mit dem jährlichen Zins p, den wir uns in den üblichen
Prozentzahlen angegeben denken, in dem Zusammenhang
r
p p
q D1C
12
bzw. q D 12 1 C ;
100 % 100 %
denn ein Kontostand K wird einerseits in zwölf Monaten durch zwölfmalige Mul-
tiplikation mit dem Verzinsungsfaktor q oder andererseits durch einen einmaligen
jährlichen Zinsaufschlag p in Prozent verzinst. Da in beiden Fällen dasselbe her-
auskommen muss, entsteht
p
Kq 12 D K C K :
100 %
Damit korrespondiert q > 1 zu einer positiven Verzinsung p > 0 %.
Wir bezeichnen das Kapital nach einem Monat mit K1 , also nach der Abzahlung
der monatlichen Rate, die wir E > 0 nennen. Die Abzahlung ist positiv, denn wir
zahlen sie auf das Konto, das unser Darlehen mit einem negativen Stand verbucht,
ein. Wir verkleinern also den aktuell verbleibenden Darlehensbetrag. Nach einem
Monat ist der Kontostand
K1 D K0 q C E:
In der Realität ist dies betragsmäßig eine etwas kleinere Kreditsumme, sofern wir
mit der Rate E > 0 monatlich mehr begleichen, als der Kredit monatlich wächst.
Nach zwei Monaten entsteht entsprechend
K2 D K1 q C E D K0 q 2 C Eq C E;
K3 D K2 q C E D K0 q 3 C Eq 2 C Eq C E D K0 q 3 C E.q 2 C q C 1/
q3 1
D K0 q 3 C E
q1
und so weiter, wobei wir bei der letzten Umformung einen Zusammenhang verwen-
den, der schon in Gl. 3.11 und gerade eben bei der Herleitung der geometrischen
Reihe benutzt wurde. Nach n Monaten beträgt die Kreditsumme also
qn 1
Kn D K0 q n C E ; (7.11)
q1
188 7 Gleichungen
was Sie gern allgemein beweisen können. Schauen Sie sich dazu in Abschn. 8.1.2
nach einer passenden Beweistechnik um. Es geht aber auch ohne diese.
Der Kredit ist nach n Monaten abgezahlt, wenn nach n Monaten kein Kredit
mehr besteht, wenn also Kn D 0 gilt. Der gesuchte Zusammenhang zwischen der
Kreditsumme K0 < 0, der monatlichen Rate E > 0, dem monatlichen Verzinsungs-
faktor q > 1 und dem Zahlungszeitraum n in Monaten lautet somit
qn 1
0 D K0 q n C E : (7.12)
q1
Diese Gleichung können wir nun nach jeweils einer der Größen umstellen, um sie
aus den anderen drei auszurechnen. Dies gelingt in geschlossener Form für K0 , E
oder für n durch Standardumformungen.
Für die Dauer n der Zahlung bei gegebenen anderen Größen erhalten Sie einen
Ausdruck, wenn Sie die Gl. 7.12 so aufräumen, dass die gesuchte Größe n nur
einmal vorkommt, beispielsweise durch
E
E E q1 E
K0 C qn D 0 und q n D D :
q1 q1 K0 C q1
E .q 1/K0 C E
Doppelbrüche kommen also auch im Bank- und Kreditwesen vor. Wir sehen, dass
wegen q n > 1 nur dann eine Lösung entstehen kann, d. h. wenn .q 1/K0 C E
positiv ist, d. h. wenn Familie Brandt monatlich mehr als den Betrag einzahlt, um
den die Kreditsumme aufgrund der Verzinsung wächst. Dies ist insbesondere zu
Anfang des Kredits einschneidend, denn der Darlehensbetrag verkleinert sich mit
der Zeit.
Schließlich entsteht
E
n D logq ;
.q 1/K0 C E
wozu .q 1/K0 C E > 0 zwingend notwendig war, denn für negative Argumente
ist der Logarithmus nicht definiert (Abschn. 3.9). Sollten wir uns also verrechnet
oder anders vertan haben, bewahrt uns hier die Mathematik vor groben Fehlern.
Im Gegensatz dazu erhalten Sie für den Verzinsungsfaktor q durch Umformen
von Gl. 7.12 keinen geschlossenen Ausdruck (Abschn. 7.3). Der mehrfach auftre-
tende Verzinsungsfaktor q lässt sich nicht zu einem Ausdruck zusammensortieren.
Wenn Familie Brandt ihren Kredit wie geplant abbezahlen will, muss sie min-
destens die Kreditsumme ohne Verzinsung zurückzahlen, also ist K0 CnE > 0 eine
notwendige Bedingung für das Gelingen. Da ihr Kontostand den gesamten Zeitraum
über negativ ist, fallen Zinsen als ein Sollbetrag an, und die Kreditsumme Kn < 0
in Gl. 7.11 ist für jeden Zeitpunkt vor der Abzahlung des Kredits monoton fallend
in q. Der noch ausstehende Kreditbetrag jKn j 0 wächst also mit wachsendem
Zins, wogegen der Kontostand Kn < 0 fällt. Nebenbei bemerkt können Sie die Vor-
zeichenwahl für die Behandlung der Fragestellung natürlich ändern, wenn Ihnen
7.5 Lineare Gleichungssysteme 189
der negative Kontostand nicht gefällt. Selbstverständlich müssen Sie die anderen
Größen konsistent ebenfalls verändern. Wie sähe die Argumentation dann aus?
Für festes K0 , E und n liefert die nur theoretische Parameterwahl q D 1, was
p D 0 % entspricht, bei Einhaltung der notwendigen Bedingung K0 C nE > 0
dagegen einen positiven Kontostand Kn D Kzinslos > 0. Im anderen Grenzfall, dass
die Monatsrate E gerade den monatlichen Zins begleicht, also .q 1/K0 C E D 0
gilt, bleibt die Kreditsumme bestehen, und Kn D K0 < 0 ist negativ. Wird der
Zinsfaktor q gedanklich, von 0 ausgehend, größer und größer, so bewegt sich der
Kontostand von Kzinslos in Richtung K0 , bis er beim kritischen Verzinsungsfaktor
qkrit den Wert 0 erreicht. Dieses entspricht dem maximal möglichen Zins, bei dem
Familie Brandt den Kredit mit gegebenen K0 , E und n abzahlen kann.
Im Berufsleben müssen Sie das Ergebnis noch in geeigneter Form aufbereiten
und präsentieren, damit Ihr Gegenüber es verstehen und verwenden kann.
Ein paar weitere Anregungen für Textaufgaben finden Sie in Abschn. 3.1 und
überall im täglichen Leben.
Wenden wir uns noch einmal der Aufgabe mit Mutter und Tochter vom Prenzlauer
Berg aus Abschn. 7.4.1 zu. Wir hätten das jetzige Alter der Tochter mit x und das
der Mutter mit y bezeichnen können. Dann wäre die erste Bedingung, nämlich, dass
die Mutter jetzt siebenmal so alt wie ihre Tochter ist, die Gleichung 7x D y. Dies
ist eine Gleichung für zwei Unbekannte. Aus ihr können wir die zwei gesuchten
Größen noch nicht bestimmen, denn diese Gleichung liefert zu jedem x, also zu
jedem Alter der Tochter, ein mögliches Alter y der Mutter.
Glücklicherweise haben wir noch eine zweite Bedingung, nämlich, dass die Mut-
ter in vier Jahren nur noch fünfmal so alt wie ihre Tochter sein wird. In vier Jahren
ist das Alter der Tochter xC4 und das der Mutter yC4. Es gilt also 5.xC4/ D yC4
oder y D 5x C 16. Beide linearen Gleichungen zusammen bilden das lineare Glei-
chungssystem
y D 7x;
(7.13)
y D 5x C 16:
Dieses lineare Gleichungssystem können wir auf vielfältige Art und Weise lösen.
Im Studium werden Sie den Gauß-Algorithmus als ein Verfahren kennenlernen, das
es erlaubt, sehr große Gleichungssysteme zielgerichtet und effizient zu lösen. Carl
Friedrich Gauß sagte einmal über ein Lösungsverfahren, es sei so einfach, dass man
„nebenher an etwas Sinnvolles“ denken kann. In der Tat erscheint es angesichts der
vorhandenen Rechentechnik heute nicht mehr sinnvoll, größere lineare Gleichungs-
systeme von Hand zu lösen. Trotzdem sollte man verstehen, was bei der Lösung
passiert und welche Fallstricke lauern. Die Einfachheit macht es erst möglich, Al-
gorithmen einem Computer beizubringen. Aber Computer denken nicht nach. Das
können nur Menschen, und die bedienen die Computer. Sie sollten also wissen, was
190 7 Gleichungen
der Rechner tut oder tun müsste. Auch deshalb beschäftigen wir uns hier mit einigen
einfachen Lösungsansätzen.
In Gl. 7.13 finden wir die am Ende von Abschn. 3.8 abstrakt beschriebene Situ-
ation, dass von den drei Ausdrücken a D y, b D 7x und c D 5x C 16 die
Gleichheiten a D b und a D c gefordert werden. Mithin gilt auch b D c. Also
reduziert sich das Gleichungssystem durch dieses Gleichsetzungsverfahren auf
7x D 5x C 16
mit der Lösung x D 8. Daraus folgt mit jeder der Gleichungen im System 7.13, dass
y D 56 ist. Wir können also eine der Gleichungen verwenden, um y auszurechnen,
und die andere als Probe betrachten.
Diesem Gleichsetzungsverfahren entspricht folgende geometrische Vorstellung.
Jede der Gleichungen in 7.13 beschreibt eine Gerade (Abschn. 5.2.2), auf der al-
le Punkte .x; y/ liegen, die die jeweilige Gleichung erfüllen. Für die Lösung der
Aufgabe muss das gesuchte Paar .x; y/ aber beide Gleichungen erfüllen, also auf
beiden Geraden liegen. Die Lösung .x; y/ D .8; 56/ beschreibt den Schnittpunkt
der beiden Geraden. Die Suche nach einem Schnittpunkt von zwei durch lineare
Funktionen beschriebenen Geraden führt auf ein lineares Gleichungssystem. Pro-
bieren Sie es aus. Skizzieren Sie, messen Sie, und rechnen Sie nach.
Durch das Gleichsetzungsverfahren haben wir die zwei Gleichungen mit zwei
Unbekannten auf eine Gleichung mit einer Unbekannten reduziert. Die Komplexität
der mathematischen Aufgabenstellung wurde reduziert. Dies geht noch auf andere
Weise. Beispielsweise sind beide Gleichungen des Systems 7.13 bei der Lösung
erfüllt. Wir können zwei gültige Gleichungen voneinander abziehen und erhalten
wieder eine Gleichheit. Eine mit y und 7x ausgeglichene Balkenwaage bleibt aus-
geglichen, wenn wir mit y und 5x C 16 auf beiden Seiten gleich viel wegnehmen.
Es gilt also
0 D y y D 7x .5x C 16/ D 2x 16
mit – natürlich – derselben Lösung. In diesem einfachen Fall stand auf der linken
Seite in beiden Fällen y, sodass beim Abziehen der Gleichungen sofort null auf-
taucht. Gegebenenfalls muss man die Gleichungen erst mit einem geeigneten Faktor
multiplizieren, damit die Subtraktion der Gleichungen zielführend null auf einer
Seite liefert und eine Variable wegfällt. Auf diesem Prinzip beruht auch der Gauß-
Algorithmus. Er systematisiert das Vorgehen, denn ein Computerprogramm kann
nicht selbst überlegen, wann ein Faktor „geeignet“ oder eine Umformung „zielfüh-
rend“ ist. Wir stellen uns vor, dass das Gleichungssystem 7.13 in der Form
IW 7x y D 0;
II W 5x y D 16
vorliegt, bei der die Variablen in alphabetischer Reihenfolge links und die absoluten
Terme rechts der Gleichheitszeichen auftauchen. Wenn Sie die zweite Gleichung
7.5 Lineare Gleichungssysteme 191
festhalten und die erste so mit einem Faktor multiplizieren, dass nach der Subtrak-
tion der beiden Gleichungen die Variable x wegfällt, dann entsteht
5 5 5
II IW .5x y/ .7x y/ D 16 0
7 7 7
und zusammengefasst
2
y D 16
7
mit derselben Lösung wie oben. Möglicherweise würden Sie diese Variante kom-
pliziert nennen, weil Brüche aufgetreten sind und die Umformungen insgesamt
vergleichsweise ungeschickt wirken. Aber einem Computer wäre dies egal. Rech-
nen kann er auch mit krummen Zahlen, aber geschickte Wege finden kann er nicht.
Die unterschiedlichen Verfahren, die in der Schule oft unterschiedliche Namen
wie z. B. Einsetzungsverfahren und Gleichsetzungsverfahren haben, beruhen alle
auf dem Gedanken, die Anzahl der Variablen zu reduzieren, und sind somit nicht
sehr verschieden.
Wir erhalten ein anderes Beispiel für ein lineares Gleichungssystem, wenn wir
die Umrechnung von Grad Celsius in Grad Fahrenheit rekonstruieren. Möglicher-
weise wissen wir, dass 0 ı C gerade 32 ı F und dass 100 ı C gerade 212 ı F entspricht.
Bezeichnen wir die Temperatur gemessen in Grad Celsius mit C und die gemessen
in Grad Fahrenheit mit F , so suchen wir nach einer Funktion F D f .C /. Ange-
sichts der beiden F und f scheint diese Bezeichnung zunächst etwas ungeschickt,
aber wir können mittlerweile mit allen Bezeichnungen agieren. Aber was für eine
Funktion suchen wir? Im Grunde unseres naturwissenschaftlichen Gefühls würden
wir eine Temperaturskale mit unterschiedlich großen Gradeinteilungen als etwas
Weltfremdes ansehen. Es erscheint natürlich, dass gleich großen Abschnitten auf
der Fahrenheit-Skale auch gleich große Abschnitte auf der Celsius-Skale entspre-
chen. Wir unterstellen also zu Recht einen linearen Zusammenhang
F D f .C / D mC C n
mit dem Anstieg m und dem absoluten Glied n. Lassen Sie uns ab hier im weiteren
einheitenbefreit nachdenken, denn wir wissen ja, dass die Temperatur F in Grad
Fahrenheit (ı F) und die Temperatur C in Grad Celsius (ı C) angegeben werden und
dass beide dieselbe reale Temperatur beschreiben.
Unsere beiden Übereinstimmungen liefern bei den Temperaturen 0 ı C und
100 ı C zwei Gleichungen, aus denen wir die beiden Bestimmungsstücke m und n
unserer Funktion f berechnen. Es entsteht das lineare Gleichungssystem
f .0/ D 32 D 0 m C n;
f .100/ D 212 D 100 m C n;
aus dem man n D 32 sofort ablesen kann. Aus der zweiten Gleichung erhält man
dann 180 D 100m oder in Worten, dass 100 Gradschritte in der Celsius-Skale genau
192 7 Gleichungen
212 32 9
mD D
100 0 5
zu bestimmen. Machen Sie sich eine Skizze, und zeichnen Sie die beiden Punkte
und die Differenzen im Bruch ein.
Mit Gl. 7.14 können wir beispielsweise 16 ı C in f .16/ D 60:8 ıF und 28 ı C
in f .28/ D 82:4 ı F umrechnen. Kurz könnte man also 16 ı C 61 ı F und
28 ı C 82 ı F sagen, aber das stimmt nur ungefähr. Manche Amerikafahrer mer-
ken sich diese beiden Werte, weil der scheinbare Zahlendreher einprägsam ist und
weil es im Urlaub auf große Genauigkeit nicht ankommt. Spaßeshalber probieren
wir aus, welche Umrechnungsformel aus diesen beiden Punkten entstünde. Wir
bezeichnen die Urlaubsumrechnung mit fQ und finden
F D fQ.C / D mC
Q C nQ mit 61 D fQ.16/ und 82 D fQ.28/:
Die vielen Tilden, also die Schlängellinien über den Bezeichnungen, unterstreichen
unser Wissen darum, dass aus angenäherten Punkten auch nur ein angenäherter
Zusammenhang und recht sicher ein anderer als oben in Gl. 7.14 entsteht. Wir be-
stimmen den Anstieg der Urlaubsumrechnung, indem wir die Differenz in der einen
Skale durch die Differenz in der anderen Skale teilen und erhalten
fQ.28/ fQ.16/ 21 7
Q D
m D D
28 16 12 4
mit einem kleineren Anstieg. Das ist auch einleuchtend, denn unsere Urlaubsnähe-
rung 28 ı C 82 ı F liefert zu kleine Fahrenheit-Werte und die andere zu große. Die
Urlaubsgerade fQ verläuft also flacher als das korrekte f . Da die beiden Urlaubs-
näherungen nahe beieinander liegen, wirkt sich die Ungenauigkeit recht stark aus,
und die Urlaubsgerade hängt etwas schief.
Zeichnen Sie diese Gerade in Ihre Skizze ein, und berechnen Sie beispielswei-
se fQ.0/ und fQ.100/. Welche Werte werden hier berechnet, und warum weicht
die Urlaubsnäherung von den richtig umgerechneten Werte für große und kleine
7.5 Lineare Gleichungssysteme 193
Temperaturen stärker ab? Indem Sie das tun, nähern Sie sich einem weiteren in-
teressanten mathematischen Arbeitsgebiet, nämlich der Numerik und speziell der
Diskussion der Fehlerfortpflanzung. Ja, leider, leider rechnen Computerprogramme
aus fehlerhaften Eingangswerten fehlerhafte Ergebnisse aus, und man sollte wissen,
ob sich die Fehler dabei noch vergrößern, und bestenfalls, wie sehr sie dies tun.
Bis hierhin waren die linearen Gleichungssysteme immer eindeutig lösbar, d. h.
aus zwei Gleichungen konnte man genau eine Lösung ausrechnen, so wie zwei
Geraden einen Schnittpunkt haben – aber halt, dies gilt natürlich nur, wenn sie sich
überhaupt schneiden. In der Welt der linearen Gleichungssysteme kann es nämlich
passieren, dass es gar keine oder mehr als eine Lösung gibt. Denken Sie z. B. an das
lineare Gleichungssystem
2x C y D 5;
4x C 2y D 11:
Sie sehen, dass dieses System keine Lösung hat, denn die erste Gleichung steht
wegen 4xC2y D 2.2xCy/ D 25 D 10 in krassem Widerspruch zur zweiten Glei-
chung. Kein Paar .x; y/ kann beide Gleichungen erfüllen. Geometrisch beschreiben
sie zwei parallele Geraden. Bei größeren Systemen können solche Widersprüche
versteckt und damit nicht wie hier sofort sichtbar sein.
Ein anderes Phänomen sind lineare Gleichungssysteme wie
2x C y D 5;
(7.15)
4x C 2y D 10;
bei denen zwar genauso viele Gleichungen wie Unbekannte aufgeschrieben sind,
bei denen die Gleichungen jedoch redundante Informationen enthalten. Solche
Gleichungssysteme sind unterbestimmt. Geometrisch beschreiben beide Gleichun-
gen dieselbe Gerade. Da sich also keine zwei Geraden schneiden, taugen die beiden
Gleichungen auch nicht zur Bestimmung einer eindeutigen Lösung. Die Lösungs-
menge ist die Gesamtheit aller Punkte auf dieser doppelt beschriebenen Geraden.
Wir können sagen, dass alle .x; y/ mit y D 5 2x das Gleichungssystem 7.15
erfüllen.
Diese Lösungsmenge formulieren wir etwas anders, wenn wir die Lösungen
.x; y/ als Komponenten eines noch variablen Vektors a auffassen. Er beschreibt
eine Gerade, die wir wie in Gl. 4.9 in Abschn. 4.4 in Abhängigkeit von einem Para-
meter notieren. In der einfachsten Form wählen wir x D . Dann ist y D 5 2,
und wir finden
! ! ! !
x 0 1
aD D D C mit 2 R:
y 5 2 5 2
Diese Gerade geht durch den Punkt .0; 5/ und von dort in Richtung .1; 2/. Der Zu-
satz 2 R weist uns darauf hin, dass sowohl positive als auch negative eingesetzt
werden dürfen und sollen. Mit der Richtung der Geraden sind also die Teilrichtung
194 7 Gleichungen
.1; 2/ für positive und in die genau entgegengesetzte Teilrichtung für negative
gemeint.
Dieselbe Gerade erhalten wir auch von anderen Punkten aus. Schauen wir bei-
spielsweise vom Punkt .2; 1/ in Richtung .2; 4/, so finden wir dieselbe Gerade.
So betrachtet ist
! !
2 2
aD C mit 2 R
1 4
In Abschn. 2.9 haben wir darüber philosophiert, dass die Beweise der eigentliche In-
halt jeder Beschäftigung mit Mathematik und damit auch der Mathematikvorlesun-
gen sind. Natürlich geht es in den Wissenschaften, die Mathematik anwenden, auch
um die eigentlichen Sachverhalte und Rechenmethoden, die in anderen Lehrveran-
staltungen und bei der späteren Arbeit verwendet und gebraucht werden. Grundlage
von allem ist jedoch die Beschäftigung mit den Fragen, warum die Sachverhalte und
Zusammenhänge gelten und warum die Rechenmethoden zum Ziel führen. Deshalb
besprechen wir hier einfache Beweise und vor allem die dahinterstehenden Beweis-
methoden, wobei wir nicht ohne etwas formale Logik auskommen.
Im Anschluss folgt ein kurzer Abschnitt zu Ungleichungen und zur Bestimmung
von Lösungsmengen, weil deren Behandlung eng mit den Beweismethoden ver-
wandt ist, und schließlich folgt der Zusammenhang zwischen der formalen Logik
und der Beschreibung von Mengen.
Manche sagen, Beweise seien immer kompliziert. Das stimmt nicht. Im alltägli-
chen und beruflichen Leben begründen wir oft Sachverhalte und versuchen, andere
zu überzeugen. Mathematische Beweise sind solche Begründungen innerhalb des
mathematischen Formalismus. Da wir alle logisch denken, besteht also ein mathe-
matischer Beweis darin, unsere logische Argumentation auf mathematische Sach-
verhalte anzuwenden und sie im mathematischen Formalismus aufzuschreiben.
p aCb
ab für alle a; b 0; (8.1)
2
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 195
D. Langemann, V. Sommer, So einfach ist Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55823-2_8
196 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
p
in der behauptet wird, dass das geometrische Mittel ab zweier nichtnegativer
Zahlen a und b nicht größer als ihr arithmetisches Mittel ist. Zur Namensgebung
der Mittelwerte vergleiche man den Höhensatz aus der Familie des Satzes von Py-
p
thagoras aus Abschn. 4.2 und dort besonders den Höhensatz mit h D pq oder die
geometrische Folge mit akC1 D qa Q k und die arithmetische Folge mit akC1 D ak Cd
jeweils für alle k.
Hier geraten wir in eine kleine Konfusion der typischen Bezeichnungen. Die
Variable qQ entspricht dem Faktor der geometrischen Folge, den wir in Abschn. 7.4
mit dem Verein, der Geld sammelt, kennengelernt haben und der üblicherweise q
heißt. Andererseits ist q auch ein Hypotenusenabschnitt. In Abb. 4.1 erkennen wir,
dass der Mittelwert der Hypthenusenabschnitte p und q der Radius des Umkreises
des rechtwinkligen Dreiecks ist und dass die Höhe h kleiner gleich dem Radius ist.
Mit a D p und b D q sehen wir, dass die Ungleichung 8.1 sicher gilt. Jetzt wollen
wir einen rein arithmetischen Beweis für diese Ungleichung entwickeln.
Wir probieren ein Beispiel aus, z. B. liefern a D 2 und b D 8 die gültige Un-
gleichung 4 5. Das ist ein Indiz dafür, dass die Ungleichung 8.1 gelten könnte,
denn sie ist damit zumindest nicht für alle Wahlen von a und b falsch. Aber selbst
wenn wir noch hundert Zahlenpaare ausprobieren, ist dies kein Nachweis, dass die
behauptete Ungleichung 8.1 für alle denkbaren Wahlen von a und b richtig ist. Wir
brauchen eine echte Begründung.
Hier folgt ein echter Beweis. Wir gehen von der zweifellos für alle a; b 0
wahren Aussage p
p
0 . a b/2 (8.2)
aus. Sie ist wahr, denn das Quadrat irgendeiner reellen Zahl ist nichtnegativ und nur
genau
p dann pnull, wenn die quadrierte Zahl selbst null ist. Unser Quadrat ist genau
für a b D 0, also für a D b, null.
Die Formulierung „genau dann“ steht für „dann und nur dann“. Also gilt x 2 D 0
genau dann, wenn x D 0 ist. Und damit ist gleichzeitig unterstrichen, dass alle
x ¤ 0 auch x 2 ¤ 0 und insbesondere x 2 > 0 implizieren (Abschn. 8.1.4).
Wenn wir den rechten Term in Ungleichung 8.2 ausmultiplizieren bzw. die bino-
mische Formel auf ihn anwenden, so entsteht
p p
0 a 2 ab C b oder 2 ab a C b;
woraus sofort die Behauptung 8.1 folgt. Unser Beweis ist gelungen. Wir haben aus
einer klar erkennbar wahren Aussage, hier aus Gl. 8.2, die Behauptung durch logi-
sche Schlussfolgerungen hergeleitet, die sich hier auf Termumformungen reduziert
haben. Unsere Behauptung ist somit für alle Zahlen a; b 0 wahr. Nebenbei haben
wir festgestellt, dass in der Ungleichung 8.1 die Gleichheit
p aCb
ab D genau für aDb
2
und niemals sonst gilt.
8.1 Einfache Beweise 197
Nun kann man berechtigterweise fragen, wie wir auf die wahre Aussage in
Gl. 8.2 gekommen sind, aus der so schnell und so wunderbar unsere Behauptung
folgte. In unserem Beweis fällt diese Aussage vom Himmel. Sie wirkt ein wenig
wie ein Taschenspielertrick. Mit diesem Beginn ist der Beweis logisch korrekt
und leicht nachvollziehbar, aber es bleibt unklar, wie jemand darauf kommt. Wenn
man selbst nach einem Beweis sucht, dann versucht man meist, die Behauptung
so umzuformen, dass eine wahre Aussage entsteht. In diesem Beispiel könnte man
die Beweisschritte in umgekehrter Reihenfolge durchlaufen und dann die Anwend-
barkeit der binomischen Formel entdeckt haben (Abschn. 2.8). Allerdings ist dies
logisch nicht korrekt, da man aus falschen Aussagen zufällig wahre Aussagen fol-
gern kann. Wenn z. B. 3 D 3 richtig wäre, dann wäre auch .3/2 D 32 richtig. Die
Schlussweise ist korrekt, denn die Quadrate gleicher Zahlen sind gleich. Nun sind
aber 3 und 3 nicht gleich. Wir sehen, dass die Korrektheit der Schlussweise allein
nicht auf die Wahrheit der implizierten Aussage schließen lässt. Wir dürfen aus der
Richtigkeit von 9 D .3/2 D 32 D 9 deshalb keinesfalls auf die Richtigkeit von
3 D 3 schließen. Noch klarer wird dies an alltäglichen Aussagen: Nehmen wir
an, dass Onkel Paule zur Zeitungslektüre so viel Kaffee trinkt, dass die Aussage,
Onkel Paule trinkt immer Kaffee, wenn er Zeitung liest, korrekt ist. Die Richtigkeit
dieser Aussage gibt uns keinerlei logischen Hinweis darauf, was Onkel Paule tut,
wenn er nicht in der Zeitung stöbert. Möglicherweise kann er Kaffee dann nicht
ausstehen.
Diese Überlegungen aus der Logik sind der Grund, warum mathematische Be-
weise konsequenterweise immer so aufgeschrieben werden, dass aus einer zwei-
fellos wahren Aussage durch logisch korrekte Schlüsse die gesuchte Behauptung
hergeleitet wird. Dies geschieht selbst zu dem Preis, dass die wahre Aussage vom
Himmel fällt. Typischerweise ist die wahre Aussage, von der der Beweis ausgeht,
zudem ein Ergebnis aus vorangegangenen Überlegungen.
Wir überlegen nun, wie man nach einem Beweis sucht. Wenn wir ihn gefunden
haben, müssen wir ihn wieder in der logisch korrekten Reihenfolge, also ausgehend
von einer wahren Aussage, aufschreiben. Zuerst finden wir einen Arbeitsbeweis. Im
Unterschied zu einem eleganten oder schönen Beweis, der die Behauptung durch
einen überraschenden Zugang oder Trick nachweist, ist ein Arbeitsbeweis eher das
Ergebnis technisch aufwendiger Termumformungen, also von Arbeit.
Nehmen wir uns die Ungleichung zwischen dem geometrischen und arithmeti-
schen Mittel für drei Größen a 0, b 0 und c 0 vor. Wir behaupten also
p
3 aCbCc
abc 8a; b; c 0: (8.3)
3
Der Versuch, in völliger Analogie zu den obigen Überlegungen eine dritte Potenz
zu bilden, führt nach dem Ausmultiplizieren auf so viele Terme, dass wir davor zu-
rückschrecken. Auch wünschen wir uns möglicherweise einen Beweis dafür, dass
die entsprechende Abschätzung für mehr als drei, gar für beliebig viele nichtnega-
tive Zahlen gilt. Ausmultiplizieren ist also nicht die erste Wahl.
198 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
Wir versuchen aber, die schon bewiesene Aussage 8.1 zu nutzen, um die Be-
hauptung 8.3 zu beweisen. Wir benennen dazu
p aCb
rD ab und s D mit r s:
2
Mit diesen Bezeichnungen ist
p
3
p
3
abc D r 2c
und
aCbCc 1 aCb 1
D 2 C c D .2s C c/;
3 3 2 3
und die Behauptung 8.3 wird in der Form
p
3 2s C c
r 2c 8r; s; c 0 mit r s (8.4)
3
der Aussage 8.1 ähnlich. Wenn wir nun
p
3 2r C c
r 2c
3
zeigen können, so gilt wegen r s auch die Ungleichung 8.4. Die letzte Unglei-
chung gerät nach Division durch c > 0 in die Form
r
3 r
2 2 rc C 1 r p3 1 2
2
bzw. mit x D zu x 2 C x:
c 3 c 3 3
Natürlich haben wir jetzt c D 0 verloren, aber für c D 0 gilt die Aussage 8.3
trivialerweise, da die linke Seite null wird und die rechte nichtnegativ ist. Die letzte
Aussage aber ist für alle x 0 richtig, weil g.x/ D 13 C 23 x die Tangente an die
p
konkave Funktion f .x/ D x 2 bei x0 D 1 ist (Gl. 5.14).
3
Verdeutlichen Sie sich dies an einer Skizze. Richtig interpretiert ist eine Skiz-
ze eine sehr gute Begründung. Die Skizze liefert an dieser Stelle ein rechenfernes
Argument. Wollten Sie die Aussage f .x/ g.x/ 8x 0 rein rechnerisch – also
ohne eine geometrische Anschauung – beweisen, so wäre dies technisch sehr viel
aufwendiger. Also skizzieren Sie bitte die Funktion f .x/ und die Tangente g.x/ in
einem Koordinatensystem.
Rechnerisch können Sie beispielsweise die dritte Potenz der Ungleichung
f .x/ g.x/ betrachten, sie lautet:
3
1 2 1 12 2 1 22 2 23 3
x2 C x D C 3 x C 3 x C 3x
3 3 33 32 3 3 32 3
1 2 4 2 8 3
D C xC x C x :
27 9 9 27
8.1 Einfache Beweise 199
Hier haben wir die binomischen Formel in Gl. 6.6 mit n D 3 angewendet. Versu-
chen Sie sich daran, die jetzt entstandene Ungleichung im Sinne des Beweises von
Ungleichung 8.1 rein analytisch zu beweisen.
Würden wir die Überlegungen als Beweis aufschreiben, so würden wir wieder
von der wahren Aussage ausgehen. Wir tun dies hier gleich für einen etwas allge-
meineren Fall. Nämlich gilt wegen desselben Arguments über die Tangente an der
Stelle x0 D 1 für alle x 0 und alle k 2 N, k 2 die Abschätzung
p
k 1 k1
x k1 C x:
k k
Mit der obigen Wahl x D r
c für alle r 0 und c > 0 erhalten wir die Abschätzung
s
k r k1 1 k1 r p
k .k 1/r C c
C bzw. r k1 c ; (8.5)
c k1 k k c k
wobei die hintere Abschätzung trivialerweisep auch für c D 0 gilt. Verwenden wir
hier k D 3 und das oben vereinbarte r D ab, so kommen wir mit r s sofort
zur Behauptung 8.3. Okay, sofort ist etwas übertrieben. Der Beweis wurde schon
deutlich länger.
Es gibt elegantere Beweise der Ungleichung, dass das geometrische Mittel nicht-
negativer Zahlen nie größer als ihr arithmetisches Mittel ist. Für zwei Zahlen haben
wir am Anfang dieses Abschnitts auf die Verbindung zum Höhensatz hingewiesen.
Damit konnten wir den Beweis in wenigen Zeilen führen. Das war recht elegant.
Elegant werden Beweise in der Mathematik z. B. genannt, wenn sie überraschend
kurz sind, unerwartete Verbindungen herstellen oder durch einen besonders ausge-
fallenen Trick zum Ziel führen. Elegante Beweise sind Kunstwerke.
Die Abschätzung 8.5 liefert uns noch mehr. Wir beweisen jetzt, dass diese Abschät-
zung für eine beliebige Anzahl von nichtnegativen Zahlen gilt. Wir behaupten also,
dass aus y1 ; : : : ; yn 0 die Abschätzung
p y1 C : : : C yn
n
y1 : : : yn
n
oder, falls es wissenschaftlicher aussehen soll,
! n1
Y
n
1X
n
yk yk (8.6)
n
kD1 kD1
folgt. Wir haben die Gültigkeit der Aussage 8.6 bereits für n D 2 in Gl. 8.1 und für
n D 3 in Gl. 8.3 nachgewiesen. Nehmen wir an, die Aussage 8.6 würde für n 1
200 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
! n1
1
Y
n1
p y1 C : : : C yn1 1 X
n1
rD yk D y1 : : : yn1
n1
D yk D s
n1 n1
kD1 kD1
wäre wahr, dann würde mit der Ungleichung 8.5 und mit r s auch
! n1
Y
n p .n 1/r C yn .n 1/s C yn 1X
n
yk D r yn
n n1 D yk
n n n
kD1 kD1
gelten, und die Aussage 8.6 wäre auch für n wahr. Bemerken Sie bitte, dass der
Konjunktiv hier in voller Absicht steht. Wir haben keine Aussage über die Gültig-
keit der Aussage 8.6 für n 1. Wir haben nur gezeigt, dass, falls diese Aussage
für n 1 wahr ist, die Gültigkeit der Aussage für das nachfolgende n folgt. Wir
haben also insgesamt nachgewiesen, dass die Aussage 8.6 für n D 2 gilt, nämlich
bereits in Abschn. 8.1.1, und zusätzlich haben wir gezeigt, dass aus ihrer Gültigkeit
für n 1 ihre Gültigkeit für n folgt.
Das dahinterstehende Beweisprinzip heißt vollständige Induktion und wurde
sehr gefürchtet, als es noch Schulstoff war. Stellen Sie sich eine Reihe numme-
rierter Dominosteine vor. Der Induktionsanfang besteht darin, dass der erste Stein
umfällt. Der Induktionsschluss oder Induktionsschritt besteht in dem Nachweis,
dass aus dem Fallen von Stein Nummer n 1 das Fallen des Steins Nummer n
folgt. Der Induktionsschluss schließt im Induktionsschritt aus der angenommenen
Gültigkeit der Induktionsvoraussetzung, d. h. daraus, dass Stein Nummer n 1
fällt, auf die Gültigkeit der Induktionsbehauptung, d. h. darauf, dass auch der Stein
Nummer n fällt. Beachten Sie bitte, dass der Induktionsschritt noch keine Aussage
über die Gültigkeit der Induktionsvoraussetzung macht. Wenn wir aber wissen, dass
der erste Stein fällt und dass jeder Stein seinen Nachfolger umwirft, dann fallen
alle um. Alles zusammen ist es ein Induktionsbeweis.
Testen Sie die Technik des Induktionsbeweises bitte an der Aussage
X
n
n.n C 1/.2n C 1/
k 2 D 12 C 22 C : : : C n2 D : (8.7)
6
kD1
Dazu weisen Sie im Induktionsanfang die Aussage für n D 1 nach und zeigen dann
im Induktionsschritt, dass aus der Annahme, Gl. 8.7 würde für n gelten, folgt, dass
sie auch für n C 1 gilt. Dazu addieren Sie auf beiden Seiten .n C 1/2 und formen
die Terme ein wenig um.
Der Induktionsbeweis als logische Schlussweise ist leicht einsehbar. Die notwen-
digen Termumformungen für den Induktionsschritt können anstrengend sein, aber
die technischen Schwierigkeiten sollten Sie gedanklich vom Beweisprinzip trennen.
8.1 Einfache Beweise 201
Ein anderes Beweisprinzip ist der indirekte Beweis. Betrachten wir die Behauptung,
dass jede eineindeutige Abbildung
für mindestens ein k 2 f1; : : : ; ng der Bedingung '.k/ k genügt. Eine eineindeu-
tige Abbildung ist eine Abbildung, bei der nicht nur jedem Urbild oder Argument
genau ein Bild zugeordnet wird, sondern wo umgekehrt zu jedem Bild auch ge-
nau ein Urbild gehört. Die Abbildung kann damit umgekehrt oder zurückverfolgt
werden. Mathematisch heißen solche Abbildungen bijektiv.
Verdeutlichen wir uns zunächst die Aussage. Die Abbildung ' ordnet jeder
natürlichen Zahl zwischen 1 und n eine natürliche Zahl zwischen 1 und n zu.
Die Eineindeutigkeit bzw. Bijektivität besagt, dass jedem Bild eindeutig sein Ur-
bild zurückzugeordnet werden kann, dass also jedes Bild nur ein Urbild hat. Da
Definitions- und Bildbereich gleich groß – oder mengentheoretisch formuliert,
gleichmächtig – sind, wissen wir, dass jede Zahl des Bildbereichs auch tatsächlich
einmal vorkommt.
Die Abbildung ' ordnet jeder Zahl zwischen 1 und n einen Listenplatz zwischen
1 und n zu. Wir können uns ' als Zuordnung von Sportlerinnen mit Startnummern
von 1 bis n auf ihren Platz im Wettstreit vorstellen. Unsere Behauptung lautet dann,
dass mindestens eine Sportlerin einen Platz belegt, der größer gleich ihrer Start-
nummer ist.
Für n D 2 gibt es nur die zwei Abbildungen '1 und '2 mit
Nun bildet '1 die Zahlen der Menge f1; 2g identisch ab, während '2 die beiden
Zahlen bei der Abbildung vertauscht. Für n D 2 gilt die obige Behauptung, denn es
gibt jeweils mindestens eine Zahl, die nicht auf eine kleinere abgebildet wird. Hier
sind dies '1 .1/ D 1 1 und '2 .1/ D 2 1. Für die erste Abbildung gilt auch
'1 .2/ D 2 2.
Für n D 3 gibt es sechs bijektive Abbildungen und für n D 4 schon 24 D 4Š,
denn jede solche Abbildung entspricht einer Anordnung der n Sportlerinnen in ihrer
Platzierungsreihenfolge, und es gibt nŠ Anordnungen (Abschn. 6.1). Die 24 Abbil-
dungen könnten Sie sicher noch mit Fleiß darauf testen, ob die Behauptung gilt.
Aber spätestens für größere n wird es langwierig. Und zudem wird die Aussage für
alle n behauptet, und davon gibt es unendlich viele.
Eine Möglichkeit, die Aussage zu beweisen, liefert der indirekte Beweis. Er be-
steht darin anzunehmen, die Behauptung sei falsch. Führt uns die Annahme, die
Behauptung sei falsch, in Widersprüche, dann sehen wir, dass die Annahme nicht
haltbar ist. Damit wird die Behauptung als wahr bewiesen.
202 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
Im konkreten Fall würden wir annehmen, es gäbe kein k mit '.k/ k. Dann
würden folglich alle k der Ungleichung '.k/ < k genügen, d. h. jede Zahl würde
auf eine kleinere Zahl abgebildet. Wenn dies so wäre, würde jede Zahl k n
auf ein Bild '.k/ < k n, kurz '.k/ < n, abgebildet. Man sieht, dass die
n Zahlen in f1; : : : ; ng alle auf Zahlen kleiner n also in die Menge f1; : : : ; n 1g
abgebildet würden. Damit hätte die größte Zahl n kein Urbild, und eine Zahl aus
f1; : : : ; n1g müsste Bild zweier unterschiedlicher Urbilder sein. Dies widerspricht
jedoch der Eineindeutigkeit der Abbildung ', und somit haben wir uns in Wider-
sprüche verwickelt. Die Annahme, es gäbe kein k mit '.k/ k, ist also falsch, und
die Aussage, dass es mindestens eines gibt, ist damit bewiesen.
Manche Dozenten bestehen darauf, dass die formale Logik die Grundlage aller
Mathematik sei und dass deshalb Lehrbücher mit ihr beginnen müssten. Auch in
diesem Buch haben wir schon mehrfach einen systematischen Aufbau angeprie-
sen, beispielsweise als wir im Abschn. 6.1 eine allgemeine binomische Formel
hergeleitet und festgestellt haben, dass wir uns besser vorher systematisch mit der
Kombinatorik beschäftigt hätten.
Wir besprechen die formale Logik erst hier. Trotzdem haben wir natürlich schon
vorher logisch argumentiert und sogar Schreibweisen der formalen Logik verwen-
det. Häufig werden die Symbole der formalen Logik als Abkürzungen verwendet,
um Aussagen und Folgerungen aufzuschreiben.
Die formale Logik formalisiert unser logisches Denken, das wir alle schon mit-
bringen. Dazu abstrahiert sie von den Aussagen selbst, worin sich ihre Stärke, aber
auch ihre spröde Erscheinungsform begründet. Wir erwähnen die formale Logik erst
hier, weil die Abstraktion von den Aussagen und ihrem Inhalt gerade am Anfang ab-
schrecken kann. Doch Sie haben sich sicher mittlerweile mit einigen Abstraktionen
angefreundet.
Betrachten Sie den Ausdruck
Es ist zugegebenermaßen recht schwierig zu erraten, was hier steht. Wir können die-
sen Ausdruck nur dann deuten, wenn wir die Notation lesen und übersetzen können.
Wir kommen also an dieser Stelle auf die Deutung von Zeichen und Bezeichnungen
zurück (Abschn. 3.7). Sogar ohne Deutung der Zeichen erkennen wir wieder einen
typischen mathematischen Vertauschungsversuch wie in Gl. 3.25. Der Versuch, den
Ausdruck : am Allquantor 8 vorbeizumogeln, mündet offenbar in dessen Um-
wandlung in den Existenzquantor 9.
Nun soll die Bedeutung der Zeichen und Bezeichnungen aber nicht länger ver-
schwiegen werden. Ein kleines Stück Abstraktion ist erstrebenswert, und die for-
male Logik ist kennenswert. Aber es ist nicht schlimm, wenn Sie diese Herange-
8.1 Einfache Beweise 203
hensweise noch nie zuvor gesehen haben. Versuchen Sie trotzdem zu folgen. Es ist
eine Übersetzungsübung.
Im Rahmen der formalen Logik bezeichnet A eine Aussage, und A D A.x/
hängt von einem Argument x aus einer Menge I ab. Die Menge I bezeichnen
wir als Indexmenge und stellen uns zunächst schlicht eine Menge von Indizes vor.
Aussagen, von deren inhaltlicher Bedeutung abstrahiert wird, können im Rahmen
der formalen Logik nur die Werte „wahr“ oder „falsch“ annehmen. Die noch nicht
spezifizierte Aussage A ordnet also jedem Argument x einen Wahrheitswert zu.
Man könnte eine formale Aussage A als Funktion
formulieren, und dies bedeutet schlicht, dass jedem Argument x ein Wahrheits-
wert zugeordnet wird. Der Allquantor 8 kann als „für alle“ gelesen werden, und
8x 2 I W A.x/ beschreibt die Allaussage: „Für alle Argumente x aus der Menge I
ist die Aussage A.x/ wahr.“ Sie ist natürlich nur dann wahr, wenn jede einzelne
Aussage A.x/ wahr ist. Der Existenzquantor 9 wiederum kann als „es gibt“ gelesen
werden, und 9x 2 I W A.x/ beschreibt die Existenzaussage: „Es gibt ein Argument
x aus der Menge I , für das die Aussage A.x/ wahr ist.“ Diese Existenzaussage ist
schon dann wahr, wenn nur eine einzige Aussage A.x/ wahr ist. Selbstverständlich
ist die Existenzaussage auch wahr, wenn die Aussage A.x/ für mehrere Argumente
wahr ist. Schließlich bezeichnet : die Negation oder Verneinung einer Aussage und
” die Äquivalenz zweier Aussagen, d. h. die Gleichheit der Wahrheitswerte für
alle möglichen Belegungen der einzelnen Aussagen mit Wahrheitswerten.
Auf der linken Seite von Gl. 8.8 steht also: „Nicht für alle x 2 I ist A.x/ wahr.“
Und auf der rechten Seite steht: „Es gibt ein x 2 I , für das A.x/ nicht wahr ist.“ Sie
brauchen hoffentlich keinen eigentlichen Beweis für die Äquivalenz dieser beiden
Aussagen, also für den Satz : „Die Aussage A.x/ ist genau dann nicht für alle x 2 I
wahr, wenn es ein x 2 I gibt, für das die Aussage A.x/ falsch ist.“ In dieser Form
wird Gl. 8.8 zu einer lapidar wuchtigen Trivialität. Genießen Sie: „Es passt genau
dann nicht zu jedem Topf ein Deckel, wenn es einen Topf gibt, zu dem kein Deckel
passt.“ Stimmt auffallend.
In analoger Weise gilt
Dies lesen wir als: „Es gibt genau dann kein x 2 I , für das die Aussage A.x/ wahr
ist, wenn sie für alle x 2 I falsch ist.“ Die beiden Sätze der formalen Logik in
Gl. 8.8 und Gl. 8.9 heißen Morgan’sche Regeln.
Wir haben die Morgan’schen Regeln schon verwendet, als wir im Abschn. 3.2
argumentiert haben, dass genau dann nicht alle Schauspielerinnen blond sind, wenn
es eine Schauspielerin gibt, die nicht blond ist. Hier haben wir diese intuitiv einsich-
tige Äquivalenz formalisiert und in Gl. 8.8 die logische Natur des Gegenbeispiels
abstrakt dargestellt.
204 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
Ebenso können wir das Beweisprinzip der vollständigen Induktion in der Spra-
che der formalen Logik notieren. Mit der logischen Äquivalenz
formulieren wir, dass die Aussage A.n/ genau dann für alle natürlichen n wahr ist,
wenn der Induktionsanfang A.0/ wahr ist und im Induktionsschritt aus der Aussage
A.n/ die Aussage A.n C 1/ für den nächstfolgenden Index n C 1 logisch folgt.
Der Index ist auch hier ein ganzzahliges Argument, von dem die Aussage abhängt.
Würden wir ihn als An und AnC1 notieren, so sähe er so wie in Abschn. 3.7 aus.
Inhaltlich ist ein Index also viel eher ein zählbares Argument, von dem eine Größe
abhängt, als eine tiefstehende Zusatzbezeichnung.
Das Zeichen ^ steht in Gl. 8.10 für die logische Und-Verknüpfung, die genau
dann wahr ist, wenn jede einzelne der verknüpften Aussagen wahr ist. Beachten
Sie bitte, dass die Klammer in Gl. 8.10 zwingend erforderlich ist, denn die Und-
Verknüpfung verknüpft den Induktionsanfang mit dem Induktionsschritt, der selbst
wiederum eine Implikation ist. Ohne die Klammer wäre nicht eindeutig, ob zuerst
die Und-Verknüpfung oder zuerst die Implikation erfolgen soll, und der Ausdruck
würde missverständlich (Abschn. 3.2).
Das Zeichen ^ der Und-Verknüpfung hat seine Gestalt aus seiner engen Ver-
wandtschaft mit dem Durchschnitt von Mengen, denn für zwei Mengen U
W
und V
W gilt
x 2U\V ” x 2U ^ x 2V
bzw. U \ V D fx 2 W W x 2 U ^ x 2 V g:
Das Zeichen ) in Gl. 8.10 steht für die Implikation. Die Formulierung B ) C
bedeutet, dass aus der Aussage B die Aussage C folgt. Wir haben den Wahrheits-
wert der Implikation schon in Abschn. 8.1.1 angerissen, als wir über Onkel Paules
Kaffeekonsum gesprochen haben. Dort hatten wir festgestellt, dass die Implikation
B ) C in gewissem Sinne sinnlos ist, wenn B nicht zutrifft. Wir definieren in die-
sem Fall die Implikation als wahr, und wir können sagen, dass aus etwas Falschem
alles folgt, also Wahres genauso wie Falsches. Die Implikation B ) C ist nur dann
falsch, wenn B wahr und gleichzeitig C falsch ist. Logisch formell notiert, lautet
die Definition der Implikation
: .B ) C / ” B ^ : C bzw. .B ) C / ” : .B ^ : C /:
Man sollte vorsichtig mit der Festlegung sein, dass die Implikation, also die Folge-
rung, aus einer falschen Prämisse immer wahr ist, denn dies heißt keineswegs, dass
die Konklusion, also die gefolgerte Aussage, wahr ist, sondern lediglich, dass der
logische Schluss, an dessen Ende die Aussage steht, formal richtig ist. Inhaltlich
kann ein solcher Schluss nicht richtig sein, weil er, wie schon erwähnt, in gewissem
Sinne sinnlos ist. Dennoch hat sich die Definition der Implikation als beständig und
zweckmäßig für Argumentationen innerhalb der formalen Logik erwiesen.
8.1 Einfache Beweise 205
An dieser Stelle wollen wir von einem rein formalen Standpunkt die beiden
Begriffe „notwendig“ und „hinreichend“ erklären. In der Schule haben Sie sich
möglicherweise mit notwendigen und hinreichenden Kriterien und Bedingungen
geplagt. Befreien Sie die Wörter von ihrer mathematischen Fesselung und wenden
Sie sie auf ein Alltagsbeispiel an. Beispielsweise kann eine Person nur im biolo-
gischen Sinne Mutter werden, wenn sie im biologischen Sinne eine Frau ist. Die
Aussage, dass die Person Frau ist, ist also eine notwendige Voraussetzung dafür,
dass die Person Mutter ist. Aber das Frausein allein reicht nicht für die Mutter-
schaft. Es ist nicht hinreichend, Frau zu sein, um Mutter zu sein. Dies erkennt man
formal logisch schon daran, dass es Frauen gibt, die keine Mütter sind, aber keine
Mütter, die keine Frauen sind – im biologischen Sinne. Wenn nun B die Aussage
bezeichnet, dass die Person Mutter ist, und C die Aussage, dass die Person Frau ist,
so gilt offenbar die Implikation
B ) C:
Die Aussage C ist notwendig für B, aber nicht hinreichend, wohingegen B hinrei-
chend für C , aber nicht notwendig ist.
Schließlich lautet der indirekte Beweis in der Sprache der formalen Logik
.A ) B/ ” .: B ) : A/:
Wir hatten das Prinzip des indirekten Beweises in Abschn. 8.1.3 an einem Bei-
spiel erläutert, bei dem die Voraussetzung A die Bijektivität der Abbildung
' W f1; : : : ; ng ! f1; : : : ; ng war und bei dem die Behauptung B in der Exis-
tenz eines k mit '.k/ k bestand. Dort haben wir aus der Annahme : B, also
der Annahme, es gebe kein solches k, auf den Widerspruch : A geschlossen,
d. h. wir haben gezeigt, dass unter der Annahme, die Behauptung gelte nicht, die
Voraussetzung ebenfalls nicht gilt.
Wir weisen jetzt nach, dass die lineare Funktion f .x/ D x C 1 nicht der Linea-
ritätsbedingung
f .x C y/ D f .x/ C f .y/ für alle ; ; x; y 2 R (8.11)
genügt, dass also die lineare Funktion f im Sinne der linearen Algebra keine li-
neare Abbildung ist. Diese Namensverwirrung erscheint vielleicht hinterhältig und
gemein, aber sie kommt leider im wahren wie im wissenschaftlichen Leben vor.
Die Mathematik ist im Vergleich mit den Verwirrungen der großen weiten Welt
jedoch ein schöner, gepflegter und geschützter Garten. Die Namensgebung hat his-
torische Gründe, und sie ist auch heute noch berechtigt. Beispielsweise rechnet
man mit Gl. 7.14 Temperaturangaben aus der Celsius-Skale in die Fahrenheit-Skale
um. Doppelt so viele Celsius-Grade ergeben nicht doppelt so viele Fahrenheit-
Grade. Von einer doppelten Temperatur zu sprechen, ist auch ziemlich sinnlos.
Aber doppelt so große Temperaturdifferenzen in der Celsius-Skale sind auch in der
Fahrenheit-Skale doppelt so groß. Aus dem Blickwinkel der Differenzen ist also der
Name einer linearen Funktion für Gl. 7.14 oder für f .x/ D x C 1 berechtigt.
Wir wollen nun nachweisen, dass f .x/ D xC1 die Linearitätsbedingung nicht er-
füllt, d. h. wir müssen zeigen, dass die Bedingung 8.11 nicht für alle ; ; x; y 2 R
gilt. Dazu reicht ein Gegenbeispiel. Denn wollten wir widerlegen, dass zu jedem
Topf ein Deckel passt, so reicht es, nur einen Topf zu finden, auf den kein Deckel
passt (Gl. 8.8). Die logische Beobachtung, dass wir eine Allaussage durch ein ein-
ziges Gegenbeispiel widerlegen, bleibt unabhängig davon gültig, wie schwer es ist,
einen Topf zu finden, auf den kein Deckel passt, und dies auch noch nachzuweisen.
Hier können wir mit D D 1 und x D y D 0 ein Gegenbeispiel konstruieren:
1 D 0 C 1 D f .1 0 C 1 0/ ¤ 1 f .0/ C 1 f .0/ D .0 C 1/ C .0 C 1/ D 2:
Es gibt noch viele andere Möglichkeiten. Dass wir hier „ein“ Gegenbeispiel kon-
struieren können, bedeutet, dass wir fähig sind, mindestens ein Gegenbeispiel zu
konstruieren. Im speziellen Fall unterstreichen wir diese Fähigkeit durch Angabe
eines besonders einfach gewählten Gegenbeispiels.
Die Funktion f .x/ D xC1 genügt offenbar nicht der Linearitätsbedingung 8.11.
Bemerken Sie bitte, dass die Linearitätsbedingung wieder die Reihenfolge der An-
wendung der Funktion f und die Bildung der sogenannten Linearkombination
x C y aus x und y vertauscht (Abschn. 3.7, Gl. 3.15). Die Vertauschbarkeit
von f mit der Bildung der Linearkombination ist so herausragend, dass wir in der
Mathematik dafür den Begriff Linearität eingeführt haben.
Mit einem Gegenbeispiel widerlegen wir zwar eine mögliche Vermutung, aber
beweisen eigentlich nichts, selbst wenn man in formaler Strenge die Widerlegung
einer Vermutung als Beweis ihrer Verneinung ansehen könnte.
Insgesamt kann man konstatieren, dass jedes Beweisprinzip zulässig ist, welches
eine logische Schlussweise darstellt, die auch außerhalb der Mathematik als lo-
8.1 Einfache Beweise 207
t1 v1 C t2 v2 s1 C s2
vN D D :
t1 C t2 t1 C t2
Wir lassen uns diese Mittelwertbildung auf der Zunge zergehen. Im Zähler steht
einerseits die insgesamt zurückgelegte Wegstrecke, andererseits ein Term, der be-
rücksichtigt, wie lange mit welcher Geschwindigkeit gefahren wurde. Ist t1 im
Vergleich zu t2 sehr klein, so ist der Einfluss von v1 sehr gering, und es gilt vN v2 .
Die Durchschnittsgeschwindigkeit ist in diesem Fall fast genau v2 , was unserer An-
schauung nahe kommt. Entsprechend bilden wir das gewichtete Mittel bezüglich
der Weglängen und behaupten wie oben, dass das Geschwindigkeitsmittel bezüg-
lich der Zeit kleiner ist als das bezüglich der Weglängen. In Formeln entsteht
t1 v1 C t2 v2 s1 v1 C s2 v2
; (8.12)
t1 C t2 s1 C s2
208 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
was nur gelten kann, wenn wir die Zusammenhänge s1 D v1 t1 und s2 D v2 t2 zwi-
schen unseren Größen berücksichtigen. Diese führen auf die schöne Ungleichung
t1 v1 C t2 v2 t1 v12 C t2 v22
t1 C t2 t1 v1 C t2 v2
Diese Ungleichung ist schön, weil sie eine gewisse Symmetrie der Terme aufweist
und so aussieht, als würde sie auf allgemeinere Zusammenhänge hindeuten, was
sie, wie wir weiter unten sehen werden, auch tut. Den Beweis der Ungleichung
und möglicher Verallgemeinerungen für mehr als zwei Wegabschnitte überlassen
wir in Analogie zur Abschätzung 8.1 Ihnen. Überlegungen heißen übrigens ana-
log, wenn sie mit denselben Schlüssen und nur mäßig abweichenden Termen oder
Zahlen durchgeführt werden. Viele Studierende wünschen sich eine Klausur, die in
diesem Sinne analog zu einer Probeklausur ist. Aber dann wäre es keine Klausur,
sondern eine Analogklausur, vgl. Analogkäse.
Nehmen wir weiter an, dass unser sportlicher Radfahrer nicht jeden Streckenab-
schnitt mit konstanter Geschwindigkeit fährt, sondern dass wir lediglich eine mono-
ton wachsende Abhängigkeit der zurückgelegten Strecke s D s.t/ von der Zeit un-
terstellen können. Dann können wir die Geschwindigkeit als Ableitung v.t/ D s 0 .t/
beschreiben. Die insgesamt zurückgelegte Strecke sei S, und die insgesamt benötig-
te Zeit sei T . Der Startpunkt unseres Experiments sei s D 0 zum Zeitpunkt t D 0.
Dann gilt
ZT
S D v.t/ dt:
0
ZT ZS
1 1
v.t/ dt v.s/ ds:
T S
0 0
Beachten Sie bitte die Verwandtschaft dieser Ungleichung mit der Ungleichung 8.12.
Stellen Sie sich vor, Sie würden die Ungleichung 8.12 für sehr, sehr viele und damit
sehr, sehr kleine Wegabschnitte aufschreiben. Werden es nun unendlich viele infi-
nitesimal kleine Wegabschnitte ds und ebenso unendlich viele infinitesimal kleine
Zeitabschnitte dt, so geht Gl. 8.12 in die Ungleichung für die Integrale über. Die
8.2 Ungleichungen 209
umformen. Denken Sie über diese Ungleichung nach. Doch um Sie vorzuwarnen,
sei ehrlicherweise gesagt, dass es schwierig sein wird, sie zu beweisen. Sie kommt
als Cauchy-Schwarz-Ungleichung in unterschiedlichen Vorlesungen vor und wird
dort von einem abstrakteren Standpunkt aus bewiesen. In solch einer abstrakteren
Umgebung wird der Beweis wieder einfach.
Im gesamten Buch haben wir bereits eine Vielzahl von kleinen Beweisen ge-
führt. Beweisen Sie zur Übung doch noch einmal die Sätze aus der Satzgruppe des
Pythagoras, ohne dorthin zurückzublättern.
8.2 Ungleichungen
Bei der Behandlung von Ungleichungen verwenden wir inhaltlich dieselben logi-
schen Schlüsse wie bei den Beweisen. Ungleichungen sind formalisierte Beweisauf-
gaben. Im vorangegangenen Abschnitt haben wir die Allgemeingültigkeit einiger
Ungleichungen bewiesen. Typischerweise geht es bei der Betrachtung von Un-
gleichungen jedoch um die Angabe einer Lösungsmenge, also die Suche nach der
Menge von Argumenten, für die die Ungleichung gilt.
Beginnen wir wie so oft einfach. Gesucht sind alle Zahlen x, die der Ungleichung
2x C 4 < 3x C 1 (8.13)
genügen. Durch Subtraktion von 2x C 1 auf jeder Seite entsteht die Ungleichung
3 < x bzw. x > 3, womit wir schon die Lösungsmenge angegeben haben, die wir
etwas formeller als
L D fx 2 R W x > 3g
Wir hätten die Lösungsmenge zur Ungleichung 8.13 auch gefunden, wenn wir
die Terme rechts und links vom Relationszeichen als zwei Geraden in Abhängigkeit
von x gedeutet hätten. Die Gerade auf der linken Seite hat den Anstieg 2 und die
Gerade auf der rechten Seite den Anstieg 3. Also steigt die Gerade auf der rechten
Seite steiler an. Rechts vom Schnittpunkt der Geraden ist die Ungleichung erfüllt.
Da der Schnittpunkt der Geraden, also die Stelle, bei der der rechte und der linke
Term denselben Wert 2 3 C 4 D 3 3 C 1 liefern (Abschn. 7.1), bei x0 D 3 liegt,
ist die Ungleichung 8.13 erfüllt, immer wenn x > x0 D 3 gilt.
Obwohl wir die Ungleichung gelöst haben, wollen wir noch einen Moment an
ihr verweilen, denn auch solch eine einfache Gleichung kann uns einige Tücken
aufzeigen. Stellen wir uns vor, wir hätten 3x C 4 auf beiden Seiten abgezogen. Die
dann entstehende Ungleichung
x < 3
muss nach dieser äquivalenten Umformung dieselbe Lösungsmenge haben wie die
ursprüngliche Ungleichung 8.13. Und tatsächlich legt unser Zahlengefühl uns nahe,
dass genau die Zahlen x > 3 erfüllen, die auch x < 3 erfüllen. Wenn wir aber
die letztgenannte Ungleichung umformen, so werden wir auf die Idee kommen, sie
mit 1 zu multiplizieren. Und dann kehrt sich das Vorzeichen um, die Größenrela-
tion tauscht sich, d. h. in Formeln:
Bei der Multiplikation mit einer negativen Zahl kehrt sich das Relationszeichen in
Ungleichungen um. Verdeutlichen Sie sich dies an diesem simplen Beispiel noch
einmal. Man kann für andere äquivalente Umformungen prüfen, ob sich das Relati-
onszeichen umkehrt oder nicht. Suchen Sie selbst nach den Gründen dafür.
Die Beobachtung, dass sich das Relationszeichen bei Multiplikation mit negativen
Faktoren umkehrt, wird sehr wichtig, wenn wir die schwierigere Ungleichung
2
<x1 (8.14)
x
untersuchen, denn wir würden beim Aufräumen gern mit x multiplizieren, obwohl
wir noch gar nicht wissen, ob x positiv oder negativ ist. Offenbar ist der linke Term
für x D 0 nicht auswertbar. Wir unterscheiden zwei Fälle, den ersten Fall mit x > 0,
bei dem die Multiplikation mit x das Relationszeichen < erhält, und den zweiten
Fall mit x < 0, bei dem die Multiplikation mit dem negativen x das Relations-
zeichen umkehrt.
Vorher wollen wir uns ein Bild von den Termen rechts und links des Relations-
zeichens in der Ungleichung 8.14 machen.
8.2 Ungleichungen 211
A
−2
−4
−6
−2 −1 0 1 2 x 3
In Abb. 8.1 sind neben dem Koordinatensystem die linke Seite y D y.x/ und
die rechte Seite z D z.x/ der Ungleichung 8.14 mit
2
y.x/ D und z.x/ D x 1
x
eingezeichnet. Dabei ist y.x/ als durchgezogene Linie und z.x/ als gestrichelte
Linie dargestellt. Die Kurve y.x/ ist eine Hyperbel, und z.x/ ist eine Gerade. Man
erkennt zwei Schnittpunkte der Kurven. Nennen wir den linken A und den rechten
B. In Abb. 8.1 erkennt man, dass y.x/ > z.x/ links von A gilt. Rechts von A gilt
für negative x, also links von der y-Achse, die umgekehrte Relation y.x/ < z.x/.
Hier ist also die Ungleichung 8.14 erfüllt. Entsprechendes gilt auf dem positiven
Teil der x-Achse rechts des Schnittpunkts B der Funktionen y.x/ und z.x/. Wenn
wir also die Schnittpunkte berechnen, so können wir die Lösungsmenge angeben.
Die Schnittpunkte sind durch die Lösungen der Gleichung
2
D x 1 bzw. 2 D x 2 x;
x
die xA D 1 und xB D 2 sind (Abschn. 7.2), bestimmt. Man kann nun die Lö-
sungsmenge der Ungleichung 8.14 durch Ablesen aus der Skizze mit
L D fx 2 R W 1 < x < 0 oder 2 < xg D .1; 0/ [ .2; 1/
angeben. Das „oder“ steht dafür, dass diejenigen reellen x in der Lösungsmenge
L sind, die eine der beiden Bedingungen erfüllen, also 1 < x < 0 oder 2 < x.
Kein x kann diese beiden einander ausschließenden Bedingungen erfüllen, das Wort
„und“ wäre an dieser Stelle also falsch. Bis hierhin haben wir also die Unglei-
chung 8.14, die wir auch als y.x/ < z.x/ schreiben können, graphisch gelöst.
212 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
Natürlich können wir mittels der schon angedachten Fallunterscheidung die Lö-
sungsmenge der Ungleichung auch rein analytisch bestimmen.
Fall 1 mit x > 0: In diesem Fall wird die Ungleichung 8.14 durch Multiplikation
mit x zu
Rechts steht eine nach oben geöffnete Parabel, die für alle x außerhalb der Null-
stellen größer als null ist. Diese Nullstellen haben wir bereits ausgerechnet, und die
umgeformte Ungleichung ist für x < 1 oder x > 2 erfüllt.
Nun müssen wir anfangen zu überlegen. Einerseits haben wir uns mit diesem
Fall auf x > 0 bzw. auf x 2 .0; 1/ eingeschränkt, denn nur für diese x war unsere
Umformung der Ungleichung gültig. Weitere Bedingungen wie die hier bestimmte
Lösung x 2 .1; 1/ [ .2; 1/ müssen innerhalb der durch den Fall festgelegten
Einschränkung gelten. Wir suchen also solche x, die sowohl der durch den Fall
gegebenen Einschränkung als auch der errechneten Bedingung genügen. Folglich
bilden wir den Durchschnitt dieser beiden Mengen und achten dabei wieder auf die
Klammersetzung. Wir erhalten
Rechts steht eine nach oben geöffnete Parabel, die für alle x zwischen den Null-
stellen kleiner als null ist. Diese Nullstellen haben wir schon ausgerechnet, und die
Ungleichung ist genau für 1 < x < 2 erfüllt. Ganz entsprechend entsteht die Lö-
sungsmenge im Fall 2 wieder als Durchschnitt der durch diesen Fall beschriebenen
Einschränkung und der berechneten Menge möglicher Lösungen:
Da nun entweder der Fall 1 oder der Fall 2 zutreffen, entstehen schließlich entweder
die Lösungen unter der Einschränkung des Falls 1 oder die Lösungen unter der
Einschränkung des Falls 2, sodass die Lösungsmenge L die Vereinigung beider
Teillösungen ist, also genau die Menge, die wir weiter oben durch eher anschauliche
Überlegungen gewonnen haben.
Insgesamt sehen wir, dass die Behandlung von Ungleichungen sehr viel mehr
mit Veranschaulichungen und logischen Überlegungen als mit Rechenvorschriften
zu tun hat. Nachdenken ist zumindest nie schädlich. Dies befolgend können Sie mit
den Mitteln der Schulmathematik sehr viele Ungleichungen diskutieren.
8.2 Ungleichungen 213
Wir stellen zwei weitere Ungleichungstypen kurz vor. Die erste Variante enthält den
gefürchteten Betrag, und wir wählen
2x C 4
j2x 4j : (8.15)
3
Auch hier empfiehlt sich eine Skizze, die aber diesmal wirklich Ihnen überlassen
bleibt. Die linke Seite ist eine verschobene und gestreckte Betragsfunktion, schlicht
gesprochen, ein nach oben geöffnetes Dreieck. Die rechte Seite ist eine Gerade, die
in diesem Fall das Dreieck schneidet. Aus der Skizze können wir schon ablesen, wo
ungefähr die Lösung liegen muss. Kennen wir die Schnittpunkte der rechten mit der
linken Seite, so ist die Lösungsmenge direkt ablesbar. Sie liegt nämlich zwischen
diesen Schnittpunkten. Wenn Sie bei Ihrer Skizze bleiben, sehen Sie auch, wie Sie
die stückweise definierte Betragsfunktion behandeln müssen – und zwar jeden Ast
des Dreiecks gesondert.
In einer Fallunterscheidung (Gl. 3.5) unterscheiden wir, ob der Betrag auf nega-
tive oder auf positive Werte angewandt wird, ob also der Ausdruck 2x 4 größer
oder kleiner null ist. Den Fall 2x 4 D 0 können wir hier nicht unterschlagen,
denn beide Seiten der Ungleichung sind auswertbar, und in der Tat gehört x D 2,
wie man aus einer Probe mit 0 D j0j 43 sieht, zur Lösungsmenge.
Fall 1 mit 2x 4 0 und damit x 2: Nun ist j2x 4j D 2x 4, und die
Ungleichung wird zu
2x C 4
2x 4 ;
3
womit Sie mit Überlegungen wie zur Ungleichung 8.13 am Anfang dieses Ab-
schnitts schnell zu x 4 kommen.
Fall 2 mit 2x 4 < 0 und damit x < 2: Hier ist j2x 4j D .2x 4/, und die
Ungleichung wird zu
2x C 4
4 2x ;
3
woraus Sie x 1 erhalten. Als Lösungsmenge entsteht nun die Vereinigung der
Lösungen in beiden Fällen, also
L D .Œ2; 1/ \ .1; 4/ [ ..1; 2/ \ Œ1; 1// D Œ2; 4 [ Œ1; 2/ D Œ1; 4:
Bemerken Sie bitte, dass das Relationszeichen in Ungleichung 8.15 dafür ge-
sorgt hat, dass die Werte, für die die Gleichheit in der Ungleichung erfüllt ist, zur
Lösungsmenge gehören. Diese Überlegungen werden Sie viel leichter nachvollzie-
hen können, wenn Sie sich eine Skizze der Funktionen auf der rechten und linken
Seite von Ungleichung 8.15 machen.
214 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
Der letzte Typ ist von denkbar einfacher Natur. Wir fragen uns, wann eine Ex-
ponentialfunktion kleiner als ein gegebener Wert a ist, der zwangsläufig größer als
null sein muss, da die Werte der Exponentialfunktion immer positiv sind. Nehmen
wir das Beispiel
2x < a: (8.16)
Um eine direkt ablesbare Bedingung für x zu erhalten, müssen wir das x wieder
befreien. Dies geschieht durch Anwendung des Logarithmus zur Basis 2 auf beiden
Seiten der Ungleichung. Dies ist eine äquivalente Umformung, da die Logarith-
musfunktion ihren Definitionsbereich .0; 1/ eineindeutig auf ihren Wertebereich
.1; 1/ abbildet. Was geschieht nun mit dem Relationszeichen? Bleibt es, wie es
ist, oder kehrt es sich um? Wir überlegen. Der Logarithmus wird mit wachsendem
Argument größer, die Logarithmusfunktion ist also monoton wachsend. Somit ist
der Logarithmus von 2x genau dann kleiner als der Logarithmus von a, wenn 2x
kleiner als a ist. Siehe da, unsere Lösung ist
Wenn wir so eine kühne Überlegung hinter uns haben, sollten wir diese Lösung
anstelle einer Probe, die wegen der unendlich vielen Elemente in der Lösungsmenge
auf die Wiederholung derselben Überlegung hinausliefe, noch einmal drehen und
wenden. Denken wir uns generisch das Beispiel a D 8. Dann ist für x D 3 die
Gleichheit von rechter und linker Seite in der Ungleichung 8.16 erfüllt. Da nun aber
die Exponentialfunktion f .x/ D 2x auf ganz R monoton in x wächst, liegen links
von 3 D log2 8 die Werte x, für die die gesuchte Ungleichung erfüllt ist.
x > 4; (8.17)
die für alle x, die größer als vier sind, erfüllt ist und für alle anderen nicht. Die
Lösungsmenge dieser trivialen Ungleichung können wir mit
L D fx 2 R W x > 4g (8.18)
8.3 Mehr Ungleichungen, Mengen und Logik 215
x > 4 ” A.x/:
Andererseits sind das Intervall I und die Lösungsmenge L beides Mengen, die zu-
dem dieselben Elemente enthalten, nämlich alle Zahlen größer als 4. Beide Mengen
sind gleich. Es gilt
I D L:
An dieser Stelle wird es vielleicht vor lauter Offensichtlichkeit langweilig, aber wir
können Aussagen und Mengen ineinander umformen. Wir erkennen dies schon in
der Lösungsmenge 8.18, in der wir die Menge dadurch definiert haben, dass wir alle
x ausgewählt haben, für die die Aussage x < 4 wahr ist. Ganz analog können wir
I D L D fx 2 R W x > 4g D fx 2 R W A.x/g
schreiben, wobei wir die letzte Formulierung als die Menge aller reellen x, für die
Aussage A.x/ wahr ist, lesen. In dieser Zeile haben wir die vier uns schon recht
ähnlich vorkommenden Formulierungen in den Gl. 8.17 bis 8.20 in einen Zusam-
menhang gebracht, indem wir die beschriebenen Mengen gleichsetzen. Genauso
können wir vier äquivalente Aussagen konstruieren, die
x 2 I ” x 2 L ” x > 4 ” A.x/
216 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
lauten. Das Wort „gleich“ und das Gleichheitszeichen D wären für Aussagen nicht
angebracht, denn die Aussagen können ungleich sein, obwohl sie dieselben Wahr-
heitswerte liefern, also äquivalent sind. Vom Standpunkt der formalen Logik aus,
bei der wir vom Inhalt der Aussagen abstrahieren, bleiben solche Unterschiede zwar
unbemerkt, aber wir wollen ja nicht nur formale Logik betreiben, sondern Probleme
aus der echten Welt lösen.
Nach dieser etwas pedantischen Begriffsklärung definieren wir uns noch zwei
andere Ungleichungen und die dazugehörigen Lösungsmengen, Intervalle und Aus-
sagen durch
x 7 ” x 2 J D .1; 7 ” x 2 M D fx 2 R W x 7g ” B.x/;
wobei die eckige Klammer im Intervall J D .1; 7 angibt, dass die 7 zum In-
tervall dazugehört und die Aussage B.x/ für alle x, die kleiner oder gleich 7 sind,
wahr ist. Schließlich definieren wir in ganz analoger Weise noch eine weitere Un-
gleichung, ein weiteres Intervall, eine weitere Lösungsmenge und eine weitere von
x abhängige Aussage durch
5 x 6 ” x 2 K D Œ5; 6
” x 2 N D fx 2 R W 5 x 6g ” C.x/:
Die Aussage C.x/ ist also genau dann wahr, wenn die reelle Zahl x nicht kleiner
als 5 und nicht größer als 6 ist.
Mit diesem Material beobachten wir nun eine Verbindung zwischen den Men-
genoperationen und den logischen Operationen. Beispielsweise gilt für alle reellen
Zahlen x, dass sie die Ungleichung x 7 oder die Ungleichung x > 4 erfüllen.
Mindestens eine von beiden Aussagen ist immer wahr. Mathematisch betrachtet
stört es dabei nicht, dass manche x beide Ungleichungen erfüllen. Deshalb wäre
die Aussage, dass jedes reelle x entweder x 7 oder x > 4 genügt, auch falsch.
Die Vereinigung der beiden Mengen L und M wird von allen Elementen gebildet,
die in der Menge L oder in der Menge M liegen. Wir notieren, dass
L [ M D fx 2 R W x 2 L _ x 2 Mg D fx 2 R W A.x/ _ B.x/g D R
gilt. Beachten Sie bitte, dass sich die Verwandtschaft der Vereinigung [ von Men-
gen und der Alternative _ von logischen Aussagen auch in den nach oben geöffne-
ten Symbolen [ und _ widerspiegelt.
Ganz ähnlich sieht dies für die Und-Verknüpfung und den Durchschnitt von
Mengen aus, der aus allen Elementen besteht, die in der einen und in der anderen
Menge liegen. Wir schreiben
und erhalten das halboffene Intervall .4; 7, das alle reellen x enthält, die die beid-
seitige Ungleichung 4 < x 7 erfüllen. Wieder sind beide Symbole nach unten
geöffnet.
8.3 Mehr Ungleichungen, Mengen und Logik 217
.N
L/ ” .x 2 N H) x 2 L/ ” .C.x/ H) A.x//:
An dieser Stelle wiederholen wir die gefürchteten und gar nicht so mathematischen
Wörter „notwendig“ und „hinreichend“. Wenn x 2 Œ5; 6 gilt, so reicht dies für die
Gültigkeit von x 2 .4; 1/. Für die Gültigkeit von x 2 .4; 1/ ist x 2 Œ5; 6 aber
nicht notwendig, denn x0 D 8 erfüllt x0 2 .4; 1/, aber nicht x0 2 Œ5; 6. Somit
ist C.x/ eine hinreichende, aber nicht notwendige Bedingung für A.x/, wohinge-
gen A.x/ für C.x/ notwendig, aber nicht hinreichend ist. Überprüfen Sie die letzte
Aussage bitte selbst.
Schließlich stellen wir noch fest, dass die Menge N sogar im Durchschnitt
von L und M enthalten ist, und nach dem bisher Gelesenen macht der mathematisch
aussehende Ausdruck
ŒN
.L \ M/ ” ŒC.x/ H) .A.x/ \ B.x//
beim Lesen keine Mühe mehr. Wir merken noch an, dass die Teilmengenbeziehung
zwei Mengen verknüpft und dass damit eine Aussage entsteht, die wahr oder falsch
sein kann. Die Teilmengenbeziehung ist aber nicht, wie die Vereinigung oder der
Durchschnitt, eine Mengenoperation, weil keine Menge als Ergebnis entsteht.
Um den mathematischen Formalismus zu üben, betrachten wir die Frage, welche
Menge sich wohl hinter
˚
verbirgt. Unsere Hauptaufgabe besteht wieder darin, die Notation in der Mengen-
definition zu deuten. Wir übersetzen sie in normale Sprache.
Die Menge Q enthält natürliche Zahlen, die nicht größer als 25 sind. Es kommen
für n also die Zahlen 0; 1; 2; : : : ; 25 infrage. Hinter dem Doppelpunkt steht nun aber
eine Bedingung an die Zahlen n. Wenn nämlich die Aussage erfüllt ist, dass eine
Zahl k die Zahl n teilt und gleichzeitig k eine der Zahlen 1; 2; 3; 4 oder 5 ist, dann
soll auch das Quadrat k 2 die Zahl n teilen. Etwas schlanker formuliert bedeutet
dies: Wenn eine Zahl k zwischen 1 und 5 die Zahl n teilt, so soll auch k 2 die Zahl n
teilen.
Wir testen also für die Zahlen k der Reihe nach, für welche n aus kjn tatsäch-
lich k 2 jn folgt. Beginnen wir mit k D 1. Die Bedingung lautet wegen 12 D 1 nun
1jn H) 1jn. Einerseits teilt 1 jede natürliche Zahl, andererseits verbindet die Im-
plikation die Aussage 1jn mit sich selbst, und eine solche tautologische Implikation
218 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
gilt immer. Eine Tautologie ist eine logische Aussage, die trivialerweise immer gilt.
Beispiele klingen so komisch wie die Aussage, dass für alle x 2 R gilt, dass x eine
reelle Zahl ist, oder dass der Barbier sich genau dann wäscht, wenn er sich wäscht.
Wir haben also aus 1jn H) 1jn keinerlei Einschränkung an mögliche Werte von
n erhalten.
Kommen wir nun zu k D 2 und damit zur Bedingung, dass 2jn die Teilbarkeit
von n durch 4 impliziert. Wenn also n durch 2 teilbar ist, dann soll es auch durch
4 teilbar sein. Diese Implikation gilt beispielsweise für n D 0, n D 4 und n D 8,
denn die Voraussetzung 2jn und die Folgerung 4jn sind jeweils beide wahr. Die
Implikation gilt auch für n D 1, denn die Aussage, dass 1 durch 4 teilbar ist, wenn
es durch 2 teilbar ist, klingt zwar komisch, weil 2 ja 1 gerade nicht teilt, ist aber
zumindest nicht falsch. Formal betrachten wir sie als wahr. Einzig die Zahlen, die
durch 2 teilbar sind, aber nicht durch 4, machen die Implikation zu einer falschen
Aussage. Wir erhalten also aus der Spezifikation k D 2 die Einschränkung, dass Q
keine Zahlen enthält, die bei Teilbarkeit durch 4 den Rest 2 lassen. Wir notieren
Derart suchen wir für die weiteren k alle diejenigen Zahlen n, die entweder gar
nicht durch k teilbar sind oder gleich durch k 2 . Diese Zahlen bilden jeweils die
Mengen Qk . Wir erhalten so
Dabei bezeichnet n wieder die Mengendifferenz und bedeutet, dass aus der Menge
der natürlichen Zahlen bis 25 die Zahlen der Menge f3; 6; 12; 15; 21; 24g herausge-
nommen sind. Weiter finden wir
sowie
Nun besteht aber die gesuchte Menge Q aus allen Zahlen n, die für jedes k die Im-
plikation erfüllen. Sie müssen also alle vier Implikationen 2jn ) 4jn, 3jn ) 9jn,
4jn ) 16jn und 5jn ) 25jn als wahr erfüllen. Die Implikation für k D 1 ist
tautologisch und schließt kein n aus. Da dann jede der Bedingungen – also die
Verknüpfung der vier Implikationen mit „und“ – erfüllt sein muss, ist die gesuchte
Menge der Durchschnitt Q D Q2 \ Q3 \ Q4 \ Q5 .
Sie erhalten dies auch sehr schön, wenn Sie die Zahlen von n D 0 bis n D 25 auf
ein Blatt schreiben und nach und nach alle Zahlen abstreichen, die die Implikationen
für ein k verletzten. Unsere Menge ist nun
und für ihre Elemente haben wir keine elegante allgemeine Beschreibung. Wie so
oft können wir uns fragen, was diese kleine Übung soll. Hier war es eine Übung
zum Lesen des etwas verschachtelten Formalismus in Gl. 8.21.
An dieser Stelle erwähnen wir noch, dass Intervalle, die ihre Ränder nicht ent-
halten, wie
.a; b/ D fx 2 R W a < x < bg mit a; b … .a; b/
offen heißen, und dass Intervalle, die ihre Ränder enthalten, wie
abgeschlossen heißen. Im letzten Ausdruck wird formuliert, dass die Menge fa; bg,
die nur die beiden Elemente a und b enthält, die den Rand des Intervalls Œa; b bil-
den, eine Teilmenge vom Intervall Œa; b ist, dass also a; b 2 Œa; b sind. Intervalle,
bei denen nur einer der Ränder dazugehört, heißen halboffen. Intervalle, die wie
I D .4; 1/ und J D .1; 7 nach mindestens einer Seite unbeschränkt sind, kön-
nen nie abgeschlossene Intervalle sein, da 1 keine reelle Zahl ist und somit auch
zu keinem Intervall gehört.
Eine gewisse Kuriosität besteht darin, dass die Vereinigung unendlich vieler ab-
geschlossener Intervalle offen sein kann. In dem Ausdruck
1
[
1 1 1 2 1 3 1 4
;1 D ; [ ; [ ; [ : : : D .0; 1/
k k 3 3 4 4 5 5
kD3
zeigt das große Symbol [ an, dass die danach folgenden Mengen für alle k mitein-
ander vereinigt werden. Diese rücken immer näher an 0 und 1 heran. Sie kommen
diesen beiden Zahlen sogar beliebig nahe, ohne dass eins der Intervalle für irgendein
k die Null oder die Eins enthält. Suchen Sie weitere solche Beispiele. Untersuchen
Sie den Durchschnitt abgeschlossener Intervalle, die Vereinigung offener Intervalle
und den Durchschnitt offener Intervalle jeweils für unendlich viele Intervalle. Bei
welchen Varianten können Überraschungen auftreten?
Zum Abschluss dieses Kapitels wenden wir uns noch einmal der Aufgabe 8.14
aus Abschn. 8.2.2 zu und notieren die dortige Fallunterscheidung in der jetzt be-
sprochenen Notation der formalen Logik. Wir suchten die Lösungsmenge
2
LD x2R W <x1 :
x
Da 0 … L ist, weil die in der Ungleichung formulierte Aussage für x D 0 gar nicht
auswertbar ist, können wir die Fallunterscheidung, ob x positiv oder negativ ist, als
2
L D x 2 R W .x < 0 _ x > 0/ ^ < x 1
x
schreiben, womit wir nichts weiter als die sicher wahre Aussage, dass x positiv oder
negativ ist, eingefügt haben. Bitte beachten Sie die Klammersetzung. Die Alterna-
tive _ hat Vorrang. Hier sei wieder ein Alltagsbeispiel angegeben: Denken Sie sich
220 8 Einfache Beweise und Ungleichungen
ein Angebot für zwei Gänge im Restaurant. Zum Hauptgang gibt es Fleisch oder
Fisch und danach einen Nachtisch. Niemand würde im Alltag auf die Idee kom-
men, dass man zwischen Fleisch ohne Nachtisch und Fisch mit Nachtisch wählen
müsste. In einem mathematischen Formalismus müssen wir solche Missverständ-
nisse jedoch ausschließen, selbst wenn sie nur theoretisch möglich sind. Dasselbe
Beispiel zeigt uns, dass die Alternative Fisch oder Fleisch und dann jeweils Nach-
tisch dasselbe ergibt wie die Auswahl zwischen Fleisch mit Nachtisch und Fisch
mit Nachtisch. Wir formen unsere Mengenbeschreibung also zu
2 2
LD x2R W x <0^ <x1 _ x >0^ <x1
x x
um. Jetzt haben wir die Fallunterscheidung so umgesetzt, dass wir die Ungleichun-
gen mit x multiplizieren können. Einmal ist x negativ, und das Relationszeichen
kehrt sich um, das andere Mal ist x positiv, und das Relationszeichen bleibt erhal-
ten. Es entsteht
˚
2 < x 2 x ” x 2 .1; 2/
und damit
schreiben, und wir brauchen im ersten Teil keine weitere Klammer für die Vereini-
gung der beiden offenen Intervalle, weil es keine andere sinnvolle Klammervariante
gibt. Schließlich schreiben wir diese Lösungsmenge als Mengenoperationen von In-
tervallen und erhalten
wobei wir jetzt an genau der Stelle eine Klammer brauchen, in der wir in der vorigen
Formel bewusst darauf verzichtet haben. Eine kleine Sortierung der mittlerweile
sehr unübersichtlichen Klammern und ein Ausrechnen der entstehenden Intervalle
zeigt die schon bekannte Lösungsmenge
deren Gültigkeit Abb. 8.1 illustriert. Natürlich ist diese Notation umständlich,
und genau genommen können wir sie auch erst ausformulieren, wenn wir ge-
merkt haben, dass unsere Fallunterscheidung bis zum Ende trägt. Sollten wir eine
kompliziertere Ungleichung haben, die möglicherweise noch eine weitere Fallun-
terscheidung verlangt, dann wird die Notation der immer genauer beschriebenen
Lösungsmenge vor lauter Klammern und unterschiedlichen Entscheidungsebenen
unübersichtlich.
Da Sie aber bis hierhin durchgehalten und selbst die letzten Umformungen mit-
gemacht haben, um den mathematischen Formalismus zu üben, schreckt Sie nichts
mehr, und Sie können in der Sprache der Mathematik formulierte Zusammenhän-
ge übersetzen, auseinandernehmen, wieder zusammensetzen und zurückübersetzen.
Mathematische Symbole sind für Sie kein Geheimnis.
Galileo Galilei schreibt man den Ausspruch zu, das Buch der Natur sei in der
Sprache der Mathematik geschrieben. Sie sind fit für den Umgang mit Mathematik.
Auf denn zu neuen Entdeckungen in der Mathematik, in der Natur, in der Gesell-
schaft und all den Wissenschaften, die sich damit beschäftigen.
Wie lese ich ein mathematisches Fachbuch?
9
Mathematische Fachbücher und viele Lehrbücher sind anders aufgebaut als das
Buch, das Sie in der Hand halten. Der Aufbau der echten Fachbücher ist scherz-
haft mit „Definition, Satz, Beweis und wieder Definition, Satz, Beweis“ recht gut
beschrieben. Gleiches sagt man auch einigen Mathematikvorlesungen nach.
Das hat einen guten Grund. Wie schon in Abschn. 2.6 angerissen, beschäftigt
sich die Mathematik mit Objekten unseres Denkens und kann innerhalb dieser rein
gedanklichen und damit rein logischen Umgebung unanfechtbar wahre Aussagen
formulieren. Sie kann auf die Einsicht von Menschen genauso verzichten wie auf
ein Verhältnis zur Realität, obwohl viele reale Vorgänge gut mit mathematischen
Methoden beschreibbar sind. Andersherum beeinflusst eine Veränderung der Wirk-
lichkeit die zeitunabhängige logische Korrektheit mathematischer Aussagen nicht.
Dem hohen Ross solcher Ansprüche an die Korrektheit müssen Fachbücher ge-
recht werden. Aussagen werden so knapp wie möglich und absolut genau formu-
liert, damit sie unangreifbar werden. Veranschaulichungen und Erklärungen ver-
wässern in gewissem Sinne die angestrebte Genauigkeit und kommen, etwas über-
trieben formuliert, nur im Notfall zum Einsatz, obwohl sie für das individuelle
Verständnis der Sachverhalte und Zusammenhänge unverzichtbar sind.
Lehrbücher federn die Strenge mathematischer Fachbücher etwas ab. Aber auch
sie können nicht auf die volle Genauigkeit und damit auf den Formalismus, den
systematischen Aufbau und die Angabe aller Voraussetzungen verzichten. Sie be-
schreiben die Sachverhalte, illustrieren sie mit Skizzen und suchen verständliche
Bilder. Je nachdem, mit welchem Verständnis die Leserin oder der Leser startet,
erscheint das Lehrbuch zu banal oder zu abstrakt und unverständlich. Nur selten ist
es genau richtig. Deshalb ist es wichtig, sich aus den unzähligen Schul-, Lehr- und
Einführungsbüchern sorgfältig diejenigen auszusuchen, die Sie persönlich anspre-
chend finden und die an Ihren Kenntnisstand anknüpfen.
Wir wollen versuchen, an einem kurzen Abschnitt eines hypothetischen Fach-
buchs zu erklären, wie man ein solches Buch liest und Nutzen daraus zieht. Sie
erinnern sich sicher, wie wir mit vielen Worten in Abschn. 5.7 die Ableitung aus
der Umkehrung der Integralfunktion hergeleitet haben.
Definition 9.1
Eine Funktion f W .a; b/ ! R heißt differenzierbar an der Stelle x0 2 .a; b/,
wenn der Grenzwert
Beispiel 9.1
.x0 C h/2 x02 2x0 h C h2
Für f .x/ D x 2 gilt f 0 .x0 / D lim D lim D 2x0 :
h!0 h h!0 h
Beispiel 9.2 (
1; falls x 2 Q;
Gegeben sei f .x/ D x 2 D.x/ mit der Dirichlet-Funktion D.x/ D
0; falls x … Q:
Es folgt
f .h/ f .0/
f 0 .0/ D lim D lim hD.h/ D 0:
h!0 h h!0
Satz 9.1
Wenn die Funktionen f; g W .a; b/ ! R an der Stelle x0 2 .a; b/ differenzierbar
sind, so gilt
.fg/0 .x0 / D f 0 .x0 /g.x0 / C f .x0 /g 0 .x0 /: (9.1)
Beweis 9.1 Nach Def. 9.1 muss die Existenz des Grenzwerts
gezeigt werden. Wenn er existiert, gilt wegen 0 D f .x0 /g.x/ C f .x0 /g.x/ die
Gleichheit
und damit
Nach Voraussetzung existieren die Grenzwerte in Gl. 9.2. Damit existiert die Ablei-
tung von fg an der Stelle x0 , und die Produktregel 9.1 gilt.
Die Funktion f .x/ D x 2 D.x/ zappelt somit beliebig schnell zwischen 0 und x 2 .
Sie ist also nicht differenzierbar, sobald 0 ¤ x 2 gilt. Beispiel 9.2 rechnet nun vor,
dass f an der einzigen noch infrage kommenden Stelle x0 D 0 doch differenzierbar
ist. Es zeigt damit, dass es Funktionen gibt, die an genau einem Punkt differenzier-
bar sind und nur in diesem einen Punkt eine Ableitung haben. Die Vorstellung der
Ableitung als Anstieg der Tangenten trägt nicht mehr, wenn die Funktion wie in
Beispiel 9.2 überall außerhalb x0 D 0 wüst zappelt. Es zeigt uns also, dass die
Differenzierbarkeit einer Funktion ein Begriff ist, der zunächst an der einen Stelle
x0 bestimmt ist und der einer ganzen Funktion nur nach weiteren Überlegungen
zugeordnet werden kann.
Nach einigen anderen Betrachtungen in Beispielen, Hilfssätzen und Skizzen
würde Satz 9.1 folgen, in dem die Produktregel mit den zuvor definierten und nach-
gewiesenen Eigenschaften bewiesen wird. Hier z. B. müsste vorher geklärt sein,
dass unter den Voraussetzungen des Satzes lim g.x/ D g.x0 / gilt und dass die Pro-
x!x0
duktbildung und der Grenzwert im ersten Summanden in diesem Fall vertauschbar
sind. Solche Eigenschaften würden in vorigen Betrachtungen stehen, ohne dass fort-
während deklamiert würde, wozu und an welcher Stelle man diese Eigenschaften
braucht. Manchmal fällt es deshalb schwer, darauf zu vertrauen, dass die Aussa-
gen, die in einem Fachbuch angesammelt werden, später verwendet und gebraucht
werden.
Veranschaulichungen wie in Abschn. 5.8, wo wir die Produktregel aus der Flä-
chenänderung eines Rechtecks motiviert haben, sind ausgesprochen hilfreich, aber
sie sind eben kein mathematischer Beweis. Die Anschauung kann uns gerade in
schwierigen Fällen in die Irre führen, aber mathematische Aussagen in Sätzen müs-
sen wasserdicht und unangreifbar sein.
Wir sehen an unserer Analyse, dass wir mathematische Fach- und in etwas abge-
schwächter Weise auch Lehrbücher sehr langsam und gründlich lesen müssen. Vor
allem präzise Überlegungen zu den Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen
Begriffe eingeführt und Zusammenhänge bewiesen werden, sind für das Verständ-
nis notwendig. Eigene Skizzen und Veranschaulichungen helfen während des Le-
sens. Ein rein formaler Zugang ist nicht erstrebenswert, auch wenn die Genauigkeit
viele mathematische Darstellungen auf den Formalismus reduziert. Andererseits ist
ein rein anschaulicher Zugang trügerisch.
In einem mathematischen Fachbuch kommen wie in allen Fachbüchern Begriffe
und Notationen vor, die zuvor eingeführt worden sind. Trifft man also auf ein Wort,
das man nicht oder nicht in aller Tiefe kennt, so schaut man zuerst im Buch selbst,
ob es dort definiert und erklärt ist. Ist man auf ein Wort gestoßen, das vom Buch
vorausgesetzt und nicht erklärt wird, so scheue man sich nicht, andere Lehrbücher,
mathematische Lexika oder das Internet zu befragen. Dabei erweist es sich als über-
zeugender Vorteil, dass mathematische Begriffe überall gleich definiert sind und nur
manchmal leicht abweichende Schreibweisen verwendet werden. Sie können also
nachschauen, wo Sie wollen, aber Sie sollten nachschauen. Denn andernfalls ergeht
es Ihnen wie Seiner Exzellenz, dem Kavalleriedivisionär, am Anfang von Kap. 5.
Rezepte, Taschenrechner und Halbwissen
10
Dozentinnen und Dozenten hören oft, dass Studierende der Wissenschaften, die Ma-
thematik anwenden, in einer Mathematikvorlesung nur das hören wollen, was man
wirklich „braucht“. Außerdem wünschen sich viele Studierende zu jeder Übungs-
aufgabe eine Musterlösung oder wenigstens ein Endergebnis. Ganz wichtig ist vie-
len eine Probeklausur, die möglichst aus Aufgaben besteht, die mit leicht veränder-
ten Zahlen und unveränderter Aufgabenstellung auch in der eigentlichen Klausur
vorkommen. Natürlich soll es zur Probeklausur Musterlösungen geben, denn das
seien „ja die Aufgaben, die man wirklich braucht“.
Hat schon einmal jemand jemanden gesehen, der in seiner Berufsausübung eine
Klausuraufgabe gelöst hat? Nein. Dennoch scheinen einige Studierende zu glau-
ben, man würde Rechenrezepte „wirklich brauchen“. Rechenrezepte sind Krücken,
die man nur braucht, wenn man ohne Gehhilfen nicht gehen kann. Kein Mensch
braucht Rechenrezepte. Das meiste, was man mit Rechenrezepten ausrechnen kann,
rechnen in der heutigen Zeit Computerprogramme aus. Im Beruf brauchen Sie Zu-
sammenhänge, Begriffe und logische Verknüpfungen zwischen ihnen sowie einen
Überblick über unterschiedliche Methoden zur Lösung von Problemen, von denen
viele mathematisch formuliert sein werden. Oft macht erst die mathematische For-
mulierung die Problemstellung klar. Sie brauchen im Beruf also die mathematische
Notation und den mathematischen Formalismus.
In den Klausuren im Studium werden trotzdem Aufgaben, die Rechnungen ent-
halten, gestellt. Meistens verlangen diese Aufgaben jedoch weniger nach der Ab-
arbeitung von Rechenrezepten als nach dem Verständnis, aus dem sich die Re-
chenwege ergeben und mit dem die Ergebnisse interpretiert werden können. Oft
vereinfachen sich Rechnungen erheblich, wenn man sie mit einem inneren Ver-
ständnis der zugrunde liegenden Sachverhalte durchführt.
Der Taschenrechner rechnet eigentlich nur Rechenrezepte nach. Die Bedienung
des Taschenrechners ist von den Konstrukteuren so gestaltet worden, dass mög-
lichst viele Menschen ihn benutzen können, ohne lange nachzudenken. Natürlich
werden Sie bei der Lösung echter Problemstellungen alle Teilaufgaben, die Sie aus-
lagern und vereinfachen können, auch auslagern und vereinfachen, z. B. an den Ta-
schenrechner oder geeignete Computerprogramme, wie beispielsweise Matlab für
© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018 227
D. Langemann, V. Sommer, So einfach ist Mathematik,
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55823-2_10
228 10 Rezepte, Taschenrechner und Halbwissen
Sie haben sich bis hierhin durch die mathematischen Grundlagen gearbeitet, unsere
Tipps und Hinweise gelesen und das Basiswissen für ein mathematikhaltiges Stu-
dium erworben. Dazu unseren Glückwunsch. Sie können zuversichtlich in Ihr ge-
wähltes Studium gehen. Bewahren Sie sich bitte die Übersetzung von schwierigen
mathematischen Zusammenhängen in einfache und bekannte Sachverhalte durch
das Entschlüsseln der mathematischen Begriffe und Notationen, und vertrauen Sie
darauf, dass Ihr Nachdenken, Ihr logisches Empfinden und Ihre Veranschaulichun-
gen Sie auch bei Aufregung und Nervosität sicher durch eventuell auftauchende
Schwierigkeiten leiten.
Zum Abschluss stellen wir Ihnen ein paar Gedankensplitter zu Prüfungen und
Klausuren vor, denn im Studium ist es unumgänglich, dass Sie Ihr Wissen und Ihr
mathematisches Verständnis in Prüfungen und Klausuren unter Beweis stellen, die
oft mit Aufregung und Nervosität verbunden sind.
Oft rechtfertigen Studierende ihre schlechten Ergebnisse in Klausuren oder bei
Übungsaufgaben damit, dass sie zahlenblind seien oder dass sie an Dyskalkulie
oder Prüfungsangst litten. Es klingt beruhigend, dass man – obwohl ein unheimlich
cooler und intelligenter Student oder eine sehr fleißige und begabte Studentin – von
einer äußeren Krankheit befallen ist, für die man rein gar nichts kann. Unter dieser
Annahme ist es möglich, frank und frei von schlechten Klausurergebnissen zu be-
richten und trotzdem die Anerkennung als guter Studierender für sich in Anspruch
zu nehmen.
Betrachten wir die Begriffe etwas genauer. Bei der Dyskalkulie handelt es sich
um eine Erkrankung, die in der internationalen WHO-Klassifikation der Krankhei-
ten und verwandter Gesundheitsprobleme, ICD-10, unter R48.0 und unter F81.2
als Entwicklungsstörung geführt wird. Sie ist verwandt mit der Lese-Rechtschreib-
Schwäche. Obwohl es keine belastbaren Studien zu ihrer Häufigkeit gibt und unter-
schiedliche Quellen zwischen 1 und 33 % der Bevölkerung mit Dyskalkulie befallen
sehen, scheinen 5 % eine in breiteren Kreisen akzeptierte Quote für eine nachweis-
bare und meist eher milde Form der Dyskalkulie zu sein.
Prüfungen und Klausuren ist völlig normal, echte Angst ist es nicht. Die Prüfungs-
angst ist auch kein äußerer Alp, der Sie befallen hat und der vielleicht beim nächsten
Mal nicht kommen wird. Er kommt recht sicher wieder und wird immer schlimmer,
solange Sie die Prüfungsangst nicht als beherrschbaren Teil Ihrer selbst annehmen.
Wenn man Prüfungsangst mit der Höhenangst vergleicht, was psychologisch
nicht ganz korrekt ist, weil die Höhenangst eine Urangst des Menschen ist, die
nicht vollständig therapiert werden kann, so wissen Sie vielleicht, dass es nur sehr
wenige Menschen gibt, deren Höhenangst so ausgeprägt ist, dass sie nicht auf einen
Berg steigen können. Von Höhenangst geplagte Menschen steigen nicht gern auf
Berge. Sie vermeiden das, wenn es nicht nötig ist. Wenn dies aber dennoch als Auf-
gabe anstehen sollte, so können die meisten ihre Angst so weit beherrschen, dass sie
mit etwas Unterstützung und mit Konzentration auf sich selbst einfache Bergpfade
begehen können. Wichtige Pfeiler dabei sind, dass sie sich auf das Herannahen der
Höhenangst einstellen und dass sie sich ernsthaft mit Strategien beschäftigen, wie
sie trotz herannahender Angst sicher auf dem Bergpfad gehen. Natürlich wird das
Bergwandern für sie dadurch nicht schön.
Ähnlich ist es mit der Prüfungsangst. Wenn Sie sich auf Ihr Auftauchen einstel-
len und sich gedanklich mit Gegenstrategien beschäftigen, werden Sie Klausuren
und Prüfungen immer noch nicht schön finden, aber die meisten von Ihnen werden
die Nerven behalten und das vorhandene Wissen auch abrufen können. Kaum ein
Prüfer und kaum eine Prüferin wird Ihnen in einer mündlichen Prüfung eine kurze
Sammlungspause übelnehmen, wenn Sie diese unter dem Verweis auf Prüfungs-
angst erfragen.
Wir wollen noch einen anderen, wenn auch etwas gefährlichen, Diskussions-
beitrag zur Prüfungsangst liefern. Unter allen Studierenden gibt es einige wenige,
die an einer ausgeprägten Sozialphobie leiden. Fast sicher leiden diese Studieren-
den auch unter Prüfungsangst, egal wie gut sie das Themengebiet der Prüfung und
andere Studieninhalte beherrschen. Einige von ihnen haben außergewöhnlich viel
gearbeitet und vieles intensiv durchdacht. Sie reden sehr reflektiert über die Inhalte
ihres Studiums, solange sie nicht in einer Prüfung sind.
Hingegen können einige andere Opfer der Prüfungsangst auch außerhalb einer
Prüfung nur sehr spärlich über ihre Studieninhalte sprechen. Möglicherweise haben
sie ein etwas unsortiertes und halbdurchdachtes Lernwissen angehäuft, was sich in
der Prüfungssituation plötzlich als sehr brüchig herausstellt und gar nicht mehr ab-
gerufen werden kann. Studierende ohne ausgeprägte Sozialphobie, die das gefragte
Themengebiet sicher beherrschen, werden nur selten von Prüfungsangst geplagt.
Dies macht es schwer, Prüfungsangst als eigene Krankheit zu diagnostizieren, zu
analysieren und zu verstehen.
Wir wagen eine Fallunterscheidung.
Fall 1: Sie wissen wirklich alles, können alles erklären, und eine dunkle fremde
Kraft hindert Sie am Reden, am Hören, am Denken, einfach an allem.
) Es kann Prüfungsangst sein. Suchen Sie sich professionelle Hilfe und nehmen
Sie sie an.
Fall 2: Sie erreichen regelmäßig mittlere Noten. Sie meinen, dass Sie besser sein
könnten, wenn Sie nur nicht so nervös wären.
232 11 Zahlenblindheit, Dyskalkulie und Prüfungsangst
) Sie können in der Tat besser sein. Bereiten Sie sich auf das Herannahen der
Nervosität vor, damit diese weniger schlimm ausfällt. Klären Sie für sich, dass
Ihnen in der eigentlichen Prüfung nichts Schlimmes geschieht und Aufgeregtheit
nichts nützt. Machen Sie eventuell ein Training gegen Prüfungsangst, auch wenn
Sie keine echte Prüfungsangst haben.
Fall 3: Sie könnten, wenn’s diesmal gut läuft, knapp bestehen.
) Angst ist in diesem Fall recht normal. Sie können durch eine intensive Be-
schäftigung mit dem Themengebiet der Angst entgegenwirken. Sachverhalte und
Begriffe sind dann wirklich verstanden, wenn Sie sie auch unter extremen äußeren
Bedingungen erklären können. Wenn Ihnen Sachverhalte und Begriffe ganz na-
türlich erscheinen, geben Sie sie wahrscheinlich auch unter Fieber und im Stress
weitgehend richtig wieder. Speziell in der Mathematik entsteht diese Sicherheit
durch das Durchdenken der grundsätzlichen Sachverhalte und das Verbinden von
mathematischen Lehrinhalten mit Anschauungen und Bildern.
Sollten Sie trotz aller Bemühungen durch eine Prüfung gefallen sein, so ist dies
nicht das Ende der Welt. Es ist der Ansporn, vor einem zweiten Versuch nach Feh-
lern bei sich selbst und in den eigenen Lernstrategien zu suchen. Lassen Sie sich
auf die Empfehlungen der Dozentinnen und Dozenten ein. Wenn Sie beim ersten
Versuch – wie viele Studierende mit Ihnen und vor Ihnen – im wesentlichen die
Lösungswege von Aufgaben nachvollzogen haben und sich gut vorbereitet fühl-
ten, weil Sie alle Aufgabentypen zu „können“ glaubten und trotzdem durchgefallen
sind, so ist dies der Moment, nach den Inhalten und inneren Zusammenhängen in
der Mathematik zu suchen und sich diese zu verdeutlichen. Denken Sie daran, dass
mathematische Sachverhalte dann verstanden sind, wenn man sie, ausgehend von
einem weißen Blatt Papier, fast jedem anderen erklären kann.
Natürlich kann es sein, dass man wegen allerlei äußerer Gründe auch ein zweites
Mal durch eine Mathematikprüfung fällt. Dies sollte jedoch ein ernsthaftes Warnsi-
gnal sein. Die Selbstbestärkung, man hätte aber alle Aufgaben gekonnt, wirkt dann
schon etwas unglaubwürdig. Man befindet sich nun in der angespannten Situation
des letzten Versuchs. Man ist strengstens aufgefordert, alle inneren Teufel, die laut
rufen, Mathematik sei langweilig und unbrauchbar, über Bord zu werfen. Man soll-
te endlich die Einflüsterungen mancher älterer Kommilitonen verwerfen, dass man
nicht zu den Vorlesungen gehen müsse, dass die Vorlesungsinhalte zu theoretisch
seien und dass es reiche, ein paar alte Klausuraufgaben zu büffeln.
Und wenn man tatsächlich endgültig nicht bestanden hat, sollte man dies als
Hinweis nehmen, dass das angestrebte Studium mit seinem Mathematikanteil nicht
das richtige war. Denn mit seinem Beruf, mit dem man ein Leben lang auskom-
men muss, sollte man glücklich sein, was eng an einen gewissen Erfolg geknüpft
ist. Wer aber braucht schlechte Ingenieure, gerade noch bestandene Chemikerinnen
oder mühsam durchs Studium gebrachte Volkswirte?
Eine Einzelhandelskauffrau freut sich gewiss über eine Abteilungsleiterstelle in
der Gartenabteilung des örtlichen Baumarkts. Eine Betriebswirtin mit lauter Vieren
im Abschlusszeugnis kann wenigstens noch ihre Stellvertreterin werden. Aber ist es
das, wofür sie studiert hat? Es gibt zahlreiche anspruchsvolle Ausbildungsberufe,
in denen Menschen, die sich mit der Theorie in einem Studium nicht anfreunden
11 Zahlenblindheit, Dyskalkulie und Prüfungsangst 233
konnten, sehr erfolgreiche und durch lebenslanges Lernen für ihren Betrieb uner-
setzbare Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden. Fragen Sie die Studienberatung,
gehen Sie zu Berufsberatungsstellen. Sie brauchen keinen schlechten Studienab-
schluss. Sie brauchen ein gutes Studium oder eine gute Ausbildung, um im Beruf
glücklich und erfolgreich zu sein.
Es gibt an fast allen Universitäten und Hochschulen die Regelung, dass niemand
ohne ein persönliches Prüfungsgespräch nach drei nicht bestandenen schriftlichen
Klausuren zu derselben Lehrveranstaltung exmatrikuliert wird. Studierende, die
dreimal durch eine schriftliche Mathematikklausur gefallen sind, erhalten also nach
der letzten schriftlichen Chance noch eine allerletzte Gelegenheit, in einem mündli-
chen Prüfungsgespräch zu zeigen, dass sie über die notwendigen Grundkenntnisse
verfügen, um weiterstudieren zu können.
In den Vorgesprächen zu solchen Prüfungen hört man, dass die Studierenden
nun schon wirklich alles versucht hätten, dass sie tage- und wochenlang Aufgaben
gerechnet hätten und dass sie wirklich alles gemacht hätten, was sie aus der Schu-
le kennen. Nie hätte es gereicht, und die Klausuren seien unmenschlich schwer.
Dozentinnen und Dozenten kennen diese Meinungen und wissen dennoch, dass
mittlerweile gut 99 % der Kommilitoninnen und Kommilitonen dieser Studieren-
den eine der drei Klausuren bestehen. Ganz selten wird die Frage gestellt, wie man
denn lernen solle. Dozentinnen und Dozenten erklären es trotzdem und ernten Er-
staunen, wenn sie vorschlagen, dass die Studierenden über Mathematik reden, dass
sie kleine Erzählungen zu den einzelnen Sachverhalten und Themen erarbeiten sol-
len, in denen sie diese erklären, dass sie selbst ihre Erklärungen darauf testen, ob sie
ihnen logisch konsistent erscheinen und dass sie das alles auch bei Spaziergängen
durch den Stadtpark tun können.
Manchmal hören Prüferinnen und Prüfer nach dem Prüfungsgespräch, dass die-
selben Studierenden, die vorher die Klausuren zu schwer, zu voll und angefüllt mit
„ganz neuen“ Aufgaben fanden, nun, nachdem sie die Vorschläge zum Umgang
mit Mathematik umgesetzt haben, sagen, dass Mathematik leicht sei und dass sie
sich fragen, warum sie nicht viel früher erkannt haben, wie leicht Mathematik ist.
Eine wunderbare, wenn auch in diesen Fällen späte Einsicht. Denn so einfach ist
Mathematik.
Damit ist dieses Buch zu den Grundlagen der Mathematik im Studium und zum
unverzichtbaren Basiswissen zu Ende. Die wichtigsten Grundlagen zum Verstehen
der Mathematik sind jedoch die Bereitschaft und die Fähigkeit, sich mathematische
Zusammenhänge zu erschließen und eigene Verbindungen zwischen den spröden
Zeichen und der Wirklichkeit zu schaffen.
Wenn Sie die hier besprochenen Themen verinnerlicht haben und eine Verbin-
dung der mathematischen Zeichen zu Ihrer Vorstellung zulassen, dann sind Sie für
die Mathematikvorlesungen bestens gerüstet. Und denken Sie immer daran, dass
Mathematik nichts zum Anschauen ist, sondern etwas zum Selbermachen.
Sachverzeichnis
00 , 78 Automat, 129
1 0, 134
, 67, 93
0.999. . . , 64 B
Balkenwaage, 172, 190
Befreien, 174, 214
A beliebig klein, 66, 123, 132
Abbildung, 20 Betrag, 44, 213
abgeschlossenes Intervall, 219 Betragsfunktion, 128
abhängige Variable, 75, 107 Beweis, 25, 47, 89, 195
Ableitung, 68, 141, 224 Beweisprinzip, 46, 197
Abstand zweier Punkte, 99 bijektive Abbildung, 201
achtfaches Volumen, 6, 106 Bild, 20, 108
Addition von Brüchen, 61 Bildbereich, 107
Additionstheorem, 68 Binomialkoeffizienten, 157
ähnliche Dreiecke, 90, 102 binomische Formel, 22, 155, 171
Akzeptanz, 11 blonde Schauspielerinnen, 40
Allaussage, 74, 203 Bogenmaß, 94
allgemeine Lage, 85 Brauchen, 16, 148, 160, 227
Allquantor 8, 203 Bruttoverkaufspreis, 83
Alternative, 216 Bungee-Sprung, 25
analog, 14, 47, 208
Ankathete, 100, 125
Ansatz, 78, 166 C
Anstieg, 142 Computer, 17, 109
Antwortmaschine, 73, 109
äquivalente Umformung, 46, 172
Äquivalenz, 92, 203 D
Argument, 20, 37, 107 Definition, 18
Argumentation, 12 Definitionsbereich, 107
arithmetisches Mittel, 195 Dezimalzahl, 59, 65
Assoziativgesetz, 38 dicht, 66, 79
Aufgaben, 13, 113 Differenzenquotient, 140
Auflösen von Gleichungen, 173 Differenzial, 134
Auflösungsformel, 176 Diogenes, 16
Aufräumen, 162, 181, 210 Dividend, 33
N Q
Nachdenken, 14, 110, 212 quadratische Ergänzung, 176
nahrhafte Null, 164 quadratische Gleichung, 175
natürliche Zahl, 63 Quotient, 33
natürlicher Logarithmus, 81
Natürlichkeit, 22
Nenner, 58 R
nichtnegativ, 45 Radiant, 95
Norm, 99 rationale Funktion, 166
Normalparabel, 120 rationale Zahl, 57, 63
Notation, 11, 68, 202 Rechenschieber, 80
notwendig, 205, 217 reelle Zahl, 65
Null mit Vergangenheit, 134 Reihe, 185
Nullstelle, 74, 120 Rekursion, 71
reziprok, 62
O
o. B. d. A., 86, 118 S
oder, 216 Satz des Pythagoras, 89, 128
offenes Intervall, 219 Satz des Thales, 91
Oma Eulalia, 17 Schnittpunkt, 116, 210
238 Sachverzeichnis
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