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Naturlyrik 3pp
Naturlyrik 3pp
EPOCHE: Restaurationszeit
AUTOR: Heinrich Heine
KONZEPT: Natur und Geschichte
GATTUNG: Romanze
Ein geistreicher Franzose - vor einigen Jahren hätten diese Worte einen
Pleonasmus gebildet - nannte mich einst einen romantique défroqué [das
Priestergewand ablegen]. Ich hege eine Schwäche für alles, was Geist ist,
und so boshaft die Benennung war, hat sie mich dennoch höchlich ergötzt.
Sie ist treffend. Trotz meiner exterminatorischen Feldzüge gegen die
Romantik blieb ich doch selbst immer ein Romantiker, und ich war es in
einem höhern Grade, als ich selbst ahnte. Nachdem ich dem Sinne für
romantische Poesie in Deutschland die tödlichsten Schläge beigebracht,
beschlich mich selbst wieder eine unendliche Sehnsucht nach der blauen
Blume im Traumlande der Romantik, und ich ergriff die bezauberte Laute
und sang ein Lied, worin ich mich allen holdseligen Übertreibungen, aller
Mondscheintrunkenheit, allem blühenden Nachtigallenwahnsinn der einst
so geliebten Weise hingab. Ich weiß, es war »das letzte freie Waldlied der
Romantik«, und ich bin ihr letzter Dichter: mit mir ist die alte lyrische Schule
der Deutschen geschlossen, während zugleich die neue Schule, die
moderne deutsche Lyrik, von mir eröffnet ward. Diese Doppelbedeutung
wird mir von den deutschen Literarhistorikern zugeschrieben.
Moritz Daniel Oppenheim, 1831
Der oben besprochenen, gar fatalen fatalistischen Ansicht steht eine lichtere entgegen,
die mehr mit der Idee einer Vorsehung verwandt ist und wonach alle irdischen Dinge
einer schönen Vervollkommenheit entgegenreifen und die großen Helden und
Heldenzeiten nur Staffeln sind zu einem höheren gottähnlichen Zustande des
Menschengeschlechtes, dessen sittliche und politische Kämpfe endlich den heiligsten
Frieden, die reinste Verbrüderung und die ewigste Glückseligkeit zur Folge haben. Das
Goldne Zeitalter, heißt es, liege nicht hinter uns, sondern vor uns; wir seien nicht aus dem
Paradiese vertrieben mit einem flammenden Schwerte, sondern wir müßten es erobern
durch ein flammendes Herz, durch die Liebe; die Frucht der Erkenntnis gebe uns nicht
den Tod, sondern das ewige Leben. - »Zivilisation« war lange Zeit der Wahlspruch bei den
Jüngern solcher Ansicht. In Deutschland huldigte ihr vornehmlich die Humanitätsschule.
Beide Ansichten, wie ich sie angedeutet, wollen nicht recht mit unseren lebendigsten
Lebensgefühlen übereinklingen; wir wollen auf der einen Seite nicht umsonst begeistert
sein und das Höchste setzen an das unnütz Vergängliche; auf der anderen Seite wollen
wir auch, daß die Gegenwart ihren Wert behalte und daß sie nicht bloß als Mittel gelte
und die Zukunft ihr Zweck sei. Und in der Tat, wir fühlen uns wichtiger gestimmt, als daß
wir uns nur als Mittel zu einem Zwecke betrachten möchten; es will uns überhaupt
bedünken, als seien Zweck und Mittel nur konventionelle Begriffe, die der Mensch in die
Natur und in die Geschichte hineingegrübelt, von denen aber der Schöpfer nichts
wußte, indem jedes Erschaffnis sich selbst bezweckt und jedes Ereignis sich selbst bedingt
und alles, wie die Welt selbst, seiner selbst willen da ist und geschieht. - Das Leben ist
weder Zweck noch Mittel; das Leben ist ein Recht. Das Leben will dieses Recht geltend
machen gegen den erstarrenden Tod, gegen die Vergangenheit, und dieses
Geltendmachen ist die Revolution.
Dorten spielt der alte Nordwind Zur Musik, die unten tönet,
Mit den blanken Meereswellen, Wirbeln sie die tollsten Weisen;
Die wie Orgelpfeifen hüpfen, Sonnennachtigallen sind es,
Die wie Orgelpfeifen schwellen. Die dort oben strahlend kreisen.
Heidnisch halb und halb auch kirchlich Und das braust und schmettert mächtig,
Klingen diese Melodeien, Meer und Himmel hör ich singen,
Steigen mutig in die Höhe, Und ich fühle Riesenwollust
Daß sich drob die Sterne freuen. Stürmisch in mein Herze dringen.
EPOCHE: Realismus
AUTOREN: Friedrich Hebbel,
Theodor Storm, Conrad
Ferdinand Meyer
TOPOS: das Meer
Meeresleuchten (1845)
Möwenflug
Möwen sah um einen Felsen kreisen Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen, Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend, Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend, Ins gespenstische Geflatter starrend:
Und zugleich in grünem Meeresspiegel Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Sah ich um dieselben Felsenspitzen Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Eine helle Jagd gestreckter Flügel Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen. Oder hast du Blut in deinen Schwingen?
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.
Leitfrage: Was hat das Bild von der "grünen Stelle" im Realismus
zu bedeuten?
EPOCHE: Naturalismus
AUTOREN: Friedrich Nietzsche, Arno Holz;
Wilhelm Bölsche, Ernst Haeckel
KONZEPTE: Leben; biogenetisches
Grundgesetz
Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die
Mäßigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton
der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang,
wie in diesen das ganze Übermaß der Natur in Lust, Leid und
Erkenntnis, bis zum durchdringenden Schrei, laut wurde denken wir
uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der
psalmodierende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften
Harfenklange, bedeuten konnte! Die Musen der Künste des »Scheins«
verblaßten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach
die Weisheit des Silen rief Wehe! Wehe! aus gegen die heiteren
Olympier. Das Individuum, mit allen seinen Grenzen und Maßen, ging
hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und
vergaß die apollinischen Satzungen. Das Übermaß enthüllte sich als
Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne
sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall
dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben
und vernichtet.
Nur einen größten Fortschritt wollen wir noch hervorheben, welcher dem
Substanz-Gesetz ebenbürtig ist und welcher dasselbe ergänzt, die
Begründung der Entwickelungslehre. Zwar haben einzelne denkende
Forscher schon seit Jahrtausenden von "Entwickelung" der Dinge
gesprochen; daß aber dieser Begriff das Universum beherrscht, und daß
die Welt selbst weiter nichts ist, als eine ewige "Entwickelung der Substanz",
dieser gewaltige Gedanke ist ein Kind unseres 19. Jahrhunderts. Erst in der
zweiten Hälfte desselben gelangte er zu voller Klarheit und zu allgemeiner
Anwendung. Das unsterbliche Verdienst, diesen höchsten philosophischen
Begriff empirisch begründet und zu umfassender Geltung gebracht zu
haben, gebührt dem großen englischen Naturforscher Charles Darwin;
Damit wurde uns zugleich der Schlüssel zur "Frage aller Fragen" geschenkt,
zu den großen Welträthsel von der "Stellung des Menschen in der Natur"
und von seiner natürlichen Entstehung."
"Der Monismus [...] erkennt im Universum nur eine einzige Substanz, die "Gott
und Natur" zugleich ist; Körper und Geist (oder Materie und Energie) sind für
sie untrennbar verbunden."
Vorlesung "Natur in Wort, Bild und Wissenschaft"
30 Arno Holz (1863-1929)
Kunst = Natur – x
Ueber mir,
warm,
der Himmel:
ein weites, zitterndes Weiss,
das mir die Augen langsam, ganz langsam
schliesst.
Selig.
Arno Holz (1863-1929) Ich bin der reichste Mann der Welt!
Meine Wurzeln
saugten sich
in einen Stern.
Leitfrage: Warum ziehen die Symbolisten den Garten der Natur vor?
Sein Hirn
Ist vollständig mit Watte tapeziert.
In der Mitte
Kauert eine kleine Rokokovenus
Und piet aus Silber
In einen goldnen Nachttopf.
Arno Holz
Die Absicht aller Lyrik ist immer die gleiche. Ein Gefühl, eine Stimmung,
ein Zustand des Gemüts soll ausgedrückt und mitgeteilt, soll suggeriert
werden. Was kann der Künstler tun? Das nächste ist wohl, es zu
verkünden, ... zu beschreiben.... das ist die rhetorische Technik. Oder der
Künstler kann die Ursache, das äußere Ereignis seiner Stimmung, seines
Gefühls, seines Zustandes suchen, um, indem er sie mitteilt, auch ihre
Folge, seinen Zustand mitzuteilen. Das ist die realistische Technik. Und
endlich, was früher noch keiner versucht hat: der Künstler kann eine ganz
andere Ursache, ein anderes äußeres Ereignis finden, welche seinem
Zustande ganz fremd sind, aber welche das nämliche Gefühl, die
nämliche Stimmung erwecken und den nämlichen Erfolg im Gemüte Arnold Böcklin, Die Toteninsel, 1883
bewirken würden. Das ist die Technik der Symbolisten.
Hermann Bahr
Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und
mache – eine kunst für die kunst – und steht deshalb im
gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule
die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang. Sie
kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen
und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei
uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein
mögen aber in ein andres gebiet gehören als das der
dichtung.
Leitfrage: Warum ziehen die Symbolisten den Garten der Natur vor?
Ich würde gern mitunter aus dem Haus tretend ein paar Bäume sehen. Besonders
da sie durch ihr der Tages- und Jahreszeit entsprechendes Andersaussehen einen so
besonderen Grad von Realität erreichen. Auch verwirrt es uns in den Städten mit der
Zeit, immer nur Gebrauchsgegenstände zu sehen, Häuser und Bahnen, die
unbewohnt leer, unbenutzt sinnlos wären Unsere eigentümliche Gesell-
schaftsordnung läßt uns ja auch die Menschen zu solchen Gebrauchsgegenstän-
den zählen, und da haben Bäume wenigstens für mich, der ich kein Schreiner bin,
etwas beruhigend Selbständiges, von mir Absehendes, und ich hoffe sogar, sie
haben selbst für die Schreiner einiges an sich, was nicht verwertet werden kann.
Bertolt Brecht, Herr K. und die Natur
Texte, gesetzt
Um deine Verfolgung zu regeln,
Buchstaben in Weiß,
schwarzes Geäst,
Laubwerk,
in die Ordnung des Bösen gebracht –
Die Bäume
Wenn sie die Bäume aus ihren Ländern schlagen, In großen Kriegen sind Bäume Asche geworden,
Schlagen sie immer sich selber ins eigene Fleisch. Bomben zerrissen Kronen und Wurzelgrund.
Wo keine Blätter wehn, wo keine Bäume ragen, Große Tropfen weinen über das Morden,
Grinst der Fels zu der Karstvögel Hungergekreisch. Bitter tränt Harz von Bäumen,
zerschlagen und wund.
Aus schwarzen Bäumen, die sie aus Schächten holen,
Aus harzigen Bäumen der Wälder ist all ihr Leben gemacht. Bäume warten im Land vor den großen Städten,
Bäume sind ihre Bücher, Bäume sind ihre Bohlen, Die sich verzehren in ihrem eigenen Gift.
Bäume sind ihre Wärme und ihre Sonnen bei Nacht. In ihrem Astwerk predigen alte Propheten,
In ihrer Borke steht eine runzlige Schrift:
Ein Baum ist ihr Galgen, ihr Kreuz ein Baum auf dem Hügel,
Ein Baum in der Erde ihr Sarg, ein Baum auf dem Wenn die Wetter das faule Mark der Ruinen
Wasser ihr Boot. Mürbe machen wie Zunder im hohlen Baum,
Bäume sind ihre Betten, Bäume sind ihre Flügel, Wurzeln die wiedergekehrten Bäume in ihnen,
Bäume im Grund sind ihr Leben, fliegende Bäume ihr Tod. Nur die Meere sind dann noch Waldessaum.
Vorlesung "Natur in Wort, Bild und Wissenschaft" Platane, ca. 2.000 Jahre alt, Kreta
52 Karl Krolow (1915-1999)
Warnung des Sommers
Leitfrage: Was sind neue Themen und Redeweisen der Naturlyrik im 21. Jahrhundert?
Es sind die Pflanzen in den Schlagzeilen, nicht die auf der Wiese,
in Wäldern und Sümpfen, Gärten und Parks.
Es sind die Pflanzen, die in den Konjunktiv gezogen sind,
weil wir sie umtopften in imaginäre Parks,
Erdgeschichte, Kapitel. Jene, die Neubaugebieten
gewichen sind, Umgehungsstraßen und Kraftwerken,
im Paralleluniversum riechen sie wunderbar,
in diesem nur nach Papier und Listen,
schlechtem Gewissen und hohem Gewinn.
Wir befinden uns tief im Gestrüpp von Schuld,
das über verlorene Schmuckstücke wächst, weggeworfene Ringe,
Fußkettchen aus angelaufenem Silber. Vergeblich verhandeln wir
alte Gefühle, suchen nach Bildern, die sich im Traum bewegen.
Leitfrage: Was sind neue Themen und Redewesen der Naturlyrik im 21. Jahrhundert?
Andy Warhol,
Vorschlag für
Sonntagsmaler
(Landschaft),
1962