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Theoretische Kernannahmen
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Vorbemerkung:
Zur wirklichkeitskonstitutiven Bedeutung von Sprache und Konzeptionen
Projekte, Konzepte, Arbeitsvorhaben etc. entstehen aus Ideen und Vorstellungen, die einzelne
Menschen entwickeln. Um sie in gemeinsame Tat umsetzen zu können, müssen Menschen sich mit
anderen verständigen, austauschen und dabei ihre Ideen weiterentwickeln, bis sie die Reife der
Umsetzbarkeit erreicht haben. Um diesen Verständigungsprozess erfolgreich zu gestalten, bedarf es
der Sprache als Hauptkommunikationsmittel, sowohl in schriftlicher als auch in verbaler Form. Die
Sprache ist das geistige Verkehrsmittel für die zu transportierenden Ideen.
Eine besondere Bedeutung kommt der Sprache dabei zu, weil es über sie möglich ist, nicht nur
Konkretes zu benennen, sondern vor allem auch von diesem zu abstrahieren. D.h., sich vom
Dinglichen zu lösen und auf einer rein begrifflichen Ebene ohne unmittelbaren Bezug zur Realität zu
theoretisieren. Es besteht dadurch die Möglichkeit, konkret Erlebbares oder Gestaltbares zu
verallgemeinern und damit das konkreten Ereignissen prinzipiell Innewohnende zu benennen. Über
Sprache kann also eine Abbildung der Realität vorgenommen werden, in der beispielsweise Werte
und andere Grundannahmen besondere Berücksichtigung finden. Aber nicht nur die Möglichkeit der
Abstraktion ist der Sprache inne, sondern vor allem auch die, sich mit anderen Menschen über
Themen abstrakt, d.h. verallgemeinernd und theoretisch zu verständigen. Sprache ist also nicht nur
Kommunikationsmittel zum Austausch von Ideen, sondern auch Hilfsmittel, um Abstraktion zu
ermöglichen. Ohne die Sprache wären abstrakte Gedanken unmöglich!
Durch die sprachliche Abbildung der Wirklichkeit findet allerdings ein Übergang von der Objektivität in
Subjektivität statt, denn Sprache konkretisiert sich in Begriffen und deren Bedeutung liegt in den Ideen
des Begriffsanwenders. Daher können gleiche Begriffe durchaus unterschiedliche Bedeutung bei ihren
Anwendern haben! In jedem Begriff sind Annahmen aus früher erlebten Kontexten enthalten:
Vorannahmen, Verallgemeinerungen, persönliche Erfahrung etc. So wenig, wie zwei Menschen das
gleiche Leben leben, sprechen sie die gemeinsame Sprache. So, wie über unterschiedliche Begriffe
unterschiedliche Wirklichkeiten abgebildet werden können, können allerdings auch durch den
Gebrauch gleicher Begriffe unterschiedliche (zumindest subjektive) Wirklichkeiten konstituiert werden.
Das allein stellt Kommunikanten schon vor ein Problem. Dramatisch wird diese Tatsache aber vor
allem angesichts der Tatsache, dass bei einer unzureichenden Begriffsklärung nicht nur
unterschiedliche Welten abgebildet oder konstituiert werden, sondern dass die den Begriff
unterschiedlich gebrauchenden Personen gar nicht bemerken, über unterschiedliche Realitäten zu
sprechen. Im einfachsten Fall reden sie aneinander vorbei, im schlimmsten Fall geraten sie
miteinander in Konflikt, ohne zu wissen, warum. Und so ist die Sprache nicht nur das zentrale
Kommunikationsmittel zwischen den Menschen, sondern auch der Ausgangspunkt für
Missverständnisse.
Im Kontext von Wissenschaft und Forschung ist dieser Umstand hinlänglich bekannt und man bemüht
sich, durch Definitionen, den Geltungsbereich eines Begriffs einzuschränken. Da jedoch viele Begriffe
sowohl eine Bedeutung als Fachterminus haben als auch umgangssprachlich (und damit ungenau)
verwendet werden, bedarf es bei jeder konzeptionellen Einbettung eines Begriffs seiner neuerlichen
Präzisierung (vorausgesetzt, die umgangssprachlich vage Bedeutung ist nicht hinreichend genau).
Das gilt um so mehr bei Begriffen, die der Abstraktion dienen, denn: Je abstrakter ein Wort ist, desto
mehr ist es allgemeingültig und je allgemeiner ein Wort ist, desto leerer wird es! Es stellt sich die
Frage, weshalb abstrakte Wörter überhaupt Anwendung finden.
Hier haben wir ein scheinbares Paradoxon: Abstraktionen dienen der Vereinfachung und
Ergonomisierung von Sprache und Verständigung (also genau dem Gegenteil dessen, was ich
soeben problematisiert habe), was sich leicht anhand eines Beispiels verdeutlichen lässt: Die
Fingerbewegungen beim Stricken sind zu kompliziert, als dass wir sie ohne das Zweckwort "stricken"
auffassen könnten! Abstraktionen wie beispielsweise Fachtermini abstrahieren also komplexe Gebilde
bzw. Bedeutungszusammenhänge zu einer Einheit und sind damit besonders hilfreich für
Systematisierungen – vorausgesetzt wir benutzen den Begriff nicht inflationär, sondern ausschließlich
im jeweils anvisierten Kontext.
Während in der Fachsprache technischer Berufe einzelne Begriffe vor allem durch eine zusätzliche
internationale Kunstsprache (z.B. das Zeichensystem der Mathematik) definiert werden können und
dadurch ihre eindeutige Verwendung in vielen Fällen gewährleistet ist, haben sozialwissenschaftliche
Disziplinen (wie beispielsweise Pädagogik und Psychologie) unter den oben aufgezeigten
Verständigungsproblemen erheblich zu leiden. Immer wieder können wir erleben, wie neue
Fachbegriffe aus der Taufe gehoben werden und im Laufe ihrer Anwendung und Auslegung inhaltlich
erodieren.
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Neben der aufgezeigten semantischen (genau: onomasiologischen bzw. semasiologischen)


Problematik können durch begriffliche Ungenauigkeiten allerdings auch
Verständigungsschwierigkeiten auf der Ebene der Wertbezüge entstehen, da Begriffe als Teil eines
Begriffssystems (Wittgenstein: Sprachspiel) in aller Regel auch ethische Bezüge und Vorannahmen
transportieren. Um also konzeptionell – beispielsweise im Bereich des pädagogischen Handelns – zu
arbeiten, bedarf es neben einer Klärung und Präzisierung der verwendeten Begriffe auch der
Erläuterung von Kern- und Vorannahmen, in die diese Begriffe eingebettet sind. Nicht zuletzt
konstituieren schließlich diese Vorannahmen die Schwierigkeiten und Probleme, die es im
konzeptionell fundierten Handeln zu bewältigen gilt.
Um einerseits den fachlichen Diskurs zu fördern und vor allem andererseits die Dissemination und
Implementation neuer Konzepte dadurch abzusichern, dass sie in sich stimmig und plausibel sind, ist
es aus wissenschaftstheoretischer Perspektive daher angeraten, ihre theoretische Grundlage
einschließlich der Wert- und Normfundierungen transparent zu machen. Die Erarbeitung theoretischer
Kernannahmen und Ausgangspunkte als Grundlage zur Entwicklung pädagogischer Konzepte ist also
nicht eine Beschäftigung um der Beschäftigung willen (was ja häufig der Philosophie und den
Geisteswissenschaften vorgeworfen wird), sondern Voraussetzung für die Entwicklung einer
tragfähigen und vor allem durch Erfahrungen und deren Austausch erweiterbaren Konzeption.
Mit der folgenden Darstellung der wichtigsten Kernannahmen des Modellversuchs MoF@Bs soll dem
Leser ein Eindruck unseres theoretischen Fundaments vermittelt werden.
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Vorschlag für theoretische Kernannahmen im Modellversuch LUST

Abb. 1: Kernannahmen des Modellversuchs MoF@Bs – Zentrale Begriffe

Kernannahmen, die auf den anthropologischen Annahmen des


Forschungsprogramms Subjektive Theorien basieren

Übergeordnetes Ziel der Arbeit im Modellversuch ist, Impulse und Handlungsperspektiven für
die Weiterentwicklung des Unterrichts unter der Perspektive selbstgesteuerten Lernens zu
liefern. Ein besonderes Augenmerk ist dabei darauf gerichtet, dass nicht nur geeignete
Methoden und Vorgehensweisen vorgeschlagen bzw. entwickelt werden, sondern, dass
diese Methoden auf stimmigen theoretischen Grundlagen beruhen. Die Schüler sollen sich in
einem möglichst widerspruchsfreien pädagogischen Feld wiederfinden. Voraussetzung
hierfür ist eine konsistente gedankliche Grundlage, die ein konsequent auf sie ausgerichtetes
Handeln garantiert (vgl. oben den zentralen Begriff STIMMIGKEIT DER THEORIEN).
Für eine derartige Maßgabe bieten die Erkenntnisse der Wissenschaftstheorie eine gute
Grundlage. Wenn es gelingt, eine methodologisch korrekte Konzeption zur Basis der
Modellversuchsarbeit zu schaffen, dann ist die Wahrscheinlichkeit einer daraus
resultierenden stimmigen Methodik groß. Gute Orientierungshilfen hierzu liefern die
Überlegungen von Herrmann1, Groeben2 sowie Stegmüller3. Konkretisierung finden diese

1
Herrmann, Theo, Die Psychologie und ihre Forschungsprogramme, Hogrefe, Göttingen etc. 1976
2
Groeben, Norbert, Handeln, Tun, Verhalten, Francke, Heidelberg 1986
3
Stegmüller, Probleme und Resultate der Wissenschaftstheorie und Analytischen Philosophie. Theorie und Erfahrung. 2. und 3.
Teilband, Springer, Berlin etc. 1973, 1985, 1986
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philosophischen Grundlagen in einem Vorschlag von Schlee4, der seit mehreren Jahren als
unveröffentlichtes Manuskript vorliegt und sich in verschiedenen Zusammenhängen (in der
Lehrerbildung) bereits als heuristisch nützlich erwiesen hat. Anhand der folgenden Abbildung
soll das theoretische Konzept verdeutlich werden:

Abb. 2: Theoretische Stimmigkeit

Entsprechend der Abbildung basieren alle Überlegungen im pädagogisch-psychologischen


Bereich auf anthropologischen Kernannahmen (1. Ebene: Wertsetzung). Derartige
Menschenbildannahmen sind zwar nicht in allen Theorien explizit ausformuliert, sie sind
dennoch in jeder Persönlichkeitstheorie enthalten. Das gilt sowohl für wissenschaftliche als
auch für sog. Alltagstheorien. Selbst wenn Menschen scheinbar unvoreingenommen
anderen Menschen gegenübertreten, so müssen wir davon ausgehen, dass diese
Begegnungen nicht voraussetzungs- bzw. vorurteilsfrei stattfinden. Jeder Mensch beschreibt
seine Erlebnisse und seine Umwelt auf der Grundlage vorheriger eigener Erlebnisse und
Überlegungen. Zu diesen Überlegungen gehören u.a. auch Wertorientierungen
unterschiedlicher Bezüge (beispielsweise moralische, ethische, ästhetische etc.).
Diese geschilderten Vorannahmen liefern nicht nur die Voraussetzung für die Beschreibung
und (darauf aufbauend) Erklärung der Welt (deskriptive Ebene), sondern auch für deren
Bewertung (präskriptive Ebene). Für eine wissenschaftstheoretisch korrekte Vorgehensweise
im Modellversuch ist dementsprechend die Darlegung der deskriptiven und präskriptiven
Prämissen, die in die entwickelten Konzept einfließen, eine unabdingbare Voraussetzung.
Kernannahme unseres Modellversuchs ist, dass jeder Mensch zumindest potenziell sein
Handeln nach dem Sinn ausrichtet, den sein Handeln für ihn ergibt. Wir gehen also davon
aus, dass niemand sinnlos oder wahllos handelt – auch, wenn dieser Sinn sich für eine
außen stehende Person nicht ohne Weiteres nachvollziehen lässt. Menschliche Handlungen

4
Schlee, unv. Mskp.
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sind also auf Resultate gerichtet. Sie folgen Motiven, Interessen und Überlegungen. Das
heißt, sie sind nur auf der Grundlage eines Erfahrungs- und Wissenssystems denkbar:
"Menschliches Handeln basiert konstitutiv auf einer Fähigkeit zur 'symbolischen
Restrukturierung"' (Groeben 1986, 13). Sie versetzt den Handelnden in die Lage, sich von
seiner Umwelt zu distanzieren (und von ihr unabhängig zu machen), sie mit eigenen
Kategorien zu beschreiben, zu erklären und sie mit der daraus resultierenden Bedeutung zu
versehen. Der Handelnde verschafft sich Orientierungsgrundlagen, indem er Fragen stellt,
Hypothesen entwirft und überprüft, Erkenntnisse gewinnt und eigene Vorstellungen
entwickelt. Dies tut er im Rahmen eigener Wahlmöglichkeiten. Das heißt, er übernimmt für
die von ihm getroffenen Entscheidungen, Unterlassungen oder Handlungen die
Verantwortung (vgl. Schlee 1988, 165).
Mit der Annahme also, dass ein Subjekt beim Handeln nur eigenes Wissen und eigene
Erfahrungen anwendet, werden ihm grundlegende Fähigkeiten des kognitiven Konstruierens
unterstellt. Es handelt sich hierbei zumindest um die Potenziale, sich selbst sowie selbst
Erlebtes zum Gegenstand eigener Überlegungen machen zu können (Reflexivität), diese
Überlegungen unabhängig von Umweltbedingungen anstellen sowie Verantwortung dafür
übernehmen zu können (Autonomie) und schließlich die dabei gewonnenen Sinn- und
Bedeutungsstrukturen versprachlichen und anderen Menschen mitteilen zu können (verbale
Kommunikativität). Dabei sind alle Merkmale durch zumindest angestrebte Schlüssigkeit
bzw. Stimmigkeit der Überlegungen (Rationalität) gekennzeichnet (vgl. oben den zentralen
Begriff MENSCHENBILDANNAHMEN)
Aus diesen Kernannahmen kann die für den Modellversuch angestrebte Präskription
(wertbezogene Vorschrift) abgeleitet werden, dass alle Handlungsempfehlungen und
Methoden darauf abzielen, die o.g. menschlichen Potenziale so weit wie möglich
auszuschöpfen. Im Rahmen der Ausbildung ist also dafür Sorge zu tragen, dass einerseits
die Erfahrungen und Erkenntnisse (Subjektive Theorien) der Schüler berücksichtigt werden
und dass andererseits ihre Potentiale zur Weiterentwicklung und ggf. Umkonstruierung
dieser Erkenntnisse so weit wie irgend möglich ausgeschöpft und ernst genommen werden.
Lernen ist dementsprechend als Modifikation der eigenen Subjektiven Theorien zu
verstehen. Demnach kann dieser Prozess nur aktiv und letztlich ausschließlich vom
Lernenden selbst gestaltet werden (vgl. oben die Stichworte SELBSTGESTEUERTES LERNEN).
Diese anthropologischen Kernannahmen stellen die Grundlage des Forschungsprogramms
Subjektive Theorien (FST) dar. Das FST ist damit auf der Ebene der im Modellversuch
verwendeten Theorien (2. Ebene: Theorien) ein zentraler Bezugspunkt. Um ein stimmiges
Konzept für die Modellversuchsarbeit zu erhalten und um vor allem auf weitere theoretische
Erkenntnisse nicht verzichten zu müssen, ist es sinnvoll weitere Theorien zumindest
heuristisch zu nutzen, sofern sie kompatibel zu den postulierten Menschenbildannahmen
sind. Hierzu zählen vor allem die Theorien der humanistischen Psychologie, insbesondere
die Überlegungen von Rogers (Gesprächsführung), Cohn (Lernen in Gruppen), Bateson
(Theorie des Lernens) und Maslow (Struktur menschlicher Bedürfnisse). Ebenfalls nutzbar
sind die Theorien von Watzlawick, Beavin, Jackson bzw. Schulz von Thun (Theorie
zwischenmenschlicher Kommunikation) sowie die von Watzlawick, Weakland, Fish
(Lösungen).
Diesen Theorien können Prinzipien (3. Ebene: Prinzipien) entnommen werden, die für jedes
zwischenmenschliche Handeln und – im Besonderen – für jedes pädagogische Handeln
konstitutiv sind, sofern die zuvor benannten anthropologischen Kernannahmen für gültig
angenommen werden. Beispielsweise leiten wir das Prinzip der Transparenz von Strukturen
aus den Überlegungen von Cohn6 ab: Sie sieht den Menschen in einer Dualität von
Autonomie und Interdependenz. Je unbekannter die Abhängigkeit erzeugenden Strukturen

5
Groeben et al., Forschungsprogramm Subjektive Theorien, Francke, Heidelberg etc. 1988
6
Cohn, R., Von der Psychoanalyse zur Themenzentrierten Interaktion, Klett-Cotta 2000
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für eine Person sind, desto weniger selbstverantwortlich kann sie sich innerhalb dieser
Strukturen bewegen. Strukturelle Transparenz (etwa auf kommunikativer Ebene) fördert
dementsprechend die Autonomie einer Person. (Aus dieser prinzipiellen Überlegung ist im
übrigen als ein weiteres Beispiel das Prinzip der von Cohn sog. Förderung von
Chairpersonship, d.h. Selbstverantwortlichkeit im Sinne einer reflexiven Autonomie,
ableitbar.)
Alle drei bisher genannten Ebenen (Wertsetzung, Theorien, Prinzipien) sind ausschließlich
gedankliche Konstruktionen, d.h. sie sind nichts anderes als mehr oder weniger plausible
Überlegungen ihrer Schöpfer, also der Menschen, die im Rahmen darauf basierender
Konzepte innovativ arbeiten wollen. Man könnte in Anlehnung an Stegmüller bei diesen
Überlegungen von einem logischen Strukturkern sprechen, der bisher noch keinen
empirischen Gehalt hat (sieht man einmal davon ab, dass die zitierten Theorien bereits
zahlreiche Anwendungen aufweisen). Ziel der Modellversuchsarbeit ist es, für diese
logischen Überlegungen sog. intendierte Anwendungen bzw. Modelle (4. Ebene: Verfahren)
im Bereich des Unterrichts (zunächst beispielhaft) zu entwickeln, mit denen einerseits das
gesamte theoretische Fundament (Ebene 1 bis 3) empirischen Gehalt bekommt, mit dem
andererseits aber vor allem auch eine Perspektive für Unterrichtsgestaltung aufgezeigt wird:
Stellt man nämlich einen engen Bezug von Modell und Theorie her und erweist sich beides
als tragfähig in Bezug auf die angestrebte Zielsetzung, dann ist es vergleichsweise einfach,
die Menge der paradigmatischen intendierten Anwendungen (beispielhaften Modelle) nahezu
beliebig zu erweitern (d.h. Verfahren zu entwickeln, die mit dem logischen Strukturkern
kompatibel sind).
In der pädagogischen Praxis ist es häufig zu erleben, dass das Augenmerk lediglich auf die
o.g. 4. Ebene gerichtet ist. So erlernen viele Pädagogen eine große Zahl unterschiedlicher
Methoden, ohne jedoch hieraus Handlungssicherheit zu gewinnen. Dieser Umstand dürfte
darin begründet liegen, dass das alleinige Verfügen über Handlungsmöglichkeiten nicht
ausreicht, sondern dass diese Handlungsmöglichkeiten in einem übergeordneten Sinn- und
Wertzusammenhang stehen müssen, der vor allem mit den persönlichen Sinn- und
Wertorientierungen vereinbar sein muss. Die Planung von Unterricht darf also nicht nur auf
die 4. Ebene abzielen, sondern muss darauf ausgerichtet sein, dass der Zusammenhang der
aufgezeigten vier Ebenen erfasst und heuristisch für die Gestaltung pädagogischer Prozesse
genutzt kann.
Dies zu vermitteln, bedarf es wiederum eines modellhaften Lernens. Es ist notwendig,
beispielhafte Lernsituationen zu schaffen, in denen Lehrer den Zusammenhang aller vier
Ebenen nach Möglichkeit erfahren können. Es werden also Modelle benötigt, die
paradigmatisch für Lernen im Sinne einer Modifikation von Subjektiven Theorien sind. Solche
Modelle konnten in den früheren Modellversuchen SOLAB, Bremen und MoF@Bs-
Niedersachsen mit den Verfahren Kollegiale Evaluation (KoEv) und Kollegiale Planung
(KoPlan) für die Lehrerausbildung entwickelt werden. Sie waren einerseits
Vermittlungsinstrumente innerhalb des jeweiligen Modellversuchs und andererseits als
Orientierungshilfen für die Entwicklung von lehrerausbildungsspezifischen Verfahren und
Methoden, die den Anwärtern zu einer größeren Professionalität verhelfen, als es die
bisherige Lehrerausbildung bisher zu vermitteln vermag (vgl. den zentralen Begriff LERNEN
AM EIGENEN MODELL).

Selbstorganisation und Systemtheorie

Der Begriff Selbstorganisation ist ein Fachterminus der Systemtheorie. Dieses noch
verhältnismäßig junge Forschungskonzept kommt mittlerweile in vielen verschiedenen
Einzelwissenschaften (Physik, Chemie, Biologie, Soziologie, Wirschaftswissenschaft, Politik
und Rechtswissenschaft etc.) zur Anwendung. Die Systemtheorie steht für einen Wechsel in
den modernen Wissenschaften, denn anders als in der bisher herkömmlichen Form der
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Aufteilung und Reduzierung der Welt in ihre Bestandteile und deren Wechselwirkungen dient
sie der Erfassung und dem Umgang mit Komplexität. Hofkirchner (Hofkirchner 20027) spricht
diesbezüglich von einem Paradigmenwechsel des wissenschaftlichen Weltbildes hin zu einer
synthetischen Gesamtsicht. Mit ihr geht – gerade unter dem Begriff der Selbstorganisation –
ein "Drang zur Durchbrechung der vor der jeweils eigenen Disziplin gezogenen Grenze, der
Hang zur Transdisziplinarität, und die Suche nach einer gemeinsamen Basis zur
Verständigung zwischen den Wissenschaftsbereichen ..." einher.
Neben ihrer – noch zu erläuternden – Charakterisierung als ein disziplinübergreifendes
Weltbild beinhaltet die Systemtheorie die Chance, offene, nicht-lineare, komplexe und
dynamisch sich ändernde Zusammenhänge in ihrem Werden, Sich-Entfalten und Vergehen
zum Gegenstand der Erkenntnis zu machen (vgl. Hofkirchner 2002). Da MoF@Bs sich im
weitesten Sinne mit einem ontogenetischen Thema, nämlich der Bildung, beschäftigt, halte
ich die Einbeziehung dieses Paradigmas in die Diskussion für fruchtbar.
Es sei angemerkt, dass der Begriff bzw. das Konstrukt der Selbstorganisation in zahlreichen
objektwissenschaftlichen Kontexten aufgegriffen und unterschiedlich ausgearbeitet worden
ist. Die folgende Präzisierung ist also schon allein deshalb notwendig, um Missverständnisse
zu vermeiden. Vorweg weise ich darauf hin, dass Selbstorganisation trotz der semantischen
Verwandtschaft nicht mit dem Autopoiese-Konzept von Maturana/Varela zu verwechseln
oder gar gleichzusetzen ist. Es ist vielmehr so, dass dieses Konzept eine auf die Zellbiologie
bezogene Focussierung des Selbstorgansationsparadigmas ist, das – wie gesagt – nicht
beliebig auf andere Systeme übertragbar ist.
Selbstorganisation bezeichnet ein Phänomen, das in vielen komplexen Systemen
beobachtbar ist: Diese weisen trotz großer Anzahl und Verschiedenheit von Elementen, die
untereinander mit umfangreichen Freiheitsgraden flexibel (d.h. nicht linear) in
Wechselwirkung stehen (die also anders als Maschinenteile nicht starren Funktionen
unterliegen) keine chaotischen, sondern dynamisch-stabile Strukturen auf, die aus einem
freien Spiel der Kräfte und ohne innere oder äußere Zwänge (Instruktionen, Befehle etc.)
entstehen. Bei der Entstehung von Systemen können minimale Unterschiede der Start- oder
Ausgangsbedingungen zu sehr unterschiedlichen Resultaten führen (Schmetterlingseffekt).
Die Elemente eines selbstorganisationsfähigen Systems folgen Gesetzen des
Zusammenwirkens, die in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen experimentell
überprüft und mathematisch beschrieben worden sind. Unabhängig von der Art der
beteiligten Elemente (Moleküle, biologische Zellen, Menschen) erwiesen sich diese
Strukturen als ähnlich, sofern sie unter ähnlichen Rahmenbedingungen entstanden sind – sie
folgen offensichtlich synergetischen Gesetzen, die universellen Charakter haben.
Zu erklären ist dieses Phänomen mit der Wechselwirkung zwischen Elementen und dem aus
ihnen resultierenden Ganzen. Diese Wirkungsbeziehung wird beschrieben mittels der
Begriffe der Emergenz und Dominanz, die einander bedingen: Innerhalb eines Systems ist
zwischen einer Mikro- und einer Makroebene zu unterscheiden. Das Zusammenwirken der
einzelnen Systemelemente auf Mikroebene emergiert ein systemisches Ganzes, allerdings
"beeinflusst" diese Menge der Elemente als Ganzes auf der Makroebene seinerseits die
einzelnen Elemente. Diese Wirkung wird als Dominanz bezeichnet. Dem 'Ganzen' darf dabei
nicht subjekthafte Bedeutung zugeschrieben werden. Es ist vielmehr so, dass das
Zusammenwirken der Systemelemente eine bestimmte Qualität hervorbringt, die ihrerseits
wiederum steuernd auf die Systemelemente wirkt. Im Rahmen systemkonformer Spielräume
entsteht so ein stabiler Zustand, der in der Wechselwirkung von Emergenz und Dominanz
begründet ist – man spricht von einem sich selbst organisierenden System.

7
Hofkirchner, Wolfgang (2002): Das Paradigma der Selbstorganisation – Fragen der Übertragbarkeit von Sichtweisen aus den
Naturwissenschaften auf die Sozialwissenschaften. In: Bauer, L., Hamberger, K. (Hg.), Gesellschaft denken, Eine
erkenntnistheoretische Standortbestimmung der Sozialwissenschaften, Springer, Wien 2002, 113–124
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Menge der
Elemente Do
m
ina
als Ganzes nz

Em
er
ge
nz
Elemente

Abb. 3: Emergenz und Dominanz

Der jeweils erreichte stabile Zustand entsteht aus systemimmanenten Faktoren bzw. durch
Faktoren, die aus dem System erwachsen. Anders als in einer Maschine unterliegen die
einzelnen Elemente eines selbstorganisationsfähigen Systems nicht einer mechanischen
Zwangsführung, sondern einer 'Führung' durch Attraktoren, die das passgenaue Verhalten
aller Elemente initiieren bzw. zu bestimmten Zuständen oder Zustandsfolgen unabhängig
von den Anfangsbedingungen führen. Derartige Zustandsfolgen können auch chaotisch sein,
d.h. sie durchlaufen in ihrer zeitlichen Entwicklung eine unendliche und nicht vorhersagbare
Vielfalt von Zuständen innerhalb einer begrenzten Zustandsvielfalt – man spricht hier von
fraktalen oder seltsamen Attraktoren (Punkte im Phasenraum).
Mit anwachsender Kohärenz des Prozesses steigt die dynamische Stabilität des Systems.
Es wird gegenüber inneren und äußeren Störungen zunehmend robust. Attraktoren sind als
Anziehungspunkte bestimmter Verhaltensweisen oder Zustände aufzufassen, die bei der
Entstehung eines stabilen Systems bzw. (zunächst als Störfaktoren) beim Übergang eines
Systems von dem einen stabilen Zustand in einen anderen auslösende bzw.
richtungweisende Wirkung haben. Ein Attraktor selbst ist substanzlos und manifestiert sich
nur über die zeitlichen Veränderungen eines Systems. Fasst man beispielsweise den
Menschen als Attraktor auf, so geht es dabei nicht um seine Organe, Zellen oder Atome,
sondern um die immer ähnlich bleibende Form des Menschen, wobei die jeweiligen
Einzelteile ständig im Fluss der Dinge ausgetauscht werden. Ein Attraktor ist also etwas
Stabiles auf einer Metaebene, während auf der konkreten Ebene (Mikroebene) ein ständiger
Wandel stattfindet.
Zur Beschreibung interpersonaler Systeme können die (interaktionellen) Handlungen der
sozialen Akteure als Mikroebene eines sozialen Systems aufgefasst werden, die sich so in
stabilen Beziehungen untereinander etablieren. Damit werden soziale Strukturen auf der
Makroebene emergiert, die wiederum die einzelnen Akteure dominieren. Die Strukturen
schränken einerseits in Form emergierter Rahmenbedingungen die Handlungsmöglichkeiten
der Akteure ein, andererseits sind es gerade diese Rahmenbedingungen, die Möglichkeiten
zum Handeln schaffen, die sonst nicht vorhanden wären. Weder die einzelnen Elemente
noch die Strukturen des Ganzen sind als direkte Verursacher für diesen selbstorganisierten
Systemzustand auszumachen. Die Elemente der Mikroebene (die Handlungen der
Sozialakteure) beeinflussen zwar die Makroebene (die sozialen Strukturen), aber es ist nicht
eindeutig zuzuordnen, welche Handlung genau zu welchem Ergebnis führt. Die Überlegung,
dass für die System-mit-konstituierenden Interaktionspartner der einzelne soziale Akteur
gleichzeitig sowohl ein interaktives Gegenüber (und damit die Mikroebene) als auch die
sozialen Strukturen bzw. einen ihrer Vertreter (und damit die Makroebene) repräsentiert,
verdeutlicht dies.
In diesem Zusammenhang wird der heuristische Wert von Attraktoren deutlich: In einer
sozialen Gesellschaft ist es aufgrund der hohen Komplexität unmöglich, extensional alle
zuständigen Handlungen, die zu ihrer Form führen, zu bestimmen. Die Stabilität dieses
Systems (beispielsweise als demokratisch-humanistische oder als sozialdarwinistische
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Gesellschaftsordnung) ist dennoch erklärbar, wenn man die jeweiligen Ordnungen als
Attraktoren in einem sich selbst organisierenden System begreift.
Die sozialen Strukturen eines Sozialsystems werden allerdings nur so wirksam, wie sie von
den einzelnen Sozialakteuren wahrgenommen und kommuniziert werden. Neue strukturelle
(ggf. globale) Eigenschaften resultieren also aus den Interaktionen der einzelnen Mitglieder.
So entsteht ein unendlicher Prozess der Sozialisation und Enkulturation, in dem die sozialen
Strukturen von den Akteuren letztlich selbst produziert werden. In Form von Regeln und
Regelmäßigkeiten dienen sie als kognitive Werkzeuge für die Antizipation und Konstruktion
immer neuer Handlungen und 'bewirken' (emergieren) eine Reproduktion eben dieser
Strukturen (Selbststabilisierung oder Homöostase). Diesem Fall der Selbstorganisation, in
dem also bestehende Bedingungen Stabilität erreichen, steht die sich selbst organisierende
gesellschaftliche Entwicklung gegenüber, wo gerade die oben erwähnten Regeln und
Regelmäßigkeiten nicht in vergleichbarer Weise Beachtung finden und dadurch veränderte
Strukturen emergieren, die nun wiederum die Sozialakteure dominieren (vgl. Hofkirchner
2002).

Soziale
Do
Strukturen m
ina
nz

Em
er
ge
nz
soziale
Handlungen

Abb. 4: Anwendung des Selbstorganisationsparadigma auf Soziale Systeme

Es wird deutlich, dass Emergenz und Dominanz im Selbstorganisationsparadigma


untrennbar miteinander verbunden sind. Als Wirkung konstituieren sie sich eines aus dem
anderen, ohne dass dem einen oder anderen allein eine Wirkung unterstellt werden kann
und ohne dass die jeweils festzustellende Wirkung einer eineindeutigen Kausalität folgt.
Kleine Veränderungen auf der Mikroebene können eine Veränderung auf der Makroebene
emergieren und das System aus dem aktuellen Gleichgewicht bringen und so zu einer
Veränderung der sozialen Strukturen in einem neuen Gleichgewicht führen, ebenso, wie
Veränderungen auf der Mikroebene in der Dominanz der Makroebene untergehen können.
In einem Gegenstandsbereich, der der Selbstorganisation unterliegt, müssen
dementsprechend wesenhaft immer auch spontan (d.h. ohne Fremdsteuerung) vor sich
gehende Prozesse angenommen werden, die bei Wiederholung variieren würden und deren
Resultat nicht vorwegnehmbar ist. Zwar lassen sich Voraussetzungen bzw.
Gelingensbedingungen benennen, die Möglichkeitsräume für feststellbare oder zu
erwartende Ereignisse eröffnen, aber letztlich bleiben Erklärungen und Prognosen prinzipiell
unvollständig.
Obwohl solche Systeme theoretisch dem Determinismus unterliegen, übersteigen die
Anforderungen an die Präzision der Kenntnis von Anfangsbedingungen für die Vorhersage
des Verhaltens innerhalb eines bestimmten Zeitraums binnen kürzester Zeit alle
Möglichkeiten praktischer Messgenauigkeit, so dass eine praktische Vorhersage – wenn
überhaupt, dann – prinzipiell nur für kurze Zeitspannen möglich ist. Die Frage, auf welcher
kausalen (Er-)Kenntnissbasis dann wissenschaftlich-rationales Handeln innerhalb eines
solches Systems zu fundieren sei, ist dahingehend dahingehend zu relativieren, dass eine
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Auseinandersetzung damit nur unter einem liberalisierten Rationalitätsbegriff sinnvoll ist, in


dem die Akzeptanz eines weichen, d.h. menschlich nicht vollständig erfassbaren
Determinismus von vornherein mit enthalten ist.

Erkenntnistheoretische Einordnung des Selbstorganisationsparadigma

Auf der Ebene der erkenntnistheoretischen Betrachtung erweist sich das Paradigma der
Selbstorganisation als ein wertvoller Beitrag zur Entschärfung der Erklären-Verstehen-
Dichotomie (vgl. z.B. Groeben 1986), durch die die interdisziplinäre Diskussion zwischen
Natur- und Formalwissenschaft einerseits und Sozial- und Humanwissenschaften
andererseits erheblich belastet ist. (Einen intradisziplinären Programmentwurf zur Integration
von Hermeneutik und Empirismus in der Psychologie hat Groeben (Groeben 1986)
vorgelegt).
Aufgabe der Wissenschaft ist es, Vorschläge zu Problemlösungen bereitzustellen.
Ergebnisse zu produzieren, die für Handlungsanleitungen verwertbar sind, hat sich allerdings
angesichts immer komplexer werdender Gegenstandsbereiche als zunehmend schwierig
erwiesen in einer Wissenschaftslandschaft, die seit Jahrhunderten von der Orientierung auf
die Zerlegung der Welt in ihre Bestandteile charakterisiert ist. Die systemtheoretische
Perspektive und mit ihr verbunden das Konzept der Selbstorganisation leiten hier einen
Paradigmenwechsel ein weg von der analytischen Ratio hin zu einer synthetischen
Gesamtsicht auf die Welt. Einer solchen Entwicklung steht allerdings die vielerorts nicht nur
vorhandene, sondern auch gepflegte Zersplitterung in "einander fremde und füreinander
taube Einzelwissenschaften" entgegen (Hofkirchner 2002).
Scheinbar unvereinbar stehen sich Naturwissenschaften einerseits und
Sozialwissenschaften (Human-, Geistes-, Sozial-, Kultur- oder Gesellschaftswissenschaften)
andererseits gegenüber. Schafft einerseits die Beschränkung auf Kriterien strenger
Wissenschaftlichkeit einen Raum, in dem nur Phänomene erfasst werden können, die diesen
festgelegten Kriterien entsprechen, hinterlassen sie jenseits dieser Schranken die Gefahr
wissenschaftlicher Beliebigkeit. Beide Polarisierungen (empiristische Reduktion und
hermeneutische Extrapolation) repräsentieren irrationale Schlussfolgerungen und stehen
damit für unzureichende Weltbilder:
Die strikte und formallogische Anwendung eines naturwissenschaftlichen Deduktivismus,
wonach Erklärungen die Konklusion aus der Konjunktion von als Prämissen dienenden
Sätzen sind, die sowohl Gesetze als auch Anfangs- und Randbedingungen angeben, führt
zu einem deterministischen Weltbild, das in sozialen Kontexten im sogenannten
"naturalistischen Fehlschluss" kulminiert (und beispielsweise die wissenschaftliche
Pädagogik in die Problemsackgasse utopischer Technisierungsversuche bzw. in das
Kant'sche Dilemma geführt hat). Ethische Gesichtspunkte werden hier aus natürlichen
Sachzwängen gefolgert (Verwechslung von deskriptiver und präskriptiver Ebene). Zur
Verdeutlichung: Der fälschliche Schluss des Sollens aus dem Sein lässt den menschlichen
freien Willen zu einem Produkt natürlicher Zwänge verkommen. Handlungen wären so
beispielsweise nicht intentional begründbar, sondern lediglich als Ergebnis nicht
beeinflussbarer biochemischer Prozesse. In letzter Konsequenz werden hiermit dem
Menschen Autonomie und Verantwortlichkeit abgesprochen.
Die strikte Anwendung einer Methodik des Verstehens resp. des Verständnisses
(hermeneutisches Prinzip), also einer Deutung durch ein Subjekt, kulminiert in einem
"mystizistischen" oder "anthropomorphistischen Fehlschluss" (Hofkirchner 2002), wonach
allem Sein Wesenhaftigkeit oder intrinsische Werte (bzw. die Lenkung durch ein Höheres)
zuerkannt werden. Menschliche Werte werden also auf natürliche Tatsachen projiziert. Zur
Verdeutlichung: Prozesse wie beispielsweise die der Hirnphysiologie werden dann als
Ergebnisse handelnder Subjekte vermenschlicht, etwa so: "Die Amygdala und der insuläre
Cortex sowie der temporal parietale Cortex und der orbitofrontale Cortex entscheiden
gemeinsam über die Glaubhaftigkeit des Gesprächspartners ..." (so gehört auf einem Vortrag
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in Bremen). Ein anderes Beispiel stellt die in Schulentwicklungszusammenhängen beliebte


Formulierung von der 'lernenden Schule' dar. Auch hier wird in Form einer Zuschreibung von
Subjekthaftigkeit mystifiziert, wodurch die Systemelemente (nämlich u.a. die Lehrer) in ihrer
Funktion als Systemgestalter ihrer Verantwortlichkeit enthoben werden.
Letztlich irrational muss schließlich auch die dualistische Trennung von Natur- und
Sozialwissenschaften bewertet werden bzw. das Ausweichen in eine Distinktion von
Hermeneutik und Empirismus (vgl. hierzu ausführlich Groeben 1986). "Soziales (bleibt) an
Natürliches gebunden, wiewohl es nicht darauf zurückgeführt werden kann" (Hofkirchner
2002). Die direkte Schlussfolgerung des einen Bereichs auf den anderen ist ebenso
irrational, wie der Ausschluss jeglicher Gemeinsamkeit beider Bereiche.
Versucht man, Selbstorganisation auf dem Hintergrund dieser traditionellen
wissenschaftlichen Perspektiven zu interpretieren, so verkennt man den
"weltbildsprengenden Charakter" der Systemtheorie. Erst auf der Ebene der philosophischen
Reflexion schafft das Selbstorganisationsparadigma eine Verbindung zwischen den
verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen: Gerade wenn nicht aus der
Naturwissenschaft auf sozialwissenschaftliche Zusammenhänge geschlossen wird
(mechanistische Deutung) oder umgekehrt (mystizistische Deutung), sondern in einer
philosophischen Abstrahierung vom jeweils Konkreten der Einzelwissenschaft ein tertium
comparationis geschaffen wird, eröffnet sich eine erkenntnistheoretische Perspektive, die die
Nichterschließbarkeit des einen aus dem anderen berücksichtigt sein lässt, ohne ein
verbindendes Gemeinsames aufzugeben.

Philosophie
rn

ve
abstrakt
ne

ra
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nd
lg

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ein
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er
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Natur- Human-
wissenschaft wissenschaft
konkret naturalistischer historisch-konkret
Fehlschluss

Abb. 5: Philosophische Verknüpfung von Natur- und Humanwissenschaft durch das Selbstorganisationsparadigma

Mit dem Konzept von Emergenz und Dominanz in selbstorganisierenden Systemen wird eine
Auflösung des erkenntnistheoretischen Dilemmas zwischen Empirismus und Hermeneutik
geschaffen. Bestehende Erkenntnislücken werden allerdings nicht nur nicht geschlossen,
sondern sie werden zu Konstituenten eines nun stimmigen Weltbildes: Im
systemtheoretischen Paradigma wird gerade das Vorhandensein unvollständiger (besser
gesagt: unvollständig erfasster) Kausalbeziehungen als die Voraussetzung von Entwicklung
und Wachstum angesehen. Kontingenz ist demnach weder Ausdruck von Indeterminismus
noch von Erkenntnislücken, sondern Ausdruck eines essentiellen weichen Determinismus
und damit ein Moment objektiver Unbestimmtheit innerhalb objektiver Bestimmtheit.
© Alexander Neveling, Universität Oldenburg 13

Die erkenntnistheoretische Bedeutung und disziplinintegrative Kraft des Selbstorganisations-


paradigma wird durch die Gegenüberstellung der unterschiedlichen wissenschaftlichen
Weltbilder verdeutlicht:

Problem der Erklärung / Problem der Bestimmung des Problem der Begründung
des Verstehens Gesamtzusammenhangs menschlicher Werte

mechanische
Erklären durch naturalistischer Leugnung der
Reduktion Deduktion Determinismus Kausalitäts-
Rückführung Fehlschluss Willensfreiheit
auffassung

Behauptung
Verstehen Vorstellung von der anthropo-
der Existenz
Extrapolation Hermeneutik durch Analogie- Indeterminismus Bestimmtheit durch morphistischer
intrinsischer
bildung Transzendentes Fehlschluss
Werte

Behautptung
Verstehen des Vorstellung von der
der
Disjunktion jeweils Unabhängigkeit der
Beliebigkeit
Singulären Seinsbereiche
der Werte

Emergenz-
denken
Essentielle Unvollständigkeit
(Theorie der Systemare Evolution Praktischer Syllogismus
der Erklärung
Selbst-
organisation)

(nach einer Übersicht von Hofkirchner 2002)

Mit dem Paradigma der Selbstorganisation ist es möglich, ein Weltbild zu konstituieren, das
die Grenzen der Wissenschaft einbezieht, ohne ihre Möglichkeiten zu ignorieren. Waren bis
vor ca. einem Jahrhundert die Menschen davon überzeugt, mit wenigen Ausnahmen alles
Geschehen der Welt mathematisch erfassen zu können, weil man glaubte, dass es nur eine
Frage des wissenschaftlichen Fortschritts sei, die Regelmäßigkeit allen Seins zu benennen,
gewinnt mittlerweile zunehmend die Erkenntnis Raum, dass chaotische Zusammenhänge
und Entwicklungen unser Leben mehr bestimmen, als jemals für möglich gehalten.
Mit dem hier diskutierten neuen Weltbild wird dem wissenschafltichen Machbarkeitswahn
eine philosophische Grenze gesetzt, die vor allem auch für die spezielle Problematik der
Entwicklung pädagogischer Konzeptionen für das Schulsystem bedeutsam ist. Die Schule
stellt einen Bereich dar, der wie kaum ein anderer darauf abgestellt ist, sowohl als System
als auch in Form seiner individuellen Vertreter (Lehrer und Schüler) auf einzelne Individuen
zu wirken, um (gesamt-) gesellschaftliche, d.h. System bezogene Veränderungen (resp.
Stabilisierungen) zu schaffen. Da, wie oben gezeigt, pädagogische Handlungen nicht aus
wissenschaftlichen Theorien deduziert werden können, halte ich die systemtheoretische
Sicht für unverzichtbar zur Fundierung zukünftiger, im Schulsystem eingesetzter
pädagogischer Konzepte.

Gelingensbedingungen

Lernen begreifen wir sowohl als einen aktiven Modifikationsprozess der lernenden Person
als auch gleichzeitig als einen Prozess der Selbstorganisation. Damit können wir theoretisch
erfassen, dass einerseits die Realisierung von Gelingensbedingungen für die Gestaltung von
pädagogischen Prozessen notwendig ist, dass aber andererseits diese
Gelingensbedingungen nicht zwangsläufig zu pädagogischer Wirksamkeit führen
(Indeterminismus in Determinismus). In unserem Modellversuch verwenden wir die u.g. von
© Alexander Neveling, Universität Oldenburg 14

Schlee8 ausgearbeiteten Gelingensbedingungen, deren Realisierung er zur Erreichung


pädagogischer Ziele empfiehlt.

Abb.6: Gelingensbedingungen für Lernen

Entwicklungslogische Sequenzierung

Eine weitere Gelingensbedingung ist, die Lernenden nicht zu überfordern. Hierzu gehört,
Lernen als einen Entwicklungsprozess zu begreifen, d.h. als einen Prozess, bei dem
einzelne Entwicklungsschritte aufeinander aufbauen. Daher erscheint es für sinnvoll,
Ausbildung entwicklungslogisch zu sequenzieren. Hierbei sind zwei grundsätzliche
Entwickungsbereiche voneinander zu unterscheiden:
- Persönlichkeitsentwickung
- Entwicklung von Handlungskompetenz
Beide Entwicklungsbereiche korrelieren miteinander. In der bisherigen Ausbildungspraxis ist
allerdings der Persönlichkeitsentwicklung geringere Bedeutung beigemessen worden, da
letztlich das Ergebnis eines wirkungsvoll handelnden Berufspraktikers von Interesse ist.
Dass professionelles Handeln insbesondere in sozialen Berufen aus der Authentizität der
handelnden Person erwächst (und keine einfache Anwendung von Handlungsrezepten ist),
kann dabei allerdings leicht aus den Augen verloren werden. Entwicklungsaufgaben, die auf
die Persönlichkeit abzielen, sind zwar relevantlich gegenüber denjenigen, die auf die
Handlungskompetenz abzielen, untergeordnet. Zeitlich sollten sie aber vorgeordnet sein:

8
Schlee, J., in: Groeben, N. et al., Forschungsprogramm Subjektive Theorien, Francke 1988
© Alexander Neveling, Universität Oldenburg 15

Abb. 7: Entwicklungslogische Sequenzierung

Aus dieser Sequenzierung können Entwicklungsaufgaben abgeleitet werden, die aufeinander


aufbauen:

Abb. 8: Entwicklungsaufgaben
© Alexander Neveling, Universität Oldenburg 16

Diese Entwicklungsaufgaben stellen Schwerpunkte im Laufe der Ausbildung dar, die


curricular gestaltet werden. So kann z.B. in der Ausbildung von Sozialpädagogen zu Beginn
– etwa im Rahmen Kollegialer Evaluationsgespräche – das Augenmerk der Auswertungen
beispielsweise auf das persönliche Auftreten des Erzieheranwärters gerichtet sein, während
im weiteren Verlauf zunehmend andere Schwerpunkte bearbeitet werden, wie etwa im
Rahmen der zweiten Entwicklungsaufgabe die Kompetenz des Anwärters, sich selbst in der
Gestaltung der Beziehung zwischen Erziehungssubjekt und -objekt zu reflektieren.
Aufbauend darauf hat der angehende Erzieher die Aufgabe, pädagogische Prozesse mittels
wissenschaftlicher Theorien und der erworbenen praktischen Erfahrung in ihrer
Kausalstruktur zu erfassen. Erst daran anschließend bekommt die technologische
Perspektive (d.h. die Ebene der Gestaltung durch pädagogische Methoden) in der vierten
Entwicklungsaufgabe Gewicht.
Diese Entwicklungsaufgaben durchläuft der Anwärter in einem Spiralcurriculum (Bruner9) auf
jeweils höherem Niveau:

Abb. 9: Entwicklungslogische Sequenzierung entsprechend eines Spiralcurriculums

Die Überprüfung der Frage, inwiefern die Übertragung des Entwicklungsaufgabenkonzeptes


auf andere Berufsschulfächer sinnvoll und ergiebig ist, kann als ein Desiderat im Rahmen
des Modellversuchs LUST betrachtet werden.

9
Bruner, J., The Process of Education, Cambridge, Harvard University Press 1960

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