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Hans Füchtner

Individuelle und gesellschaftliche


Verwahrlosung
SOZIOLOGIE
Forschung und Wissenschaft

Band 39

LIT
Hans Füchtner

Individuelle und gesellschaftliche


Verwahrlosung
Psychoanalytische und sozialpsychologische
Diagnosen

LIT
½
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Inhaltsverzeichnis

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung. . . . . . . . 2
Denitionen von Verwahrlosung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Zum Begriff „gesellschaftliche Verwahrlosung“ . . . . . . . . . . 12
Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus. . . . . . 15

Verwahrlosende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
a) Klagen und Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
b) Globale sozialpsychologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . 26
c) Anthropologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
d) Ödipale Koniktvarianten und gesellschaftliche Pathologie . . 40

„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft. . . . . . . . 47


Die Grundlagen aller Kultur als Kriterium der Beurteilung gesell-
schaftlicher Pathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
Verwahrlosung als sozialpsychologisches Phänomen und als ge-
sellschaftsstrukturell bedingte Pathologie . . . . . . . . . . . . . 56

Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive. Die Grund-


legung durch August Aichhorn . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
a) August Aichhorns beruicher Werdegang . . . . . . . . . . . 58
b) Verwahrlosung in der Perspektive Aichhorns . . . . . . . . . 59
c) Der Verwahrloste und die Gesellschaft . . . . . . . . . . . . 61
d) Varianten der Genese von Verwahrlosung . . . . . . . . . . . 63
e) Aichhorn und die narzisstische Übertragung . . . . . . . . . . 71

Ergänzungen zu Aichhorns Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76


Siegfried Bernfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78
Ruth Friedlander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Anna Freud . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80
Lampl de Groot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

i
Inhaltsverzeichnis

Melitta Schmideberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Johnson und Szurek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Ruth Eissler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Aspekte der berücksichtigten Ergänzungen, die für die Frage ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung von besonderer Bedeutung sind . . 90

Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung . . . . . . . 92


Hugo Staub . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92
Karl Abraham . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
Helene Deutsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Lionel Finkelstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Phyllis Greenacre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen . . . . 98

Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische


Krankheitslehre durch Spanudis . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
a) Verwahrlosung und sekundäre Neurose . . . . . . . . . . . . 107
b) Behandlungstechnische Gesichtspunkte . . . . . . . . . . . . 117

Vom Verwahrlosten zum Psychopathen. Das Verschwin-


den des Verwahrlosten in Narzissmustheorien und seine
Metamorphosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und
Devereux. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie . 136

Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in


Sozialisationsprozessen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
a) Familie und Erziehung aktuell . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
b) Besondere Wirkungen des Mediums Fernsehen . . . . . . . . 149
c) Frühkindlicher Fernsehkonsum . . . . . . . . . . . . . . . . 150
d) Inhaltliche Aspekte des Fernsehkonsums. . . . . . . . . . . . 159

ii
Inhaltsverzeichnis

Psyche ofine und online . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163


a) Der Computer als Erweiterung der Person . . . . . . . . . . . 163
b) Leben im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166
c) Psychologische Auswirkungen des Internets . . . . . . . . . . 168

Verwahrlosung der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat . . . . . . . . 175

Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik . . . . . . . . . . . . 179

Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust . . . . . . 186

Verwahrloste in Zeiten enttäuschter Erwartungen . . . . . . . . . 190

Bibliographische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192

iii
Danksagung
Dieses Buch ist zum großen Teil unter arbeitstechnisch ungünstigen Bedin-
gungen entstanden. Ich bin deswegen meiner Tochter Veronika besonders
dankbar, dass sie mir so manche wissenschaftliche Publikation zugänglich
gemacht hat, an die ich sonst weder in der französischen Provinz noch in
Rio de Janeiro herangekommen wäre. Birgit Gärtner danke ich für kritische
Anmerkungen zu einer ersten Fassung dieses Buches.

Le Cailar/Rio de Janeiro,
März 2015

1
Einleitung
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung
In neuerer Zeit ist im Hinblick auf soziale und insbesondere moralische
Missstände in unserer Gesellschaft immer häuger von Verwahrlosung die
Rede. Einige Beobachter behaupten sogar, unsere Gesellschaft sei krank.
Klagen über den Verfall von Sitten und Anstand sind in der Geschichte
unserer Gesellschaft allerdings nichts Neues. Die Ciceronische Entrüstung
„o tempora, o mores“ fand immer wieder ihren Widerhall. Auch gegen-
wärtig werden immer häuger, vor allem in den Medien, Werteverfall und
Werteverlust und gesellschaftliche Verwahrlosung beklagt. Inwieweit die-
se Klagen berechtigt sind, lässt sich jedoch nicht objektiv beurteilen. Es
gibt keine unbestrittenen Maßstäbe dafür. Ebenso schwer zu beantworten
ist die Frage, ob die beklagten Missstände als Symptome einer Erkrankung
der Gesellschaft diagnostiziert werden können. Ich gehe in der folgenden
Auseinandersetzung mit dieser Thematik jedenfalls davon aus, dass die Zu-
nahme an Diskussionsbeiträgen dazu ein sozialpsychologisch bedeutsames
Symptom wichtiger gesellschaftlicher Veränderungen ist. Diese sind über-
wiegend die Ursachen der beklagten moralischen Missstände und nicht de-
ren Folgen, wie oft unterstellt wird.1 Es lohnt sich also zu fragen, ob sich
kausale Zusammenhänge zwischen dem, was ich in der Folge als „gesell-
schaftliche Verwahrlosung“ denieren werde, und bestimmten, für unsere
heutige Gesellschaft charakteristischen, tiefgreifenden Veränderungen auf-
zeigen lassen. Daran anschließend kann dann die Frage erörtert werden, ob
es überhaupt sinnvoll ist, von „kranker“ Gesellschaft zu sprechen.
Zu den tiefgreifenden Veränderungen, die berücksichtigt werden müs-
sen, weil sie eine wesentliche Rolle bei den Veränderungen unserer all-
täglichen Lebenswelt spielen, gehören wesentlich gewiss solche, die sich
durch die globalistische Transformation des neoliberalistischen Kapitalis-
mus weltweit und in Deutschland ergeben. So vor allem Veränderungen der
1
So wird z.B. häug Arbeitslosigkeit als moralischer Missstand denunziert, d.h. sie wird
mit Arbeitsunwilligkeit u.ä. erklärt und nicht als Folge bestimmter ökonomischer Ge-
gebenheiten.

2
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung

Gesellschaftsstruktur, der Arbeitswelt, der Familie und anderer herkömm-


licher sozialer Beziehungen und Bindungen. Zu berücksichtigen sind zwei-
fellos auch Veränderungen und besonders der Verfall bestimmter anthro-
pologischer Grundlagen und Konstanten, die sich als Folgen der moder-
nen Techniken der Menschenreproduktion und von Gentechnik allgemein
ergeben. Daneben spielen sicherlich auch die neuen Medien und die Um-
wälzungen der Informationstechnologie eine Rolle, die häug als „digitale
Revolution“ bezeichnet werden. Ihre Entwicklung erfolgt sehr rasch. Ih-
re psychologischen und sozialpsychologischen Auswirkungen sind bisher
nur unzulänglich erforscht. Dies gilt wesentlich für die sozialpsychologisch
unmittelbar wichtige Frage, wie die neuen Medien die Wahrnehmung ge-
sellschaftlicher Realität und unsere Denkweise beeinussen. Das gilt nicht
weniger für ihre psychologischen Auswirkungen auf frühe Sozialisations-
prozesse.2
Ich beziehe somit die aktuelle Werte- und Moraldiskussion auf sozi-
alpsychologische und psychologische Auswirkungen von Veränderungen
in ganz verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft. Soweit dazu sozi-
alpsychologische Interpretationen verschiedener theoretischer Orientierun-
gen zur Verfügung stehen, berücksichtige ich sie. Psychoanalytische Erklä-
rungen gewinnen in diesem Zusammenhang jedoch eine herausragende Be-
deutung, weil die psychosozialen Veränderungen sich in den Prozessen, in
denen Gewissen und Werthaltungen einsozialisiert werden, auswirken bzw.
in einer Wechselwirkung mit diesen stehen. Es gibt keinen anderen theoreti-
schen Ansatz, der geeignet wäre, die Zusammenhänge zwischen den allge-
meinen objektiv bedingten gesellschaftlichen Verwahrlosungserscheinun-

2
Dazu gibt es bisher vorwiegend empirische Untersuchungen mit meist unzulängli-
chen theoretischen Erklärungen der untersuchten Phänomene. Psychoanalytisch sind
die Auswirkungen bisher noch kaum untersucht worden. Das gilt in besonderem Maße
für die Psychoanalyse in Deutschland. In den USA gibt es mehrere psychoanalytisch
orientierte Publikationen zur Auswirkung des Gebrauchs von Computern und Internet.
So vor allem neben den Arbeiten der auch in Deutschland bekannten Autorin Sherry
Turkle eine Reihe von informativen Veröffentlichungen von John Suler. In Frankreich
gibt es sogar einen Psychoanalytiker, Serge Tisseron, der mit den modernen Medien
vertraut ist, sich in virtueller Realität auskennt und sich eingehend mit den Auswirkun-
gen der neuen Medien auf die frühkindliche Entwicklung beschäftigt hat. Siehe dazu in
der Folge und meine bibliographischen Angaben.

3
Einleitung

gen und den subjektiv bedingten, individuellen und kollektiven Verwahrlo-


sungstendenzen genauer darzustellen. Nur von ihm ausgehend lassen sich
plausible Verbindungen zwischen sehr komplexen psychischen Dispositio-
nen, unbewussten psychischen Veränderungen bei Individuen, den Sozia-
lisationsprozessen, in denen sie zustande kommen, und gesellschaftlichen
Veränderungen allgemein, aufweisen. Verwahrlosung hat in der psychoana-
lytischen Theorie zeitweise sogar besondere Beachtung gefunden. Es liegt
somit nahe, an den relativ alten Theoriestücken der Psychoanalyse anzu-
knüpfen.
Die zunehmenden Klagen über den Verlust moralischer Werte und weit
verbreitete Verwahrlosungstendenzen in unserer Gesellschaft – die Leute
haben kein Gewissen und keinen Anstand mehr und werden durch die Me-
dien, durch Gewaltvideos u.a. erst recht verdorben usw. – verweisen auf den
ersten Blick auf eine Über-Ich-Problematik und ihre psychosozialen Ursa-
chen. Diese sind in den frühen psychoanalytisch-pädagogischen Veröffent-
lichungen über Verwahrlosung untersucht worden. Sie sind bis heute noch
wichtig für die Arbeit mit jugendlichen Verwahrlosten und für psychoana-
lytische Sozialarbeit allgemein. Ihre allgemeine theoretische Bedeutung ist
aber im Laufe der Jahre weder genügend beachtet worden, noch wurden
die Ergebnisse sozialpsychologisch genützt oder gar systematisch weiter-
entwickelt. Sie erscheinen mir jedoch geeignet, einen kritischen sozialpsy-
chologischen Zugang zu gesellschaftlichen Verwahrlosungserscheinungen
zu bekommen.3
Ich mache im Folgenden zunächst eine Bestandsaufnahme der Phäno-
mene, die häug als Verwahrlosungssymptome gesehen werden. Da ihre
Zunahme immer wieder von Sozialwissenschaftlern und Politikern als Fol-
gen einer Erkrankung der Gesellschaft interpretiert werden, erörtere ich
die Frage, ob es überhaupt sinnvoll sein kann von einer kranken Gesell-
3
Verwahrlosungserscheinungen nden sich in ganz verschiedenen Gesellschaften. Auch
wenn sich die Erscheinungsformen manchmal gleichen, können doch ihre Ursachen und
ihre gesellschaftlichen Bedeutungen verschieden sein. Soweit ich meine Argumente mit
Belegen begründe, benütze ich bevorzugt Beispiele aus den deutschen Verhältnissen.
Die Problematik, die ich diskutiere ist aber eine der modernen kapitalistischen Gesell-
schaften überhaupt. Einen kurzen Überblick über psychoanalytische Auseinanderset-
zungen mit Verwahrlosung, sowie dissozialen und soziopathischen Persönlichkeiten,
gebe ich in Füchtner, 2013

4
Denitionen von Verwahrlosung

schaft zu reden. Dies führt zu den psychoanalytischen Auseinandersetzun-


gen mit dieser Frage und vor allem zu den psychoanalytischen Theorien
von Verwahrlosung allgemein. Diese Abhandlungen sind zum großen Teil
nicht bis in die Gegenwart weiterentwickelt worden. Ich zeige die Folgen
davon für heutige psychoanalytische Auffassungen von verwahrlosungs-
ähnlicher Psychopathologie. Ergänzend dazu verweise ich auf einige nicht-
psychoanalytische Abhandlungen, die auf pathologische Züge unserer heu-
tigen Gesellschaft verweisen. Im Anschluss daran berücksichtige ich neue
Faktoren, die sich sowohl in Sozialisationsprozessen als auch in gesell-
schaftlicher Dimension verwahrlosungsfördernd auswirken. Im letzten Teil
dieser Untersuchung diskutiere ich Veröffentlichungen, die bestimmte pa-
thologische Tendenzen der Gesellschaft – allerdings nur teilweise – kapita-
lismuskritisch analysieren. Diese Perspektive ist auch für meine Auseinan-
dersetzung mit gesellschaftlicher Verwahrlosung grundlegend.

Definitionen von Verwahrlosung

Mit Verwahrlosung kann Verschiedenes gemeint sein. Von Verwahrlosung


ist zum einen die Rede, wenn materielle Gegebenheiten sich verschlech-
tern, verfallen oder herunterkommen. So z.B. bezogen auf den Verfall von
ganzen Stadtvierteln, heruntergekommene öffentliche Einrichtungen, ver-
schmutzte Kinderspielplätze u.ä. Soweit in der Folge im jeweiligen Ar-
gumentationszusammenhang nicht ohnehin jeweils klar ist, was mit Ver-
wahrlosung gemeint ist, spreche ich auf diese Bedeutungsvariante des Be-
griffs bezogen von materieller Verwahrlosung. Bei materieller Verwahrlo-
sung handelt es sich sehr häug um durch äußere Umstände bedingte Ge-
gebenheiten, wie z.B. um die Folgen von ökonomischen Veränderungen,
z.B. dem Niedergang ganzer Industriezweige, von Fehlplanungen, Mittel-
kürzungen, politischen Entwicklungen, vom Verfall von Institutionen, or-
ganisatorischen Zwängen u.ä., Sie lässt sich meist nicht dem Handeln be-
stimmter Individuen ursächlich zuordnen. Ich spreche darauf bezogen auch
von objektiver bzw. objektiv bedingter materieller Verwahrlosung. Materi-
elle Verwahrlosung kann aber auch subjektiv bedingt, d.h. die Folge des

5
Einleitung

Handelns verwahrloster Menschen sein. So z.B. die Verwahrlosung von


Wohnungen, die durch ihre Bewohner verursacht wird.4
Zum anderen bezeichnet Verwahrlosung auch immaterielle Verwahrlo-
sung, d.h. das Herunterkommen, die Verschlechterung von Denk- und Ver-
haltensweisen, von Beziehungs- und Umgangsformen und charakterlichen
Eigenschaften von Menschen etc. In diesem Sinne sind vor allem bestimm-
te psychische Dispositionen wie Aggressivität, Egoismus, Neid u.a. ge-
meint. Und als Folgen davon moralische Verfehlungen, andauerndes Nicht-
beachten von Normen und Gesetzen, auch von ungeschriebenen „Geset-
zen“ und sozialen Regeln des Anstands u.ä. Verwahrlosung in diesem im-
materiellen, psychologischen Sinne ist subjektive Verwahrlosung und die
Auswirkungen davon sind subjektiv bedingte Verwahrlosungserscheinun-
gen. So kann z.B. Doping im Sport durch ungehemmten Ehrgeiz, materiel-
le Vorteile oder ähnliche Motivationen bedingt sein.5 Verwahrlosung kann
aber auch die Bezeichnung für einen ganz bestimmten Charakter sein, der
in einem engeren, genaueren Sinne analysiert und dargestellt wird. Das ist
in der Psychoanalyse der Fall.
Äußere Umstände können so stark das Handeln beeinussen, dass die
vorhandenen psychischen Dispositionen, die charakterlichen Eigenschaften
der Handelnden, eine relativ geringe Rolle spielen.6 Das gilt in oft schwer
durchschaubarer Weise auch für den Einuss, den institutionelle und orga-
nisatorische Rahmenbedingungen auf das Denken und Verhalten der Men-
schen in ihnen ausüben.7 Um objektiv bedingtes adaptives verwahrlostes
Verhalten handelt es sich z.B. in den Fällen, auf die das Sprichwort „Not
4
Materielle Verwahrlosung kann somit objektiv und subjektiv bedingt sein und immate-
rielle subjektive Verwahrlosung ebenfalls. Siehe dazu in der Folge.
5
Es kann auch objektiv bedingt sein, wie z.B. das erzwungene Doping in der DDR.
6
Dass gesellschaftliche Konstellationen Verwahrlosung verursachen können stellt Freud
auf die gesellschaftliche Situation im ersten Weltkrieg bezogen fest. Siehe dazu Freuds
Brief vom 22. November 1917, in dem er von „der Verwahrlosung“ spricht, „die uns
langsam im Laufe dieses Krieges durch den konstanten Druck, den wir auszuhalten
haben, überschleicht.“ Freud, S.; Andreas-Salomé, 1980, S. 75
7
Wie z.B. für die Binnenbeziehungen in bürokratisch organisierten Institutionen oder
z.B. hierarchisch-autoritär organisierten Krankenhäusern. Siehe zur Bedeutung sol-
cher in weiterem Sinne materieller Verhaltensdeterminanten z.B Lapassade, 1972 und
Jaques, 1955 und mehrere andere Arbeiten dieses Autors. Bezogen auf die organisierte
Psychoanalyse siehe Dahmer, 1988.

6
Denitionen von Verwahrlosung

kennt kein Gebot“ angewendet werden kann. Aber selbst in Fällen großer
Not sind psychische Dispositionen von Bedeutung.8 Verwahrlosungsphä-
nomene wie Korruption, Eigentumsdelikte, Fankrawalle, Steuerhinterzie-
hung, Gewalt gegen Ausländer usw. haben gesellschaftliche Ursachen, sind
aber ohne moralische Schwächen oder Defekte der handelnden Individuen
nicht möglich. Bezogen auf Eigentumsdelikte kann das das ganze Spektrum
zwischen „Not kennt kein Gebot“ und „Gelegenheit macht Diebe“ betref-
fen. Soweit Verwahrlosung überhaupt mit Individuen zu tun hat, hat sie
immer eine objektive soziale und eine subjektiv – individuelle Dimension,
bzw. objektive und subjektive Ursachen.9
Objektive und subjektive Verwahrlosung und ihre Folgen können sich
wechselseitig bedingen, müssen dies aber nicht. Und subjektive Verwahrlo-
sung im Sinne charakterlicher Eigenschaften führt nicht immer zu verwahr-
lostem Handeln. Wie in der Folge gezeigt wird, sind in psychoanalytischer
Sicht Verwahrlosung und abweichendes und delinquentes Verhalten nicht
dasselbe. Sie lassen sich aber auch nicht klar psychologisch voneinander
abgrenzen. Häug ist auch delinquentes Verhalten, das verharmlost oder
gar nicht als solches gesehen wird, weil es von vielen praktiziert wird. So
kann z.B. eine Täuschung von Kunden von manchen Geschäftsleuten guten
Gewissens praktiziert werden, weil es alle so machen.10 Erst recht, wenn es
sich um nicht justiziable Täuschungen handelt, wie z.B. Mogelpackungen.
Es ist auch möglich, dass verwahrlostes Handeln gar nicht als verwahrlost
wahrgenommen wird, weil die Verhältnisse verwahrlost sind. Es handelt
sich dann um gesellschaftskonforme Verwahrlosung, die aber an herkömm-

8
Allerdings nicht unbedingt in dem Sinne, dass eine psychische Störung vorliegt. Es kann
z.B. auch eine Art situationsbedingtes adaptives massenhaftes verwahrlostes bzw. delin-
quentes Verhalten geben, wie z.B. in der Not der frühen Nachkriegszeit die Variante des
Hamsterns, die nach einem Wort des Kölner Kardinal Josef Frings „fringsen“ genannt
wurde. Man brauchte deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben.
9
Materielle Verwahrlosung kann nicht immer plausibel mit subjektiver Verwahrlosung
in Beziehung gesetzt werden. So z.B. die Verwahrlosung ganzer Städte als Folge des
Niedergangs eines ganzen Industriezweigs.
10
Ähnliches gilt auch für andere Bereiche. In diesem Sinne haben in jüngster Zeit z.B.
auch Radsportpros Dopen gerechtfertigt. Der deutsche einstige Tour de France – Ge-
winner Jan Ullrich argumentierte, er habe doch durch sein Doping nur Chancengleich-
heit hergestellt. Es haben sowieso alle gedopt.

7
Einleitung

lichen Maßstäben gemessen Verwahrlosung ist und unter Umständen dann


doch noch gelegentlich als solche denunziert wird.11
Die Unterscheidung zwischen objektiv bedingter und subjektiv beding-
ter Verwahrlosung lässt sich auch auf Phänomene kollektiver Verwahrlo-
sung anwenden. So kann es sich z.B. bei häugem Herumlungern von
Drogenabhängigen und Dealern an einem bestimmten Ort um eine lose
Gruppenbildung handeln, die ihre Ursache darin hat, dass der Ort für ihre
Zwecke günstig ist. Es kann sich aber auch eine Gruppen- bzw. Banden-
bildung im engeren Sinne handeln, wie sie bei Verwahrlosten relativ häug
vorkommt und psychoanalytisch als Gruppenprozess spezischer Art ver-
standen werden kann. Um Bandenbildung handelt es sich aber auch, wenn
z.B. die Spitzenmanager von großen Unternehmen Preisabsprachen heim-
lich informell durch direkte persönliche Kontakte treffen. Auf solche Ober-
schichtphänomene bezogen wird allerdings selten von Verwahrlosung ge-
sprochen. Diese Bezeichnung wird in der Regel schichtspezisch begrenzt
angewendet.12
Bei dieser zunächst provisorischen Erörterung der Bedeutungen der Be-
zeichnung Verwahrlosung blieb bisher unberücksichtigt, dass sie im nicht-
wissenschaftlichen Gebrauch sehr ungenau ist. Soweit Menschen umgangs-
sprachlich als verwahrlost bezeichnet werden, handelt es sich gewöhnlich
um solche, deren Verhalten von den in ihrer sozialen Umgebung gesell-
schaftlich anerkannten Normen und – oft noch allgemeiner – von bestimm-
ten, als selbstverständlich unterstellten Verhaltenserwartungen andauernd
abweicht. Die Abweichungen können von sehr unterschiedlicher gesell-
schaftlicher Bedeutung sein. Sie können Gesetzesübertretungen sein, aber
auch nur ein Zuwiderhandeln in Bezug auf Sitten und Gebräuche. Das glei-
che Verhalten kann je nach der Situation, in der es praktiziert wird, ganz wi-
11
Dworschak spricht von einer „von der Gesellschaft mehr oder weniger anerkannten und
sanktionierten Verwahrlosung“. Siehe dazu die Fußnote 42. Zur Frage, was noch objek-
tiv als verwahrlost bezeichnet werden kann, wenn eine Gesellschaft als ganze verwahr-
lost und somit die herkömmlichen Kriterien für verwahrlost nicht mehr gelten, siehe in
der Folge.
12
Äußerungen wie die folgende des SPD-Chefs Sigmar Gabriel sind selten. Er hat Schwei-
zer Banken organisierte Kriminalität vorgeworfen, weil sie „bandenmäßig“ Steuern hin-
terziehen. SPIEGEL ONLINE 2012.08.12. Ihrer polemischen Absicht wegen werden
solche Charakterisierungen kaum ernstgenommen.

8
Denitionen von Verwahrlosung

dersprüchlich beurteilt werden. Die Bezeichnung verwahrlost wird immer


abwertend gebraucht und oft in Verbindung mit Eigenschaften wie schmut-
zig, ungepegt, verkommen und in psychologischer Bedeutung gemüts-
arm, bindungslos, labil, ablehnend, misstrauisch, aggressiv, unaufrichtig,
destruktiv. In dieser Bedeutung wird der Begriff vor allem auf Menschen
der Unterschicht angewendet.
Verwahrlosungserscheinungen sind jedoch unverkennbar auch in bes-
ser gestellten Schichten in erheblichem Ausmaß zu nden. Soweit dies
auch für Sozialisations- bzw. Erziehungsprozesse gilt, wird auch von
„Wohlstandsverwahrlosung“ gesprochen.13 Subjektive Verwahrlosung ist
also kein schichtspezisches Phänomen, aber ihre Erscheinungsformen
sind es zum Teil durchaus. Die für die Unterschicht typischen Varianten
werden häuger thematisiert und beanstandet als die der oberen Gesell-
schaftsschichten. Sie sind aber nicht unbedingt häuger, allenfalls auffäl-
liger. Verwahrlosungsformen der Oberschicht, insbesondere gesellschafts-
konforme Verwahrlosung, wie sie für das Funktionieren bestimmter ökono-
mischer und politischer Mechanismen Voraussetzung und nicht justiziabel
ist, werden selten Verwahrlosung genannt. Wie noch zu berücksichtigen
sein wird, ist die Existenz von Verwahrlosungstendenzen in der Bevölke-
rung aus der Sicht der Oberschicht und der Regierenden eine Tatsache, auf
die sie sich einstellen. Sie nehmen offensichtlich an, dass sie sich nicht
darauf verlassen können, dass die Mehrheit der Bevölkerung auch künf-
tig gewissenhaft, pichtbewusst und loyal tut, was man von ihr erwartet.
Zahlreiche Mechanismen von Überwachung, Kontrolle, Manipulation und
ideologischer Beeinussung sind sichere Indizien dafür.
Verwahrlosung als Charaktereigenschaft führt oft zu delinquentem Ver-
halten. Häug wird sie sogar überhaupt mit Delinquenz gleichgesetzt. De-
linquenz hat jedoch nicht immer mit Verwahrlosung oder irgendwelchen

13
Wobei nicht berücksichtigt wird, dass Verwahrlosung als Folge von scheiternder Erzie-
hung in oberen Gesellschaftsschichten eine andere Bedeutung hat. Wenn ein Kind in
diesen Schichten seinen Eltern gehorcht, kann es damit die Vorstellung verbinden, es
könne wie diese im Laufe der Zeit einen akzeptablen gesellschaftlichen Status errei-
chen. Ein Unterschichtkind kann das nicht unbedingt. Unberücksichtigt bleiben auch
Fragen wie die, welche Folgen es für die familiale Autorität von Eltern hat, wenn sie
arbeitslos werden, sozial ausgegrenzt werden u.ä. Siehe dazu Barron, 1954.

9
Einleitung

Formen von Psychopathologie zu tun. Die sogenannte Gelegenheitskrimi-


nalität umfasst wohl ohnehin den größten Teil des kriminellen Handelns.
Das heißt, dass die psychische Struktur bei vielen Delinquenten völlig nor-
mal ist.14 Umgekehrt kann dagegen, wie noch zu zeigen sein wird, in psy-
choanalytischer Sicht auch dann Verwahrlosung gegeben sein, wo weder
Delinquenz noch sonst ein abweichendes Verhalten vorliegt. Verwahrlo-
sung in diesem Sinne ist eine Variante psychischer Konstitution, die sogar
auf Dauer latent bleiben kann.
Während der Begriff Delinquenz in deutscher Sprache ein im Prinzip
straffälliges Verhalten bezeichnet, bezeichnet er in englischer Sprache ne-
ben gesetzeswidrigem Verhalten allgemein, Verhaltensweisen, durch die
die gesellschaftliche Ordnung gestört wird, unabhängig davon, ob sie einen
Verstoß gegen die Strafgesetzgebung darstellen oder nicht.15 Soweit von
Verwahrlosung auf die psychischen Eigenschaften von Individuen bezogen
die Rede ist, werden diese oft als Folgen von bestimmten Mängeln in der
Sozialisation verstanden. Vor allem als Folgen von Vernachlässigung in frü-
her Kindheit. Dementsprechend wird der Begriff im Französischen häug
mit abandon (Vernachlässigung, Verlassenheit, Hilosigkeit) übersetzt.16
Im Englischen ndet sich als Übersetzung aber auch waywardness (Ei-
genwilligkeit, Abwegigkeit, Unberechenbarkeit). Der Begriff bezieht sich

14
Siehe dazu Fenichel, 1945 (1983. S. 80 Und in der Folge
15
Schindler, 1980 S. 627. Diese Unterschiede komplizieren Übersetzungen in beide Rich-
tungen von psychoanalytischen Veröffentlichungen zum Thema Verwahrlosung. Nicht
immer ist klar, ob Verwahrlosung oder Delinquenz gemeint ist. In der Festschrift, die
Eissler für August Aichhorn organisiert hat, wird – wie im Titel – Verwahrlosung von
den meisten Autoren mit „delinquency“ übersetzt (Eissler, K. R., 1949) (1966a). Anna
Freud hat ihren Beitrag zur Festschrift für Aichhorn später selbst ins Deutsche übersetzt.
Sie benützte im englischen Text den Begriff „social maladjustment“ und übersetzte ihn
später mit Verwahrlosung, gelegentlich auch mit „Dissozialität und Verwahrlosung“. Es
wäre zweifellos das Beste, wenn der deutsche Begriff „Verwahrlosung“ auch in andere
Sprachen übernommen würde. Siehe zu dieser Frage auch in der Folge und die Fußnote
3 auf Seite 76.
16
Der Titel der ersten französischen Ausgabe von Aichhorns Buch „Verwahrloste Jugend“
lautet „Jeunesse à l’abandon“. Der Titel der späteren Ausgabe lautet „Jeunes en souf-
france. Psychanalyse et éducation spécialisée“. „Verwahrlosung“ oder „Delinquency“
mit „délinquance“ zu übersetzen ist nicht möglich. Delinquentes Verhalten ist im Fran-
zösischen kriminelles Verhalten.

10
Denitionen von Verwahrlosung

somit auch in diesen Varianten keineswegs nur auf gesetzeswidrige Verhal-


tensweisen von jugendlichen Verwahrlosten.
Bei der Denition von Verwahrlosung spielen somit kulturelle und ge-
sellschaftliche Vorstellungen von Normalität und „normalem“ Verhalten
und damit soziale Vorurteile eine große Rolle. Was in der einen Kultur oder
Gesellschaft oder gesellschaftlichen Situation „in Ordnung“ ist, kann in ei-
ner anderen als anstößig und unzulässig gelten. Während Delinquenz nach
juristischen Kriterien relativ klar deniert werden kann, ist Verwahrlosung
im gängigen psychologischen Sinne ein wesentlich sozialpsychologisch-
sozialpädagogisch bestimmter Begriff und dementsprechend gesellschaft-
lichem Wandel unterworfen.17 Es ist noch nicht lange her, dass in unse-
rer Gesellschaft lange Haare und Dreitagebart quasi als Zeichen von Ver-
wahrlosung gelten konnten. Es lässt sich auch nicht objektiv bestimmen,
in wie vielen Persönlichkeitsmerkmalen und Verhaltensweisen jemand ge-
sellschaftlichen Verhaltenserwartungen zuwiderhandeln darf, ohne dass er
als verwahrlost gelten müsste. Schichtunterschiede spielen eine erhebliche
Rolle. Eine wie große, kann man sich verdeutlichen, wenn man z.B. den
Ladendiebstahl einer Dame aus begüterten Verhältnissen mit dem Laden-
diebstahl einer armen Frau vergleicht. Während in letzterem Fall in der
Regel eine juristische Ahndung des Vergehens die Folge ist, wird man bei
ersterem Fall in der Regel eher an Kleptomanie denken und die Täterin
eventuell in psychotherapeutische Behandlung schicken.18

17
Das gilt allerdings zum Teil, wenn auch weniger rasch, auch für das was strafbar ist
und was nicht. Hier lassen sich vor allem die Sexualität betreffende Veränderungen des
deutschen Strafgesetzbuches nennen. Bis 1969 bzw. 1973 war männliche Homosexua-
lität strafbar. Ehebruch und Kuppelei im weiten Sinne bis 1973.
18
Staub, H., 1943. Siehe dazu auch Fromm, 1931, der darauf hinweist, dass auch bei der
armen wie bei der vermögenden Warenhausdiebin die Triebfeder ihrer Handlung im
Unbewussten liegen kann, dass ihr aber die Rationalisierung fehlt, weil die Rationali-
sierungsmöglichkeit fehlt. Es wäre somit falsch, von vornherein die reiche Diebin als
neurotische Kleptomanin, die arme aber als normale, psychisch gesunde Delinquentin
zu sehen. Natürlich liegt die Annahme nahe, dass eine arme Diebin gar nicht aus libidi-
nösen Motiven stiehlt, sondern nur aus Not, aber darüber kann nicht das Vorhandensein
der Rationalisierung etwas aussagen, sondern nur das Studium des Unbewussten der
kriminell gewordenen Persönlichkeit Aufschluss geben.

11
Einleitung

Zum Begriff „gesellschaftliche Verwahrlosung“


Wenn in einer Gesellschaft eine starke Zunahme von Verwahrlosung, fest-
gestellt werden kann, sei sie objektiver oder subjektiver Art, liegt es nahe
von einer Tendenz zu gesellschaftlicher Verwahrlosung zu sprechen. Mit
verwahrlosender Gesellschaft in engerem Sinne ist im Folgenden eine Ge-
sellschaft gemeint, die erhebliche objektive Verwahrlosungstendenzen auf-
weist, in der verwahrlostes Handeln auffällig oft vorkommt und die auch,
in erkennbarer Weise, in den in ihr erfolgenden Sozialisationsprozessen
das Entstehen subjektiver Verwahrlosung begünstigt. Es gibt freilich keine
wissenschaftlichen Kriterien für gesellschaftliche Verwahrlosung. Von den
wissenschaftlichen Denitionen von subjektiver Verwahrlosung her lässt
sich jedoch klären, welche gesellschaftlichen Bedingungen verwahrlostes
Handeln verursachen und subjektive Verwahrlosung in den Sozialisations-
prozessen fördern. Auf diese Bedingungen rückbezogen lassen sich selbst
in einer verwahrlosenden Gesellschaft noch Kriterien für die Existenz be-
stimmter Varianten objektiver Verwahrlosung angeben.
Die Beziehungen zwischen objektiv bedingten Verwahrlosungserschei-
nungen und den subjektiven individuellen Dispositionen für Verwahrlosung
sind sicher zum Teil wechselseitig. Angesichts der Komplexität und Wider-
sprüchlichkeit heutiger gesellschaftlicher Verhältnisse wäre es aber wohl
kaum möglich, im Sinne einer Sozialcharakterthese eine klare Kausalbezie-
hung zwischen gesellschaftlichen Gegebenheiten und den Sozialisationsre-
sultaten zu behaupten, die subjektive Verwahrlosung ausmachen.19 Erkenn-
bar ist allerdings auf Anhieb ein Zusammenhang zwischen den aktuellen
Verwahrlosungstendenzen und den in unserer Gesellschaft besonders häu-
gen narzisstischen Charakterstrukturen und narzisstischer Psychopatho-
logie.20 Individuelle subjektive Verwahrlosung wird ohnehin in der neue-
ren psychoanalytischen Literatur nur als eine Variante der in unserer Ge-
sellschaft am meisten verbreiteten narzisstischen Psychopathologie gese-
hen. Insofern kann mein Versuch, unsere Gesellschaft als verwahrlosende
19
Richards, 1984, S. 158. Das ist zu anderen Zeiten in psychoanalytischer Perspektive
auf andere psychologische Dispositionen bezogen mehrfach versucht worden. So vor
allem von Wilhelm Reich, Erich Fromm und den Autoren der Studien zum autoritären
Charakter von Adorno und anderen.
20
Siehe dazu in der Folge

12
Zum Begriff „gesellschaftliche Verwahrlosung“

zu charakterisieren, eine Ergänzung und Fortführung zu der umfassenden


Gesellschafts- bzw. Kulturanalyse darstellen, die Christopher Lasch vorge-
legt hat.21 Das gilt auch für die Entwicklung, die in folgendem Zitat von
Jürgen Habermas benannt wird: „Christopher Lasch hat diesen Symptom-
wandel (HF: die Zunahme narzisstischer Störungen etc.) zum Anlass für
eine weit über den klinischen Bereich hinausgreifende Zeitdiagnose ge-
nommen. Diese bestätigt, dass sich signikante Veränderungen der Gegen-
wart einer sozialpsychologischen Erklärung entziehen, die an der ödipalen
Problematik, an der Verinnerlichung einer in der elterlichen Autorität bloß
maskierten gesellschaftlichen Repression ansetzt. Besser greifen Erklärun-
gen, die von der Prämisse ausgehen, dass die in der Familie freigesetzten
Kommunikationsstrukturen ebenso anspruchsvolle wie anfällige Sozialisa-
tionsbedingungen darstellen. Es entsteht ein Irritationspotential; mit ihm
wächst auch die Wahrscheinlichkeit, dass sich Instabilitäten des elterlichen
Verhaltens unverhältnismäßig stark, und zwar im Sinne sublimer Verwahr-
losung auswirken.“22
Wenn man an Lasch anknüpft, muss man jedoch die Überlegungen
zum Verhältnis von Narzissmus und Gesellschaft berücksichtigen, die der
Kunsthistoriker Arnold Hauser schon Mitte der 60er Jahre in historischer
Perspektive angestellt hat. Er geht von dem marxistischen Begriff der Ent-
fremdung aus, der eine gesellschaftliche Pathologie, „ein Siechtum des so-
zialen Körpers“ ist.23 Ihre subjektive Entsprechung, deren Voraussetzung
sie ist, ist der Narzissmus als „Erkrankung der individuellen Psyche.“ Zwi-
schen den beiden Phänomenen gibt es keine Wechselwirkung, aber Nar-
zissmus als ein pathologischer Zustand ist nur in einer entfremdeten Ge-
sellschaft möglich. Für die Griechen bedeutete, wie Hauser ausführt, der
Mythus des Narkissos nicht mehr als eine Allegorie der Selbstliebe. Histo-
risch gesehen gibt es den Narzissmus, das Erlebnis der Isoliertheit von sei-
21
Lasch, 1979 (1986). Ich spreche in der Folge jeweils von verwahrlosender Gesellschaft
und nicht in Anlehnung an Lasch von verwahrlosender Kultur, beziehe mich aber selbst
auch auf die modernen kapitalistischen Gesellschaften allgemein und damit wesentlich
auf die westliche Kultur.
22
Habermas, 1981 (1988, Bd. II, S. 569). Inwiefern es sich um sublime Verwahrlosung
handelt, bleibt dahingestellt. Zur Bewertung der Bedeutung der ödipalen Problematik
siehe in der Folge. Ansonsten siehe Lasch, 1979 (1986).
23
Hauser, 1964 (1979, S. 114 ff). Dort auch zum Folgenden.

13
Einleitung

nen Mitmenschen und das auf sich Zurückgeworfensein im modernen Sin-


ne, erst seit dem Zeitalter des Manierismus. „Da empndet man zum ersten
Mal, von jeder Gemeinschaft abgeschnitten zu sein, oder jedenfalls in ei-
ner Zeit zu leben, in der jede Gemeinschaft sowohl mit der Vergangenheit
wie mit der Gegenwart, jede Verbindung mit den Überlieferungen der Vor-
fahren wie mit den Konventionen der bestehenden Gesellschaft fragwürdig
geworden ist.“(a.a.O. S. 116) Narzissmus als ein pathologischer Zustand ist
„Ausdruck der gleichen geistigen Krise, des gleichen Zurückgeworfenseins
auf sich selbst, der gleichen Hilosigkeit und Verlassenheit, wie die Ent-
fremdung.“ „Der narzisstische Charakter ist ein Individuum mit asozialen
Neigungen. Indem er seine Zuneigung auf sich selbst konzentriert, verliert
er jedes direkte Interesse an dem Mitmenschen, zieht sich von ihnen im-
mer mehr zurück, und steht ihnen nicht nur fremd, sondern zumeist auch
feindlich gegenüber. Er bewundert nur sich selbst und erwartet von den an-
deren nichts als dass sie ihn bewundern – dazu braucht er sie.“ Da die Ent-
fremdung dem Narzissmus vorausgeht und ihn einseitig bedingt, bedeutet
das, „dass wenn man von einer ‹narzisstischen› Kultur spricht und nicht
lediglich an die vorherrschenden Charaktertypen des betreffenden Zeital-
ters denkt, (. . . ) die Psychologie, die man im Grunde dabei treibt, nichts als
verschleierte, ungeklärte, nicht zu Ende gedachte Soziologie“ ist.
Diese Überlegungen lesen sich wie eine vorwegnehmende Kritik an
Lasch. Sie sind auch bezüglich der Diagnose gesellschaftlicher Verwahr-
losung zu berücksichtigen. Damit von einer solchen die Rede sein kann,
genügt es nicht, dass es viele Verwahrloste und Verwahrlosungsphänomene
gibt. Ihre Existenz muss im Zusammenhang mit den gesellschaftsstruktu-
rellen Voraussetzungen gesehen werden.24 Eine kritische Theorie der heu-
tigen Gesellschaft, die den marxistischen Entfremdungsbegriff berücksich-
tigt, steht jedoch aktuell nicht zur Verfügung.
24
Ich gehe in der Folge nicht darauf ein, dass unsere Gesellschaft ohne ein gewisses Maß
an Verwahrlosung und Delinquenz kaum vorstellbar und bestimmt ärmer wäre. Der bra-
silianische Liedermacher, Komponist und Sänger Caetano Veloso hat gesagt, aus der
Nähe betrachtet sei niemand normal. Es gibt jedoch Menschen und bestimmte gesell-
schaftliche Gruppierungen, bei denen es aus der Ferne so ist. So ist z.B. der Drogenkon-
sum in bestimmten Berufsgruppen, z.B. im Showgeschäft, und bei manchen Künstlern
und Kreativen fast normal.

14
Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus

Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus

Die Fragen, inwiefern von gesellschaftlicher Verwahrlosung die Rede sein


kann, und ob das, was sich gegebenenfalls so bezeichnen lässt, nur Folge
von aktuellen gesellschaftlichen Konstellationen ist oder auch in den Sozia-
lisationsprozessen in unserer Gesellschaft erzeugt wird und auf die gesell-
schaftlichen Verhältnisse zurückwirkt, berücksichtigen zwar einen komple-
xen, aber doch erheblich eingeschränkten Aspekt der Wertediskussionen.
Globalisierung und Neoliberalismus bewirken eine weltweite kapitalisti-
sche Durchdringung auch noch der letzten bisher eigenständigen gesell-
schaftlichen Bereiche und Institutionen. Und damit die, auch politisch ab-
gesicherte, rigorose Dominanz ökonomischer Gesichtspunkte in allen Le-
bensbereichen und eine Indienstnahme der Menschen, ihrer psychischen
Dispositionen als ganzen und in Teilen.25 Die Durchsetzung des kapitalis-
tischen Wertgesetzes hat aber mit moralischen Werten nichts zu tun. Sie
ruiniert sie nach Bedarf. Es gibt heute keinen gesellschaftlichen Bereich
mehr, der nicht kapitalistisch durchdrungen wäre und das heißt, in dem die
Beziehungen nicht auch warenförmig und damit marktorientiert wären.26
Fred Hirsch hat schon vor mehr als dreißig Jahren die „sozialen Gren-
zen“ unserer Gesellschaft scharfsinnig analysiert und dargelegt, wie die
Kommerzialisierung der sozialen Beziehungen „Soziabilität“ zerstört. Auf
der Strecke bleiben Vertrauen, Hilfsbereitschaft, Gegenseitigkeit Gutmü-
tigkeit, Verständnis, Empathie, Festigkeit, Zuverlässigkeit, Treue, Zunei-
gung, Liebe, Ehrlichkeit, Wahrheitsliebe, Wohlwollen, Selbstbeherrschung,
Pichtgefühl, u.a.27 Alles wird konsumierbar. Das reicht bis in die persön-
lichsten Alltagsbeziehungen hinein. Marktgerechte Selbstausbeutung und
Konsum des eigenen Körpers gehören dazu. Soziale, ethische und kulturel-
le Aspekte werden ausgeblendet. Unter diesen Voraussetzungen verursacht
„das politisch richtungslose Wirtschaftswachstum“ „sozial unerwünschte

25
Zur Ausrichtung alles Gesellschaftlichen an ökonomischen Interessen siehe Forrester,
1998. Mit „kapitalistischer Durchdringung“ meine ich das, was Marx in Bezug auf die
Arbeit im entwickelten Kapitalismus als „reelle Subsumtion“ unter das Kapital bezeich-
net.
26
Granou, 1972 (1974)
27
Hirsch, F., 1980

15
Einleitung

Nebenfolgen“, die von den konservativen Werteverlustkritikern „auf die


Ebene einer geistig-moralischen Krise verschoben“ werden.28
Der Historiker Russel Jacoby hat das vereinfacht formuliert: Die Rechte
verehrt den Markt und verucht die Kultur, die er erzeugt.29 Zu dieser Fest-
stellung gehört auch die Erkenntnis, dass für die Entwicklung des Kapitalis-
mus zu allen Zeiten kulturelle Voraussetzungen gehörten, die er selbst nicht
geschaffen hat und nicht schaffen konnte. Das ist bis heute so, wird aber
immer schwieriger und problematischer, insofern die kapitalistische Durch-
dringung aller gesellschaftlichen Bereiche alle Beziehungen der Warenlo-
gik unterwirft. Sie dominiert zunehmend selbst die intimsten menschlichen
Beziehungen und damit auch die Sozialisationsprozesse. Der Tauschwert
ist bis ins Schlafzimmer, ins Kinderzimmer und ins Krankenzimmer einge-
drungen. Alles wird nach den psychischen Kosten taxiert.30
Es kann zwar keine im engeren Sinne kapitalistische Weise des Fühlens
geben, denn der Kapitalismus lässt letztlich „kein anderes Band zwischen
Mensch und Mensch übrig“ „als das nackte Interesse, als die gefühllose
‚bare Zahlung‘“.31 Aber es gibt eine für den Kapitalismus, zu seinen Wi-
dersprüchen, seinen warenförmig dominierten Produktions- und Konsum-
tionsverhältnissen gehörende, charakteristische kapitalistische Kultur mit
einer typischen Denkweise, einer bestimmten Strukturierung von Zeit und
Raum u.a.32 Mit kapitalistischer Denkweise ist also nicht die des Kapita-
listen gemeint, der nur seine ökonomischen Interessen verfolgt, wesentlich
protorientiert denkt und sich ganz an Kosten-Nutzen-Erwägungen orien-
tiert, sondern das Denken, das nötig ist für die Reproduktion des Kapita-
lismus, für die Herstellung seiner ideologischen und sozialen Grundlagen.
Ein Denken, das ebenso widersprüchlich sein kann, wie der Kapitalismus
selbst. Ein wesentliches Merkmal ist seine Eindimensionalität, die Herbert
Marcuse analysiert hat.33 In neuerer Zeit ist immer häuger von Alternativ-
28
Habermas, 1985, S. 45
29
zitiert in Michea, 1999
30
Jacoby, 1980, S. 63.
31
Marx; Engels, 1872
32
Kovel, 1981 S. 57 ff. Zum Kapitalismus als Kultur siehe auch Füchtner, 1995. Zur ka-
pitalistischen Denkweise siehe Martins, 1986.
33
Marcuse, 1964 (1967). Sie äußert sich oft darin, dass selbst kapitalismuskritische Ver-
öffentlichungen bei der Frage nach notwendigen Konsequenzen nicht die der Abschaf-

16
Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus

losigkeit oder französisch von „pensée unique“ die Rede. Margaret That-
cher hat sie zum Dogma erhoben: „There is no alternative“, abgekürzt „Ti-
na“. Zur kapitalistischen Kultur und ihren vermittelnden gesellschaftlichen
Institutionen, vor allem der Familie, gehört also auch eine kapitalistische
Psychologie, bzw. die Existenz von Menschen, die in ihrem Fühlen und
Denken, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse mittragen.34
In dem Maße jedoch, in dem die Sozialisationsprozesse und die sozia-
len Verhältnisse dazu führen, dass Menschen sich in ihrem Handeln nur
noch an ihrem „nackten Interesse“ orientieren, werden Menschen mit an-
deren, nicht individuell-utilitaristischen Charakteren selten, ohne die auch
kapitalistisches Wirtschaften nicht möglich ist. Zu seinen Voraussetzungen
gehören z.B. unbestechliche Richter, pichtbewusste Beamte, engagierte
Erzieher und Sozialarbeiter, motivierbare, zuverlässige Arbeitskräfte, krea-
tive Ernder und Künstler usw. und natürlich Eltern, die ihre Kinder ohne
ökonomisches Kalkül liebevoll zu eben solchen „anständigen“ Menschen
zu erziehen versuchen. Ein Mangel an solchen Charakteren lässt sich nur
begrenzt durch Management „by objectives“, staatliche Eingriffe, direkte
soziale Kontrolle, Zwang und Manipulation kompensieren.35 Andererseits
stören charakterfeste Individuen häug durch die Inexibilität ihrer mora-
lischen Überzeugungen, sind also oft unerwünscht.
Diese Konstellation ist für die Frage nach dem Ausmaß heutiger ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung entscheidend. Einerseits wird in Soziali-
sationsprozessen allenthalben und permanent nichtkapitalismusspezische
Moral gepredigt, praktiziert und mehr oder weniger erfolgreich anerzo-
gen. Und in neuen gesellschaftlichen Bereichen, Institutionen und Funkti-
onszusammenhängen entstehen neue Ethiken, bzw. werden entworfen und

fung des Kapitalismus oder zumindest grundlegender Veränderungen in diesem Sinne


erörtern. Stattdessen enden sie moralisierend und empfehlen individuelle Verhaltensver-
änderungen. Siehe dazu in der Folge die Schlussfolgerungen von R.D. Precht und Frank
Schirrmacher.
34
Kovel, 1981
35
Gronemeyer spricht auch von einer „Moralisierung der Produkte“, deren Bedeutung
er wohl erheblich überschätzt. So muss z.B. bei Hotels, die als Zimmerschlüssel eine
Karte benützen, diese in einen Schlitz neben der Eingangstür gesteckt werden. Beim
Verlassen des Zimmers wird die Karte entnommen und damit werden automatisch die
Lichter gelöscht, also umweltfreundlich Strom gespart. Gronemeyer, 1996, S. 31f.

17
Einleitung

für verpichtend erklärt. So z.B. in der Internetkommunikation („Netiket-


te“). Andererseits wird durch die unaufhaltsame kapitalistische Durchdrin-
gung aller Lebensbereiche alles Moralische permanent in Frage gestellt.
Die schamlose Bereicherung vieler Banker und Spitzenmanager und die
Rettung von heruntergewirtschafteten Banken auf Kosten der Steuerzahler,
die in mehreren Ländern neues Elend verursacht, sind nur zwei von vielen
gleichartigen Tatbeständen, die zweifellos de-moralisierende Wirkung ha-
ben. Die Frage nach dem Ausmaß gesellschaftlicher Verwahrlosung in der
Gegenwart ist weitgehend die Frage nach dem Ausmaß des kapitalistischen
Erosionsprozesses der moralischen Dimension der Gesellschaft. Die Aus-
wirkungen davon, dass Moral sich nicht mehr von selber versteht, werden
allerdings dadurch abgeschwächt, dass „ununterbrochen Verhaltenskonven-
tionen“ eingerichtet werden, „die den Zustand, wenn nicht erträglich wer-
den lassen, so doch die volle Desintegration der gesellschaftlichen Prozesse
verhindern.“36 Die psychosozialen Grenzen des Wachstums in dieser gesell-
schaftlichen Konstellation sind jedoch erkennbar. Es sind dies Beschrän-
kungen der „gesellschaftlichen Knappheit und die Notwendigkeit eines so-
zialen Ethos“. „Wahrscheinlich haben wir die Grenzen einer expliziten ge-
sellschaftlichen sozialen Organisation erreicht, die ohne eine stützende ge-
sellschaftliche Moral existieren kann.“37
Unter den genannten Umständen wird integre Individualität zum Privi-
leg, das wenigen erreichbar und zugestanden wird. Was häug Individua-
lisierung genannt und mit Freiheit assoziiert wird, ist in Wirklichkeit we-
sentlich Vereinzelung und die Unterwerfung unter Zumutungen und Zwän-
ge, die vor allem im Erwerbsleben immer unerträglicher werden. So vor
allem die Bedrohung arbeitslos zu werden, bzw. der Zwang seine Arbeits-
kraft mit treibhausmäßig hergestellten Spezialqualikationen anzubieten,
Stress durch ständig gesteigerte Arbeitsanforderungen und – oft demüti-
gende – Anpassung an organisatorische Zwänge, und allgemein die gesell-
schaftlichen Zumutungen der Übernahme miteinander unvereinbarer Rol-
len. Der Zwang, immer wieder Entscheidungen, auch existenzielle, treffen
zu müssen, deren Folgen sich nicht einmal annähernd voraussehen lassen,

36
Mitscherlich, 1967 (1978)
37
Hirsch, F., 1980, S. 270

18
Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus

der permanente Zwang so zu tun, als ob man sich stets erfolgreich in Beruf
und Alltag behaupten könne, obwohl man oft auch fürchten muss, beruich
nicht mehr gebraucht zu werden und sozial abzustürzen.
Die Folgen dieser Zwänge und andere psychische Belastungen des
Arbeits- und des Alltagslebens verursachen psychische Probleme. Der weit
verbreitete Gebrauch von Psychopharmaka, von Drogen, kleine und große
Fluchten aus dem Alltag, wie z.B. vorzeitige Verrentung, regressive Infanti-
lität und andere Reaktionen dieser Art, sind Symptome zunehmender psy-
chischer Überlastung. Sie verweisen nicht nur auf Über-Ich-Probleme in
einer tendenziell amoralischen, weil zunehmend ökonomisch dominierten
Lebenswelt, in der eine unspezische Charakterlosigkeit das Überleben er-
leichtert. Sie verweisen auch auf Probleme des Ichs, das orientierungslos,
aufgespalten und vielfach korrumpiert wird.38 Dadurch werden über alle
Verwahrlosungserscheinungen hinaus massenhaft psychisches und psycho-
somatisches Leiden und in sich unstimmiges, inkonsequentes und unbe-
rechenbares, auch gewalttätiges Verhalten, verursacht. Diese Feststellung
führt von der Frage in wieweit von gesellschaftlicher Verwahrlosung die
Rede sein kann, zur umfassenderen Frage, ob es in unseren gesellschaftli-
chen Verhältnissen nicht nur soziale, sondern auch psychologische Grenzen
des Wachstums gibt. Sie kann hier nur ansatzweise berücksichtigt werden.

38
Die explosionsartige Verbreitung von Handys, speziell Smartphones, und der suchtar-
tige Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, sind in ihren Auswirkungen noch kaum
untersucht worden. Sie haben die zwischenmenschlichen Beziehungen in kurzer Zeit
stark verändert. Viele Nutzer der Handys müssen sich geradezu zwanghaft in kurzen
Abständen vergewissern, ob sie ein Nachricht bekommen haben oder eine neu Infor-
mation aus dem Netz, dem sie sich angeschlossen haben. Sie würden sich wohl sonst
isoliert und orientierungslos fühlen. Das ist vermutlich im Zusammenhang mit dem Ver-
lust an zuverlässigen gesellschaftlichen Orientierungspunkten zu sehen.

19
Verwahrlosende Gesellschaft
Klagen und Symptome
Die Klagen über Wertewandel, Werteverfall, Werteverlust, ein allgemeines
Schwinden von Moral und Anstand, kurz über einen allgemeinen Verfall
der Sitten und die schlimmen Folgen davon, werden unterschiedlich be-
gründet. Häug genannt werden der Verfall der Familie, zunehmende Kri-
minalität, Drogensucht, Medienverwahrlosung“ u.a. Das moralische Fun-
dament unseres Staatswesens wankt.1 Unsere Gesellschaft ist zur „Spaß-
gesellschaft“ verkommen, in der niemand mehr arbeiten will und die Un-
ternehmer dafür sorgen sollten „ die Energie, die in die Freizeit verpul-
vert wird, an den Arbeitsplatz zurückzuholen.“2 Kein Bundespräsident, der
nicht Werteappelle an die Bevölkerung richten würde. Die lautesten Kriti-
ker des moralischen Verfalls der Gesellschaft wissen sogar genau wer daran
schuld ist: die Eltern, die Schulen, die Medien, vor allem das Fernsehen und
verrohende Computerspiele und selbstverständlich die 68er Bewegung und
linke Intellektuelle. In den Argumentationen ist allerdings oft nicht klar,
1
Internationaler Arbeitskreis für Verantwortung in der Gesellschaft e.V., 2003. Im In-
ternet nden sich unzählige Veröffentlichungen zum Werteverlust allgemein und in
Deutschland im Besonderen. Ich benütze hier den Terminus Wert im umgangssprach-
lichen Sinn, also als positive Bedeutung, die einer Sache zugeschrieben wird. Bei den
Diskussionen, auf die ich mich im Folgenden beziehe, handelt es sich natürlich in erster
Linie um moralische Werte, d.h. solche die „eine Richtungsanweisung für das Handeln“
(Hartmann, 1960) (1992) implizieren und gegebenenfalls von Bedeutung für den Fort-
bestand der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse sein können. Die Begründungen
für die positive Bewertung solcher Werte können verschiedener Art sein. Sie sind zum
Teil religiöser und weltanschaulicher, zum Teil rationaler bzw. pragmatischer Art.
2
Hahne, 2004, S. 39. Das ist eine zynische Behauptung. Zum Zeitpunkt der Veröffent-
lichung von Hahnes Forderung betrug die Arbeitslosigkeit in Deutschland fast 10%.
Hahnes Argumentation ist auch ein bemerkenswertes Beispiel für modernen marktkon-
formen Konservativismus. Selbst seine Betonung der Notwendigkeit einer Rückkehr zu
religiöser christlicher Wertefundierung, wird von ihm warenförmig-marktkonform be-
gründet: „Unsere Kirchen brauchen eine Konzentration auf ihr Kerngeschäft, einen ech-
ten Produktstolz, um auf dem diffusen Markt der Sinnangebote konkurrenzlos wichtig
zu bleiben.“

20
Verwahrlosende Gesellschaft

ob der beklagte Werteverlust die gesellschaftlichen Übel verursacht oder


umgekehrt bestimmte gesellschaftliche Veränderungen den Werteverlust.
Viele der Klagen sind nicht viel Besseres als übellaunige öffentliche
Äußerungen von konservativen Zeitgenossen, denen nichts passt, was über-
lieferte Werte in Frage stellt. Sie haben keinen Erkenntniswert, es sei denn
den, dass Freuds Meinung, das Moralische verstehe sich ja von selbst, kei-
ne Geltung mehr beanspruchen kann.3 Manche Klagen sind schon vor Jahr-
hunderten fast wörtlich so formuliert worden wie heute. Das gilt unter an-
derem für die Plädoyers für ein traditionelles Familienleben und dafür, dass
die Frauen wieder vor allem Kinder gebären und zuhause versorgen soll-
ten.4
Einige Beiträge benennen allerdings auch zutreffend problematische
Sachverhalte und Widersprüche der Thematik. So z.B. Ulrich Wickerts
pfg betitelter Beitrag zur Diskussion „Der Ehrliche ist der Dumme“.5
Tatsächlich kann es problematisch sein, unbedingt ehrlich sein zu wollen
und seine Kinder zu Ehrlichkeit zu erziehen, wenn der Ehrliche in unse-
rer Gesellschaft nur allzu oft der Dumme ist. Diese Erkenntnis wird auch
schon in der Rechtsprechung berücksichtigt. So gibt es ein „Recht auf Lü-
ge“ wenn bei Bewerbungsgesprächen unzulässige Fragen gestellt werden.
So z.B. Fragen zur Religions- Partei- oder Gewerkschaftszugehörigkeit, so-
wie zur Lebensführung und bei Frauen nach einer bestehenden Schwanger-
schaft.6
Irritierend an den Wertediskussionen ist immer wieder auch, dass die
Qualität der Argumente keineswegs der herausragenden gesellschaftlichen
Stellung der Argumentierenden entspricht. So bekannte z.B. der damals de-
signierte Bundespräsident Roman Herzog, also eine gesellschaftliche Au-
torität, dass er es in der Kindererziehung für richtig halte, auch mal „eine
3
Freud zitiert in diesem Sinne eine Person aus einem Stück von Th. Vischer. Freud, S.,
1905
4
So z.B Hahne, 2004. Vergl. dazu Rousseau, der das Ammenwesen kritisiert und behaup-
tet, wenn die Frauen ihre Kinder wieder selbst nähren würden, würden die Sitten sich
von selbst bessern, das Familienleben würde wieder gesunden und der Staat würde sich
wieder bevölkern. Rousseau, 1762 (1910, S. 33)
5
Wickert, 1994
6
Siehe dazu die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts im Oktober 1992. FR (Frank-
furter Rundschau) 16.10.1992 und FR 07.02.1992

21
Verwahrlosende Gesellschaft

hinter die Löffel“ zu geben. So z.B. als einer seiner Söhne eine Lampe um-
geworfen habe, obwohl er ihn gewarnt habe. Das Kind war damals neun
Monate alt.7 Und während der eine Spitzenpolitiker meint, angesichts un-
serer gesellschaftlichen Misere brauchten wir eine Vision (Roman Herzog)
meint der andere (Helmut Schmidt), wer Visionen habe, sollte lieber gleich
zum Arzt gehen. Da die meisten Kritiker des Werteverfalls jeweils von der
Allgemeingültigkeit ihrer Wertvorstellungen völlig überzeugt sind, werden
wesentliche Fragen ausgeblendet, vor allem die, ob es in einer Demokratie
Werte geben muss, die universelle Gültigkeit besitzen oder ob es genügt,
sich auf universell anerkannte demokratisch organisierten Verfahren zu ei-
nigen, in denen Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Werte-
vorstellungen möglich sind.8
Wenn man bedenkt, dass in Deutschland erst durch einen verlorenen
Krieg gesellschaftliche Verhältnisse beseitigt werden konnten, in denen es
möglich war, dass rassistische Vorurteile als angeblich wissenschaftlich
verbürgte Wahrheiten zur Staatsideologie erhoben wurden, dass Millionen
von Menschen mit Berufung auf diese Ideologie ermordet wurden und ein
Krieg angezettelt wurde, durch den weitere Millionen Menschen ums Le-
ben kamen oder ins Elend gestürzt wurden, dann kann man, wenn man
will, feststellen, dass heutzutage die Verhältnisse doch gar nicht so schlimm
sind.9

7
FR 10.06.1994
8
Letzteres ist die Position von Jürgen Habermas. Seine Rede anlässlich der Verleihung
des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 2001 enthält wesentliche
Teile seiner Argumentation in konzentrierter Form. Dazu auch Habermas, 1998. Ralf
Dahrendorf verwies darauf, dass der Behauptung, Gesellschaften würden durch eine
Art der Übereinstimmung der Werte zusammengehalten, empirische Zeugnisse klar wi-
dersprechen Dahrendorf, 1961, S. 95
9
Auf die Nazizeit bezogen von einem Werteverfall zu sprechen, wäre unzutreffend. Ei-
nerseits wurden grundlegende menschliche Wertorientierungen von Staats wegen in ihr
Gegenteil verkehrt, d.h. verurteilt und kriminalisiert und an ihrer Stelle Handlungsori-
entierungen befohlen, die Werte zu nennen, nicht angemessen wäre. Andererseits wur-
den bestimmte Tugenden wie Pichtgefühl, Zuverlässigkeit, Fleiß, Disziplin u.a., die
sogenannten „Sekundärtugenden“, hochgehalten, aber dadurch pervertiert, dass sie für
die verbrecherischen Ziele des Regimes instrumentalisiert wurden. Eine „ungeheuerli-
che Verbindung von Mord und Moral, von Verbrechen und Anständigkeit“, charakteri-
siert den Kern der Täter-Mentalität. „Im Rahmen einer so gearteten NS-Ethik wurde ein

22
Verwahrlosende Gesellschaft

Das wäre jedoch ein schwacher Trost, denn die Wertediskussionen the-
matisieren zumindest punktuell Verhaltensveränderungen, die selbst dann
beunruhigen können, wenn man nicht unbedingt an überkommenen Wert-
vorstellungen festhalten will. Das gilt nicht nur für den Eindruck, den die
Medien vermitteln. Das kann jeder in dem gesellschaftlichen Bereich veri-
zieren, in dem er sich auskennt. So konnte ich als Hochschullehrer feststel-
len, dass heutzutage bei Studenten das Zusammenstoppeln von im Internet
zugänglichen Texten gängige Praxis ist. Zwar wurde auch schon in frühe-
ren Zeiten abgeschrieben, aber in Form des Copy-Paste-Syndroms10 hat der
Diebstahl von geistigem Eigentum Ausmaße angenommen, die erstaunlich
und neu sind. Oft wird auch gar nicht anerkannt, dass es sich um Diebstahl
handelt. Selbst manche Doktoranden und sogar arrivierte Professoren erlie-
gen gelegentlich der Versuchung.11 Einige ohne jegliches Schuldbewusst-
sein, wie auch mehrere prominente Politiker, darunter ein deutscher Minis-
ter und eine Ministerin, deren Doktortitel aberkannt wurden und die ihre
Ämter aufgeben mussten.12 Auch die Beliebigkeit mit der Studenten zu Vor-
trägen und Seminaren zu spät kommen, vorzeitig wieder gehen, tuscheln,
ihr Handy benutzen, essen und trinken etc., ist kaum anders als akademi-
sche Verwahrlosung zu bezeichnen. Ebenso die Flucht mancher Hochschul-

völlig neuer Begriff von Anständigkeit kreiert und zur Verpichtung gemacht.“ Benz;
Graml; Weiß, 1997, S. 156 Auch Mitscherlich konstatierte bei den Nazis „einen neu-
en Typus des moralischen Bewusstseins“. „Das ist nicht mehr die doppelte Moral des
Bürgers, hinter der doch das eine Gewissen stand, sondern eine Verdoppelung der Exis-
tenz und des Reagierens. Offenbar fehlen uns in unserer Sprache noch die Begriffe und
die Geläugkeit, um diese neue Verfassung angemessen zu benennen.“ (Mitscherlich,
1967) (1978, S. 180). Dass die Naziverbrecher dann in der neuen westlichen Demokra-
tie weitestgehend unbehelligt blieben, ist demgegenüber eine im herkömmlichen Sinne
moralische Katastrophe. Siehe dazu Friedrich, 1984 und Giordano, 1987 (1990)
10
siehe Stefan Weber im SPIEGEL 7/2007
11
An der Grenze zu Betrug kann man das häuge Recyceln von wissenschaftlichen Ver-
öffentlichungen lokalisieren. Das wiederholte Publizieren von Arbeiten, bei denen der
Titel geändert wird und nur ein paar unwesentliche Veränderungen in Aufbau und
Text vorgenommen werden, kann Veröffentlichungslisten beeindruckend verlängern
und dem beruichen Ansehen und Fortkommen nützen.
12
Im Licht der unten folgenden Erörterungen zu Verwahrlosung ließe sich, soweit das an
Hand von Mediendarstellungen der Person möglich ist, zu Guttenberg durchaus als ein
Fall von Verwahrlosung charakterisieren. Siehe dazu Wirth, 2011, der ihn allerdings nur
als narzisstische Persönlichkeit und nicht spezischer als Verwahrlosten charakterisiert.

23
Verwahrlosende Gesellschaft

lehrer vor ihren Verpichtungen den Studierenden gegenüber. Desgleichen


die Missachtung des Publikums durch Vortragende, die ungenügend vorbe-
reitet sind.
Von vergleichbaren Beobachtungen her, wie sie jeder in seinem Bereich
sozialer Kompetenz machen kann, erscheinen Medienberichte über Ver-
wahrlosungssymptome in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die man
selbst nicht zuverlässig beurteilen kann, durchaus glaubwürdig. Die aber er-
geben ein schlimmes Bild: Schiedsrichterbestechung, Doping im Sport und
zunehmend auch im Berufsalltag, Kindesmisshandlungen, sexuelle Verge-
hen, Suchtkrankheiten, Fankrawalle, auf „geile ghts“ erpichte jugendli-
che Banden, Kinder, die sich bis zur Besinnungslosigkeit betrinken, rechts-
radikaler Mob, Mobbing am Arbeitsplatz, Cyberkriminalität, rassistische
Diskriminierungen, Antisemitismus, Ausländerfeindlichkeit, brutale Prü-
geleien von Schülern, Rücksichtslosigkeit und Gewalt gegenüber Behin-
derten, Straßenkriminalität, Vandalismus, Crashtests mit Leichen in der
Automobilindustrie13 , geldgierige Manager und Banker, sowie skrupellose
Finanzjongleure, Polizisten, die prügeln und sich vor Gericht gegenseitig
aus Korpsgeist decken und falsch aussagen, usw., bis hin zu horrorlm-
ähnlichen Gewaltverbrechen von Jugendlichen, die es so noch nicht lan-
ge gibt. Dazu zählen kann man wohl auch manche kulturellen Phänome-
ne wie Theaterinszenierungen, die jede Geschmacksgrenze überschreiten.
Ebenso die oft unsäglich vulgäre Ausdrucksweise schon von Kindern, eine
allgemeine Verhunzung und Verwahrlosung der Sprache, die Nachmittags-
Talk-Shows im privaten Fernsehen mit ihren vulgären Themen, in denen oft
Personen zu Wort kommen, die man eigentlich vor ihrer Selbstentblößung
schützen und zum Psychotherapeuten schicken müsste, und anderes mehr.14
Manche andere Phänomene fallen zwar nicht so sehr auf, sind aber von
erheblicher Bedeutung. So ist Steuerhinterziehung zum „Volkssport“ ge-

13
An der Universitätsklinik Heidelberg wurden seit 1975 bei Auto-Unfall-Tests über 200
menschliche Leichen verwendet. Angeblich mit dem Einverständnis der Eltern auch die
Körper von sechs toten Kindern. FR 24.11.93. Dazu auch DER SPIEGEL 48/1993
14
In der FR vom 12.03.99 ndet sich eine Aufzählung solcher Talk-Show-Themen: „Ich
liebe Dich, aber Du bist es nicht wert“, „Mama, schmeiß Papa raus“, „Jede Frau ist eine
Hure“, „Mein Mann denkt, ich bin blöd“, „Du Penner, Du hast Dein Leben verpfuscht“,
usw.

24
Verwahrlosende Gesellschaft

worden, der den Staat Milliarden kostet. Dabei handelt es sich vor allem
um einen „Spitzensport“, d.h. um ein „typisches Upper-class-Delikt“.15 Ein
solches ist natürlich auch die Bespitzelung von Firmenangehörigen. Ganz
erstaunliche Ausmaße hat seit den 90er Jahren die Korruption angenom-
men.16 Skandale um die Hamburger Ausländerbehörde (1994), bei der 200
Personen im Verdacht standen, und um Bürgermeister und Ratsmitglieder
im Hochtaunuskreis (1991), sind offensichtlich nur herausragende Spitzen
eines Phänomens, das Schlagzeilen verursacht wie: „Kriminalisten sehen
Korruption wie ein Krebsgeschwür wuchern“, „Experten befürchten Ge-
fahr für die Demokratie!“, „Korruption von Beamten nimmt stark zu.“17
Überdies gibt es organisiertes Verbrechen bereits in einem Ausmaß, das
Befürchtungen weckt, es könnte schon in wenigen Jahren für Europa und
besonders für die Bundesrepublik zu einer „nationalen Existenzfrage“ wer-
den.18
Im Einzelnen ist kaum etwas von alledem ganz neu, aber das Ausmaß
schon und die weite gesellschaftliche Verbreitung. So haben Sozialforscher
eine weit verbreitete „Kriminalität der Braven“ ausgemacht: „Selbst der
Ruf jener Stände, die im Ansehen traditionell ganz oben rangieren, ist ram-
poniert. Ärzte müssen sich zu Hunderten wegen Betrügerei verantworten;
Bankiers werden der Beihilfe zur Schwarzgeld-Schieberei in großem Stil
bezichtigt; Unternehmer plündern die Staatskassen mit illegalen Preisab-
sprachen; Polizeibeamte schwören Meineide zugunsten von Kameraden;
Beamte erschwindeln sich die Frühpensionierung; Wissenschaftler fälschen
Ergebnisse von Versuchsreihen. Selbst Notare, Inbegriff der Seriosität, ge-

15
So formuliert DER SPIEGEL. Er bezifferte 1999 den jährlichen Verlust auf ca. 150
Milliarden. In: SPIEGEL Special. Volk ohne Moral. Nr. 1 / 1999. In neuerer Zeit haben
Fälle von prominenten Steuerhinterziehern doch erhebliches Aufsehen erregt.
16
Ein Sachverhalt, mit dem sich schon der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter be-
schäftigt hat. Sein satirisches Lob der Korruption ist auch eine Art Streifzug durch eine
verwahrlosende Gesellschaft. Nicht satirisch ist jedoch seine Feststellung, dass die Kor-
ruption der Mächtigen nur symptomatisch ist für die „weit umfassendere Korruption
unserer Kultur des egoistischen Expansionismus, der geheiligten Rivalität und des Sie-
germythos.“ Richter, 1989 S. 15. Dazu auch Scholz, 1995
17
FR 09.11.1996, FR 12.06.1995
18
FR 09.03.1990. Vergleiche dazu auch den Vortrag von Roberto Scarpinato, dem leiten-
den Oberstaatsanwalt der Anti-Maa-Direktion Palermo. FR-Online 08.02.2010

25
Verwahrlosende Gesellschaft

raten nun bisweilen in Versuchung, sich am Anderkonto von Mandanten


zu vergreifen.“19 Neu ist auch, dass seit einigen Jahren vulgärmachiavel-
listische Ratgeber veröffentlicht werden, die Anleitungen geben, wie man
sich rücksichtslos durchsetzen, unliebsame Kollegen und Rivalen mobben
und sich als Egoist wohl fühlen kann.20 Oder auch, dass ungeniertes literari-
sches Plagiieren unverfroren gerechtfertigt wird.21 Die Vorzüge von bisher
als unerfreulich geltenden Charakterzügen werden betont: „Geiz ist geil“.
Umgekehrt wird freundliches und zuvorkommendes Verhalten immer häu-
ger als Schwäche angesehen. Betont freundliches Verhalten weckt Miss-
trauen, was damit wohl bezweckt wird.22

Globale sozialpsychologische Aspekte


Wenn man über die Grenzen der einzelnen Gesellschaften hinausblickt,
wird besonders deutlich, dass das, was als Verwahrlosung gerne laut be-
klagt wird, nur ein Teilaspekt von einer Verwahrlosung ist, die zu den Ver-
hältnissen gehört, die die gegebene „Weltwirtschaftsordnung“ weltweit be-
dingt. Zu ihr gehören extremes Elend in weiten Bereichen der Welt, und
selbst große Armut in vielen reichen Ländern. Und in neuester Zeit die
Verelendung großer Teile der Gesellschaften, vor allem in südeuropäischen
Ländern, in denen eine rigorose Sparpolitik durchgesetzt wird, durch die
bekämpft werden soll, was als Finanzkrise bezeichnet wird. Zu nennen ist
ebenso die gewaltsame Durchsetzung von Machtinteressen durch Kriege.
Die Rüstungsausgaben weltweit brachen im Jahre 2008 alle Rekorde.23 Da-
zu gehören außerdem Sachverhalte, die in den Klagen über die moralischen
Dezite unserer Gesellschaft eher selten thematisiert werden, wie die Tatsa-
che, dass Deutschland zu den größten Waffenproduzenten der Welt gehört
und Waffen auch an Diktaturen verkauft, dass Deutschland sich an einem
19
SPIEGEL Special 1 / 1999 S. 17
20
Vergl.: Chapman, 1972, Kirschner, 1974, Kirschner, 1976, Beck, 2009, Joule; Beauvois,
1987. Eher kritisch distanziert: Noll; Bachmann, 1987 (1995).
21
Wie im Fall des Buches Axolotl Roadkill von Helene Hegemann. In jüngster Zeit wur-
den auch in Frankreich zunehmend Plagiatsfälle bekannt.
22
vergl Philips; Taylor, 2009
23
FR Online 09.06.2009

26
Verwahrlosende Gesellschaft

völkerrechtswidrigen Krieg beteiligt hat, dass es den engen Verbündeten


USA wegen seiner Kriegstreiberei und Folter nicht scharf kritisiert, dass
es gegenüber den armen Staaten der Dritten Welt nicht weniger ungeniert
seine Interessen vertritt als die anderen großen Industriestaaten auch, dass
man sich mit Staaten verbündet und Geschäfte mit und in ihnen macht,
die die Menschenrechte systematisch missachten.24 Solche Gegebenheiten
gelten de facto als normal und werden in der Regel in den Medien eher
realpolitisch – pragmatisch als moralisch diskutiert.25
Auch Fragen nach den moralischen Implikationen der Entwicklung,
dass sich auch in unserer Gesellschaft die Schere zwischen Arm und Reich
immer weiter öffnet, dass durch Bankenrettung Sozialsysteme ruiniert wer-
den, dass viele arbeitswillige Menschen auf Grund von Arbeitslosigkeit
oder miserabel bezahlten Gelegenheitsarbeiten arm sind,26 dass unterstellt
wird, der Hartz-IV-Regelsatz erlaube ein menschenwürdiges Leben und gar
gesellschaftliche Teilhabe, dass Kinderarmut häug ist und Altersarmut zu-
nimmt und dass dem Reichtum unserer Gesellschaft in der gegebenen Welt-
wirtschaftsordnung das Elend von mehr als einer Milliarde Menschen in
anderen Gesellschaften gegenübersteht, dass unsere Wirtschafts- und Le-
bensweise für diese Menschen Hunger und Tod bedeutet, dass die Um-
welt ohne Rücksicht auf künftige Generationen zerstört wird, können nur
zu de-moralisierenden Antworten führen.27 Sie verweisen auch darauf, dass
moralische Verwahrlosung nicht ein Phänomen ist, das allein bestimmten
Menschen angelastet werden kann.
Soweit man aber andererseits Menschen nicht nur als Charaktermas-

24
Der Frankfurter Verfassungsrechtler Ehrhard Denninger konstatiert, dass sich Recht und
Gewalt immer weiter voneinander entfernen. Die seit dem Ende des Dreißigjährigen
Kriegs (1648) geltende Friedensordnung, die sich über das Recht denierte, gelte nicht
mehr. Stattdessen etabliere sich eine „Weltgewaltordnung“ einer einzelnen Macht. FR-
Online 20.08.2005
25
Ich gehe hier nicht darauf ein, dass es zahlreiche Gruppierungen engagierter Bürger
gibt, die sich gegen solche Missstände engagieren und protestieren.
26
siehe dazu z.B. Breitscheidel, 2008
27
Dass die bestehende „Weltwirtschaftsordnung“ ein absoluter Skandal ist, wird allein
schon durch die Tatsache belegt, dass der britischen Hilfsorganisation Oxfam zufolge
im kommenden Jahr das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen wird als
die restlichen 99 Prozent. Spiegel Online 19.01.2015

27
Verwahrlosende Gesellschaft

ken und Funktionsträger sieht, sondern Verantwortung für bestimmte ge-


sellschaftliche und soziale Verhältnisse auch Personen zuordnen kann, ist
besonders deutlich, dass moralische Verwahrlosung nicht speziell ein Pro-
blem ärmerer Schichten ist. Das lässt sich kaum besser belegen, als mit
dem Hinweis darauf, dass es noch vor kurzem möglich war und zum Teil
noch ist, dass die politisch Verantwortlichen der mächtigsten Demokratie
der Welt, um ihre Interessen durchzusetzen, nicht nur einen völkerrechts-
widrigen Krieg beginnen konnten, sondern sich auch der Folter bedienten
und bedienen und mit Hilfe von unbemannten Drohnen zivile Feinde ohne
Urteil und öffentliche Rechtfertigung in einem nicht deklarierten Krieg tö-
ten.28 Es sind Menschen der Oberschicht, die für solche Taten persönliche
Verantwortung tragen. Sie werden jedoch nicht zur Rechenschaft gezogen.
Ihr Land ist dadurch nicht in Isolierung oder in Konikte mit den anderen
demokratischen Gesellschaften geraten. Es ist offensichtlich ein besonderes
Problem, wenn ganze Staaten delinquent werden.29
Von Marx’ stammt die These, die in einer Epoche herrschenden Gedan-
ken seien die Gedanken der Herrschenden.30 Es spricht vieles dafür, dass in
ähnlicher Weise für die gegebenen gesellschaftlichen Verwahrlosungsten-
28
In einem SPIEGEL-Artikel, der diese Praktiken der USA darstellt, heißt es zutreffend:
„Eine Demokratie, der ein Verdacht ausreicht, um ihre Feinde zu töten, verspielt ihren
Anspruch auf moralische Überlegenheit. Sie macht sich mitschuldig.“ DER SPIEGEL
1 / 29.12.2014. S. 80
29
Der Schweizer Pastor und Psychoanalytiker Pster sprach von „delinquenten Nationen“
und von der „unglaublichen Primitivität von Staatsmännern“. Pster, 1949 (1966). Ver-
gleiche dazu Maury, 1992, Pontaut; Szpiner, 1989, Puget, 1989. Wie weitgehend auch
der deutsche Staat delinquent im engeren Sinne werden kann zeigt die Affäre des „Celler
Lochs“, bei der staatliche Organe im Jahre 1978 mit Hilfe von Kriminellen eine Straftat
begingen. Die Affäre wurde erst 1986 aufgedeckt. In jüngster Zeit wurde das Thema
delinquenter Staat in der Öffentlichkeit diskutiert, weil der Staat sich als Hehler betätigt
und CDs mit gestohlenen Daten von Steuerüchtlingen kauft, durch die hohe Steuer-
einnahmen möglich werden. Zu nennen wäre in diesem Zusammenhang auch, was neu-
erdings über die Spionageaktionen von Geheimdiensten bekannt wurde. An staatliches
Handeln werden jedoch nicht die gleichen Maßstäbe angelegt wie an individuelles Han-
deln. Eine systematische Berücksichtigung des Themas „delinquenter Staat“ würde hier
zu weit führen. Siehe dazu aber auch in der Folge.
30
„Die Gedanken der herrschenden Klasse sind in jeder Epoche die herrschenden Gedan-
ken, d.h. die Klasse, welche die herrschende materielle Macht der Gesellschaft ist, ist
zugleich ihre herrschende geistige Macht“. MEW Bd. 3, S. 46

28
Verwahrlosende Gesellschaft

denzen die Moral der Herrschenden als herrschende Moral ausschlagge-


bend ist.31 Allerdings nicht ihre ofziell gepredigte Moral, sondern eben
im materiellen Sinn die ihres praktischen Handelns. Ein solcher Zusam-
menhang lässt sich, wie ein Fachmann der Sozialpädagogik festgestellt hat,
insbesondere bei Jugendlichen nachweisen: „Der junge Mensch macht sich
nicht die Ideale, die ihm gepredigt werden, zu eigen, sondern die delinquen-
ten Ideale, die er in unserer gesellschaftlichen Praxis erlebt.“32 Der ameri-
kanische Soziologe Barron hat diesen Sachverhalt eingehend erörtert. Er
verkehrt die übliche Sicht von Verwahrlosung, wenn er von „Jugend in de-
linquenter Gesellschaft“ spricht.33 Aber auch das faktische gesellschaftliche
Moraldezit gehört wesentlich zu den gegebenen ökonomischen und politi-
schen Verhältnissen. So sind z.B. die Klagen über die Gier von Spitzenma-
nagern, Bankern und Tradern berechtigt. Zu bedenken ist diesbezüglich je-
doch, dass es kein Zufall ist, dass in unserem Wirtschaftssystem Menschen
gerade mit bestimmten moralischen Mängeln in bestimmte Spitzenpositio-
nen gelangen. Das ist nicht nur ökonomisch folgenreich, sondern auch so-
zial, weil unsere Wirtschaftsweise mehr denn je die sozialen Verhältnisse
bestimmt und ökonomische Gesichtspunkte allenthalben dominieren. Der
frühe Horkheimer hat das so formuliert: „Aber die kapitalistische Wirt-
schaft ist so organisiert, dass tatsächlich die größere Verwandtschaft mit
der seelischen Verfassung derer an der Spitze auf jeder Stufe die größeren
Chancen sichert.“ Das bedeutet für den einzelnen, dass „Arbeitsfähigkeit,
Schicksal und Erfolg“ sehr weitgehend davon abhängen, wieweit ihm „die
Identizierung mit den wirklich bestehenden Mächten gelingt.“34 Marx pa-
raphrasierend heißt das: die seelische Verfassung der Herrschenden wird
zur herrschenden seelischen Verfassung.35
Adorno stellte fast ein Vierteljahrhundert später auf das rationale öko-
nomische Verhalten des Individuums bezogen fest: „Wer sich nicht nach
den ökonomischen Regeln verhält, wird heutzutage selten sogleich unter-

31
Bei Engels heißt es: „Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen be-
wegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral.“ Engels, 1878, MEW 20, S. 88
32
Simonsohn, 1975 S. 211. Im selben Sinne Healy; Bronner, 1936 (1957. S. 11)
33
Barron, 1954
34
Horkheimer, 1933 (1987, S. 319 und S. 367)
35
Mit schichtspezischen Eigenarten, versteht sich.

29
Verwahrlosende Gesellschaft

gehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab. Sichtbar wird
die Bahn zum Asozialen, zum Kriminellen: die Weigerung, mitzuspielen,
macht verdächtig und setzt selbst den der gesellschaftlichen Rache aus,
der noch nicht zu hungern und unter Brücken zu schlafen braucht. Die
Angst vorm Ausgestoßen werden aber, die gesellschaftliche Sanktionie-
rung des wirtschaftlichen Verhaltens, hat sich längst mit andern Tabus ver-
innerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten
Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unver-
derbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit
der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozess. Das Überich, die Gewissensin-
stanz, stellt nicht allein dem einzelnen das gesellschaftlich Verpönte als das
An-sich-Böse vor Augen, sondern verschmilzt irrational die alte Angst vor
der physischen Vernichtung mit der weit späteren, dem gesellschaftlichen
Verband nicht mehr anzugehören, der anstatt der Natur die Menschen um-
greift.“36
Eine eingehende Erörterung der seelischen Verfassung der Herrschen-
den wäre demnach hier in dieser Untersuchung angebracht. Auch wegen
der engen psychologischen Verbindung von Macht, Narzissmus und Ver-
wahrlosung. Sie würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Immerhin
gibt es einige Veröffentlichungen von Psychoanalytikern zu einigen Aspek-
ten dieses Sachverhaltes. So in deutscher Sprache die Arbeit von Hans Jür-
gen Wirth, der am Beispiel von vier herausragenden Politikern eine Unter-
suchung zum Verhältnis Narzissmus und Macht vorgelegt hat.37 Zu diesem
Thema liegt auch eine weniger auf konkrete Beispiele bezogene Arbeit des
französischen Psychoanalytikers Maurice Berger vor.38 Daneben ließen sich
mehrere psychoanalytische Auseinandersetzungen unterschiedlichen An-
spruchs mit den psychischen Besonderheiten von Spitzenpolitikern nennen.
So auf deutsche Politiker bezogen Aufsätze von Alexander Mitscherlich.39
Auf französische Politiker bezogen die Portraits von Jean-Pierre Winter und

36
Adorno, Theodor W., 1955 (1996, S. 47)
37
Wirth, 2000
38
Berger, 1993 Dagegen versucht Rozitchner psychoanalytische Aspekte von Macht all-
gemein herauszuarbeiten Rozitchner, 1989
39
Mitscherlich, 1966 (1978), Mitscherlich, 1969 (1978)

30
Verwahrlosende Gesellschaft

Magoudi.40 Außerdem auch die eindringliche Beschreibung des amerika-


nischen Präsidenten George Bush Junior von Justin A. Frank.41 In einigen
dieser Publikationen, erst recht in einer Reihe von nicht psychoanalytischen
Politikerporträts, die hier zu nennen zu weit führen würde, nden sich oft
Züge, die sehr wohl mit Verwahrlosung zu tun haben. Sie werden aber nicht
als solche deniert. Ähnliches gilt für die seelische Verfassung der Herr-
schenden in leitenden Positionen von Wirtschaft und Gesellschaft.42
Bei Freud ndet sich die Feststellung, dass nicht nur das Individuum,
sondern auch die Gemeinschaft ein Über-Ich ausbildet, „unter dessen Ein-
uss sich die Kulturentwicklung vollzieht.“ Es hat einen ähnlichen Ur-
sprung wie das des Einzelmenschen und stellt, wie das Über-Ich des In-
dividuums strenge Idealforderungen auf. „Es ruht auf dem Eindruck, den
große Führerpersönlichkeiten hinterlassen haben, Menschen von überwäl-
tigender Geisteskraft oder solche, in denen eine der menschlichen Strebun-
gen die stärkste und reinste, darum oft auch einseitigste, Ausbildung ge-
funden hat.“43 Freud dachte offensichtlich weniger an Staatsmänner und
Wirtschaftsführer, als vielmehr an große Philosophen, Wissenschaftler und
Künstler. Anders als zu Freuds Zeiten genießen aber heute Personen, unge-
achtet ihrer realen Eigenschaften, allein schon wegen ihrer Medienpräsenz,
40
Winter, 1995, Magoudi, 2007. Dazu auch Miller, 1989 und nicht auf einzelne Politiker
bezogen, sondern querschnittartig als Psychoanalyse der „Familie“ der extremen Rech-
ten in Frankreich, Maisonneuve, 2000
41
Frank, 2004
42
Siehe Cremerius, J 1979. Dworschak, eine enge Mitarbeiterin von August Aichhorn,
schreibt: „Eine andere Art der von der Gesellschaft mehr oder weniger anerkannten
und sanktionierten Verwahrlosung führt in gewisse Kreise der Geschäftswelt. Als Bei-
spiel seien Leute genannt, die an jedem Krieg, in dem andere verbluten, ein Vermögen
verdienen. Oder Spekulanten, die keine Rücksicht kennen und jede Gelegenheit dazu
benützen, sich zu bereichern.“ Dworschak, 1969, S. 26. Ich gehe im Folgenden auf die
besondere Afnität von Politikern zu Hochstapelei und Histrionismus (und „als ob“
Gehabe) nicht näher ein. Siehe dazu unter anderem Debord, 1971 (198) und Schwart-
zenberg, 1977.
43
Freud, S., 1930, S. 501ff. Ich berücksichtige hier nicht, dass Freuds Begriff von Ge-
meinschaft damit zu tun hat, dass er keinen Begriff von Gesellschaft hatte und Nationen
psychologisierend als „Großindividuen“ der Menschheit sah Freud, S., 1915b, S. 330.
Demgegenüber wären auch die Eigenschaften gesellschaftlicher Strukturen und Insti-
tutionen zu berücksichtigen, die Verhaltensweisen bedingen und sozialisatorische Wir-
kungen haben.

31
Verwahrlosende Gesellschaft

besonderes Ansehen. Und angesichts der Tatsache, dass in den Medien die
Wahrheit der Glaubwürdigkeit weichen musste44 , gibt es viele Möglichkei-
ten die öffentliche Meinungsbildung zu manipulieren und windige Wich-
tigtuer als bedeutende Figuren darzustellen. Werden diese dann irgendwann
durchschaut, kann ihr Einuss in negativer Verkehrung des Freudschen Ge-
dankens zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Über-Ichs führen. In
eben diesem Sinne formulierten Alexander und Staub: „die Korruptheit der
Machthaber erschüttert die Macht ihrer inneren Vertreter, der hemmenden
moralischen Kräfte, und so wird der Mensch zum Spielball der entfessel-
ten Triebe.“45 Wenn aber gesellschaftliche Moral nicht mehr zuverlässig
über Identizierungen in den Individuen abgesichert wird, gewinnen immer
mehr direkte Kontrollen, Überwachung, Einschüchterung, Angst machen,
Manipulation, Prävention, etc. an Bedeutung.46
Subjektive Verwahrlosung ist also weder ein nur psychologisch zu er-
klärendes Phänomen, noch lässt sie sich als ein spezielles Phänomen un-
terer Gesellschaftsschichten begreifen. Auch lässt sie sich offensichtlich
durch moralische Appelle und Wertepredigten nicht wirksam bekämpfen.
Sie fördert allerdings innergesellschaftlich und international als Reaktion
auch ihr Gegenteil, d.h. fundamentalistische Verabsolutierungen von be-
44
Lasch, 1979 (1986, S. 94). Dazu auch in der Folge.
45
Alexander; Staub, 1929, S. 121. Diese Feststellung wäre sicher auch dann richtig, wenn
sie weniger strikt triebtheoretisch formuliert würde. Der brasilianische Psychoanalyti-
ker Helio Pellegrino sprach in dieser Perspektive von einem Zusammenhang zwischen
dem pacto social und dem pacto edipiano. (Pellegrino, 1986) Der pacto social betrifft
die gesellschaftliche Forderung, dass zur Sozialisation der Erwerb von Arbeitsfähigkeit
gehört und die gesellschaftliche Tatsache, dass das Individuum wesentlich über Arbeit
gesellschaftlich integriert wird. Erfolgt hier ein Bruch und das Individuum bleibt von
der Arbeitswelt ausgeschlossen, kommt es auch zu einem Bruch des ödipalen Pakts.
Die Zivilisierung des Individuums wird in Frage gestellt. Verdrängtes setzt sich durch.
Der Protest des gesellschaftlich marginalisierten Individuums entgleist. „Die Krimina-
lität ist eine verrückte Form des Protests.“ S. 110.
46
siehe dazu in der Folge. Zu bedenken wäre auch, ob es nicht auch in Friedenszeiten
Varianten eines „parasitären Ebenbilds des Über-Ich“ geben kann, wie Freud das für
Kriegszeiten feststellt. So könnte man vielleicht wie man im Anschluss an Freud von
einem „Kriegs-Über-Ich“ sprechen kann, für die Nazizeit von einem Nazismus-Über-
Ich sprechen. Die weiterführende Frage wäre dann, ob man auch ein deformiertes kul-
turelles Über-Ich in einer tendenziell anomischen Gesellschaft konstatieren kann. Siehe
dazu vor allem Simmel, 1944 (1993)

32
Verwahrlosende Gesellschaft

stimmten, vorwiegend religiös begründeten Wertepositionen. Deren rigi-


de und oft aggressive Durchsetzung richtet zu viel Schaden an, als dass
man ihnen auch positive Aspekte abgewinnen könnte.47 Will man sicher-
stellen, dass eine Art von Wertorientierung dominieren kann, die nicht be-
liebig ökonomisch instrumentalisierbar und korrumpierbar ist, wird man ra-
dikale gesellschaftsstrukturelle Veränderungen durchsetzen müssen.48 Das
erscheint nicht sehr realistisch. Immerhin kann man aber in Zeiten der inter-
nationalen Finanzkrisen eine radikale Änderung der ökonomischen und po-
litischen Verhältnisse wieder thematisieren, ohne dass man sofort als „Spin-
ner“ ins politische Abseits gerät.

Anthropologische Aspekte
Zu den häugsten Klagen über den Verfall der Moral gehört traditionell die
Missbilligung bestimmter Formen des Sexualverhaltens, soweit diese nicht
ohnehin kriminalisiert waren. Permanent geklagt wurde über zu große sexu-
elle Freizügigkeit, über zu frühe sexuelle Betätigung, über vorehelichen Ge-
schlechtsverkehr, über sexuelle Verwilderung der Jugendlichen, über Ho-
47
Zu den Varianten von nicht religiös motiviertem Fundamentalismus gibt es bisher nur
wenige sozialpsychologische Analysen. Das gilt auch für die psychoanalytische Litera-
tur. Es gibt allerdings Indizien, die auch einen Zusammenhang zwischen Fundamenta-
lismus und Verwahrlosung nahe legen. So meint Kernberg, dass es sich bei fundamen-
talistischen Gruppen häug um „verwahrloste Existenzen“ handle, die durch die Ideo-
logie, der sie anhängen, zu wertvollen Menschen gemacht werden. Es handle sich aber
auch um Menschen, die in ihrer Kindheit schwer traumatisiert und von ihren Familien
abgelöst wurden; ihre Identität nden sie nun über die Zugehörigkeit zur Gruppe. Für
die fundamentalistische Weltsicht ist die manichäische Aufteilung der Welt in Gut und
Böse charakteristisch. Die Zuordnung zu einer als gut denierten Gruppe und die Unter-
ordnung unter und Identizierung mit deren gutem Führer ermöglicht eine psychische
Stabilisierung. Nicht zuletzt auch, weil das rigorose Wertsystem, das eine Abgrenzung
von anderen Wertsystemen nur in der Form von „gut“ und „böse“ kennt, auch disso-
ziales Verhalten, vor allem gewalttätiges Verhalten legitimiert. Siehe Kernberg, Otto
F., 2007. Es gibt allerdings auch Varianten von Fundamentalismus, die ausgesprochen
friedliebend sind und jede Art von Gewalt ablehnen. So z.B. die „Amish“ in Nordame-
rika.
48
Es bedürfte einer ausführlichen Diskussion, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen
würde, ob eine Domestizierung der „Bestie Kapitalismus“ dafür ausreicht oder ob dazu
der Kapitalismus überhaupt abgeschafft werden müsste.

33
Verwahrlosende Gesellschaft

mosexualität und über Abtreibung.49 Klagen dieser Art gibt es immer noch,
aber sie spielen keine so große Rolle mehr. Trotz der heftigen Gegenwehr
der katholischen Kirche und anderer religiös orientierter Gruppierungen,
hat diesbezüglich im Laufe der Jahre eine deutliche Liberalisierung und
Entschärfung der Diskussionen stattgefunden.50 Zunehmend problematisch
sind jedoch neue Phänomene, die zweifellos Symptome einer medial ge-
förderten sexuellen Verwahrlosung sind. Dies betrifft vor allem extrem ag-
gressiv aufgeladene Formen von Pornographie in Videos und Songs.51 Da es
praktisch nicht möglich ist, Kinder zuverlässig vor der medialen Konfron-
tation mit solcher verwahrloster Sexualität zu schützen, ist es wohl nicht
abwegig, massenhafte medienvermittelte psychosexuelle Belästigungen zu
konstatieren. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Problematik wird an-
gesichts des Ausmaßes an realem sexuellem Missbrauch von Kindern ver-
mutlich unterschätzt.52

49
Merkwürdigerweise konnten andererseits Opfer von sexuellem Missbrauch, also un-
zweifelhaft kriminellem Sexualverhalten, sich bis vor kurzem kaum Gehör verschaffen
und mussten, wenn sie sich wehrten, zusätzliche Diskriminierungen erleiden. Eine dop-
pelte Moral stellte sicher, dass was nicht sein darf, auch nicht sein kann. Das Ausmaß
sexuellen Missbrauchs, das neuerdings öffentlich bekannt wird, ist schockierend und
erstaunlich. Seine Thematisierung ist begrüßenswert und wichtig.
50
Das schließt gegenläuge Tendenzen nicht aus. Es ist auch nicht auszuschließen, dass
angesichts der Infantilisierung unserer Gesellschaft (siehe dazu in der Folge) auch an-
dere, bisher nicht auffällige Varianten der infantilen polymorph-perversen Sexualität
künftig Bedeutung gewinnen. Siehe dazu auch unten die Fußnote 63
51
Der Kriminologe Christian Pfeiffer spricht von „medialer Verwahrlosung“. Siehe dazu
den Artikel „Sexuelle Verwahrlosung. Voll Porno“ im STERN Heft 6 / 2007. Zitiert wird
hier z.B. der „Arschcksong“ des Porno-Rappers „Sido“, in dem die anale Vergewalti-
gung eines kleinen Mädchens besungen wird: „Katrin hat geschrien vor Schmerz. Mir
hat’s gefallen. Ihr Arsch hat geblutet. Und ich bin gekommen.“ Der vollständige Text ist
im Internet zu nden unter „LyricZZ.com“. Daselbst nden sich noch zahlreiche andere
Texte der gleichen Qualität. Sido ist kein Einzelfall.
52
Siegfried Bernfeld, der vielleicht scharfsichtigste der Psychoanalytiker, die in den 20er
Jahren pädagogisch arbeiteten, vertrat die Ansicht, das Kind brauche keinen Schutz vor
Schund, es schütze sich selbst. Bernfeld, 1926. Er stieß schon damals auf Widerspruch.
Angesichts der heute häugen Konfrontation von Kindern mit drastischen realistischen
bildlichen Darstellungen des Schundes moderner Medien, die jede kindliche Schund-
phantasie blass erscheinen lassen, erscheint allerdings fraglich, ob seine These, die auf
schriftlichen Schund bezogen war, noch Bestand hat. Dazu auch in der Folge.

34
Verwahrlosende Gesellschaft

Besonders heikel bleibt nach wie vor die gesetzliche Regelung von Ab-
treibungen, weil dabei immer auch die Frage zur Debatte steht, in wie weit,
bzw. ab wann, ein Fötus als menschliches Leben mit eigenen Rechten gel-
ten soll.53 Ansonsten ist in einem säkularisierten Staat nicht einzusehen, so-
weit nicht de facto doch religiöse Überzeugungen dominieren, warum das
private Sexualverhalten erwachsener Menschen bestimmten Bewertungen
unterliegen sollte. Jedenfalls nicht, solange es sich um Praktiken handelt,
die weder den Beteiligten, noch sonst jemand schaden. Dies gilt aber zwei-
fellos nicht für sexuellen Missbrauch von Kindern, bei dem das Kind in
jedem Fall geschädigt wird. Die Generationenschranke, d.h. die Schranke
zwischen Erwachsenen und Kindern, wird eingerissen. Das missbrauchte
Kind hat gar keine Chance, sexuell im engeren Sinne erwachsen zu wer-
den, weil es seiner Erfahrung nach gar keinen prinzipiellen Unterschied
zwischen der Sexualität des Erwachsenen und seiner kindlichen Sexualität
gibt. Die horrenden psychologischen Folgen davon spielen eine besonders
große Rolle bei Eltern – Kind – Inzest.
Auch andere Varianten des Inzests, wie z.B. der zwischen Geschwis-
tern, sind in unserer Gesellschaft verboten und kein Gegenstand für Werte-
diskussionen. Über eine Abschaffung dieses Verbots wird in jüngster Zeit
diskutiert, da es sich dabei meist um Konstellationen handelt, bei denen nie-
mand direkt geschädigt wird.54 Das Inzestverbot gehört aber, in verschiede-
nen kulturellen Ausformungen und nicht ausschließlich auf Blutsverwandt-
schaft bezogen, zu den Grundlagen von Gesellschaft überhaupt.55 Umso be-
merkenswerter ist, dass in den üblichen Moralpredigten, seine quasi selbst-
verständliche Übertretung in technologischen Prozeduren der Menschen-
reproduktion relativ wenig Anlass zu moralischen Protesten gibt. Das ist
in Deutschland zum Teil darauf zurückzuführen, dass diese Möglichkei-
ten bisher gesetzlich relativ stark begrenzt worden sind. Manche Berichte
über neuartige „Erfolge“ der Fortpanzungstechnologie können allerdings
schockierend wirken, solange sie noch ungewohnt sind und mit den all-

53
Eine psychoanalytisch begründete Erörterung der Problematik ndet sich bei Lorenzer,
1981
54
Die Inzestschranke zwischen Geschwistern ist aber anthropologisch von spezieller Be-
deutung, weil hier der Verwandtschaftsgrad biologisch der größte ist.
55
Siehe dazu in der Folge.

35
Verwahrlosende Gesellschaft

täglichen zwischenmenschlichen Beziehungen überraschend kontrastieren.


Oder sie werden als Absonderlichkeiten zur Kenntnis genommen, die es
hierzulande nicht gibt. Da es sich aber um Vorkommnisse handelt, die prin-
zipiell durchaus auch in unserer Gesellschaft möglich wären und eventuell
sogar geschehen, sind sie auch für die Wertediskussionen folgenreich. Der
Gesetzgeber muss sich damit befassen und Ethik-Kommissionen sollen zu
Empfehlungen kommen, die möglichst plausibel klingen.
Die moderne Fortpanzungstechnologie macht es z.B. möglich, dass
eineiige Zwillinge im Abstand von Jahren geboren werden. Oder dass ei-
ne Frau, deren Tochter selbst keine Kinder mehr gebären kann, sich ein
befruchtetes Ei der Tochter einpanzen lässt und das Kind austrägt. Ein
Kind, das demzufolge zwei Mütter hat, dessen Großmutter seine Mutter
ist und dessen Mutter seine Schwester ist.56 Eine solche reproduktionstech-
nologisch bewirkte Fortpanzung ist inzestuös und hebt die Generationen-
schranke und -abfolge auf. Nicht verwandte Leihmütter gibt es schon rela-
tiv häug. In Deutschland ist Leihmutterschaft verboten. Bemerkenswerter-
weise mit einer psychologischen Begründung. Sie gefährde das Wohl des
Kindes, weil dabei in der Schwangerschaft entstehende Bindungen zwi-
schen Mutter und Kind missachtet würden und es außerdem zu schweren
psychischen und sozialen Konikten der Beteiligten kommen könne.57 Bei
Regelungen bezüglich künstlich befruchteter Embryonen ist der Gesetzge-
ber schon nicht mehr ganz so rigoros. Hier haben Medizin und Industrie, die
großes Interesse an „Nutzembryonen“ haben, erheblich Druck ausgeübt.58
Besonders schockieren können Berichte, die belegen, dass inzwischen
auch die Grenzen zwischen Mensch und Tier systematisch durchbrochen
werden. Sei es, dass einem Mann ein Schweineherz eingepanzt worden
ist,59 sei es, dass eine Gentechnikrma versuchte, eine Sorte von Kühen
zu züchten, die eine mit der Muttermilch praktisch identische Milch pro-

56
FR 09.12.1996. Die dazugehörige Schlagzeile lautete „Oma ist die Mutter der Enkelin.“
Das ist neu. Dagegen konnte in zerfallenden Familienkonstellationen auch bisher schon
ein Kind mehrere Väter haben: Einen biologischen, einen juristischen, einen sozialen,
einen sozialisatorischen.
57
siehe FR 20.07.1989
58
FR 29.04.1988
59
In Polen. FR 01.03.1990

36
Verwahrlosende Gesellschaft

duzieren sollten,60 sei es, dass bei der Zeugung von Kühen menschliches
Erbgut eingeschleust wurde, was dazu führen soll, dass die Rinder weniger
fett werden und ohne Hormongaben schneller wachsen.61 In der Bundesre-
publik wurden 1986 vier Anträge auf Forschung an frühen menschlichen
Embryonen – darunter die Verbindung von Hamster-Eizellen mit mensch-
lichem Samen – genehmigt.62 Dagegen ist ein sexuelles Überschreiten der
Grenzen zwischen Mensch und Tier, das in letzter Zeit zuzunehmen scheint,
nichts Neues.63
Neben dem Durchbrechen der Grenzen zwischen Mensch und Tier gibt
es auch eine Aufhebung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine.
Künstliche Ersatzteile aller Art, Herzschrittmacher und künstliches Herz,
Herz-Lungenmaschine, künstliche Niere u.a. zeugen davon. Verwischt wer-
den die Grenzen aber auch zwischen dem menschlichen Denkvermögen
und der menschlichen Psyche und Maschinen. So ist bereits im Alltag der
Computer für manche eine unerlässliche psychomentale Ergänzung, ein
„zweites Ich“, geworden.64 Und Computer werden als Psychotherapeuten
eingesetzt.65 Eine weitere Grenzverwischung ist die zwischen den Leben-
den und den Toten, wenn z.B. das eingefrorene Sperma eines Toten zur Be-
fruchtung benützt wird oder wenn ein Organ eines klinisch toten Menschen
verpanzt wird.
Sigusch stellt fest, dass ganz allgemein in unserer kapitalistischen Ge-
sellschaft „die Grenzen zwischen Natur- und Gesellschaftsprozess nieder-
gerissen“ werden. Und er verweist darauf, dass damit ein Prozess der „Ver-
stofichung“ des Menschen einerseits und einer „Entstofichung“ von Din-

60
FR 17.07.1989
61
In USA. FR 11.06.1990
62
FR 09.12.1987
63
Das Verbot der „Zoophilie“ wurde 1969 aufgehoben. Anfang des Jahres 2010 beab-
sichtigte die hessische Landesregierung jedoch, sexuellen Verkehr mit Tieren wieder
zu verbieten. In der Begründung heißt es, immer häuger würden Tiere als Sexobjekte
benützt, es gebe „Angebote im Internet von Life-Sex-Shows mit Tieren bis hin zu Tier-
bordellen“. FR Online 12.04.2010. Zur rechtlichen Beurteilung der Frage siehe auch die
Stellungnahme des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Win-
fried Hassemer. DER SPIEGEL 49, 2012, S. 18
64
Turkle, 1984 (1986).
65
Siehe dazu in der Folge.

37
Verwahrlosende Gesellschaft

gen einhergeht. Die Menschen verlieren ihre Lebendigkeit und die Dinge
fangen an, ein Eigenleben zu führen.“ Menschliche Vermögen und Eigen-
schaften gehen an die toten Dinge über, die ihnen bedeuten wie sie sich zu
bewegen und zu sprechen, wie sie zu sein haben.“66 Das Individuum im her-
kömmlichen Sinne wird zunehmend abgeschafft. Damit werden auch psy-
chologische Erklärungen menschlichen Handelns tendenziell gegenstands-
los.
Unter diesen Umständen kann der Mensch sicher nicht das Maß al-
ler Dinge sein.67 Eine Anthropologie, die für Wertebegründungen geeignet
wäre, ist nicht mehr vorstellbar. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die ge-
nannten Veränderungen der anthropologischen Grundlagen menschlichen
Lebens und die genannten Grenzaufhebungen bzw. -verwischungen in un-
serer Gesellschaft nicht erhebliche sozialpsychologische und psychologi-
sche Folgen haben. Welche Folgen dies sind und wie sie zustande kommen,
ist im Einzelnen sehr schwer zu klären und nachzuweisen. Insgesamt je-
doch scheint mir offensichtlich, dass selbst herkömmliche Wertvorstellun-
gen von zentraler Bedeutung nicht nur ihre transzendental-metaphysische
Absicherung in wahrem Glauben, sondern auch ihre irdisch-diesseitigen
anthropologischen und gesellschaftlichen Grundlagen auf Dauer verloren
haben.68 Sie können sich nicht naturwüchsig regenerieren. Ebenso wenig
kann ihnen künstlich wieder Geltung verschafft werden. In einer säkulari-
sierten Demokratie möglich und notwendig aber ist, dass gesellschaftliche
Verständigungsprozesse darüber zustande kommen, wie die anthropologi-
schen und gesellschaftlichen Grenzen gezogen werden, an denen gesell-
schaftliche Wertdiskussionen, unabhängig von wechselnden ökonomischen
Determinanten, sich orientieren können.
Eine „Relativierung der Moral“ ist unter anderem eine quasi natürliche
66
Sigusch, 1997, S. 856. Als Belege zitiert Sigusch aus der Alltagssprache einige typische
Beispiele: „Todesurteil für Stadtbad Mitte“, ein „sympathisches Bier“, ein „autistisches
Hochhaus“ u.a. Er meint eine Tendenz, die über das Eigenleben hinausgeht, das Waren
auf Grund ihres Fetischcharakters im Kapitalismus gewinnen.
67
Das gilt erst recht für die religiöse Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes.
68
Auch diesbezüglich wäre wieder der Unterschied zwischen den ideologischen und den
praktischen Aspekten von Werten zu unterscheiden. So ist es z.B. in unserer Gesell-
schaft moralisch nicht möglich, ernstlich mehr Armut und Elend zu propagieren. Eine
Wirtschaftspolitik, die sie verursacht, kann jedoch durchaus propagiert werden.

38
Verwahrlosende Gesellschaft

Folge des Globalisierungsprozesses, in dem die Welt kommunikationstech-


nisch zusammenwächst.69 Auch der wissenschaftlich-technische Fortschritt
trägt unvermeidlich dazu bei. Eine derart bedingte Relativierung von Wer-
ten kann zwar auch Schwierigkeiten verursachen, ist aber ein Prozess, der
es erlaubt, sich darauf einzustellen und Konsequenzen daraus zu ziehen.
Das eigentliche aktuelle Problem ist vielmehr, dass Wertediskussionen und
ethische Empfehlungen jederzeit von gesellschaftlichen Tendenzen konter-
kariert werden können, die mehr oder weniger direkte Folgen ökonomi-
scher „Zwänge“ sind, bzw. dessen, was so dargestellt wird. Diese werden
nicht in Frage gestellt. Dadurch werden Wertorientierungen immer insta-
biler, opportunistischer und damit beliebiger. Das ist neben dem Ruin der
anthropologischen Grundlagen unserer Gesellschaft, der zentrale Mecha-
nismus, der verursacht, was ich gesellschaftsstrukturell angelegte objektiv
bedingte Verwahrlosung nenne.
Zu den sozialpsychologisch besonders schwerwiegenden und nachhal-
tigen Folgen dieser Entwicklung gehört, dass in den Sozialisationsprozes-
sen Eltern und Erzieher völlig verunsichert sind und selbst kaum noch Wer-
torientierungen überzeugend vermitteln und vorleben können. Sie schwan-
ken zwischen zu viel affektiver Vereinnahmung, Kontrolle und permissi-
vem Rückzug, wenden manipulative Praktiken an oder kehren gar zu rigi-
der Dressur zurück.70 Derart instabiles Verhalten begünstigt, wie Habermas
konstatiert und in der Folge noch zu zeigen sein wird, Verwahrlosung als
individuelle Disposition und als Folgen davon verschiedene Varianten sub-
jektiv bedingter Verwahrlosung. Andere Folgen der Relativierung von Wer-
ten sind rein äußerliche Anpassung oder, als Gegenreaktion, sturer Konser-
vativismus und fundamentalistisches Eifern, meist religiöser Art.71

69
Mitscherlich, 1967 (1978). Das entgegengesetzte Phänomen, dass kulturelle Kontakte,
Konfrontationen und Konikte zu einer Selbstvergewisserung und damit Bekräftigung
eigener Wertepositionen führen können, gibt es auch. Siehe dazu in der Folge.
70
Siehe dazu in der Folge.
71
Das ist neben den Folgen der Konfrontation mit anderen Kulturen ein weiterer Grund,
weswegen es falsch wäre, eine allgemeine gesellschaftliche Verwahrlosung vorherzu-
sagen, auch wenn die Diagnose einer gesellschaftsstrukturell angelegten tendenziellen
Verwahrlosung zutrifft. Dazu auch in der Folge.

39
Verwahrlosende Gesellschaft

Ödipale Konfliktvarianten und gesellschaftliche Pathologie

Die erwähnten anthropologischen und gesellschaftlichen Veränderungen


wirken sich zweifellos auf die frühkindliche Entwicklung aus. Solche Aus-
wirkungen ließen sich noch bis vor kurzer Zeit, was Gewissen und Mo-
ral betrifft, relativ leicht auf den Ödipuskomplex bezogen erörtern, in dem
das Über-Ich seine volle Ausbildung erfahren sollte, solange dieser in der
Entwicklung des Kindes von zentraler Bedeutung war. Das jedoch ist, wie
in dem oben widergegebenen Habermaszitat angedeutet, nicht mehr unbe-
dingt der Fall. Psychotherapeuten bekommen es heute vor allem mit präödi-
paler Problematik zu tun. Es wäre allerdings falsch, daraus den Schluss zu
ziehen, die ödipalen Konikte seien für die Entwicklung des Kindes über-
haupt nicht mehr wichtig. Wenn nicht nur Psychoanalysegegner, sondern
sogar auch manche Psychoanalytiker den Ödipuskomplex für ein veraltetes
Relikt der Freud’schen Triebtheorie halten72 , das keine Bedeutung mehr hat,
weil sie mit seinen herkömmlichen Verlaufsformen nicht mehr konfrontiert
werden, schütten sie das Kind mit dem Bade aus.
Die Diskussionen darüber, ob der Ödipuskomplex universell ist, haben
heutzutage aus zwei Gründen etwas Veraltetes an sich. Zum einen, weil
ganz offensichtlich die in unserer Gesellschaft herkömmlichen, klassischen
Verlaufsformen kaum noch zustande kommen. Wenn man diese für den
Ödipuskomplex hält, ist klar, dass er nicht universal ist.73 Zum anderen an-
dererseits aber auch weil der Ödipuskomplex im Gegenteil von den Ergeb-
nissen der strukturalen Anthropologie her als eine universale Beziehungs-
struktur, als ein unvermeidliches Durchgangsstadium in allen kindlichen
Sozialisationsprozessen erkannt wurde.74 Was damit gemeint ist, lässt sich
am einfachsten bezogen auf die heutzutage kaum noch strittige gängige Un-
terscheidung zwischen dem biologischen Geschlecht, der physischen weib-
lichen oder männlichen Konstitution (sex), und dem Erziehungsgeschlecht
(gender) verdeutlichen. Wenn es richtig ist, dass Kinder ihr Erziehungsge-
schlecht in ihren Sozialisationsprozessen erwerben, ist auch klar, dass sie

72
So z.B. Elisabeth Roudinesco in einem Interview in DER SPIEGEL 23 / 2102
73
Das ergibt sich selbstverständlich auch aus Vergleichen mit ganz anderen Gesellschaf-
ten.
74
Lévi-Strauss, 1949. Siehe auch zusammenfassend Oppitz, 1975

40
Verwahrlosende Gesellschaft

dies unvermeidlich in dreiseitigen Auseinandersetzungen mit erwachsenen


weiblichen und männlichen Menschen tun. Das aber ist, was die Psycho-
analyse als ödipale Konstellation bezeichnet. Die Konikte, die sich in ihr
ergeben, machen den Ödipuskomplex aus. Seine Verlaufsformen können
erheblich variieren, aber nicht völlig beliebig und unabhängig von den ge-
sellschaftlichen Rahmenbedingungen. In den in unserer Gesellschaft her-
kömmlichen kleinfamilialen Verhältnissen sind die erwachsenen Repräsen-
tanten der Geschlechter typischerweise der Vater und die Mutter. Das kön-
nen aber je nach den Umständen, in denen die Sozialisationsprozesse er-
folgen, auch andere Personen sein, die die grundlegenden väterlichen und
mütterlichen Funktionen erfüllen. Das ist in unserer Gesellschaft z.B. in
sogenannten Patchwork Familien möglich. In manchen Kulturen erfüllt der
Bruder der Mutter die Funktionen, die in unserer Kultur typischerweise der
Vater erfüllt.
Kompliziert sind die ödipalen Auseinandersetzungen auch deswegen,
weil die Kinder sich beim Erwerb ihres Erziehungsgeschlechts nicht unbe-
dingt eindeutig an den gesellschaftlich dominierenden Varianten von Mann
und Frau orientieren müssen.75 Freud hat unter dem Begriff „Inversion“ die
Variante beschrieben, in der das Kind das seiner physischen Konstitution
entgegengesetzte Erziehungsgeschlecht erwirbt.76
Der Ödipuskomplex als ein unvermeidliches trianguläres (Kind –
Mann – Frau) Durchgangsstadium in den Sozialisationsprozessen, ist so-
mit durchaus universal. Man darf ihn nur nicht in der Erscheinungsform,
die er in modernen westlichen Gesellschaften angenommen hat, als allge-
meinmenschliche Verlaufsform unterstellen.77 Soweit die ödipalen Konik-
te heutzutage in ihrer Intensität abgeschwächt oder in ihren Verlaufsformen
gar diffus werden, ist dies folgenreich für die charakterliche Entwicklung
der Kinder und damit für die Gesellschaft, für ihre psychosoziale Beschaf-

75
Wenn man diese Tatsache im Zusammenhang mit der reproduktionstechnologischen
Transformation der anthropologischen Grundlagen unserer Gesellschaft und mit den
Möglichkeiten moderner plastischer Chirurgie sieht, wird die zunehmende Faszination,
die Transvestiten und Transsexuelle ausüben, verständlich.
76
Freud, S., 1905d
77
Siehe dazu die Kritik von Fenichel an Géza Roheim und Ernest Jones. Rundbrief 51
vom 15.10.1938 in Fenichel, 1998, Bd. 2, S. 991

41
Verwahrlosende Gesellschaft

fenheit. Für Freud war der Ödipuskomplex nicht nur der Kernkomplex al-
ler Neurosen, sondern er sah in ihm „die Anfänge von Religion, Sittlich-
keit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen“.78 Der Ödipuskomplex ist
mit der Existenz von Kultur als solcher verbunden. Darauf bezogen ist ver-
ständlich, wenn manche Psychoanalytiker sein Diffuswerden als eine nega-
tive Entwicklung der Subjektivität in unserer Gesellschaft interpretieren.79
Zumindest kann man feststellen, dass die Konstitution des Über-Ichs, die
Ausbildung eines Gewissens und stabiler Moralität komplexer und unsi-
cherer geworden sind.
Die Auseinandersetzungen des Kindes mit den für seine Entwicklung
wichtigen Personen, in denen das Kind seine psychosexuelle Konstitution
erwirbt, sind keine abstrakten intellektuellen Vorgänge. Sie sind körperlich
sinnlich und mit starken Gefühlen und Wünschen verschmolzen.80 Soweit
es sich um die Beziehungen zu Vater und Mutter handelt, sind die Bezie-
hungen und die sexuellen Wünsche des Kindes inzestuös.81 Inzest aber ist
aber in allen Gesellschaften verboten.82 Das Verbot wird allerdings, wie
schon erwähnt, in der modernen Reproduktionstechnologie in manchen
Konstellationen unterlaufen. Das Kind jedoch wird mit seinen sexuellen
Wünschen unvermeidlich mit dem Inzestverbot konfrontiert. Das ist für sei-
ne psychosexuelle Entwicklung grundlegend wichtig. Das in den ödipalen
Konikten durchgesetzte und vom Kind zu verinnerlichende Inzestverbot
hat auch gesellschaftliche Funktionen. In anthropologischer Perspektive ist
es das Exogamiegebot. Beide Namen bezeichnen dasselbe. Auch in anthro-
78
Freud, S., 1912-13. S. 188
79
Siehe dazu in der Folge
80
Diese sind nicht einseitig. Dass ödipale Konikte beim Menschen als einzigem Säu-
getier zustande kommen, ist, wie z.B. Fenichel und Devereux darlegen, eine Folge des
Verhaltens der Eltern. Der Ödipuskomplex ist letztlich biologisch begründet. Unter al-
len Säugetieren ist die Frau das einzige, das auch während der Schwangerschaft und der
Stillzeit sexuell rezeptiv ist. Sie ist somit „das einzige Weibchen das fähig ist gleichzei-
tig sowohl sexuelle als auch mütterliche Empndungen zu haben.“ Das erklärt Devereux
zufolge hinlänglich gegenödipale elterliche Regungen. Devereux, G., 1963
81
Das gilt nicht nur für blutsverwandte Eltern, sondern allgemein für die Personen, die die
mütterlichen und väterlichen Funktionen erfüllen. Das gilt in manchen Gesellschaften
auch für Patenschaft als erweiterte verwandtschaftliche Beziehung.
82
Von besonderen Ausnahmen mit meist religiöser Bedeutung in manchen Gesellschaften
abgesehen.

42
Verwahrlosende Gesellschaft

pologischer Perspektive ist offensichtlich, dass seine Geltung im genann-


ten Sinne universell ist. Es ndet sich in verschiedenen Varianten in allen
menschlichen Gesellschaften, denn ohne Exogamiegebot bzw. Inzestverbot
gibt es kein Innen und Außen sozialer Beziehungen und keine Generatio-
nenfolge und damit auch keine Geschichte und keine Gesellschaft. In psy-
choanalytischer Perspektive ist es das Gesetz überhaupt.83
Aus psychoanalytischer Sicht ist erkennbar, dass mit dem Inzestverbot
weitere Verbote verbunden sind.84 Vier Verbote sind grundlegend für die
Strukturierung der menschlichen Psyche: 1)Das Inzestverbot. 2)Das Verbot
des Durchbrechens der Generationenschranke. 3)Das Verbot der Leugnung
der Realität des Geschlechterunterschiedes. Mit Letzterem ist gemeint, dass
die ödipalen Konikte für das Kind unvermeidlich mit einem Scheitern an
der Realität verbunden sind, wenn es hinsichtlich der genitalen Komple-
mentarität der Menschen anerkennen muss, dass ihm noch die körperlichen
Voraussetzungen fehlen, im engeren Sinne sexuell mit den erwachsenen
Figuren seines ödipalen Dramas zu verkehren. Eine Leugnung der realen
Gegebenheiten kann dazu führen, dass Inzestwünsche in der Phantasie ge-
lebt werden und damit die psychische Strukturierung zumindest teilweise
misslingt. Diese erste unausweichliche Konfrontation mit äußerer Reali-
tät ist von großer Bedeutung für den späteren Umgang mit Realität. Im
Verlauf gelingender ödipaler Konikte wird das Kind zunehmend fähig,
Phantasie und Realität zu unterscheiden.85 4)Das Tötungsverbot. Dieses
Verbot bezieht sich zunächst vor allem auf die aggressiven Tötungswün-
83
Das wird vor allem von Jacques Lacan und seinen Gefolgsleuten betont. Sie sprechen
vom „Gesetz des Vaters“, weil dieser die auf die Mutter gerichteten frühen inzestuö-
sen Wünsche des Kindes nicht zulässt. Zur Sicht der strukturalen Anthropologie siehe
zusammenfassend Oppitz, 1975
84
Anatrella, 2001, S. 32
85
Siehe dazu Chasseguet – Smirgel, 1988. Eine häuge Variante der Leugnung ist der
phallische Monismus, d.h. die Leugnung der Existenz der Vagina, bzw. die Annahme
auch Frauen hätten einen Penis. „Ich glaube wirklich, dass der Prüfstein der Realität
nicht allein der Geschlechtsunterschied ist, sondern auch das, was untrennbar mit ihm
verbunden ist, wie die beiden Seiten einer Medaille: der Generationsunterschied. Reali-
tät ist nicht, dass die Mutter kastriert ist; Realität ist, dass sie eine Vagina besitzt, die der
Penis des kleinen Knaben nicht ausfüllen könnte. Die Realität ist, dass der Vater einen
Penis hat und Vorrechte, die für den kleinen Knaben nur theoretisch möglich sind.“
Chasseguet-Smirgel, 1975 (1987, S. 23)

43
Verwahrlosende Gesellschaft

sche gegenüber dem Vater, die phantasierten Todesdrohungen des Vaters


und die aggressiven Äußerungen, in denen diese Wünsche und Phantasien
sich ausdrücken.86 Denn der Vater ist es, der die frühe inzestuöse Mutter-
Kind-Beziehung aufspaltet und er ist es, der – vor allem dem männlichen
Kind – als Rivale um die Liebe der Mutter im Wege steht.87 Auch die-
ses Verbot ist dementsprechend psychisch tief verankert. Seine für militä-
rische Zwecke gesellschaftlich legitimierte Aufhebung erfolgt in militäri-
schen Sozialisationsprozessen durch spezielle Mechanismen und Verhal-
tenskonditionierungen.88 Insofern die genannten die Psyche strukturieren-
den Verbote gesellschaftlich ihre Kraft verlieren, entstehen psychosoziale
Tendenzen, die es nahelegen, wie noch gezeigt werden soll, im Sinne von
Devereux von gesellschaftlichem Realitätsverlust, also von einer spezi-
schen Erscheinungsform gesellschaftlicher Pathologie zu sprechen.89 Eine
solche Sicht ist allerdings heutzutage selten, weil sie als Verabsolutierung
des Ödipuskomplexes missverstanden werden kann.
Wenn man die Frage einer Beschädigung anthropologischer Grundla-
gen nur auf die ödipale Konstellation bezieht, berücksichtigt man nicht
genug, dass die Über-Ich-Störungen, um die es bei Verwahrlosung über-
wiegend geht, wesentlich ihre Entstehungsursachen schon in präödipalen
Konstellationen haben. Freud hat auf diesen Sachverhalt hingewiesen. Die
Entstehung des Über-Ichs ist „das Ergebnis zweier höchst bedeutsamer bio-

86
Die empfundene Bedrohung durch den Vater braucht keine reine Phantasie zu sein. Sie
kann auf Grund der gegenödipalen Disposition des Vaters durchaus auch reale, wenn
auch normalerweise unbewusste Voraussetzungen haben.
87
Es geht hier, wie gesagt, um die in unserer Gesellschaft herkömmliche Variante des
Ödipuskomplexes.
88
Ist das Verbot erst einmal aufgehoben und führt zum Töten, kann seine spätere Wieder-
aufrichtung bei Rückkehr ins zivile Leben sehr schwierig werden. Vor allem aus den
USA werden immer wieder Fälle von Veteranen bekannt, denen die Umstellung nicht
gelingt.
89
Dazu in der Folge. Störungen der Realitätswahrnehmung bzw. Realitätsverlust werden
aber auch durch andere Faktoren verursacht. Wie noch näher zu erörtern sein wird, wird
Realitätswahrnehmung allgemein auch durch die neuen Medien relativiert und unzu-
verlässig. Es ließen sich auch andere problematische Folgen nennen. So z.B. der Verfall
elterlicher Autorität. Ganz ohne ist Erziehung nicht möglich. Auch die Folgen für die
Entwicklung des Über-Ichs, das sich allerdings lebenslänglich weiterentwickeln kann.
Siehe dazu ausführlich Novey, 1955

44
Verwahrlosende Gesellschaft

logischer Faktoren, der langen kindlichen Hilosigkeit und Abhängigkeit


des Menschen und der Tatsache seines Ödipuskomplexes.“90
Mit den präödipalen Wurzeln des Über-Ichs haben sich, die psychoana-
lytischen Theoretiker der Verwahrlosung eingehend beschäftigt. Die meis-
ten von ihnen nehmen an, dass sich die für Verwahrlosung entscheidenden
Ereignisse im zweiten bis dritten Lebensjahr abspielen. Dieser Sachver-
halt erschwert eine Klärung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen
den Determinanten gesellschaftlicher Verwahrlosung und Verwahrlosung
als individueller Psychopathologie erheblich. Beim Ödipuskomplex ist das
trianguläre Grundmuster klar, auf das sich alle Varianten und das „Schwin-
den“ des Ödipuskomplexes beziehen lassen. Viel schwieriger bzw. unmög-
lich beim gegenwärtigen Stand der Forschung, ist es, auch auf die noch
vorwiegend dyadischen Auseinandersetzungen bezogen, eine Beziehungs-
konstellation festzustellen, die ein deutliches Grundmuster erkennen ließe.
Schon gar nicht bezüglich elterlicher Autorität. Dementsprechend lässt sich
auch, im Gegensatz zu den herkömmlichen ödipalen Konikten und ih-
ren gesellschaftlichen Funktionen, zwischen diesen „anfälligen Sozialisati-
onsbedingungen“ (Habermas) und gesellschaftlicher Herrschaft kein deut-
licher Zusammenhang herstellen. Soweit sich beim Entstehen individueller
Verwahrlosung in den Sozialisationsprozessen, vor allem in den Mutter-
Kind Beziehungen, doch typische Varianten des Misslingens der Auseinan-
dersetzungen feststellen lassen, sind diese doch nicht so genau denierbar,
dass klar wäre, warum in bestimmten Fällen die Voraussetzungen für neuro-
tische Störungen geschaffen werden, in anderen für Verwahrlosung. Auch
hinsichtlich der in verschiedenen Kulturen unterschiedlichen Sozialisati-
onspraktiken, erscheint es mir kaum möglich in den vorwiegend dyadischen
Konstellationen eine typische Beziehungsstruktur auszumachen, die sich
mit dem Problem der Zerstörung anthropologischer Grundlagen, grundle-
genden gesellschaftlicher Veränderungen und gesellschaftlicher Herrschaft
deutlich in Beziehung setzen ließe. Aber die frühen Beziehungen werden
nicht zufällig präödipal genannt, d.h. in Bezug auf die folgende psychische
Strukturierung bezeichnet. In den ödipalen Auseinandersetzungen spielen
die zuvor in der psychischen Entwicklung zustande gekommenen Problem-

90
Freud, S., 1923. S. 263

45
Verwahrlosende Gesellschaft

lösungen und Defekte, eine erhebliche Rolle. Manches, was zunächst noch
psychisch verkraftet werden konnte, kann nachträglich zum nicht bewäl-
tigbaren Problem werden. Es ist jedenfalls kein prinzipieller Widerspruch,
einerseits gesellschaftliche Verwahrlosungstendenzen zumindest teilweise
auf einen tendenziellen Zerfall des Ödipuskomplexes zurückzuführen, an-
dererseits festzustellen, dass Verwahrlosung als psychische Störung ihren
Ursprung in präödipalen Konikten hat.

46
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
Von Verwahrlosung der Gesellschaft zu sprechen, impliziert die Unterstel-
lung einer schwerwiegenden Gestörtheit, womöglich einer Art Erkrankung
der Gesellschaft. Tatsächlich wird unsere Gesellschaft immer wieder als
krank bezeichnet. Sowohl von Sozialwissenschaftlern als auch von Politi-
kern.1 Angesichts der genannten Unschärfe des Begriffs Verwahrlosung,
mag es aber wenig überzeugend erscheinen, in diesem Sinne die Frage
nach gesellschaftlicher Verwahrlosung zu stellen. Erst recht unklar ist, ob
es überhaupt sinnvoll sein kann, von kranker Gesellschaft zu sprechen. Die
Indizien Wertewandel und Werteverfall z.B. lassen sich, auf eine bestimm-
te Gesellschaft bezogen, zunächst nur in historischer Perspektive oder al-
lenfalls im Vergleich mit Gesellschaften desselben Kulturkreises beurtei-
len. Ausgehend von unserer Gesellschaft sind das vor allem die hoch ent-
wickelten westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Aber an Hand wel-
cher Kriterien lässt sich in einer zunehmend permissiven Gesellschaft ein
im Grunde genommen harmloser Wertewandel von verwahrlosungsartigem
Werteverfall unterscheiden? Und vom Verlust welcher Werte kann man an-
nehmen, dass er ernstlich gesellschaftliche Probleme verursacht, die sich
nicht durch soziale Kontrolle durch Überwachung, Manipulation und di-
rekte Verhaltenssteuerung kompensieren ließen?
Wie mir scheint kann trotz solcher Schwierigkeiten die Frage nach ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung als einer pathologischen Störung der Ge-
sellschaft doch in mehrfacher Hinsicht sinnvoll und angemessen diskutiert
werden. Nämlich dann, wenn zum Bezugspunkt genommen wird, was beim
Individuum psychoanalytisch als Verwahrlosung deniert werden kann, al-
1
So z.B. von dem Sozialphilosophen Oskar Negt: „Es könnte sein, dass wir von einer
kranken Gesellschaft sprechen müssen, in der bewusste Politik ausgeschlossen ist, weil
die Gesellschaft zum bloßen Anhängsel der wirtschaftlich Mächtigen und der Börsen-
kurse geworden ist.“ Zitiert nach einer Rezension von M. Meller des Buches Negt, 2012
in Deutschlandradio.de. 30.07.2012. Auch der englische Premierminister David Came-
ron sprach von kranker Gesellschaft bezogen auf die Massenrandalen von August 2011,
an der sich nicht nur ärmere Teile der Bevölkerung beteiligt haben. Siehe DER SPIE-
GEL 33 / 2011, S. 84 ff.

47
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

so subjektive Verwahrlosung in genauerem Sinn. Außerdem wenn objektiv


bedingte Verwahrlosung im engeren Sinne zum Bezugspunkt genommen
wird, nämlich ein Verfall von Normen und Werten, der das gesellschaft-
liche Funktionieren überhaupt gefährdet, also grundlegende Anomie. Ge-
sellschaftlicher Realitätsverlust ist davon ein besonders schwerwiegendes
Merkmal. Ein solcher Begriff von gesellschaftlicher Verwahrlosung ist un-
abhängig davon, ob viele oder wenige Individuen verwahrlost sind. Er be-
zieht sich auf gesellschaftliche Dysfunktion.
Der Aspekt einer grundlegenden Gestörtheit der Gesellschaft ist bisher
psychoanalytisch als Frage diskutiert worden, ob eine Gesellschaft krank
sein kann. Vor allem der Psychoanalytiker Erich Fromm hat diese Frage
ganz entschieden bejaht. Er verweist auf Freud, der wegen der Ähnlich-
keit der Kulturentwicklung mit der Entwicklung des Einzelnen nicht aus-
schließt, dass Kulturen neurotisch werden können, bzw. geworden sind.2
Freud riet allerdings sehr zur Vorsicht bei der Verwendung solcher Analo-
gien. Er verwies auf die Schwierigkeit, bei „Gemeinschaftsneurosen“ die
Kriterien angeben zu können, woran gemessen die betreffenden Gemein-
schaften als nicht normal diagnostiziert werden könnten.3
Fromm hatte diesbezüglich wenig Bedenken. Er orientierte sich an ei-
nem „normativen Humanismus“, von dem er behauptete er sei universal.
Seine Untersuchung der „immer wiederkehrenden Konikte zwischen der
menschlichen Natur und der Gesellschaft“ „gründet sich auf die Idee, dass
eine Gesellschaft dann gesund ist, wenn sie den Bedürfnissen des Men-
schen entspricht – nicht unbedingt dem, was er als seine Bedürfnisse emp-
ndet, weil selbst die pathologischsten Ziele von dem Betreffenden sub-
jektiv als sein höchster Wunsch empfunden werden können, sondern dem,
was seine Bedürfnisse objektiv sind, wie man sie durch das Studium des
Menschen feststellen kann. Unsere erste Aufgabe ist demnach festzustel-
len, wie die Natur des Menschen beschaffen ist und welches die aus dieser
Natur entspringenden Bedürfnisse sind.“4
Solche ganz allgemeinen Feststellungen lassen sich jedoch nicht empi-
risch begründen. Über die Frage der Natur des Menschen und welches sei-
2
Fromm, 1955 (1989)
3
Freud, S., 1930 S. 504ff. Siehe dazu in der Folge.
4
Fromm a.a.O., S. 19.

48
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

ne Bedürfnisse sind, können die Meinungen sehr weit auseinander gehen.


Der normative Humanismus, auf den Fromm sich beruft, ist in viel gesell-
schaftsspezischerer Weise normativ, als dass ihm universelle Gültigkeit
zugeschrieben werden könnte. Er ermöglicht Fromm jedoch zu einer De-
nition der „gesunden Gesellschaft“ zu kommen, die aber mit der Realität
der existierenden Gesellschaften faktisch nichts zu tun hat: „Eine Gesell-
schaft ist gesund, wenn sie es dem Menschen erlaubt, in überschaubaren
Dimensionen, die er noch in der Hand hat, zu wirken und aktiv und verant-
wortungsbewusst am Leben der Gesellschaft teilzunehmen und gleichzei-
tig Herr seines eigenen Lebens zu sein. Eine solche Gesellschaft fördert die
Solidarität der Menschen und gibt ihren Mitgliedern nicht nur die Möglich-
keit, liebevoll miteinander in Beziehung zu treten, sondern regt sie geradezu
dazu an. Eine gesunde Gesellschaft fördert das produktive Tätigsein eines
jeden bei seiner Arbeit, sie dient der Entfaltung der Vernunft und gibt dem
Menschen die Möglichkeit, seinen inneren Bedürfnissen in gemeinsamer
künstlerischer Tätigkeit und in Ritualen Ausdruck zu verleihen.“5
Es gibt noch andere Versuche zu denieren, was eine „gesunde“ Ge-
sellschaft ist. Eine Studie, die 1952 im Auftrag der UNESCO durchgeführt
wurde, nennt vier Eigenschaften, die eine Gesellschaft aufweisen müsse,
um eine „gesunde“ Gesellschaft zu sein:6
„1) Alle Aspekte des Lebens gehören zusammen, d.h.: in einer gesun-
den Gesellschaft besteht kein Hiatus zwischen Arbeit und Entspannung,
Ernst und Spiel, Arbeit und Glaube, Glaube und Lust, Leben und Tod,

5
Fromm a.a.O. S 193. Der englische Originaltitel von Fromms Buch lautet „The Sane
Society“. Immerhin hat Fromm sich die Mühe gemacht Kriterien für seine Krankheits-
diagnose der Gesellschaft anzugeben. In der jüngsten Veröffentlichung eines Medien-
wissenschaftlers zu diesem Thema, macht es sich der Autor leicht. Die „Persönlichkeits-
störung“ unserer westlichen Gesellschaften, die er diagnostiziert, sowie die Behauptung
eines Kulturkampfes, in dem sich gierige westliche Narzissten und realitätsblinde, mehr
oder weniger wahnsinnige dschihadistische Boderliner bekämpfen, ist ein oberächli-
cher Versuch aktuelle Konikte mit psychoanalytischen Etiketten zu versehen. Ein sol-
cher Gebrauch von Psychoanalyse kann sie nur diskreditieren. Siehe Christian Kohlross:
„Mit Psychoanalyse zum Gewaltverzicht“. Deutschlandradio Kultur. Politisches Feuil-
leton. Online 22.01.2015
6
Zitiert in Berg, 1960, S. 165

49
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

Jugend und Erwachsenheit. Alles ist zusammengebunden zu einem ko-


härenten Ganzen, nirgends gibt es Risse, nichts steht abgesondert.
2) Jeder gehört „automatisch“ zur Gemeinschaft aller. Niemand steht al-
lein, niemand bekommt dazu die Gelegenheit, auch nicht in einer be-
stimmten Phase seines Lebens. Man gehört selbstverständlich dazu, oh-
ne Zwang.
3) Alle Veränderungen in der Gesellschaft sind langsame Veränderungen,
so langsam, dass sie nicht auffallen; es spürt sie gleichsam niemand.
So stabil ist das Leben, dass die Vorfahren „selbstverständlich“ dasselbe
Leben lebten, und dass die Kinder und Kindeskinder genau so selbstver-
ständlich im selben Dasein zurechtkommen werden.
4) Alle wichtigen Gruppen, zu denen der einzelne gehört, sind klein.“
Wenn diese vier Merkmale nicht erfüllt sind, entsteht den Verfassern der
Studie zufolge „social sickness“. Die Mitglieder der Gesellschaft fühlen
sich nicht glücklich, es treten Störungen verschiedener Art auf, verschie-
dene Varianten psychischer Störungen, Selbstmord, Ehescheidung, Krimi-
nalität und psychosomatische Krankheiten u.a. Berg, der diese Studie zi-
tiert, konstatiert zutreffend, dass „die westliche Gesellschaft“ keines der
vier Merkmale aufweist. Und er fügt hinzu, unsere Gesellschaft sei durch
eine tiefgehende Desintegration gekennzeichnet. Solche Denitionen einer
„gesunden Gesellschaft“ bleiben Gedankenspiele, weil sie den Charakter
unerreichbarer Ideale haben und keine Perspektive erkennbar ist, wie sie
realisierbar sein könnte.
Diese Einsicht hätte eigentlich gerade Fromm haben müssen, der so
nachdrücklich das Ideal einer „gesunden Gesellschaft“ propagierte. Er war
einst ein wichtiger Repräsentant der Frankfurter „Kritischen Theorie“, hat
sich aber später in mehrfacher Hinsicht von ihr distanziert. So auch wenn
er Gesellschaftskritik am normativen Ideal einer „gesunden Gesellschaft“
orientiert. Denn „die dialektische Theorie übt keine Kritik aus der bloßen
Idee“.7 Der kritische Theoretiker ist sich bewusst, dass er als Mitglied der
Gesellschaft selbst in deren Widersprüche und Konikte verstrickt ist und
deswegen nicht beanspruchen kann, über ein Modell richtigen Lebens zu
verfügen. „Kritische Theorie“ hat zwar „das Glück aller Individuen“ zum

7
Horkheimer, 1937 (1968, S. 196ff).

50
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie

Ziel, deniert dieses jedoch nicht vorweg, sondern nähert sich ihm prak-
tisch und theoretisch in den Konikten, die sich im Kampf um die „Eman-
zipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“ ergeben. Der Psy-
choanalytiker Alfred Lorenzer hat dargelegt, dass „Kritischer Theorie“ und
Psychoanalyse gemeinsam ist, „dass die Erkenntnisprozesse sich nicht „im
rein geistigen Bezirk“ abspielen, sondern mit „dem Kampf um bestimm-
te Lebensformen in der Wirklichkeit“ zusammenfallen.“ „Nicht die posi-
tive Kenntnis richtigen Lebens, sondern die kritische Wendung gegen die
Erfahrung eines unerträglichen Lebens ist der Ansatz psychoanalytischer
Erkenntnisbildung: die im Zusammenspiel mit dem Analysanden gewon-
nene Erfahrung beschädigten Lebens und die systematische Verarbeitung
dieser Erfahrung.“ Der Psychoanalytiker orientiert sich nicht an irgendwel-
chen Vorstellungen von psychischer Gesundheit. „Das Leiden des Analy-
sanden drängt als sinnlich spürbarer Widerspruch gegen Zumutungen durch
das Bestehende auf Abschaffung des Unerträglichen.“8 Von daher wird es
möglich, zu formulieren, was ein besseres Leben konkret bedeuten würde.

Die Grundlagen aller Kultur als Kriterium der Beurteilung


gesellschaftlicher Pathologie
Es ist in jedem Fall willkürlich, „aus der bloßen Idee“ eine Denition von
gutem Leben oder auch von Gesundheit zu entwickeln. Damit ist aber nicht
gesagt, dass es nicht möglich wäre, zu denieren, was man konkret unter
schlechtem Leben und unter „Krankheit“ versteht. Wenn man aber auf ei-
ne ganze Kultur oder eine Gesellschaft bezogen von Krankheit sprechen
will, wird man Freuds Mahnung beachten müssen, dass man bei solchen
Analogien in Gefahr läuft, „Begriffe aus der Sphäre zu reißen, in der sie
entstanden und entwickelt worden sind.“9 Vor allem muss man seine Frage
beantworten, woher man objektive Kriterien für die Beurteilung nehmen
will.
Ein Ansatz zur Lösung letzteren Problems ndet sich bei Georges De-
vereux. Er hat versucht, ohne normative Unterstellungen zu begründen, in-
wiefern auch Gesellschaften „krank“ sein können. Seine Argumentation hat
8
Lorenzer, 1986, S. 261
9
Freud, S., 1930, S. 204f.

51
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

besonderes Gewicht, da er nicht nur als Psychoanalytiker ausgewiesen ist,


sondern auch als Pionier der Ethnopsychoanalyse und als Gräzist. Der An-
gelpunkt seiner Argumentation ist die Tatsache der „kulturellen Einheit der
Menschheit“ und, da „Kultur und Psyche funktionell untrennbar“ aufeinan-
der bezogen sind, der psychischen Einheit der Menschheit. Die menschli-
che Psyche und die Kultur sind Konzepte, die untrennbar miteinander ver-
bunden sind, sowohl unter dem methodologischen Gesichtspunkt als auch
unter dem funktionellen Gesichtspunkt.10 Mit Kultur ist dabei nicht eine
Kultur gemeint, sondern Kultur per se, d.h. Kultur als universelles Phäno-
men. Ihre grundlegenden allgemeinen Kategorien sind universale Phäno-
mene und als solche „identisch mit den Kategorien des menschlichen Den-
kens als solchem“.11 Dem entspricht, dass aus psychiatrischer Sicht „die
geltenden Normalitätskriterien alle absolut“ sind. D.h. sie sind „unabhän-
gig von irgendeiner bestimmten Kultur oder Gesellschaft, aber konform den
Kriterien von Kultur als einem universellen menschlichen Phänomen.“12
„Kultur ist ein universelles Phänomen und eine Eigenschaft, die nur für
den Menschen charakteristisch ist und ( . . . ) die allgemeinen Kategorien
von Kultur – als von ihrem konkreten Inhalt jeder besonderen Kultur unter-
schiedene – sind auch universell.“13
Devereux nennt in diesem Zusammenhang affektive Reife, Realitäts-
sinn, Rationalität und die Fähigkeit zu sublimieren, als allgemeine Disposi-
tionen der Menschen, die sowohl der Anpassung an eine „gesunde Gesell-
schaft“ dienen können, als auch dem Überleben in einer „pathologischen
Gesellschaft“. Sie sind „logisch unabhängig“ von der Anpassung als sol-
cher.14
Von den Besonderheiten des Gattungswesens Mensch her lassen sich
einige Kriterien für eine Unterscheidung zwischen „gesunden“ und „kran-
ken“ Gesellschaften ableiten. So wird eine „gesunde Gesellschaft“ eher

10
Devereux, G., 1953, S. 630
11
Devereux, G., 1952, S. 177. Devereux verweist hier auf die Erkenntnisse „der französi-
schen soziologischen Schule“.
12
Devereux, Georges, 1956 (1977, S. 3).
13
In jeder Kultur ndet sich ein Verwandtschaftssystem, ein ökonomisches System, ein
System des Wissens, Religion u.a Devereux, G., 1953, S. 633
14
daselbst und Devereux, G., 1953, S. 630

52
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie

individuelle Sublimierungen begünstigen, als entdifferenzierende Verdrän-


gungen und Unterdrückung. Eine „kranke Gesellschaft“ dagegen „kann In-
dividualisierung und individuelle Sublimierungen nicht dulden“, sondern
fördert statt dessen Entdifferenzierung, Verlust an Individualität, Unter-
drückung, Verdrängung, Spaltung, Reaktionsbildung usw.
Laplantine hat im Anschluss an Devereux die wissenschaftstheoreti-
schen Kriterien für die Unterscheidung von normaler und pathologischer
Kultur emphatischer deniert. Charakteristisch für erstere sind: 1)Die Fä-
higkeit der Menschen zur Kommunikation und genauer, zur symbolischen
Kommunikation. 2)Die Solidarität der Kultur mit den Interessen eines zu
schöpferischer Geschicklichkeit und Sublimierung fähigen Ichs und nicht
mit den Interessen der Es-Triebe und des Über-Ichs. 3)Die Fähigkeit des In-
dividuums, sich ausreichend selbst zu lieben, lieber zu leben als zu sterben,
das Leben zu feiern, zu träumen und die Träume zu beherrschen. 4)Die An-
erkennung der Realität, d.h. einer von sich verschiedenen äußeren Welt.15
Von diesen Kriterien her kritisiert auch Laplantine unsere Gesellschaft
als „kranke“ Gesellschaft: Ihm zufolge manipulieren wir nur noch Wörter
und Zeichen, die nicht mehr auf Symbole bezogen sind, sondern ein im-
menses geschlossenes System bilden, das jedes tieferen Sinnes entleert ist.
Er konstatiert das Verschwinden der Grenzen zwischen dem Realen und
dem Phantasierten und die Regression auf die archaischsten Formen magi-
schen Denkens, das behauptet alles sei möglich.16
Es gibt also, ungeachtet der Vielfältigkeit der Kulturen, absolute all-
gemeine Kriterien für Normalität. Und wenn die gesellschaftlichen Ver-
hältnisse diesen Kriterien nicht entsprechen, ist es möglich von Gesell-
schaftspathologie zu sprechen. Bezogen auf Freuds Bedenken heißt das,
dass die Kriterien für die Diagnose von „Gemeinschaftsneurosen“ in den
Grundlagen von Kultur allgemein zu nden sind.17
Devereux hat seine Überlegungen verschiedentlich ergänzt: „Der Homo
sapiens ist das aktuelle Endprodukt eines evolutionären Prozesses hin zu ei-

15
Laplantine, 1988, S. 96.
16
Laplantine, 1975, S. 62
17
Damit ist allerdings das sekundäre Problem der Unangemessenheit der verwendeten
Begriffe bei solchen Analogien nicht gelöst. Von „kranker“ Gesellschaft kann eigentlich
immer nur in Anführungszeichen die Rede sein. Siehe dazu auch in der Folge.

53
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

nem hohen Grad von Differenzierung und Individualisierung. Die wichtigs-


te und spezisch menschliche Eigenschaft des Menschen – die konstante
Menschennatur – ist die extreme Plastizität und Variabilität seines Verhal-
tens. Diese genannten vier Charakteristika der Menschenart: Differenzie-
rung, Individualisierung, Plastizität und Variabilität des Verhaltens stellen
eine einheitliche biologische Potenz dar, die sich aktuell verwirklicht im Er-
werb einer distinkten menschlichen Psyche und von Kultur.“18 Psychoana-
lyse und Anthropologie sind die Wissenschaften, die in besonderer Weise
diese allgemeinen menschlichen Charakteristika zum Gegenstand haben.
Und da die menschlich Psyche und Kultur funktional untrennbar sind, sind
die Erkenntnisse dieser beiden Wissenschaften nicht additiv, sondern kom-
plementär.19 Ihre Gesetze sind auf die Prozesse von Differenzierung und
Individualisierung bezogen, erklären jedoch relativ wenig die phänomeno-
logische Vielfalt der Endprodukte dieser Prozesse. (a.a.O. S. 635)
Devereux stellt im Übrigen ganz im Sinne der oben genannten Kri-
tik an Vorstellungen von „gesunder Gesellschaft“ auch klar, dass es keine
eindeutige Denition von Gesundheit gibt, die für alle Zeiten gültig wäre.
Dementsprechend ist auch keine absolute Diagnose irgendeiner „kulturel-
len Neurose“ möglich. Wenn man jedoch von einer Differentialdiagnose
irgendeiner Kultur, die man untersucht, ausgeht, die auf Vergleichen mit
den Neurosen anderer Kulturen beruht, kann man mit Hilfe von Induktion
die Struktur ihrer spezischen sozialen Neurose erschließen.20
Devereux hat zwei Gesellschaften aus der Perspektive seiner Konzep-
tion von „kultureller Neurose“ bzw. „kranker“ Gesellschaft betrachtet: das
antike Sparta und Nazideutschland.21 Beide Gesellschaften lassen sich sei-
ner Meinung nach eindeutig als pathologisch charakterisieren. Das ent-
scheidende Kriterium dafür ist für ihn Realitätsverkennung bzw. Realitäts-
verlust. Das kulturelle Nichtanerkennen von Realität (déréisme) ist für ihn
das zentrale Symptom einer „kranken“ Gesellschaft. Umgekehrt ist nicht

18
Devereux, G., 1953, S. 629
19
Devereux, G., 1953, S. 654. Das lässt sich besonders einleuchtend an Hand des Ödipus-
komplexes bzw. der Exogamie darstellen.
20
Devereux, G., 1939, S. 849
21
Zum Folgenden Devereux, G., 1974

54
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie

deformiertes kulturelles Akzeptieren der Realität der Prüfstein für psycho-


logische Gesundheit.22
Devereux bezeichnet die „nazistische soziokulturelle Umgebung als
klares Beispiel einer sozialen Neurose, wenn nicht Psychose“23 Realitäts-
verkennung bzw. – verleugnung ist für ihn ein wesentliches Merkmal der
pathologischen Nazigesellschaft. Tatsächlich ndet sich dieses Symptom
in der nazideutschen Gesellschaft reichlich allein schon in Form von sys-
tematisch propagiertem Obskurantismus. Georges Politzer hat dies schon
früh diagnostiziert und festgestellt, dass im Faschismus der Kapitalismus
gegen die Wissenschaft rebelliert.24
Devereuxs Sicht Nazideutschlands als einer „kranken“ Gesellschaft,
die an Realitätsverlust leidet, ist von Robert Endleman aufgegriffen und
ausführlich begründet worden. Bei ihm allerdings wird die von Devereux
verschiedentlich beobachtete Parallele zwischen individueller und gesell-
schaftlicher Pathologie, hier das Vorhandensein eines vitiösen Zirkels der
Realitätsverkennung, zum zentralen Bezugspunkt seiner Erklärung.25 Diese
Sicht verweist aber darauf, dass Endleman, obwohl er, mit dem Hinweis
auf die schon erwähnten Bedenken Freuds, auf Gesellschaften bezogen die
Charakterisierung „krank“ jeweils in Anführungszeichen setzt, doch Ge-
sellschaft als eine Art Organismus zu sehen scheint. Er tut damit genau
das, was einst der frühe Fromm und Fenichel zurecht kritisiert haben: „In
falscher Analogie mit den dem Analytiker aus seiner analytischen Praxis
bekannten psychischen Konikten werden Konikte innerhalb einer Grup-
pe genauso behandelt, als wären auch sie intrapsychisch: es wird übersehen,
dass diese Gruppe aus verschiedenen Individuen besteht, die in Wahrheit in
Konikt miteinander liegen, weil sie tatsächlich widersprechende Interes-
sen haben.“26 Ebenso falsch ist es dementsprechend, Gruppen wie Subjekte
zu sehen und nicht zu beachten, ob es nicht Untergruppen mit gegensätz-
lichen Eigenschaften gibt. Soweit Devereux darauf insistiert, dass Gesell-

22
Devereux, G., 1940 (1977, S. 111)
23
Devereux, G., 1939. S. 850
24
Politzer, 1939 (1973, S. 123). Zu Politzers Werk siehe Füchtner, 1975
25
Der vitiöse Zirkel besteht darin, dass auf eine verzerrt wahrgenommene Realität reagiert
wird und diese Reaktion neue Verzerrungen bewirkt.
26
Fenichel, 1935 (1972, S. 133). Dazu auch Fromm, 1930 (1931)

55
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft

schaften „krank“ sein können, tut er dies, anders als Endleman, im Hinblick
auf Grundlagen, die allen Kulturen gemeinsam sind. Soweit er seine Auf-
fassung auch mit sozialpsychologischen Beobachtungen begründet, liegt
das in seinem Fall nicht daran, dass er Gesellschaftliches unzulässig psy-
chologisieren würde.27 „Psychoanalyse“, so Devereux, „darf sich nicht in
Tatsachen einmischen, deren einfachste, überzeugendste, wirkungsvollste
Erklärung ökonomischer oder religiöser Art ist.“28

Verwahrlosung als sozialpsychologisches Phänomen und als


gesellschaftsstrukturell bedingte Pathologie
Bei der Erörterung der Frage der Verwahrlosung der Gesellschaft muss
man, wie dargelegt, unterscheiden zwischen einer Zunahme verwahrlost
handelnder Menschen, einer Vermehrung charakterlich verwahrloster Men-
schen und Verwahrlosung als objektiver, materieller bzw. gesellschaftss-
truktureller Pathologie. Wenn Psychoanalytiker aktuelle gesellschaftliche
Gegebenheiten analysieren, vernachlässigen sie oft die aktuellen Faktoren.
Devereux begeht aber nicht diesen, von Fenichel kritisierten, für Analytiker
typischen Fehler, dass sie, wenn sie nichtneurotische Phänomene untersu-
chen, „das Aktuelle neben dem Strukturellen gering schätzen.“29 Mit dem
Strukturellen meint Fenichel in diesem Zusammenhang die Triebstruktur
des Menschen, die im Laufe der historischen Zeiten die gleiche geblieben
ist. Er stellt fest, dass sie als Konstante, aber nicht als völlig unveränder-
bare Naturgegebenheit, gesehen werden kann. Er nennt als Beispiel den
Ödipuskomplex, der je nach gesellschaftlich unterschiedlichen Familien-
verhältnissen verschiedene Formen annehmen kann. Obwohl Fenichel also
eigentlich auch das Strukturelle als prinzipiell gesellschaftlich beeinusst
versteht, berücksichtigt er doch nicht, dass es gesellschaftliche Konstella-
tionen geben kann, die sogar die Triebstruktur des Menschen tangieren.
Dem entspricht seine Behauptung, die Triebstruktur des durchschnittlichen
Deutschen sei 1935 nicht sehr verschieden von der von 1925 gewesen.30
27
Devereuxs Methode ist wesentlich interdisziplinär. Er nennt sie komplementaristisch.
28
Devereux, G., 1974, S. 121
29
Fenichel, 1935 (1972, S. 134)
30
Fenichel, 1946 (1985, S. 374)

56
Verwahrlosung als sozialpsychologisches Phänomen

Dem hat Wangh widersprochen. Der Ausgangspunkt seiner Überlegun-


gen ist die Frage, wie es sein konnte, dass eine Nation alle westlichen kultu-
rellen Hemmungen gegen Menschenopfer, Sklaverei und sogar Kannibalis-
mus aufgab. Und wie es sein konnte, dass führende Eliten beim geplanten
und ruchlosen Völkermord an den Juden alle Gefühle des Schreckens und
der Abscheu vor ihren Taten vermieden. Wang wendet gegen Fenichel ein,
dass die Frage nicht nur sei, ob die Triebe sich geändert haben, sondern
ob sich der Charakter des Ichs und der Charakter des Über-Ichs geändert
haben, in einer Weise, dass die Es-Regungen auf eine geschwächte Kon-
trollierfähigkeit und regressive Abwehrmechanismen gestoßen sind. Wang
verweist auf eben solche Veränderungen in bestimmten Generationen der
Bevölkerung, die ihre Sozialisation während des ersten Weltkrieges erfah-
ren haben.31 Sie können jedoch allenfalls teilweise erklären, warum Ange-
hörige dieser Generationen so bereitwillige Vollstrecker der mörderischen
Naziideologie werden konnten. Letztlich lässt sich aber gesellschaftliche
Verwahrlosung nicht allein mit den psychischen Dispositionen der Men-
schen einer Gesellschaft erklären. Es müssen, das belegt auch diese auf
Nazideutschland bezogene Kontroverse, die gesellschaftsstrukturellen Vor-
aussetzungen dafür vorhanden sein.32

31
Wangh, 1964
32
Wie relativ die Bedeutung von Sozialisationsresultaten für die politischen Verhältnis-
se sein kann, kann man sich z.B. am Beispiel von manchen Beamten der Generatio-
nen verdeutlichen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren sind. Als jugendliche
Kriegsfreiwillige sind sie für den Kaiser in den ersten Weltkrieg gezogen. Wenn sie ihn
überlebt haben, erfolgten beruiche Ausbildung und erste Berufsjahre in der demokra-
tischen Weimarer Republik. Danach dienten sie der Nazidiktatur, eventuell als Mörder.
Wenn sie auch den zweiten Weltkrieg überlebten, hatten sie gute Chancen, wieder wich-
tige beruiche und auch politische Positionen in der westdeutschen Demokratie oder
in der stalinistischen DDR einzunehmen und als angesehene Bürger und Nachbarn ge-
schätzt zu werden. Sie wurden im Laufe ihres beruichen Lebens auf ganz verschiedene
politische Systeme vereidigt und haben sich ihnen jeweils angepasst.

57
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive.
Die Grundlegung durch August Aichhorn
August Aichhorns beruflicher Werdegang
Das Werk von August Aichhorn (1878 – 1949) ist bis heute der Ausgangs-
punkt und die Grundlage für alle psychoanalytischen Auseinandersetzun-
gen mit Verwahrlosung. Aichhorn hat Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien
zunächst als Lehrer und dann als Erzieher in der Jugendfürsorge gearbei-
tet.1 Er stand in seiner erzieherischen Arbeit von Anfang an in konsequen-
ter Opposition zu autoritär-repressiven Erziehungsmaßnahmen.2 Im Jahre
1906 gründete in Wien ein Hauptmann a/D den militärisch organisierten
Knabenhort Landstraße. Die schmucken Matrosenuniformen, die die Kin-
der tragen mussten, Blechmusik, militärisches Exerzieren und mehr noch
„die positive Mitarbeit, die den Zöglingseltern in den Vereinsversammlun-
gen gestattet war, gewannen ihm große Massen.“ Die Lehrerschaft miss-
billigte jedoch den übertriebenen militärischen Drill, das zu starke in die
Öffentlichkeit treten der Kinder und das Eindringen der schulfremden pen-
sionierten Ofziere in die Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule.
1907 begann ein heftiger Kampf gegen die militärisch ausgerichteten Hor-
te. Es wurden Gegenvereine und in einigen Bezirken nach pädagogischen
Grundsätzen geleitete Knabenhorte gegründet. Im folgenden Jahr sah die
Gemeinde Wien die Notwendigkeit der Gründung solcher Einrichtungen
für die schulpichtige Jugend in der schulfreien Zeit ein. Zu viele Jugend-
liche blieben tagsüber sich selbst überlassen und den schädigenden Einüs-
sen ihrer Umgebung ausgesetzt, weil in immer mehr Familien beide Eltern
berufstätig sein mussten und wegen des mühsamen Kampfes ums tägliche
Brot für die Erziehung der Kinder weder genug Zeit noch Kraft hatten. In
dieser Situation wurde Aichhorn 1909 mit der Leitung der städtischen Kna-
benhorte der Stadt Wien betraut. Neben dieser Aufgabe, die er bis 1919 er-
1
Zur Biographie Aichhorns siehe Mühlleitner, 1992 und Aichhorn, A., 1921 (1976, Aich-
horn, T., 1976)
2
Zum Folgenden siehe Aichhorn, T., 1976, S. 32

58
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

füllte, machte er eine Ausbildung an der Heilpädagogischen Abteilung der


Wiener Universitätsklinik, hielt Kurse zur Heranbildung von Lehrpersonen
in der Jugendfürsorge ab, unterrichtete künftige Fürsorgerinnen in Hortbe-
triebslehre und beteiligte sich an der Errichtung von Bezirksvereinen für
Kinderschutz und Jugendfürsorge in Niederösterreich.
Von 1918 bis 1923 leitete Aichhorn eine Fürsorgeanstalt in Oberhol-
labrunn, die 1921 nach St. Andrä verlegt wurde. Von 1923 bis 1930 leite-
te Aichhorn die Erziehungsberatung in den vierzehn Bezirksjugendämtern
der Stadt Wien. 1931-32 trat er in den Ruhestand, arbeitete jedoch weiter-
hin als Erzieher und Pädagoge und, wie schon seit einigen Jahren, auch als
Psychoanalytiker und psychoanalytischer Pädagoge.
Zu den Folgen des ersten Weltkrieges gehörte auch, dass die Zahl ver-
wahrloster Kinder und krimineller Jugendlicher stark zunahm. Aichhorn
hat mit Tausenden solcher Kinder erzieherisch gearbeitet. Bei seinen Be-
mühungen diese Arbeit theoretisch zu begreifen, ist er gegen Ende des Ers-
ten Weltkrieges auf die Psychoanalyse gestoßen. In ihr fand er eine Theorie,
die es ihm ermöglichte, das, was er ohnehin schon als Erzieher praktizierte,
theoretisch zu begründen. Noch während seiner Arbeit in Oberhollabrunn
unterzog er sich einer Analyse bei Paul Federn. Im Jahre 1921nahm er den
Kontakt zu der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung auf. Er diskutierte
regelmäßig vor allem mit Anna Freud, Siegfried Bernfeld und Willi Hoffer
Fragen der Psychoanalytischen Pädagogik und erfreute sich des Wohlwol-
lens von Freud, der die Bedeutung von Aichhorns Arbeit für die Psychoana-
lyse erkannte. 1922 wurde er ordentliches Mitglied der Wiener Psychoana-
lytischen Vereinigung. Als Analytiker, Lehranalytiker, Pädagoge und, nach
dem zweiten Weltkrieg auch als Obmann der Wiener Psychoanalytischen
Vereinigung, spielte er eine herausragende Rolle in der Psychoanalyse in
Wien. Seine Arbeit gewann auch große internationale Beachtung.

Verwahrlosung in der Perspektive Aichhorns


Als Aichhorn im Jahre 1918 beauftragt wurde, in Oberhollabrunn eine
Fürsorge-Erziehungsanstalt einzurichten, war er für diese Aufgabe hervor-
ragend qualiziert. In seiner Arbeit mit jugendlichen Verwahrlosten be-
schäftigte ihn aber immer mehr die Tatsache, dass sich Verwahrlosung nicht

59
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

allein als Folge ungünstiger sozialer Verhältnisse erklären ließ. Bestimmte


soziale Verhältnisse können Verwahrlosung erheblich begünstigen. Ande-
rerseits werden nicht alle Menschen, die in solchen Verhältnissen aufwach-
sen und leben verwahrlost. Es gibt Kinder, die auch unter widrigsten Um-
ständen nicht Verwahrloste werden. Wie ließ sich das erklären? Wie konnte
es sein, dass in ein und derselben Familie ein Kind verwahrloste, ein an-
deres dagegen nicht? Es musste neben den Verwahrlosung verursachenden
Verhältnissen auch ein „inneres Gestörtsein“3 dazukommen. Eine Disposi-
tion im Verwahrlosten, die ihn von den anderen Nicht-Verwahrlosenden
unterscheidet und die nicht allein aus der aktuellen Situation heraus er-
klärt werden konnte. Verwahrlosung in diesem Sinne als eine bestimmte
psychische Disposition, als eine bestimmte psychische Störung gesehen,
musste dann, wie andere Formen von Psychopathologie, im Prinzip psy-
chologisch bzw. sozialisationstheoretisch erklärt und psychotherapeutisch
behandelt werden können.
In dieser Perspektive begann Aichhorn sich für die Psychoanalyse
zu interessieren, weil sie aktuelle psychische Probleme von Jugendlichen
und Erwachsenen als Folge frühkindlicher Entwicklungsstörungen versteh-
bar macht. Die Psychoanalyse gewann aber bald grundlegende Bedeutung
überhaupt für seine Bemühungen, seine Arbeit, seine erzieherischen Erfol-
ge und Misserfolge theoretisch zu erklären. Im Jahre 1925 veröffentlichte
Aichhorn das Buch „Verwahrloste Jugend. Die Psychoanalyse in der Für-
sorgeerziehung“.4 Es ist eine von Freud mit einem Geleitwort versehene
Sammlung von 10 Vorträgen, in denen er seine Erfahrungen, insbesondere
aus seiner Arbeit mit den Verwahrlosten in Oberhollabrunn, beschreibt und
psychoanalytisch reektiert. Das Buch ist in mehrere Sprachen übersetzt
und weltweit bekannt geworden.
Aichhorns Vorträge enthalten zahlreiche Beispiele aus seiner prakti-
schen Arbeit, die beeindruckend sind. Aichhorn hatte offensichtlich ein
enormes Talent als Erzieher im Umgang mit jungen Verwahrlosten und
Kriminellen. Er verstand sie oft intuitiv, weil er sich mühelos mit ihnen
identizieren konnte. Er konnte erstaunliche therapeutische Erfolge auf-

3
Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974, S. 91f).
4
Aichhorn, A., 1925 (1974)

60
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

weisen, die ihm immer wieder in geradezu abenteuerlich anmutenden und


riskanten Auseinandersetzungen gelangen. Er brauchte die Psychoanaly-
se weder für seinen Umgang mit Verwahrlosten noch zum Verständnis der
Verwahrlosung. „Sein Verständnis dissozialer Äußerungen war intuitiv und
beruhte auf einer automatischen, mühelosen Identizierung mit den Ver-
wahrlosten und Kriminellen, mit denen er zu tun hatte.“5 Dagegen brauchte
er die Psychoanalyse, um die psychologischen Mechanismen theoretisch zu
verstehen und darstellen zu können, die für seine erzieherische Arbeit aus-
schlaggebend waren. In der Handhabung der damals noch ganz triebtheo-
retisch ausgerichteten Psychoanalyse war er kreativ. Einige seiner Erkennt-
nisse erwiesen sich auch für die klassische Technik der Psychoanalyse als
sehr nützlich und anregend.6

Der Verwahrloste und die Gesellschaft


Für Aichhorns Umgang mit Verwahrlosten war schon vor jeder Beschäf-
tigung mit Psychoanalyse charakteristisch, dass er sich nicht auf die Seite
der Gesellschaft stellte, die das Verhalten des Verwahrlosten nicht dulden
kann, sondern konsequent auf die Seite des Verwahrlosten. Von morali-
scher Entrüstung und von Strafen, die sowieso nur die Guten abschrecken,
nicht die Bösen, hielt er nichts. Er sah in Verwahrlosung die Folge miss-
lungener frühkindlicher Sozialisation, die eine stehen gebliebene oder re-
gredierte Persönlichkeitsentwicklung verursacht hat. Für ihn war der Ver-
wahrloste nicht weniger, sondern anders krank als der Neurotiker. Dement-
sprechend kann es in der therapeutisch-erzieherischen Arbeit mit Verwahr-
losten nicht darauf ankommen, Symptome wegzuerziehen. Es müssen die
Ursachen aufgedeckt werden, die zur Verwahrlosung geführt haben. Das
heißt, die psychische Situation aus der heraus gehandelt wurde, muss er-
fasst werden und es muss der Kräfteablauf aufgefunden werden, der die
Dissozialität bedingt. Seine konsequente Parteinahme für den Verwahrlos-
ten erklärte Aichhorn so: „Weil ja auch alles Psychische determiniert ist,
sagen wir uns: er hat recht, d.h. es müssen Gründe für sein Tun vorhanden
5
Freud, A., 1951, S. 1594
6
Dazu Perner, 2005 und in der Folge

61
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

sein.“7 Und ausführlicher: „Für uns Erzieher ist der Dissoziale – a n s i c h


positiv, der nur in einer Lebensentwicklungsstufe das richtige Verhältnis zu
seiner Umgebung nicht gefunden hat. Missverstanden, brutal behandelt, zur
Stellungnahme in dem sich gegenseitig zereischenden Kampfe der Eltern
gezwungen, hat er psychische Verwundungen (Traumen) erlitten, weil die
exogenen Kräfte eine zu starke Belastung für die endogenen brachten oder
weil unvernünftige Elternliebe ihn hemmungslos aufwachsen ließ. Die Fol-
ge davon war eine falsche Einstellung, die ihn sich falsch xieren ließ und
ihn daher zur Dissozialität, vielfach auch zur Kriminalität und gerichtlichen
Aburteilung führte. Er ist der schuldlos schuldig gewordene Mensch, des-
sen Hass auf die Gesellschaft, dessen augenblickliche negative Einstellung
der Berechtigung nicht entbehrt.“8
Zwar kann der Gesellschaft sicherlich nicht verwehrt werden, sich vor
dem jugendlichen Rechtsbrecher zu schützen. Aber auch diesem steht das
Recht zu, die Gesellschaft dafür verantwortlich zu machen, dass sie ihn zum
Rechtsbrecher werden ließ.“9 Strafvollzug ist ungeeignet dem jugendlichen
Rechtsbrecher das zu geben, was er eigentlich braucht: die Möglichkeit, das
fehlende Stück seiner Entwicklung nachzuholen.
Erst wenn die Gründe der Verwahrlosung eines Jugendlichen verstan-
den wurden, kann die Verwahrlosung, nicht nur ihre Symptome, behoben
werden. Um den seelisch erkrankten Organismus des Dissozialen heilen
zu können, muss ihm der Erzieher Freund und Berater sein. Er muss sich
in den Verwahrlosten einfühlen können. Der Verwahrloste muss aus allen
Handlungen seiner Umgebung die Zuneigung zu sich herausfühlen können,
muss empnden können, dass er verstanden wird. Der Erzieher darf nicht
vergessen, „dass die meisten der vom Wege Abgeirrten nie zur Befriedi-
gung ihres kindlichen Zärtlichkeitsbedürfnisses gekommen sind, dass die
meisten gleichsam eine Entwicklungsstufe übersprungen haben, von der
ersten, oft nur zu traurigen Kindheit zum Verbrechen kamen, dass sie die
traulichen Stunden innigen Zusammenseins von Mutter und Kind nie er-
lebten.“10 „Nicht Reden und Ermahnen, noch weniger Strafen, nur Erleben
7
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 64). Dort auch zum Folgenden
8
Aichhorn, A., 1921 (1976, S. 40)
9
Aichhorn, A., 1921 (1976, S. 98f).
10
Aichhorn, A., 1921 (1976, S. 41)

62
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

führt den Dissozialen zurück.“(a.a.O. S. 43) Absolute Milde und Güte sind
allerdings nur richtig für „jene Verwahrlosten, die mit einem Dezit an Lie-
be aufzuwachsen gezwungen waren, sei es im Elternhaus, sei es in einer
anderen, schicksalhaft ebenso ungünstig gestalteten Umgebung. Die psy-
chisch Gesunden, die durch ein Übermaß an Zuneigung, durch fortwähren-
des Gewähren, ohne richtige triebeinschränkende Verbote heranwuchsen
und dadurch in der Verwahrlosung landeten, bedürfen anderer Einussnah-
me. Für diese gibt es ohne Zertrümmerung ihrer Ich-haftigkeit, ihres Egois-
mus, des Wegräumens ihrer Beziehungslosigkeit zur Umwelt kein soziales
Einordnen.“11

Varianten der Genese von Verwahrlosung


In seiner psychoanalytischen Orientierung war Aichhorn wesentlich
triebtheoretisch. Seine „theoretischen Annahmen und seine Praxis beruhen
auf der wechselseitigen Abhängigkeit von Trieb- und Ich-Entwicklung, al-
so auf Freuds libidinös bestimmter Objektbeziehungstheorie, auf der Ent-
stehung der Ideal-Instanzen in den frühen, im Modus der Identizierung
konzipierten Objektbeziehungen und auf den Konikten zwischen narziss-
tischen und objektlibidinösen Strebungen.“12 In dieser Perspektive stellte
Aichhorn fest, dass, wo bestimmte Störungen in der Libidoentwicklung
vorfallen, das Kind nicht kulturfähig wird oder bestenfalls eine nur schein-
bare, rein äußerliche Anpassung an die Umwelt zustande bringt, ohne die
Umweltforderungen in die Struktur seiner eigenen Persönlichkeit aufzu-
nehmen.13 Die Triebwünsche solcher Kinder verschwinden im Hintergrund,
die Verwahrlosung bleibt somit latent. Geringe Anlässe können aber ge-
nügen, den Zustand einer latenten Verwahrlosung in den einer manifesten
überzuführen. Ein solcher Phasenwechsel von der latenten zur manifesten
Dissozialität erfolgt jedoch nur ganz ausnahmsweise plötzlich. In der Regel
braucht es dazu längere Zeit, so dass sich zwischen diesen beiden Phasen
eine dritte Phase einschiebt. Aichhorn nennt sie „Bereitschaft“.14
11
Aichhorn, T., 1976 S. 31
12
Aichhorn, T., 2001, S. 160
13
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 10)
14
Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974, S. 11)

63
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

Aichhorn sah sich in seiner Arbeit mit der „Vielgestaltigkeit des Disso-
zialenproblems“ konfrontiert.15 Er unterschied zwei Hauptgruppen der Ver-
wahrlosungsformen: neurotische Grenzfälle mit Verwahrlosungserschei-
nungen und nicht neurotische. (a.a.O. S. 105)16 Eine rein neurotisch ver-
ursachte Delinquenz ist z.B. gegeben, wenn jemand, wie Freud das be-
schrieben hat, ein Verbrechen aus einem unbewussten Schuldbewusstsein
heraus, ohne realen Grund begeht und dadurch das Schuldbewusstsein „ir-
gendwie untergebracht“ werden kann.17 Dagegen ist beim Verwahrlosten
im engeren Sinne typischer Weise kein Schuldbewusstsein festzustellen.
Bei ihm fehlt „das Gefühl des Unangenehmen, die Unlustbetonung, die
dem Neurotiker das Kranksein erst bewusst werden lässt und ihn zur Be-
handlung reif macht.“(a.a.O. S. 34). Typisch für ihn ist „die geringe Fä-
higkeit, Triebregungen unterdrücken und von primitiven Zielen ablenken
zu können, sowie die ziemliche Wirkungslosigkeit der für die Gesellschaft
geltenden sittlichen Normen.“ Bei den meisten Fürsorgezöglingen kommt
es zu einem „offenen Konikt mit der Gesellschaft als Folge eines in der
Kindheit unbefriedigt gebliebenen Zärtlichkeitsbedürfnisses. In Erschei-
nung tritt sehr gesteigerter Lusthunger, primitive Form der Triebbefrie-
digung, Hemmungslosigkeit und verdecktes, aber desto größeres Verlan-
gen nach Zuneigung.“(a.a.O. S. 129f.) Ganz allgemein sind die Verwahrlo-
sungsursachen in der präödipalen Kindheit zu suchen, „wo sich die von der
Norm abweichenden ersten objektlibidinösen Bindungen hergestellt haben.
Die Verwahrlosung selbst ist nur der Ausdruck für Beziehungen zu Perso-
nen und Dingen, die andere sind, als die Sozietät sie dem Einzelnen zubil-
ligt.“(a.a.O. S. 105).
Die Problematik des Verwahrlosten, wie sie Aichhorn beschreibt, lässt
den Zusammenhang mit ihren frühen Ursprüngen erkennen: „Vieles, was
Verwahrloste zeigen, ist als kindliches Verhalten, wenn auch mit stark ver-
zerrten Zügen, zu deuten: sie sind genau so wenig wie Kinder längere
Zeit mit Interesse bei ein und derselben Beschäftigung zu halten, haben
in vielen Belangen genau dieselbe geringe Urteilsfähigkeit wie die Kinder,
15
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 35)
16
Ich gehe hier nicht auf alle Kategorien der Verwahrlosung ein, die Aichhorn unterschei-
det. Siehe dazu Aichhorn,A., 1959 (1972)
17
Freud, S., 1915a, S. 389f.

64
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

reagieren auf Reize so unmittelbar wie diese, sind in ihrem Handeln auch
von augenblicklichen Eingebungen geleitet und entladen ihre Affekte ganz
ungehemmt.“ „Es sieht so aus, als ob die Verwahrlosten ohne Übergang
einen Sprung von der unbewussten Lustwelt des kleinen Kindes in die raue
Wirklichkeit hätten machen müssen, der nur einem Teil ihres Ichs gelungen
ist.“(. . . )“ Diese Spaltung des Ichs, wenn wir das Fehlen der einheitlichen
Entwicklung so nennen wollen, zeigt jeder Verwahrloste.“ Einerseits ist der
Verwahrloste einem übermächtigen Lustprinzip unterworfen, andererseits
kann er sich im Existenzkampf sehr geschickt behaupten, „wo die Reali-
tät nur die nackte Selbstbehauptung fordert.“ Zweierlei Entwicklungsstö-
rungen kommen zustande: Entwicklungshemmung und Regression.(a.a.O.
S. 171f.)
Es sind drei Konstellationen in früher Kindheit, durch die diese psy-
chischen Störungen verursacht werden. Entweder sind diese Kinder aus zu
viel Liebe zu sehr verwöhnt oder sie sind zu streng erzogen worden. Oder
sie waren einem Wechselbad von zu großer Strenge und zu großer Zärt-
lichkeit und Verwöhnung ausgesetzt. In ersterem Fall steht das Kind ganz
im Mittelpunkt des Interesses und „lebt ungehemmt den Wünschen sei-
nes Lust-Ichs.“ Da die Mutter es gegen die wirkliche Realität abschirmt,
kommt es lange Zeit nicht zur notwendigen Modikation des Lustprinzips.
Soweit dem Kind Versagungen zugemutet werden, geschieht dies an der
falschen Stelle als Folge von Überbehütung und Verzärtelung. Bis dann
schließlich irgendwann die Realität mit ihren unerbittlichen Ansprüchen
nicht mehr vom Kind ferngehalten werden kann und das, was bei normaler
Entwicklung allmählich an das Kind herantritt und nach und nach bewältigt
wird, plötzlich mit vehementer Gewalt über das Kind hereinbricht.(a.a.O.
S. 174) Wenn es dann nicht zu nervösen Erkrankungen kommt, „ammt ei-
ne Auehnung gegen das Lusthindernis auf, der man im Elternhaus nicht
mehr Herr wird, die sich in dissozialen Äußerungen verschiedenster Art
auslebt.“18
Frühzeitige übermäßig zärtliche Beziehungen zu den Eltern oder Ge-
18
Aichhorn verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass er durchaus sieht, dass Ver-
wahrlosung nicht restlos aus dem nicht überwundenen Lustprinzip erklärt werden kann,
sondern „dass auch nicht normal erledigte, besondere libidinöse Beziehungen der Kind-
heit mitspielen.“ (S. 175)

65
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

schwistern können also später in die Verwahrlosung führen. Denn durch


sie wird der kindliche Narzissmus zu sehr verstärkt, die Anpassung an die
Realität und Objektbeziehungen werden schwieriger, es entsteht Frustrati-
onsintoleranz, die Fähigkeit des Ich’s konstruktive Abwehrmechanismen zu
entwickeln wird geschwächt und sie sind weitgehend für Passivität verant-
wortlich.19 Dieser Variante des Entstehens von Verwahrlosung begegnete
man zu Aichhorns Zeit eher im bürgerlichen Milieu. In seiner Arbeit in der
Fürsorgeerziehung hatte Aichhorn es dagegen vor allem mit Verwahrlosung
als Folge von zu großer Strenge zu tun. Ebenso mit Fällen, in denen durch
gegensätzliches Verhalten von Mutter und Vater sowohl zu viel Verwöh-
nung als auch zu viel Strenge Verwahrlosung verursachten.
Bei Verwahrlosung als Folge eines Übermaßes an Strenge spielt auch
die subjektive Wahrnehmung des Kindes eine Rolle. Ein Kind kann ruhi-
ges, kaltes, wortkarges Verhalten ohne Zärtlichkeiten schon als so schlimm
empnden, wie ein anderes übermäßige körperliche Züchtigungen. Durch
zu strenge Erziehung oder auch durch einen frühzeitigen Zusammenstoß
mit der Realität kommt es nicht zu einer vorzeitigen Anpassung an die
Wirklichkeit. „Es kommt nicht zur Einsetzung eines einer höheren Alters-
stufe entsprechenden Realitätsprinzips, sondern (. . . ), sehr häug nach ei-
nem zeitweiligen Gelingen der Erziehungsabsicht zu einer darauffolgenden
Regression in Form der Verwahrlosung. Damit ist wieder ein Lustprinzip
zur Herrschaft gelangt, das einer früheren Altersstufe entspricht. Die Maß-
nahmen dagegen stoßen auf einen sehr viel stärkeren Widerstand als bei
einer normalen Entwicklung. Da hilft auch brutale Gewalt immer weniger.
„Die Brutalität der Erziehungspersonen und auch die des Lebens, die frü-
her geduldig ertragen worden waren, führen nun zu einer ganz bewussten
Gegeneinstellung, die häug als Auehnung in Erscheinung tritt.“(a.a.O.
S. 176) Dann kann es zu offener Widersetzlichkeit kommen, die sich bei
Jugendlichen zu ganz bewussten brutalsten Rohheitsakten steigern kann.
In den Fällen, in denen das Kind mit den beiden Erziehungsextremen
zugleich konfrontiert wird, kann es, indem es sich je nach Situation dem Va-
ter oder der Mutter zuwendet, dem Realitätsprinzip ausweichen und weiter-

19
Deutsch, 1955, S. 501

66
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

hin im Lustprinzip verharren, aber zugleich sich dem Elternteil gegenüber


auehnen, der gerade bemüht ist, Forderungen durchzusetzen.
Aichhorn nennt noch einige andere mögliche Ursachen von Verwahrlo-
sung. So z.B. Über-Ich-Defekte der Eltern. In extremen Fällen kann es dazu
kommen, dass ein Kind psychologisch völlig gesund ist, aber ein kriminel-
les Über-Ich hat, weil es sich mit seinen kriminellen Eltern identiziert
hat.20
Sowohl bei Überstrenge wie bei Verwöhnung gelangt das Kind nicht in
den notwendigen Kontakt mit der Realität. Beide können somit zur Ausbil-
dung eines zu strengen oder eines unzulänglichen Über-Ichs und damit zu
neurotischen Störungen und zu Verwahrlosung führen. Freud hat den Vor-
gang im Anschluss an Aichhorn und Franz Alexander so formuliert: „Der
übermäßig weiche und nachsichtige Vater wird beim Kinde Anlass zur Bil-
dung eines überstrengen Ichs werden, weil diesem Kind unter dem Ein-
druck der Liebe, die es empfängt, kein anderer Ausweg für seine Aggres-
sion bleibt als die Wendung nach innen.“21 Diese Beschreibung gilt jedoch
für neurotische Verwahrlosung und nicht für Verwahrlosung im engeren
Sinne. Wie schon Abraham gezeigt hat, gibt es neben Verwahrlosung aus
Schuldgefühlen eine Verwahrlosung, die von einer früheren Phase herrührt,
von einem affektiven Verlassen sein, das das kindliche Ich daran gehindert
hat die narzisstische Phase zu verlassen und zu einer Anhäufung von Ag-
gressionen des verletzten Ich’s führt.22 Der entscheidende Unterschied zwi-
schen der Verursachung neurotischer Störungen und Verwahrlosung liegt
wohl vor allem darin, dass in letzteren Fällen die frühen Objektbeziehungen
affektiv zu dünn, zu unbefriedigend und zu lieblos waren, als dass Identi-
kationen hätten ausreichend zustande kommen können, die eine allmähli-
che Verinnerlichung von Verboten und Geboten, vor allem im Verlauf der
20
Wie weitgehend das möglich ist, ist umstritten. Siehe dazu kritisch z.B. Friedlander,
1947, S. 185 und Moser, 1972, S. 158. Mit Fenichel wird man jedoch feststellen kön-
nen, dass es Kriminelle gibt, die sich vom Standpunkt des Strafgesetzbuches aus mit
den „falschen“ Objekten identiziert haben, deren Identizierungen aber keinerlei An-
omalien aufweisen. Fenichel, 1945 (1983, S. 80)
21
Freud, S., 1930, Fußnote S. 490. An dieser Stelle erwähnt Freud auch die Bedeutung
der „Einüsse des Milieus der realen Umgebung“ auf die Bildung des Über-Ichs und
die Entstehung des Gewissens.
22
Abraham, 1925 (1999). Siehe dazu in der Folge.

67
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

ödipalen Konikte, ermöglicht hätten. Freud hat die Folge von zu lieblo-
ser Erziehung angegeben: „Beim Verwahrlosten, der ohne Liebe erzogen
wurde, entfällt die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, seine ganze Ag-
gression kann sich nach außen richten.“23
Aichhorn stellte im Hinblick auf seine Arbeit verallgemeinernd fest,
er habe in seiner langjährigen Praxis mit der dissozialen Jugend noch kei-
nen Fall von Verwahrlosung oder Kriminalität erlebt, in dem die Familie
intakt gewesen wäre.24 Allerdings machte er auch die Beobachtung, dass
Schicksalskonstellationen so wirken können, als ob Fehler in der Erzie-
hung gemacht worden seien.25 So können z.B. schreckhafte Erlebnisse zu
psychischen Traumen und dadurch zur Verwahrlosung oder zu Verwahrlo-
sungserscheinungen führen.(a.a.O. S. 57) Es sind immer exogene und en-
dogene Faktoren am Zustandekommen der Verwahrlosung und des Verbre-
chens beteiligt. Wenn man Verwahrlosung als „Symptom des erkrankten
sozialen Organismus“ erkennt, kann man „viel eher die Mittel zur Aushei-
lung nden und damit die Dissozialität zum Verschwinden bringen. Wer
Dissozialität verhindern will, muss die Wohnungs-, Ernährungs-, Arbeits-
frage lösen, dann den Eltern zeigen, wie sie ihre Kinder zu pegen und zu
erziehen haben.“26
Bei seiner Arbeit in Erziehungsanstalten hatte Aichhorn viel mit ju-
gendlichen Verwahrlosten zu tun, die in künstlichen Gruppen zusammen-
geschlossen waren. Auf spontane Gruppenbildungen Verwahrloster geht er
nicht ein. Verwahrloste sind jedoch sehr leicht beeinussbar. Sie schlie-
ßen sich leicht anderen Personen an, wenn dies ihren Interessen entgegen-
kommt. Ihre Freundschaften sind jedoch üchtiger Art. Ebenso die Grup-
pen, in denen sie sich gelegentlich zusammentun. Diese können horden-
artige Zusammenschlüsse ohne einen Anführer sein, aber auch straff or-
ganisierte Banden mit einem Führer.27 Häug ist mit dem Anschluss an
eine Verwahrlostengruppe der Übergang von der latenten zur manifesten
Verwahrlosung verbunden. Der psychische Gewinn kann dabei in der nar-

23
Freud, S., 1930, Fußnote S. 490
24
Aichhorn, T., 1976, S. 94 ff.
25
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 169)
26
Aichhorn, A., 1921 (1976, S. 48)
27
Siehe dazu Spanudis, 1954, S. 24. Auch Zulliger, 1971. Zur Terminologie Zulliger, 1961

68
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

zisstischen Identikation mit den draufgängerischsten Gruppenmitgliedern


bestehen und in einer Verringerung der Angst vor den eigenen, bis dahin
noch kontrollierten delinquenten Neigungen.28
Vor dem Hintergrund des Problems der richtigen Dosierung von Ver-
sagen und Gewähren in der Erziehung machte Aichhorn bezogen auf Fa-
milien, in denen das Kind immer wichtiger geworden und immer mehr in
den Mittelpunkt gerückt ist, auf eine Schwierigkeit aufmerksam, die sicher
heute von besonderer Bedeutung ist. Er stellte fest, dass Eltern zunehmend
über Erziehungsfragen, Erziehungsziele und Erziehungsmittel diskutieren
und dass ihre Beziehungen zum Kind affektiver werden.29 Das müsse aber
für die Kinder von Nachteil sein. Denn je enger die affektiven Beziehungen
des Erziehers (Eltern) mit dem Erziehungsobjekt (Kind) sind, desto mehr
trübt sich der Blick für dessen wirkliche Bedürfnisse. (Typisch dafür ist das
einzige Kind.)“ Aichhorn meint damit selbstverständlich nicht, dass elter-
liche Liebe per se schädlich ist. Er denkt hier vielmehr an Verwahrlosung
als Folge von Überbehütung und Verwöhnung. Sie behindern das Realitäts-
fähigwerden das an Versagungen gebunden ist, die dem Kind zugemutet
werden müssen. Das ist in der Konsumgesellschaft, in der Verbraucherwer-
bung das „Eigeninteresse zur gesellschaftlichen Norm, um nicht zu sagen
zur Picht“ macht30 und auch Kinder schon früh Adressaten von Werbung
sind, mehr noch als zu Aichhorns Zeiten ein Problem.
Für eine Präzisierung der Begriffe Verwahrlosung und „gesellschaftli-
che Verwahrlosung“ sind vor allem drei Erkenntnisse Aichhorns von be-
sonderem Interesse. Erstens, dass sich in psychoanalytischer Perspektive
Verwahrlosung in engerem Sinne einer psychischen Konstitution als eine
psychische Fehlentwicklung verstehen lässt, die Eigenschaften hat, die sie
von anderen Varianten neurotischer oder sonstiger Art unterscheiden. Er
sah sie als eine spezielle „abwegige Entwicklung“ neben Neurose, Perver-
sion und Psychose. Allerdings hielt Aichhorn „reine Verwahrlosung“ für
einen Grenzfall, der in Wirklichkeit kaum vorkommt.31 Zweitens, dass Ver-
wahrlosung als psychische Störung nur auftritt, wo sie zuvor schon latent
28
Spanudis, 1954, S. 36ff.
29
Soweit heutzutage der Umgang mit den Kindern nicht eventuell eher eine Technik wird.
30
Hirsch, F., 1980, S. 125
31
Aichhorn, A., 1959 (1972, S. 174). Dort auch zum Folgenden.

69
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

vorhanden war, d.h. es gibt latente und manifeste Verwahrlosung. Es gibt


aber auch Fälle, in denen die latente Verwahrlosung nie manifest wird. Drit-
tens sah Aichhorn im Verwahrlosten immer jemand, der im Wesentlichen
durch äußere Umstände zum Verwahrlosten geworden ist, der letztlich ein
Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse ist. Eine Gemeinschaft, die sich nur
vor dem unsozialen Individuum schützt, aber das Individuum nicht vor der
Gesellschaft, ist für ihn selbst unsozial.32
Am häugsten ist Verwahrlosung mit neurotischen Anteilen. Verwahr-
losung kann aber auch perverse oder psychotische Anteile aufweisen. Kin-
der sind, bevor ihre Erziehung richtig eingesetzt hat, präsozial und inso-
fern zunächst asozial, d.h. wie Asoziale im engeren Sinne nicht gemein-
schaftsfähig oder „kulturfähig“, wie Aichhorn auch formuliert. Eben die-
sem Kriterium der Gemeinschaftsunfähigkeit entsprechend unterscheidet
Aichhorn Asoziale von Verwahrlosten. Zu ersteren zählt Aichhorn „Erbge-
schädigte und diesen Gleichzustellende in der intellektuellen und affekti-
ven Sphäre – Psychopathie –, die tatsächlich unerziehbar sind und daher
gemeinschaftsunfähig werden.“33 Sie sind Fälle für den Arzt, nicht für den
Erzieher. Es gibt also keine asozialen Verwahrlosten, „es gibt nur sozial
labile, anti-soziale und dissoziale Verwahrloste.“ Diese unterschiedlichen
Varianten ergeben sich aus Unterschieden wie die Fehlentwicklung zustan-
de gekommen ist. In der Regel liegt eine Entwicklungshemmung oder ei-
ne Regression vor und das Über-Ich, seine Schädigung oder Schwächung,
spielt eine wichtige Rolle. Diese verschiedenen Varianten von Verwahrlo-
sung lassen sich schwer voneinander abgrenzen. Die Übergänge sind ie-
ßend.34 Das gilt auch für Verwahrlosung und Kriminalität, die sich nicht
qualitativ, nur quantitativ unterscheiden.35 Das Spektrum reicht von schwer
erziehbaren Kindern und Jugendlichen bis zu dissozialen und kriminellen
Jugendlichen.
32
Aichhorn, A., 1926 (1965), S. 70. Bei Aichhorn verweist der Begriff Verwahrlosung
auch da, wo er dies nicht ausdrücklich feststellt, nicht nur auf einen Typus psychischer
Störung, sondern implizit auch auf gesellschaftliche Sachverhalte. Das könnte man am
besten mit dem üblichen Gebrauch des Terminus Sozialisation vergleichen, der auch
immer Sozialisation und Individuation mit meint bzw. mit meinen müsste.
33
Aichhorn, A., 1959 (1972, S. 181)
34
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 9)
35
Aichhorn in einem Brief von 1946 an Ruth Eissler. Zitiert in Aichhorn, T., 2007a, S. 55

70
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

Aichhorn und die narzisstische Übertragung


Durch die Psychoanalyse wurde Aichhorn klar, dass er seine erzieherischen
Erfolge wesentlich den Übertragungsprozessen verdankte, die in der Aus-
einandersetzung zwischen ihm und den Jugendlichen zustande kamen. Die
erzieherische Arbeit mit verwahrlosten Jugendlichen wurde ihm jedoch im-
mer schon von vornherein dadurch erschwert, dass die Jugendlichen nicht
freiwillig kamen und dass sie alle logen.36 Er musste feststellen, dass in
den Fällen gar keine Übertragung im üblichen Sinne zustande kam, in de-
nen der neurotische Anteil an der Verwahrlosung gering war. Die klassi-
sche Technik der Psychoanalyse erwies sich als nicht unmittelbar anwend-
bar auf Verwahrloste. Die Gründe dafür liegen, wie erwähnt, darin, dass
der Verwahrloste der narzisstischen Phase verhaftet bleibt. Das Erlebnis ei-
nes affektiven Verlassenseins in früher Kindheit hat das Kind gehindert,
die narzisstische Phase zu verlassen. Es sind keine hinlänglich befriedigen-
den Objektbeziehungen mit Identizierungen zustande gekommen, die in
einer Übertragungsbeziehung zum Erzieher wiederbelebt werden könnten.
Somit wurzelt die Störung des Verwahrlosten in Traumata, die in einem
Stadium der Entwicklung zustande kamen, in dem Allmachtsgefühle die
wichtigsten Mittel waren, mit der Realität umzugehen. In einer bestimmten
Phase fühlen sich Kinder nicht nur selbst allmächtig, sondern schreiben die-
se Fähigkeit nicht nur Personen ihrer Umgebung zu, sondern auch Tieren
und unbelebten Objekten.37 Diese Patienten müssen in manchen Fällen eine
schlimme Erfahrung gemacht haben, in einer Situation, in der sie Schutz,
Hilfe oder Liebe von Personen erwartet haben, die sie mit Allmachtsfä-
higkeiten ausgestattet hatten. Dieses Trauma kann eine Fixierung an diese
Phase der Allmacht bewirkt haben, die eine Weiterentwicklung des Ichs zu
höheren Ebenen der Entwicklung verhindert hat. Solche Patienten erleben
ihre Umwelt als extrem feindlich und sie müssen ihr Allmachtsgefühl mo-
bilisieren, um gegen die erwartete Aggression angreifen zu können.38
Angesichts der Nichtanwendbarkeit der klassischen Technik der Psy-
choanalyse auf die narzisstische Problematik von Verwahrlosten, hat Aich-

36
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 108).
37
Fraiberg spricht von den „magischen Jahren“. Fraiberg, 1972
38
Eissler, K.R., 1950, S. 104. Dazu ausführlicher in der Folge.

71
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

horn eine andere Variante der Auseinandersetzung entwickelt. Ihr Angel-


punkt ist, was er als „narzisstische Übertragung“ bezeichnet hat.39 Bei die-
ser Vorgehensweise versuchte er den Jugendlichen in ein künstlich her-
gestelltes Abhängigkeitsverhältnis zu bringen. In seiner Hilosigkeit soll
der Verwahrloste den Therapeuten als quasi allmächtige Figur erleben, die
ihm überdies auch noch zu verstehen gibt, dass sie ihre Fähigkeit gewiss
nicht gegen ihn einsetzt. Der Verwahrloste soll womöglich sogar den Ein-
druck bekommen, er habe einen ebenfalls delinquenten Verbündeten ge-
wonnen. Aichhorn hat in einer ganzen Reihe von Fallbeispielen beschrie-
ben, wie listig und trickreich es ihm immer wieder gelungen ist, solche Si-
tuationen zu schaffen. Er bediente sich Überraschungsmomenten und schuf
Schocksituationen. Auf diese Weise erreichte er, dass die Jugendlichen, die
auf Grund ihrer narzisstischen Struktur keine Objektbeziehungen eingehen
konnten, doch dadurch in eine Bindung an ihn gelangten, dass er ihnen als
ideales Spiegelbild erschien. In dieser Konstellation kommt es zu einem
„Überießen narzisstischer Libido“. Das Objekt tritt an die Stelle des Ich-
Ideals. Dass es sich um eine ganz andere Art von Beziehung handelt als
bei Objektbeziehungen, wird aber vom Verwahrlosten nicht erkannt. Es ist
als hätte die Bindung einer Objektbeziehung stattgefunden. Sie erst ermög-
licht es, an den Verwahrlosten erzieherisch heranzukommen, denn der ist
zunächst „negativ, oft sogar feindselig eingestellt; unsicher, irritiert; hoch-
mütig, überlegen tuend, manchmal ganz uninteressiert, aber nur sehr selten
erwartungsvoll.“40
Wenn auf diese Weise eine Bindung entstanden ist, kann die eigent-
liche therapeutische Arbeit mit dem Verwahrlosten beginnen. Besonders
Kurt Robert Eissler hat im Anschluss an Aichhorn betont, dass sich bei die-
ser Arbeit zwei Phasen voneinander unterscheiden lassen, auch wenn in der
Praxis die Übergänge ießend sein können.41 Staub, der in Bezug auf die
erste Phase von einer vorbereitenden Periode spricht, nennt dreierlei Zie-
le die in dieser Phase erreicht werden sollen: 1)eine starke positive Über-

39
Zum Folgenden siehe Aichhorns Aufsatz „Die narzisstische Übertragung des ‚jugend-
lichen Hochstaplers‘“ in Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974). Dazu auch Aichhorn, T.,
2001
40
Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974, S. 112)
41
Eissler, 1950. Dort auch zum Folgenden. Siehe auch Aichhorn, T., 2007b

72
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

tragung 2)Angstreduzierung 3)Stärkung des beschädigten Selbstvertrauens


und eine Kontrolle und Mäßigung der Kräfte des Ichs. Erst danach wird
psychoanalytische Technik angewendet.42 Zunächst müssen die Verwahr-
losungsäußerungen zum Verschwinden gebracht werden. Der Verwahrlos-
te muss lernen sich realitätsgerecht zu verhalten. Das bedeutet, dass die
Umweltforderungen in die Struktur seiner eigenen Persönlichkeit integriert
werden müssen. Dazu muss er, was Verwahrlosten besonders schwer fällt,
Selbstwahrnehmung lernen. Während ihm bis dahin „das Gefühl des Un-
angenehmen, die Unlustbetonung, die dem Neurotiker das Kranksein erst
bewusst werden lässt und ihn zur Behandlung reif macht“, fehlte, muss
ihm selbst nun sein Verhalten unangenehm werden.43 Die Über-Ich Lücken
müssen gefüllt werden.44 Er muss zum „sekundären Neurotiker“ werden.45
Seine Aggression kann allmählich durch Angst oder sonstige neurotische
Symptomatik ersetzt werden. Der Verwahrloste, der immer auf die äuße-
re Realität xiert war, diese seinen Wünschen entsprechend manipuliert,
herausgefordert und angepasst hat, also ganz alloplastisch eingestellt war,
muss zu einer autoplastischen Einstellung gebracht werden. Dieser Pro-
zess ist unerlässlich, weil die Beseitigung der Verwahrlosungssymptome
allein noch keine Beseitigung der Verwahrlosung bedeutet. Diese ist nur
wieder latent geworden. Das heißt, der manifest Verwahrloste wird mit Hil-
fe der narzisstischen Übertragung wieder zum latent Verwahrlosten, der
aber, wie Spanudis formuliert, sekundär neurotisch geworden ist. Die „se-
kundäre Neurose“ ist aber von der echten Neurose unterschieden, insofern
ihre Grundkonikte präödipaler Art sind. Sie ist das Negativ der manifes-
ten Verwahrlosung.46 Sie kann dann in der zweiten Phase der Behandlung

42
Staub, H., 1943. Eissler verweist darauf, dass es sein kann, dass der Verwahrloste, dem-
gegenüber sich der Analytiker in der ersten Phase ganz „unanalytisch“ verhalten hat,
sich auf diese völlige Änderung der Art der Beziehung in der zweiten Phase nicht um-
stellen kann. Er empehlt in solchen Fällen, dass ein anderer Analytiker die Arbeit mit
dem Patienten fortsetzt. Eissler, 1950, S. 119
43
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 34)
44
Johnson, M. A.; Szurek, 1952
45
Siehe zum Begriff der „sekundären Neurose“ und zur Technik der Behandlung von Ver-
wahrlosten die detaillierte Darstellung des ehemaligen Analysanden und Mitarbeiters
von Aichhorn Spanudis, 1954 und hier im Folgenden.
46
Spanudis, 1954, S. 83

73
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

in gleicher Weise therapiert werden, wie dies bei Neurosen sonst auch ge-
schieht.47
Mit seiner Entwicklung der Technik der narzisstischen Übertragung
hat Aichhorn wohl seinen bedeutendsten Beitrag zur psychoanalytischen
Theorie und Praxis geleistet.48 Seine Vorgehensweise wurde nicht nur von
Kollegen und Schülern wie Eissler, Hoffer und Staub bei der Arbeit mit
Verwahrlosten aufgegriffen, sondern auch von Analytikern, die im Bereich
herkömmlicher psychoanalytischer Arbeit mit erwachsenen Patienten ge-
blieben sind. So vor allem von Aichhorns ehemaligem Analysanden Heinz
Kohut. Dieser hat sein therapeutisches Verhalten und sein Konzept der Alter
Ego oder Zwillingsübertragung in Auseinandersetzung mit Aichhorns ak-
tivem therapeutischem Verhalten und der narzisstischen Übertragung ent-
wickelt. Er bezeichnet Aichhorn als Pionier, der in diesem Bereich die
ersten Schritte unternommen habe. Er relativiert dieses Lob jedoch so-
gleich, indem er hinzufügt, Aichhorn habe aber nicht zwischen dem Ich-
Ideal und seinem Vorläufer, der idealisierten Eltern-Imago unterschieden
und dem „Größen-Selbst“ keinen getrennten und besonderen Platz zuge-
wiesen.49 Trotzdem hält er Aichhorns aktive Technik, die dieser in seiner
Arbeit mit Verwahrlosten angewendet hat, für „durchaus vereinbar mit den
theoretischen Überlegungen im Hinblick auf die Übertragungsbedingungen
bei einem breiten Spektrum narzisstischer Persönlichkeitsstörungen jen-
seits der Fälle jugendlicher Verwahrlosung.“ Kohut bezieht sich auf eine
Formulierung von Anna Freuds Nachruf für Aichhorn, der zufolge bei die-
sem der Therapeut dem Hochstapler „ein verklärtes Spiegelbild seines ei-
genen verbrecherischen Ichs und Ich-Ideals“ darbietet. Kohut kommentiert,
diese Formulierung stehe „der Unterscheidung zwischen einer Übertragung
auf der Grundlage eines therapeutisch wiederbelebten Größen-Selbst (ins-
47
Zu den behandlungstechnischen Aspekten siehe in der Folge.
48
Das scheint bis heute nicht wahrgenommen zu werden. In dem sonst so soliden Dic-
tionnaire International de la Psychanalyse wird Aichhorns Schüler Kohut als Ernder
des Begriffs „Narzisstische Übertragung“ bezeichnet. Siehe „transfert narcissique“ in
Mijolla, 2002. Die Modizierungen, die sie in Kohuts Konzeption erfährt, rechtfertigen
das nicht. Siehe dazu auch in der Folge
49
Diese Relativierung ist eine, die nicht so sehr die Sache als vielmehr die Terminolo-
gie betrifft. Danach hätte Aichhorn selbst schon den Begriff „Größen-Selbst“ ernden
müssen. Hierzu und zum Folgenden Kohut, 1973, S. 188ff.

74
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive

besondere einer Zwillings- oder Alter-Ego-Beziehung zum Therapeuten)


und einer Übertragung auf der Grundlage einer wiederbelebten idealisier-
ten Eltern-Imago ziemlich nahe.“50
Da sich Aichhorn selbst nicht explizit mit erwachsenen Verwahrlosten
beschäftigt hat, wird er zu einseitig als Pionier psychoanalytischer Pädago-
gik und Sozialarbeit gesehen. Das ist sicher ein Grund, warum seine Er-
ndung der narzisstischen Übertragung nicht ihm, sondern seinem Schüler
Kohut zugeschrieben wird. Cremerius hat diesbezüglich Kohut scharf kriti-
siert, der nicht zu erkennen gegeben hat, „welche Steine für sein Theoriege-
bäude er aus anderen Werken entnommen hat“. Cremerius erwähnt in die-
sem Zusammenhang Eisslers Beitrag in „Searchlights on Delinquency“, der
die Technik der narzisstischen Übertragung beschreibt. Dann fährt er fort:
„Die Geschichte der Ausplünderung dieses Textes müsste einmal geschrie-
ben werden. Sie ist ein Musterbeispiel für geistigen Diebstahl.“51 Dieser
Text enthält aber, wie Eissler zu Beginn seines Aufsatzes klarstellt, keine
originellen Gedanken, sondern basiert hauptsächlich auf August Aichhorns
Theorie und therapeutischer Technik der Verwahrlosung.

50
Kohut, 1973, S. 189. Kohut interessiert sich ansonsten nicht für Verwahrlosung und für
Aichhorns nosologische Sicht von Verwahrlosung.
51
Cremerius, J., 1983 (1981)

75
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
Für die sozialpsychologische Perspektive meiner Untersuchung ist es nicht
notwendig, auf alle Details der verfügbaren psychoanalytischen Untersu-
chungen und Erkenntnisse einzugehen, die zum Thema Verwahrlosung zu
nden sind. Jedenfalls nicht auf alle Ausdifferenzierungen der verschie-
denen Varianten psychischer Störungen, insbesondere der verschiedenen
Vermischungen mit neurotischen Störungen, die psychoanalytisch oft auch
als Verwahrlosung bezeichnet werden. Ich gehe hier nur auf die wichtigs-
ten ein. In der neueren psychoanalytischen Literatur spielt der Begriff Ver-
wahrlosung ohnehin keine Rolle mehr.1 Stattdessen ist von antisozialer Per-
sönlichkeitsstörung, Dissozialität, Psychopathie oder auch Soziopathie die
Rede. Wie ich noch begründen werde, halte ich es für wichtig, am Ver-
wahrlosungsbegriff festzuhalten, ungeachtet der Kritik, die gegen ihn ver-
schiedentlich vorgebracht wird. Wer ihn als „reichlich altväterlich“ ablehnt,
argumentiert oberächlich und nimmt offensichtlich seine kritischen Kon-
notationen nicht wahr.2 Davon abgesehen ignoriert er, dass der Begriff in
der psychoanalytischen Terminologie nicht weniger nützlich sein kann als
die Termini Neurose und Psychose. Bei Aichhorn und seinen ersten Nach-
folgern bezeichnet er bestimmte Varianten psychischer Konstitution. Er hat
bei ihnen auch einen gesellschaftskritischen Anklang. Verwahrlosung ver-
weist auf Vernachlässigung, Verwilderung, Verkommenheit und Versäum-
nisse. Das könnte einer der Gründe sein, warum der Begriff in der inter-
nationalen psychoanalytischen Diskussion nie eine größere Rolle gespielt
hat. Ein anderer Grund, den ich schon erwähnt habe, ist, dass der Begriff
so schwer zu übersetzen ist.3 In den üblichen Übersetzungen, geht jeweils
1
Abgesehen von Arbeiten, die sich ausschließlich auf psychoanalytische Sozialarbeit mit
Jugendlichen oder Pädagogik beziehen. Der erwachsene Verwahrloste, mit dem sich
einige Analytiker im Anschluss an Aichhorn noch auseinandergesetzt haben, ist später
verschwunden. Siehe dazu in der Folge.
2
So z.B. Bittner, 2001. Ihm ist der Terminus Psychopath lieber, er möchte ihn aber ohne
belastende Konnotationen verstanden wissen.
3
Das wird in französischsprachigen Arbeiten zum Thema „Verwahrloste Jugend“ be-
sonders deutlich. Neben den bereits genannten Varianten „Jeunesse à l’abandon“ und

76
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

der Anklang an die objektiven sozialen Aspekte der Genese individueller


Verwahrlosung verloren. Dieser macht, wie z.B. Winnicott festgestellt hat,
den Gebrauch des Begriffs unbequem. Er fand ihn unbrauchbar. Er hat lie-
ber von „antisozialer Tendenz“ gesprochen, denn bei Verwahrlosung wer-
de „die organisierte antisoziale Abwehr von sekundärem Krankheitsgewinn
und sozialen Reaktionen fast zugedeckt“, so dass es für den Untersuchen-
den schwierig sei, an ihren Kern heranzukommen. Die antisoziale Tendenz
trete aber auch „beim normalen oder fast normalen Kind“ in Erscheinung.
Ihre Behandlung solle nicht durch Psychoanalyse erfolgen.4
Freud hat schon bald die Bedeutung von Aichhorns Beitrag zur Ent-
wicklung der Anwendung der Psychoanalyse in der Kindererziehung er-
kannt. In seinem Vorwort zu Aichhorns „Verwahrloste Jugend“ nimmt er
aber eine deutliche Abgrenzung psychoanalytischer Erziehungsarbeit von
Psychoanalyse vor, die sich im Falle Aichhorns als unangemessen erwies.
Tatsächlich war Aichhorn ein „Grenzgänger zwischen Psychoanalyse und
psychoanalytischer Erziehung.“5 „Dass er dabei auch ein bedeutender Ana-
lytiker mit bedeutenden Schülern war, der bleibende Beiträge zur Weiter-
entwicklung der analytischen Technik leistete, ist kaum mehr bekannt.“6
Zum Zeitpunkt seiner ersten Veröffentlichung wurde „Verwahrloste Ju-
gend“ in Wien „nicht beachtet“.7 Sehr große Beachtung gewann das Buch
jedoch bald nachdem es 1935 in englischer Übersetzung herausgebracht

„Jeunes en souffrance, ist auch von „Jeunes à la dérive“ die Rede. In dem Sammel-
band von Houssier und Marty (2007) nden sich alle genannten Varianten. In einer
Fußnote zur Übersetzung von Aichhorns „Kategorien der Verwahrlosung“ heißt es z.B.
plötzlich, ohne weitere Begründung, Verwahrlosung, die bis dahin mit dérive übersetzt
worden ist, werde nun mit abandon übersetzt. Der Grund dürfte sein, dass in diesem
nosologischen Text verschiedene Varianten von Verwahrlosung mit verschiedenen So-
zialisationsschicksalen in Beziehung gesetzt werden.
4
Winnicott, 1956 (1983, S. 230)
5
Aichhorn, T., 2007b
6
Perner, 2005, S. 42. Perner erwähnt als bleibende Beiträge Aichhorns neben seiner Be-
deutung als Pionier der psychoanalytischen Sozialarbeit, dass man in ihm einen Vorläu-
fer der Objektbeziehungstheorie und den Begründer der psychoanalytischen Familien-
therapie sehen kann. Außerdem seine Techniken der korrigierenden Erfahrung und der
narzisstischen Übertragung. Siehe dazu auch in der Folge.
7
August Aichhorn, zitiert in Aichhorn, Th., 2011 und in Freud, A., 1951, S. 1596. Dort
auch zum Folgenden.

77
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

wurde. Nun wurden in der Jugendfürsorge und besonders in der Verwahr-


lostenbetreuung arbeitende Fachleute auf Aichhorns Arbeit aufmerksam.
Im Laufe der Zeit wurde das Buch in vielen Ländern zu einem Lehrbuch
in der Ausbildung von Jugendfürsorgern und Fürsorgeerziehern. Angeregt
durch Aichhorns Erfahrungen mit Heim- und Gruppenerziehung sind For-
schungsprojekte und Publikationen von herausragender Qualität entstan-
den. Zu nennen sind hier vor allem Redl und Wineman, aber auch Bettel-
heim und noch andere.8
Soweit Aichhorn Verwahrlosung psychologisch als eine spezische
psychische Störung gesehen hat, hat er eine Einteilung in verschiedene Ka-
tegorien vorgenommen.9 Sie erfolgt unter dem Gesichtspunkt der verschie-
denen Beeinträchtigungen, Störungen oder Beschädigungen des Über-Ichs.
In traditioneller psychoanalytischer Perspektive lassen sich verschiedene
Verwahrlosungsvarianten feststellen, je nachdem die „abwegigen Entwick-
lungen“ Neurose, Psychose oder Perversion eine Rolle spielen. Mehrere
Autoren haben darauf bezogen Aichhorns Erkenntnisse und Beobachtun-
gen durch eigenes Material und eigene Überlegungen ergänzt.
So schon relativ früh Siegfried Bernfeld, der die Bedeutung des „sozia-
len Ortes“ für Neurose, Verwahrlosung und Pädagogik hervorhebt.10 Neben
Verwahrlosung als Folge mangelhafter Über-Ich-Entwicklung und neuroti-
scher Verwahrlosung sieht er noch einen dritten Typ von Verwahrlosung.
In diesen Fällen fehlen neurotische Symptome. Es hat auch eine volle Ödi-
pusentwicklung stattgefunden, die ihren Niederschlag in einem Über-Ich
gefunden hat. Dieser Typ besitzt somit auch Schuldgefühle und wäre bei
genügender Intelligenz durchaus realitätsfähig, „wenn er nicht in schwer
vermeidbare Realkonikte mit der Polizei, dem Jugendamt und dem üb-
rigen Staatsapparat kommen müsste.“ Es sind die proletarischen Lebens-
verhältnisse, die dazu führen. Bei einem Kind in bürgerlichen Lebensver-
hältnissen ist der Schauplatz der Kämpfe zwischen Über-Ich und Es das
Ich. Das Kind in bürgerlichen Verhältnissen bleibt bis ans Ende der Pu-
bertät an die „Affektstätte“ der psychologisch problematischen Auseinan-
8
Redl; Wineman, 1951 (1979), Bettelheim, 1950 (1979). Ich gehe in diesem Buch auf
die Arbeiten mit Heimkindern und Gruppen nicht gesondert ein.
9
„Kategorien der Verwahrlosung“ in Aichhorn, A, 1959 (1972, S. 167-182)
10
Bernfeld, 1929 (1969) (1971)

78
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

dersetzungen gebunden. Bei ihm „wird das Ich der Schauplatz der Kämpfe
zwischen Über-Ich und Es.“ Es kann nur versuchen, innerlich zu iehen.
Dagegen kann man beim proletarischen Kind geradezu einen „Zwang zur
realen Flucht“ beobachten. Bei ihm ist der Schauplatz der Kämpfe die Rea-
lität.11 Darum hat dieser Verwahrlosungstyp „psychosen Charakter für die
Deskription, nicht aber für die Prognose“. Bernfeld ergänzt, dass solche
psychoseähnlichen Verwahrlosungen gelegentlich in jedem Milieu entste-
hen können und dass natürlich auch in proletarischen Verhältnissen reine
Neurosen entstehen. Es ist aber der soziale Ort, der die Häugkeitschancen
für die Entwicklung in die eine oder die andere Richtung setzt.
Auch Friedlander stellt fest, dass die frühen Störungen der Beziehung
zwischen Mutter und Kind ihre Ursache in ungünstigen sozioökonomi-
schen Umständen haben können, die die Mutter daran hindern, sich aus-
reichend dem Kind zu widmen.12 Aber auch die Persönlichkeit der Mutter
muss eine Rolle spielen, da manche Kinder selbst unter sehr ungünstigen
Umständen nicht verwahrlost werden. Friedlander nennt soziale Faktoren
wie häusliche Probleme, Mangel an Disziplin, schlechter Umgang, fehlen-
de Freizeitgestaltung und ökonomische Faktoren, die das Entstehen von
Verwahrlosung begünstigen. Diese führen aber ihrer Meinung nach ab ei-
nem Alter von sechs Jahren nur zu Verwahrlosung, wenn zuvor schon ein
Zustand latenter Verwahrlosung oder eine antisoziale Charakterbildung ge-
geben war. Eine solche ist durch drei Faktoren charakterisiert: die Stärke
der Triebwünsche, die Schwäche des Ichs und die fehlende Unabhängig-
keit des Über-Ichs.(a.a.O., S. 94)
Letztlich ist sich Friedlander, wie die anderen Autoren auch, nicht si-
cher, was den Ausschlag gibt, ob ein Individuum neurotisch wird oder
verwahrlost.13 Sie vermutet, dass der spezische Faktor bei der Verursa-
chung von antisozialer Charakterbildung das konstante Alternieren von zu
viel Frustration und zu viel Befriedigung von primitiven Triebregungen ist.
Die Störungen der Mutter-Kind-Beziehung können in der Persönlichkeit

11
Das „innere Gestörtsein“, das Aichhorn in allen Fällen annimmt, wird nach außen in die
Realität verschoben Bernfeld, 1929 (1969) (1971, S. 209 f).
12
Friedlander, 1947
13
Was, wie sie anmerkt, auch daran liegt, dass es zu wenige psychoanalytische Behand-
lungen von Verwahrlosten gibt. (a.a.O. S. 99)

79
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

der Mutter begründet sein, aber auch in ungünstigen sozioökonomischen


Umständen, die die Mutter daran hindern, sich ausreichend dem Kind zu
widmen. Friedlander verweist darauf, dass es wichtig ist, zwischen den
primären Faktoren zu unterscheiden, die zum Entstehen des antisozialen
Charakters führen, und den Faktoren, die vermutlich latente Verwahrlosung
zu manifester Verwahrlosung verändern. Bei Friedlander ndet sich auch,
auf Schulkinder bezogen, die bedenkenswerte Feststellung, dass es die un-
tersuchten psychischen Störungen in verschiedenen Graden und Schattie-
rungen gibt. In diesem Alter lässt sich keine klare Grenze zwischen dem
normalen und dem dissozialen Kind ziehen.(a.a.O. S. 107)14 Ähnliches gilt
zweifellos auch für Adoleszenten. In diesem Alter spielen viele Jugendliche
zumindest gelegentlich verrückt und verhalten sich wie Verwahrloste.15
Anna Freud hat Aichhorns Varianten von Verwahrlosung um weitere
Typen ergänzt, die nicht Folgen von Störungen im ersten Lebensjahr und
von Schädigungen der Objektliebe in dieser Zeit sind.16 Sie beruhen viel-
mehr „auf den normalen Gefühlskonikten des Kindes, im besonderen auf
den Erlebnissen der Ödipus-Phase, deren Abkömmlinge und Verzerrungen
sie sind. Sie beruhen nicht auf Schwächung von Ichfunktionen und Identi-
zierungen, obwohl sie nachträglich durch ihr Auftreten das Ich schwächen
können. Inhaltlich stehen sie darum den Neurosen näher als der gewöhn-
lichen Verwahrlosung. Sie lassen sich aber auch nicht unter die Neurosen
einreihen, denn ihre Äußerungen sind nicht Kompromissbildungen, die wie
die neurotischen Symptome das Gleichgewicht zwischen Trieb und Ich hal-
ten. Sie entsprechen eher Einbrüchen der mehr oder weniger entstellten li-
bidinösen oder aggressiven Triebabkömmlinge in den Bereich der Persön-
lichkeit, der das Verhalten des Individuums zu seiner Umwelt bestimmt.“
Bei der Beschreibung der typischen Fehlentwicklung von Verwahrlos-
ten erwähnt Anna Freud auch einen Aspekt, der selten berücksichtigt wird,

14
Schmideberg stellt im selben Sinne fest, dass es wohl kein Kind gibt, das nicht in ir-
gendeinem Stadium seiner Entwicklung gestohlen, gelogen oder die Schule geschwänzt
hat. Schmideberg, 1935, S. 22
15
In Frankreich werden die „Ados“ in den Medien häug als eine Art familialer Alptraum
thematisiert.
16
Freud, A., 1949 (1987, S. 1077 ff). Anders als die anderen Autoren spricht sie immer
schon vom ersten Lebensjahr.

80
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

obwohl er gerade für das Verständnis der Probleme von erwachsenen Ver-
wahrlosten von erheblicher Bedeutung sein dürfte. Sie erläutert zunächst,
wie aufgrund der Lusterlebnisse bei der Befriedigung der ersten Körper-
bedürfnisse sich die Libido des Kindes in steigendem Maße von den Vor-
gängen im eigenen Innern abwendet und diejenigen Personen in der Au-
ßenwelt (Mutter, Pegerin) besetzt, von denen die Befriedigung ausgeht.
„Wo die Mutter in ihren Gefühlen und in der Kinderpege unzuverlässig ist
und als Befriedigungsquelle versagt, oder wo die Pege und Wartung ohne
Zuneigung von wechselndem Pegepersonal besorgt wird, dort gelingt die
Umwandlung der narzisstischen Libido in Objektlibido nicht in vollem Ma-
ße. Als Resultat bleibt für das ganze spätere Leben die Bereitschaft, Libido
von den Objekten auf die eigene Person zurückzuwenden, wann immer die
Objektwelt sich als enttäuschend erweist. Der eigene Körper und seine Be-
dürfnisse bleiben stärker besetzt als normal, die autoerotischen Betätigun-
gen (rhythmische Bewegungen, Lutschen, Masturbation) stärker betont. In
weiterer Folge führt die Schädigung der Libidoentwicklung durch Liebes-
entzug zu einer ungenügenden Bindung der destruktiven Impulse.“(a.a.O.
S. 1078). Dieser Feststellung entsprechend müsste beim Auftreten psycho-
somatischer Symptome der Verwahrlosungsproblematik mehr Beachtung
geschenkt werden, als dies normalerweise der Fall ist. Darauf hat Spanu-
dis hingewiesen. Er nimmt an, dass die meisten vegetativen Neurosen der
psychosomatischen Medizin der Gruppe der potentiell Verwahrlosten zu-
zurechnen sind.17
Lampl de Groot nennt zwei Aspekte als Ergänzungen und Vertiefungen
zu Aichhorns Überlegungen. Zum einen verweist sie auf einen Erkenntnis-
gewinn, der sich ergibt, wenn man Über-Ich und Ich-Ideal deutlich vonein-
ander unterscheidet. Zum anderen hebt sie hervor, dass es zum psychoana-
lytischen Verständnis von Verwahrlosung und Delinquenz wichtig ist, nicht
nur das Schicksal der libidinösen, sondern auch der aggressiven Triebantei-
le zu beachten.
Im harmonischen Erwachsenen sind Ich-Ideal und urteilendes Über-Ich
homogen und bilden eine Einheit. Ihre Entwicklung muss aber getrennt be-
trachtet werden. Für die Ichidealbildung sind die ersten Identizierungen

17
dazu in der Folge

81
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

von bleibender Bedeutung für die ganze Entwicklung. Das Stimulieren des
Identizierungsprozesses ohne Übertreibung ist eine wichtige Erziehungs-
methode und kann angemessene Ideale liefern. Dasselbe Prinzip gilt für die
Bildung des urteilenden Über-Ichs. Hier sollten dem Kind akzeptable Ge-
bote und Verbote gegeben werden. Identizierungen können aber in frühen
Perioden sehr wechselhaft und instabil sein und oft bleibt das so das ganze
Leben lang.
Eine wesentliche Grundvoraussetzung für das Gelingen der Entwick-
lung von Ich-Ideal und Über-Ich ist, dass die Ichfunktionen nicht be-
einträchtigt sind.18 Lampl de Groot nennt 1)Wahrnehmung 2)Gedächtnis
3)Realitätsprüfung (reality testing) 4)Bewegungsbeherrschung (control of
motility) 5)Synthese.19 So gibt es z.B. in allen Fällen, in denen die synthe-
tische Funktion beeinträchtigt ist, keine Harmonie mehr in der Persönlich-
keit. In anderen Erkrankungen, vor allem der Zwangsneurose, ist die Intel-
ligenz – auch wenn sie insgesamt hoch ist – teilweise zur primitiven Ebene
der magischen Phase regrediert, zu einem Vorläufer des logischen Den-
kens. Hier ist die Persönlichkeitsspaltung offensichtlicher als bei Hysterie.
Die weitestgehende Ichregression kann in den sogenannten narzisstischen
Neurosen und den Psychosen beobachtet werden. Hier ist das Ich wirklich
aufgespalten, die synthetische Funktion ist verschwunden, die Realitätsprü-
fung ist verfälscht oder, in schlimmen Fällen, fast außer Kraft gesetzt. Die
Beurteilung der Außenwelt hat primitivem Wunschdenken Platz gemacht.
Offensichtlich hat das Entstehen auch von Verwahrlosung mit Störungen
der Ichfunktionen zu tun. Lampl de Groot betont überdies die auch von an-
deren Autoren hervorgehobene Psychoseähnlichkeit der oft weitgehenden
Realitätsverkennung und Realitätsleugnung bei Verwahrlosten.20
Auch Lampl de Groot legt dar, dass für eine adäquate, d.h. nicht delin-
quente soziale Anpassung, eine ausreichend gute Objektbeziehung und eine
gesunde Ich-Ideal-Bildung nötig sind. Aggressive Energie, die zur Sicher-
stellung der Ideale auf das eigene Selbst gerichtet wird, stärkt die Selbstach-

18
Siehe dazu Jacobson, 1973, S. 137: „Offensichtlich ist der psychische Organismus nicht
in der Lage, das Überich als Funktionssystem aufzubauen, bevor nicht die Reifung des
Ichs und der Objektbeziehungen ein gewisses Niveau erreicht hat.“
19
Lampl-de-Groot, 1965, S. 117 ff.
20
Diese ist allerdings im Vergleich zum Psychotiker nur partiell.

82
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

tung. Der verbleibende Teil der freien, aggressiven Energie wird für men-
tale, intellektuelle und körperliche Aktivitäten in der Außenwelt genützt,
um zu lernen, sich anzupassen oder die Umwelt zu verändern. Er wird in
Aktivität „sublimiert“. Dieser duale komplizierte Prozess wird oft gestört.
Oft wird zu viel Aggressivität gegen das Selbst gerichtet. Diese Aggression
wird dann sexualisiert und die ganze Beziehung zwischen Über-Ich und Ich
hört auf, eine urteilende, regulierende Funktion im Dienst normaler Anpas-
sung zu sein. Stattdessen wird daraus eine sadomasochistische Beziehung.
Das Ergebnis ist eine hartnäckige Tendenz zur Selbstbestrafung, eine Ar-
retierung und Einschränkung der Ichentwicklung und der Bildung des Ich-
Ideals.21
Den unterscheidenden Faktor zwischen Neurotikern und Delinquenten
sieht Lampl de Groot in einem Unterschied zwischen ihrer Ich-Ideal- und
Über-Ich-Bildung. Wo es eine starke Idealbildung in früher Kindheit gab,
die später durch ein überstrenges Über-Ich gestört wurde, wird die Ichent-
wicklung gehemmt und die Sublimierung von aggressiver Energie in Ak-
tivität verhindert. Die rigorosen Ideale verbieten den Ausdruck jeglicher
Aggressivität in die Außenwelt und so richtet sie sich deswegen gegen das
Selbst. Das Ergebnis ist der bekannte vitiöse Zirkel der Neurose.
Wenn es in dem jungen Kind zu einer schwachen Idealbildung gekom-
men ist, die später von einem sadistischen Über-Ich gestört wurde, ist das
Ergebnis Selbstbestrafung und ebenfalls defektive Ichentwicklung. Aber in
solchen Fällen ist die schwache Idealbildung unfähig, die Entladung von
Aggressivität zu verhindern und die Aggression des Über-Ichs wird gegen
die Umgebung ausagiert. Das Ergebnis ist dissoziales Verhalten oder Delin-
quenz. Die Beeinträchtigung der Idealbildung bedeutet auch eine zweifache
Frustrierung der narzisstischen Bedürfnisse des Kindes. Sowohl durch den
Mangel an Liebe, als auch durch die mangelhafte Idealbildung als solche.
Es nden sich vielfach Mischungen dieser Prozesse.
Das Über-Ich ist keineswegs unbedingt einheitlich. So gibt es z.B. Men-
schen, die zum Teil hohe Ideale in manchen Bereichen befolgen, in anderen
aber keine haben und dissozial agieren.(a.a.O. 146) Und Lampl de Groot
fügt hinzu, dass so, wie wohl jeder, und sei er auch noch so „normal“, einen

21
Lampl-de-Groot, 1949. Dort auch zum Folgenden.

83
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

kleinen neurotischen Kern und manchmal eine fast unmerkliche „persönli-


che Wahnvorstellung“ hat, jeder auch eine kleine „psychopathische“ Macke
hat.22 Abgesehen davon, kann man auch feststellen, dass sich das Über-Ich
das ganze Leben lang mit den Änderungen von Normen und Ethiken wei-
terentwickelt.23
Melitta Schmideberg stellt anhand des Materials, das sie aus sechs Be-
handlungen von Patienten im Alter zwischen sechseinhalb und zwanzig
Jahren gewonnen hat, Überlegungen an, die im Grundsätzlichen mit de-
nen der anderen genannten Autoren übereinstimmen. Auch sie berücksich-
tigt bei der Diskussion der Entwicklung ihrer Patienten Über-Ich und Ich-
Ideal gesondert. Sie geht darüber hinaus besonders auf die Psychosenähe
von Verwahrlosung ein. Während man an vielen Beispielen (junge Kinder,
Asoziale, Psychotiker) das Misslingen der Entwicklung eines Ich-Ideals
feststellen kann, fehlt ihrer Beobachtung zufolge bei Verwahrlosung ein
Über-Ich nie. Wo introjizierte gute Objekte dominieren, kann eine soziale
Einstellung auf einer Identizierung mit ihnen beruhen und um der narziss-
tisch geliebten Elternimagines willen angenommen werden. Wo schlech-
te Objekte überwiegen, kann auch eine soziale Einstellung übernommen
werden, aber aus Angst vor ihnen, aus Angst vor einem grausamen Über-
Ich. Das ergibt zwei verschiedene Arten von Moralität. Die eine beruht auf
Angst, die andere auf Liebe. In der Realität wird beides jeweils zugleich der
Fall sein. Es ist nur die Frage, welcher Faktor dominiert. Je mehr jemand
aus Liebe zu seinem Ichideal handelt und nicht aus Angst vor seinem Über-
Ich, desto größer wird seine soziale Anpassung sein, und umso unabhän-
giger sein moralisches Urteil. Darin ist allerdings niemand ganz unabhän-
gig von seiner Umwelt. Diese Unterscheidung zwischen diesen zwei Arten
von Moralität ist sozialpsychologisch von erheblichem Interesse. Moralisch
erwünschtes,- auch unerwünschtes –, Verhalten ist nicht nur in Funktion der
Entwicklung des Über-Ichs zu erklären.
In allen von Schmideberg analysierten Fällen haben ungünstige äußere
Bedingungen zu einer anormalen Entwicklung geführt. Und bei allen ih-
22
Lampl-de-Groot, 1949, S. 146. Zwar gibt es normalen, d.h. gesunden Narzissmus, nor-
male Verwahrlosung kann es aber nicht geben, insoweit sie eine Variante von gestörtem
Narzissmus ist.
23
Novey, 1955. Dazu auch in der Folge.

84
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

ren asozialen Patienten stellte sie fest, dass ihre libidinöse Entwicklung der
späten oralen oder frühen analen Phase entsprach.24 D.h. ihre libidinösen
Beziehungen haben den Charakter von Partialliebe. Für die Struktur ihres
Über-Ichs waren schlechte introjizierte Objekte charakteristisch. Hinsicht-
lich des Fehlens von moralischen und liebevollen Gefühlen bei diesen Pa-
tienten stellte auch sie fest, dass Schuldgefühle sich nur da entwickeln, wo
es eine positive Objektbeziehung gibt. Und wo diese verloren geht, schwin-
det auch das Schuldgefühl. Schuld wird nur gegenüber dem „guten“ und,
wegen der vorhandenen aggressiven Triebregungen, ambivalent geliebten
Objekt empfunden. Das „gute“ Objekt ist nicht einfach eine Person, die
Lust ermöglicht, sondern eine, die das Kind trotz seiner Aggression liebt
und ihm diese nicht heimzahlt. Das gefürchtete „schlechte“ Objekt macht
Angst. Fatalerweise kann das Überwiegen von schlechten introjizierten Ob-
jekten dazu führen, dass gute Objekte und Liebe und Freundlichkeit gar
nicht als solche wahrgenommen und verinnerlicht werden können. Die Er-
fahrungen mit den schlechten Objekten werden auf sie projiziert. Je stärker
die ursprünglichen aggressiven Triebregungen weiter bestehen, desto inten-
siver ist das Schuldgefühl. Schuld entsteht aus dem Ambivalenzkonikt und
wenn dieser zu unerträglich wird, kann die Lösung darin bestehen, dass die
positive Objektbeziehung aufgegeben wird. Das bis dahin ambivalent ge-
liebte Objekt wird schlecht, indem die eigenen aggressiven Regungen auf
es projiziert werden. Das Schuldgefühl wird zu Angst. So ist es möglich,
dass das Fehlen von Schuldgefühl nicht die Folge eines mangelnden Über-
Ichs zu sein braucht. Je schwächer der Glaube des Subjekts an hilfreiche
Objekte ist und je größer die Angst vor einem grausamen Über-Ich, umso
dringlicher wird es bei äußeren Objekten Hilfe suchen. Wenn diese Suche
wegen zu exzessiver Angst misslingt, kommt es zu einer dissozialen Ein-
stellung. Auf dem Stand der psychischen Entwicklung, auf dem sich ver-
wahrloste Kinder in der Regel benden, können gute Objekte auch durch
Gegenstände und Plätze repräsentiert werden.25
Das Stehengebliebensein der libidinösen Entwicklung mit den dazuge-
24
Schmideberg, 1935. Der von ihr benützte Begriff „asozial“ entspricht ungefähr der
Aichhornschen Klassikation „dissozial“.
25
Schmideberg, 1935, S. 32. Was unter anderem zu bedenken ist, wenn Kinder weglaufen
und sich auf der Straße herumtreiben.

85
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

hörigen partiallibidinösen Objektbeziehungen, sowie das von den introji-


zierten schlechten Objekten afzierte rudimentäre Über-Ich bewirken eine
mentale Struktur, die der von Psychotikern nahe kommt. Während der Psy-
chotiker jedoch die Beziehungen zu realen Objekten fast ganz aufgegeben
hat, hält der Asoziale an ihnen fest, sie haben aber für ihn fast ausschließ-
lich negativen Charakter. Die Existenz einer Beziehung zu Objekten, und
sei sie auch negativ, ermöglicht es dem asozialen Subjekt, sein Heil in der
Flucht in die Realität asozialen Verhaltens zu suchen. Das asoziale Verhal-
ten ist demnach ein „spontaner Versuch, eine Psychose im Anfangsstadium
zu heilen“.26
Bei Schmideberg nden sich auch plausible Überlegungen zu einigen
Besonderheiten der Eigenschaften und Verhaltensweisen von Verwahrlos-
ten. Der starke Drang zu sofortiger Triebbefriedigung und die Unfähigkeit
auf Lust zu verzichten, können ihrer Vermutung nach auf einer von vornher-
ein existierenden konstitutionell vorhandenen Unfähigkeit beruhen. Diese
wird allerdings im Lauf der Entwicklung dadurch verstärkt, dass jede Frus-
tration Angst und Aggression freisetzt, so dass der Drang zusätzlich ver-
stärkt wird. Für die praktische Arbeit mit Verwahrlosten scheint mir der
Hinweis von Schmideberg wichtig, dass es nicht die frühen Entbehrungen
als solche sind, die Fehler in der Entwicklung verursachen, sondern die
anormale innere Einstellung, die sie verursachen. Dementsprechend kön-
nen, wie auch Aichhorn zeigte, die Fehler nicht durch Versuche geheilt
werden, die frühe Entbehrung zu kompensieren, sondern nur durch eine
Korrektur dieser Einstellung.
Schmideberg gehört zu den wenigen Analytikern, die auch mit erwach-
senen Straffälligen gearbeitet haben. Bei dieser Arbeit hat sie die Über-
zeugung gewonnen, dass die meisten derer, die vor Gericht kommen, sich
nur wenig von anderen Menschen unterscheiden. Sie sind unter bestimm-
ten Umständen zu Delinquenten geworden. „Die Tragödie unseres Straf-
systems ist jedoch, dass es solche Delinquenten zu Gewohnheitskriminel-
len macht.“27 Bei ihr ndet sich auch, auf einen ihrer Fälle bezogen, eine
26
Schmideberg, 1935, S. 46
27
Schmideberg, 1949, S. 403. Auch Fenichel ist der Meinung, dass Gelegenheitskrimina-
lität den größten Teil des kriminellen Handelns umfasst. „Kriminelle dieser Kategorie
verfügen über eine normale psychische Struktur, und ihre Verbrechen sind für die Psy-

86
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

in der psychoanalytischen Literatur zur Verwahrlosung seltene Erwähnung


des Einusses der Pubertät auf die Entwicklung eines Patienten.28 Pubertät
und Adoleszenz spielen sonst weder bei Aichhorn noch bei seinen Nach-
folgern eine nennenswerte Rolle.29 Das ist, soweit sie sich nur mit jugend-
lichen und nicht mit erwachsenen Verwahrlosten beschäftigt haben, ver-
ständlich. Verwahrlosung hat ihren Ursprung in präödipalen und ödipalen
Konstellationen und wird normalerweise schon in der Latenzzeit manifest.
Andererseits ist unzweifelhaft, dass die psychologisch sehr tief greifenden
Ereignisse der Adoleszenz auch erhebliche Folgen für die spätere Entwick-
lung des Verwahrlosten haben. Bei der Auseinandersetzung mit erwach-
senen Verwahrlosten müssen sie berücksichtigt werden. Von erheblicher
psychologischer und sozialpsychologischer Bedeutung ist in diesem Zu-
sammenhang auch, dass durch die Beschränkung des Blicks auf die frühe
Kindheit nicht erkennbar wird, wie sehr sich das Über-Ich in der postödi-
palen Entwicklung noch verändern kann.30
Die Nichtberücksichtigung von Pubertät und Adoleszenz in den psy-
choanalytischen Auseinandersetzungen mit Verwahrlosung fällt, wie er-
wähnt, kaum auf, weil unter Verwahrlosten fast immer jugendliche Ver-
wahrloste verstanden werden. Es ist jedoch unzweifelhaft, dass Verwahrlos-
te auch erwachsen werden können. Aber nur wenige Psychoanalytiker ha-
chopathologie nicht von speziellem Interesse.“ Fenichel, 1945 (1983, Bd. 3, S. 80)
28
Schmideberg, 1935, S. 35
29
Houssier, 2004. Für die Arbeiten über Adoleszenz von Bernfeld und Anna Freud, mit
denen er häug Kontakt hatte, hat sich Aichhorn, wie es scheint, nicht interessiert.
30
Siehe dazu Novey, 1955. Fenichel verweist darauf, dass das Über-Ich der Teil des psy-
chischen Apparats ist, der der Außenwelt am nächsten steht. „Viele Personen sind in
ihrem Verhalten und Selbstgefühl nicht nur davon beeinusst, was sie selbst für richtig
halten, sondern auch durch Überlegungen darüber, was andere denken mögen.“ Feni-
chel, 1945 (1983, Bd. 1, S. 156). Fenichel konstatiert auch eine Vielfalt von Anoma-
lien des Über-Ichs und der Stellungnahme des Ichs ihm gegenüber. Er nennt einige
Varianten. So in Berufung auf Franz Alexander die Möglichkeit einer „Bestechung des
Ich“ durch Erhöhung des Selbstgefühls, indem Triebfreiheit durch vorangegangene oder
gleichzeitige Idealerfüllung, z.B. in Form von Selbstbestrafung erkauft wird. Er nennt
auch die von Wilhelm Reich beschriebene Möglichkeit einer „Isolierung des Über-Ich“
und, mit Verweis auf Edith Jacobson, die „Idealisierung“ der Triebbetätigung, bei der
„entweder die eigene Halsstarrigkeit als ‚ein Kampf für die gute Sache‘ rationalisiert
wird oder der Einuss triebbejahender Erwachsener sich geltend macht.“ (Fenichel,
1945) (1983, Bd. II, S. 142 und S. 256f).

87
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

ben sich mit erwachsenen Verwahrlosten auseinandergesetzt.31 Und wenn,


dann überwiegend nicht in der Perspektive Aichhorns. Normalerweise wer-
den erwachsene Verwahrloste gar nicht mehr als solche bezeichnet, sondern
als Psychopathen. So wird nicht bedacht, dass der Psychopath ätiologisch
der erwachsen gewordene Verwahrloste ist.32 Auf diese Weise wird bei den
Auseinandersetzungen mit ihm die Verbindung zu früheren psychoanalyti-
schen Auseinandersetzungen mit Verwahrlosung und ihren Erkenntnissen
gar nicht berücksichtigt. (Siehe dazu in der Folge.)
Wenn man mit Aichhorn delinquente Verwahrloste als schuldlos Schul-
diggewordene versteht, liegt die Frage nahe, wer oder was sonst schuldig
ist, wenn ein Kind zum Verwahrlosten wird. Abgesehen von den gesell-
schaftlichen Faktoren, Schicksalsschlägen und ungünstigen Lebensverhält-
nissen in denen Sozialisation gegebenenfalls stattndet, verweist diese Fra-
ge natürlich auch auf Mängel und Unzulänglichkeiten der frühen Bezugs-
personen des Kindes, also im Wesentlichen der Eltern. Schlimmstenfalls
sind diese selbst verwahrlost. Mehrere Autoren heben jedoch noch eine an-
dere Möglichkeit hervor. In den von ihnen beschriebenen Fällen gehört die
Delinquenz des Kindes zu einer Sündenbockrolle, die ihm unbewusst von
den Eltern zugewiesen wird. So wurden Johnson und Szurek in ihrer Ar-
beit mit Kindern mit Über-Ich-Defekten mit Fällen konfrontiert, in denen
Eltern sich dem Kind gegenüber so verhielten, dass dieses stellvertretend
die verbotenen Impulse der Eltern ausagierte. Dieses Ausagieren, das ganz
im Gegensatz zu den bewussten Wünschen der Eltern erfolgte, diente dann
häug auch zur Kanalisierung der feindseligen und zerstörerischen Impulse
gegenüber dem Kind.33 Johnson zieht aus ihrem Material den weitgehenden

31
Die wichtigsten Arbeiten über erwachsene Verwahrloste, die als solche begriffen wer-
den, stammen von Eissler, Finkelstein, Schmideberg und Spanudis.
32
Johnson, M. A.; Szurek, 1952, S. 341
33
Johnson, A. M., 1949 (1974), Johnson, M. A.; Szurek, 1952. Dieser Mechanismus ist
nicht nur in Bezug auf Delinquenz von Bedeutung. Er kann auch in anderen Fehlent-
wicklungen eine Rolle spielen, so. z.B. auch beim Erwerb der sexuellen Identität des
Kindes. Wie vielfältig und komplex solche Delegierungsmechanismen sein können, hat
H.E. Richter ausführlich analysiert und dargestellt. Richter, 1963 (1969), Richter, 1970
(1972)

88
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

Schluss: „Ob wir also „gut“ oder „schlecht“ werden, hängt von den Phan-
tasien ab, die sich unsere Eltern über uns machen.“34
Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Ruth Eissler sind auch, wie
bei Johnson und Szurek, Erfahrungen mit delinquenten Kindern, die offen-
sichtlich eine Sündenbockrolle angenommen haben. Sie betont in diesem
Zusammenhang in Berufung auf Aichhorn, dass man sowieso das delin-
quente Kind nie isoliert, sondern in seinen familialen Beziehungen sehen
muss. Eissler erweitert jedoch ihre Perspektive über einzelne Familien hin-
aus. Verallgemeinernd stellt sie fest, dass delinquente Kinder häug die
unbewussten feindlichen Impulse und Über-Ich-Forderungen der Elternge-
neration befriedigen. Solche feindlichen Impulse gegenüber Kindern gibt
es immer schon. Sie entspringen zwei Quellen, der Ödipussituation und der
Geschwisterrivalität.
Eissler betont jedoch darüber hinaus die sozialpsychologische Bedeu-
tung des Sündenbocks. Er ermöglicht die Verschiebung von Konikten
nach außen und bewirkt damit eine Spannungslinderung. Für die Gesell-
schaft als ganze sind Kriege die Lösung par excellence, um große aggres-
sive Triebentladungen zu ermöglichen. Da Kriege jedoch auch Selbstzer-
störung bewirken, bedient man sich ihrer aus Selbsterhaltung nicht unbe-
schränkt. So bleibt der Gesellschaft insgesamt nur noch eine Möglichkeit
von Triebabfuhr, die moralisch gerechtfertigt werden kann und die die ge-
wünschte Erleichterung verschaffen kann, d.h. innere Konikte nach außen
zu bringen, ohne bewusste Schuldgefühle zu verursachen. Das ist die Ver-
folgung der Schlechten, der Kriminellen, derer die Gewalt anwenden, Ge-
setze brechen und sich nicht den Anforderungen der Gesellschaft fügen.35
Wenn es aber so ist, dass die Gesellschaft Kriminelle in der gleichen Wei-
se braucht, wie die Eltern, die ihre Kinder zu Sündenböcken machen, steht
es schlecht um die Möglichkeiten, Kriminalität wirksam zu bekämpfen und
ihr vorzubeugen. Zwei Tendenzen wirken dem entgegen. 1)Individuen wer-
den zu kriminellem Handeln verführt. 2)Überall wo etwas zustande kommt,
was Kriminalität entgegenzuwirken verspricht, wird dagegen angegangen.
Diese Erfahrung macht man auch im begrenzten Bereich von Sozialarbeit.

34
Zitiert nach der deutschen Version des Textes von Johnson, A. M., 1949 (1974)
35
Eissler, R. S., 1949 (1966, S. 295)

89
Ergänzungen zu Aichhorns Werk

Gesamtgesellschaftlich sind die Auswirkungen dieser Tendenz besonders


bedrohlich. „Indem die Gesellschaft ihre Kriminellen als Sündenböcke be-
nützt und sie zu zerstören versucht, weil sie es nicht ertragen kann, ihre
eigene Schuld zu bedenken, sticht sie sich ins eigene Herz.“36

Aspekte der berücksichtigten Ergänzungen, die für die Frage


gesellschaftlicher Verwahrlosung von besonderer Bedeutung
sind
Diese Darstellung der wichtigsten psychoanalytischen Beiträge zur Ver-
wahrlostenproblematik belegt hinlänglich die „Vielgestaltigkeit des Dis-
sozialenproblems“ (Aichhorn). Sie erlaubt aber einige Feststellungen, die
mir von besonderer Bedeutung zu sein scheinen. So ist vor allem der Bei-
trag von Bernfeld von erheblichem sozialpsychologischem Interesse. Of-
fensichtlich kann Verwahrlosung allein auf Grund bestimmter Lebensver-
hältnisse entstehen, ohne dass bei den Verwahrlosten Störungen in der psy-
chischen Entwicklung festgestellt werden könnten. Das entspricht der ein-
gangs erwähnten Variante objektiv bedingten verwahrlosten Verhaltens. So-
zialpsychologisch sehr interessant ist auch die Erkenntnis, dass Verwahrlo-
sung in psychosomatischen Symptomen verborgen sein kann. Und elterli-
ches Verhalten kann auf verschiedene Weise, sei es durch Erziehungsfeh-
ler oder durch Delegierung eigener unbewusster Verwahrlosungstendenzen
zu Kinder zu Verwahrlosten machen. Die Bedeutung des Über-Ichs in der
psychischen Konstitution von Verwahrlosten kann sehr variabel sein. Von
den Fällen, in denen verwahrloste Kinder ein unbeeinträchtigtes Über-Ich
entwickelt haben, das aber ebenso delinquent ist, wie die elterlichen Vorbil-
der, über die Fälle, in denen das Über-Ich sehr uneinheitlich ist, geradezu
moralisch streng in Bezug auf manche Verhaltensbereiche, aber delinquent
in Bezug auf andere Bereiche, bis hin zu Fällen, in denen das Über-Ich tat-
sächlich nur rudimentär entwickelt ist, sind ganz unterschiedliche Varianten
möglich. Festzuhalten ist auch die Erkenntnis von Schmideberg, der zufol-
ge moralisch erwünschtes Verhalten nicht nur in Funktion der Entwicklung
36
Eissler, R. S., 1949 (1966, S. 305)

90
Aspekte der berücksichtigten Ergänzungen, die von besonderer Bedeutung sind

des Über-Ichs zu erklären ist. Es gibt auch eine Moralität, die auf Liebe
beruht.
Die genannten Autoren orientieren sich an Aichhorn vor allem hin-
sichtlich seiner Einstellung zu Verwahrlosung, folgen ihm aber nicht ge-
nau in seiner Terminologie. Der Verwahrlosungsbegriff der referierten Bei-
träge umfasst Mischformen verschiedener Art. Diese Autoren werden in-
sofern dem eingeschränkteren und genaueren Verwahrlosungsbegriff von
Aichhorn, an dem Spanudis anknüpft, nicht gerecht. Dementsprechend
sind von ihnen ausgehend verallgemeinernde Aussagen über einen Zusam-
menhang zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten bzw. be-
stimmten Sozialisationsbedingungen und der Entstehung von subjektiver
Verwahrlosung kaum möglich. Die verschiedenen beschriebenen psychi-
schen Verwahrlosungskonstellationen lassen sich nicht auf einen einheit-
lichen psychoanalytischen Begriff bringen. Sie präzisieren und verdeutli-
chen aber, wie weitgehend die für Verwahrloste charakteristische Über-Ich-
Problematik mit frühen Störungen der Ichentwicklung und der Entwicklung
eines Ich-Ideals verschränkt ist.

91
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
Aichhorn hat sich nur mit kindlichen Hochstaplern auseinandergesetzt. Er
sah in ihnen die reinste Form des Typus jugendlicher Verwahrloster, bei de-
nen es zu narzisstischer Übertragung kommt. Der erwachsene Hochstapler
ist darin eine Besonderheit, dass sich für ihn als erwachsenem Verwahrlos-
ten auch in neuerer Zeit Psychoanalytiker gelegentlich interessieren.1 Er ist
aus mehreren Gründen ein besonders interessanter Typus von Verwahrlo-
sung. Er tritt bevorzugt in besseren Gesellschaftskreisen auf. Bei ihm sind
die problematischen Merkmale des Verwahrlosten meist nicht auf Anhieb
wahrnehmbar. Im Gegenteil, perfekte Anpassung an die Erwartungen der
anderen und perfektes Rollenspiel spielen eine zentrale Rolle. Der Hoch-
stapler wird oft längere Zeit gar nicht als solcher erkannt. Er kann sich
völlig normal und unauffällig verhalten, bis er dann, in manchen Fällen auf
Grund eines Zufalls, entlarvt wird. Z.B. weil das Fehlen eines wichtigen
Qualikationsnachweis bemerkt wird oder eine biographische Angabe sich
als falsch erweist. Häug aber auch, weil er sich selbst durch eine unbe-
wusst verursachte Unachtsamkeit, eine Fehlleistung oder ähnliches, selbst
verrät und er als Betrüger entlarvt wird. Er verfügt also über Fähigkeiten,
die man braucht um sich in der gesellschaftlichen Realität beruich, ökono-
misch und sozial behaupten zu können. Er darf nicht rücksichtslos handeln
oder als unbeherrschter Lustsucher aus der Rolle fallen. Er ist kein simpler
Betrüger, sondern er muss die Fähigkeit haben, andere Menschen zu täu-
schen und sie zu verführen, so dass sie ihm seine vorgetäuschte Identität
glauben.
Hugo Staub charakterisiert den „Verbrechertyp“ Hochstapler so: „Intel-
ligent, liebenswürdig, gewandt, von angenehmsten Umgangsformen, weiß
der Hochstapler immer wieder die Sympathie und das Vertrauen eines Ge-
sellschaftskreises zu erringen, um in diesem dann auf die verschiedens-
ten Arten zu betrügen und wirtschaftlich zu schädigen. Eine auffallende
Großmanns- und Verschwendungssucht und die Tendenz, sich mit rafnier-
ter Geschicklichkeit als Angehöriger einer höheren Gesellschaftsschicht
1
Siehe de Vries, 2004 und die bibliographischen Angaben darin.

92
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

auszugeben als der, welcher er zugehört, sind seine Kennzeichen. Dagegen


wendet er nicht annähernd die gleichen intellektuellen Anstrengungen für
die Durchführung seiner Straftaten auf. Die Betrügereien sind gelegentlich
von plumpster Art, als ob sie darauf angelegt wären, alsbald entdeckt zu
werden. Nach kürzester Zeit wird ihm dann gewöhnlich der Boden zu heiß.
Er verschwindet, um anderswo mit anderem Namen und Titel das gleiche
Spiel von neuem zu beginnen. Mit eintöniger Gleichförmigkeit kreist er
immer um das gleiche Erleben. Durch sein Verhalten will er das Vertrau-
en und die Zuneigung der Menschen erringen, will auffallen, will für mehr
gehalten werden, als er ist, um diese Menschen sofort auf das gröbste zu
enttäuschen.“2
Der Hochstapler ist aber besonders deswegen eine interessante Figur,
weil die Grenzen zwischen ihm und den nicht verwahrlosten Mitmenschen
leicht ießend werden können, weil man sich in unserer Gesellschaft nur
allzu leicht gedrängt sehen kann, Theater zu spielen, um seine Interessen
oder sein Gesicht zu wahren. Und mehr denn je machen Kleider Leute.3 So
kann es auch leicht dazu kommen, dass man dafür gehalten wird, ein ande-
rer oder anders zu sein als man ist, dass man das akzeptiert, dass man sich
inkompetent fühlt, dies aber nicht zugeben kann, darf oder will, kurzum,
dass man sich als Hochstapler erlebt.
Karl Abraham hat als erster einen psychoanalytischen Aufsatz über
einen Hochstapler veröffentlicht.4 Er beschränkt sich in seiner theoretischen
Orientierung zwar auf ödipale Aspekte, beschreibt im Übrigen aber den Fall
in völliger Übereinstimmung mit Aichhorns Erkenntnissen und denen spä-
terer Autoren. Der Hochstapler N. hat in seiner Kindheit zu wenig Liebe
bekommen und hat nicht lieben gelernt. Abraham vergleicht diese Entbeh-
rung an Liebe mit einer „seelischen Unterernährung“. Sie wird zur ersten
Vorbedingung des Entstehens dissozialer Züge. Die ersten Versuche des
Kindes, die ihm nächsten menschlichen Objekte mit seiner Libido zu be-
setzen, müssen scheitern. Dies führt zu einer rückläugen, narzisstischen
Besetzung des Ichs. Zur gleichen Zeit wendet sich den Objekten eine große
2
Staub, Hugo, 1965, S. 118f.
3
Siehe dazu Gottfried Kellers Novelle „Kleider machen Leute“ von 1874. Das gilt in
weiterem Sinne heutzutage in erstaunlichem Ausmaß auch für Kinder.
4
Abraham, 1925 (1999

93
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

Hassbereitschaft zu. Das Übermaß von Hass und Wut, das, ursprünglich
gegen einen engen Personenkreis gerichtet ist, gilt später der sozialen Ge-
samtheit. Der narzisstischen Regression der Libido, entspricht auch eine
Hemmung der Charakterbildung, ein Stehenbleiben auf niederer Stufe. Im
Alltag von N. bedeutet das, dass er sich unter einer „inneren Nötigung“
allen Menschen „liebenswürdig, d.h. ihrer Liebe würdig zeigen muss, um
dann bald sich und ihnen zu beweisen, dass er dieses Gefühls unwürdig
sei.“5
Bemerkenswert an diesem Fall ist nicht zuletzt, dass das Verhalten von
N. sich nicht durch Gefängnisstrafen verändert, zu denen er verurteilt wird,
sondern dass er sich auf Grund der Veränderungen seiner Lebenssituati-
on, dem Zustandekommen einer Liebesbeziehung zu einer mütterlichen
Frau, sozial angepasst und erfolgreich verhalten kann. Abraham hat den
Eindruck, „dass N. an einer Ersatzperson spät geglückt war, was in der
Kindheit nicht stattnden konnte: die Libido-Übertragung auf die Mutter.“
Ihm ist allerdings klar, dass das dies keine „Heilung durch Liebe“ bedeu-
tet. Immerhin ist aus der manifesten Verwahrlosung durch die Veränderung
äußerer Umstände eine latente Verwahrlosung geworden.
Das soziale Verhalten des Hochstaplers, d.h. sein Rollenspiel, unter-
scheidet sich vom Rollenspiel normaler Menschen dadurch, dass es getrie-
benes, repetitives Verhalten involviert, das von ungelösten pathologischen
inneren Konikten herrührt. Er leidet an einer starken Identitätsstörung, die
sich in multiplen Identizierungen und fragmentarischem, nachahmendem,
nicht verinnerlichtem Rollenspielen ausdrückt. Er spielt angemaßte Rollen,
für die er nicht qualiziert ist. Dabei ist er permanent damit beschäftigt,
durch die Vortäuschung einer sozial angesehenen Identität, narzisstische
Probleme zu geringer Selbstachtung und das Wissen um seine psychischen
Schwächen und Ängste zu neutralisieren. Manche Hochstapler sind fähig,
ganz verschiedene Rollen zu spielen. Und oft spielen sie sie gut. Zu den
typischen Eigenschaften des Hochstaplers gehören auch sprachliche Ge-
wandtheit, eine hypertrophe Entwicklung einer in bestimmter Weise einge-
schränkten Empathie, von Dilettantismus und esoterischen Fähigkeiten und

5
a.a.O., S. 77

94
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

Listigkeit.6 Er kann sehr anziehend wirken, weil er, wie mehrere Autoren
betonen, nicht kalt und beziehungslos erscheint, sondern imstande ist, sich
hingebungsvoll mit den Gefühlen der anderen auseinanderzusetzen.
Der Hochstapler erscheint also als ein Typus narzisstischen Charakters,
der ein unrealistisches, grandioses Ich-Ideal hat, oder anders formuliert,
idealisierte Selbstvorstellungen, die er erreichen muss, um sich wohlfühlen
zu können. Sein defektes Ich ermöglicht es ihm nicht, Frustration zu verzö-
gern, aufzuschieben, vorauszuplanen und zu dulden. Um seine idealisier-
ten Ziele zu erreichen, muss er sich pathologischer Mittel bedienen. Um
sich selbst zu überzeugen, er habe seine Ziele erreicht, muss er verleug-
nen, rationalisieren, sich verstellen usw., um sein Publikum zu täuschen. Er
braucht ein Publikum das ihm glaubt, um sich selbst einreden zu können,
das, was er vortäuscht, sei Realität.7
Helene Deutsch präzisiert das und sagt, der Hochstapler bemühe sich,
die Unstimmigkeit zwischen seinem pathologisch übertriebenen Ich-Ideal
und dem anderen, entwerteten, miesen, schuldbeladenen Teil seines Ichs in
einer Weise zu beseitigen, die charakteristisch ist für ihn. Er tut so als sei
sein Ich-Ideal identisch mit ihm selbst und als erwarte er, dass alle anderen
dies auch so sehen. Wenn die innere Stimme seines entwerteten Ichs einer-
seits und die Reaktionen der Umwelt andererseits ihn daran erinnern, dass
sein Ich-Ideal nicht realistisch ist, klammert der Hochstapler sich weiter an
seine narzisstische Position. Er versucht verzweifelt – indem er unter einem
anderem Namen vorgibt ein anderer zu sein –, sein Ich-Ideal zu erhalten,
es sozusagen der Welt aufzuzwingen.8 Greenacre weist darauf hin, dass so-
weit dies dem Hochstapler gelingt, in der Zusammenarbeit seiner Opfer mit
ihm, auch ein soziales Element involviert ist. Demnach ist Hochstapelei in
großem Maßstab am erfolgreichsten in Zeiten unruhiger oder revolutions-
naher sozialer Verhältnisse, wenn die Leute nach Allheilmitteln und einem
Retter Ausschau halten.9
Finkelstein sieht in der gestörten Wahrnehmung der Realität und der
eigenen Identität des Hochstaplers vor allem eine Folge einer zu engen Be-
6
Gediman, 1985
7
Deutsch, 1942, S. 503
8
Deutsch, 1942, S. 503
9
Greenacre, 1958b, S. 526

95
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

ziehung zu einer ambivalenten, possessiven Mutter, die das Kind an einer


klaren Wahrnehmung seiner selbst hinderte. Und eines abwesenden oder
ineffektiven Vaters, mit dem sich das Kind nicht identizieren konnte.10
Die Beziehung des Hochstaplers zu seinem Publikum spiegelt seine frühe
Beziehung zu seiner Mutter wider. Wie mehrere Autoren feststellen, be-
trifft das vor allem Phänomene, die auf das Alter von zwei bis drei Jahren
verweisen. Also das Alter, in dem allgemein die Anlage zu Verwahrlosung
und Delinquenz ihren eigentlichen psychologischen Ursprung hat. Das gilt
unter anderem für die gesteigerte Mimik und Gestik, die beim Kind in die-
sem Alter, das seine Eltern nachahmt, eine besondere Rolle spielen. Ebenso
auch für die in diesem Alter erworbene Beherrschung der Sprache. Auch für
die primären, vielfachen, noch instabilen Identizierungen und die geringe
Objektkonstanz.11
Die enge unbewusste Beziehung zwischen dem Hochstapler und sei-
nem Publikum nimmt der Hochstapler mit einem überentwickelten Gespür
dafür wahr, was sein Publikum von ihm erwartet, was es gerne von ihm hö-
ren möchte. Greenacre geht so weit zu sagen, dass diejenigen, die der Hoch-
stapler reinlegt, nicht nur Opfer, sondern auch unbewusst Mittäter sind. In
seiner Beziehung zu seinem Publikum spielt der Hochstapler die Rolle ei-
ner unbegrenzt spendenden Mutter. Das Geheimnis der Anziehungskraft
des Hochstaplers, der von seinen quasi magischen Kräften überzeugt ist,
auf sein Publikum, liegt auch darin, dass dieses mit ihm zu dem glückli-
chen Zustand der Allmacht zurückkehren möchte, der im Erwachsenenle-
ben aufgegeben werden muss.12
Wie es zur Entwicklung des Verwahrlosungstypus Hochstapler kommt,
hat vor allem Phyllis Greenacre beschrieben.13 Sie nimmt schon in den frü-
hesten Objektbeziehungen eine spezische Störung wahr. Von Geburt an
hat die Mutter zum Kind eine sehr besitzergreifende, ambivalente und kon-
trollierende Einstellung. Ob diese auf besonderer Ängstlichkeit, Schuldge-
fühlen oder großem Stolz beruht, ist weniger wichtig als die Tatsache, dass
die Zuwendung extrem ist. Soweit Greenacre dies an ihren Fällen überprü-
10
Zum Folgenden Greenacre und Finkelstein
11
Dazu auch Gediman, 1985
12
Finkelstein, 1974
13
Greenacre, 1958a, S. 362 ff. Dazu auch Greenacre, 1958b

96
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

fen konnte, standen die Eltern überkreuz. Oft verachtete, schimpfte oder
attackierte die Mutter den Vater, der entweder keine enge Beziehung zu
dem Kind hatte oder sich ihr durch Tod oder Verlassen entzog. Das inten-
sive mütterliche Anklammern, dem sich der künftige Hochstapler ausge-
setzt sieht, schwächt seine Wahrnehmung seiner Eigenständigkeit und die
Entwicklung seiner Identität.14 Indem das Kind in eine Situation klarere
Überlegenheit gegenüber dem Vater kommt, sei es allein durch das Verhal-
ten der Mutter oder weil der Vater durch Tod oder Verlassen verschwindet,
kann möglicherweise in der ödipalen Situation ein schwerwiegendes Un-
gleichgewicht in der Beziehung dem Vater gegenüber entstehen. Das Kind
kann sozusagen an die Stelle des Vaters treten. Dies bedingt unvermeidlich
eine Verstärkung des Narzissmus des Kindes, der begünstigt, dass es sich
in anderen Gesichtspunkten seiner Selbsteinschätzung auf Kosten der Rea-
litätsprüfung starker auf Allmachtsphantasien verlässt. Ein solches Kind
kommt in einem bereits beeinträchtigten Zustand in die ödipale Situation.
Die Frustration, die sich weitgehend der Unfähigkeit verdankt, die ödipa-
len Bedürfnisse auszuleben, und die verstärkte Angst vor dem Vater, die
auf der ablehnenden Einstellung zu einer positiven Identikation mit ihm
beruht, machen den Konikt scharf und unlösbar. Im Kampf darum, die
Oberhand zu behalten wird dann wieder die Attitüde einer quasi magischen
Macht eingenommen, die, wie andere bereits erwähnte Verhaltensbeson-
derheiten des Hochstaplers, auf das Verhalten des Kindes im zweiten bis
dritten Lebensjahr verweisen.
Greenacre kommt anhand der von ihr untersuchten Fälle zum Schluss,
dass anhaltendes Hochstapeln zwei wichtige Funktionen im Leben des
Hochstaplers erfüllt. Zum einen das Ausleben eines ödipalen Konikts
durch Wiederbeleben des frühesten deutlichen Bildes des Vaters. In dem
Maße, in dem es zur vollständigen Entwicklung zum Hochstapler kommt,
wird der Vater „getötet“, indem er völlig beseitigt wird. Zum anderen dient
es dazu, vorübergehend ein Gefühl der Vervollständigung der Identität (des
Selbstgefühls) hervorzurufen, das auf diese Weise eher zustande kommt als
14
Thomas Manns Hochstapler Felix Krull (Mann, 1954) (1989) verfügt über eine präzise
Einsicht in seine Gefühlszustände und kann sie sehr genau ausdrücken. Das ist nicht
typisch für Hochstapler oder auch Schwindler. Bei Krull ist dafür das genuine künstle-
rische Talent zu stark entwickelt. Greenacre, 1958b, S. 532 ff.

97
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

im gewöhnlichen Leben des Individuums, das durch die psychologische


Vereinnahmung durch die Mutter geschädigt worden ist.
Das frühe präödipale Über-Ich, ist noch ganz üchtig und funktioniert
nur in Präsenz und bei realem Druck einer Autoritätsperson. Es bedarf kei-
ner weiteren Erklärung, dass seine weitere Ausformung in den ödipalen
Konikten der beschriebenen Art nicht unbeschädigt erfolgt. Dementspre-
chend nennt Greenacre drei grundlegende Störungen, die bei Hochstaplern
auffallen: der dominierende und aktive Familienroman, die intensive und
deutliche Störung des Identitätsgefühls und die unzulänglich Ausbildung
des Über-Ichs. Moral wird nur unzulänglich verinnerlicht.

Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen


Mehrere Autoren haben Varianten von Verwahrlosung beschrieben, die
Mischformen mit neurotischen und psychotischen Anteilen sind, und dem
Typus Hochstapler ähneln.15 Obwohl solche Typen in ihrer psychischen
Konstitution Züge von Verwahrlosung aufweisen, werden sie normalerwei-
se nicht als Verwahrloste deniert. Ross hat einige Typen benannt. So vor
allem den „als ob“ Typ, den Helene Deutsch als erste beschrieben hat.16 Da-
bei handelt es sich um Personen, bei denen die Gefühlsbeziehungen zur Au-
ßenwelt und zum eigenen Ich verarmt oder nicht vorhanden zu sein schei-
nen. Was gelegentlich als Gefühlsarmut bezeichnet wird, ist allerdings eher
eine Unfähigkeit libidinöse Besetzungen vorzunehmen, während es ande-
rerseits ein enormes Reservoir an Aggressivität in ihnen gibt.17 Die meisten
dieser Personen scheinen sich ihrer Affektlosigkeit nicht bewusst zu sein.
In diesen Fällen, die Deutsch eingehend beschreibt, handelt es sich auch um
das, was in der psychoanalytischen Literatur zu Verwahrlosung als „Deper-
sonalisation“ beschrieben worden ist. Es sind Personen, bei denen alles in
Ordnung zu sein scheint. Aber irgendwie wirken sie unecht. Was sie tun,
ist ohne jede Originalität. Ihre Beziehungen sind in der Regel intensiv und
haben die Merkmale von Freundschaft, Liebe, Sympathie und Verständ-
nis. Es fehlt ihnen aber jede Wärme, sie sind nur förmlich und ohne jedes
15
Man könnte fast von einer „Vielgestaltigkeit“ des Hochstaplerphänomens sprechen.
16
Deutsch, 1942. Dazu Ross, 1967
17
Ross, 1967, S. 74

98
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen

inneres Erleben. Diese Personen handeln, als hätten sie ein volles Gefühls-
leben. Der Mangel an echten Gefühlen ist bei ihnen nicht die Folge von
Unterdrückung, Verdrängung etc. sondern ein realer Verlust von Objekt-
besetzungsfähigkeit. Die scheinbar normale Beziehung zur Welt entspricht
dem Nachahmen des Kindes und ist der Ausdruck einer Identizierung mit
der Umgebung, eine Mimikry, die auf eine offensichtlich gute Anpassung
an die reale Welt hinausläuft, trotz des Mangels an Objektbesetzung. Sie
identizieren sich leicht mit dem Denken und Fühlen der anderen Perso-
nen. Das befähigt sie zu größter Treue und zu perdestem Handeln. Jedes
Objekt kann als Brücke für Identizierung dienen. Sie sind innerlich leer,
ohne Individualität, ohne Charakter und feste eigene Moral und Überzeu-
gungen. Sie schließen sich leicht sozialen, ethischen und religiösen Grup-
pen an, um ihrer inneren Leere Inhalt und Realität zu geben und die Gül-
tigkeit ihrer Existenz durch Identizierung zu behaupten. Überenthusiasti-
schem Anschließen an eine Philosophie können ein völliger Umschwung
und ein Anschließen an eine ganz entgegengesetzte Orientierung folgen.
Ohne jede Spur innerer Transformation, einfach als Resultat einer zufälli-
gen Veränderung der Bezugsgruppe. Ihre aggressiven Tendenzen sind fast
völlig verborgen hinter einer Maske von Passivität und dem Anschein von
milder Freundlichkeit etc., die aber leicht in Bösartigkeit umschlagen kann.
Auch beim „als ob“ Typus ist, wie beim Hochstapler, der Identi-
zierungsprozess über das Stadium des Nachahmens kaum hinausgekom-
men, das eher ein Vorläufer der Identizierung als Identizierung ist. Diese
„Identizierung“ ist, wie beim Verwahrlosten, mangels eines konstanten
affektiv besetzten Objekts nie gefestigt worden. Von daher erfolgte auch
keine Internalisierung. Die Objekte wurden entwertet wegen Mängeln oder
wegen traumatischer Erfahrungen. Dementsprechend ndet sich auch nur
ein mangelhaft ausgebildetes Über-Ich. Zu Delinquenz scheint es bei die-
sem Typus aber wegen seiner hohen Beeinussbarkeit vorwiegend als Fol-
ge von Verführung durch andere Personen zu kommen. Er kann in kurz-
er Zeit ganz unterschiedliche moralische Positionen beziehen, Ideale und
Überzeugungen und Bezugsgruppen wechseln. Er ist sehr suggestibel.
Die Entwicklungsgeschichte des „als ob Typus“, wie Ross sie resü-
miert, ähnelt insgesamt stark der des Hochstaplers. Ein Unterschied zwi-
schen beiden Typen scheint zu sein, dass der Hochstapler weniger zu viel-

99
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

fachen Identizierungen neigt, sondern sich vorwiegend mit Objekten iden-


tiziert, die seinem Ich-Ideal entsprechen. Deutsch ist der Auffassung, dass
wenn das Ich eines Individuums auf Vorläufer des Ich-Ideals xiert ist, der
„als ob Typus“ zustande kommt. Beim Hochstapler dagegen „ist das Ich-
Ideal fragmentiert, je mehr das reale Ich unterdrückt wird (vermutlich weil
es schlecht gemacht wird.)“.18 Von den typischen Kriterien für Verwahr-
losung, fehlen die starken Selbstwertgefühlsschwankungen und die Domi-
nanz von primärprozesshaften Reaktionen.
„Als ob“ Verhalten ndet sich, wie Anna Freud feststellte, oft auch bei
Adoleszenten.19 Deutsch meint sogar, die Welt sei von „als ob“ Persönlich-
keiten übervölkert und mehr noch von Hochstaplern und Gernegroßen (pre-
tenders). Seit sie sich für den Hochstapler interessiert, verfolge sie dieser
überallhin. Sie nde ihn unter ihren Freunden und Bekannten und ebenso
auch in sich selbst.20 Der Grundkonikt des pathologischen Hochstaplers
zwischen seinem pathologisch übertriebenen Ich-Ideal und dem anderen
entwerteten, schuldbeladenen Teil seines Ich, bei dem er so tut, als sei sein
Ich-Ideal identisch mit ihm überhaupt und als müssten alle anderen das an-
erkennen, ndet sich oft in abgemilderter Form auch bei der normalen Per-
sönlichkeit. Vielleicht, so mutmaßt Deutsch, erreichen nur Heilige, Genies
oder Psychotiker die Identität zwischen dem Ich-Ideal und dem Selbst. In
diesem Sinne meint auch Ross in seiner Aufzählung von „als ob“ Varianten,
es sei wohl besser, die „als ob“ Person nicht zu deutlich als ein Syndrom
abzugrenzen. Es sei auch schon gefragt worden, ob „als ob“ nicht eher eine
Bezeichnung für einen Zustand als für einen Typus sei. Ross selbst ist der
Meinung, dass es den Typus gibt. Vielleicht könne man, meint er, z.B. in
Bezug auf Politiker, auch von Sublimierung des „als ob“ Zustandes spre-
chen.
Ross nennt einen weiteren Typus, der einige Merkmale des „als ob Ty-
pus“ aufweist. Es handelt sich um den Typus, den Ralph Greenson in dem
Aufsatz „Über Deckabwehr, Deckhunger und Deckidentität“ beschreibt. Es
handelt sich um Patienten, die eine Identität besaßen, „die sie zu bewahren
und zu verkünden wünschten, und eine andere Identität, die sie zu verleug-
18
Ross, 1967, S. 80
19
Freud, A., 1936 (o.J., S. 131)
20
Deutsch, 1955, S. 503

100
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen

nen suchten.“21 Wie „als ob“ Persönlichkeiten suchen Personen dieses Ty-
pus unaufhörlich die Gesellschaft anderer, in der Hoffnung ein bedürfnis-
befriedigendes Objekte zu treffen. Es sind Personen, die „im Wesentlichen
hinsichtlich der Realität gewöhnlich gut orientiert sind, eine gute Intelli-
genz besitzen, sehr leistungsfähig und gesellschaftlich erfolgreich sind.“
Sie werden aber von einem „unersättlichen Hunger nach neuen Erlebnis-
sen und neuen Objekten angetrieben.“(a.a.O. S. 76) Sie können nicht allein
oder unbeschäftigt sein. „Die neuen Objekte und Erlebnisse bieten nicht nur
Trieb- und narzisstische – Befriedigungen in der Gegenwart, sie verleugnen
auch Elend und Unsicherheit. Sie beseitigen aber nicht die alte Depression
und Angst, sondern dienen als Deckformation. Diese Patienten versuchen
nicht, die Übel der Vergangenheit zu bewältigen, sie versuchen die Vergan-
genheit zu verleugnen. Deckmanöver und Deckhunger drücken ihrer Per-
sönlichkeit einen entschiedenen Stempel auf. Das Zwingende, Drängende
und Wiederholende ihres Verhaltens ist darauf zurückzuführen, dass die
Deckaktivität gleichzeitig libidinöse, narzisstische und Abwehrbedürfnisse
zu befriedigen sucht.“(daselbst.) Ungeachtet einiger Züge von Verwahrlo-
sung, wie vor allem einem mangelhaft funktionierenden Über-Ich, ist dieser
Typ deutlicher als der „als ob Typ“ vom Typ Verwahrloster unterschieden.
Er ähnelt eher einer Mischform von Verwahrlosung mit ödipalen Anteilen.
In den von Ross ebenfalls erwähnten Arbeiten von Annie Reich wird
die Frage aufgegriffen, ob der Geschlechterunterschied beim Entstehen des
„als ob Typus“ von Bedeutung ist.22 Reich hat dazu Frauen untersucht, die
ihren Partnern völlig untertan, geradezu hörig waren und solchen, die sich
zu „als ob“ – Persönlichkeiten entwickelten. Bei beiden Varianten scheint
die mit der Entdeckung des Geschlechterunterschiedes verbundene spe-
zisch weibliche Kränkung zu einer regressiven Wiederbelebung primiti-
ver narzisstischer Ich-Ideale geführt zu haben. Größere Störungen des Ich-
Ideals gehen jedoch häug Hand in Hand mit einem unzulänglich entwi-
ckelten Über-Ich, die zur Abhängigkeit von den Meinungen der Umwelt
oder spezischen dritten Personen führt. Reich sieht im Ich-Ideal die ältere
Struktur, sozusagen einen Vorläufer des Über-Ichs. Das Weiterbestehen des

21
Greenson, 1958 (1993, S. 88)
22
Reich, A., 1953 und Reich, A., 1954

101
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

megalomanischen Ich-Ideals früherer Zeit, wird ihrer Ansicht nach nicht


von einem traumatischen Ereignis verursacht, sondern von der Schwäche
des Ichs, mangelnder Reife des Über-Ichs und frühen Objektbeziehungs-
störungen. Wegen der Fragilität der Objektbeziehungen, wie sie bei den
von ihr untersuchten Fällen offensichtlich war, rechnet sie die „als ob“ Va-
rianten den Borderlinezuständen zu.23
Ross erwähnt schließlich auch noch eine Arbeit von Maurits Katan, der,
wie auch Annie Reich, betont, man müsse zwischen echten „als ob“- Zu-
ständen und vorübergehenden „pseudo-als ob“- Zuständen, wie z.B. in der
Adoleszenz oder in präpsychotischen Zuständen, unterscheiden. Bei erste-
ren seien die Identizierungen primärer Art mit dem Verlust des Objekts,
der Mutter, ebenfalls verloren gegangen. Bei letzteren handele es sich um
genuine Ich-Identizierungen mit realen Objekten. Die Mutter ist in diesen
Fällen nicht verloren gegangen. Sie hat vielmehr das Kind in oraler Ab-
hängigkeit gehalten. Dementsprechend ist das Ich geschwächt. Und unter
dem Einuss neurotischer Bedingungen funktioniert es nicht selbständig.
Es fällt in den Zustand der Abhängigkeit von der Mutter oder ihrer Re-
präsentanten zurück. Diese Abhängigkeit führt zu meist sekundären Identi-
zierungen. Katan lokalisiert „pseudo-als-ob“- Zustände in einem hysteri-
schen Kontext. Er vertritt außerdem auch die Auffassung, es gebe „als ob““-
Persönlichkeiten fast nur unter Frauen, weil bei ihnen das Fehlen eines Pe-
nis mit dem Fehlen eines konstanten mütterlichen Objekts zusammenfalle.
Diese beiden Faktoren und der plötzliche Entzug der Mutterbrust sind Ka-
tan zufolge die drei Faktoren des Entstehens von als ob Persönlichkeiten.24
Eine etwas spezielle Variante psychischer Störung, die in dem hier dis-
kutierten Zusammenhang erwähnenswert ist, ist die „ktive Persönlich-
keit“, die Jay Martin beschreibt. Dabei handelt es sich um einen Persönlich-
keitstypus, dessen Selbst bei relativer Abwesenheit oder Schwäche sowohl
von normalem Narzissmus als auch von Objektliebe, eine totale Identizie-
rung mit Charakteren der Literatur, der Geschichte oder der massenmedia-
len Fiktionen herzustellen versucht. Diese Charaktere füllen vorübergehend
ihr leeres Selbst mit fertigen Selbstvorstellungen. Sie stellen an der Ober-
23
Reich, A., 1953, S. 31 und S. 43
24
Katan, M., 1958, S. 265. Wohingegen Hochstapelei wesentlich Männersache ist
Greenacre, 1958b

102
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen

äche die Illusion eines realen Seins her, das aber nur allzu oft darunter den
reaktiven Ärger widerspiegelt, der aus der frühen Frustration entsteht, die
das Selbst ursprünglich hilos und leer gemacht hat, das auf die Suche nach
Eltern und dann nach Autoren geht.25
Bald nach Aichhorns „Verwahrloste Jugend“ ist auch „Der triebhafte
Charakter“ von Wilhelm Reich erschienen.26 Reich kannte Aichhorns Ar-
beit, vermied es jedoch, sich damit auseinanderzusetzen. Erst am Ende sei-
ner Arbeit kommt er etwas ironisch ablehnend darauf zu sprechen: „Die von
Aichhorn mitgeteilten erzieherischen Erfolge an Dissozialen sind zwar au-
ßerordentliche, doch sind seine Dissozialen erstens mit unseren triebhaften
Charakteren nicht völlig identisch, wenn sie auch reichlich Ähnlichkeiten
aufweisen. Zweitens kann sich kein Arzt und nicht so bald eine Anstalt
die Zertrümmerung von Mobiliaren zum Zwecke des Abreagierens leis-
ten. Drittens wird jeder, der mit solchen Kranken zu tun gehabt hat, zuge-
ben, dass sie sich gerade durch die Unfähigkeit auszeichnen, Persuasionen,
schon gar nicht auf die Dauer, zu akzeptieren (Trotz!!). Wir bleiben also
dabei, dass erzieherisches Eingreifen immer notwendig ist, um die folgen-
de Analyse überhaupt zu ermöglichen. Die Frage, wie dem nachteiligen
Durchbrechen der Impulse vorgebeugt werden könnte, müssen wir offen
lassen.“ Mit dieser üchtigen, auf praktische Aspekte der Arbeit von Aich-
horn bezogenen Abgrenzung wird Reich Aichhorn sicher nicht gerecht. Ei-
ne nähere ernsthafte Beschäftigung des exzellenten Klinikers, der Reich da-
mals war, mit den theoretischen und praktischen Erkenntnissen Aichhorns,
wäre der Mühe wert gewesen.
Der „triebhafte Charakter“ von Reich steht in Bezug auf gewisse spezi-
sche psychische Mechanismen zwischen Symptomneurose und Psychose.
Die meisten der triebhaften Charaktere zeigen, neben der meist nicht als
krankhaft empfundenen Triebhaftigkeit, Symptome vieler Art, wie Phobi-
en, Zwangshandlungen und –zeremonielle, Zwangsgrübeleien. Besonders
bei weiblichen Charakterneurosen kommen alle bekannten Formen des
Konversionssymptoms vor. Unverhüllte Perversionen sind fast die Regel,
ebenso eine akute und scharfe Ambivalenz. Reich meint, man könne beim

25
Martin, 1984
26
Reich, W., 1925

103
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

triebhaften Charakter nicht von fehlenden Ich-Idealen sprechen. Vielmehr


sei ein triebverneinendes Ich-Ideal aufgerichtet worden, gleichzeitig aber
auch ein triebbejahendes Über-Ich. Letzteren Tatbestand erklärt Reich mit
einem „dispositionellen Faktor“, einer regelmäßig zu konstatierenden über-
mäßig starken Betonung sämtlicher erogener Zonen. Auf Grund der krassen
Ambivalenz als Folge der gegensätzlich eingestellten Instanzen Ich-Ideal
und Über-Ich wird ein Verbot zwar als wirksame Instanz aufgenommen
werden, aber gleichzeitig isoliert stehen bleiben. Darin besteht die oben be-
reits erwähnte „Isolierung“ des Über-Ichs. Das isolierte Über-Ich wirkt sich
wie ein verdrängter Trieb aus und schafft jenes Strafbedürfnis, das meist
in unverhüllt masochistischer Form Befriedigung sucht. Während fast al-
le hier berücksichtigten Autoren, die sich mit Verwahrlosung beschäftigt
haben, in einem frühen affektiven Verlassenwerden des Kindes die zentra-
le Ursache der Entwicklungsstörung sehen, leitet Reich die Isolierung des
Über-Ich und die damit verbundene psychische Störung von „der Ambiva-
lenz des Kindes dem Objekt gegenüber ab, welches später das Über-Ich ab-
geben soll.“27 Tatsächlich gibt es auch Ähnlichkeiten in den Erscheinungs-
bildern von Verwahrlosten und triebhaften Charakteren. Dementsprechend
stößt auch Reich bei seiner psychoanalytischen Arbeit auf Schwierigkeiten,
wie sie bei Verwahrlosten eine erste Phase der Behandlung nötig machen.
Dazu sah sich auch Reich gezwungen. Er war jedoch der Meinung, man
dürfe diese Phase „nicht verselbständigen und etwa unter der Bezeichnung
„Psychagogik“ der Analyse gegenüberstellen.“28
Angesichts der narzisstischen Dimension der Problematik der Verwahr-
losung liegt es auf der Hand, dass auch Typen, wie der „Narzisst“ und der
„Neue Sozialisationstyp“, die aus der psychoanalytischen Literatur zum
Narzissmus herausdestilliert wurden, in mehrfacher Hinsicht Ähnlichkei-
ten mit dem Typus des Verwahrlosten aufweisen.29 Das gilt z.B. für die
Unfähigkeit Triebaufschub und Unlust zu ertragen, für die schwankenden
Selbstwertgefühle, für die narzisstische Qualität der Objektbeziehungen
und dementsprechend ihre Instabilität, für unrealistische Größenvorstellun-
27
Reich, W., 1925, S. 50
28
Reich, W., 1925, S. 62
29
Siehe dazu Ziehe, 1975, Häsing; Stubenrauch; Ziehe, 1979, Psychoanalytisches Semi-
nar, 1983 (1981)

104
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen

gen u.a. Es würde zu weit führen, die vorhandene Literatur zum Thema
in einem Überblick vorzustellen. Im Vergleich dazu, wie in den Arbeiten
von Christopher Lasch und Richard Sennett der narzisstische Charakter
und von Thomas Ziehe der „Neue Sozialisationstypus“ als moderne Sozial-
charaktere dargestellt werden, stellt der Verwahrloste in mancher Hinsicht
eine Steigerung dar. Bei ihm lässt sich das Entstehen aber weniger damit
erklären, dass die Mutter in der modernen Familie das Kind zur eigenen
emotionalen Stabilisierung benutzt und die Beziehung des Kindes bestehen
bleibt, wenn auch als narzisstische30 , sondern er hat die Erfahrung gemacht,
affektiv verlassen zu werden. Oder er hat durch eine völlige affektive Ver-
einnahmung einen irreparablen Realitätsentzug erlitten.
Beim Neuen Sozialisationstypus kommt es, im Gegensatz zum Ver-
wahrlosten, noch in erheblichem Maße zu Identizierungen. Derart nar-
zisstisch Gestörte haben auch ein hartes und strafendes Über-Ich. In der
permissiven Gesellschaft, in der in weiten Kreisen der Bevölkerung die prä-
genitalen, besonders die oralen und die aggressiven Triebe bei Kindern und
Jugendlichen in sehr geringem Maße kontrolliert werden, werden die Ju-
gendlichen in vielen Fällen und in vielfacher Hinsicht von den Eltern sich
selbst überlassen. „Die hemmende, kontrollierende und leitende Funktion
des Über-Ichs, die heute weitgehend mit der des Ichs zusammenfällt, ist
durch die Schwäche der Eltern, die nachgiebige Erziehung und das gesell-
schaftliche Klima abgeschwächt. Die sexuellen und aggressiven Triebe hal-
ten sich immer weniger an Regeln. Aber wir haben immer noch das strenge-
re Über-Ich aus der frühen Kindheit, das in der Tiefe des Individuums fort-
lebt.“31 Unklar bleibt, an welchen Werten sich ein solches Über-Ich bevor-
zugt orientiert. Lasch argumentiert im selben Sinne, dass die Gesellschaft
Unterordnung unter die Regeln gesellschaftlichen Umgangs verlangt, die-
se jedoch nicht verbindlich deniert. Angesichts fehlender, maßgebender
gesellschaftlicher Verbote leitet das Über-Ich einen Großteil seiner psy-

30
Ziehe, 1975, S. 116. Es sei denn, das Kind würde dabei verwöhnt und überbehütet, was
auch Verwahrlosung verursachen kann.
31
Loewenfeld; Loewenfeld, 1970, S. 711. Dazu auch Ziehe, 1975. Diese Argumentation
übernimmt auch Lasch, 1979a, S. 305 f. Gabriel dagegen moniert, dass Lasch für die
Existenz eines strengen Über-Ichs keine Belege angeben könne Gabriel, 1983, S. 254
ff.

105
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung

chischen Energie aus den destruktiven aggressiven Impulsen im Es her. In


einem solchen Über-Ich überwiegen archaische, strafende und sadistische
Elemente des rudimentären Ichs aus früher Kindheit.32 Diese Mechanismen
spielen zum Teil auch bei der Genese von Verwahrlosung eine Rolle.

32
Lasch, 1979 (1986, S. 28 und S. 56)

106
Die Einordnung der Verwahrlosung in die
psychoanalytische Krankheitslehre durch Spanudis
Verwahrlosung und sekundäre Neurose

Wenn man alle genannten Varianten von Verwahrlosung berücksichtigt, wie


sie von den verschiedenen Psychoanalytikern als Verwahrlosung bezeich-
net werden, ist der Verwahrlosungsbegriff zu weit gefasst als dass er sozi-
alpsychologisch brauchbar wäre. Vor allem ist er nosologisch unbestimmt.
Anmerkungen zu dieser Frage sind selten. So konstatierte Anna Freud bei
ihrer oben referierten Beschreibung von Verwahrlosungserscheinungen, die
andere Grundlagen haben, als die „gewöhnliche Verwahrlosung“ im Sinne
Aichhorns, dass sie auf normalen Gefühlskonikten des Kindes beruhen
und insofern den Neurosen näher stehen als die „gewöhnliche Verwahrlo-
sung“. Andererseits lassen sie sich aber auch nicht den Neurosen zuord-
nen. Eine genauere Einordnung der verschiedenen Varianten von Verwahr-
losung in die psychoanalytische Krankheitslehre nahm sie nicht vor. Dar-
auf geht sie 16 Jahre später kurz ein. Sie verweist darauf, dass es eigent-
lich unangemessen ist, dass „Bezeichnungen wie asozial, verwahrlost, ge-
meinschaftsunfähig oder zumindest „latent verwahrlost“ (Aichhorn, 1925)“
schon auf „Zwischenstufen“ der kindlichen Entwicklung angewendet wer-
den und nicht nur auf eine „spätere Dissozialität“ an ihrem Ende. Werde
dies berücksichtigt, mache „eine solche Aufspaltung der sozialen Anpas-
sung in ihre entwicklungsgeschichtlichen Elemente (. . . ) auch dem Irrtum
ein Ende, dass Dissozialität oder Kriminalität als nosologische Begriffe ein-
heitliche Zustände sind, die sich auf spezielle innere Ursachen zurückfüh-
ren lassen, wie geistige und moralische Minderwertigkeit, oder auf spezi-
elle Umwelteinüsse, wie Trennungen vom Elternhaus, Vernachlässigung
von Seiten der Eltern, elterliche Streitigkeiten, Zusammenbruch der Fami-
lie etc. Je weniger wir von speziellen Ursachen der Dissozialität sprechen,
desto selbstverständlicher wird es uns werden, die soziale Anpassung als
das Endergebnis von Triebschicksalen anzusehen, d.h. der Umformung von

107
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

Strebungen zuzuschreiben, die in jedem Kind normalerweise vorhanden


sind.“1
In einer Hinsicht hat Anna Freud Aichhorns „gewöhnliche Verwahrlo-
sung“ jedoch, zu Zeiten als sie in engem Kontakt mit Aichhorn stand, klar
charakterisiert. 1924 kritisierte sie die Berliner Psychoanalytiker, die unter
dem Einuss von Melanie Klein Dissozialität als eine Art Neurose auffass-
ten.2 Im Gegensatz dazu war die Gruppe der psychoanalytischen Pädago-
gen um Aichhorn der Meinung, dass sie „ihrer ganzen Struktur nach etwas
völlig anderes ist.“ „Wir meinen, dass die Dissozialität mit der Neurose
an und für sich gar nichts zu tun hat, obwohl natürlich beides zusammen
auch vorkommt. Aber die Dissozialität, meinen wir, ist der Erfolg einer
Störung in der Ich-Entwicklung, wie die Neurose der einer Störung in der
Sexualentwicklung. Diese Störung der Ich-Entwicklung müsste aber mit
dem Schicksal der frühesten Objektbindungen zusammenhängen, aus deren
Niederschlag die ersten Bildungen des Charakters und Ichideals entstehen;
also mit dem Ausgang des Ödipuskomplexes. (. . . .) Eine andere Möglich-
keit, zu gleichen Störungen der Ichentwicklung zu kommen, meinen wir
(besonders Aichhorn kennt viel solches Material), ist das Missglücken der
ersten Objektbeziehungen aus äußeren Gründen, bei Waisen und Findelkin-
dern also, die nicht dazu geeignete Personen nden.“
Auch wenn Aichhorn „reine Verwahrlosung“ als einen Grenzfall ansah,
der in Wirklichkeit kaum vorkommt, so war doch sein Verwahrlosungsbe-
griff präzise genug, um nosologisch brauchbar zu sein.3 Diesen Nachweis
hat Theon Spanudis erbracht.4 Spanudis war Analysand und einige Jah-
re Mitarbeiter von Aichhorn, bevor er im Jahre 1950 nach Brasilien aus-
wanderte. Im Jahre 1954 hat er in São Paulo, wo er sich niedergelassen
hat, sechs Vorträge unter dem Titel „Delinquência e Psicanálise“ gehalten.
Ausgehend von den Arbeiten von Aichhorn, Abraham, K.R. Eissler, Fried-
1
Freud, A., 1965 (1987, S. 2281 f).
2
Zitat aus Anna Freuds Briefwechsel mit Lou Andreas Salomé. Zitiert in Aichhorn, T.,
2006, S. 69. Dort auch die folgenden Zitate.
3
Aichhorn, August, 1959 (1972, S. 174). Dort auch zum Folgenden.
4
Er geht dabei in keiner Weise über Aichhorn hinaus und ergänzt ihn auch nicht durch
irgendwelche zusätzlichen Annahmen oder Unterstellungen. Die folgende Darstellung
seiner Auffassung enthält deswegen einige Wiederholungen. Zur Biographie von Spa-
nudis siehe Füchtner, 2006b

108
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

lander, Schmideberg und einigen anderen, sowie auf der Grundlage seiner
Erfahrungen aus acht Analysen von „sekundären Neurosen“ erwachsener
latent Verwahrloster, gibt Spanudis in diesen Vorträgen eine zusammenfas-
sende Darstellung der Psychogenese von Verwahrlosung im engeren Sinne.
Also der „primären Verwahrlosung“, bei der die anderen psychopathologi-
schen Prozesse von Neurose, Perversion und Psychose allenfalls eine nur
untergeordnete Rolle spielen. Auf dieser Grundlage leistet er eine systema-
tische Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheits-
lehre. Ich stelle zunächst ihren Ausgangspunkt dar, erläutere dann Einzel-
heiten, und schließlich die Einordnung selbst.
Im Anschluss an Aichhorn unterscheidet Spanudis zunächst zwischen
latenter Verwahrlosung, die er auch „potentielle Verwahrlosung“ nennt,
und manifester Verwahrlosung. Latente Verwahrlosung ist an sich im en-
geren Sinne keine Krankheit, sondern bezeichnet eher einen bestimmten
psychologischen Typus. Den latent Verwahrlosten charakterisiert Spanudis
als einen besonders egoistischen, anspruchsvollen, fordernden und primiti-
ven Menschen. Die Objektbeziehungen des latent Verwahrlosten sind pri-
mitiv, extrem egoistisch, anspruchsvoll und kindlich wie bei einem zweijäh-
rigen Kind gegenüber seiner Mutter.(a.a.O. S. 38) Sein Infantilismus äußert
sich in „Unvorsichtigkeit, Verantwortungslosigkeit, Misstrauen gegenüber
anderen Personen, exzessivem Egozentrismus, gesteigertem Egoismus, so-
fortigem Reagieren, vor allem aggressiv, auf Frustrationen aller Art, Un-
fähigkeit Frustrationen auszuhalten“.(a.a.O. S. 23) Seinen Objektbeziehun-
gen fehlt die wichtigste Eigenschaft, die Anerkennung des Objekts. Unter
günstigen äußeren Umständen kann er aber ein normales Leben leben. Po-
tentiell nennt Spanudis die latente Verwahrlosung, weil aus ihr manifeste
Verwahrlosung werden kann. Das Umgekehrte ist, wie der von Abraham
beschriebene Fall zeigt, unter günstigen äußeren Umständen auch ohne
Therapie möglich. Eine solche Verwandlung eines manifest Verwahrlos-
ten in einen potentiellen Verwahrlosten mit neuroseähnlichen Symptomen,
Spanudis spricht von „sekundärer Neurose“, kann spontan erfolgen, wenn
das ersehnte mächtige Objekt sich seiner angenommen hat, für ihn Partei
ergriffen hat. Der Verwahrloste will ihm dann nicht missfallen, will es nicht
enttäuschen.
Wenn die latente Verwahrlosung nicht zu manifester Verwahrlosung

109
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

wird, sondern spontan, auch ohne therapeutische Beeinussung, zu einer


„sekundären Neurose“, leidet der latent Verwahrloste an Symptomen, die
leicht mit Symptomen einer Neurose im herkömmlichen Sinn, also einer
„primären Neurose“, verwechselt werden können. Dies geschieht umso
leichter, als reine Verwahrlosung ohnehin selten ist. Die „sekundäre Neuro-
se“ unterscheidet sich aber mit ihrer vorwiegend präödipalen Problematik
in mehrfacher Hinsicht von einer „primären Neurose“.
Eine „sekundäre Neurose“ kann noch auf eine andere Weise zustande
kommen. Wenn ein manifest Verwahrloster therapeutisch behandelt wird,
dient die bereits beschriebene erste Phase der Behandlung der Beseiti-
gung seiner Verwahrlosungssymptome. Wenn dies gelingt, bedeutet das
noch keine Heilung des Verwahrlosten. Vielmehr wird dem Verwahrlos-
ten selbst, auf Grund der hergestellten positiven affektiven (narzisstischen
Übertragungs-) Beziehung zum Therapeuten, sein Verhalten unangenehm.
Damit ist er zum „sekundären Neurotiker“ geworden. Die psychoanalyti-
sche Behandlung, die er dann in der zweiten Phase bekommen muss, ist
psychoanalytisch im Sinne einer klassischen psychoanalytischen Behand-
lung, unterscheidet sich aber in der Behandlungstechnik in mehrfacher Wei-
se von der Behandlung primärer Neurotiker.(a.a.O.S. 76 ff.) Geheilt ist der
Verwahrloste jedenfalls nicht, wenn er nicht mehr manifest verwahrlost ist,
sondern erst wenn seine primitiven affektiven Bedürfnisse angemessen be-
arbeitet worden sind.
Bei seiner Erklärung der Vorgänge, die dazu führen, dass ein latent Ver-
wahrloster zum manifest Verwahrlosten oder zum „sekundären Neurotiker“
wird, was eine „primäre Neurose“ von einer „sekundären Neurose“ unter-
scheidet und was bei deren Behandlung zu beachten ist, hält sich Spanu-
dis ganz an Aichhorn und die anderen von ihm genannten Autoren. Auch
für Spanudis ist der Verwahrloste psychisch der späten oralen bzw. analen
Phase narzisstisch verhaftet. Er hat im ca. zweiten bis dritten Lebensjahr
affektive Entbehrungen erlitten, die seine weitere psychische Entwicklung
beschädigt haben. Sei es dass er in seiner Entwicklung stehen geblieben ist
oder dass er in späteren Phasen seiner Entwicklung wieder auf die früheren
regrediert ist. Die traumatisierenden Erlebnisse müssen zu einem Zeitpunkt
stattgefunden haben, zu dem das Kind im Gegensatz zum künftigen Psy-

110
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

chotiker bereits eine dauerhafte Realitätswahrnehmung erworben hat.5 Das


Kind muss die narzisstische Organisation seines Ich im Wesentlichen schon
abgeschlossen haben, d.h. es muss schon das existentielle Minimum an Un-
abhängigkeit von seiner Mutter am Anfang des Lebens erreicht haben. Das
Kind muss sich schon im Raum bewegen können, sich allein ernähren kön-
nen, sprechen und kommunizieren und, was am wichtigsten ist, den Sinn
entwickelt haben, dass es selbst jemand ist, d.h. ein von den anderen unter-
schiedener Mensch.6
Danach kommt die Phase der Eroberung der Welt der Erwachsenen im
materiellen und affektiv-psychologischen Sinn. Es ist die Phase der pro-
gressiven Identizierungen, bis das Kind dann während und nach der ödipa-
len Phase sozusagen ein kleiner Erwachsener wird. Am Anfang dieser Pha-
se der Welteroberung überbewertet das Kind in seiner affektiven Phantasie
die Eigenschaften und die Macht der Erwachsenen. Zu diesem Zeitpunkt
erlebt der künftige Verwahrloste den Schlag des affektiven Verlassenwer-
dens. Die Gründe können verschiedener Art sein. Es können Eigenschaften
der Eltern sein, wie sie schon oben beschrieben worden sind. Es kann der
Tod eines Elternteils oder beider sein. Ebenso unzulängliche Ersatzeltern,
auch die Geburt eines Geschwisterkindes, die in diesem Alter immer ein
Trauma darstellt.7 Dafür dass das Kind sich verlassen fühlt, genügt schon,
dass die Eltern sich nicht für das Kind interessieren und das Kind affektiv
frustrieren, das ihr Interesse gewinnen will, das so wichtig ist für seinen
Fortschritt bei der Eroberung der Welt der Erwachsenen. Auch eine Mutter,
die den Vater ausschaltet, uneinige Eltern u.a. können, wie schon beschrie-
ben, das Verlassenheitsgefühl bewirken.
Entscheidend für die Fehlentwicklung ist auch Spanudis zufolge, dass
dem Kind nicht in ausreichendem Maße ein affektiv erreichbares Objekt zur
Verfügung steht, mit dem es sich identizieren und auseinandersetzen kann.
Bei einer normalen Entwicklung mit einem affektiven Zusammenleben mit
den Eltern kann das Kind seine Phantasien teilweise realisieren und seinen

5
Sonst wäre eine Entwicklung psychotischer Art zu erwarten. Die Schwierigkeiten des
Verwahrlosten mit der Realitätswahrnehmung sind nicht prinzipieller Art.
6
Spanudis spricht, sich auf eine Formulierung von Werner Kemper beziehend, vom Ab-
schluss der „psychischen Geburt“ Spanudis, 1954, S. 69
7
Spanudis, 1954, S. 70

111
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

Wert (ich kann dies und jenes) fühlen und es ist ihm möglich, seine mega-
lomanischen Phantasien als absurd und unnötig aufzugeben. Die affektive
Unerreichbarkeit des Objekts erlaubt eine solche Korrektur nicht. Das Kind
sucht vergeblich weiter nach mächtigen Objekten und psychischer Sicher-
heit. Es reagiert mit Angst, Unsicherheit und Enttäuschung. Indem es sich
verlassen oder zurückgesetzt erlebt, entwickelt es Aggressionen und patho-
logische Abwehrmechanismen. Es kommt zu einer vorzeitigen Unabhän-
gigkeit und dem Abzug der Liebe von den Objekten. Verunsicherung, un-
realistische Selbstwahrnehmung, und mangelnde Identizierungsmöglich-
keiten schwächen das Ich des Kindes und verhindern, wie bereits beschrie-
ben, in der weiteren Entwicklung die Ausbildung eines stabilen Über-Ichs.
Das Kind bleibt infantil und erwirbt keinen festen Charakter. Der Primär-
prozess dominiert. Von daher lebt der Verwahrloste ganz im Augenblick,
ohne Zukunftsüberlegungen, ohne Aufschub von Befriedigungen. Manch-
mal kommt es zu Pseudoidentizierungen und einem Pseudo-Über-Ich. Der
Verwahrloste erliegt jedem Einuss und ist immer bereit jede beliebige Rol-
le zu akzeptieren, soweit die Rolle ihm psychologischen Gewinn bringt. Ei-
ne Rolle, die mit Frustration verbunden ist, wird sofort aufgegeben. Stabile
und belastbare Objektbeziehungen kommen nicht zustande, weil sie zumin-
dest Teilverzichte implizieren, zu denen der Verwahrloste nicht in der Lage
ist. Seine Beziehungen sind immer narzisstischer Art.
Von Verwahrlosung wird, wie schon mehrfach erwähnt, psychoanaly-
tisch selbst da gesprochen, wo diese latent bleibt, wo kein Konikt mit
der Gesellschaft entsteht, wo eventuell sogar aus eigenem Antrieb psycho-
therapeutische Hilfe gesucht wird. Die Kriterien für die psychoanalytische
Diagnose „verwahrlost“ beziehen sich auf die grundlegenden psychischen
Mangelerscheinungen, die immer eine Rolle spielen. Verwahrlosung ist
Spanudis zufolge dann gegeben, wenn folgende fünf Charakteristika vor-
liegen: Mangel an stabilen Identizierungen, narzisstische und somit lose
Objektbeziehungen, Fortbestehen des Primärprozesses, schwaches Über-
Ich und extreme Selbstwertgefühlsschwankungen. Diese fünf Eigenschaf-
ten charakterisieren den „wahren Verwahrlosten, sei er manifest oder po-
tentiell verwahrlost.(a.a.O. S. 28 ff.) Er ist dementsprechend impulsiv und
oft aggressiv, rastlos und psychisch labil. Aber so, wie er nicht unbedingt
zum manifesten Verwahrlosten werden muss, muss er auch nicht unbedingt

112
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

delinquent werden. Äußere Einüsse, „schlechter Umgang“, können dies


jedoch begünstigen.8
Ein wesentlicher Unterschied zwischen Kindern, die eher neurotisch
und solchen die eher verwahrlost werden, ist, dass es bei neurotischen Kin-
dern eher ambivalente, aber starke, von Liebe und Hass bestimmte Bezie-
hungen gab, bei den verwahrlosten aber nur lose oder gar keine Beziehun-
gen. Ob ein Kind verwahrlost und latent verwahrlost bleibt oder ob es ma-
nifest verwahrlost wird, hat wahrscheinlich ähnliche Gründe. Äußere Um-
stände können ebenfalls eine Rolle spielen. Der nur potentiell Verwahrloste
ist noch relativ mehr mit dem Objekt oder den Objekten der Kindheit ver-
bunden, allerdings in infantiler Weise, abhängig, egoistisch, passiv und vor
allem nur in der Phantasie, der manifest Verwahrloste weniger. Das könnte
damit zusammenhängen, dass das affektive Verlassenwerden (durch die El-
tern) in ersteren Fällen relativ und in letzteren Fällen vollständig war. Die
Abwehrmaßnahmen des latent Verwahrlosten gegen das Manifestwerden
der Verwahrlosung haben aber noch nichts mit einem echten Über-Ich zu
tun, allenfalls mit einer partiellen Vorform.9 Wenn der Verwahrloste keine
Angst vor Strafe oder vor Liebesverlust hat und sich verlassen und uner-
wünscht vorkommt, kommt es, eventuell auch auf Grund von Gruppenbe-
ziehungen, leicht zum Übergang zur manifesten Verwahrlosung.
Der Verwahrloste mit seinem schwachen, instabilen, von Selbst-
wertzweifeln geplagten Ich fühlt sich permanent gekränkt, unverstanden
und misshandelt. Durch megalomanische Selbstüberheblichkeit versucht er
die erlittene Entwertung durch eine Überaufwertung zu beseitigen, zu neu-
tralisieren. Er kann dadurch in ganz verschiedenen Bereichen seines Alltags
beeindrucken, in seiner Arbeit, seinem Beruf, in seinen sozialen Beziehun-
gen, in Religion, Wissenschaft und in seinen Überzeugungen. Zugleich ver-
sucht er auf diese Weise die aggressiv rachsüchtigen Bedürfnisse gegen das
frustrierende Objekt zu befriedigen. Indem er diesem seine „Allmacht“ de-
monstriert, verleugnet er sozusagen seine Abhängigkeit, macht das Objekt

8
vergl Trescher, 1982, S. 350. Zu letzterem Gesichtspunkt siehe auch Friedlander, 1947,
S. 107. Er ist in weiterem Sinne sicher auch von Bedeutung hinsichtlich des Umgangs
mit den Medien und den unzähligen Verbrechen, Morden und Gewalttaten mit denen
sie tagtäglich konfrontieren.
9
Spanudis hält wenig von der Annahme der Kleinianer eines sehr frühen Über-Ichs.

113
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

überüssig und vernichtet es in seinem Wert und seiner Bedeutung. Dieser


Mechanismus bedeutet aber noch etwas Anderes, Tiefgründigeres, Primiti-
veres. Das Ich des Individuums spaltet sich in zwei Teile. Einer ist weiter-
hin das kleine schwache Kind ohne Hilfe, das das erwachsene und mächtige
Objekt braucht und der andere ist dieser Erwachsene, dessen Verlust auch
ersetzt werden soll. Letzteres ist aber nicht mehr als eine nur phantasierte
defensive Pseudo-Identikation an die der Patient selbst nie ganz glaubt.
Dazu hat er, im Gegensatz zum Psychotiker, in seiner Kindheit schon ge-
nügend Realitätsbezug erworben.10
Das Ich des „sekundären Neurotikers“, ist also ein Ich ohne stabile Ob-
jektbeziehungen und ohne tiefere affektive Bindungen. Es bemüht sich gar
nicht um solche, um das Leiden an wiederholten Enttäuschungen zu ver-
meiden. Der für potentiell Verwahrloste typischste Abwehrmechanismus
ist der affektive Rückzug von unangenehmen Ereignissen, die affektive
Trennung oder die Flucht in den Narzissmus. Daraus resultiert die inne-
re affektive Kälte, das affektive Desinteresse an Personen und Dingen, die
Rücksichtslosigkeit gegenüber den Objekten. Dieser affektive Rückzug ist
aber eine andere Abwehr als die Verdrängung beim Hysteriker. Bei diesem
werden die schmerzhaften Sachverhalte und verpönten Gefühle daran ge-
hindert bewusst zu werden, bleiben aber im Unbewussten wirksam. Der po-
tentiell Verwahrloste unterdrückt nicht aktiv, sondern trennt sich, schneidet
sich affektiv von den Ereignissen ab.(a.a.O. S. 114) Die mit den Tatsachen
verbundenen Gefühle werden verleugnet. Das ist aber auch anders als beim
Zwangsneurotiker, der Ereignis und Affekt trennt und bei dem die Erin-
nerungen ohne Affekte sind und die Affekte ohne Inhalt wirksam werden.
Die affektive Trennung beim Verwahrlosten ähnelt dagegen mehr dem Me-
chanismus der Verleugnung. Es werden aber nicht die Fakten verleugnet,
sondern die entsprechenden Gefühle. Er weiß, dass er verlassen worden ist,
aber dass er darunter gelitten hat, kann er nicht fühlen.11
Dem „potentiell Verwahrlosten“, bzw. dem „sekundären Neurotiker“
mit völlig unzulänglichen Objektbeziehungen, stehen kaum Objekte zur
Abfuhr seiner Affekte, vor allem seiner Aggressionen, zur Verfügung.
10
Spanudis, 1954, S. 63.
11
Spanudis benützt bei der Beschreibung dieser Mechanismen jeweils den Begriff Unter-
drückung (repressão) und nicht Verdrängung (recalque).

114
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

Wenn es nicht möglich ist, den Gegner oder Rivalen anzugreifen oder ab-
zuwerten, richtet er die Affekte gegen sich selbst als einzigem verfügba-
rem Objekt. Auf diese Weise wird er in gewisser Weise bis zu einem ge-
wissen Grad sich selbst genügend (autosuciente).(a.a.O. S. 53 ff.) Jede
instinktiv-affektive Abfuhr, die durch Konikte mit der Realität verursacht
wird oder durch seine Bedürfnisse, erledigt er an sich selbst. Diese defensi-
ve Selbstgenügsamkeit, die es dem Individuum ermöglicht, sich vom affek-
tiven Zusammenleben mit den Objekten fernzuhalten, stellt einen relativen
Gewinn dar. Der Primärprozess kann weiter funktionieren und die affekti-
ve Getrenntheit von den Objekten schützt vor schmerzhaften Wiederholun-
gen von Enttäuschungen und Frustrationen der Kindheit, vor der affektiven
Verlassenheit. Aber diese defensive Selbstgenügsamkeit muss irgendwann
scheitern, weil die affektiven Bedürfnisse nicht vom eigenen Ich befrie-
digt werden können. Das Individuum führt einen kräftezehrenden inneren
Kampf zwischen der Tendenz sich affektiv an das Objekt binden zu wollen
und der Tendenz absolute Selbstgenügsamkeit zu suchen. Solange es dem
Individuum gelingt, zwischen den beiden Tendenzen, d.h. vereinfacht zwi-
schen sozialen und „asozialen“ Tendenzen einen Gleichgewichtszustand zu
halten, bendet es sich im Zustand „potentieller Verwahrlosung“. Wird das
Gleichgewicht gestört und es entsteht ein Konikt, ist das Resultat eine „se-
kundäre Neurose“ oder manifeste Verwahrlosung. Soweit es noch zumin-
dest in der Phantasie genügend affektive Verbindungen mit den Objekten
der Kindheit gibt, können diese eine manifeste Verwahrlosung verhindern
und das Individuum wird sekundär neurotisch. Andernfalls entsteht mani-
feste Verwahrlosung.
Manifest Verwahrloste fügen eher Anderen Leid zu, als dass sie an sich
selbst leiden würden. Aber selbst sie leiden nicht nur an den Folgen ihres
Verhaltens, sondern in besonderem Maße, wie die zu sekundären Neuro-
tikern gewordenen potentiellen Verwahrlosten, an enormen Selbstwertge-
fühlschwankungen, mit ihren schwer erträglichen Gefühlen absoluter Wert-
losigkeit. Eissler hat sie eindringlich beschrieben.12
Der sekundär neurotisch Verwahrloste, der einen Therapeuten aufsucht,
kann eine ganze Reihe von Symptomen aufweisen, die auch an eine primäre

12
Eissler, K. R., 1949 (1966b)

115
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

Neurose denken lassen können. Tatsächlich jedoch sind sie im wesentlichen


Folgen des schon erwähnten psychischen Mechanismus, bei dem der Ver-
wahrloste die Affekte, die er mangels geeigneter Objektbeziehungen nicht
in Auseinandersetzungen mit diesen verarbeiten kann, auf sich selbst, als
einzigem zur Verfügung stehendem Subjekt abführt. Von daher wird der
Therapeut häug mit Symptomen konfrontiert, die neurotischen Sympto-
men einer Konversionshysterie ähneln. Häug sind es somatische Sympto-
me, die den Ernährungstrakt betreffen oder das Muskelsystem.13 Der we-
sentliche Unterschied zu den Symptomen von Konversionshysterie besteht
darin, dass sie nicht von ödipalen Konikten herrühren und somit keinen
konkreten ideellen und keinen sexuellen Inhalt haben. Oft präsentiert der
Verwahrloste auch verschiedene sexuelle Störungen, verschiedene Formen
von relativer Impotenz oder perverse Akte. Dabei sollte sich der Therapeut
nicht um das Sexuelle kümmern, weil das in diesen Fällen nicht fundamen-
tal ist. Das Sexuelle ist bei Verwahrlosung von untergeordneter Bedeutung.
Die Sexualität ist in diesen Fällen immer den narzisstischen Konikten un-
tergeordnet. Es geht um Racheakte und Selbstbehauptung. Das gilt auch
für sadistische und masochistische Züge beim Verwahrlosten, die durch-
aus zu dieser Entwicklungsphase gehören, sich aber dennoch nicht von
der libidinösen Entwicklung her erklären lassen. Häug ist auch „sexuell
maskierter“ Exhibitionismus, der nicht phallischer Art ist, sondern von der
Megalomanie des Verwahrlosten herrührt.14 „Sekundäre Neurotiker“ wei-
sen auch eine ganze Reihe anderer Symptome auf, die mit Symptomen von
gewöhnlichen Neurotikern verwechselt werden können. Oft begibt sich der
Verwahrloste als Phobiker in Behandlung. Auch in diesen Fällen stellt man
dann fest, dass die Phobie keine Abwehr von vom Über-Ich zensurierten
sexuellen Impulsen ist, wie bei der hysterischen Phobie, sondern eine Ab-
wehrmaßnahme gegen extreme aggressive kompetitive Impulse und Phan-
tasien, die Gegner töten zu wollen oder von ihnen getötet zu werden. In
manchen Fällen handelt es sich um eine diffuse Angst wie bei einer Angst-
hysterie, bei der auch die die aggressiv kompetitiven Konikte überwiegen.
In wieder anderen Fällen handelt es sich um Depressionen, die aber nicht
13
Spanudis erwähnt aus seiner Praxis einen Fall von Myasthenie bei einer Frau und zwei
Fälle von Magengeschwüren Spanudis, 1954, S. 43 ff.
14
Spanudis, 1954, S. 115

116
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

das Ergebnis von Schuldgefühlen sind, wie beim wahren Neurotiker, son-
dern einfache aggressive Entladungen gegen sich selbst.
Spanudis nimmt an, dass sehr wahrscheinlich die meisten psychoso-
matischen Krankheiten und hypochondrischen Symptome Verwahrlosungs-
symptome sind. Er sieht sich darin durch Untersuchungsergebnisse der
Gruppe von Franz Alexander in Chicago bestätigt.15 Diese hat eine relativ
große Zahl von Patienten untersucht, die Alexander Neurotiker nennt, ohne
zu präzisieren, um welche Art von Neurotikern es sich handelt. Er vermei-
det es von Konversionshysterie zu besprechen und zieht die Bezeichnung
„vegetative Neurosen“ vor. Diese haben in der Regel keinen ödipalen se-
xuellen Inhalt. Bei den Grundkonikten der von Alexander untersuchten
psychosomatischen Fälle, Magengeschwüre, Bronchialasthma, rheumati-
sche Arthritis, Bluthochdruck und Diabetes mellitus, geht es immer um Be-
dürfnisse affektiver Sicherheit, Abhängigkeitswünsche, Passivität, rezepti-
ve Liebe, starke Aggressionen, etc. Das heißt, es geht immer um präödipale
Konikte, um das Bedürfnis geliebt und bestärkt zu werden, das von den
enormen Aggressionen des wütenden Ichs blockiert wird, das sich verlas-
sen fühlt, betrogen und enttäuscht. Es geht also um alle typischen Konikte
des potentiell Verwahrlosten. Das ist ein Sachverhalt, der angesichts der
weiten Verbreitung psychosomatischer Störungen in unserer Gesellschaft
Beachtung verdient. Er impliziert, dass in unserer Gesellschaft viele psy-
chosomatisch Erkrankte latent Verwahrloste sind.

Behandlungstechnische Gesichtspunkte
Es lohnt sich, auch kurz auf die behandlungstechnischen Gesichtspunkte
von Spanudis einzugehen, weil sie verdeutlichen, wie stark sich der Psy-
choanalytiker bei seiner Arbeit mit Verwahrlosten, die zu „sekundären Neu-
rotikern“ geworden sind, im Vergleich zur Behandlung von primären Neu-
rotikern umstellen muss und warum erwachsene Verwahrloste, die als Psy-
chopathen wahrgenommen werden, meist als nicht behandelbar gelten. Der
Analytiker bekommt es mit den meisten Formen neurotischer Symptome
zu tun, die auch primäre Neurotiker aufweisen. Aber da es sich jeweils um
15
Spanudis, 1954. S. 47 ff. Siehe dazu auch Alexander, 1934

117
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

präödipal verursachte Symptome mit entsprechenden anderen Inhalten han-


delt, kann der Psychoanalytiker mit „sekundären Neurotikern“ zwar im ge-
wohnten Setting mit Couch und freien Assoziationen arbeiten, aber er muss
dies mit einer anderen Technik tun. Bei der klassischen Technik lässt der
Analytiker die Übertragung sich entwickeln und „zerstört“ sie dann als Re-
aktionen, die eigentlich gar nicht ihm gelten. Seine Arbeit besteht wesent-
lich darin, das unbewusste Material, das der Patient liefert, zu interpretieren
und mit ihm durchzuarbeiten. Es wird unterstellt, das Ich sei genügend ent-
wickelt, genügend realitätsbezogen, auch auf die Realität der geistigen und
moralischen Werte, das Ich des Patienten wolle wirklich die Behandlung,
trotz des Gewinns der bisher praktizierten leichten „Lösungen“ und des se-
kundären Krankheitsgewinns. Abgesehen von wenigen Situationen, wo der
Analytiker sich etwas aktiver und stützend verhält, verhält er sich neutral
und interpretiert das gelieferte Material. Die Integration des neuen Wissens,
der neuen Wahrnehmungsmöglichkeiten und das Finden neuer realitätsge-
rechterer Lösungen der inneren Konikte, sind die Aufgabe des Patienten.
Es ist nur allzu offensichtlich, dass selbst wenn „sekundäre Neuroti-
ker“ nicht so sehr unter enormen Selbstwertgefühlsschwankungen leiden
würden und weniger instabil und infantil wären, ein Arbeiten mit der klas-
sischen Technik jeweils rasch scheitern müsste. Denn wie sollte ein Ich
diese Integrationsarbeit leisten, das sich im Grunde nicht wirklich krank,
sondern permanent gekränkt fühlt und die Schuld immer anderen gibt, ein
Ich das schwach und misstrauisch ist, das nie eine affektive Beziehung zum
Objekt eingehen wird, aus Angst vor der Wiederholung der so schlimmen
Enttäuschungen des Verlassenwerdens; das statt dessen Macht sucht oder
nach mächtigen Objekten und Dingen, um in aggressiver und rachsüchtiger
Weise seine Position, seine Existenz und seine Bedeutung gegen die Welt
zu behaupten. Ein Ich, das quasi blindwütig versucht Sieger zu sein und das
extreme Gegenteil von dem zu erlangen, was es erlitten hat, eine Machtpo-
sition, Bedeutung, absolutes Sichbehaupten, mit unangemessenen Mitteln,
ohne jede Rücksichtnahme auf die Welt, auf die Personen. Wie soll man,
fragt Spanudis, mit einem solchen Ich einen stabilen Kontakt herstellen? Si-
cher nicht, indem man sofort mit tiefschürfenden Interpretationen beginnt,
mit denen man an die erlittenen Traumen des Verlassenwerdens und der
Entwertung, also an den empndlichsten Teil des Unbewussten rührt, ge-

118
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

gen den die stärkste Abwehr aufgebaut worden ist. Der Analytiker sollte
also auf keinen Fall die Übertragung interpretieren. Das unsichere, infan-
tile, zwischen Aggressionen und Ängsten verwirrte Ich, wäre nicht in der
Lage die Interpretation zu ertragen oder einen positiven Nutzen daraus zu
ziehen.
In den Fällen, in denen der Patient versucht, sich selbst als mächtiges
Objekt zu realisieren, ist die Beziehung zum Analytiker eine von Misstrau-
en, Erwartung und Ausprobieren. Die Unsicherheit hinter den megaloma-
nischen Versuchen verursacht Angst in Bezug auf den Therapeuten. Der
Patient weiß nicht, was er vom Analytiker zu erwarten hat; ob er zu seinen
Feinden oder seinen Freunden gehört, ob er ihn angreift und den megalo-
manischen Versuch zerstört oder ob er ihm hilft, ihn zu realisieren. In dieser
Situation kann jede Äußerung des Therapeuten missverstanden werden, als
Kritik, als Angriff gegen den megalomanischen Versuch. Die Folgen sind
Aggression oder Flucht.
In den gegenteiligen Fällen, in denen der Patient sich nicht selbst, son-
dern den Analytiker zum mächtigen Objekt macht, um sich daran anzu-
klammern, sich ihm zu unterwerfen, um auf diese Weise Sicherheit zu ge-
winnen, wird er, solange er die Illusion des übermächtigen Analytikers sich
erhalten kann, ein Ausbund absoluter Unterwürgkeit, Pünktlichkeit, Ge-
horsam etc. sein. Jede darauf bezogene Interpretation würde als Zurück-
weisung erlebt werden.
In beiden Konstellationen hätten Interpretationen katastrophale Folgen
und würden mit einem Abbruch der Beziehung enden. Spanudis rät dement-
sprechend, die Übertragungsbeziehung nicht zu interpretieren, am besten
nicht zu beachten. Stattdessen soll der Analytiker viel fragen, so z.B. wenn
der Patient sich ängstlich zeigt, fragen was er von ihm fürchtet. Wenn er
Phantasien produziert, fragen woher die Erfahrungen stammen, die solche
Phantasien produzieren. Wenn er den Analytiker als mächtig idealisiert, fra-
gen ob er mit anderen Personen schon solche Erfahrungen gemacht hat. Der
Analytiker soll den Patienten akzeptieren, wie er ist. Das genügt allerdings
beim „sekundären Neurotiker“ nicht. Während beim primären Neurotiker
aktives Verhalten des Analytikers normalerweise unangebracht ist, muss er
sich beim „sekundären Neurotiker“ aktiv verhalten. Beim primären, also
ödipalen Neurotiker ist aktives Eingreifen fehl am Platze, weil er in seinen

119
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

Objektbeziehungen schon alle notwendigen Identizierungen vornehmen


konnte. Das ist anders beim Verwahrlosten, der, nachdem die affektiven Be-
ziehungen zu den Objekten der Kindheit nicht mehr existieren, nicht über
die Identizierungen verfügt, die man braucht, um im engeren Sinne er-
wachsen zu werden.
Der Analytiker soll als väterliche Figur affektiven Anteil nehmen an
den Siegen, Niederlagen und Schmerzen des Patienten, sich in der Thera-
piesitzung in sein Alltagsleben einmischen, alles interessant nden. Er soll
den Patienten in seinen Lebensproblemen unterstützen, wie das Eltern beim
Kind tun. Ein derart aktives Verhalten setzt allerdings Taktgefühl voraus.
Der Analytiker darf nicht seine Persönlichkeit dem Patienten aufdrängen,
ihn nach seinen Ideen und Wertvorstellungen zu beeinussen versuchen.
Die ganze Aufgabe besteht darin, dem vorzeitig verlassenen, verängs-
tigten und angefeindeten Ich zu helfen, das sich der megalomanischen Ab-
wehr bedient und mit ungeeigneten, aggressiven, anti-sozialen und irrealen
Mitteln seine verlorene Position wiederzugewinnen versucht. Man muss
dem Patienten helfen, in die soziale Realität zurückzukehren, indem ihm
immer wieder gezeigt wird, dass diese Realität gar nicht so feindlich ist,
wie er sie sich vorstellt. Nur wenn die megalomanische Abwehr allmäh-
lich erschüttert wird, kommt es dazu, dass der Patient sich an Beispiele von
Erwachsenen erinnert, die er schon in seiner Kindheit akzeptiert und inter-
nalisiert haben könnte, wenn ihn die affektive Trennung durch seine me-
galomanische Abwehr nicht daran gehindert hätte. Wenn schließlich genug
pathogenes Material zusammengekommen ist, kann der Analytiker auch in-
terpretieren. Aber auch dann noch das als letztes, was mit der Megalomanie
zu tun hat und mit dem Verlassenwerden.
Manifest Verwahrloste kommen nicht zum Psychoanalytiker. Sie füh-
len sich nicht krank. Latent Verwahrloste, die „potentielle Verwahrloste“
bleiben, ebenfalls nicht. Nur „sekundäre Neurotiker“, d.h. „potentiell Ver-
wahrloste“, die an ihrer Konstitution leiden, oder manifest Verwahrloste,
die durch eine geeignete Behandlung wieder „potentielle Verwahrloste“
geworden sind, können in der beschriebenen Weise psychoanalytisch be-
handelt werden. Es ist offensichtlich, dass solche Behandlungen scheitern
müssen, wenn sich der Psychoanalytiker nicht darüber im Klaren ist, ob er
es mit einer primären oder mit einer sekundären Neurose zu tun hat und

120
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre

wie weitgehend er sich bei letzteren Fällen behandlungstechnisch umstel-


len muss.
Nicht nur die klassische psychoanalytische Technik, sondern auch die
Libidotheorie nützt dem Analytiker als theoretische Orientierung bei seiner
Arbeit mit Verwahrlosten wenig. Spanudis kritisiert, die Analytiker vergä-
ßen, dass die Libidotheorie, die er in keiner Weise in Frage stellt, nur ent-
wickelt worden ist, um die verschiedenen Regressionspunkte der genitalen
Libido zu erklären, um die Symptomatologie der echten ödipalen Neuro-
sen und der manifesten Perversionen zu erklären. Was die anderen Formen
präödipaler Psychopathologie betrifft, wie z.B. Verwahrlosung und Psycho-
sen, ist die Libidotheorie nicht ausreichend. Gebraucht werde unbedingt ei-
ne Theorie der Entwicklung des Ichs, die die verschiedenen Bedürfnisse in
den Verschiedenen Etappen und die verschiedenen Typen der Objektbezie-
hungen untersucht.
Dies ist ein Standpunkt, der angesichts der kaum noch überschaubaren
Menge von psychoanalytischer Literatur zu narzisstischen Störungen, die
seit der Zeit von Spanudis veröffentlicht worden ist, heutzutage nicht mehr
betont werden muss. Von aktueller Bedeutung dagegen ist noch immer, dass
die zahlreichen Mischformen von Verwahrlosung, die von anderen psy-
chopathologischen Prozessen (Neurose, Perversion, Psychose) herrühren,
von der eigentlichen primären Verwahrlosung theoretisch klar unterschie-
den werden sollten. Was Spanudis die „sekundäre Neurose“ des poten-
tiell Verwahrlosten nennt, die man auch „Verwahrlosungspseudoneurose“
(a.a.O. S. 48) nennen könnte, ist keine echte Neurose. Spanudis argumen-
tiert dementsprechend: Wenn man wissenschaftlich genau sein will, muss
man „die Verwahrlosungen von echten Neurosen unterscheiden und die po-
tentielle Verwahrlosung mit ihren zwei Produkten, der sekundären Neurose
und der manifesten Verwahrlosung als klinische nosologische Einheit zwi-
schen den echten Neurosen und den Psychosen akzeptieren.“16 In der Praxis
bekommt man es allerdings überwiegend mit verschiedenen Varianten von
Verwahrlosung zu tun, die Mischungen mit neurotischen und psychotischen
Anteilen sind.

16
Spanudis, 1954, S. 57

121
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen. Das
Verschwinden des Verwahrlosten in
Narzissmustheorien und seine Metamorphosen
Aichhorn hat seine Technik der narzisstischen Übertragung vor allem in
seinen Auseinandersetzungen mit jugendlichen Hochstaplern entwickelt.
Er erwähnt erwachsene Verwahrloste nur ganz am Rande. So z.B. wenn
er davon spricht, dass in manchen Fällen die Eltern eines verwahrlosten
Kindes selbst Verwahrloste sind. Auch bei seinen Nachfolgern kommt der
erwachsene Verwahrloste, von den wenigen genannten Ausnahmen abge-
sehen, nicht vor. Er ist aus der Psychoanalyse verschwunden. Während
Fenichel in seiner Neurosenlehre auf Verwahrlosung immerhin noch auf
einigen Seiten eingeht, wird sie in einer neueren Abhandlung dieser Art
gerade noch in zwei Sätzen erwähnt.1 Wie schon erwähnt, wurde dagegen
lange Zeit der rein deskriptive Begriff „Psychopathie“ verwendet.2 Das ent-
sprach der Terminologie des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs
Psychischer Störungen (DMS). Die Version dieses Handbuchs von 1994
und die folgenden verwenden dagegen die Bezeichnung antisoziale Per-
sönlichkeitsstörung.
Es liegt die Frage nahe, warum von den wenigen genannten Ausnah-
men und von wenigen Abhandlungen über den Hochstapler als Spezialfall
von Verwahrlosung abgesehen, Psychoanalytiker sich mit den erwachsenen
Verwahrlosten nicht beschäftigt haben. Ein naheliegender Grund ist, dass
jugendliche Verwahrloste, die nicht geheilt werden konnten und wieder in
ihr altes Milieu zurückkehren, schließlich als „Stammgäste“ in verschiede-
1
Mentzos, 1982 (1990). Andere nicht-neurotische psychische Störungen werden dagegen
durchaus berücksichtigt.
2
Aichhorn erwähnt diesen Begriff nebenbei. Er gibt nur die übliche psychiatrische De-
nition des Psychopathen wieder, bei dem „die emotionale Seite des Seelenlebens, der
Gemüts- und Willenstätigkeit und die Triebe (das Temperament und der Charakter)
in subjektiv und objektiv störender Weise unausgeglichen, reizbar oder unzulänglich
sind, ohne dass eine organische Erkrankung des Zentralnervensystems oder eine Geis-
teskrankheit im engeren Sinne vorliegt.“ Aichhorn, August, 1959 (1972, S. 153)

122
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

nen Gefängnissen enden.3 Dort kommen Psychoanalytiker jedoch nur sehr


selten hin. Und wenn sie dort hinkommen, nehmen sie die Insassen nicht
als Verwahrloste wahr, sondern als Kriminelle, als Psychopathen. Dass von
relativ wenigen psychisch sehr schwer Gestörten abgesehen, Delinquenz
heilbar ist bzw. dass viele Gefängnisinsassen auf Grund psychischer Stö-
rungen zu Kriminellen ohne Chance auf eine adäquate Behandlung gewor-
den sind, wird selten klar festgestellt.4 Nur ein kleiner Teil der Delinquenten
unterscheidet sich „vom Mann auf der Straße“.5
Ein wesentlicher Grund dafür, dass sich die meisten Psychoanalyti-
ker von Anfang an nicht für erwachsene Verwahrloste interessiert haben,
dürfte sein, dass die wenigen existierenden Berichte von psychoanalyti-
schen Behandlungen dieser Patienten belegen, wie schwierig sie sind.6 Die
Gründe dafür, die Spanudis angegeben hat, sind Erklärung genug. Es muss
Analytiker abschrecken, dass in einer ersten Phase der Behandlung die
notwendigen Veränderungen der Technik so groß sein können, dass die
klassische psychoanalytische Technik kaum noch erkennbar ist. Beim Ver-
wahrlosten fehlt jede spontane positive Übertragungsreaktion. Er hat kei-
nen festen Charakter. Er ist weitgehend unfähig zur Selbstwahrnehmung
und schwankt zwischen Megalomanie und absoluter Selbstentwertung. Das
Vergnügen der Aggression kann leicht in starkes Unbehagen umschlagen.
Er kann nicht frei assoziieren. Er ist nicht geneigt, das Wenige, was er emp-
ndet mitzuteilen. Er lügt sowieso chronisch. Er ist infantil, passiv und
unfähig zum Sublimieren. Er hat keinerlei Frustrationstoleranz. Er agiert
3
Redl; Wineman, 1951 (1979, S. 199)
4
Ein Beispiel dafür, wie jemand auf Grund nicht zutreffend diagnostizierter psychischer
Schwierigkeiten durch Justiz und Strafvollzug zum Kriminellen gemacht werden konn-
te, beschreibt das Buch „Patient oder Verbrecher? Strafvollzug provoziert Delinquenz“
von Ehebald, 1971
5
Schmideberg, 1949. Eine Feststellung, die auch in neuester Zeit gemacht wurde. Siehe
dazu den Artikel „Why can’t doctors identify killers“ des Psychiaters Richard E. Fried-
man in The New York Times online vom 27.05.2014 (http://www.nytimes.com/pages/
opinion/index.html)
6
Zum Folgenden siehe vor allem die schon zitierten Arbeiten von Eissler, der sich ganz
der Behandlung von erwachsenen manifest Verwahrlosten gewidmet hat. Daneben auch
Finkelstein und Spanudis. Die späteren Beschreibungen der Behandlungen der „Nach-
folger“ des Verwahrlosten in den narzissmustheoretischen Arbeiten über Psychopathen
und antisoziale Charaktere sind sehr ähnlich.

123
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

permanent. Seine Beziehung zur Realität ist gestört, weil er eine völlig
unrealistische Selbsteinschätzung hat. Sie ist magisch verzerrt. Die Um-
welt hat für ihn eine vorwiegend feindliche Tönung. Dagegen muss er sein
Allmachtsgefühl mobilisieren. Deshalb erscheint er oft als paranoid. Seine
häuge Angst vor bevorstehender Zerstörung ist auf die Fixierung an eine
frühe Phase zurückzuführen, in der jede Gefahr unmittelbare totale Zerstö-
rung bedeutete. Er hat gar keine differenzierte Wahrnehmung von Gefahr.
Der Verwahrloste beschäftigt sich permanent mit der äußeren Realität
und überhaupt nicht mit seiner inneren. Auf Grund seiner oralen Fixierung
und seiner Unfähigkeit zur Sublimierung hat er die Tendenz, nur den kon-
kreten Teil der Realität anzuerkennen.7 Der Verwahrloste hat auch ein star-
kes hetero- oder homosexuelles Interesse, aber ohne jede Berücksichtigung
der Bedürfnisse des Liebesobjekts. Er sucht im anderen ausschließlich sich
selbst. Von der Psychoanalyse erhofft sich der Verwahrloste, dass sie ihm
hilft, seine grandiosen Ideale zu erreichen, perfekt oder omnipotent zu wer-
den. Wenn er merkt, dass das nicht klappt, verliert er sein Interesse an ihr.
Diese Zusammenfassung der psychischen Eigenschaften des Verwahrlosten
erklärt hinlänglich, warum die meisten Psychoanalytiker den Verwahrlos-
ten als Psychopathen sehen und ihn für nicht behandelbar halten.
Das Verschwinden des erwachsenen Verwahrlosten und seine Erset-
zung durch den Psychopathen haben mehrere Folgen. Zunächst die bereits
erwähnte, dass dadurch wichtige Einsichten, wie die von Lampl de Groot
und Schmideberg, verloren gegangen sind. Durch die Änderung der Termi-
nologie wird eine Kluft zwischen normalen Menschen und Psychopathen
unterstellt. Der Psychopath trägt ein Kainsmal.8 Die Bezeichnung neuro-
tisch wird keineswegs nur auf Menschen angewendet, die manifest Neuro-
tiker sind und psychotherapeutischer Behandlung bedürfen. Man kann im
Gegenteil sogar sagen, dass bei vielen Menschen bis zu einem gewissen
Grad neurotische Züge zu nden sind, ohne dass sie als Neurotiker klassi-
ziert werden müssten. Das müsste in gleicher Weise auch für die Bezeich-
nung verwahrlost gelten. Die Behauptung, dass viele normale Menschen
7
Eissler, 1950, S. 114. Deshalb haben Geld für Männer und Sex für Frauen bei Verwahr-
losten eine so große Bedeutung. Über diese Mittel haben sie das Gefühl mit der Realität
in Kontakt zu sein, geliebt zu werden und zu lieben.
8
Meloy, J.R., 2001

124
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

auch psychopathische Züge aufweisen, ndet man jedoch fast nie.9 Eben-
so wenig die Behauptung, jemand sei latent psychopathisch. Von latenter
Psychopathie zu sprechen, ergibt sowieso keinen Sinn, da Psychopathie auf
manifeste Verhaltensmerkmale bezogen deniert wird. Das Gleiche gilt,
wenn neuerdings von antisozialem Verhalten anstelle von Verwahrlosung
die Rede ist. Latent antisoziales Verhalten ergibt keinen Sinn. Und es erge-
ben sich bei dieser Terminologie neue Unklarheiten. Antisoziales Handeln
kann auch andere Ursachen haben als das, was zuvor als Verwahrlosung
bezeichnet worden ist.
Was Aichhorn und seine Nachfolger unter Verwahrlosung verstanden
haben, wird heutzutage wesentlich narzissmustheoretisch erörtert. Aber da
diese Diskussionen nicht direkt an denen von Aichhorn und seinen Schü-
lern anknüpfen, wird deren Verwahrlosungsbegriff nicht mehr berücksich-
tigt. Der Verwahrloste erlebt in den umfangreichen Narzissmusdiskussio-
nen zahlreiche, ihm mehr oder weniger ähnliche Metamorphosen. Meist
wird er nur noch als Psychopath gesehen. Das gilt selbst für einen Autor
wie Meloy, der als Ausnahme auffällt, weil er an Aichhorn und einigen
anderen Aichhorn berücksichtigenden Autoren, wie Friedlander, Johnson,
aber auch Greenacre und Deutsch, explizit anknüpft.10 Aber aus Aichhorns
Verwahrlosung wird selbst bei ihm terminologisch rückwirkend Psycho-
pathie. Meloy sieht auch nicht, dass Aichhorns „gewöhnliche Verwahrlo-
sung“ (A. Freud) sich als klinische nosologische Einheit zwischen den ech-
ten Neurosen und den Psychosen verorten lässt. Er geht dementsprechend
auch nicht darauf ein, dass Aichhorn unterstellt, dass Verwahrlosung auch
dann gegeben sein kann, wenn sie nie manifest wird. Er lobt ihn wegen sei-
nes vorzüglichen theoretischen Verständnisses der idealisierenden narziss-
tischen Übertragung, erwähnt aber nicht, dass Aichhorn diese entwickelt
hat. Er hebt an ihm hervor, dass er ein Verständnis der Psychopathie ent-
wickelt habe, das zentriert war auf ödipale Konguration, Narzissmus und
das Misslingen früher Identizierungen.
In der narzissmustheoretischen Diskussion, die Meloy zusammenfasst,
ist die psychopathische Persönlichkeitsorganisation eine Unterform der

9
Von den genannten Ausnahmen Lampl de Groot und Schmideberg abgesehen.
10
Meloy, J.R., 2001

125
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

narzisstischen Persönlichkeitsstörung, allerdings eine extreme und gefähr-


liche Variante.11 Die Eigenschaften, die ihr zugeschrieben werden, sind teil-
weise die des Verwahrlosten. Sie unterscheidet sich von der narzisstischen
Persönlichkeitsstörung durch folgende Charakteristika:
1) Aggressive Triebe dominieren. 2) Abwesenheit von narzisstischer Wie-
dergutmachung (repair). 3) Sadistisches Verhalten. 4) Anwesenheit eines
negativ idealisierten Objekts. 5) Abwesenheit des Wunsches sein Verhalten
moralisch zu rechtfertigen. 6) Anal-expulsive und phallische Themen. 7)
Paranoia, wenn der Psychopath unter großen Stress gerät.12
Der Psychopath wird also als wesentlich aggressiv und zu kriminel-
lem Handeln neigend beschrieben. Er ist kaum therapierbar.13 Eine solche
Charakterisierung erlaubt, im Gegensatz zum Verwahrlosungsbegriff, nicht
die Annahme, diese Persönlichkeitsstörung könnte auf Dauer latent blei-
ben. Ein Über-Ich scheint dieser Beschreibung nach nicht einmal in Ansät-
zen vorhanden zu sein. Aber abgesehen von wenigen extremen Fällen wird
man, wie Schmideberg in Bezug auf „normale“ Kriminelle festgestellt hat,
auch bei Psychopathen nicht unterstellen können, sie hätten überhaupt kein
Gewissen bzw. kein Über-Ich. Auch Symington stellt klar: „Es wird oft be-
hauptet, der kriminelle Psychopath sei amoralisch und keinerlei ethischem
System verpichtet; nichts könnte weiter entfernt von der Wahrheit sein.
Er ist durchaus moralisch und drückt sich im Allgemeinen in puritanischen
Begriffen aus. Der Hass auf das primäre Liebesobjekt wird verschoben und
in äußerem Verhalten ausagiert und so werden Schuldgefühle oft auf ganz
verzeihliches Verhalten verschoben.“14

11
Zum Folgenden Meloy, 1998 (2002, S. 19 ff).
12
Meloy, J. Reid, 2001, S. 191. In der DSM-IV (1994) kommt die „antisoziale persönliche
Störung“ der Verwahrlosung am nächsten. Ihre Kriterien sind: 1) Unangepasstheit an so-
ziale Normen. 2) Täuschung. 3) Impulsivität oder Unfähigkeit zu planen. 4) Reizbarkeit
und Aggressivität. 5) Nichtbeachtung der Sicherheit der eigenen Person und von ande-
ren. 6) Verantwortungslosigkeit in Bezug auf Arbeit oder nanzielle Verpichtungen.
7) Keine Reaktionen des Bedauerns. (a.a.O. S. 195)
13
Kernberg stellt fest, bei der im engeren Sinne antisozialen Persönlichkeit sei die Progno-
se für eine psychotherapeutische Behandlung im engeren Sinne praktisch Null, obwohl
er sich keineswegs auf nur psychoanalytische therapeutische Mittel beschränkt Kern-
berg, O.F., 2007, S. 527
14
Symington, 1980, S. 292.

126
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

Das Verschwinden des erwachsenen Verwahrlosten in narzissmustheo-


retischen Arbeiten lässt sich wohl kaum durch wesentliche Veränderun-
gen der Besonderheiten der psychischen Konstitution von Verwahrlosten
erklären. Es ergibt sich vielmehr aus einer Veränderung der Perspektive.
Der „Psychopath“ ist eigentlich ein Verwahrloster, für den wesentlich seine
schlechtesten Eigenschaften, seine Aggressivität und seine Neigung zu De-
linquenz charakteristisch sind. Die Beschreibungen der Entstehungsursa-
chen der psychopathischen Persönlichkeit in narzissmustheoretischen Be-
griffen entsprechen, abgesehen von der besonderen Betonung des Entste-
hens von Aggressivität, ungefähr denen des Verwahrlosten in den älteren
psychoanalytischen Arbeiten: „Die Entwicklungsursprünge der psychopa-
thischen Persönlichkeit sind charakterisiert durch: eine vorzeitige Trennung
vom primären Elternteil während der symbiotischen Phase der Reifung,
Misslingen der Internalisierung, das mit einem organismischen Misstrauen
gegenüber der sensorisch-wahrnehmbaren Umgebung beginnt; eine domi-
nierende archetypische Identizierung mit dem fremden Selbstobjekt, die
zentral ist für das konzeptuelle Selbst und für Objektfusionen innerhalb
der grandiosen Selbststruktur während der Periode der Trennung – Indi-
viduierung; ein Misslingen der Objektkonstanz und eine primäre narziss-
tische Bindung an das grandiose Selbst; sowie Zustände der Bezogenheit
(getrennt von den Zügen der primären narzisstischen Bindung), die an ak-
tuellen Objekten aggressiv und sadomasochistisch verfolgt werden. Die-
se Koexistenz von gutartiger Ablösung (benign detachment) und aggressiv
verfolgten, sadistisch getönten Bindungsversuchen, ist pathognomisch für
den psychopathischen Prozess.“15
Für die Frage, ob in der narzissmustheoretischen Diskussion der antiso-
zialen Persönlichkeitsstruktur nosologisch auch eine eigenständige Qualität
zugeschrieben werden kann, wie das Spanudis im Anschluss an Aichhorn
für die Verwahrlosung gemacht hat, sind besonders Otto Kernbergs Arbei-
ten von Interesse. Er hat mehrfach versucht, die bekannten Varianten von
Charakterpathologie systematisch zu ordnen.16 Er konzipiert eine Klassi-
15
Meloy, 1998 (2002, S. 59). Ich berücksichtige nicht, dass Meloy und auch einige andere
Autoren auch psychobiologische Faktoren als Erklärung von narzisstischen Störungen
anführen.
16
Kernberg, O., 1970, Kernberg, O., 1975 (1983), Kernberg, O. F., 1989 (2001)

127
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

zierung, die ermöglichen soll: 1) Psychoanalytische Kriterien zu entwerfen


für Differentialdiagnosen verschiedener Typen und Schwerheitsgrade von
Charakterpathologie. 2) Die Beziehung zu klären zwischen einer deskripti-
ven charakterologischen Diagnose und einer metapsychologischen, spezi-
ell strukturellen Analyse. 3) Untergruppen von Charakterpathologie nach
ihrem Schwerheitsgrad zu bilden. Dabei berücksichtigte er drei Entwick-
lungsstränge: 1) Die Pathologie in den Ich- und Über-Ich Strukturen. 2) Die
Pathologie in den verinnerlichten Objektbeziehungen. 3) Die Pathologie in
der Entwicklung von libidinösen und aggressiven Triebabkömmlingen.17
Seiner Klassizierung unterliegt die Annahme eines Kontinuums der
Charakterzüge, vom sublimatorischen Typ, d.h. normalem Narzissmus, als
einem Extrem, über verbietende oder phobische Charakterzüge, Charakter-
züge als Folge von Reaktionsbildung, bis hin zu triebhaft bewirkten Cha-
rakterzügen als dem anderen Extrem. Er unterscheidet dabei drei Stufen
der Schwere der Störung. Dabei stimmen bestimmte Typen von Charakter-
pathologie meist mit einem bestimmten Grad der Schwere der Pathologie
überein, aber nicht immer. Es ist nicht überraschend, dass er hinsichtlich
der üblichen Verwahrlosungskriterien wie schwache Über-Ich-Integration,
Unfähigkeit zu Mitgefühl, Spaltung als vorherrschendem Abwehrmecha-
nismus usw. die Patienten mit antisozialer Persönlichkeit auf unterster Ebe-
ne als besonders schwere Fälle ansiedelt, zusammen mit den meisten in-
fantilen und vielen narzisstischen Persönlichkeiten. Die antisoziale Persön-
lichkeit ist aber differentialdiagnostisch nur graduell von anderen narzissti-
schen Störungen unterschieden.
In seiner grundlegenden Arbeit über „Borderline-Störungen und patho-
logischer Narzissmus“ sieht Kernberg die narzisstischen Persönlichkeiten
im Wesentlichen als Untergruppe von Borderline-Patienten.18 Es gibt aber
auch Patienten mit typisch narzisstischem Charakter, die überhaupt kei-
ne Borderlinemerkmale aufweisen. Der Unterschied zwischen der narziss-
tischen Persönlichkeitsstruktur und der Borderline-Persönlichkeitsstruktur
besteht für Kernberg darin, dass nur bei narzisstischen Persönlichkeiten
ein integriertes, wenn auch hochgradig pathologisches Größen-Selbst vor-

17
Kernberg, O., 1970, S. 801
18
Kernberg, O., 1975 (1983, S. 31)

128
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

handen ist. Die antisoziale Persönlichkeit deniert er als eine Variante


der narzisstischen Persönlichkeit, der regelmäßig eine typische Borderline-
Persönlichkeitsstruktur zugrunde liegt. Sie unterscheidet sich von anderen
narzisstischen Störungen durch eine schwere Störung des Über-Ichs. (a.a.O.
S. 36.) Diese Instanz enthält in solchen Fällen hauptsächlich Abkömmlin-
ge primitiver, aggressionsgeladener, verzerrter Elternimagines, „ohne dass
es –wie normalerweise zu erwarten – zu einer Integration aggressiver Über-
Ich-Vorläufer mit dem Idealselbst – und den Idealobjektrepräsentanzen und
später zur Depersonikation und Abstraktion des Über-Ichs gekommen wä-
re.“ (a.a.O. S. 291).
Antisoziales Verhalten konstatiert Kernberg im Übrigen auch bei an-
deren Varianten narzisstischer Störungen. Er sieht, wie schon erwähnt, ein
Kontinuum zwischen den narzisstischen und den antisozialen Persönlich-
keiten. Letztere versteht er als „Extremform eines pathologischen Narziss-
mus bei völligem Fehlen eines integrierten Über-Ichs (neben anderen Be-
sonderheiten)“ (a.a.O.292). Dazwischen ortet er überdies noch eine Vari-
ante von weniger schwerem „malignem Narzissmus“. Auch für diese Pati-
enten ist antisoziales Handeln charakteristisch. Bei ihnen nden sich aber
noch die Fähigkeit zu Loyalität mit anderen und Schuldgefühle. Die einzi-
ge Ausnahme der Regel, dass antisoziale Persönlichkeitsstörungen narziss-
tische Persönlichkeitsstörungen mit schwerer Über-Ich-Pathologie sind, ist
das relativ seltene und prognostisch sehr schlimme klinische Syndrom der
„pseudo-psychopathischen Schizophrenie.“19
Eine nosologische Eigenständigkeit bekommt verwahrlostes, bzw. anti-
soziales Verhalten in diesen narzissmustheoretischen Konzepten nicht. Al-
lerdings ist sich Kernberg über die Mängel der von ihm benützten Termi-
nologie im Klaren. Er kritisiert, dass dem Diagnostischen und Statistischen
Handbuch Psychischer Störungen III der Amerikanischen Psychiatrischen
Vereinigung (DSM), an deren Sprachregelungen er sich orientiert, eine sehr
weit gefasste Auffassung zugrunde liegt, was alles als antisozial gelten soll.

19
Kernberg, O. F., 1989 (2001, S. 315). Im praktischen pädagogisch-therapeutischen Um-
gang mit schwer gestörten „Kindern, die hassen“, haben Redl und Wineman festgestellt,
die „allerschlimmste Kombination“ sei nicht die von „Mängeln des Über-Ichs und zu-
gleich des Ichs, sondern die von Mängeln des Über-Ichs und einem starken, mit Delin-
quenz identizierten Ich.“ Redl; Wineman, 1951 (1979, S. 214)

129
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

Die Schwere kriminellen Verhaltens wird betont. Die Frage der Kriterien
für das, was als antisozial gelten soll, wird gar nicht gestellt. Hervorgeho-
bene Bedeutung gewinnen die Ursprünge von antisozialem Verhalten in der
Kindheit. Indem die kriminellen Aspekte von antisozialem Verhalten her-
vorgehoben und Delinquente ganz unterschiedlicher psychischer Beschaf-
fenheit in einen Topf geworfen werden, wird zwischen soziokulturellen und
ökonomischen Determinanten von Delinquenz auf der einen Seite und der
Psychopathologie der Persönlichkeit auf der anderen Seite nicht deutlich
unterschieden. (a.a.O. S. 316ff.) Idealerweise müsste man jedoch, so Kern-
berg, zu einer nur psychologischen Denition der antisozialen Persönlich-
keit kommen, dergegenüber verhaltensbezogene und juristische Aspekte
sekundär sind. (a.a.O. S. 319) Eine solche Denition hat Spanudis für die
verwahrloste Persönlichkeit vorgeschlagen. Dass sie in den Begriffen der
inzwischen schwer überschaubaren narzissmustheoretischen Diskussionen
eine Bestätigung nden könnte, ist kaum vorstellbar. Die wesentliche Un-
terscheidung zwischen Neurose und „sekundärer Neurose“ ndet darin kei-
ne Entsprechung.
Auch Bursten kritisiert die Bezeichnung „antisoziale Persönlichkeit“,
weil sie auf einer Verbindung psychologischer und soziologischer Kri-
terien beruht.20 Nur allzu leicht wird bei wiederholten Störungen und
Konikten mit dem Gesetz eine „antisoziale Persönlichkeit“ unterstellt.
In Auseinandersetzung mit Kernberg und anderen Narzissmustheoreti-
kern entwirft Bursten vier Typen von narzisstischen Persönlichkeiten.
Die quengelnd-anspruchsvollen (craving), paranoiden, manipulativen und
phallisch-narzisstischen Persönlichkeiten. In dieser Typologie entspricht
der manipulative Typus der antisozialen Persönlichkeit. Er umfasst jedoch
nicht alle Persönlichkeiten, die sonst als antisoziale Persönlichkeiten be-
zeichnet werden. Auch dieser Begriff lässt sich nicht als narzissmustheo-
retisch formulierter Ersatz für den Begriff Verwahrloster verwenden. Auch
hier wird deutlich, dass es besser wäre, den Begriff Verwahrlosung auch in
anderen Sprachen beizubehalten.21
20
Bursten, 1978 S. 289. Beim Verwahrlosungsbegriff bezieht sich der soziologische
Aspekt auf die Genese von Verwahrlosung. Deswegen kann auch von latenter Verwahr-
losung die Rede sein.
21
Dafür spricht auch, dass der Begriff die Verbindung zwischen jugendlichem Verwahr-

130
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux

Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn


und Devereux
Aichhorn unterscheidet in seiner Beschreibung der Entwicklung von Kin-
dern zu Verwahrlosten zwischen „primitiver Realitätsfähigkeit“ und „Kul-
turfähigkeit“. Mit ersterer ist gemeint, dass das Kind fähig ist aus der Kon-
frontation mit Anforderungen der Wirklichkeit zu lernen, also z.B. nicht
wieder in das Feuer zu fassen, nachdem es sich schon einmal die Finger
verbrannt hat. Das Kind wächst jedoch in einer kulturellen Umgebung auf,
d.h. in einer Umgebung, in der es nicht nur mit einem „biologisch vorge-
zeichneten Werden“ konfrontiert wird. Es lernt nach und nach, „unter dem
Duck der realen Unlusterlebnisse, sich Triebeinschränkungen aufzuerlegen
und ohne innere Konikte ganz selbstverständlich den Forderungen der Ge-
sellschaft nachzukommen: es wird sozial.“22 Im Laufe der kulturellen Ent-
wicklung muss das Kind somit eine „erhöhte Realitätsfähigkeit“ erwerben.
„Diese erhöhte Realitätsfähigkeit fassen wir als das Vermögen des Indi-
viduums, an der Kulturgemeinschaft seiner Zeit teilhaben zu können, auf
und nennen sie die Kulturfähigkeit. Sie kann als variable Größe genom-
men werden — für jede Kulturstufe in einem bestimmten Ausmaß — die
die ursprüngliche primitive Realitätsfähigkeit als Konstante enthält.“23 Die
primitive Realitätsfähigkeit ist „der konstante Faktor der Kulturfähigkeit,
die als solche individuelle Gradunterschiede aufweist.“ Aber erst mit der
Erreichung der Kulturfähigkeit „ist der Mensch befähigt, die Forderungen
der Gesellschaft zu verstehen und anzuerkennen, sich ihnen zu unterwerfen
und an der Erhaltung sowie Vermehrung der Kulturgüter mitzuarbeiten.“
Für die Weiterentwicklung des Kindes von der primitiven Realitätsfähig-
keit zur Kulturfähigkeit ist Erziehung von ausschlaggebender Bedeutung.
Allerdings spielen auch „Einwirkungen des Lebens“ und Eigenschaften des
Individuums, seiner „gegebenen Individualität“, eine Rolle. (a.a.O. S. 166)
lostem und erwachsenem Verwahrlostem bewahrt. Den Kriterien von DSM IV zufolge
darf dagegen die Bezeichnung Psychopath erst bei Patienten ab 18 Jahren angewendet
werden. Zu dieser Denition von Dissozialität gehört allerdings auch, dass ab dem 15.
Lebensjahr bestimmte Verhaltensweisen wie Lügen und Betrügen, Impulsivität, Reiz-
barkeit und Aggressivität aufgetreten sind und auch, dass schon vor Vollendung des
15. Lebensjahr eine Störung des Sozialverhaltens erkennbar war.
22
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 12)
23
a.a.O. S. 11

131
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

Der Verwahrloste ähnelt, wie Aichhorn dargestellt hat, in vielfa-


cher Hinsicht dem Kinde.“(a.a.O.S. 171). Verwahrlosung ist für Aich-
horn „die Folge einer Entwicklungshemmung oder Regression — eines
Zurückgeblieben- oder Zurückgeworfenworden-Seins — auf dem Wege
von der primitiven Realitätsfähigkeit zur Kulturfähigkeit.“ Der Verwahrlos-
te ist primitiv realitätsfähig, insoweit er sich selbst behaupten kann. „Was
ihn mit der Gesellschaft in Konikt bringt, ist nur die nicht kulturfähige
Art, mit der er seine Selbstbehauptungstendenz durchzusetzen bemüht ist.“
(a.a.O. S. 171ff.)
Devereuxs Ausführungen zur Psychologie des Psychopathen und sei-
ner kindlichen Entwicklung ähneln in einigen Aspekten stark den soziali-
sationstheoretischen Überlegungen von Aichhorn.24 Er geht allerdings dar-
über hinaus auf bestimmte Eigenschaften von Kultur ein. Die „Kulturali-
sierung“ des Individuums hängt davon ab und ist eine Folge davon, dass es
lernt, direkte und manifeste Triebäußerungen, weniger solche erotischer als
vielmehr aggressiver Art, durch plastisches, ökonomisch ganz kontext- und
zielangepasstes Verhalten zu ersetzen.25 Die Erfahrungen, die das Kind mit
seiner kulturellen Umgebung macht, haben jedoch einen anderen Charakter
als die primitiven Erfahrungen mit Realität überhaupt. Kulturelle Erfahrun-
gen sind etwas anders als die, die uns lehren keinen heißen Ofen anzufas-
sen. „Sie haben einen ideologischen Hintergrund, der zum Teil über das Ich
verbunden ist, mit dem bewussten Ich-Ideal und – weiter entfernt – dem
völlig unbewussten Über-Ich.“26 Devereux hebt auch hervor, dass Kultur
als Ganze nicht Über-Ich bestimmt ist, sondern in erster Linie ein System
von Abwehrmechanismen. Sie ist dementsprechend vor allem auf Ichfunk-
tionen bezogen. Devereux spricht von „kulturellen Achsen (. . . ), die das
Verhalten organisieren.“ Dementsprechend, müssen wir „zuallererst in so-
ziologischen und kulturellen Begriffen denken, d.h. in Begriffen von Insti-
tutionen.“27

24
Seine Charakterisierung des Psychopathen würde es im Wesentlichen erlauben, im
Deutschen vom Verwahrlosten zu sprechen. Ich behalte jedoch der Genauigkeit wegen
seinen Terminus „Psychopath“ bei.
25
Devereux, G., 1953, S. 630
26
Devereux, G., 1952, S. 170f. Dort auch das Folgende.
27
Devereux, G., 1953, S. 630

132
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux

Das normale Individuum stellt sich auf kulturelle Sachverhalte ein, geht
damit um und erfährt sie in Begriffen von Bedeutungen und Werten, die
kompatibel sind mit der realen zeitgenössischen sozialen Szene und mit sei-
nem wahren Status und chronologischen Alter. Dagegen stellen psychische
Störungen verschiedener Art – auch solche, die im Verlauf von Übertra-
gungsneurosen auftreten – eine teilweise Entdifferenzierung und Entindi-
vidualisierung dar, oder in anderen Worten „eine teilweise Regression vom
Menschen zum homo sapiens“.28 Devereux vergleicht diesbezüglich den
Psychotiker mit dem Psychopathen. Während ersterer von seinem sozialen
„Negativismus“ dazu gebracht wird, Kultur als solche abzulehnen, führt
der Psychopath sozusagen einen systematischen und provozierenden Krieg
gegen Kultur.29 In seinem Kampf lässt er nicht einfach seinen Trieben frei-
en Lauf, sondern er führt ihn über Reaktionsbildungen gegen seine Triebe
und gegen Sublimierungen, die die Gesellschaft anbietet. Devereux schlägt
deshalb vor, von einem „abwehrgetriebenen Psychopathen“ und nicht von
einem „triebhaften Psychopathen“ zu sprechen. Psychische Krankheit ist
für ihn ganz allgemein primär keine Desintegration und Desorganisation,
sondern der verzweifelte Versuch einer Reorganisation. Diese umfassen-
de Reorganisation geht oft auf Kosten des Ichs. Es muss lernen völlig un-
vereinbare Elemente zusammenzuhalten. „Die Welt wird auf Kosten der
Struktur des Ichs restrukturiert, der ganze Organismus wird auf Kosten der
Ich-Funktionen am Funktionieren gehalten. Die Welt und der Organismus
werden auf Kosten einer realistischen, logischen Vereinbarkeit emotional
vereinbar gemacht.“30
Devereux sieht also wie Aichhorn das Kindhafte des Psychopathen. Al-
lerdings nicht nur als Regression. In seiner Sicht besteht das Kindhafte beim
Psychopathen vor allem darin, dass er eine kindliche Sicht des Verhaltens
von Erwachsenen ausagiert, anstatt sich an einer realistischen Denition
von reifem Verhalten zu orientieren. Der Psychopath orientiert sich in sei-
nem Benehmen an einer Auffassung von erwachsenem Verhalten, wie es
frustrierte Kinder sehen, die als Folge der Traumatisierungen durch Abstil-
len und Sauberkeitserziehung ihre eigene Allmacht an die frustrierenden
28
Devereux, G., 1953, S. 632
29
a.a.O. S. 640. Dort auch zum Folgenden.
30
Devereux, G., 1952, S. 171

133
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen

Erwachsenen delegieren. Diese kindliche Auffassung von erwachsenem


Verhalten agiert der Psychopath aus. „Er ist sich des äußeren Ursprungs
und der Realität von Kultur völlig bewusst, aber es gelingt ihm nicht, sie
in nennenswertem Ausmaß zu verinnerlichen.“ Auch wenn er intellektuell
die Werte und Bedeutungen von kulturellen Sachverhalten verstehen kann,
so gelingt es ihm doch nicht, in angemessener Weise emotional auf die-
se kulturell determinierten Werte und Bedeutungen zu reagieren. Dagegen
gelingt es ihm oft sehr gut, die Loyalität anderer gegenüber kulturellen Wer-
ten auszubeuten. Er kann gefühllos und kaltblütig manipulierend gerade an
dem ansetzen, was anderen besonders wertvoll ist. Z.B. verführt er einsame
Frauen nicht zum Spaß und bricht nicht nachts in ihre Häuser ein. Stattdes-
sen beutet er als Heiratsschwindler ihre Sehnsucht nach einer Ehe aus und
bringt sie um ihre Ersparnisse. Er wirkt vertrauenswürdig gerade weil er
die grundlegenden kulturellen Bindungen seiner Opfer anspricht.31
Devereux bezieht sich nirgendwo in seinen Arbeiten auf Aichhorn. Ich
habe kein Indiz dafür gefunden, dass er dessen Veröffentlichungen gekannt
hat. Wie nahe er ihm in mancher Hinsicht in seinen Auffassungen kommt,
wird aber auch darin deutlich, dass er hinsichtlich der Behandlung von Psy-
chopathen eine Idee zur Behandlungstechnik äußert, die stark der Vorge-
hensweise Aichhorns bei der Herstellung von narzisstischer Übertragung
ähnelt: „Man könnte vielleicht mit äußerster Vorsicht anregen, dass man
in der Anfangsphase der Therapie versuchen könnte, den Psychopathen in
seinem eigenen Spiel zu übertreffen und ihn auf diese Weise zu zwingen,
damit aufzuhören, die Vorstellung des frustrierten Kindes vom allmäch-
tigen und unbarmherzigen Erwachsenen auszuagieren und statt dessen die
komplementäre Rolle des frustrierten Kindes zu akzeptieren, das dem „psy-
chopathischen“ Therapeuten völlig ausgeliefert ist. Da der Autor keine Ge-
legenheit hatte, diese Technik auszuprobieren, nennt er sie nur als theoreti-
sche Möglichkeit, die in der Praxis ebenso vollständig scheitern kann, wie
viele andere theoretisch plausible technische Vorschläge für die Behand-
lung von Psychopathen gescheitert sind.“32
Die beschriebenen Ähnlichkeiten in den sozialisationstheoretischen

31
Devereux, G., 1953, S. 641
32
Devereux, G., 1953, S. 642

134
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux

Grundauffassungen von Aichhorn und Devereux, erscheinen mir unter an-


derem deswegen interessant zu sein, weil sie zum theoretischen Hinter-
grund von Devereuxs sozialpsychologischer Kritik an modernen westlichen
Gesellschaften gehören. Ich stelle das im folgenden Kapitel dar. Aichhorn
selbst hat solche kritischen sozialpsychologischen Überlegungen nie ange-
stellt. Sie passen jedoch zu seinem theoretischen Ansatz.

135
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher
Pathologie
Ausgehend von der Darstellung, was psychoanalytisch unter Verwahrlo-
sung als subjektiver charakterlicher Eigenschaft verstanden wird, wie sie in
Sozialisationsprozessen entsteht und wie sie sich im Alltagsleben auswirkt,
lässt sich genauer angeben, wie aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten
das Entstehen von narzisstischen Störungen und speziell von Verwahrlo-
sung begünstigen oder verursachen, aber auch wie adaptives manifest ver-
wahrlostes Verhalten verursacht wird, das nicht eine Folge subjektiver Ver-
wahrlosung ist. Ähnlich wie es z.B. für Delinquenz in dem Sprichwort „Ge-
legenheit macht Diebe“ ausgedrückt wird.1 Darauf bezogen lässt sich dann
in psychoanalytischer Perspektive auch der Begriff objektiver gesellschaft-
licher Verwahrlosung zumindest teilweise ergänzen und präzisieren.
Ob der Eindruck, dass es in den letzten Jahren eine Zunahme von Ver-
wahrlosung gegeben hat, auch in psychoanalytischem Sinne zutrifft, lässt
sich jedoch nicht mit Sicherheit beurteilen. So vor allem deswegen nicht,
weil in den neueren psychoanalytischen Diskussionen die Verbindung zu
den älteren Arbeiten von Aichhorn und seinen direkten Nachfolgern ver-
loren gegangen ist. Allerdings gibt es auch bezogen auf den Psychopa-
then, der an die Stelle des erwachsenen Verwahrlosten getreten ist, Indi-
zien, dass er „ein zunehmendes klinisches und damit soziokulturelles Phä-
nomen ist“.2 Für die Beantwortung der Frage ob es aktuell in erheblichem
Maße Verwahrlosungstendenzen gibt, kann man aber auch einige nicht-
psychoanalytische sozialpsychologische Publikationen heranziehen, die In-
dizien dafür liefern.
Wie ich schon berücksichtigt habe, weist die narzisstische Persönlich-
keit der „Kultur des Narzissmus“ einige Eigenschaften auf, die man durch-
1
Kovel macht in Bezug auf die Narzissmusdiskussionen den triftigen Einwand, es sei
schwierig zwischen adaptivem und pathologischem Narzissmus zu unterscheiden. Ko-
vel in Alt; Hearn, 1980. Das gilt oft auch für verwahrlostes Verhalten, das adaptiv oder
die Folge subjektiver Verwahrlosung sein kann. Siehe dazu auch oben den Beitrag von
Bernfeld.
2
Meloy, 1998 (2002, S. 6)

136
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

aus verwahrlost nennen kann. So unter anderem die Unfähigkeit zu Trie-


baufschub, die Unverbindlichkeit der sozialen Beziehungen u.a. Es gehört
ohnehin zu den Alltagserfahrungen, dass Narzissten sich aggressiv durch-
setzen, weil sie davon überzeugt sind, ihre Bedürfnisse müssten Vorrang
haben. Auch die Zunahme an Plagiaten ist eine Folge davon, dass Narziss-
ten in einem solchen Betrug nichts Falsches sehen. Sie sind es ja, die es tun,
warum also wegen ein paar missachteten Regeln einen Aufstand machen.
Die Anspruchshaltung zerstört Fairness und die Wechselseitigkeit von Be-
ziehungen und Verpichtungen. Lasch hat den Narzissten in mehrfacher
Hinsicht negativ charakterisiert.3 Dabei beruft er sich auch auf Kernberg.
Tatsächlich trägt die narzisstische Persönlichkeit auch bei Kernberg Züge
von Verwahrlosung: „Narzisstische Persönlichkeiten passen sich typischer-
weise an die moralischen Maßstäbe ihrer Umwelt konformistisch an, und
zwar hauptsächlich aus Angst vor den Angriffen, denen sie sich sonst aus-
setzen müssten, aber auch weil sie dieses Maß an Unterwerfung gerne leis-
ten, wenn ihnen dafür Ruhm und Anerkennung winkt. Dennoch fühlen sich
solche Menschen – auch wenn sie sich in Wirklichkeit nie manifest anti-
sozial verhalten haben – häug als Schwindler und halten es für möglich,
dass sie durchaus auch ein Verbrechen begehen könnten, wenn sie nur si-
cher wären, damit durchzukommen. Es verwundert daher gar nicht, dass sie
auch andere Menschen im Grunde nicht für anständig und vertrauenswür-
dig halten können; wenn jemand doch verlässlich erscheint, so nur, weil
er durch äußeren Druck dazu gezwungen ist.“ Von daher ist verständlich,
dass narzisstische Persönlichkeiten „in Bezug auf ihre Werteinstellungen
im allgemeinen bestechlich sind.“4
Einige Aspekte der unverbindlich gewordenen sozialen Beziehungen
werden von Szczesny-Friedmann diskutiert, die ihren gesellschaftlichen
Rahmen als „kühle Gesellschaft“ charakterisiert. Das ist eine Gesellschaft,
die nicht auf den Bindungen und Beziehungen ihrer Mitglieder aufbaut,
sondern sich vielmehr neben diesen und gegen sie etabliert. Hinsichtlich
des Phänomens gesellschaftlicher Verwahrlosung ndet sich bei ihr die
nicht durch Fakten belegte Behauptung, „weil die Alten den Jungen nichts
3
Lasch, 1979 (1986, S. 70). Lasch ist deswegen als zu konservativ kritisiert worden. Siehe
Alt; Hearn, 1980
4
Kernberg, O., 1975 (1983, S. 267)

137
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

gönnen, vielmehr selbst ewig jung bleiben wollen, können sich die Jungen
nur mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt behaupten.“5
Die Charakterisierung unserer Gesellschaft als „autistischer Gesell-
schaft“ ndet sich in einem Buch des emeritierten Professors für Kinder-
und Jugendpsychiatrie Reinhart Lempp.6 Mit autistisch meint er nicht das,
was in engerem Sinne klinisch unter Autismus verstanden wird. Er ver-
steht darunter wesentlich absolute Selbstbezogenheit, das sich zum alleini-
gen Maßstab machen. Damit einher gehen Rivalitätsdenken, ein Mangel an
Solidarität, Verantwortungsgefühl und Mitgefühl. Lempps Gesellschafts-
diagnose ist theoretisch nicht fundiert. Publikationen wie die von Lasch,
die für seine Position von Interesse sind, nimmt er nicht zur Kenntnis. Sein
Buch ist aber durchaus von Interesse als Zeugnis eines psychiatrischen Ex-
perten, der bei seiner Arbeit über viele Jahre konkrete Veränderungen be-
obachtet hat, die man im Sinne einer Tendenz zu gesellschaftlicher Ver-
wahrlosung interpretieren kann und von ihm in diesem Sinne interpretiert
werden. Er verweist unter anderem auf den Sachverhalt, dass man heutzu-
tage das Verhalten mancher Leute, wie z.B. lautstarkes Handybenutzen in
geschlossenen Räumen, das Blockieren einer Autoausfahrt oder eines Be-
hindertenparkplatzes o.ä., gar nicht angemessen als rücksichtslos bezeich-
nen kann. Eine solche Charakterisierung würde bewusstes Verhalten unter-
stellen. Die betreffenden Personen kommen jedoch überhaupt nicht auf den
Gedanken, was ihr Verhalten für andere bedeutet. Auf solche Phänomene
bezogen von subjektiver Verwahrlosung im herkömmlichen Sinne zu spre-
chen wird schwierig, wenn der Andere im Bewusstsein gar nicht mehr vor-
kommt. Lempp kommt, wenn auch nicht ausführlich, auch auf Aspekte von
Sozialisationsprozessen zu sprechen, die über die herkömmlichen Ausein-
andersetzungen mit Verwahrlosung hinausführen und die hier in der Folge
noch berücksichtigt werden. So auf die Bedeutung des Spracherwerbs des
Kindes. Auch dieser spielt ja im Alter von zwei bis drei Jahren eine zentra-
le Rolle in der Entwicklung des Kindes. Ebenso auf Medienwirkungen im
Kindesalter.
Georges Devereux hat schon vor mehr als 70 Jahren auf die Tendenz

5
Szczesny-Friedmann, 1991, S. 201
6
Lempp, 1996

138
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

einer zunehmenden gesellschaftlichen Infantilisierung hingewiesen, deren


gesteigerte aktuelle Bedeutung in neuerer Zeit mehrere Autoren hervorhe-
ben. Auch Lempp hat in seiner Arbeit eine Angst vor dem Erwachsenwer-
den und die Unfähigkeit, die Kindheit zu verlassen, beobachtet. Bly cha-
rakterisiert unsere Gesellschaft geradezu als „Kindliche Gesellschaft“ und
Gronemeyer konstatiert „Alle Menschen bleiben Kinder“.7 Das impliziert
die Aufhebung der Generationenschranke. Das „Verschwinden der Kind-
heit“, genauer der „Idee der Kindheit“, und die damit einhergehende An-
gleichung von Kindern und Erwachsenen, die Postman diagnostizierte, be-
deuteten natürlich kein frühzeitigeres Reifwerden der Kinder.8
In einer Gesellschaft, in der die sozialen Bindungen lose und unzuver-
lässig werden, in der rasche Veränderungen in der Arbeitswelt und damit
verbunden instabile und unsichere Arbeitsverhältnisse normal sind, wird
es prinzipiell unrealistisch, Lebensentwürfe verwirklichen zu wollen. Das
„wenn ich mal groß bin, will ich das und das werden. . . “ wird sinnlos. In
diesem Sinne wird es nutzlos erwachsen werden zu wollen.9 Die Einheit der
Biographie, die den Erwachsenen hervorgebracht hat, ist zerbrochen.10 Der
reife Erwachsene ist ohnehin kein gesellschaftliches Ideal mehr. Jugend-
lichkeit ist angesagt. Bly konstatiert die Tendenz, dass sich Erwachsene in
die Adoleszenz zurückentwickeln. Die infantile Gesellschaft ist eine Ge-
sellschaft, in der, so Gronemeyer, sich die Infantilen durchsetzen wie ein
Virus im Körper und ihr ihren Stempel aufdrücken. Nur leider sind infan-
til und kindlich nicht das Gleiche. Kinder sind spontan in ihren Reaktio-
nen, phantasievoll, intelligent und enorm lernfähig, affektiv und können im
Prinzip erwachsen werden. Infantile Erwachsene sind egozentrische Lust-
sucher. Sie sind leichtgläubig und gewöhnen sich daran, permanent insze-
nierte Nicht-Ereignisse vorgesetzt zu bekommen, die eigentlich keine Er-
eignisse sind. Sie neigen wie Kinder zu magischem Denken. Als Vorbilder
und Autoritäten für Kinder sind sie dementsprechend ungeeignet. Wenn
man die von den genannten Autoren charakterisierten Umstände des All-
tagslebens bedenkt – Verlust aller herkömmlichen Fixpunkte im Familien-
7
Bly, 1991, Bly, 1996 (1997), Gronemeyer, 1996
8
Postman, 1982 (1983)
9
Heinzen; Koch, 1985, „Von der Nutzlosigkeit erwachsen zu werden“
10
Gronemeyer, 1996, S. 27

139
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

und Arbeitsleben, Fragmentierung der meisten unserer alltäglichen Akti-


vitäten, Orientierungslosigkeit in einer unüberschaubar komplexen Welt,
weitgehende Chancenlosigkeit durch eine respektable Berufsbiographie ei-
ne gewisse Autonomie zu erreichen, zerfallende moralische Gewissheiten
u.a. – wird erwachsen werden im herkömmlichen Sinn ohnehin nicht mehr
möglich. „Der Erwachsene jedenfalls verschwindet“.11
„In einer kindlichen Gesellschaft ist nur schwer zu entscheiden, was
real ist.“12 Mit dieser Feststellung spricht Bly das Problem an, das
für Devereux das zentrale ist. Dieser spricht von einer „sozio-politisch-
ökonomischen Schizophrenie, die auf fehlendem Realismus und hastigen
Extrapolationen beruht“.13 Er kritisiert, man huldige geradezu einem feti-
schistischen Kult der jugendlichen Erscheinung und einem systematischen
Ansporn, wie Kinder von zehn Jahren zu denken, fühlen und handeln.14
Er kritisiert das Ideal stets cool, unpersönlich und objektiv zu sein, das ein
tiefreichendes Gefühl der Unsicherheit und der Selbstverachtung verbergen
soll. Er erwähnt auch die Entdifferenzierung der Geschlechter, sexuelle Be-
ziehungen ohne Affekte und eine Unfähigkeit zu lieben. Die „schreckliche
Infantilität in Bezug auf alles was mit dem Leben als solchem zu tun hat
und mit den umfassenderen sozialen Problemen“ sieht er auch als Folge
davon, dass die Kinder bis zum Alter, in dem sie die legale Volljährigkeit
erreichen, nur auf einen Beruf vorbereitet werden, aber nicht auf das Le-
ben.15
Devereuxs Kritik an Infantilismus und gesellschaftlichem Realitätsver-
lust bezieht sich jedoch nicht nur auf aktuelle gesellschaftliche Verhältnis-
se. Er sieht den Infantilismus tief in unserem soziokulturellen Modell ver-
wurzelt. Unsere pseudorationale Gesellschaft verlangt, dass wir uns mit der
schizophrenen Aufspaltung zwischen wissenschaftlichem Erkennen und re-
ligiöser Orientierung abnden und „dass wir das Gleichgewicht bewahren,
11
Gronemeyer, 1996, S. 26. Eine gute Beschreibung dessen, was bisher unter Erwachsen-
sein verstanden werden konnte, ndet sich bei Boutinet, 1995.
12
Bly, 1996 (1997), S. 10. Auch Lasch hat schon konstatiert, dass wir an Stelle des neu-
rotischen Charakters mit genau umrissenen Konikten Charaktere sehen, „die voller
Unsicherheit darüber sind, was denn eigentlich real ist.“ Lasch, 1979 (1986, S. 110)
13
Devereux, G., 1939 (1977, S. 233)
14
Devereux, G., 1965 (1977, S. 257ff).
15
Devereux, G., 1939 (1977, S. 228)

140
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

mit einem Fuß auf dem elektronischen Computer und mit dem anderen in
der kleinen Kirche an der Ecke, wo die Erneuerung des Glaubens gepre-
digt wird . . . oder gar zwischen den Ektoplasmen einer spiritistischen Sit-
zung.“16 In diesem mentalen Milieu wird der moderne Mensch dazu kon-
ditioniert, sich systematisch an kindliche Attitüden anzupassen und darauf
zu beharren, seine Wünsche für Realitäten zu halten.17 „Nachdem man ihn
gehörig davon überzeugt hat, dass es notwendig ist, seiner Existenz eine
Rechtfertigung zu geben, – gerade so als ob das Leben nicht schon als sol-
ches seine eigene Rechtfertigung wäre –, schärft man ihm auch noch ein,
sich bei dieser Rechtfertigung auf die zu beziehen, die ein rotes Telefon
haben, das direkt mit der ewigen Wahrheit verbunden ist, der, die gerade
Mode ist.“(a.a.O. S. 267)
Fragmentierung, Infantilisierung, Verkennung der Realität, und Entper-
sönlichung bedingen schizoide Tendenzen beim modernen Menschen. De-
vereux beschreibt, wie und auf welche Weise der moderne Mensch außer-
halb der Mauern der psychiatrischen Anstalten von der Gesellschaft schi-
zoid gemacht wird.18 Er nennt fünf Faktoren. 1) Es wird ihm eingetrichtert,
er solle immer cool, unpersönlich und objektiv sein. Aber „hinter der Mas-
ke souveräner Indifferenz verbirgt sich immer ein tiefreichendes Gefühl
der Unsicherheit und der Selbstverachtung.“ (Der Amerikaner ist gewalt-
tätig und sentimental, ja larmoyant, wenn er betrunken ist und verachtet,
wenn er nüchtern ist, den, der Gefühle zeigt.) (a.a.O. S. 260) 2) Dem se-
xuellen Leben fehlt die Affektivität. (Dafür könnte man viele Beispiele an-
führen. So z.B. die one night stands, die für viele Menschen selbstverständ-
lich sind.) 3) Zerstückelung und ein nur partielles Engagement unserer all-
täglichen Handlungen werden systematisch gefördert, soweit Engagement
überhaupt noch gefragt ist. 4) Eine Realitätsdeformierung, durch die Rea-
16
Devereux, G., 1965 (1977, S. 265). Dort auch zum Folgenden.
17
Die religiösen Lehren und Praktiken der großen christlichen Religionen und des Islam,
die in unserer Gesellschaft verbreitet sind, haben in der Tat unverkennbar infantilisie-
rende Implikationen. Daran sind wir gewöhnt. Das zeitgenössische Klima ist allerdings,
wie Lasch bemerkt, viel mehr therapeutisch und weniger religiös. Aber auch das im-
pliziert Entmündigung und Infantilisierung. Ebenso die Entmündigung durch Experten.
Gronemeyer fragt sich, warum so viele Erwachsene und gerade Manager eine „hohe
Afnität zu Esoterik und Okkultismus“ haben Gronemeyer, 1996, S. 82
18
Devereux, G., 1965 (1977b, 257 ff).

141
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

lität an ein ktives Modell angepasst wird, das ausgehend von kulturellen
oder subjektiven Bedürfnissen entworfen wurde – oder sogar ausgehend
von den Halluzinationen von unter Drogen Stehenden. Dieses Phänomen
hat allerdings für sich allein nichts Schizophrenes an sich. Es gehört all-
gemein zur menschlichen Natur. Sein einziges wirklich schizophrenes Ele-
ment, die ihm zu Grunde liegende Spaltung, wird nur verständlich im Zu-
sammenhang mit dem folgenden Tatbestand, der 5) Verwischung der Gren-
ze zwischen dem Realen und dem Imaginären. Aus historisch-kultureller
Perspektive gesehen, ist die Existenz dieser Grenze eine relativ neue Entde-
ckung. In den meisten primitiven Gesellschaften ist der Traum wesentlich
der Realität kosubstantiell. Unsere pseudorationelle Gesellschaft verwischt
diese Grenze. 6) Auch der Infantilismus ist tief in unserem sozio-kulturellen
Modell verwurzelt. Bekanntlich sieht man den Schizophrenen – und sogar
manchen Schizoiden – ihr Alter nicht an. Das geschieht höchstens nach ih-
rer Heilung, wenn eine zustande kommt. Unsere Gesellschaft huldigt aber
geradezu einem fetischistischen Kult der jugendlichen Erscheinung. Von
diesem systematischen Ansporn wie Kinder von zehn Jahren zu denken,
fühlen und handeln zur fötalen Regression des Schizophrenen ist es nur ein
Schritt.
7) Fixierung und Regression sind die Mittel durch die man zum Zustand
von Kindischkeit und Kindlichkeit und damit zu Ehren in unserer Gesell-
schaft gelangt. Wenn der moderne Mensch sich systematisch an kindliche
Attitüden anpasst und darauf beharrt, seine Wünsche für Realitäten zu hal-
ten, dann deswegen, weil er durch sein Milieu dazu konditioniert worden
ist. 8) Mit der Zerstückelung und dem Infantilismus geht auch die Ent-
persönlichung des Individuums einher. Sie wird noch dadurch verschärft,
dass man vom Individuum verlangt, dass es sich ungerührt und reserviert
und unpersönlich verhält, dass es sich zurückhält, sich an die Verhaltens-
normen des Durchschnittsbürgers anpasst etc. Wahre Identität kommt nicht
mehr zustande. Sie würde doch nur Schwierigkeiten verursachen. Stattdes-
sen schafft man sich persönliche Markenzeichen.
Die schizoiden Tendenzen in unserer Gesellschaft bedeuten eine Über-
schreitung der psychologischen Grenzen der Gesellschaft. Devereux argu-
mentiert dementsprechend radikal. Seiner Meinung nach kann nur noch
„eine grundlegende Revision der abendländischen Kultur und eine radikale

142
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

Restrukturierung unserer Gesellschaft gemäß den menschlichen Prinzipi-


en die von Vernunft und gesundem Menschenverstand inspiriert sind, die
Katastrophe verhindern“. (a.a.O. S. 274)19
Als depressive Gesellschaft könnte man die Gesellschaft bezeichnen,
die Ehrenberg darstellt. Er spricht allerdings in Anspielung auf Freuds
„Das Unbehagen in der Kultur“ nur von einem „Unbehagen in der Gesell-
schaft“.20 Eine Charakterisierung, die angesichts der gegebenen Verhältnis-
se allerdings als Untertreibung erscheint. Ehrenberg leitet die Depressionen
des modernen Subjekts vor allem davon ab, dass es aus den sozialen her-
kömmlichen Bindungen gelöst, alle Orientierungspunkte verloren hat. „Das
Individuum, das sich zuvor durch seine Zugehörigkeiten deniert hat, de-
niert sich heute durch seine Wahl.“21 Das Modell disziplinarischer Verhal-
tenssteuerung, „das autoritär und verbietend den sozialen Klassen und den
beiden Geschlechtern ihre Rolle zuwies“, ist zugunsten einer Norm auf-
gegeben worden, „die jeden zu persönlicher Initiative auffordert: ihn dazu
verpichtet, er selbst zu werden.“ Das Individuum erschöpft sich im Kampf
um die Erhaltung seines psychischen Gleichgewichts in einer Gesellschaft,
die, wie schon Lasch es formulierte, eine Unterordnung unter Regeln des
gesellschaftlichen Umgangs verlangt, sich jedoch weigert, diese Regeln in
einem moralischen Verhaltenskodex zu verankern.“22 Es soll permanent
selbstverantwortlich zwischen Möglichem und Unmöglichem unterschei-
den können. Es erlebt sich darin als unzulänglich und wird depressiv. Die
Depression ist „eine Krankheit der Verantwortlichkeit, in der ein Gefühl
der Minderwertigkeit vorherrscht.“23 Diese Herleitung von Depression er-
innert an die Depression des Verwahrlosten und an seine enormen Selbst-
wertzweifel. Auch bei ihm sind seine Depressionen nicht das Resultat von
Schuldgefühlen, sondern aggressive Abfuhren gegen sich selbst, wenn es
19
Es würde zu weit führen, hier zu diskutieren, in wieweit sich die Psychosenähe von
Verwahrlosung, die von mehreren an Aichhorn orientierten Autoren (Bernfeld, Lampl
de Groot, Schmideberg u.a.) aufgezeigt wurde, eventuell in einen Zusammenhang mit
Devereuxs Thesen bringen ließe.
20
Die wörtliche Übersetzung seines Buches wäre „Die Gesellschaft des Unbehagens“ Eh-
renberg, 2010
21
Ehrenberg, 2010, S. 230
22
Lasch, 1979 (1986, S. 28)
23
Ehrenberg, 1998 (2004, S. 4)

143
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

nicht gelingt, das Objekt, den Gegner oder Wettbewerber anzugreifen oder
zu entwerten.24
Auch der französische Psychoanalytiker Brunner charakterisiert die
postmoderne Gesellschaft als quasi verwahrlost.25 Er geht dabei auch auf
die Rolle des Staates ein. Dieser drückt sich zunehmend vor seinen sozia-
len Verpichtungen. Er ist impotent gegenüber dem Markt, der „ein Ty-
rann ohne Kopf und Verantwortung“ ist. Brunner konstatiert eine Krise der
Werte in einer barbarischen, ja anomischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft
in der die klassischen Bedeutungsträger – die Nation, die Republik, das
Gesetz, der Katholizismus, der Sozialismus, der Vater – für das Individu-
um immer weniger wichtig sind. Stattdessen geht es um das Individuum,
das Vergnügen, den Körper, um Sex, um Geld. Die Gesellschaft mit vielen
Gesetzen, aber im psychoanalytischen Sinne ohne Gesetz, ist barbarisch
geworden. Und so wie sich jede Gesellschaft nach der Barbarei zurück-
sehnt, so sehnt sich jedes Subjekt nach seiner kindlichen Barbarei zurück,
nach dem kleinen Barbaren, der es einmal war. Brunner neigt demzufol-
ge dazu, unsere Gesellschaft als perverse Gesellschaft zu charakterisieren.
„Die perverse Gesellschaft wäre diese ultra-liberale, libertine und permissi-
ve Gesellschaft, die das Subjekt, von einem nachsichtigen Über-Ich beauf-
sichtigt, seinen Trieben überlässt. Die perverse Gesellschaft gründet auf in-
fantilisierten Massen, auf einem egoistischen und genießerischen Subjekt,
das nur mit Mühe Frustration erträgt und einen sofortigen Genuss, hier und
jetzt, verlangt.“26
Von perverser Gesellschaft zu sprechen, ist aber nicht haltbar, wenn
man den Terminus pervers im engeren psychoanalytischen Sinne ge-
braucht. Als solcher ist er eng mit dem Begriff sexueller Abweichungen
verbunden. Dieser spielt in der neueren psychoanalytischen Neurosenlehre
keine wesentliche Rolle mehr. Eine Gesellschaft als ganze als abweichend
zu charakterisieren, impliziert ohnehin die eingangs erwähnten Schwierig-
keiten, eine Gesellschaft als krank zu bezeichnen. Brunner gibt diesbezüg-
lich anders als Devereux keine Kriterien an.

24
Spanudis, 1954, S. 48
25
Brunner, R, 1998
26
Brunner, J, 1995, S. 110

144
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

Bei Brunner ndet sich ein Gesichtspunkt, der sonst wenig berücksich-
tigt wird. Er macht darauf aufmerksam, dass narzisstische Selbstbehaup-
tung normalerweise scheitert, wenn Individuen sozial scheitern. Arbeitslo-
sigkeit, vor allem Langzeitarbeitslosigkeit, Abstieg in Armut, chronisches
Kranksein, wiederholtes Scheitern u.a. bedeuten gesellschaftlichen Aus-
schluss in der Gesellschaft, in der Solidarität selten wird.27 Soweit „Nar-
zissmus eine Ethik des psychischen Überlebens in einer Welt ist, in der von
den anderen nichts erwartet werden kann“, lässt er sich unter diesen Um-
ständen nicht durchhalten.28 Es kommt zu einer „Entnarzissierung“, zu ei-
ner narzisstischen Katastrophe. Die Selbstwahrnehmung als Gescheitertem,
als Verlierer, als Sozialfall, als Ausgeschlossenem, die Selbstzweifel, ob
man nicht auch selbst an seinem Scheitern Schuld ist, ruinieren das Selbst-
wertgefühl. Gefühle des Überüssigseins, der Entmutigung und der Ver-
zweiung dominieren. Das Ausgeschlossensein wird durch sozialen Rück-
zug verstärkt. Die gegebene Situation wird als sinnloses Schicksal gesehen,
demgegenüber man sich nur passiv verhalten kann. Depressionen, Selbst-
zerstörung durch Alkohol- und Drogenmissbrauch und sogar Selbstmord,
sind naheliegende Reaktionen. Verwahrlosungstendenzen können demnach
sowohl die Folge von gesteigertem Narzissmus sein, als auch von seinem
völligen Scheitern. Das ist von umso größerer Bedeutung, als die soziale
Schere in unserer Gesellschaft sich zunehmend öffnet und den einen Über-
uss und narzisstische Gratikationen bietet, den anderen Verarmung und
Marginalisierung.
Die Frage, in wieweit narzisstische Selbstbehauptung überhaupt durch-
gehalten werden kann, stellt sich allerdings heute noch in viel umfassen-
derer Weise. Die Folgen eines neoliberalistisch ungehemmten kapitalisti-
schen Wachstums sind eine weltweite ökonomische und eine ökologische
Krise. Die enormen Summen, die eingesetzt werden, um den Bewegungen
an den deregulierten Finanzmärkten und ihren Auswirkungen gegenzusteu-
ern, werden aus Steuermitteln bestritten. Für sozialstaatliche Aufgaben ist
nie genug Geld da. Auch der Umweltschutz wird unzulänglich betrieben.
27
Einer Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Koniktforschung zufolge
hat die Mehrheit der Deutschen abwertende bis feindselige Einstellungen zu Langzeit-
arbeitslosen. FR Online 14.12.2007
28
Zit Richards, 1984, S. 135. Zum Folgenden siehe Brunner, R., 1998, S. 78 ff.

145
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie

Unter den gegebenen Umständen ist klar, „dass sich die westliche Welt
keine Kultur des Narzissmus mehr leisten kann und das ist nicht als morali-
sche Ermahnung, sondern als Tatsachenfeststellung gemeint.“29 Unter den
Voraussetzungen sich verschlechternder sozialer Verhältnisse und sich ver-
schärfender sozialer Diskrepanzen, ist unten und oben in der Gesellschaft
mit zunehmenden, schichtspezisch unterschiedlichen Verwahrlosungser-
scheinungen zu rechnen.
Die referierten sozialpsychologischen Diagnosen enthalten offensicht-
lich jeweils in Teilen wesentliche Elemente, die in den hier dargestellten
Zusammenhang gebracht, die Annahme einer aktuellen erheblichen Ten-
denz gesellschaftlicher Verwahrlosung stützen.

29
Lasch, 1979b, S. 200. Er nennt diesen Aspekt im englischen Titel seines Buches Lasch,
1979a

146
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung
in Sozialisationsprozessen
Familie und Erziehung aktuell
Es liegt auf der Hand, dass die Verhältnisse in Familien in der „Kultur des
Narzissmus“ den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder in mancher Hin-
sicht nicht förderlich sind.1 Das gilt zunächst für die größere Instabilität der
Ehen und der Familienverhältnisse. Sie ist unter anderem eine Folge von be-
ruichen Mobilitätsanforderungen und anderen spezischen Belastungen,
wie sie sich durch das zunehmende Verschwinden des Normalarbeitsver-
hältnisses, des Normalarbeitstages, durch exible und lange Arbeitszeiten,
Termindruck und andere Flexibilitätsforderungen ergeben. Aus dem Arbei-
ter wird ein „Zeitarbeiter“, „der keinen Beruf hat, sondern Kompetenzen“.2
Auch in stabilen Familien ist es sehr schwierig, dauerhafte und stabile inti-
me Familienbeziehungen zu schaffen. Die in ihrem sozialen Status und als
Erzieher verunsicherten Eltern werden durch widersprüchliche Ratschläge
von Experten verwirrt und durch Lifestyle Klischees der Konsumangebote
verhöhnt.3 Mal wird ihnen geraten, ihre Kinder nicht allzu sehr zu fordern,
sie Kind sein zu lassen. Mal wird ihnen geraten, ihre Kinder durch ein
strenges, anspruchsvolles Regime für den gesellschaftlichen Konkurrenz-
kampf t zu machen. Manche gestalten und überwachen als „Helikopter“-
oder „Curling“- Eltern permanent den Alltag ihrer Kinder, um jeder Art von
1
Ich muss mich hier auf Stichwörter beschränken. Eine eingehende Berücksichtigung
der heutigen familialen Sozialisationsbedingungen würde eine eigene Abhandlung nötig
machen.
2
Unsichtbares Komitee, 2009 (2010). Vergl. dazu die geplanten Veränderungen der Ar-
beitsverhältnisse bei IBM, die DER SPIEGEL als „Blaupause für die Arbeitswelt von
morgen“ bezeichnet. DER SPIEGEL 6 / 2012. Berufsarbeit verliert auf diese Weise die
psychologische Bedeutung, die ihr Freud zuschreibt. Die Bindung an Realität durch die
„mit ihr verknüpften menschlichen Beziehungen“ und die Möglichkeit auf sie aggres-
sive, narzisstische und selbst erotische libidinöse Komponenten zu verschieben. Freud,
S., 1930, S. 438
3
Richards, 1984. Dazu auch Kovel, 1980

147
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Schwierigkeiten vorbeugen zu können.4 Andere wiederum entgehen perma-


nenten Konikten mit ihren Kindern, indem sie eine laissez-faire Attitüde
einnehmen und ihren Kindern Freiheiten genehmigen, ohne ihnen Verant-
wortung zuzumuten. Verantwortung aber war einmal ein wichtiges Krite-
rium von Erwachsensein. Die Unfähigkeit den Kindern Grenzen zu setzen
und Wertorientierungen überzeugend vorzuleben, sind weitere Folgen der
genannten elterlichen psychischen Dispositionen. Ohnehin hat das gesell-
schaftlich dominierende therapeutische Denken den Sinn für moralische
Verantwortung der Menschen geschwächt. Man scheut Verantwortung und
schiebt sie Experten, Erziehern, Lehrern und Therapeuten zu. Staatlicher
Einuss, der schon früh institutionell wirksam wird und auch familiales
Privatleben durchdringt, sowie medienvermittelte Vorbilder komplizieren
die Eltern-Kinder Beziehungen zusätzlich.
Die narzisstische Rationalisierung des Gefühlslebens, die Schwierig-
keit tiefere und beständige Beziehungen einzugehen, problematisieren die
Eltern-Kind Beziehungen. Geringe Wärme der Beziehung zum Kind, bzw.
geringe affektive Erreichbarkeit für das Kind, sind selbstverständliche Ge-
gebenheiten, wenn von narzisstisch gestörten Eltern die Rede ist. Sie ma-
chen es den Kindern immer schwerer, „stabile psychologische Identikatio-
nen mit ihren Eltern auszubilden.5 Wichtig wäre es diesbezüglich z.B. zu
wissen, wie kleine Kinder es erleben, wenn ihre Mutter permanent mit dem
Handy am Ohr neben ihnen anwesend abwesend ist. Narzisstische Eltern
wollen aber auch perfekte Kinder und eine Familie, die sich sehen lässt.
Die Orientierung an Ratschlägen von Experten, die ihnen sagen sollen, wie
sie ihre Kinder richtig lieben, ergibt eine „Kombination von emotionaler
Distanzierung und Versuchen, ein Kind von seiner Vorzugsstellung in der
Familie zu überzeugen“, die Lasch für „ein gutes Rezept für die Entwick-
lung einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur“ hält.6 Narzisstische El-
tern neigen auch dazu, ihre Kinder zu Narzissten zu erziehen, indem sie
sie als Erweiterung ihrer selbst sehen oder in sie ihre eigenen Größenphan-

4
Gemeint sind damit Eltern, die permanent um ihre Kinder schwirren und sie durch Über-
behütung realitätsunfähig machen bzw. Eltern, die wie beim Eisstockschießen alle Hin-
dernisse vor ihrem Kind aus dem Weg räumen. Siehe „DER SPIEGEL Nr. 33. 2013.
5
Lasch, 1979 (1986, S. 193)
6
Lasch, 1979 (1986, S. 69)

148
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

tasien projizieren und so tun als seien ihre Kinder quasi Prinzessinnen und
Prinzen, deren Wünsche unbedingt erfüllt werden müssen.7 Sie überschüt-
ten sie mit Bekundungen ihrer Aufmerksamkeit. Verbote und Grenzen kann
man ihnen nicht zumuten. Ein Resultat dieser bereits erwähnten Variante
von Realitätsentzug sind, wie ein Buchtitel formuliert, „Tyrannen in Turn-
schuhen“.8

Besondere Wirkungen des Mediums Fernsehen


In den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen muss man neue Faktoren
berücksichtigen, die psychische Verwahrlosung verursachen, die zu Zei-
ten von Aichhorn und seinen Schülern noch keine Rolle spielten. Das gilt
vor allem für den Einuss der Medien auf die Sozialisationsprozesse.9 Der
Fernsehapparat ist schon seit Jahren eine Art Familienmitglied und Baby-
sitter. Das hat Folgen für die Erwachsenen und die Kinder. Die Flut von Bil-
dern und Informationen, die er ins Haus liefert, erleichtern nicht unbedingt
die Orientierung im Alltag. Vor allem deswegen nicht, weil das Fernsehen
nicht in der Lage ist, Realität abzubilden. Allenfalls Teilaspekte davon.10
Wie Adorno es formulierte, wird im Fernsehen „die Grenze zwischen Rea-
lität und Gebilde fürs Bewusstsein herabgemildert“.11
Christopher Lasch hat auf einen weiteren, sehr wichtigen Sachverhalt
hingewiesen, der die Frage, ob man von den Medien Wahres oder Falsches
vermittelt bekommt, wesentlich relativiert. Die Kategorien von Wahrheit
und Unwahrheit sind für die Beurteilung des Einusses der Medien be-
langlos. „Wahrheit hat der Glaubwürdigkeit weichen müssen; Fakten sind
7
Diesen Aspekt betonen sehr stark Twenge; Campbell, 2009. Ihr ganzes Buch ist diesem
Thema gewidmet.
8
So der Titel von Weikert, 1994. Dazu gibt es weitere Titel, in denen kleine Kinder Ty-
rannen genannt werden. So z.B. Winterhoff, 2008, der die Bezeichnung noch in anderen
Publikationstiteln untergebracht hat.
9
Ich kann davon hier nur das berücksichtigen, was mir für mein Thema Verwahrlosung
von Bedeutung zu sein scheint.
10
Siehe dazu den Vortrag über den „Realitätsverlust des Fernsehens und seiner Kriti-
ker“, den Dagobert Lindlau, der Chefreporter des Bayrischen Rundfunks, anlässlich
der Mainzer Tage der Fernsehkritik, im November 1984 gehalten hat. FR 17.11. 1984
11
Adorno, Theodor W., 1953 (1964, S. 73)

149
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

ersetzt worden durch Behauptungen, die autoritativ klingen, ohne irgendei-


ne gültige Information zu vermitteln.“12 Der Unterschied zwischen Wahr-
heit und Lüge wird in „einem Nebel von Wahrscheinlichkeit“ verwischt. In-
szenierte Scheinereignisse und Scheininformationen verdichten den Nebel
zusätzlich. Sie werden so konzipiert, dass sie glaubwürdig wirken. Realität
wird, was geglaubt wird.
Eine weitere Wirkung ist, dass die Bildersprache des Mediums Fern-
sehen die Menschen der Sprache entwöhnt. Was da auf dem Bildschirm
geredet wird, „ist bloßes Anhängsel an die Bilder, nicht Ausdruck einer In-
tention, eines Geistigen, sondern Verdeutlichung der Gesten, Kommentar
der Weisungen, die vom Bild ausgehen.“13 Das Fernsehen ist deswegen so
mächtig, weil der Zuschauer sich nicht permanent bewusst ist, dass das,
was gezeigt wird, die Realität zu sein scheint und nicht ein Bild davon.14
Ein weiteres prinzipielles Problem des Bildmediums wird von Lempp
durch ein Goethezitat belegt:

„Dummes Zeug kann man viel reden,


Kann es auch schreiben,
Wird weder Leib noch Seele töten,
Es wird alles beim Alten bleiben.
Dummes aber vors Auge gestellt
Hat ein magisches Recht;
Weil es die Sinne gefesselt hält,
Bleibt der Geist ein Knecht“15

Frühkindlicher Fernsehkonsum
Zu der Frage, ob Fernsehkonsum für kleine Kinder schädlich ist, gibt es
zahlreiche Veröffentlichungen. Psychoanalytische Untersuchungen sind al-
lerdings selten. Letzteres gilt besonders für die Frage der psychologischen
12
Lasch, 1979 (1986, S. 94)
13
Adorno, Th. W., 1964, S. 73 ff.
14
Lazar, 1985, S. 158
15
Goethe, 1995, „Zahme Xenien“ I.3, S. 256. Zitiert in Lempp, 1996, S. 121

150
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Folgen des Umgangs mit Videospielen, Computern, dem Internet und virtu-
ellen Realitäten. Wenn Kinder fernsehen, ist von vornherein problematisch,
dass sie dabei körperlich völlig stillgestellt sind. Ihre Aufmerksamkeit ist
völlig absorbiert, wird aber an Stelle einer Konzentration auf bestimmte
Wahrnehmungen auf ständig wechselnde Reize gelenkt. Das lässt sich unter
anderem durch Tricks wie rasche Bildfolgen, Ton- und Farbeffekte und be-
stimmte Bildeinstellungen erreichen. Die Konzentrationsfähigkeit der Kin-
der nimmt ab. Sie spielen nicht und handeln nicht. Es handelt sich um eine
oral-passive Befriedigung durch eine Flut von Bildern, die gar nicht ver-
arbeitet werden können. Das Fernsehen überschwemmt das frühkindliche
bzw. kindliche Gehirn genau zu der Zeit mit Bildern, in der es lernen soll-
te, Bilder aus sich selbst zu erzeugen.16 Ob die Fernsehbilder Realität oder
Fiktion abbilden, können Kinder noch schwerer als Erwachsene beurteilen,
weil sie noch bis in die Zeit der ödipalen Konikte Phantasie und Realität
nicht klar unterscheiden können.
Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass es Eltern gibt, die ih-
re Kinder schon im Alter von wenigen Monaten mit Fernsehsendungen für
Babys traktieren. Seit etwas mehr als 10 Jahren gibt es das Angebot „Ba-
by TV“ eines privaten Senders, der bisher in 35 Ländern in 12 Sprachen
Fernsehen für Babys ab vier bis sechs Monaten anbietet und 120 Millionen
Haushalte erreicht. Eltern wird das Programm als Entwicklungsförderung
für ihre Babys empfohlen. Mit deren Besorgnissen, die Entwicklung ihrer
Kinder optimal zu fördern, lassen sich offensichtlich gute Geschäfte ma-
chen. Sie haben bereits einen Umfang von 500 Millionen Dollar.17 Damit
verbunden ist auch, dass versucht wird, schon Kleinkinder zu Konsumen-
ten zu machen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die Kinder Objekte
haben möchten, die sie von den Sendungen her kennen. In der Werbung
heißt es aber: „Baby TV bietet eine der größten Sammlungen an hochqua-
litativen, originalen Fernsehserien, die mit der Hilfe von Fachleuten in den
Bereichen Kinderpsychologie und Babyentwicklung besonders für Babys

16
Sanders, 1995, S. 63
17
Siehe dazu den SPIEGEL ONLINE Artikel von Christian Buß vom 04.02.2011, der
sich auf eine Fernsehsendung von Arte bezieht. Was das Alter der Babys betrifft, legen
sich die Anbieter nicht fest. Zum Folgenden auch die deutsche „Baby TV“ Startseite
(http://babytv-channel.de/)

151
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

und Kleinkinder in den frühen Lebensjahren erstellt wurden. Unsere ein-


zigartige Sammlung ist in neun Themenbereiche aufgeteilt, die das gesam-
te Spektrum an Lernfertigkeiten und Meilensteinen in der Entwicklung von
Kleinkindern ansprechen.“ Dazu gehören unter anderem Lernprogramme,
Ratespiele, Lieder und Reime, Einschlafhilfen u.a.
Offensichtlich gibt es tatsächlich Eltern, die glauben, mit einem solchen
Programm würden sie ihrem Kind etwas Gutes tun. Dies zu glauben ist al-
lerdings attraktiv, angesichts des Zeitaufwands der nötig ist, für ein kleines
Kind rund um die Uhr zu sorgen. Ein wesentlicher Vorteil von „Baby TV“
für die Eltern liegt darin, dass ihr Kind auch ohne ihr Zutun beschäftigt ist
und dass sie sich nichts einfallen lassen müssen, wie sie mit ihrem Kind
umgehen. In der Werbung heißt es: „Tagesprogramme fesseln und unter-
halten, während Nachtprogramme dabei helfen, Ihr Baby zu beruhigen und
auf den Schlaf einzustimmen.“
Warnungen, dass „Baby TV“ Kindern erheblich schaden kann, sind
schon von Fachleuten verschiedener Art geäußert worden. Ganz drastisch
drückt sich der „Hirnforscher“ und Leiter der Psychiatrischen Universitäts-
klinik in Ulm, Manfred Spitzer, aus. Er verurteilt es als „kriminell“, Kin-
dern Baby TV und -DVDs vorzusetzen. Diese seien „für die Sprachent-
wicklung doppelt so schlecht, wie tägliches Vorlesen gut sei, beteuert Spit-
zer unter Berufung auf eine amerikanische Studie mit 1000 Babys zwischen
acht und 16 Monaten.“18
Wie unsinnig und schädlich aus psychoanalytischer Sicht Fernsehen
für Kinder unter drei Jahren ist, hat vor allem der französische Psycho-
analytiker Serge Tisseron eingehend dargelegt.19 Vor dem sechsten Mo-

18
Zitiert in FOCUS Online vom 30.03.2009. Dort auch zum Folgenden. In dem Artikel
ndet sich ein Link zu einem anderen Artikel über die genannte amerikanische Studie.
Siehe auch die Kritik der Leiterin des Staatsinstitutes für Frühpädagogik in München,
Fabienne Becker-Stoll. n-tv online 19.01.2009. Der Schaden von kindgemäßen DVDs
lässt sich allerdings ab einem bestimmten Alter weitgehend vermeiden, wenn man sie
mit dem Kind wiederholt gemeinsam betrachtet und mit ihm darüber redet. Tisseron,
2008a. S. 24
19
Soweit ich keine andere Angabe mache, ist das Folgende eine Zusammenfassung von
Tisseron, 2008a. Ich mache der Lesbarkeit meines Textes wegen hier nur wenige Sei-
tenangaben, zumal es sich bei dem Text um eine schmale Broschüre handelt. Siehe dazu
auch die anderen Veröffentlichungen Tisserands in den bibliographischen Angaben.

152
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

nat können Babys jeweils nur ganz kurz ihren Blick auf einen Bildschirm
konzentrieren. Nach einigen Minuten geben sie fast immer Zeichen von
Müdigkeit von sich, weinen, reagieren irritiert oder gähnen. Erst ab dem
sechsten Monat erwerben Kinder die Fähigkeit ungefähr eine Viertelstun-
de lang die Bilder zu betrachten. Vorausgesetzt, dass man sie direkt vor
einen Fernseher setzt und dass sie sonst nichts Interessantes zu tun haben.
Wenn man ein Kind in diesem Alter vor den Bildschirm setzt, wird es auf
nicht mehr als 10% dessen achten, was es sieht. Vor dem neunten Monat
ist das Kind an der leuchtenden Oberäche des Bildschirms interessiert,
versteht aber nicht, was da vor sich geht. Es ist fasziniert von den raschen
Bewegungen der Personen, den Veränderungen in den Bildern, der Unvor-
hersehbarkeit von Szenen, der Intensität von Toneffekten, merkwürdigen
oder nicht menschlichen Stimmen etc. Deshalb mögen Kinder besonders
Zeichentricklme, die ihren Erwartungen entsprechen.
Später fangen sie an, den inhaltlichen Zusammenhang einer Erzählung
zu verstehen. Vom Fernsehgeschehen nehmen sie aber bis zu zweieinhalb
Jahren nur eine Folge von bunten Formen und Personen wahr. Bis dahin
spielen inhaltliche Unterschiede zwischen Programmen keine Rolle, weil
sie erst dann inhaltliche Zusammenhänge verstehen können. Ein Kind vor
dem 18. bis 24. Monat vor den Fernsehapparat zu setzen, nützt nichts, son-
dern schadet ihm. Und seien die Sendungen auch noch so kindgerecht von
„Fachleuten“ konzipiert. Die Gründe dafür liegen darin, dass bei ganz klei-
nen Kindern die geistige Tätigkeit permanent unter Beteiligung des Bewe-
gungsapparates erfolgt, insbesondere der Möglichkeit, mit den Objekten
ihrer Wahrnehmung hantieren zu können. Ihre Intelligenz ist, wie schon
Piaget und Wallon nachgewiesen haben, sensormotorisch. Der Blick, das
Gehör, die Berührung, der Geruchssinn sind zugleich beteiligt.
Die beste Interaktion mit dem Kind ist die von Angesicht zu Angesicht,
das mit dem Kind Sprechen, sich mimisch und gestisch mit ihm verständi-
gen. Es sind Verständigungsinteraktionen, in denen das Kind dem mentalen
Zustand seines Gegenübers nahe zu kommen versucht. Diese spielerischen
Auseinandersetzungen sind der Schmelztiegel, in dem das Kind sein Ein-
fühlungsvermögen erwirbt. Das Fernsehen ist dagegen wie eine übererre-
gende Mutter, die absolut unsensibel ist, in Bezug auf die Reaktionen des

153
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Kindes.20 Seite an Seite Interaktionen sind mit Kindern unter zweieinhalb


Jahren auch nützlich. Voraussetzung ist, dass das Kind reichlich die Mög-
lichkeit zur Nachahmung hat. Dabei muss es zwei Momente geben. Den,
in dem das Kind den Erwachsenen handeln sieht. Und anschließend den, in
dem das Kind ihn nachzuahmen versucht. Eben diese Zeit lässt das Fernse-
hen dem Kind nicht.
Wie das Kind mit Audiovisuellem konfrontiert wird, ist folgenreich für
das Bild, das es sich von sich und seiner Familie macht, für seinen Spra-
cherwerb und für seine inneren Verhaltensmodelle, die seine Beziehungen
zur Welt bestimmen. Ab ungefähr zweieinhalb Jahren fangen Kinder an,
die Inhalte dessen was sie sehen, zu erkennen. Ab diesem Alter können sie
eine Lieblingssendung haben. So werden sie im Laufe des ca. dritten bis
zum fünften Lebensjahr Fernsehzuschauer im engeren Sinne. Aber auch
dann versteht ein Kind den inhaltlichen Zusammenhang einer Abfolge von
Bildern kaum. Es ist deswegen wichtig, dass es nicht vor dem Fernseher
allein gelassen wird. Ein Erwachsener muss die Bilder kommentieren und
dabei immer die Handlungen und ihre Abfolge hervorheben.
Kinder können aber selbst dann noch leicht durch die Gewalt der Bil-
der erschreckt werden. Sie beruht weniger auf dem eventuell gewalttätigen
Inhalt mancher Bilder, sondern auf ihrer Form: die visuellen Brüche, die
musikalische Unterlegung, die Stereotypen, die dauernd identische Verhal-
tensweisen aneinanderreihen. Das Kind, das durch Bilder schockiert wird,
möchte sich davon persönliche Vorstellungen machen, um die Spannun-
gen abzubauen, die es empndet. „Dafür stehen ihm drei sich ergänzende
Mittel zur Verfügung: die Sprache, Zeichnungen und Spiele mit seinen Ge-
schwistern und Kameraden.“21 Soweit aber die Bilder nicht auf diese Weise
verarbeitet werden können, hinterlassen sie Spuren. Fernsehen kann das
Kind zugleich erregen und beruhigen „nach einem Rhythmus, den es dem
Kind aufzwingt und mit einer Intensität, die viel größer ist als die üblichen
Stimulierungen des Alltagslebens. Auf diese Weise mutet das Fernsehen
dem Kind ein technologisches Äquivalent der pathogenen, überstimulieren-
den und aufdringlichen Beziehung zu, das der Psychoanalytiker Paul Clau-

20
Tisseron, 2010, S. 131
21
Tisseron, 2008a, S. 28

154
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

de Racamier als „primäre mütterliche Verführung“ bezeichnet hat.“(a.a.O.


S. 29)
Das Kind vor dem Fernsehapparat bekommt keine ihm angemessene
Reaktion. Wenn z.B. ein Erwachsener einem Kind zulächelt, wird das Kind
zurücklächeln. Das wiederum kann der Erwachsene mit einem verstärkten
Lächeln beantworten usw. Wenn das Kind auf dem Bildschirm ein Gesicht
sieht, das ihm zulächelt und es zurücklächelt, bekommt es keine Reaktion.
Die Interaktion bricht ab. Schlimmer noch, es folgen gleich andere Bilder
und Szenen auf dem Bildschirm. Die sensorische und emotionelle Situati-
on des gemeinsamen Lächelns wird abgebrochen. Das Kleinkind bendet
sich in einer Situation des mit jemand sein und zugleich nicht sein und es
verinnerlicht dauernd solche abgewürgten „Echosituationen“. Indem es be-
wegungslos an den Bildschirm gefesselt ist, lernt es Unbeständigkeit. Es
wird daran gewöhnt, seine Aufmerksamkeit nur jeweils kurz auf etwas zu
konzentrieren.22 Und die Eltern, die das Kind bewegungslos vor dem Bild-
schirm sehen, schließen daraus, dass das Fernsehen das Kind beruhigt. Tat-
sächlich jedoch ist es viel mehr hypnotisiert von der raschen Abfolge von
Formen und Farben, begleitet von seltsamen Rhythmen und Tönen. „Was
die Eltern für eine Fernsehamme halten, ist eine Fernsehmeduse. Es ist so-
mit keineswegs erstaunlich, wenn das Kind, sobald der Apparat abgeschal-
tet wird, nervöser ist als zuvor.“(a.a.O. S. 46)
Schädlich ist Fernsehen für das kleine Kind also auch unabhängig von
den Inhalten der Sendungen. Dies gilt in besonderem Maße für seinen Spra-
cherwerb. Es gibt eine Reihe von Untersuchungen, die belegen, dass bei
kleinen Kindern Fernsehen den Spracherwerb behindert.23 Das ist verständ-
lich, wenn man bedenkt, dass das Kind normalerweise unter Beteiligung al-
ler seiner Sinne mit der Welt interagiert. Das Sprechen lernen erfolgt in Si-
tuationen, in denen die Mutter und andere wichtige Bezugspersonen die In-
teraktion und dazugehörige Objekte benennen. Blick, Körperausdruck und
Intonation spielen eine Rolle. Die Worte, die das Kind sprechen lernt, sind
in bestimmten Szenen mit affektiven Bedeutungen verschmolzen. Das wird
auch verstärkt durch Wiederholungen, wie sie sich z.B. beim Vorsingen
22
Bei Türcke wird das zum Merkmal unserer Kultur überhaupt. Türcke, 2012
23
Siehe dazu die Angaben in Tisseron, 2008a. Dazu auch die Äußerungen von Spitzer und
Becker-Stoll.

155
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

immer wieder der gleichen Lieder und bei wiederholtem Vorlesen ergeben.
Beim Fernsehen dagegen wird selbst bei Wiederholungen, wie sie in Kin-
dersendungen vorgenommen werden, Sprache stark von Bildern überlagert.
Vor dem Fernseher verstummt das Kind. „Das Kind wird auf ein Reali-
tätskonzept verpichtet, das sich aus den Simulationen auf einer immern-
den Mattscheibe speist. In dieser Realität sind die Subjekte von Emotionen
nicht lebende Menschen, sondern die Abbilder lebender Menschen.(. . . )24
Was das Kind, körperlich stillgestellt, affektiv erlebt, wird nicht mit Worten
verschmolzen. Der Spracherwerb ist jedoch fundamental wichtig.
Anny Katan ist bei der Arbeit mit drei- bis fünfjährigen Kindern be-
züglich des Spracherwerbs zu drei Ergebnissen gekommen: „1)Die Ver-
balisierung von Wahrnehmungen der Außenwelt geht der von Gefühlen
voraus. 2)Verbalisierung führt zu einer Stärkung der Kontrollfunktion des
Ich über Affekte und Triebe. 3)Verbalisierung fördert die Möglichkeit des
Ichs zwischen Wünschen und Phantasien einerseits und Realität anderer-
seits zu unterscheiden. Kurzum, Verbalisierung führt zu einem Integrati-
onsprozess, der seinerseits zu Realitätsprüfung führt und damit hilft, den
Sekundärprozess zu etablieren.“25 Wenn Kinder jedoch nicht lernen, Af-
fekte und sensorische Impulse sprachlich auszudrücken, agieren sie kör-
perlich. Die heutzutage häuge Verhaltensauffälligkeit der Zappelphilipp-
kinder, Aufmerksamkeitsdezit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) genannt,
ist sehr wahrscheinlich in vielen Fällen eine Variante von Verwahrlosung.26

24
Sanders, 1995 (1995)
25
Katan, A., 1961
26
In dem oben dargelegten Sinne, in dem Spanudis auch bestimmte psychosomatische
Symptome als Folgen von Verwahrlosung versteht. Die Psychoanalytikerin und AD-
HS Expertin Leuzinger-Bohleber spricht von „Traumatisierungen oder Frühverwahr-
losung.“ Leuzinger-Bohleber, 2009. Dazu auch der Artikel „Eine Krankheit. Keine
Krankheit“ in: „DIE ZEIT“ vom 10.08.2006. Darin wird Leuzinger-Bohleber zitiert. Sie
nennt da außerdem als mögliche Gründe von ADHS: eine besondere Begabung, Trau-
er, kulturelle Verschiedenheiten und vieles mehr. Eine Diskussion der einschlägigen
wissenschaftlichen Literatur, die für diese mögliche Genese von Verwahrlosung durch
frühzeitigen Medienkonsum von Bedeutung ist, ist hier allein schon aus Platzgründen
nicht möglich. Einer solchen psychoanalytisch-psychodynamischen Einschätzung ste-
hen Auffassungen mit naturwissenschaftlich-biologischer Orientierung gegenüber. Da-
zu und zur Geschichte der Auseinandersetzung mit motorischer Unruhe bzw. ADHS
siehe Delion, 2010

156
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Auch in dem für Verwahrlosung typischen Sinn einer Folge von Vernach-
lässigung. Die Kinder werden dann mit Psychotherapie oder Medikamenten
oder mit beidem behandelt.
Max Horkheimer hat schon zu einer Zeit, in der Kinder noch nicht
stumm in die „Glotze“ starrten, festgestellt, dass, indem „die Industriege-
sellschaft auf eine Stufe übergeht, in der das Kind unmittelbar mit den kol-
lektiven Kräften konfrontiert wird“, „das Gespräch und folglich das Denken
in seinem psychologischen Haushalt eine immer geringere Rolle“ spielt.
„Damit zerfällt das Gewissen oder das Über-Ich.“27 Der Literaturwissen-
schaftler Barry Sanders hat in diesem Sinne besonders nachdrücklich dar-
auf hingewiesen, wie fundamental wichtig es ist, dass das Kind zuerst die
orale Dimension voll erleben kann. Dazu gehören das Üben im Reden und
Geschichten erzählen und die Freude am Spiel mit der Sprache. „Ohne eine
stabile Verbindung zu einer Mutter kann vielleicht niemand einen spieleri-
schen und das heißt zugleich einen vollständig in das eigene Fleisch und
Blut übergegangenen Sinn für das Lesen und Schreiben entwickeln.“ „Oh-
ne Mutter um sich herum, bleibt dem Kleinkind die volle Erfahrung der
Oralität vorenthalten, so dass es später in die Welt der Literalität mit ei-
nem Handicap eintritt.“ Es sollte deswegen auch nicht zu früh Lesen und
Schreiben lernen, d.h. nicht bevor es gelernt hat, sich selbst auszudrücken.28
Zwischen Oralität und Literalität besteht ein enger Zusammenhang.
Erstere ist die Grundlage für letztere. Die Alphabetisierung zwingt das Kind
gewissermaßen, sich zu verdoppeln. Das Alphabet schied die Rede, in dem
sie sie in ein Kunstgebilde verwandelte, für alle Zeit vom Sprecher und
schuf dabei „ein eigengesetzliches Etwas namens Sprache, das untersucht,
analysiert und diskutiert werden konnte.“29 „Die Literalität erzwingt das
Auseinandertreten von Wissendem und Gewusstem.“ Damit wird reexi-
ves kritisches Denken möglich. Indem ein Individuum Lesen und Schrei-
ben lernt, schafft es sich einen neuen Raum – „einen Seelenraum“, der in
die Außenwelt projiziert wird.(a.a.O. S. 102) Kinder, bei denen der Wech-
sel in die Literalität nicht zustande kommt, verfügen nicht über die Fer-
tigkeiten, die es ihnen ermöglichen, in kontemplativer Einstellung Distanz
27
Horkheimer, 1946, S. 213f.
28
Sanders, 1995 (1995), S. 130. S. 318
29
Sanders, 1995 (1995), S. 94 f. Dort auch das Folgende

157
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

zu Ereignissen herzustellen. Sie sind unfähig, „ihre eigenes Tun von außen
zu betrachten.“ Dementsprechend verstehen sie sich selbst nicht und ihr
Einfühlungsvermögen in andere ist verkümmert. „Sie werden vom Schwall
der Ereignisse, der sie täglich überspült, mal hierhin, mal dorthin gewor-
fen“.(a.a.O. S. 97) Ihr Gefühls- und Seelenleben verödet. In der Schule
scheitern sie. Und da „persönliche Schuld und Gewissen und das Selbst
nur unter den Bedingungen der Schriftkultur möglich sind“, „müssen wir
uns an den Gedanken einer Nation gewöhnen, die von minderjährigen Psy-
chopathen bevölkert ist.“(a.a.O. S. 165)
Bei den genannten Mechanismen, durch die Verwahrlosung gefördert
wird, sind die Sinnzusammenhänge, mit denen Kinder als Fernsehkonsu-
menten konfrontiert werden, freilich auch nicht ohne Bedeutung. Folgen-
reich ist besonders, wenn Kinder von dem Gesehenen erschreckt und über-
wältigt werden, weil sie die Sinnzusammenhänge nicht verstehen können.
Bei einem Kleinkind kann das bedeuten, dass man ihm z.B. erklären muss,
dass der gezeigte Löwe sein Maul nicht aufreißt, weil er jemand fressen
will, sondern weil er gähnt. Rasche Bilderfolgen erschweren das Verständ-
nis auch größerer Kinder. Den wesentlichen Inhalt eines komplizierten Bil-
des können Kinder erst in einem Alter von ca. 8 Jahren erfassen. Für ein
volles Verständnis einer Fernsehsendung, muss ein Kind mindestens drei
kognitive Fähigkeiten beherrschen: „Es muss die Segmentierung des Er-
eignisablaufes in einzelne Einstellungen verstehen, es muss sich auf die
wesentlichen Aspekte konzentrieren und es muss nicht explizit ausgeführte
Handlungsteile rekonstruieren können.“30 „Auch das Erschließen von Zu-
sammenhängen (wenn Beispielsweise ein Mann von einem Verbrecher nie-
dergeschossen wird, weil er Zeuge von einem zuvor gezeigten Überfall
war) gelingt Kindern vollständig erst nach dem elften bis zwölften Le-
bensjahr.“31 Ein Verständnis dessen was Filmtechnik psychisch bewirken
kann, wird man nicht einmal bei vielen Erwachsenen voraussetzen kön-
nen. Wer sich nie damit beschäftigt hat, ist sich wohl kaum der Wirkungen
bewusst, die Bildeinstellungen, Bildschnitte, Kameraeinstellungen, Rück-

30
Furian; Maurer, 1984, S. 54
31
Winterhoff-Spurk, 1986. S. 55

158
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

blenden und andere Zeitsprünge, Ausstattung, Farbgebung etc. verursachen


können.

Inhaltliche Aspekte des Fernsehkonsums


Die Inhalte von Fernsehsendungen können, auch wenn sie von den Kindern
verstanden werden und nicht angsterregend sind, problematische Auswir-
kungen haben.32 Bei Kindern unter drei Jahren, die fernsehen, besteht nach
Beobachtungen von Tisseron die Gefahr, dass sie sich sehr früh, stark an be-
stimmten typischen Vorbildern orientieren. Da dem kleinen Kind das, was
es auf dem Bildschirm sieht, unverständlich vorkommt, sucht es nach Ori-
entierungspunkten. Dabei wählt es unter den Personen, die erscheinen, eine
aus, die ihm durch ihre Reaktionen am nächsten ist. Aber da die Helden der
Serien stark stereotypisiert sind, identiziert sich das Kind schließlich im-
mer mehr mit dem gleichen Modell: einem, das beehlt oder einem, dem
befohlen wird; einem das sucht oder einem das gesucht wird; einem das
schlägt oder einem das geschlagen wird. Durch die Identizierung mit dem
immer gleichen Heldentyp geraten Kinder in die Gefahr, sich auf ein be-
stimmtes Verhaltensmuster festzulegen. Sie sehen sich als Aggressor oder
als Opfer oder als Retter. Die Gefahr besteht darin, dass sie die Attitüde sys-
tematisch in der Realität übernehmen. Die Gefahr des Fernsehens besteht
also für ganz kleine Kinder nicht darin, dass sie sich wie größere Kinder
überhaupt an Vorbildern orientieren, sondern dass bei ihnen, weil sie die
Zusammenhänge nicht verstehen, ihre psychische Entwicklung erstarrt und
sie sich immer in der gleichen Rolle sehen. Ihre Auswahl an frühen Identi-
zierungen schrumpft und damit die Möglichkeit des Bastelns von Identität.
Das Fernsehen hat sie auf diese Weise in ein Gefängnis von Verhaltens-
weisen eingeschlossen, die sich selbst verstärken. So kommt es, dass heute
Dreijährige schon ausgeprägte psychologische Prole aufweisen, mit At-
titüden von Frustrationsintoleranz, Impulsivität, sogar Gewalttätigkeit, wie
32
Ich muss mich hier auf wenige Elemente beschränken. Ich berücksichtige unter anderem
nicht kapitalismusspezische Tendenzen wie z.B. die, schon kleine Kinder zu Konsu-
menten zu machen, auf die Tisseron in Bezug auf das Babyfernsehen hinweist. Wie
ideologische kapitalistische Zurichtung auch schon von kleinen Kindern in Bildungsin-
stitutionen aussehen kann, habe ich an anderer Stelle gezeigt Füchtner, 2006a

159
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

sie vor zehn Jahren bei Kindern dieses Alters praktisch noch unbekannt
waren.33
Gewaltdarstellungen in den Medien sind zweifellos problematisch. Es
ist umstritten, ob sie direkt delinquentes Verhalten verursachen können.
Unzweifelhaft ist aber, dass die permanente Konfrontation mit Gewaltta-
ten aller Art, unzähligen Morden und Verbrechen, abstumpft. Die Kinder
lernen, dass Gewalt eine Lösung von Problemen in menschlichen Bezie-
hungen ist.34 Sie wenden nicht unbedingt selbst Gewalt an, soweit sie nicht
schon dazu neigen, aber sie akzeptieren sie als normal, wenn sie von ande-
ren ausgeübt wird. Der Gebrauch von Gewalt erscheint als etwas Selbstver-
ständliches. Hinsichtlich der Frage, ob Gewaltdarstellungen im Fernsehen
und mehr noch in speziellen Videos, die schauerlichen Gewalttaten man-
cher Kinder und Jugendlicher verursacht haben können, sind die Überle-
gungen von Dorothea Dieckmann plausibel: „Wenn die Bilder einen großen
Teil der kindlichen Realitätsbildung ausmachen, kann sich die Form der
Wahrnehmung durchsetzen, die sie monopolisieren: die Auffassung, dass
Handlungen – selbst wenn sie von starken Emotionen begleitet sind – un-
körperlich und folgenlos sind.“ „Ihre Vorstellungen, an die vorhandenen
Bilder gebunden, sind immer schon „fertig“. Immunisiert gegen jede eige-
ne Phantasieleistung, mangelt es ihnen an den Instrumenten, von der Tat-
sächlichkeit der Gewalt einen Begriff zu bilden. Kinder, die auf die Realität
des Bildschirms verwiesen sind, können daher kein Konzept für die End-
gültigkeit der Gewalt und des Todes erhalten.“35
Soweit Kinder auch mit pornographischen Inhalten konfrontiert wer-
den, besteht die Gefahr, dass sie glauben, das Bild der Sexualität, das sie
zeigen, entspreche der Realität und müsse womöglich sogar so praktiziert
werden, um normal zu sein.36 Die bereits erwähnte Vermischung von Se-
xualität und extremer Gewalt stellt ein zusätzliches Problem dar. Die un-
vermittelte Konfrontation damit kann schockieren.
Vor dem Hintergrund all dieser gesundheitlichen Risiken des Fernseh-
konsums ist verständlich, dass z.B. in Frankreich Fernsehprogramme für
33
Tisseron, 2008a, S. 50
34
Siehe dazu Barron, 1954, Lazar, 1985, Tisseron, 2010
35
Dieckmann, 1994, S. 64 und S. 67
36
Tisseron, 2011, S. 4

160
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Kinder unter drei Jahren verboten sind.37 In Deutschland empehlt die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Kinder vor dem dritten Le-
bensjahr nicht fernsehen zu lassen. „Zwischen drei und fünf Jahren sollten
Kinder nicht länger als eine halbe Stunde pro Tag fernsehen. Computer-
spiele, zum Beispiel einfache Lernspiele, – sind erst ab vier Jahren geeig-
net.“ Der Fernsehkonsum ab sechs Jahren sollte auf 45 Minuten begrenzt
bleiben.38 Was den Mediengebrauch ihrer Kinder betrifft, empehlt Tisse-
ron den Eltern die Formel 3-6-9-12. Das bedeutet: kein Fernsehen für die
Kinder vor dem dritten Lebensjahr, keine Spielkonsole vor dem sechsten
Lebensjahr, kein Internet vor dem neunten Lebensjahr und danach nur in
Begleitung bis zum Besuch einer weiterführenden Schule im elften oder
zwölften Lebensjahr.39
Für Jugendliche, die in der „Digitalen Ära“, also nach 1980 geboren
sind, sind Handys, Computer und Internet die wichtigsten Vermittler ihrer
zwischenmenschlichen Beziehungen. Der größte Teil ihres Alltagslebens
ist durch die digitalen Technologien vermittelt. Der Autor einer Recherche
über Facebook stellt fest: „Die Generation der 12 bis 17-Jährigen regelt
ihr halbes Leben über das Netzwerk“.40 Ihre Beziehungen untereinander
sind in mehrfacher Hinsicht verschieden von denen früherer Generationen.
Die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen davon lassen sich noch
kaum abschätzen. In vielen Familien kann man geradezu die Gefahr einer
Spaltung der Generationen wahrnehmen.41

37
Siehe den Beschluss des Conseil supérieur de l’audiovisuel (CAS) vom 22.07.2008,
sowie dessen Empfehlungen und Beschlüsse dazu. Dazu auch die Stellungnahme der
französischen Direction générale de la santé (DGS). http://www.csa.fr/television/le-sui
vi-des-programmes/jeunesse-et-protection-des-mineurs
38
„Kinder und Medien. Tipps und Regeln zum Umgang mit Fernsehen und Computer.“
www.kindergesundheit-info.de der BZgA. Wenn die Gefahren des Fernsehens für klei-
ne Kinder, wie sie in den referierten Publikationen dargestellt werden, tatsächlich so
schwerwiegend sind, frage ich mich, da ich einen Teil meines Lebens in Brasilien ver-
bracht habe und noch verbringe, was aus den vielen brasilianischen Kindern wird, die in
ihrem Alltag vom ersten Tag ihres Lebens an, daran gewöhnt sind, dass der Fernsehap-
parat morgens angestellt wird und den ganzen Tag angestellt bleibt. Das ist in Brasilien
normal.
39
Tisseron, 2013
40
Manfred Dworschak in DER SPIEGEL Nr. 19, 2012
41
Tisseron, 2010, S. 211

161
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen

Tisseron erwähnt auch einen weiteren Sachverhalt, der von besonde-


rem Interesse für die Theorie der Psychoanalyse ist. Ihm zufolge, wird das
Kind auf Grund der Verbreitung der digitalen Photographie schon früh dazu
gebracht, sein Spiegelbild, in dem es sein Gesicht seitenverkehrt sieht, mit
einer Vielzahl von Bildern zu vergleichen, die es „richtig“ darstellen, d.h.
so wie es die anderen sehen. Das ändert, so Tisseron, die Beziehungen des
Kindes zu Bildern und zu Bildschirmen. Das heranwachsende Kind, das
zweierlei Arten von Bildern von sich wahrnimmt, nimmt an, dass es noch
weitere Arten geben kann. Und wenn die Selbstbilder sich vervielfältigen,
schreiben sie den einzelnen Bildern weniger Bedeutung für ihre Identität
zu. Das von Wallon und Lacan beschriebene Spiegelstadium könnte somit
bald durch ein „Stadium der Bildschirme“ ersetzt werden, von denen einfa-
che Spiegel nur eine Variante unter anderen wären.42

42
Tisseron, 2008b, S. 33ff. Im Spiegelstadium, das ungefähr zwischen dem sechsten und
dem achtzehnten Monat zustande kommt, „antizipiert (das Kind) imaginär das Ergreifen
und die Beherrschung der Einheit seines Körpers.“ Laplanche; Pontalis, 1967 (1972).
„Spiegelstufe“. Dazu auch „stade du miroir“ in Mijolla, 2002.

162
Psyche offline und online
Der Computer als Erweiterung der Person
Computer und Internet haben in wenigen Jahren eine enorme Bedeutung
gewonnen. Sie sind phantastische Kommunikationsmittel, die die verschie-
densten Bereiche der Gesellschaft, von der Weltwirtschaft, der Technik, der
Telekommunikation, den Wissenschaften bis hin zu Kunst und Kultur ein-
schneidend verändert haben. Jeder, der einen Onlinezugang hat, kann sich
weltweit über Bild und Ton mit anderen Menschen verständigen, kann Pu-
blikationen der verschiedensten Art aus anderen Ländern lesen, kann Daten
aller Art abrufen, kann in Bibliotheken recherchieren, kann virtuell Muse-
en besuchen, kann nach einem neuen Lebensgefährten oder einer Lebens-
gefährtin oder einem Sexpartner mit den gleichen Neigungen suchen, kann
Einkäufe machen, usw. Ich kann im Folgenden nur auf einige Aspekte ein-
gehen, die für das Thema dieser Arbeit von Bedeutung sind.
Der Computer, der ursprünglich nicht mehr als ein elektronischer Rech-
ner war, ist durch immer rafniertere Programme zu einem vielseitigen
Werkzeug, zu einem Kommunikationsinstrument geworden, mit dem man
vielfältige Beziehungen unterhalten kann. Mit dem Computer kann man
nicht nur Manuskripte verfassen und graphische Darstellungen entwerfen.
Man kann mit ihm fast wie mit einem menschlichen Gegenüber kommuni-
zieren. Er ermöglicht es allein zu sein, ohne sich unbedingt gefühlsmäßig
der Situation allein zu sein, ausgesetzt zu fühlen. Der Computer kann so-
gar zu einer Art Erweiterung der Person werden. Das impliziert auch, dass
er Einuss darauf bekommt, wie wir über uns denken, wie wir uns selbst
und die anderen sehen. Er ist deswegen eine „psychologische Maschine“
genannt worden.1
Mitte der sechziger Jahre hat der Informatiker Joseph Weizenbaum ein
Programm erfunden, das er, in Anspielung auf das Theaterstück Pygmali-
on von George Bernard Shaw, Eliza nannte. Das Programm sollte zeigen,
dass es möglich ist, über natürliche (per Tastatur eingegebene) Sprache mit
1
Turkle, 1984 (1986, S. 13)

163
Psyche ofine und online

einem Computer zu kommunizieren. Dabei kann der Computer verschie-


dene Gesprächspartner simulieren. Die erste brauchbare Variante des Pro-
gramms ermöglichte, dass der Computer jeweils in einer Weise antwortet,
die ungefähr der Art gleichkommt, die für Psychotherapeuten der klien-
tenzentrierten Gesprächstherapie von Carl Rogers charakteristisch ist.2 Das
Programm erregte Aufsehen und wurde bald, ganz gegen die Intentionen
seines Schöpfers, tatsächlich für Psychotherapie genutzt.3
Dass mit Hilfe seiner Erndung Psychotherapeuten durch Computer er-
setzt wurden, hat Weizenbaum empört. Er wurde zu einem scharfen Kritiker
aller Arten von Computergläubigkeit. Bei einer solchen Vermenschlichung
der Maschine bzw. umgekehrt Maschinisierung des Menschen geht spezi-
sch Menschliches in der Kommunikation verloren. Alter, Geschlecht und
körperliche Merkmale des Gegenübers sind irrelevant. Ein Computer hat
keine Gefühle und damit auch keine Gegenübertragung. Er kann keinen
Tonfall wie Wärme, Kälte, Ironie, Sarkasmus u.a. wahrnehmen. Er ist hu-
morlos, wirkt allenfalls unfreiwillig komisch. Er kann nicht im richtigen
Moment schweigen. Trotzdem wurde er für viele Menschen zu einer Er-
weiterung ihrer Person oder gar zu einem vollwertigen Partner. Als solcher
wird er fast immer gefühlsmäßig als männlich wahrgenommen. Im Jahre
1982 wurde der Computer vom Time Magazine zum „Mann des Jahres“
erklärt.4 Wird der Computer als Person wahrgenommen, kann er zu einem
Übertragungsobjekt werden. Da ihm persönliche Eigenschaften nach Be-
lieben zugeschrieben werden können, kann er den Mangel an Beziehungen
nach Wunsch befriedigen. Als Erweiterung der Person kann er zur psycho-
mentalen Prothese werden. Mehr noch, zu einem Übergangsraum zwischen
der innerpsychischen Welt und der Welt der anderen.5 Das ermöglicht Phan-
tasien und Projektionen aller Art.
Der Computer ändert die Art wie wir über uns und andere denken. Sei-
ne Begrifichkeit ist in die Alltagssprache eingedrungen und ändert unsere
Denkweise überhaupt. Was z.B. in Anlehnung an Freud als Fehlleistung

2
Weizenbaum, J., 1966, Weizenbaum, 1977
3
Die davon abgeleitete Computergestützte Psychotherapie, bei der der Computer von
einem Therapeuten als Hilfsmittel eingesetzt wird, ist inzwischen keine Seltenheit mehr.
4
Holland, 1996
5
Suler. „Cyberspace as Psychological Space“ in Suler, 1999

164
Psyche ofine und online

verstanden wurde, wird nun eventuell als Fehlschaltung gesehen. Der Sinn
der Handlung steht dann gar nicht mehr zur Debatte.6 All dies kann noch
viel größere Bedeutung gewinnen, wenn über den PC der Zugang zum In-
ternet möglich ist. Großer Beliebtheit erfreut sich der Computer zunehmend
für seine Nutzung von Spielen. Man kann mit ihm z.B. Schach spielen. Der
große Renner aber sind in neuerer Zeit Videospiele. Deren neuesten Va-
rianten ermöglichen, sich in sehr realistischen virtuellen Räumen, d.h. in
simulierten Welten, zu verhalten. Dabei setzen aber die Spielregeln gewis-
se Grenzen. Grenzenlos werden dagegen die Räume, in denen man sich im
Cyberspace verhalten kann. Der enorme kommerzielle Erfolg der Video-
spiele ist wohl auch ein Indiz für die von mehreren Autoren diagnostizierte
Infantilisierung unserer Gesellschaft.
Obwohl unbestreitbar ist, dass der Computer und das Internet phantas-
tische neue, bereichernde Formen menschlicher Interaktion ermöglichen,
bergen sie doch offensichtlich auch psychologische Risiken, die für das
Thema Verwahrlosung von Bedeutung sind. Das bedeutet z.B. in mancher
Hinsicht eine Verstärkung der Fernsehwirkungen. So ist es z.B. psycho-
logisch etwas anderes, ob ein Kind mit Gewaltdarstellungen als passiver
Zuschauer konfrontiert wird oder aktiv in Videospielen Gewalt anwendet.
Der bekannte Satz des Soziologen Urie Bronfenbrenner, wonach die
meisten amerikanischen Familien aus zwei Eltern, einem oder mehreren
Kindern und einem Fernsehgerät bestehen, hat auf die Verbreitung von
Computer und Internet übertragen, eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Das Internet mit all den virtuellen Gestalten, die es bevölkern, hat über den
PC im Alltag, zuhause und im Beruf, eine permanente Präsenz gewonnen.
Es bewirkt eine Verwischung der Grenzen zwischen dem Leben online und
dem Leben als solchem. Für die Erwachsenen kann das z.B. bedeuten, dass
sie ihren Partner mit virtuellen Partnern betrügen. Kindern, die oft schon
erstaunlich früh erste Erfahrungen mit dem Computer machen, ermöglicht
das Internet, dass sie sich eine phantasierte Familie schaffen und mit ihren
Mitgliedern parallel zur realen Familie interagieren können.7 Was Freud
„Familienroman“ nannte, können sich Kinder nun virtuell schaffen und die

6
Turkle, 2012
7
Tisseron, 2008b, S. 81ff.

165
Psyche ofine und online

veränderten Beziehungen ausprobieren, sie verändern und sich nach Bedarf


daraus zurückziehen. In den virtuellen Räumen kann man das ganze Famili-
entheater nach Belieben inszenieren und dabei eine andere Rolle als die ei-
gene übernehmen, die Generationen verkehren, sich ein anderes Geschlecht
zulegen etc.(a.a.O. S. 202) Diese Art von Ausprobieren von Selbstdarstel-
lungen und den damit verbundenen Handlungsmöglichkeiten ist allerdings
erst Kindern möglich, die mit dem Computer und dem Internet vertraut sind
und gelernt haben, sich im Internet und in virtuellen Räumen zu orientieren.
Sie ist für Jugendliche in der Adoleszenz von besonderem Interesse, wenn
sie sich mit ihrer Identität auseinandersetzen, sich fragen wer sie sind, wie
sie sind, wie sie sein wollen.8

Leben im Internet
Während der Computer ohne Internetzugang noch ein Gegenüber mit be-
schränkten Kommunikationsmöglichkeiten ist, kann man online mit unzäh-
ligen Gegenüber kommunizieren, Emails schicken, skypen, chatten u.a. So-
weit man aber dabei nicht mit Personen kommuniziert, die man persön-
lich kennt oder sie zumindest über andere Kanäle zuverlässig identizieren
kann, weiß man nie sicher, mit wem man es zu tun hat. Die Beziehungen
sind anonym. Im Internet können viele einer sein und einer viele. Das Ge-
genüber kann Eigenschaften vortäuschen, die es nicht hat, z.B. Alter und
Geschlecht falsch angeben. In virtuellen Räumen kann man es mit Avata-
ren zu tun bekommen, die wie Repräsentanten wirklicher Personen wirken,
aber keine sind. Umgekehrt kann ein Avatar zu einem Teil der Identität wer-
den.9 Man kann sich auch selbst in verschiedenen Gestalten im Cyberspace
aufhalten und auf diese Weise Facetten seiner selbst ausprobieren.10 Man
8
Ausführlicher dazu John Suler „Adolescents in Cyberspace“ in Suler, 1999
9
Palfrey; Gasser, 2008, S. 244. Der Duden deniert Avatar so: „grasche Darstellung,
Animation, Karikatur o. Ä. als Verkörperung des Benutzers im Cyberspace“.
10
In der Literatur zum Thema ist in diesem Zusammenhang oft von multiplen Identitä-
ten die Rede. Dabei bleibt offen, wie einst bei der Rollentheorie, wer oder was diese
Identitäten zusammenhält. Diese Frage erledigt sich spätestens dann, wenn man z.B.
Zahnschmerzen bekommt oder sich einen Finger einklemmt. Ich ziehe es vor mit Tisse-
ron von Facetten des Selbsts zu sprechen Tisseron, 2008b, S. 198

166
Psyche ofine und online

kann so über das Internet mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt ste-
hen. Man kann sich mit Beziehungsnetzen verschiedener Art, privaten wie
großen kommerziellen wie Facebook, Twitter, LinkedIn u.a. verbinden. Für
manche ist eine virtuelle Gemeinschaft wichtiger als die Familie, die Mit-
schüler oder die Arbeitskollegen.11
Die Internetkommunikation weist einige psychologische Besonderhei-
ten auf, die als solche nicht unproblematisch sind. Besonders die Anonymi-
tät der Kommunikation ist folgenreich. Sie verführt zu einer Reduzierung
der Selbstzensur und damit zu einer Enthemmung.12 Man ist ja niemand
Rechenschaft schuldig. Man begibt sich in eine Welt, in der man machen
kann, was man will. Dementsprechend geht es im Internet oft sehr aggres-
siv zu. Das gilt auch für die Sexualität. Ungehemmte Beleidigungen und
sexuelle Belästigungen sind alltägliche Phänomene. Die Leute versuchen
auch sexuelle Wünsche zu befriedigen, zu denen sie sich in der Realität
nicht bekennen würden. Und sie suchen dazu Orte auf, an die sie sich in
der Realität nicht begeben würden. Sie tauschen sich mit Unbekannten über
ihre intimsten sexuellen Wünsche aus. Sie leben Größenphantasien, Angst-
phantasien und sexuelle Phantasien vermittelt über ihre Avatare aus. Das
Internet bewirkt offensichtlich unter anderem auch Regression zu kindli-
chem Verhalten und Verwahrlosung. Man kann im Internet aber auch po-
sitiven Einstellungen begegnen. So kann man z.B. bei Problemen mit dem
Computer oder der Software im Internet sehr großzügige Hilfe von völlig
unbekannten Personen bekommen.
Die Avatare haben die Macht, Emotionen und Empndungen als sehr
real empnden zu lassen. Man kann in virtueller Realität angenehme Er-
fahrungen machen. Das ermöglicht, aus dem unerfreulichen Alltag in er-
freuliche Welten zu üchten. Man kann aber auch verletzt und vergewal-
tigt werden. Das liegt daran, dass Virtuelles durchaus etwas Reales ist. Es
ist nicht die gewöhnliche Realität, sondern eine Realität mit eigenen Ei-
genschaften. Sie kann, wie Realität überhaupt, psychische Auswirkungen
haben, ist selbst jedoch nichts Imaginäres bzw. nichts Psychisches.13
11
Tisseron, 2008b, S. 222
12
siehe zum Folgenden Holland, 1996 und „The Online Disinhibition Effect“ in Suler,
1999
13
Das scheint manchen Psychoanalytikern nicht klar zu sein. Vergl. dazu Plassmann,

167
Psyche ofine und online

Norman N. Holland nimmt an, dass neben der Anonymität auch eine
spezische Eigenart von Computerkommunikation regressionsfördernd ist.
Normalerweise ist es so, dass man eine relativ lange Mitteilung eingibt und
dann eine relativ kurze Antwort bekommt. Sofort oder eventuell erst nach
längerer Zeit, wenn der Adressat der Mitteilung wieder online gegangen
ist. Holland vergleicht das mit der Beichtsituation, in der der unsichtbare
Priester auf lange Ausführungen kurz antwortet. Auch auf der Couch des
Psychoanalytikers erlebt man oft, dass der hinter dem Kopfende nicht ge-
sehene Analytiker oft nur kurze Antworten gibt. Manchmal nach einigen
Minuten, manchmal nach langen Pausen. Beide Beziehungsmodi fördern
die Regression zu Abhängigkeit und Phantasien, wie das Internet.

Psychologische Auswirkungen des Internets


Mit dem Internet sind auch einige neue Formen von Verwahrlosung und De-
linquenz entstanden. Die ungehemmten Aggressionen und sexuellen Beläs-
tigungen habe ich bereits erwähnt. Wenn sich jemand im öffentlichen Leben
unbeliebt macht, muss er mit einem „shitstorm“ rechnen. Die Befriedigung
perverser Gelüste, sexueller oder gewaltorientierter Art ist anonym und mü-
helos möglich. Mit PC und Internet sind auch neue Formen der Sucht, vor
allem neue Varianten von Spielsucht und Internetsucht, entstanden. Hacker
und Cyberkriminelle verschiedener Art sind weitere delinquente Figuren.
Weiter verbreitet und schwerwiegender sind jedoch die psychischen Fol-
gen, die sich aus den genannten Möglichkeiten eins virtuellen Lebens im
Cyberspace ergeben können. Hierzu gehören gesteigerter Narzissmus, Rea-
litätsucht, Realitätsverleugnung und Realitätsverlust. Narzissmus kann
z.B. dadurch gefördert werden, dass das Internet bei vielen Nutzern ein
gesteigertes Mitteilungsbedürfnis bewirkt.14 Das lässt sich auf mehrfache
Weise befriedigen. So z.B. durch Mitgliedschaft in Netzen, in denen man
vielen „Freunden“ gleichzeitig selbst die banalsten Mitteilungen zuschickt.
„Blogs“, eine Art öffentlicher elektronischer Tagebücher, eignen sich ganz
1999, der von der „virtuellen Welt der Übertragung“ spricht. Psychische Realität ist
jedoch nicht virtuell. Diese Konfusion der Begrifichkeit ndet sich auch bei Friedman,
2005
14
Tisseron spricht von „Extimität“ als Gegensatz zu Intimität. Tisseron, 2010, S. 57

168
Psyche ofine und online

hervorragend für narzisstische Selbstdarstellung. Und wenn man geeigne-


tes Bildmaterial hat, kann man es auf YouTube weltweit verbreiten und
eventuell – für kurze Zeit – Aufmerksamkeit erregen.
Eine Problematisierung der Wahrnehmung von und des Umgangs mit
Realität kann sich bei diesem Medienkonsum aus dem Zusammenwirken
mehrerer Faktoren ergeben. Das Internet kann bei seinen Nutzern einen
quasi primärprozesshaften Zustand bewirken. Mehrere Faktoren wirken da-
bei zusammen: Da die virtuellen Welten, in denen man sich online bewe-
gen kann, immer realistischer werden, werden die Grenzen zwischen real
und virtuell undeutlich. Da virtuelle Realität psychologisch ebenso wirken
kann, wie Realität überhaupt, kann unter Umständen zwischen Realität und
Fiktion, mehr noch als beim Fernsehen, nicht mehr unterschieden werden.15
Damit ist es aber erst recht nicht mehr möglich, zuverlässig zwischen wahr
und falsch zu unterscheiden. Und da die Kommunikation im Internet nicht
nur gleichzeitig, sondern häug asynchron erfolgt, wird das Gefühl für eine
lineare Zeitabfolge – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – undeutlich. Das
Internet ermöglicht auch den Einsatz unterschiedlicher Facetten der Persön-
lichkeit in instabilen Beziehungen. Das Gefühl für Realität geht verloren.16
Es gibt kein entweder – oder, sondern sowohl – als auch.
Solche Auswirkungen des Internets sind zunehmend in der Alltags-
realität bemerkbar. Verblüffend ist vor allem, wie weitgehend die philo-
sophischen Auffassungen von manchen Theoretikern der Postmoderne den
genannten Besonderheiten der Internetkommunikation entsprechen. Turkle
konstatiert: „Computer verkörpern die Theorie der Postmoderne und ho-
len sie auf den Boden der Wirklichkeit.“17 So verüchtigt sich bei diesen
Theoretikern z.B. der Begriff von Wahrheit in eine Vielzahl von mitein-

15
„The Online Disinhibition Effect“ in Suler, 1999. Das Problem bei der Realitätswahr-
nehmung besteht überwiegend darin, dass Fiktion für real gehalten wird. Das Umge-
kehrte kommt allerdings oft auch vor. So gibt es heute noch Menschen, die die Landung
auf dem Mond für eine Fiktion halten. Döring bringt den Sachverhalt auf eine Formel:
Ent-Sinnlichung, Ent-Räumlichung, Ent-Zeitlichung ergeben Entwirklichung Döring,
2003, S. 210
16
Zu dieser Feststellung kommen die meisten Autoren, die sich mit den psychologischen
Aspekten des Internets befassen. Vergl.: Turkle, 1998, Tisseron, 2008b, Döring, 2003,
Suler, 1999, Palfrey; Gasser, 2010
17
Turkle, 1998, S. 24

169
Psyche ofine und online

ander nicht unbedingt vereinbaren Wahrheitsauffassungen. Die historische


Dimension von Gegebenheiten spielt keine Rolle mehr. Realitäten existie-
ren nur als sprachlich vermittelte und durch Übereinkunft bekräftigte. Alles
ist (oder ist nicht) das, was es oberächlich zu sein scheint. Auch Individua-
lität und Identität sind unbeständig, stets veränderbar und in Bewegung.18
Tisseron verweist darauf, dass wenn das Gefühl für Realität verloren
geht, die Lebenslust gefährdet ist und von der Meinung der anderen ab-
hängig wird. Solche Menschen erkennen sich nicht mehr in dem was sie
tun, nicht einmal in ihren Erfolgen. „Und indem sie ihren eigenen Erfah-
rungen gegenüber abgestumpft sind, haben sie auch den Kontakt zu denen
der anderen verloren. Die Angelsachsen nennen solche Personen, „as if““,
anders gesagt „äls ob““. Bei ihnen ist der Schein ausschlaggebend. Es hat
sie wahrscheinlich immer schon gegeben, aber der Zwang zur Selbstdar-
stellung trägt dazu bei, dass es sie häuger gibt.“19
Diese Feststellungen führen ganz in die Nähe von Verwahrlosung. Auch
die folgende: In der permissiven Gesellschaft wird die Verdrängung sexu-
eller Wünsche unnötig. Mehr noch, die permanente Darstellung von unmit-
telbarer Befriedigung sexueller und aggressiver Wünsche in den Medien,
verhindert geradezu ihre Verdrängung. Der Mechanismus, der es ermög-
licht sich zu sozialisieren, also nicht jede Art von Wunsch unmittelbar be-
friedigen zu wollen, ist nun ein anderer. Es ist die Spaltung. Dieser Me-
chanismus ist nicht neu. So wie die audiovisuelle Welt der Erwachsenen
den Kindern vorzeitig aufgedrängt wird, wird Spaltung nun jedoch üblich.
Einerseits scheinen die Kinder die sozialen Regeln zu verinnerlichen und
werden gegebenenfalls brav und gehorsam. Andererseits bleiben jedoch die
Handlungsvorstellungen, die mit unmittelbarer Wunscherfüllung verbun-
den sind, als Modelle präsent und wirksam.20 „Die Brutalität der Triebe
wird nicht erzogen und sozialisiert, sondern in manchen Situationen blo-

18
Leary, 1994. Er erörtert die Auswirkungen dieser Auffassungen auf psychoanalytische
Theorie.
19
Tisseron, 2010, S. 202 f. Zur „als ob“ Persönlichkeit siehe oben.
20
Siehe dazu die oben von Spanudis beschriebene, für den potentiellen Verwahrlosten ty-
pische Reaktion der Spaltung anstelle von Verdrängung und die Bedeutung die Kernberg
Spaltung bestimmten narzisstischen Störungen zuschreibt.

170
Psyche ofine und online

ckiert und in anderen befreit.“21 Das macht verständlich, dass viele Kin-
der und Erwachsene ganz plötzlich und brutal und ohne Schuldgefühle von
der Akzeptierung sozialer Regeln zu ihrer völligen Missachtung übergehen
können. Auf diese Weise kommen Persönlichkeiten mit multiplen Facet-
ten zustande. Wie ich oben gezeigt habe, hat Aichhorn Spaltung des Ichs,
d.h. das Fehlen der einheitlichen Entwicklung, für eine Eigenschaft jedes
Verwahrlosten gehalten.
Eine besondere Variante dieser Spaltung ndet sich bei rechtsradikalen
„Glatzen“, die sich in unserer Gesellschaft der unbeständigen Werte be-
wusst für unmoralisches Verhalten entscheiden. Sie wollen nicht aus dem
„normalen“ Leben aussteigen, aber aus den dazugehörigen Werten.22 Ei-
nerseits suchen sie das Leben in geordneten Verhältnissen mit Beruf und
Karriere, Kleinfamilie und Konsum, akzeptieren somit die äußeren Formen
der Sozialisation. Andererseits sind sie „demonstrativ gewalttätig und bö-
se. Sie umgeben sich mit einem Habitus, der empndungslos machen soll.
Springerstiefel und Glatze signalisieren Kälte und Brutalität. Ihre Träger
wollen durch die moralische Realität der Gesellschaft nicht mehr zu er-
reichen sein. Sie entziehen sich der Ansprache durch Sprachlosigkeit. Sie
schütten sich mit Alkohol zu, um sich für die eigenen Gefühle unerreichbar
zu machen.“ Als „knallharte Realisten der Normalität“ leben sie einerseits
angepasst, andererseits verweigern sie sich einem moralischen Leben, „das
sie als pures Geschwätz empnden.“ Würden sie nicht auch immer wieder
straffällig, könnte man sie als Fratzen der knallharten Realisten der ökono-
mischen Realität sehen, die ohne Rücksicht auf Moral und Gefühle, ihre
Geschäftsentscheidungen ausschließlich nach ökonomischem Kalkül tref-
fen.23 Sie wechseln z.B. Wirtschaftsstandorte einzig und allein nach Krite-
rien der Rentabilität und nehmen die Folgen davon, Massenentlassungen,
Arbeitslosigkeit und die sozioökonomische Zerstörung ganzer Regionen,
bedenkenlos in Kauf. Sie beharren auf einer Sparpolitik, die massenhaf-
tes Elend verursacht. Soweit doch Bedenken entstehen, gehört es zum Job,

21
Tisseron, 2010, S. 141f
22
Simon, 1993. Dort auch zum Folgenden. Ein Teil der folgenden Feststellungen gilt nicht
nur für Naziskins, sondern auch für andere gewaltorientierte Gruppierungen.
23
Oder wie es ein Spitzenmanager formuliert hat: „Moral hat nur eine Chance, wenn sie
Gesetz ist oder sich rechnet.“ Damolin, 1990, S. 89

171
Psyche ofine und online

sich darüber hinwegzusetzen. Das sind typische Varianten von adaptiver


Verwahrlosung. Sie sind besonders häug, wo institutionelle Handlungs-
richtlinien oder -zwänge mit problematischen Folgen eine Aufspaltung in
Funktionsträger, z.B. Beamter, und Privatmensch bewirken.24 Die rechtsra-
dikalen Glatzen dagegen bekennen sich zu ihren amoralischen Auffassun-
gen. So verkörpern sie in grotesker Weise die Brutalität der dominierenden
gesellschaftlich praktizierten Moral. Die Fühllosigkeit, die sie demonstrie-
ren, ist ein Verwahrlosungssymptom der Gesellschaft als ganzer.

24
Oft ließe sich den Widersprüchen zwischen privat für richtig gehaltenem und dem be-
ruich verlangtem Verhalten nur durch Aufgabe des Berufs ausweichen. Das ist jedoch
normalerweise keine realistische Perspektive. Es wäre jedoch schon viel gewonnen,
wenn die Widersprüche bewusst wahrgenommen und daraus politische Konsequen-
zen gezogen würden. Es gibt zahlreiche Beispiele wie führende Figuren von Politik
und Ökonomie nach ihrem Ausscheiden aus einem Amt in anderen Funktionen einen
Wandel in ihren moralischen Einstellungen vornehmen. So z.B. der ehemalige Verteidi-
gungsminister und spätere Weltbankpräsident Robert McNamara. Häug suchen Spit-
zenmanager auch in spirituellen oder esoterischen, auch religiösen Vergewisserungen
ihr Seelenheil. Damolin, 1990.

172
Verwahrlosung der Sprache
Gesellschaftliche Veränderungen, politische Ereignisse, neue Technologien
und andere Phänomene von Bedeutung für den Alltag, haben Auswirkun-
gen auf die Alltagsprache. Das gilt auch für die Tendenz gesellschaftlicher
Verwahrlosung. Dies im Einzelnen nachzuweisen wäre eine aufwendige
Aufgabe für eine gesonderte Abhandlung.1 Ich begnüge mich mit dem Hin-
weis auf wenige, besonders auffällige Mechanismen, durch die Sprache ge-
zielt beschädigt oder zerstört wird. So vor allem auf den, dass Probleme und
Missstände durch verschiedene Tricks kaschiert werden. Das erfolgt unter
anderem durch den Gebrauch beschönigender Begriffe. Aus den Armen
wird das Prekariat, die reiche Oberschicht wird zur Elite, Alte nennt man
Senioren, aus Entlassungen wird betriebliche Verschlankung, Beitragsan-
passungen sind Beitragserhöhungen, gefährlicher atomarer Müll, für den
bis heute keine dauerhafte Endlagerung gefunden worden ist und im en-
geren Sinne, also für Millionen von Jahren, keine gefunden werden kann,
wird entsorgt, Begleitservice bedeutet Prostitution, dicke Menschen sind
vollschlank, die Putzfrau wird zur Raumpegerin, von Kollateralschäden
wird gesprochen, wenn militärische Schläge, die angeblich mit chirurgi-
scher Präzision ausgeführt werden können, den Tod von Zivilisten verursa-
chen usw. usw. Manche Begriffe haben auf diese Weise einen vollständigen
Bedeutungswandel erfahren. So vor allem der Begriff Reform, der für die
jeweils Betroffenen nichts Gutes bedeutet. Neben Euphemismen trägt auch
der Gebrauch doppelter Verneinungen dazu bei, dass problematische Sach-
verhalte so erwähnt werden können, dass sie weniger anstößig wirken. Das
ist Manipulation durch Sprache. Sie „zielt darauf ab, dass der Sinn für die
Wirklichkeit verloren geht, von der die Rede ist.“2 In der Politik wird sie
systematisch betrieben.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist Heiner Geißler, der sich als General-
sekretär der CDU dazu bekannt hat, bestimmte Begriffe müssten politisch
„besetzt“ werden. Um Begriffe „besetzen“ zu können, die auf Grund ihrer
1
Vorbildlich für eine solche Art von Untersuchung wäre die von Korn, 1962
2
Liaudet, 2012, S. 243. Siehe dazu auch Lukscheider, 2008

173
Verwahrlosung der Sprache

Konnotationen eher für den Gebrauch durch den politischen Gegner geeig-
net sind, müssen sie zuerst umdeniert werden. Uske gibt einige Beispiele
für Geißlers Vorgehensweise.3 Er erläutert sie z.B. am Begriff „Solidari-
tät“: „Solidarität ist für uns nicht der Kampfaufruf, mit Gleichgesinnten
die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern die Aufforderung füreinan-
der einzustehen.“ Der Begriff, der in der Geschichte der Arbeiterbewegung
gerade beides bedeutete, den gemeinsamen Kampf für die Arbeiterinteres-
sen und die Solidarität, sich gegebenenfalls gegenseitig beizustehen, wird
von Geißler aufgespalten. Der für die CDU-Politik unpassende Teil, der
Kampfaufruf, wird abgespalten und denunziert. Der Rest wird als die wah-
re Bedeutung des Begriffs beibehalten.4 In seiner verstümmelten Form ist er
dann für die Parteipropaganda der CDU brauchbar. Da kann man dann So-
lidarität der „Arbeitsplatzbesitzer“ mit den Arbeitslosen fordern, was nicht
nur angesichts von Massenentlassungen zynisch ist. Es ließen sich andere
Beispiele ähnlicher Art nennen. Sie gehören auch zu den medialen Reali-
tätsinszenierungen des Politikbetriebs in der „Gesellschaft des Spektakels“,
die wesentlich autokratische Herrschaft einer zur absoluten Macht gelang-
ten kapitalistischen Marktwirtschaft ist, und das Ensemble der dazugehö-
rigen Regierungstechniken.5 Es ließen sich auch viele andere Beispiele für
Sprachverhunzung bzw. Sprachverstümmelung nennen, die als unabsichtli-
che Beschädigungen der Sprache Ausdruck einer allgemeinen Verwahrlo-
sung der Sprache sind. Die Gewöhnung daran fällt offensichtlich leicht, da
man in Emails und SMS permanent mit groben Sprachverstümmelungen
konfrontiert wird.

3
Uske, 1986, S. 13 ff.
4
Eine ganzes Wörterbuch mit solchen Bedeutungsveränderungen ist Jogschies, 1987
5
Debord, 1971 (1983), Debord, 1988, S. 12

174
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat
Der Staat, der sich aus systemischen Gründen vom Wohlfahrtsstaat zum
„Sicherheitsstaat“ entwickelt hat, ist schon seit geraumer Zeit ein Über-
wachungsstaat.1 Der Staat, der als neoliberaler „Wettbewerbsstaat“ mehr
oder weniger rigoros eine Politik macht, die an den Interessen des Kapi-
tals orientiert ist, der auf diese Weise dazu beiträgt, dass sich die Schere
zwischen Arm und Reich mehr und mehr öffnet2 , dass Massenentlassun-
gen fast reibungslos durchgesetzt werden können und der durch den Ab-
bau wohlfahrtsstaatlicher Absicherungen dauerhafte soziale Ausgrenzung
schafft, begnügt sich nicht, die soziale Desintegration auf administrativem
Wege repressiv kontrollierend und mit Hilfe seiner manipulativen Mög-
lichkeiten aufzufangen. Er verändert sich in einer Weise, „dass das hervor-
stechende Charakteristikum der aktuellen Veränderungen im Staatsapparat
die Herausbildung, Ausdifferenzierung und Vereinheitlichung umfassender
Kontroll- und Überwachungsnetze ist.“3 Sie können durch die modernen
Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -speicherung perfektioniert wer-
den. In jüngster Zeit sind Informationen bekannt geworden, denen zufol-
ge die Kommunikationen der Menschen in den westlichen Staaten, auch
in Deutschland, lückenlos überwacht werden können und tatsächlich über-
wacht werden. Was die Geheimdienste im Geheimen tun, wird nicht aus-
reichend oder gar nicht demokratisch kontrolliert und kann es unter den
gegebenen politischen Voraussetzungen nicht werden.4

1
Sie dazu Hirsch, J., 1980, Hirsch, 1998 und Bölsche, 1979
2
Nach Angaben der OECD wächst in Deutschland die Einkommensungleichheit stär-
ker als in anderen Industrienationen. ZEIT Online 05.12.2011. Im Wirtschaftswunder-
land Deutschland gelten fast 16 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet. SPIE-
GEL Online 27.03.2012. Siehe dazu auch den Essay „Wachsende Ungleichheit“ von
Hans-Ulrich Wehler in DIE ZEIT vom 07.02.2013
3
Hirsch, J., 1980, S. 96
4
Auch große Unternehmen wie die Bahn, Telekom und Lidl sind in die Schlagzeilen
geraten, weil bekannt wurde, dass sie ihre Mitarbeiter überwachen und ihnen nachspio-
nieren. Es gibt sogar Firmen, die sich nicht mit Überwachung begnügen, sondern auch
Privatdetektive auf Betriebsangehörige ansetzen. SPIEGEL Online 24.7.2009

175
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat

Der Staat ist eigentlich nicht darauf angewiesen, dass bestimmte Nor-
men und Wertorientierungen verinnerlicht werden. In einer Demokratie
könnte er sich mit Konformität in den konventionellen Verkehrsformen des
Alltags und des politischen Lebens begnügen. Aber er will mehr. Er fordert
auch eine politische Loyalität, die sogar mental eingehalten werden soll.
Man kann schon als „Sympathisant“ mit politisch unerwünschten Ideen
Schwierigkeiten mit staatlichen Stellen bekommen. Und da Computer nicht
vergessen, können die Gründe dafür in weiter Vergangenheit liegen. Um
auf abweichendes, nicht angepasstes Verhalten vorbereitet zu sein, strebt
der Staat totale Überwachung an. Dementsprechend ist auch da, wo es sich
nicht um politische Einstellungen handelt, der „Eingriff von Mächten or-
ganisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, dass es
ein privates Leben kaum mehr gibt.“5 Auf diese Weise werden die persön-
lichen Beziehungen, die einen Bereich der Zuucht vor dem zunehmend
„kriegerischen und barbarischen“ gesellschaftlichen Leben sein könnten,
selbst koniktgeladen und zu einem Bereich „vehementer Auseinanderset-
zungen“.
Das Ausmaß und die Skrupellosigkeit mit der die Überwachung der
Bevölkerung und des gesamten öffentlichen und privaten Lebens betrie-
ben wird, dieses unberechtigte Eindringen in die persönlichsten Bereiche
der Menschen, sind Symptome von Verwahrlosung. Der Staat, der als wah-
rer Spanner die Privatsphäre seiner Bürger nicht respektiert und es in Un-
mengen Daten protokolliert, wird dadurch auch zu einem verwahrlosenden
„Messie“, weil ein großer Teil der Daten über Personen Datenmüll ist oder
im Laufe der Zeit dazu wird.6 Menschen verändern sich im Laufe ihres Le-
bens, sie sind lernfähig, sie können in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten
sich völlig wandeln. Die Daten, die über Saulus gesammelt wurden, besa-

5
Als Lasch dies feststellte war noch nicht bekannt, in welchem Ausmaß der amerika-
nische Geheimdienst NSA und andere Geheimdienste die Privatsphäre entprivatisiert
haben. Lasch, 1979 (1986, S. 47). Dort auch das folgende Zitat.
6
Als Messie-Syndrom wird zwanghaftes Horten von bestimmten oder unterschiedlichs-
ten Dingen bezeichnet. Eine relativ häuge Variante davon ist die Vermüllung von
Wohnungen, deren Bewohner sich nicht dazu überwinden können, irgendwelche Ge-
genstände fortzuwerfen. In psychologischer Perspektive kann das Syndrom als Folge
einer Wertbeimessungsstörung gesehen werden. (siehe Wikipedia „Messie-Syndrom)

176
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat

gen kaum noch etwas über Paulus und erlauben keine Einschätzung, wie
dieser sich unter bestimmten Umständen verhält.
Ein Problem besonderer Art, das nicht die Verwahrlosung des Staates
betrifft, sondern die Verwahrlosung bestimmter Gruppen in der Bevölke-
rung, sind staatliche Sprachregelungen wie z.B. das Verbot der öffentlichen
Leugnung des Holocaust. Solche Verbote der Leugnung von Verbrechen
gegen die Menschlichkeit gibt es in mehreren Ländern. In Frankreich z.B.
darf öffentlich auch nicht darauf beharrt werden, der Ende des 19. Jahrhun-
derts zu Unrecht des Hochverrats beschuldigte jüdische Ofzier Dreyfus
sei doch ein Verräter gewesen. In solchen Fällen sieht sich der Staat veran-
lasst, öffentliche Meinungsäußerungen zu verbieten, in denen falsche Be-
hauptungen über bestimmte historische Ereignisse aufgestellt werden, weil
diese Behauptungen, obwohl sie nachweislich falsch sind, nicht quasi von
selbst bedeutungslos sind, sondern problematische Auswirkungen haben.
D.h., was normalerweise für falsche Behauptungen gilt, nämlich dass sie
im Laufe der Zeit nicht mehr aufgestellt werden, weil sie als falsch erkannt
wurden, ergibt sich eben bei manchen nicht. Das gilt vor allem für sol-
che Behauptungen, die rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche
Vorurteile bestätigen und verstärken. Aber auch wenn es verständlich ist,
dass der Staat solchen Tendenzen entgegenwirken will, so sind staatliche
Sprachregelungen per se problematisch. Dem Staat kann nicht zugestanden
werden, darüber zu benden, was historische Wahrheit ist.7 Dagegen kann
und muss er durch eine geeignete Maßnahmen dafür sorgen, dass tenden-
ziöser Unsinn der genannten Art gar nicht geglaubt wird.8 Dieses Problem
kann im Übrigen zu Überlegungen führen, wie es um das allgemeine Bil-
dungsniveau der Bevölkerung steht. Das impliziert auch die Frage nach ei-
ner weit verbreiteten geistigen Verwahrlosung.9 Dazu gibt es jedoch keine
brauchbaren Untersuchungen allgemeiner Art.10
7
Siehe den „Appel de Blois“ mehrerer bedeutender Historiker verschiedener Länder. Le
Monde 10.10.2008
8
Bloße Aufklärung allein genügt nicht, insofern der „Unsinn“ mit Vorurteilen verschmol-
zen ist.
9
Die Massenmedien, vor allem das Fernsehen könnten viel zu ihrer Bekämpfung beitra-
gen. Die Zeiten, in denen die dritten Programme der ARD noch quasi aufklärerische
Tendenzen aufwiesen, sind aber längst vorbei.
10
Soweit es Untersuchungen über das historische und politische Wissen von Jugendlichen

177
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat

gibt, sind die Resultate besorgniserregend. Gemessen an den Möglichkeiten der moder-
nen Medien das allgemeine Bildungsniveau zu fördern, sieht es allgemein nicht gut aus.
So ist z.B. das durchschnittliche Niveau von Fernsehsendungen in den meisten europäi-
schen Ländern sehr niedrig. In Deutschland ist diesbezüglich die Situation etwas besser,
dank des öffentlich rechtlichen Fernsehens.

178
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
Es genügt nicht, die Verbreitung von subjektiven Verwahrlosungserschei-
nungen wahrzunehmen, zu beschreiben und psychologisch zu verstehen.
Man muss darüber hinaus, im Sinne des Arguments von Arnold Hauser,
ihre gesellschaftlichen Ursachen erkennen, klar benennen und kritisieren,
wenn man über wirkungslose moralische Appelle hinauskommen will. Ei-
nige soziokulturelle bzw. gesellschaftliche Mechanismen, die subjektive
Verwahrlosung fördern, sind leicht wahrnehmbar. Das gilt wesentlich für
die fünf genannten Charakteristika von Verwahrlosung: Mangel an trag-
fähigen Identizierungen, narzisstische und somit lose Objektbeziehun-
gen, Fortbestehen des Primärprozesses, schwaches Über-Ich und extreme
Selbstwertgefühlsschwankungen. Flüchtige Identizierungen und narziss-
tische und lose Objektbeziehungen sind quasi unvermeidlich und überle-
bensnotwendig in einer Gesellschaft, in der die Individuen stets exibel,
mobil und wendig sein müssen. Das Fortbestehen des Primärprozesses wird
durch Infantilisierung, Entmündigung und medienvermittelten Realitätsver-
lust gefördert. Die Abschwächung der ödipalen Konikte und Erziehung
ohne klare moralische Orientierung in einer Gesellschaft, in der der Ehr-
liche der Dumme ist, schwächen das Über-Ich. Und starke Selbstwertge-
fühlsschwankungen werden durch dauernde soziale Unsicherheit (Arbeits-
losigkeit, Umweltgefahren, ökonomische Gefahren) zumindest verstärkt.
Die Frage ist, welche gesellschaftliche „Logik“ die Verhältnisse bestimmt.
Meine Argumentation, dass die gesellschaftliche Verwahrlosung wesent-
lich eine Folge der unaufhaltsamen kapitalistischen Durchdringung aller
Lebensbereiche ist, die alles Moralische permanent in Frage stellt, sowie
bestimmter Eigenschaften der neuen Medien und neuer Möglichkeiten von
Eingriffen in die Reproduktion der Gattung Mensch, ndet in zahlreichen
wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Beobachtungen ihre Be-
stätigung.
Ein Essay des Schriftstellers Bodo Kirchhoff z.B. enthält wesentliche
Aspekte – Infantilisierung, Finanzkrise, Medienwirkungen – für eine zu-
treffende Gesellschaftsdiagnose. Sie bleibt aber auf der Ebene von Psycho-

179
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

logie und Medienkritik: „Die Finanzkrise ist Teil einer Sozialisationskrise,


eines menschlichen Substanzverlustes aus den letzten Jahrzehnten, ange-
facht durch die elektronische Revolution: einer Verwahrlosung auf hohem
Niveau.“1
Den kapitalistisch-ökonomischen Aspekten der Verhältnisse, wie ich
sie eingangs skizziert habe, kommt Richard D. Precht näher.2 Auch er kon-
statiert „einen Moralverlust in allen sozialen Schichten, einen Sittlichkeits-
verfall im öffentlichen Umgang, eine Enthemmung bei Sex und Gewalt,
eine soziale Erosion der Mittelschicht und vor allem: Desorientierung.“
Er konstatiert auch, dass die Schere zwischen Arm und Reich auseinander
geht. Und er sagt klar: „Der Moralverlust durchwirkt in je eigener Ausprä-
gung alle Gesellschaftsschichten. Kriminelle Banker, die auf Staatskosten
Milliarden verzocken und Millionen-Abndungen bekommen, Kleinbetrü-
gereien bei der Steuererklärung, tagtägliche Egoismen im Straßenverkehr.“
Er nennt auch eine wesentliche Ursache dieser Gegebenheiten: „Unsere Ge-
sellschaft, unser Wirtschaftssystem, züchtet den Egoismus an allen Fron-
ten.“ Er hat zwar auch darin teilweise Recht, dass er dahinter den Konikt
zwischen ökonomischem Liberalismus und Demokratie sieht. Er scheint al-
lerdings zu glauben, „ein Ausstieg aus dem materialistischen Wachstums-
wahn“ wäre ein Schritt in die richtige Richtung. Der Wachstumswahn ist
jedoch kein Wahn, sondern Wachstum ist eine Systembedingung des Ka-
pitalismus und eine konsequente Demokratisierung der Ökonomie ist unter
kapitalistischen Voraussetzungen nicht möglich.
Prechts Gegenüberstellung zweier „moralischer Kulturen“, des „Ethos
des Sozialen“ und des „Ethos des Dissozialen“ verfehlt den Kern des Pro-
blems. Sie passt nicht zu seiner Erkenntnis, dass der Markt ein „Moralzeh-
rer“ ist, „der unsere moralisch-sittlichen Reserven verbraucht.“ Es ist einer-
seits richtig, dass die kapitalistische Durchdringung aller gesellschaftlichen
Bereiche einen Moralverlust in allen sozialen Schichten bewirkt. Werte wie
Heroismus, Ehre, Großzügigkeit und Mitleid, die keinen ökonomischen
Nutzen haben, fallen überhaupt unter den Tisch. Mehr noch im Kapitalis-
mus werden Geiz, Habgier, Neid und das Prinzip des Eigennutzens zu Tu-

1
Kirchhoff, 2009
2
Precht, 2010

180
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

genden.3 Andererseits jedoch werden auch in kapitalistischen Gesellschaf-


ten immer noch Menschen mit sozialen Tugenden wie Verantwortung, Ehr-
lichkeit, Pichtbewusstsein, Zuverlässigkeit, Loyalität, Kreativität und Be-
geisterungsfähigkeit u.ä. gebraucht und es gibt sie.4 Precht zufolge müsste
man sie, allein schon wegen ihrer charakterlichen Eigenschaften der Kultur
des „Ethos des Sozialen“ zurechnen. Sie wären allein schon durch ihre Ei-
genschaften nicht systemkonform oder gar systemkritisch. Precht bedenkt
nicht, dass man auch mit moralisch noch so hoch stehenden Eigenschaften
zum nützlichen Idioten eben des Gesellschaftssystems werden kann, das
man wegen seiner Verwahrlosungstendenzen ablehnt. Wer für eine Ethik
des Sozialen ist und erkennt, dass der kapitalistische Markt ein „Moralzeh-
rer“ ist, muss doch vor allem diesen Markt bzw. den Kapitalismus bekämp-
fen, um das Ethos des Sozialen zu fördern. Dessen Realisierung gleicht in
einer kapitalistischen Gesellschaft unvermeidlich einer Sisyphusarbeit.
In dem Beitrag von Frank Schirrmacher zu diesen Fragen, spielen psy-
chologische Aspekte fast keine Rolle mehr.5 Um seiner Argumentation fol-
gen zu können, sollen wir „für einen Moment“ vergessen, was wir „von
Psychologie und Hirnforschung oder auch nur aus der eigenen Erfahrung
über das Rätsel des eigenen Dasein wissen.“ Bei ihm kommen keine nar-
zisstisch gestörten, verwahrlosten, depressiven, autistischen oder infanti-
len Menschen vor. Sein eigentlicher Gegenstand ist ein von ihm erfunde-
ner Doppelgänger des normalen Menschen, eine Art Homunkulus, den er
„Nummer 2“ nennt. Er ist eine Spezies der Gattung homo oeconomicus. Er
hat nur zwei Gene: „eines für Egoismus und eines für Prot (und vielleicht
noch ein drittes für Angst)“ (S. 140) Dementsprechend ist er „reduzierbar
auf das, was er egoistisch will und wählt, seine sogenannten Präferenzen,
und die lassen sich mathematisch berechnen.“ (S. 31) Er lässt sich dement-
sprechend leicht durchschauen und manipulieren. Dies geschieht im heu-
tigen „Informationskapitalismus“ durch die dominierend gewordene „In-
formationsökonomie“. Sie „bewertet Gefühle, Vertrauen, soziale Kontakte
genauso wie Aktien oder Waren und sie hat, zum ersten Mal in der Ge-
3
Skidelsky, 2008
4
Ein Tatsache, die in meiner Untersuchung hier nicht angemessen berücksichtigt werden
kann.
5
Schirrmacher, 2013, S. 9

181
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

schichte, die technischen Mittel, dies immer perfekter zu tun.“(S. 15) Zu


diesen Mitteln gehört wesentlich der Einsatz von Algorithmen und Spiel-
theorie. Neoklassische Ökonomie, Darwinismus und Computertechnologie
verschmelzen zu einer neuen „Supertheorie“. In dieser Perspektive „wird
der Mensch zur Summe seiner Algorithmen.“ Der zur „Nummer 2“ redu-
zierte Mensch kennt nur eine einzige Überlebensstrategie: „Man muss alle
anderen auf ihren Egoismus reduzieren, auf einen Bluff, auf einen Plan,
den sie verschweigen und mit dem sie das Spiel des Lebens gewinnen wol-
len.“(S. 251)
Schirrmacher lässt sich, ungeachtet seiner kritischen Perspektive, ganz
offensichtlich von den zum Teil großspurigen, um nicht zu sagen narzissti-
schen Selbsteinschätzungen der Theoretiker beeindrucken, die er als Zeu-
gen für seine Thesen angibt.6 Stellenweise klingt sein Buch wie Science
Fiktion: Er schildert einen Albtraum, dessen Tagesreste aus der Wissen-
schaft stammen.7 Schirrmacher beschwört die Gefahr, dass „Nummer 2“
ganz an die Stelle von Nummer 1, also des normalen Menschen, treten
könnte. Die ersten Sätze seines Buches klingen sogar so, als sei dies bereits
der Fall: „Wir sind wahnsinnig unkompliziert geworden“ und „Ohne dass
wir es gemerkt haben, haben Ökonomen den Seelenhaushalt des modernen
Menschen zu ihrer Sache gemacht.“
Bei Schirrmacher wird die von mehreren Autoren vertretene berechtig-
te Kritik, dass in unsere Gesellschaft, unsere Lebenswelt von der Ökonomie
kolonialisiert worden ist, überzogen. Er weiß zwar, dass es ein Unterschied
ist, „ob man annimmt, dass Menschen von reinem Selbstinteresse getrie-
ben sind, oder ob man eine gesamte Population so programmiert, dass sie
es sind“.(S. 183) Aber obwohl „unzählige Autoren, darunter viele Ökono-
men“, in den letzten Jahren und Jahrzehnten gezeigt haben, „dass die An-
nahmen, die dem „homo oeconomicus“ zugrunde liegen, der Vielschich-
tigkeit der menschlichen Psyche und der menschlichen Gesellschaft nicht
gerecht werden“, vertritt Schirrmacher doch „die These, dass er, den wir auf
diesen Seiten Nummer 2 nennen, irgendwann in den letzten Jahren buch-
6
Nur ein Beispiel: „Charnock und ihr Team fanden zu ihrer eigenen Verwunderung her-
aus, dass sie in der Lage waren ‹den Charakter von Menschen und Organisationen mit
klinischer Präzision zu erfassen›“. S. 263
7
Sieh dazu die Denition von Science Fiktion in Thaon, 1986, S. 20

182
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

stäblich zum Leben erweckt worden ist und zu etwas wurde, was der ver-
antwortliche Teil seiner Schöpfer niemals wollte.“ Wie weitgehend dieser
Homunkulus psychologisch möglich ist, berücksichtigt er nicht. Auch die
Autoren, auf die er sich beruft, haben offensichtlich ein ökonomistisch ver-
engtes Bild der Menschen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass egoistisches
Handeln nicht nur bedeuten kann, dass der eigene materielle Vorteil ge-
sucht wird. Es kann auch narzisstisch, aus Eigenliebe motiviert sein.8 Man
tut dies und jenes nicht, weil es dem Bild, das man von sich hat nicht ent-
spricht oder weil es dem Bild nicht entspricht, das andere von einem haben
sollen.9 Die „Nummer 2“, die nur aus Eigennutz im Sinne ihrer Schöpfer
handelt, orientiert sich nicht an irgendwelchen Werten, ist also amoralisch.
Für sie gilt die Feststellung einer von Schirrmacher zitierten Juristin: „Der
homo oeconomicus ist ein Soziopath“.10
Bei Schirrmacher nden sich zahlreiche kritische Beobachtungen zur
ökonomischen Kolonialisierung der Lebenswelt, die auch in anderen von
mir berücksichtigten Autoren und generell eher bei als links geltenden Au-
toren zu nden sind. Seine zentrale These, dass Ökonomie und ihre Ge-
dankenmodelle alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, ist allerdings
keineswegs neu. Er kann jedoch erklären, warum sie in den letzten Jahren
so enorm beschleunigt erfolgte. Er leitet diese Entwicklung aus einer poli-
tischen Konstellation in den 50er Jahren in den USA ab. Die Think tanks
des militärisch-industriellen Komplexes, die nach dem Ende des mit ihrer
Hilfe gewonnenen Kalten Krieges ihr Anwendungsgebiet verloren haben,
haben in der Ökonomie ein neues gefunden. Mit Hilfe von Spieltheorie
und des Einsatzes von Algorithmen haben sie den Informationskapitalis-
mus gestaltet, der aus dem normalen Menschen eine „Nummer 2“ macht.

8
Bzw. aus Liebe, wie Schmideberg gezeigt hat. Siehe oben S. 53
9
Siehe dazu das von Schirrmacher erwähnte Experiment, das in der RAND-Corporation
mit Sekretärinnen gemacht wurde. Es wurde erwartet, dass sie, so wie die Versuchsan-
ordnung gestaltet wurde, sich egoistisch verhalten würden. Stattdessen haben sie mitein-
ander kooperiert. Das Misslingen des Experiments wurde den Sekretärinnen angelastet.
„Sie seien schwache Subjekte, unfähig, der einfachen Grundregel zu folgen, dass ihre
Strategien egoistisch zu sein hatten“ Schirrmacher, 2013, S. 64. Die Möglichkeit, dass
Egoismus auch narzisstisch motiviert sein kann, war den Forschern offensichtlich nicht
klar.
10
Lynn A. Stout

183
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

Der ökonomische Utilitarismus und seine Ursprünge sind aber schon lange
vor Schirrmacher denunziert worden.11 Schirrmacher verdeutlicht jedoch
besonders klar die Gefahren einer Verhaltenssteuerung über die neuen Me-
dien. Handy, PC, Facebook etc. erzwingen quasi bestimmte Verhaltenswei-
sen und ermöglichen vielfältige Varianten von Manipulation der Wahrneh-
mung, Wünsche und Einstellungen. Er übergeht jedoch die Widersprüche,
die sich aus den unmerklichen Zwängen eines durch Algorithmen gesteu-
erten Sozialdarwinismus einerseits und der Ideologie der Selbstverantwort-
lichkeit andererseits ergeben, der zufolge jeder Mensch zum „Manager sei-
nes eigenen Ichs“ werden soll.
Durch seine schonungslose Darlegung der Tatsache, dass im neolibera-
listischen System die viel beschworenen Werte der westlichen Welt ruiniert
werden, auf die Konservative sich gerne berufen, hat sich Schirrmacher
den Ruf eines radikalen Kapitalismuskritikers erworben. Dementsprechend
wären bei ihm radikale systemkritische Ansatzpunkte zur Veränderung der
Verhältnisse zu erwarten, wo er sich auch Gedanken über einen „Ausweg“
aus dem von ihm dargestellten Dilemma macht. Das ist jedoch nicht der
Fall. Seine Kritik endet als intellektuelles Hornberger Schießen: „Nach La-
ge der Dinge kann er (HF: der Ausweg) nur darin bestehen, die Ökonomi-
sierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrah-
teten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu
trennen.“(S. 286) Da kann jeder den Anfang machen: „Vielleicht ist ja ganz
einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die „Nummer
2“ uns aufzwingt. Es ist eine Entscheidung, die der Einzelne treffen kann –
und die Politik.“
Tatsächlich gibt es Möglichkeiten, sich der Reduzierung auf einen ganz
egoistischen, protsüchtigen und ängstlichen Charakter zu widersetzen, vor
allem wenn dies nicht nur individuell, sondern in Gemeinschaft mit an-
deren geschieht. Soweit es dazu in unserer Gesellschaft kommt, geschieht
dies in der Regel auf Grund gesellschaftskritischer Einsichten, die nicht nur

11
So von Caillé, 1988. Dieser verweist in historischer Perspektive aber zurecht auch auf
Mandevilles „Bienenfabel“. In ihr wird in satirischer Schärfe ein Bienenvolk dargestellt,
dessen Bienen völlig amoralisch sind, aber wie gerade durch ihre privaten Laster ge-
sellschaftliche Vorteile entstehen. Eine Moralisierung des Bienenvolkes bedeutet seinen
Ruin. Mandeville, 1705

184
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik

das egoistische Menschenbild in Frage stellen, sondern die absolute Domi-


nanz der Ökonomie in der Gesellschaft überhaupt. Das impliziert zugleich,
dass andere Formen des Wirtschaftens und subkulturellen Zusammenlebens
praktiziert werden, die eine Abgrenzung vom Wirtschaftssystem als Gan-
zem bedeuten. Schirrmacher jedoch stellt die „Ökonomisierung“ als solche
gar nicht in Frage. Er will nur das damit verbundene Menschenbild von ihr
abtrennen. Die von ihm so dramatisch beschriebenen Zwänge und Verhal-
tenssteuerungen durch komplexe Algorithmen verlieren bei seiner Empfeh-
lung unerklärlicherweise ihre unwiderstehliche Kraft. Einsicht, guter Wille
und – wer weiß – volkspädagogische Missionierung sind angemessene Re-
aktionen. Darin bleibt Schirrmacher ganz der Konservative, für den man
ihn bisher gehalten hat.

185
Gesellschaftliche Verwahrlosung und
Realitätsverlust
Wie ich im Anschluss an Georges Devereux dargelegt habe, ist es prinzi-
piell legitim von gesellschaftlicher Verwahrlosung im Sinne einer patho-
logischen Gestörtheit zu sprechen, ohne sich willkürlich auf irgendwel-
che Wertvorstellungen beziehen zu müssen. Tiefgreifende gesellschaftliche
Veränderungen wie die völlige kapitalistische Durchdringung und Kom-
merzialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und als Folge davon die
utilitaristische Relativierung oder Suspendierung aller nicht ökonomisch
begründeten Wertorientierungen, der Ruin bestimmter anthropologischer
Grundlagen und eine Verunsicherung der individuellen und kollektiven
Wahrnehmung von Realität, als Folge einer rasanten und in den Auswir-
kungen bisher nur ansatzweise verstandenen Entwicklung der Medien, sind
ihre wesentlichen Ursachen.
In welchem Ausmaß objektive gesellschaftliche Verwahrlosung auch
subjektive Verwahrlosung im engeren Sinne verursacht, lässt sich jedoch
wie schon erwähnt, nicht angeben. Zum einen deswegen nicht, weil Ver-
wahrlosung auch latent bleiben oder sich kaschiert in psychosomatischen
Symptomen äußern kann. Zum anderen nicht, weil manifestem verwahr-
lostem Verhalten nicht anzusehen ist, ob es die Folge einer Anpassung an
die gegebenen Verhältnisse ist, also adaptive Verwahrlosung, oder die Folge
subjektiver Verwahrlosung, also einer psychischen Disposition. Das wäre in
jedem einzelnen Fall zu klären. Das aber ist schon deswegen nicht möglich,
weil die Psychoanalytiker sich inzwischen an anderen theoretischen Ansät-
zen orientieren. Sie kennen weder den erwachsenen Verwahrlosten noch
Verwahrlosung als „nosologische Einheit zwischen Neurosen und Psycho-
sen“ (Spanudis).
Es ist jedoch wahrscheinlich, dass gesellschaftliche Verwahrlosung
über einen längeren Zeitraum auch bei charakterfesten Menschen psy-
chische Folgen hat. Das Über-Ich kann sich im Laufe eines Lebens än-
dern. Dass gesellschaftliche Verwahrlosung, vermittelt über verschiedene
gesellschaftliche Institutionen, vor allem familiale Sozialisation und Er-

186
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust

ziehung, subjektiv individuelle psychische Verwahrlosung verursacht, er-


scheint kaum zweifelhaft. In welcher Art von Sozialisationsverläufen dies
geschieht, ist in älteren psychoanalytischen Arbeiten im Einzelnen darge-
stellt worden. Aus den bereits genannten Gründen lässt sich zwar nicht klä-
ren, in welchem Ausmaß solche subjektive Verwahrlosung aktuell zustande
kommt. Gezeigt werden konnte hier aber doch, dass Sozialisationsfaktoren
und- konstellationen aktuell gegeben sind, die das Entstehen von subjekti-
ver Verwahrlosung verursachen.
Die aktuellen psychoanalytischen Diskussionen beschäftigen sich an-
stelle von „gewöhnlicher Verwahrlosung“, die zweifellos auch narzisstische
Eigenschaften hat, nur mit verschiedenen anderen Varianten von narzissti-
schen Störungen. Soweit diese wenigstens teilweise die psychischen Be-
sonderheiten von Verwahrlosten erfassen, sind es doch Konstruktionen von
Typen, die von „normalen“ Menschen durch eine Kluft getrennt erscheinen.
Das war bei den Auseinandersetzungen von Lampl de Groot, Schmideberg,
Bernfeld und anderen mit Verwahrlosten und Delinquenten nicht der Fall.
Nun handelt es sich in den vergleichbaren Fällen um manifest so schwie-
rige und so schwer zu therapierende Menschen, dass es nahe liegt auch
nach neurologischen Gründen zu suchen. Und da verwahrlostes Verhalten
Konjunktur hat, erscheint in vulgärpsychologischer Perspektive die Welt
von Psychopathen bevölkert. Von da aus ergibt sich dann die Perspekti-
ve, Delinquenz und Kriminalität ließen sich durch frühes Aussortieren und
Therapieren von neurologisch verdächtigen Kindern betreiben.1
Die beschriebenen psychoanalytischen Auseinandersetzungen mit Ver-
wahrlosung, vor allem die Präzisierung, was mit „gewöhnlicher Verwahrlo-
sung“ gemeint ist, ergeben ein psychoanalytisch begründetes Charakterbild
des Verwahrlosten. Seine große Ähnlichkeit mit dem narzisstischen Cha-
rakter, wie ihn Lasch beschreibt, legt die Annahme nahe, dass es sich bei
dem Phänomen zunehmender Verwahrlosung unserer Gesellschaft um eine
Weiterentwicklung, eine Steigerung der problematischsten Eigenschaften
der „Kultur des Narzissmus“ handelt. Da es unsinnig wäre, von einer Kultur
1
Dazu und wie man von neurobiologischen Ansätzen ausgehend zum geborenen Verbre-
cher und schließlich zum Bösen im Menschen überhaupt kommt, siehe z.B. Heinemann,
T. (2014): Gefährliche Gehirne: Verdachtsgewinnung mittels neurobiologischer Risiko-
analysen. Krim. Journal, 46. Jg. 2014, H. 3

187
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust

der Verwahrlosung zu sprechen, bezeichnet die Formulierung „verwahrlo-


sende Kultur“ bzw. verwahrlosende Gesellschaft den Sachverhalt am bes-
ten.
Die eingangs erwähnte Frage, ob die Untersuchung der verwahrlosen-
den Gesellschaft nicht auch prinzipielle psychologische Grenzen der Ent-
wicklung unserer Gesellschaft wahrnehmbar macht, führt nicht nur noch
einmal zu Devereuxs Diagnose zurück, die moderne Zivilisation leide an ei-
ner „sozio-politisch-ökonomischen Schizophrenie, die auf fehlendem Rea-
lismus und hastigen Extrapolationen beruht“.2 Berücksichtigt werden muss
auch, dass, wie dargestellt, mehrere Psychoanalytiker, die direkt an Aich-
horn angeknüpft haben, auf die Nähe von Verwahrlosung zu Psychose ver-
wiesen haben. Zur gesellschaftlichen Verwahrlosung gehören offensicht-
lich verschiedene Varianten der Beeinträchtigung der Realitätswahrneh-
mung und Realitätsverlust. Das gilt, wie ich dargestellt habe, für die partiell
beeinträchtigte Realitätswahrnehmung der subjektiv verwahrlosten Men-
schen, für Orientierungsschwierigkeiten in einer Gesellschaft ohne stabile
Wertrealität und für die medial verursachten Schwierigkeiten von Realitäts-
wahrnehmung. Das gilt auch für Schirrmachers negative Utopie einer von
Psychopathen bevölkerten Gesellschaft. Er nimmt an, dass „die Modelle
unserer Rationalität uns so sehr reduziert haben, dass wir glauben, dass wir
nicht mehr in der Lage sind, selbst herauszunden, was wir wollen.“3
Realitätsverlust in diesem Sinne ist zweifellos charakteristisch für die
verwahrlosende westliche Kultur. Er ist die verhängnisvollste Folge des
Verlustes jeder Art stabiler Werteorientierung, die vor ökonomisch begrün-
deter Desavouierung nicht geschützt ist. Er ist das wichtigste Symptom der
gesellschaftlichen Verwahrlosung, deren Steigerung Anomie bedeutet. Ein
völliger Realitätsverlust ganzer Gesellschaften würde ihr Verhalten unkal-
kulierbar machen. Selbst rationale Entscheidungen könnten sich als völ-
lig irrational erweisen. Diese Tendenz wird jedoch gebremst und ist oft
nicht deutlich wahrnehmbar, weil in der Konfrontation mit anderen Kul-
turen permanent eine Selbstvergewisserung der eigenen kulturellen Wert-
orientierungen zustande kommt. Vor allem dann, wenn die anderen Kultu-

2
Devereux, Georges, 1939 (1977, S. 233)
3
Schirrmacher, 2013, S. 289

188
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust

ren rückständige, gar mittelalterlich anmutende Züge aufweisen und keine


dem westlichen Zeitalter der Aufklärung vergleichbare Entwicklung durch-
gemacht haben. Ihnen gegenüber wird dann auf die westliche überlegene
„Wertegemeinschaft“ verwiesen. Wie es um deren reale Geltung bestellt
ist, bleibt dahingestellt. Die Problematik einer solchen Gegenüberstellung
wird zumindest gelegentlich deutlich. So z.B. wenn bei anderen Gesell-
schaften die Beachtung von Menschenrechten angemahnt wird, im eigenen
Land jedoch Folter und Misshandlungen von Gefangenen praktiziert wer-
den. Unsere westlichen Gesellschaften brauchen wohl permanent Konikte
mit anderen Kulturen, um nicht tatsächlich psychotisch zu werden. Politi-
sche Konikte werden deswegen gerne als Kulturkonikte interpretiert.

189
Verwahrloste in Zeiten enttäuschter Erwartungen
Die psychischen Dispositionen narzisstischer und verwahrloster Menschen
sind viel zu komplex, als dass es realistisch wäre anzunehmen, diese ließen
sich beliebig den Zwängen des ökonomischen Systems und seinen sozialen
und psychologischen Auswirkungen anpassen oder durch die massenhaf-
te Verbreitung von bestimmten Produkten moderner Technologie und Al-
gorithmen steuern. Soweit sie unter den Zwängen leiden, ohne zu durch-
schauen warum, können sie auf verschiedene Arten unangemessen rea-
gieren. Sie können zum Beispiel als sekundäre Neurotiker in Therapien,
Selbsterfahrungsgruppen und spirituellen Praktiken ihr Heil suchen. Sie
können bei rechtsradikalen und fundamentalistischen Gruppierungen ih-
re Enttäuschungen und Ressentiments unterbringen und eventuell sich gar
manifest verwahrlost verhalten. Wenn die Verhältnisse sich aber krisen-
haft rascher verschlechtern, die Schere zwischen Arm und Reich sich wei-
ter öffnet und große Teile der Bevölkerung zunehmend die narzisstischen
Kränkungen erfahren, die mit der Wahrnehmung der ständig wachsenden
sozialen Ungleichheit, der Gefährdung der eigenen sozialen Situation und
der Missachtung jeglichen Privatlebens durch den Staat verbunden sind,
kann es schwierig werden, die entstehenden Reaktionen noch systemisch
aufzufangen und zu neutralisieren. Dies umso mehr, als solche Reaktionen
keineswegs in erkennbarer Beziehung zu ihren eigentlichen Ursachen ste-
hen müssen. Die Psychoanalyse kennt den Mechanismus der Verschiebung
von Unbewusstem. Verdrängtes kann verschoben in ganz andere Bereichen
entstellt zutage treten, so dass seine eigentliche Bedeutung gar nicht er-
kennbar ist. In diesem Sinne interpretiert z.B. Jakob Augstein die Pegida-
Demonstrationen in Deutschland als Reaktionen auf die zunehmende so-
ziale Kälte in einem zunehmend ungerechten Wirtschaftssystem. 1 Dement-
1
Jakob Augstein: „Null Toleranz für Pegida“, SPIEGEL Online 18.12.2014. Angesichts
der vielfachen Zwänge des beruichen und sozialen Alltags ließe sich hier auch eine
andere analoge, weniger tiefgründige Erklärung anführen, die sich in Breuers Beiträgen
zu den „Studien über Hysterie“ ndet. Der Patient, der beim Zahnarzt Schmerzen aus-
halten muss, aber den Kopf nicht bewegen darf, zuckt eben mit den Händen oder Füßen,
an denen die Schmerzen gar nicht lokalisiert sind. Breuer, J.(1895)

190
Verwahrloste in Zeiten enttäuschter Erwartungen

sprechend hilos reagieren die Politiker auf die sehr unterschiedlichen,


sachlich nicht überzeugenden und zum Teil wirren Argumente der Demons-
tranten. Dies umso mehr, als die Demonstrationen sich nicht einfach als
Auswüchse eines sozial deklassierten Pöbels darstellen lassen, demgegen-
über Recht und Ordnung durchgesetzt werden müssen. Die Proteste kom-
men aus der Mitte der Gesellschaft. Mit solchen Reaktionen dieser oder
ähnlicher Art, ist auch künftig zu rechnen.
Gegenwärtig besteht die größte Gefahr darin, dass enttäuschte Erwar-
tungen der Bevölkerung xenophoben, gewaltorientierten, vor allem rechts-
radikalen Gruppierungen zugutekommen. Diese sind in ihren Denk- und
Verhaltensweisen für frustrierte Verwahrloste besonders attraktiv. Sie pro-
pagieren polarisierendes Schwarz-Weiß-Denken, Nationalstolz und einfa-
che Lösungen mit denen die Lebensverhältnisse wieder verbessert werden
sollen, deren Wirksamkeit sie aber nicht zu beweisen brauchen. Wenn aber
bei zu vielen Menschen die Zumutungen, – auch vermeintliche –, der ver-
wahrlosenden Gesellschaft als unerträglich empfunden werden, politische,
psychologische und religiöse Versprechungen ihre Glaubwürdigkeit ver-
lieren und der zunehmend liberalistische Staat als Sozialstaat diskreditiert
ist, gewinnen die problematischsten Charakterzüge der Verwahrlosten aus-
schlaggebende Bedeutung: die Unfähigkeit Frustrationen auszuhalten und
die anspruchsvolle Einforderung der unmittelbaren Befriedigung ihrer Be-
dürfnisse. Unter den ungehemmten Affektäußerungen, zu denen Verwahr-
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