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Individuelle Und Gesellschaftliche Verwahrlosung LIT
Individuelle Und Gesellschaftliche Verwahrlosung LIT
Band 39
LIT
Hans Füchtner
LIT
½
Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruckpapier entsprechend
ANSI Z3948 DIN ISO 9706
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung. . . . . . . . 2
Denitionen von Verwahrlosung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
Zum Begriff „gesellschaftliche Verwahrlosung“ . . . . . . . . . . 12
Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus. . . . . . 15
Verwahrlosende Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
a) Klagen und Symptome . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
b) Globale sozialpsychologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . 26
c) Anthropologische Aspekte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
d) Ödipale Koniktvarianten und gesellschaftliche Pathologie . . 40
i
Inhaltsverzeichnis
Melitta Schmideberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
Johnson und Szurek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Ruth Eissler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Aspekte der berücksichtigten Ergänzungen, die für die Frage ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung von besonderer Bedeutung sind . . 90
ii
Inhaltsverzeichnis
iii
Danksagung
Dieses Buch ist zum großen Teil unter arbeitstechnisch ungünstigen Bedin-
gungen entstanden. Ich bin deswegen meiner Tochter Veronika besonders
dankbar, dass sie mir so manche wissenschaftliche Publikation zugänglich
gemacht hat, an die ich sonst weder in der französischen Provinz noch in
Rio de Janeiro herangekommen wäre. Birgit Gärtner danke ich für kritische
Anmerkungen zu einer ersten Fassung dieses Buches.
Le Cailar/Rio de Janeiro,
März 2015
1
Einleitung
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung
In neuerer Zeit ist im Hinblick auf soziale und insbesondere moralische
Missstände in unserer Gesellschaft immer häuger von Verwahrlosung die
Rede. Einige Beobachter behaupten sogar, unsere Gesellschaft sei krank.
Klagen über den Verfall von Sitten und Anstand sind in der Geschichte
unserer Gesellschaft allerdings nichts Neues. Die Ciceronische Entrüstung
„o tempora, o mores“ fand immer wieder ihren Widerhall. Auch gegen-
wärtig werden immer häuger, vor allem in den Medien, Werteverfall und
Werteverlust und gesellschaftliche Verwahrlosung beklagt. Inwieweit die-
se Klagen berechtigt sind, lässt sich jedoch nicht objektiv beurteilen. Es
gibt keine unbestrittenen Maßstäbe dafür. Ebenso schwer zu beantworten
ist die Frage, ob die beklagten Missstände als Symptome einer Erkrankung
der Gesellschaft diagnostiziert werden können. Ich gehe in der folgenden
Auseinandersetzung mit dieser Thematik jedenfalls davon aus, dass die Zu-
nahme an Diskussionsbeiträgen dazu ein sozialpsychologisch bedeutsames
Symptom wichtiger gesellschaftlicher Veränderungen ist. Diese sind über-
wiegend die Ursachen der beklagten moralischen Missstände und nicht de-
ren Folgen, wie oft unterstellt wird.1 Es lohnt sich also zu fragen, ob sich
kausale Zusammenhänge zwischen dem, was ich in der Folge als „gesell-
schaftliche Verwahrlosung“ denieren werde, und bestimmten, für unsere
heutige Gesellschaft charakteristischen, tiefgreifenden Veränderungen auf-
zeigen lassen. Daran anschließend kann dann die Frage erörtert werden, ob
es überhaupt sinnvoll ist, von „kranker“ Gesellschaft zu sprechen.
Zu den tiefgreifenden Veränderungen, die berücksichtigt werden müs-
sen, weil sie eine wesentliche Rolle bei den Veränderungen unserer all-
täglichen Lebenswelt spielen, gehören wesentlich gewiss solche, die sich
durch die globalistische Transformation des neoliberalistischen Kapitalis-
mus weltweit und in Deutschland ergeben. So vor allem Veränderungen der
1
So wird z.B. häug Arbeitslosigkeit als moralischer Missstand denunziert, d.h. sie wird
mit Arbeitsunwilligkeit u.ä. erklärt und nicht als Folge bestimmter ökonomischer Ge-
gebenheiten.
2
Ausgangspunkt und Fragestellung der Untersuchung
2
Dazu gibt es bisher vorwiegend empirische Untersuchungen mit meist unzulängli-
chen theoretischen Erklärungen der untersuchten Phänomene. Psychoanalytisch sind
die Auswirkungen bisher noch kaum untersucht worden. Das gilt in besonderem Maße
für die Psychoanalyse in Deutschland. In den USA gibt es mehrere psychoanalytisch
orientierte Publikationen zur Auswirkung des Gebrauchs von Computern und Internet.
So vor allem neben den Arbeiten der auch in Deutschland bekannten Autorin Sherry
Turkle eine Reihe von informativen Veröffentlichungen von John Suler. In Frankreich
gibt es sogar einen Psychoanalytiker, Serge Tisseron, der mit den modernen Medien
vertraut ist, sich in virtueller Realität auskennt und sich eingehend mit den Auswirkun-
gen der neuen Medien auf die frühkindliche Entwicklung beschäftigt hat. Siehe dazu in
der Folge und meine bibliographischen Angaben.
3
Einleitung
4
Denitionen von Verwahrlosung
5
Einleitung
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Denitionen von Verwahrlosung
kennt kein Gebot“ angewendet werden kann. Aber selbst in Fällen großer
Not sind psychische Dispositionen von Bedeutung.8 Verwahrlosungsphä-
nomene wie Korruption, Eigentumsdelikte, Fankrawalle, Steuerhinterzie-
hung, Gewalt gegen Ausländer usw. haben gesellschaftliche Ursachen, sind
aber ohne moralische Schwächen oder Defekte der handelnden Individuen
nicht möglich. Bezogen auf Eigentumsdelikte kann das das ganze Spektrum
zwischen „Not kennt kein Gebot“ und „Gelegenheit macht Diebe“ betref-
fen. Soweit Verwahrlosung überhaupt mit Individuen zu tun hat, hat sie
immer eine objektive soziale und eine subjektiv – individuelle Dimension,
bzw. objektive und subjektive Ursachen.9
Objektive und subjektive Verwahrlosung und ihre Folgen können sich
wechselseitig bedingen, müssen dies aber nicht. Und subjektive Verwahrlo-
sung im Sinne charakterlicher Eigenschaften führt nicht immer zu verwahr-
lostem Handeln. Wie in der Folge gezeigt wird, sind in psychoanalytischer
Sicht Verwahrlosung und abweichendes und delinquentes Verhalten nicht
dasselbe. Sie lassen sich aber auch nicht klar psychologisch voneinander
abgrenzen. Häug ist auch delinquentes Verhalten, das verharmlost oder
gar nicht als solches gesehen wird, weil es von vielen praktiziert wird. So
kann z.B. eine Täuschung von Kunden von manchen Geschäftsleuten guten
Gewissens praktiziert werden, weil es alle so machen.10 Erst recht, wenn es
sich um nicht justiziable Täuschungen handelt, wie z.B. Mogelpackungen.
Es ist auch möglich, dass verwahrlostes Handeln gar nicht als verwahrlost
wahrgenommen wird, weil die Verhältnisse verwahrlost sind. Es handelt
sich dann um gesellschaftskonforme Verwahrlosung, die aber an herkömm-
8
Allerdings nicht unbedingt in dem Sinne, dass eine psychische Störung vorliegt. Es kann
z.B. auch eine Art situationsbedingtes adaptives massenhaftes verwahrlostes bzw. delin-
quentes Verhalten geben, wie z.B. in der Not der frühen Nachkriegszeit die Variante des
Hamsterns, die nach einem Wort des Kölner Kardinal Josef Frings „fringsen“ genannt
wurde. Man brauchte deswegen kein schlechtes Gewissen zu haben.
9
Materielle Verwahrlosung kann nicht immer plausibel mit subjektiver Verwahrlosung
in Beziehung gesetzt werden. So z.B. die Verwahrlosung ganzer Städte als Folge des
Niedergangs eines ganzen Industriezweigs.
10
Ähnliches gilt auch für andere Bereiche. In diesem Sinne haben in jüngster Zeit z.B.
auch Radsportpros Dopen gerechtfertigt. Der deutsche einstige Tour de France – Ge-
winner Jan Ullrich argumentierte, er habe doch durch sein Doping nur Chancengleich-
heit hergestellt. Es haben sowieso alle gedopt.
7
Einleitung
8
Denitionen von Verwahrlosung
13
Wobei nicht berücksichtigt wird, dass Verwahrlosung als Folge von scheiternder Erzie-
hung in oberen Gesellschaftsschichten eine andere Bedeutung hat. Wenn ein Kind in
diesen Schichten seinen Eltern gehorcht, kann es damit die Vorstellung verbinden, es
könne wie diese im Laufe der Zeit einen akzeptablen gesellschaftlichen Status errei-
chen. Ein Unterschichtkind kann das nicht unbedingt. Unberücksichtigt bleiben auch
Fragen wie die, welche Folgen es für die familiale Autorität von Eltern hat, wenn sie
arbeitslos werden, sozial ausgegrenzt werden u.ä. Siehe dazu Barron, 1954.
9
Einleitung
14
Siehe dazu Fenichel, 1945 (1983. S. 80 Und in der Folge
15
Schindler, 1980 S. 627. Diese Unterschiede komplizieren Übersetzungen in beide Rich-
tungen von psychoanalytischen Veröffentlichungen zum Thema Verwahrlosung. Nicht
immer ist klar, ob Verwahrlosung oder Delinquenz gemeint ist. In der Festschrift, die
Eissler für August Aichhorn organisiert hat, wird – wie im Titel – Verwahrlosung von
den meisten Autoren mit „delinquency“ übersetzt (Eissler, K. R., 1949) (1966a). Anna
Freud hat ihren Beitrag zur Festschrift für Aichhorn später selbst ins Deutsche übersetzt.
Sie benützte im englischen Text den Begriff „social maladjustment“ und übersetzte ihn
später mit Verwahrlosung, gelegentlich auch mit „Dissozialität und Verwahrlosung“. Es
wäre zweifellos das Beste, wenn der deutsche Begriff „Verwahrlosung“ auch in andere
Sprachen übernommen würde. Siehe zu dieser Frage auch in der Folge und die Fußnote
3 auf Seite 76.
16
Der Titel der ersten französischen Ausgabe von Aichhorns Buch „Verwahrloste Jugend“
lautet „Jeunesse à l’abandon“. Der Titel der späteren Ausgabe lautet „Jeunes en souf-
france. Psychanalyse et éducation spécialisée“. „Verwahrlosung“ oder „Delinquency“
mit „délinquance“ zu übersetzen ist nicht möglich. Delinquentes Verhalten ist im Fran-
zösischen kriminelles Verhalten.
10
Denitionen von Verwahrlosung
17
Das gilt allerdings zum Teil, wenn auch weniger rasch, auch für das was strafbar ist
und was nicht. Hier lassen sich vor allem die Sexualität betreffende Veränderungen des
deutschen Strafgesetzbuches nennen. Bis 1969 bzw. 1973 war männliche Homosexua-
lität strafbar. Ehebruch und Kuppelei im weiten Sinne bis 1973.
18
Staub, H., 1943. Siehe dazu auch Fromm, 1931, der darauf hinweist, dass auch bei der
armen wie bei der vermögenden Warenhausdiebin die Triebfeder ihrer Handlung im
Unbewussten liegen kann, dass ihr aber die Rationalisierung fehlt, weil die Rationali-
sierungsmöglichkeit fehlt. Es wäre somit falsch, von vornherein die reiche Diebin als
neurotische Kleptomanin, die arme aber als normale, psychisch gesunde Delinquentin
zu sehen. Natürlich liegt die Annahme nahe, dass eine arme Diebin gar nicht aus libidi-
nösen Motiven stiehlt, sondern nur aus Not, aber darüber kann nicht das Vorhandensein
der Rationalisierung etwas aussagen, sondern nur das Studium des Unbewussten der
kriminell gewordenen Persönlichkeit Aufschluss geben.
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Einleitung
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Zum Begriff „gesellschaftliche Verwahrlosung“
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Einleitung
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Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus
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Zur Ausrichtung alles Gesellschaftlichen an ökonomischen Interessen siehe Forrester,
1998. Mit „kapitalistischer Durchdringung“ meine ich das, was Marx in Bezug auf die
Arbeit im entwickelten Kapitalismus als „reelle Subsumtion“ unter das Kapital bezeich-
net.
26
Granou, 1972 (1974)
27
Hirsch, F., 1980
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Einleitung
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Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus
losigkeit oder französisch von „pensée unique“ die Rede. Margaret That-
cher hat sie zum Dogma erhoben: „There is no alternative“, abgekürzt „Ti-
na“. Zur kapitalistischen Kultur und ihren vermittelnden gesellschaftlichen
Institutionen, vor allem der Familie, gehört also auch eine kapitalistische
Psychologie, bzw. die Existenz von Menschen, die in ihrem Fühlen und
Denken, die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse mittragen.34
In dem Maße jedoch, in dem die Sozialisationsprozesse und die sozia-
len Verhältnisse dazu führen, dass Menschen sich in ihrem Handeln nur
noch an ihrem „nackten Interesse“ orientieren, werden Menschen mit an-
deren, nicht individuell-utilitaristischen Charakteren selten, ohne die auch
kapitalistisches Wirtschaften nicht möglich ist. Zu seinen Voraussetzungen
gehören z.B. unbestechliche Richter, pichtbewusste Beamte, engagierte
Erzieher und Sozialarbeiter, motivierbare, zuverlässige Arbeitskräfte, krea-
tive Ernder und Künstler usw. und natürlich Eltern, die ihre Kinder ohne
ökonomisches Kalkül liebevoll zu eben solchen „anständigen“ Menschen
zu erziehen versuchen. Ein Mangel an solchen Charakteren lässt sich nur
begrenzt durch Management „by objectives“, staatliche Eingriffe, direkte
soziale Kontrolle, Zwang und Manipulation kompensieren.35 Andererseits
stören charakterfeste Individuen häug durch die Inexibilität ihrer mora-
lischen Überzeugungen, sind also oft unerwünscht.
Diese Konstellation ist für die Frage nach dem Ausmaß heutiger ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung entscheidend. Einerseits wird in Soziali-
sationsprozessen allenthalben und permanent nichtkapitalismusspezische
Moral gepredigt, praktiziert und mehr oder weniger erfolgreich anerzo-
gen. Und in neuen gesellschaftlichen Bereichen, Institutionen und Funkti-
onszusammenhängen entstehen neue Ethiken, bzw. werden entworfen und
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Einleitung
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Mitscherlich, 1967 (1978)
37
Hirsch, F., 1980, S. 270
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Psychologische Aspekte des globalisierten Kapitalismus
der permanente Zwang so zu tun, als ob man sich stets erfolgreich in Beruf
und Alltag behaupten könne, obwohl man oft auch fürchten muss, beruich
nicht mehr gebraucht zu werden und sozial abzustürzen.
Die Folgen dieser Zwänge und andere psychische Belastungen des
Arbeits- und des Alltagslebens verursachen psychische Probleme. Der weit
verbreitete Gebrauch von Psychopharmaka, von Drogen, kleine und große
Fluchten aus dem Alltag, wie z.B. vorzeitige Verrentung, regressive Infanti-
lität und andere Reaktionen dieser Art, sind Symptome zunehmender psy-
chischer Überlastung. Sie verweisen nicht nur auf Über-Ich-Probleme in
einer tendenziell amoralischen, weil zunehmend ökonomisch dominierten
Lebenswelt, in der eine unspezische Charakterlosigkeit das Überleben er-
leichtert. Sie verweisen auch auf Probleme des Ichs, das orientierungslos,
aufgespalten und vielfach korrumpiert wird.38 Dadurch werden über alle
Verwahrlosungserscheinungen hinaus massenhaft psychisches und psycho-
somatisches Leiden und in sich unstimmiges, inkonsequentes und unbe-
rechenbares, auch gewalttätiges Verhalten, verursacht. Diese Feststellung
führt von der Frage in wieweit von gesellschaftlicher Verwahrlosung die
Rede sein kann, zur umfassenderen Frage, ob es in unseren gesellschaftli-
chen Verhältnissen nicht nur soziale, sondern auch psychologische Grenzen
des Wachstums gibt. Sie kann hier nur ansatzweise berücksichtigt werden.
38
Die explosionsartige Verbreitung von Handys, speziell Smartphones, und der suchtar-
tige Gebrauch, der von ihnen gemacht wird, sind in ihren Auswirkungen noch kaum
untersucht worden. Sie haben die zwischenmenschlichen Beziehungen in kurzer Zeit
stark verändert. Viele Nutzer der Handys müssen sich geradezu zwanghaft in kurzen
Abständen vergewissern, ob sie ein Nachricht bekommen haben oder eine neu Infor-
mation aus dem Netz, dem sie sich angeschlossen haben. Sie würden sich wohl sonst
isoliert und orientierungslos fühlen. Das ist vermutlich im Zusammenhang mit dem Ver-
lust an zuverlässigen gesellschaftlichen Orientierungspunkten zu sehen.
19
Verwahrlosende Gesellschaft
Klagen und Symptome
Die Klagen über Wertewandel, Werteverfall, Werteverlust, ein allgemeines
Schwinden von Moral und Anstand, kurz über einen allgemeinen Verfall
der Sitten und die schlimmen Folgen davon, werden unterschiedlich be-
gründet. Häug genannt werden der Verfall der Familie, zunehmende Kri-
minalität, Drogensucht, Medienverwahrlosung“ u.a. Das moralische Fun-
dament unseres Staatswesens wankt.1 Unsere Gesellschaft ist zur „Spaß-
gesellschaft“ verkommen, in der niemand mehr arbeiten will und die Un-
ternehmer dafür sorgen sollten „ die Energie, die in die Freizeit verpul-
vert wird, an den Arbeitsplatz zurückzuholen.“2 Kein Bundespräsident, der
nicht Werteappelle an die Bevölkerung richten würde. Die lautesten Kriti-
ker des moralischen Verfalls der Gesellschaft wissen sogar genau wer daran
schuld ist: die Eltern, die Schulen, die Medien, vor allem das Fernsehen und
verrohende Computerspiele und selbstverständlich die 68er Bewegung und
linke Intellektuelle. In den Argumentationen ist allerdings oft nicht klar,
1
Internationaler Arbeitskreis für Verantwortung in der Gesellschaft e.V., 2003. Im In-
ternet nden sich unzählige Veröffentlichungen zum Werteverlust allgemein und in
Deutschland im Besonderen. Ich benütze hier den Terminus Wert im umgangssprach-
lichen Sinn, also als positive Bedeutung, die einer Sache zugeschrieben wird. Bei den
Diskussionen, auf die ich mich im Folgenden beziehe, handelt es sich natürlich in erster
Linie um moralische Werte, d.h. solche die „eine Richtungsanweisung für das Handeln“
(Hartmann, 1960) (1992) implizieren und gegebenenfalls von Bedeutung für den Fort-
bestand der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse sein können. Die Begründungen
für die positive Bewertung solcher Werte können verschiedener Art sein. Sie sind zum
Teil religiöser und weltanschaulicher, zum Teil rationaler bzw. pragmatischer Art.
2
Hahne, 2004, S. 39. Das ist eine zynische Behauptung. Zum Zeitpunkt der Veröffent-
lichung von Hahnes Forderung betrug die Arbeitslosigkeit in Deutschland fast 10%.
Hahnes Argumentation ist auch ein bemerkenswertes Beispiel für modernen marktkon-
formen Konservativismus. Selbst seine Betonung der Notwendigkeit einer Rückkehr zu
religiöser christlicher Wertefundierung, wird von ihm warenförmig-marktkonform be-
gründet: „Unsere Kirchen brauchen eine Konzentration auf ihr Kerngeschäft, einen ech-
ten Produktstolz, um auf dem diffusen Markt der Sinnangebote konkurrenzlos wichtig
zu bleiben.“
20
Verwahrlosende Gesellschaft
21
Verwahrlosende Gesellschaft
hinter die Löffel“ zu geben. So z.B. als einer seiner Söhne eine Lampe um-
geworfen habe, obwohl er ihn gewarnt habe. Das Kind war damals neun
Monate alt.7 Und während der eine Spitzenpolitiker meint, angesichts un-
serer gesellschaftlichen Misere brauchten wir eine Vision (Roman Herzog)
meint der andere (Helmut Schmidt), wer Visionen habe, sollte lieber gleich
zum Arzt gehen. Da die meisten Kritiker des Werteverfalls jeweils von der
Allgemeingültigkeit ihrer Wertvorstellungen völlig überzeugt sind, werden
wesentliche Fragen ausgeblendet, vor allem die, ob es in einer Demokratie
Werte geben muss, die universelle Gültigkeit besitzen oder ob es genügt,
sich auf universell anerkannte demokratisch organisierten Verfahren zu ei-
nigen, in denen Auseinandersetzungen über die unterschiedlichen Werte-
vorstellungen möglich sind.8
Wenn man bedenkt, dass in Deutschland erst durch einen verlorenen
Krieg gesellschaftliche Verhältnisse beseitigt werden konnten, in denen es
möglich war, dass rassistische Vorurteile als angeblich wissenschaftlich
verbürgte Wahrheiten zur Staatsideologie erhoben wurden, dass Millionen
von Menschen mit Berufung auf diese Ideologie ermordet wurden und ein
Krieg angezettelt wurde, durch den weitere Millionen Menschen ums Le-
ben kamen oder ins Elend gestürzt wurden, dann kann man, wenn man
will, feststellen, dass heutzutage die Verhältnisse doch gar nicht so schlimm
sind.9
7
FR 10.06.1994
8
Letzteres ist die Position von Jürgen Habermas. Seine Rede anlässlich der Verleihung
des Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Oktober 2001 enthält wesentliche
Teile seiner Argumentation in konzentrierter Form. Dazu auch Habermas, 1998. Ralf
Dahrendorf verwies darauf, dass der Behauptung, Gesellschaften würden durch eine
Art der Übereinstimmung der Werte zusammengehalten, empirische Zeugnisse klar wi-
dersprechen Dahrendorf, 1961, S. 95
9
Auf die Nazizeit bezogen von einem Werteverfall zu sprechen, wäre unzutreffend. Ei-
nerseits wurden grundlegende menschliche Wertorientierungen von Staats wegen in ihr
Gegenteil verkehrt, d.h. verurteilt und kriminalisiert und an ihrer Stelle Handlungsori-
entierungen befohlen, die Werte zu nennen, nicht angemessen wäre. Andererseits wur-
den bestimmte Tugenden wie Pichtgefühl, Zuverlässigkeit, Fleiß, Disziplin u.a., die
sogenannten „Sekundärtugenden“, hochgehalten, aber dadurch pervertiert, dass sie für
die verbrecherischen Ziele des Regimes instrumentalisiert wurden. Eine „ungeheuerli-
che Verbindung von Mord und Moral, von Verbrechen und Anständigkeit“, charakteri-
siert den Kern der Täter-Mentalität. „Im Rahmen einer so gearteten NS-Ethik wurde ein
22
Verwahrlosende Gesellschaft
Das wäre jedoch ein schwacher Trost, denn die Wertediskussionen the-
matisieren zumindest punktuell Verhaltensveränderungen, die selbst dann
beunruhigen können, wenn man nicht unbedingt an überkommenen Wert-
vorstellungen festhalten will. Das gilt nicht nur für den Eindruck, den die
Medien vermitteln. Das kann jeder in dem gesellschaftlichen Bereich veri-
zieren, in dem er sich auskennt. So konnte ich als Hochschullehrer feststel-
len, dass heutzutage bei Studenten das Zusammenstoppeln von im Internet
zugänglichen Texten gängige Praxis ist. Zwar wurde auch schon in frühe-
ren Zeiten abgeschrieben, aber in Form des Copy-Paste-Syndroms10 hat der
Diebstahl von geistigem Eigentum Ausmaße angenommen, die erstaunlich
und neu sind. Oft wird auch gar nicht anerkannt, dass es sich um Diebstahl
handelt. Selbst manche Doktoranden und sogar arrivierte Professoren erlie-
gen gelegentlich der Versuchung.11 Einige ohne jegliches Schuldbewusst-
sein, wie auch mehrere prominente Politiker, darunter ein deutscher Minis-
ter und eine Ministerin, deren Doktortitel aberkannt wurden und die ihre
Ämter aufgeben mussten.12 Auch die Beliebigkeit mit der Studenten zu Vor-
trägen und Seminaren zu spät kommen, vorzeitig wieder gehen, tuscheln,
ihr Handy benutzen, essen und trinken etc., ist kaum anders als akademi-
sche Verwahrlosung zu bezeichnen. Ebenso die Flucht mancher Hochschul-
völlig neuer Begriff von Anständigkeit kreiert und zur Verpichtung gemacht.“ Benz;
Graml; Weiß, 1997, S. 156 Auch Mitscherlich konstatierte bei den Nazis „einen neu-
en Typus des moralischen Bewusstseins“. „Das ist nicht mehr die doppelte Moral des
Bürgers, hinter der doch das eine Gewissen stand, sondern eine Verdoppelung der Exis-
tenz und des Reagierens. Offenbar fehlen uns in unserer Sprache noch die Begriffe und
die Geläugkeit, um diese neue Verfassung angemessen zu benennen.“ (Mitscherlich,
1967) (1978, S. 180). Dass die Naziverbrecher dann in der neuen westlichen Demokra-
tie weitestgehend unbehelligt blieben, ist demgegenüber eine im herkömmlichen Sinne
moralische Katastrophe. Siehe dazu Friedrich, 1984 und Giordano, 1987 (1990)
10
siehe Stefan Weber im SPIEGEL 7/2007
11
An der Grenze zu Betrug kann man das häuge Recyceln von wissenschaftlichen Ver-
öffentlichungen lokalisieren. Das wiederholte Publizieren von Arbeiten, bei denen der
Titel geändert wird und nur ein paar unwesentliche Veränderungen in Aufbau und
Text vorgenommen werden, kann Veröffentlichungslisten beeindruckend verlängern
und dem beruichen Ansehen und Fortkommen nützen.
12
Im Licht der unten folgenden Erörterungen zu Verwahrlosung ließe sich, soweit das an
Hand von Mediendarstellungen der Person möglich ist, zu Guttenberg durchaus als ein
Fall von Verwahrlosung charakterisieren. Siehe dazu Wirth, 2011, der ihn allerdings nur
als narzisstische Persönlichkeit und nicht spezischer als Verwahrlosten charakterisiert.
23
Verwahrlosende Gesellschaft
13
An der Universitätsklinik Heidelberg wurden seit 1975 bei Auto-Unfall-Tests über 200
menschliche Leichen verwendet. Angeblich mit dem Einverständnis der Eltern auch die
Körper von sechs toten Kindern. FR 24.11.93. Dazu auch DER SPIEGEL 48/1993
14
In der FR vom 12.03.99 ndet sich eine Aufzählung solcher Talk-Show-Themen: „Ich
liebe Dich, aber Du bist es nicht wert“, „Mama, schmeiß Papa raus“, „Jede Frau ist eine
Hure“, „Mein Mann denkt, ich bin blöd“, „Du Penner, Du hast Dein Leben verpfuscht“,
usw.
24
Verwahrlosende Gesellschaft
worden, der den Staat Milliarden kostet. Dabei handelt es sich vor allem
um einen „Spitzensport“, d.h. um ein „typisches Upper-class-Delikt“.15 Ein
solches ist natürlich auch die Bespitzelung von Firmenangehörigen. Ganz
erstaunliche Ausmaße hat seit den 90er Jahren die Korruption angenom-
men.16 Skandale um die Hamburger Ausländerbehörde (1994), bei der 200
Personen im Verdacht standen, und um Bürgermeister und Ratsmitglieder
im Hochtaunuskreis (1991), sind offensichtlich nur herausragende Spitzen
eines Phänomens, das Schlagzeilen verursacht wie: „Kriminalisten sehen
Korruption wie ein Krebsgeschwür wuchern“, „Experten befürchten Ge-
fahr für die Demokratie!“, „Korruption von Beamten nimmt stark zu.“17
Überdies gibt es organisiertes Verbrechen bereits in einem Ausmaß, das
Befürchtungen weckt, es könnte schon in wenigen Jahren für Europa und
besonders für die Bundesrepublik zu einer „nationalen Existenzfrage“ wer-
den.18
Im Einzelnen ist kaum etwas von alledem ganz neu, aber das Ausmaß
schon und die weite gesellschaftliche Verbreitung. So haben Sozialforscher
eine weit verbreitete „Kriminalität der Braven“ ausgemacht: „Selbst der
Ruf jener Stände, die im Ansehen traditionell ganz oben rangieren, ist ram-
poniert. Ärzte müssen sich zu Hunderten wegen Betrügerei verantworten;
Bankiers werden der Beihilfe zur Schwarzgeld-Schieberei in großem Stil
bezichtigt; Unternehmer plündern die Staatskassen mit illegalen Preisab-
sprachen; Polizeibeamte schwören Meineide zugunsten von Kameraden;
Beamte erschwindeln sich die Frühpensionierung; Wissenschaftler fälschen
Ergebnisse von Versuchsreihen. Selbst Notare, Inbegriff der Seriosität, ge-
15
So formuliert DER SPIEGEL. Er bezifferte 1999 den jährlichen Verlust auf ca. 150
Milliarden. In: SPIEGEL Special. Volk ohne Moral. Nr. 1 / 1999. In neuerer Zeit haben
Fälle von prominenten Steuerhinterziehern doch erhebliches Aufsehen erregt.
16
Ein Sachverhalt, mit dem sich schon der Psychoanalytiker Horst Eberhard Richter be-
schäftigt hat. Sein satirisches Lob der Korruption ist auch eine Art Streifzug durch eine
verwahrlosende Gesellschaft. Nicht satirisch ist jedoch seine Feststellung, dass die Kor-
ruption der Mächtigen nur symptomatisch ist für die „weit umfassendere Korruption
unserer Kultur des egoistischen Expansionismus, der geheiligten Rivalität und des Sie-
germythos.“ Richter, 1989 S. 15. Dazu auch Scholz, 1995
17
FR 09.11.1996, FR 12.06.1995
18
FR 09.03.1990. Vergleiche dazu auch den Vortrag von Roberto Scarpinato, dem leiten-
den Oberstaatsanwalt der Anti-Maa-Direktion Palermo. FR-Online 08.02.2010
25
Verwahrlosende Gesellschaft
26
Verwahrlosende Gesellschaft
24
Der Frankfurter Verfassungsrechtler Ehrhard Denninger konstatiert, dass sich Recht und
Gewalt immer weiter voneinander entfernen. Die seit dem Ende des Dreißigjährigen
Kriegs (1648) geltende Friedensordnung, die sich über das Recht denierte, gelte nicht
mehr. Stattdessen etabliere sich eine „Weltgewaltordnung“ einer einzelnen Macht. FR-
Online 20.08.2005
25
Ich gehe hier nicht darauf ein, dass es zahlreiche Gruppierungen engagierter Bürger
gibt, die sich gegen solche Missstände engagieren und protestieren.
26
siehe dazu z.B. Breitscheidel, 2008
27
Dass die bestehende „Weltwirtschaftsordnung“ ein absoluter Skandal ist, wird allein
schon durch die Tatsache belegt, dass der britischen Hilfsorganisation Oxfam zufolge
im kommenden Jahr das reichste Prozent der Weltbevölkerung mehr besitzen wird als
die restlichen 99 Prozent. Spiegel Online 19.01.2015
27
Verwahrlosende Gesellschaft
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Verwahrlosende Gesellschaft
31
Bei Engels heißt es: „Und wie die Gesellschaft sich bisher in Klassengegensätzen be-
wegte, so war die Moral stets eine Klassenmoral.“ Engels, 1878, MEW 20, S. 88
32
Simonsohn, 1975 S. 211. Im selben Sinne Healy; Bronner, 1936 (1957. S. 11)
33
Barron, 1954
34
Horkheimer, 1933 (1987, S. 319 und S. 367)
35
Mit schichtspezischen Eigenarten, versteht sich.
29
Verwahrlosende Gesellschaft
gehen. Aber am Horizont zeichnet die Deklassierung sich ab. Sichtbar wird
die Bahn zum Asozialen, zum Kriminellen: die Weigerung, mitzuspielen,
macht verdächtig und setzt selbst den der gesellschaftlichen Rache aus,
der noch nicht zu hungern und unter Brücken zu schlafen braucht. Die
Angst vorm Ausgestoßen werden aber, die gesellschaftliche Sanktionie-
rung des wirtschaftlichen Verhaltens, hat sich längst mit andern Tabus ver-
innerlicht, im einzelnen niedergeschlagen. Sie ist geschichtlich zur zweiten
Natur geworden; nicht umsonst bedeutet Existenz im philosophisch unver-
derbten Sprachgebrauch ebenso das natürliche Dasein wie die Möglichkeit
der Selbsterhaltung im Wirtschaftsprozess. Das Überich, die Gewissensin-
stanz, stellt nicht allein dem einzelnen das gesellschaftlich Verpönte als das
An-sich-Böse vor Augen, sondern verschmilzt irrational die alte Angst vor
der physischen Vernichtung mit der weit späteren, dem gesellschaftlichen
Verband nicht mehr anzugehören, der anstatt der Natur die Menschen um-
greift.“36
Eine eingehende Erörterung der seelischen Verfassung der Herrschen-
den wäre demnach hier in dieser Untersuchung angebracht. Auch wegen
der engen psychologischen Verbindung von Macht, Narzissmus und Ver-
wahrlosung. Sie würde aber den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Immerhin
gibt es einige Veröffentlichungen von Psychoanalytikern zu einigen Aspek-
ten dieses Sachverhaltes. So in deutscher Sprache die Arbeit von Hans Jür-
gen Wirth, der am Beispiel von vier herausragenden Politikern eine Unter-
suchung zum Verhältnis Narzissmus und Macht vorgelegt hat.37 Zu diesem
Thema liegt auch eine weniger auf konkrete Beispiele bezogene Arbeit des
französischen Psychoanalytikers Maurice Berger vor.38 Daneben ließen sich
mehrere psychoanalytische Auseinandersetzungen unterschiedlichen An-
spruchs mit den psychischen Besonderheiten von Spitzenpolitikern nennen.
So auf deutsche Politiker bezogen Aufsätze von Alexander Mitscherlich.39
Auf französische Politiker bezogen die Portraits von Jean-Pierre Winter und
36
Adorno, Theodor W., 1955 (1996, S. 47)
37
Wirth, 2000
38
Berger, 1993 Dagegen versucht Rozitchner psychoanalytische Aspekte von Macht all-
gemein herauszuarbeiten Rozitchner, 1989
39
Mitscherlich, 1966 (1978), Mitscherlich, 1969 (1978)
30
Verwahrlosende Gesellschaft
31
Verwahrlosende Gesellschaft
besonderes Ansehen. Und angesichts der Tatsache, dass in den Medien die
Wahrheit der Glaubwürdigkeit weichen musste44 , gibt es viele Möglichkei-
ten die öffentliche Meinungsbildung zu manipulieren und windige Wich-
tigtuer als bedeutende Figuren darzustellen. Werden diese dann irgendwann
durchschaut, kann ihr Einuss in negativer Verkehrung des Freudschen Ge-
dankens zu einer Schwächung des gesellschaftlichen Über-Ichs führen. In
eben diesem Sinne formulierten Alexander und Staub: „die Korruptheit der
Machthaber erschüttert die Macht ihrer inneren Vertreter, der hemmenden
moralischen Kräfte, und so wird der Mensch zum Spielball der entfessel-
ten Triebe.“45 Wenn aber gesellschaftliche Moral nicht mehr zuverlässig
über Identizierungen in den Individuen abgesichert wird, gewinnen immer
mehr direkte Kontrollen, Überwachung, Einschüchterung, Angst machen,
Manipulation, Prävention, etc. an Bedeutung.46
Subjektive Verwahrlosung ist also weder ein nur psychologisch zu er-
klärendes Phänomen, noch lässt sie sich als ein spezielles Phänomen un-
terer Gesellschaftsschichten begreifen. Auch lässt sie sich offensichtlich
durch moralische Appelle und Wertepredigten nicht wirksam bekämpfen.
Sie fördert allerdings innergesellschaftlich und international als Reaktion
auch ihr Gegenteil, d.h. fundamentalistische Verabsolutierungen von be-
44
Lasch, 1979 (1986, S. 94). Dazu auch in der Folge.
45
Alexander; Staub, 1929, S. 121. Diese Feststellung wäre sicher auch dann richtig, wenn
sie weniger strikt triebtheoretisch formuliert würde. Der brasilianische Psychoanalyti-
ker Helio Pellegrino sprach in dieser Perspektive von einem Zusammenhang zwischen
dem pacto social und dem pacto edipiano. (Pellegrino, 1986) Der pacto social betrifft
die gesellschaftliche Forderung, dass zur Sozialisation der Erwerb von Arbeitsfähigkeit
gehört und die gesellschaftliche Tatsache, dass das Individuum wesentlich über Arbeit
gesellschaftlich integriert wird. Erfolgt hier ein Bruch und das Individuum bleibt von
der Arbeitswelt ausgeschlossen, kommt es auch zu einem Bruch des ödipalen Pakts.
Die Zivilisierung des Individuums wird in Frage gestellt. Verdrängtes setzt sich durch.
Der Protest des gesellschaftlich marginalisierten Individuums entgleist. „Die Krimina-
lität ist eine verrückte Form des Protests.“ S. 110.
46
siehe dazu in der Folge. Zu bedenken wäre auch, ob es nicht auch in Friedenszeiten
Varianten eines „parasitären Ebenbilds des Über-Ich“ geben kann, wie Freud das für
Kriegszeiten feststellt. So könnte man vielleicht wie man im Anschluss an Freud von
einem „Kriegs-Über-Ich“ sprechen kann, für die Nazizeit von einem Nazismus-Über-
Ich sprechen. Die weiterführende Frage wäre dann, ob man auch ein deformiertes kul-
turelles Über-Ich in einer tendenziell anomischen Gesellschaft konstatieren kann. Siehe
dazu vor allem Simmel, 1944 (1993)
32
Verwahrlosende Gesellschaft
Anthropologische Aspekte
Zu den häugsten Klagen über den Verfall der Moral gehört traditionell die
Missbilligung bestimmter Formen des Sexualverhaltens, soweit diese nicht
ohnehin kriminalisiert waren. Permanent geklagt wurde über zu große sexu-
elle Freizügigkeit, über zu frühe sexuelle Betätigung, über vorehelichen Ge-
schlechtsverkehr, über sexuelle Verwilderung der Jugendlichen, über Ho-
47
Zu den Varianten von nicht religiös motiviertem Fundamentalismus gibt es bisher nur
wenige sozialpsychologische Analysen. Das gilt auch für die psychoanalytische Litera-
tur. Es gibt allerdings Indizien, die auch einen Zusammenhang zwischen Fundamenta-
lismus und Verwahrlosung nahe legen. So meint Kernberg, dass es sich bei fundamen-
talistischen Gruppen häug um „verwahrloste Existenzen“ handle, die durch die Ideo-
logie, der sie anhängen, zu wertvollen Menschen gemacht werden. Es handle sich aber
auch um Menschen, die in ihrer Kindheit schwer traumatisiert und von ihren Familien
abgelöst wurden; ihre Identität nden sie nun über die Zugehörigkeit zur Gruppe. Für
die fundamentalistische Weltsicht ist die manichäische Aufteilung der Welt in Gut und
Böse charakteristisch. Die Zuordnung zu einer als gut denierten Gruppe und die Unter-
ordnung unter und Identizierung mit deren gutem Führer ermöglicht eine psychische
Stabilisierung. Nicht zuletzt auch, weil das rigorose Wertsystem, das eine Abgrenzung
von anderen Wertsystemen nur in der Form von „gut“ und „böse“ kennt, auch disso-
ziales Verhalten, vor allem gewalttätiges Verhalten legitimiert. Siehe Kernberg, Otto
F., 2007. Es gibt allerdings auch Varianten von Fundamentalismus, die ausgesprochen
friedliebend sind und jede Art von Gewalt ablehnen. So z.B. die „Amish“ in Nordame-
rika.
48
Es bedürfte einer ausführlichen Diskussion, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen
würde, ob eine Domestizierung der „Bestie Kapitalismus“ dafür ausreicht oder ob dazu
der Kapitalismus überhaupt abgeschafft werden müsste.
33
Verwahrlosende Gesellschaft
mosexualität und über Abtreibung.49 Klagen dieser Art gibt es immer noch,
aber sie spielen keine so große Rolle mehr. Trotz der heftigen Gegenwehr
der katholischen Kirche und anderer religiös orientierter Gruppierungen,
hat diesbezüglich im Laufe der Jahre eine deutliche Liberalisierung und
Entschärfung der Diskussionen stattgefunden.50 Zunehmend problematisch
sind jedoch neue Phänomene, die zweifellos Symptome einer medial ge-
förderten sexuellen Verwahrlosung sind. Dies betrifft vor allem extrem ag-
gressiv aufgeladene Formen von Pornographie in Videos und Songs.51 Da es
praktisch nicht möglich ist, Kinder zuverlässig vor der medialen Konfron-
tation mit solcher verwahrloster Sexualität zu schützen, ist es wohl nicht
abwegig, massenhafte medienvermittelte psychosexuelle Belästigungen zu
konstatieren. Die gesellschaftliche Bedeutung dieser Problematik wird an-
gesichts des Ausmaßes an realem sexuellem Missbrauch von Kindern ver-
mutlich unterschätzt.52
49
Merkwürdigerweise konnten andererseits Opfer von sexuellem Missbrauch, also un-
zweifelhaft kriminellem Sexualverhalten, sich bis vor kurzem kaum Gehör verschaffen
und mussten, wenn sie sich wehrten, zusätzliche Diskriminierungen erleiden. Eine dop-
pelte Moral stellte sicher, dass was nicht sein darf, auch nicht sein kann. Das Ausmaß
sexuellen Missbrauchs, das neuerdings öffentlich bekannt wird, ist schockierend und
erstaunlich. Seine Thematisierung ist begrüßenswert und wichtig.
50
Das schließt gegenläuge Tendenzen nicht aus. Es ist auch nicht auszuschließen, dass
angesichts der Infantilisierung unserer Gesellschaft (siehe dazu in der Folge) auch an-
dere, bisher nicht auffällige Varianten der infantilen polymorph-perversen Sexualität
künftig Bedeutung gewinnen. Siehe dazu auch unten die Fußnote 63
51
Der Kriminologe Christian Pfeiffer spricht von „medialer Verwahrlosung“. Siehe dazu
den Artikel „Sexuelle Verwahrlosung. Voll Porno“ im STERN Heft 6 / 2007. Zitiert wird
hier z.B. der „Arschcksong“ des Porno-Rappers „Sido“, in dem die anale Vergewalti-
gung eines kleinen Mädchens besungen wird: „Katrin hat geschrien vor Schmerz. Mir
hat’s gefallen. Ihr Arsch hat geblutet. Und ich bin gekommen.“ Der vollständige Text ist
im Internet zu nden unter „LyricZZ.com“. Daselbst nden sich noch zahlreiche andere
Texte der gleichen Qualität. Sido ist kein Einzelfall.
52
Siegfried Bernfeld, der vielleicht scharfsichtigste der Psychoanalytiker, die in den 20er
Jahren pädagogisch arbeiteten, vertrat die Ansicht, das Kind brauche keinen Schutz vor
Schund, es schütze sich selbst. Bernfeld, 1926. Er stieß schon damals auf Widerspruch.
Angesichts der heute häugen Konfrontation von Kindern mit drastischen realistischen
bildlichen Darstellungen des Schundes moderner Medien, die jede kindliche Schund-
phantasie blass erscheinen lassen, erscheint allerdings fraglich, ob seine These, die auf
schriftlichen Schund bezogen war, noch Bestand hat. Dazu auch in der Folge.
34
Verwahrlosende Gesellschaft
Besonders heikel bleibt nach wie vor die gesetzliche Regelung von Ab-
treibungen, weil dabei immer auch die Frage zur Debatte steht, in wie weit,
bzw. ab wann, ein Fötus als menschliches Leben mit eigenen Rechten gel-
ten soll.53 Ansonsten ist in einem säkularisierten Staat nicht einzusehen, so-
weit nicht de facto doch religiöse Überzeugungen dominieren, warum das
private Sexualverhalten erwachsener Menschen bestimmten Bewertungen
unterliegen sollte. Jedenfalls nicht, solange es sich um Praktiken handelt,
die weder den Beteiligten, noch sonst jemand schaden. Dies gilt aber zwei-
fellos nicht für sexuellen Missbrauch von Kindern, bei dem das Kind in
jedem Fall geschädigt wird. Die Generationenschranke, d.h. die Schranke
zwischen Erwachsenen und Kindern, wird eingerissen. Das missbrauchte
Kind hat gar keine Chance, sexuell im engeren Sinne erwachsen zu wer-
den, weil es seiner Erfahrung nach gar keinen prinzipiellen Unterschied
zwischen der Sexualität des Erwachsenen und seiner kindlichen Sexualität
gibt. Die horrenden psychologischen Folgen davon spielen eine besonders
große Rolle bei Eltern – Kind – Inzest.
Auch andere Varianten des Inzests, wie z.B. der zwischen Geschwis-
tern, sind in unserer Gesellschaft verboten und kein Gegenstand für Werte-
diskussionen. Über eine Abschaffung dieses Verbots wird in jüngster Zeit
diskutiert, da es sich dabei meist um Konstellationen handelt, bei denen nie-
mand direkt geschädigt wird.54 Das Inzestverbot gehört aber, in verschiede-
nen kulturellen Ausformungen und nicht ausschließlich auf Blutsverwandt-
schaft bezogen, zu den Grundlagen von Gesellschaft überhaupt.55 Umso be-
merkenswerter ist, dass in den üblichen Moralpredigten, seine quasi selbst-
verständliche Übertretung in technologischen Prozeduren der Menschen-
reproduktion relativ wenig Anlass zu moralischen Protesten gibt. Das ist
in Deutschland zum Teil darauf zurückzuführen, dass diese Möglichkei-
ten bisher gesetzlich relativ stark begrenzt worden sind. Manche Berichte
über neuartige „Erfolge“ der Fortpanzungstechnologie können allerdings
schockierend wirken, solange sie noch ungewohnt sind und mit den all-
53
Eine psychoanalytisch begründete Erörterung der Problematik ndet sich bei Lorenzer,
1981
54
Die Inzestschranke zwischen Geschwistern ist aber anthropologisch von spezieller Be-
deutung, weil hier der Verwandtschaftsgrad biologisch der größte ist.
55
Siehe dazu in der Folge.
35
Verwahrlosende Gesellschaft
56
FR 09.12.1996. Die dazugehörige Schlagzeile lautete „Oma ist die Mutter der Enkelin.“
Das ist neu. Dagegen konnte in zerfallenden Familienkonstellationen auch bisher schon
ein Kind mehrere Väter haben: Einen biologischen, einen juristischen, einen sozialen,
einen sozialisatorischen.
57
siehe FR 20.07.1989
58
FR 29.04.1988
59
In Polen. FR 01.03.1990
36
Verwahrlosende Gesellschaft
duzieren sollten,60 sei es, dass bei der Zeugung von Kühen menschliches
Erbgut eingeschleust wurde, was dazu führen soll, dass die Rinder weniger
fett werden und ohne Hormongaben schneller wachsen.61 In der Bundesre-
publik wurden 1986 vier Anträge auf Forschung an frühen menschlichen
Embryonen – darunter die Verbindung von Hamster-Eizellen mit mensch-
lichem Samen – genehmigt.62 Dagegen ist ein sexuelles Überschreiten der
Grenzen zwischen Mensch und Tier, das in letzter Zeit zuzunehmen scheint,
nichts Neues.63
Neben dem Durchbrechen der Grenzen zwischen Mensch und Tier gibt
es auch eine Aufhebung der Grenzen zwischen Mensch und Maschine.
Künstliche Ersatzteile aller Art, Herzschrittmacher und künstliches Herz,
Herz-Lungenmaschine, künstliche Niere u.a. zeugen davon. Verwischt wer-
den die Grenzen aber auch zwischen dem menschlichen Denkvermögen
und der menschlichen Psyche und Maschinen. So ist bereits im Alltag der
Computer für manche eine unerlässliche psychomentale Ergänzung, ein
„zweites Ich“, geworden.64 Und Computer werden als Psychotherapeuten
eingesetzt.65 Eine weitere Grenzverwischung ist die zwischen den Leben-
den und den Toten, wenn z.B. das eingefrorene Sperma eines Toten zur Be-
fruchtung benützt wird oder wenn ein Organ eines klinisch toten Menschen
verpanzt wird.
Sigusch stellt fest, dass ganz allgemein in unserer kapitalistischen Ge-
sellschaft „die Grenzen zwischen Natur- und Gesellschaftsprozess nieder-
gerissen“ werden. Und er verweist darauf, dass damit ein Prozess der „Ver-
stofichung“ des Menschen einerseits und einer „Entstofichung“ von Din-
60
FR 17.07.1989
61
In USA. FR 11.06.1990
62
FR 09.12.1987
63
Das Verbot der „Zoophilie“ wurde 1969 aufgehoben. Anfang des Jahres 2010 beab-
sichtigte die hessische Landesregierung jedoch, sexuellen Verkehr mit Tieren wieder
zu verbieten. In der Begründung heißt es, immer häuger würden Tiere als Sexobjekte
benützt, es gebe „Angebote im Internet von Life-Sex-Shows mit Tieren bis hin zu Tier-
bordellen“. FR Online 12.04.2010. Zur rechtlichen Beurteilung der Frage siehe auch die
Stellungnahme des ehemaligen Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Win-
fried Hassemer. DER SPIEGEL 49, 2012, S. 18
64
Turkle, 1984 (1986).
65
Siehe dazu in der Folge.
37
Verwahrlosende Gesellschaft
gen einhergeht. Die Menschen verlieren ihre Lebendigkeit und die Dinge
fangen an, ein Eigenleben zu führen.“ Menschliche Vermögen und Eigen-
schaften gehen an die toten Dinge über, die ihnen bedeuten wie sie sich zu
bewegen und zu sprechen, wie sie zu sein haben.“66 Das Individuum im her-
kömmlichen Sinne wird zunehmend abgeschafft. Damit werden auch psy-
chologische Erklärungen menschlichen Handelns tendenziell gegenstands-
los.
Unter diesen Umständen kann der Mensch sicher nicht das Maß al-
ler Dinge sein.67 Eine Anthropologie, die für Wertebegründungen geeignet
wäre, ist nicht mehr vorstellbar. Es ist aber unwahrscheinlich, dass die ge-
nannten Veränderungen der anthropologischen Grundlagen menschlichen
Lebens und die genannten Grenzaufhebungen bzw. -verwischungen in un-
serer Gesellschaft nicht erhebliche sozialpsychologische und psychologi-
sche Folgen haben. Welche Folgen dies sind und wie sie zustande kommen,
ist im Einzelnen sehr schwer zu klären und nachzuweisen. Insgesamt je-
doch scheint mir offensichtlich, dass selbst herkömmliche Wertvorstellun-
gen von zentraler Bedeutung nicht nur ihre transzendental-metaphysische
Absicherung in wahrem Glauben, sondern auch ihre irdisch-diesseitigen
anthropologischen und gesellschaftlichen Grundlagen auf Dauer verloren
haben.68 Sie können sich nicht naturwüchsig regenerieren. Ebenso wenig
kann ihnen künstlich wieder Geltung verschafft werden. In einer säkulari-
sierten Demokratie möglich und notwendig aber ist, dass gesellschaftliche
Verständigungsprozesse darüber zustande kommen, wie die anthropologi-
schen und gesellschaftlichen Grenzen gezogen werden, an denen gesell-
schaftliche Wertdiskussionen, unabhängig von wechselnden ökonomischen
Determinanten, sich orientieren können.
Eine „Relativierung der Moral“ ist unter anderem eine quasi natürliche
66
Sigusch, 1997, S. 856. Als Belege zitiert Sigusch aus der Alltagssprache einige typische
Beispiele: „Todesurteil für Stadtbad Mitte“, ein „sympathisches Bier“, ein „autistisches
Hochhaus“ u.a. Er meint eine Tendenz, die über das Eigenleben hinausgeht, das Waren
auf Grund ihres Fetischcharakters im Kapitalismus gewinnen.
67
Das gilt erst recht für die religiöse Vorstellung vom Menschen als Ebenbild Gottes.
68
Auch diesbezüglich wäre wieder der Unterschied zwischen den ideologischen und den
praktischen Aspekten von Werten zu unterscheiden. So ist es z.B. in unserer Gesell-
schaft moralisch nicht möglich, ernstlich mehr Armut und Elend zu propagieren. Eine
Wirtschaftspolitik, die sie verursacht, kann jedoch durchaus propagiert werden.
38
Verwahrlosende Gesellschaft
69
Mitscherlich, 1967 (1978). Das entgegengesetzte Phänomen, dass kulturelle Kontakte,
Konfrontationen und Konikte zu einer Selbstvergewisserung und damit Bekräftigung
eigener Wertepositionen führen können, gibt es auch. Siehe dazu in der Folge.
70
Siehe dazu in der Folge.
71
Das ist neben den Folgen der Konfrontation mit anderen Kulturen ein weiterer Grund,
weswegen es falsch wäre, eine allgemeine gesellschaftliche Verwahrlosung vorherzu-
sagen, auch wenn die Diagnose einer gesellschaftsstrukturell angelegten tendenziellen
Verwahrlosung zutrifft. Dazu auch in der Folge.
39
Verwahrlosende Gesellschaft
72
So z.B. Elisabeth Roudinesco in einem Interview in DER SPIEGEL 23 / 2102
73
Das ergibt sich selbstverständlich auch aus Vergleichen mit ganz anderen Gesellschaf-
ten.
74
Lévi-Strauss, 1949. Siehe auch zusammenfassend Oppitz, 1975
40
Verwahrlosende Gesellschaft
75
Wenn man diese Tatsache im Zusammenhang mit der reproduktionstechnologischen
Transformation der anthropologischen Grundlagen unserer Gesellschaft und mit den
Möglichkeiten moderner plastischer Chirurgie sieht, wird die zunehmende Faszination,
die Transvestiten und Transsexuelle ausüben, verständlich.
76
Freud, S., 1905d
77
Siehe dazu die Kritik von Fenichel an Géza Roheim und Ernest Jones. Rundbrief 51
vom 15.10.1938 in Fenichel, 1998, Bd. 2, S. 991
41
Verwahrlosende Gesellschaft
fenheit. Für Freud war der Ödipuskomplex nicht nur der Kernkomplex al-
ler Neurosen, sondern er sah in ihm „die Anfänge von Religion, Sittlich-
keit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen“.78 Der Ödipuskomplex ist
mit der Existenz von Kultur als solcher verbunden. Darauf bezogen ist ver-
ständlich, wenn manche Psychoanalytiker sein Diffuswerden als eine nega-
tive Entwicklung der Subjektivität in unserer Gesellschaft interpretieren.79
Zumindest kann man feststellen, dass die Konstitution des Über-Ichs, die
Ausbildung eines Gewissens und stabiler Moralität komplexer und unsi-
cherer geworden sind.
Die Auseinandersetzungen des Kindes mit den für seine Entwicklung
wichtigen Personen, in denen das Kind seine psychosexuelle Konstitution
erwirbt, sind keine abstrakten intellektuellen Vorgänge. Sie sind körperlich
sinnlich und mit starken Gefühlen und Wünschen verschmolzen.80 Soweit
es sich um die Beziehungen zu Vater und Mutter handelt, sind die Bezie-
hungen und die sexuellen Wünsche des Kindes inzestuös.81 Inzest aber ist
aber in allen Gesellschaften verboten.82 Das Verbot wird allerdings, wie
schon erwähnt, in der modernen Reproduktionstechnologie in manchen
Konstellationen unterlaufen. Das Kind jedoch wird mit seinen sexuellen
Wünschen unvermeidlich mit dem Inzestverbot konfrontiert. Das ist für sei-
ne psychosexuelle Entwicklung grundlegend wichtig. Das in den ödipalen
Konikten durchgesetzte und vom Kind zu verinnerlichende Inzestverbot
hat auch gesellschaftliche Funktionen. In anthropologischer Perspektive ist
es das Exogamiegebot. Beide Namen bezeichnen dasselbe. Auch in anthro-
78
Freud, S., 1912-13. S. 188
79
Siehe dazu in der Folge
80
Diese sind nicht einseitig. Dass ödipale Konikte beim Menschen als einzigem Säu-
getier zustande kommen, ist, wie z.B. Fenichel und Devereux darlegen, eine Folge des
Verhaltens der Eltern. Der Ödipuskomplex ist letztlich biologisch begründet. Unter al-
len Säugetieren ist die Frau das einzige, das auch während der Schwangerschaft und der
Stillzeit sexuell rezeptiv ist. Sie ist somit „das einzige Weibchen das fähig ist gleichzei-
tig sowohl sexuelle als auch mütterliche Empndungen zu haben.“ Das erklärt Devereux
zufolge hinlänglich gegenödipale elterliche Regungen. Devereux, G., 1963
81
Das gilt nicht nur für blutsverwandte Eltern, sondern allgemein für die Personen, die die
mütterlichen und väterlichen Funktionen erfüllen. Das gilt in manchen Gesellschaften
auch für Patenschaft als erweiterte verwandtschaftliche Beziehung.
82
Von besonderen Ausnahmen mit meist religiöser Bedeutung in manchen Gesellschaften
abgesehen.
42
Verwahrlosende Gesellschaft
43
Verwahrlosende Gesellschaft
86
Die empfundene Bedrohung durch den Vater braucht keine reine Phantasie zu sein. Sie
kann auf Grund der gegenödipalen Disposition des Vaters durchaus auch reale, wenn
auch normalerweise unbewusste Voraussetzungen haben.
87
Es geht hier, wie gesagt, um die in unserer Gesellschaft herkömmliche Variante des
Ödipuskomplexes.
88
Ist das Verbot erst einmal aufgehoben und führt zum Töten, kann seine spätere Wieder-
aufrichtung bei Rückkehr ins zivile Leben sehr schwierig werden. Vor allem aus den
USA werden immer wieder Fälle von Veteranen bekannt, denen die Umstellung nicht
gelingt.
89
Dazu in der Folge. Störungen der Realitätswahrnehmung bzw. Realitätsverlust werden
aber auch durch andere Faktoren verursacht. Wie noch näher zu erörtern sein wird, wird
Realitätswahrnehmung allgemein auch durch die neuen Medien relativiert und unzu-
verlässig. Es ließen sich auch andere problematische Folgen nennen. So z.B. der Verfall
elterlicher Autorität. Ganz ohne ist Erziehung nicht möglich. Auch die Folgen für die
Entwicklung des Über-Ichs, das sich allerdings lebenslänglich weiterentwickeln kann.
Siehe dazu ausführlich Novey, 1955
44
Verwahrlosende Gesellschaft
90
Freud, S., 1923. S. 263
45
Verwahrlosende Gesellschaft
lösungen und Defekte, eine erhebliche Rolle. Manches, was zunächst noch
psychisch verkraftet werden konnte, kann nachträglich zum nicht bewäl-
tigbaren Problem werden. Es ist jedenfalls kein prinzipieller Widerspruch,
einerseits gesellschaftliche Verwahrlosungstendenzen zumindest teilweise
auf einen tendenziellen Zerfall des Ödipuskomplexes zurückzuführen, an-
dererseits festzustellen, dass Verwahrlosung als psychische Störung ihren
Ursprung in präödipalen Konikten hat.
46
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
Von Verwahrlosung der Gesellschaft zu sprechen, impliziert die Unterstel-
lung einer schwerwiegenden Gestörtheit, womöglich einer Art Erkrankung
der Gesellschaft. Tatsächlich wird unsere Gesellschaft immer wieder als
krank bezeichnet. Sowohl von Sozialwissenschaftlern als auch von Politi-
kern.1 Angesichts der genannten Unschärfe des Begriffs Verwahrlosung,
mag es aber wenig überzeugend erscheinen, in diesem Sinne die Frage
nach gesellschaftlicher Verwahrlosung zu stellen. Erst recht unklar ist, ob
es überhaupt sinnvoll sein kann, von kranker Gesellschaft zu sprechen. Die
Indizien Wertewandel und Werteverfall z.B. lassen sich, auf eine bestimm-
te Gesellschaft bezogen, zunächst nur in historischer Perspektive oder al-
lenfalls im Vergleich mit Gesellschaften desselben Kulturkreises beurtei-
len. Ausgehend von unserer Gesellschaft sind das vor allem die hoch ent-
wickelten westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Aber an Hand wel-
cher Kriterien lässt sich in einer zunehmend permissiven Gesellschaft ein
im Grunde genommen harmloser Wertewandel von verwahrlosungsartigem
Werteverfall unterscheiden? Und vom Verlust welcher Werte kann man an-
nehmen, dass er ernstlich gesellschaftliche Probleme verursacht, die sich
nicht durch soziale Kontrolle durch Überwachung, Manipulation und di-
rekte Verhaltenssteuerung kompensieren ließen?
Wie mir scheint kann trotz solcher Schwierigkeiten die Frage nach ge-
sellschaftlicher Verwahrlosung als einer pathologischen Störung der Ge-
sellschaft doch in mehrfacher Hinsicht sinnvoll und angemessen diskutiert
werden. Nämlich dann, wenn zum Bezugspunkt genommen wird, was beim
Individuum psychoanalytisch als Verwahrlosung deniert werden kann, al-
1
So z.B. von dem Sozialphilosophen Oskar Negt: „Es könnte sein, dass wir von einer
kranken Gesellschaft sprechen müssen, in der bewusste Politik ausgeschlossen ist, weil
die Gesellschaft zum bloßen Anhängsel der wirtschaftlich Mächtigen und der Börsen-
kurse geworden ist.“ Zitiert nach einer Rezension von M. Meller des Buches Negt, 2012
in Deutschlandradio.de. 30.07.2012. Auch der englische Premierminister David Came-
ron sprach von kranker Gesellschaft bezogen auf die Massenrandalen von August 2011,
an der sich nicht nur ärmere Teile der Bevölkerung beteiligt haben. Siehe DER SPIE-
GEL 33 / 2011, S. 84 ff.
47
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
48
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
5
Fromm a.a.O. S 193. Der englische Originaltitel von Fromms Buch lautet „The Sane
Society“. Immerhin hat Fromm sich die Mühe gemacht Kriterien für seine Krankheits-
diagnose der Gesellschaft anzugeben. In der jüngsten Veröffentlichung eines Medien-
wissenschaftlers zu diesem Thema, macht es sich der Autor leicht. Die „Persönlichkeits-
störung“ unserer westlichen Gesellschaften, die er diagnostiziert, sowie die Behauptung
eines Kulturkampfes, in dem sich gierige westliche Narzissten und realitätsblinde, mehr
oder weniger wahnsinnige dschihadistische Boderliner bekämpfen, ist ein oberächli-
cher Versuch aktuelle Konikte mit psychoanalytischen Etiketten zu versehen. Ein sol-
cher Gebrauch von Psychoanalyse kann sie nur diskreditieren. Siehe Christian Kohlross:
„Mit Psychoanalyse zum Gewaltverzicht“. Deutschlandradio Kultur. Politisches Feuil-
leton. Online 22.01.2015
6
Zitiert in Berg, 1960, S. 165
49
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
7
Horkheimer, 1937 (1968, S. 196ff).
50
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie
Ziel, deniert dieses jedoch nicht vorweg, sondern nähert sich ihm prak-
tisch und theoretisch in den Konikten, die sich im Kampf um die „Eman-
zipation des Menschen aus versklavenden Verhältnissen“ ergeben. Der Psy-
choanalytiker Alfred Lorenzer hat dargelegt, dass „Kritischer Theorie“ und
Psychoanalyse gemeinsam ist, „dass die Erkenntnisprozesse sich nicht „im
rein geistigen Bezirk“ abspielen, sondern mit „dem Kampf um bestimm-
te Lebensformen in der Wirklichkeit“ zusammenfallen.“ „Nicht die posi-
tive Kenntnis richtigen Lebens, sondern die kritische Wendung gegen die
Erfahrung eines unerträglichen Lebens ist der Ansatz psychoanalytischer
Erkenntnisbildung: die im Zusammenspiel mit dem Analysanden gewon-
nene Erfahrung beschädigten Lebens und die systematische Verarbeitung
dieser Erfahrung.“ Der Psychoanalytiker orientiert sich nicht an irgendwel-
chen Vorstellungen von psychischer Gesundheit. „Das Leiden des Analy-
sanden drängt als sinnlich spürbarer Widerspruch gegen Zumutungen durch
das Bestehende auf Abschaffung des Unerträglichen.“8 Von daher wird es
möglich, zu formulieren, was ein besseres Leben konkret bedeuten würde.
51
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
10
Devereux, G., 1953, S. 630
11
Devereux, G., 1952, S. 177. Devereux verweist hier auf die Erkenntnisse „der französi-
schen soziologischen Schule“.
12
Devereux, Georges, 1956 (1977, S. 3).
13
In jeder Kultur ndet sich ein Verwandtschaftssystem, ein ökonomisches System, ein
System des Wissens, Religion u.a Devereux, G., 1953, S. 633
14
daselbst und Devereux, G., 1953, S. 630
52
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie
15
Laplantine, 1988, S. 96.
16
Laplantine, 1975, S. 62
17
Damit ist allerdings das sekundäre Problem der Unangemessenheit der verwendeten
Begriffe bei solchen Analogien nicht gelöst. Von „kranker“ Gesellschaft kann eigentlich
immer nur in Anführungszeichen die Rede sein. Siehe dazu auch in der Folge.
53
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
18
Devereux, G., 1953, S. 629
19
Devereux, G., 1953, S. 654. Das lässt sich besonders einleuchtend an Hand des Ödipus-
komplexes bzw. der Exogamie darstellen.
20
Devereux, G., 1939, S. 849
21
Zum Folgenden Devereux, G., 1974
54
Kriterium der Beurteilung gesellschaftlicher Pathologie
22
Devereux, G., 1940 (1977, S. 111)
23
Devereux, G., 1939. S. 850
24
Politzer, 1939 (1973, S. 123). Zu Politzers Werk siehe Füchtner, 1975
25
Der vitiöse Zirkel besteht darin, dass auf eine verzerrt wahrgenommene Realität reagiert
wird und diese Reaktion neue Verzerrungen bewirkt.
26
Fenichel, 1935 (1972, S. 133). Dazu auch Fromm, 1930 (1931)
55
„Gesunde“ Gesellschaft und „kranke“ Gesellschaft
schaften „krank“ sein können, tut er dies, anders als Endleman, im Hinblick
auf Grundlagen, die allen Kulturen gemeinsam sind. Soweit er seine Auf-
fassung auch mit sozialpsychologischen Beobachtungen begründet, liegt
das in seinem Fall nicht daran, dass er Gesellschaftliches unzulässig psy-
chologisieren würde.27 „Psychoanalyse“, so Devereux, „darf sich nicht in
Tatsachen einmischen, deren einfachste, überzeugendste, wirkungsvollste
Erklärung ökonomischer oder religiöser Art ist.“28
56
Verwahrlosung als sozialpsychologisches Phänomen
31
Wangh, 1964
32
Wie relativ die Bedeutung von Sozialisationsresultaten für die politischen Verhältnis-
se sein kann, kann man sich z.B. am Beispiel von manchen Beamten der Generatio-
nen verdeutlichen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts geboren sind. Als jugendliche
Kriegsfreiwillige sind sie für den Kaiser in den ersten Weltkrieg gezogen. Wenn sie ihn
überlebt haben, erfolgten beruiche Ausbildung und erste Berufsjahre in der demokra-
tischen Weimarer Republik. Danach dienten sie der Nazidiktatur, eventuell als Mörder.
Wenn sie auch den zweiten Weltkrieg überlebten, hatten sie gute Chancen, wieder wich-
tige beruiche und auch politische Positionen in der westdeutschen Demokratie oder
in der stalinistischen DDR einzunehmen und als angesehene Bürger und Nachbarn ge-
schätzt zu werden. Sie wurden im Laufe ihres beruichen Lebens auf ganz verschiedene
politische Systeme vereidigt und haben sich ihnen jeweils angepasst.
57
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive.
Die Grundlegung durch August Aichhorn
August Aichhorns beruflicher Werdegang
Das Werk von August Aichhorn (1878 – 1949) ist bis heute der Ausgangs-
punkt und die Grundlage für alle psychoanalytischen Auseinandersetzun-
gen mit Verwahrlosung. Aichhorn hat Anfang des 20. Jahrhunderts in Wien
zunächst als Lehrer und dann als Erzieher in der Jugendfürsorge gearbei-
tet.1 Er stand in seiner erzieherischen Arbeit von Anfang an in konsequen-
ter Opposition zu autoritär-repressiven Erziehungsmaßnahmen.2 Im Jahre
1906 gründete in Wien ein Hauptmann a/D den militärisch organisierten
Knabenhort Landstraße. Die schmucken Matrosenuniformen, die die Kin-
der tragen mussten, Blechmusik, militärisches Exerzieren und mehr noch
„die positive Mitarbeit, die den Zöglingseltern in den Vereinsversammlun-
gen gestattet war, gewannen ihm große Massen.“ Die Lehrerschaft miss-
billigte jedoch den übertriebenen militärischen Drill, das zu starke in die
Öffentlichkeit treten der Kinder und das Eindringen der schulfremden pen-
sionierten Ofziere in die Beziehungen zwischen Elternhaus und Schule.
1907 begann ein heftiger Kampf gegen die militärisch ausgerichteten Hor-
te. Es wurden Gegenvereine und in einigen Bezirken nach pädagogischen
Grundsätzen geleitete Knabenhorte gegründet. Im folgenden Jahr sah die
Gemeinde Wien die Notwendigkeit der Gründung solcher Einrichtungen
für die schulpichtige Jugend in der schulfreien Zeit ein. Zu viele Jugend-
liche blieben tagsüber sich selbst überlassen und den schädigenden Einüs-
sen ihrer Umgebung ausgesetzt, weil in immer mehr Familien beide Eltern
berufstätig sein mussten und wegen des mühsamen Kampfes ums tägliche
Brot für die Erziehung der Kinder weder genug Zeit noch Kraft hatten. In
dieser Situation wurde Aichhorn 1909 mit der Leitung der städtischen Kna-
benhorte der Stadt Wien betraut. Neben dieser Aufgabe, die er bis 1919 er-
1
Zur Biographie Aichhorns siehe Mühlleitner, 1992 und Aichhorn, A., 1921 (1976, Aich-
horn, T., 1976)
2
Zum Folgenden siehe Aichhorn, T., 1976, S. 32
58
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
59
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
3
Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974, S. 91f).
4
Aichhorn, A., 1925 (1974)
60
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
61
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
62
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
führt den Dissozialen zurück.“(a.a.O. S. 43) Absolute Milde und Güte sind
allerdings nur richtig für „jene Verwahrlosten, die mit einem Dezit an Lie-
be aufzuwachsen gezwungen waren, sei es im Elternhaus, sei es in einer
anderen, schicksalhaft ebenso ungünstig gestalteten Umgebung. Die psy-
chisch Gesunden, die durch ein Übermaß an Zuneigung, durch fortwähren-
des Gewähren, ohne richtige triebeinschränkende Verbote heranwuchsen
und dadurch in der Verwahrlosung landeten, bedürfen anderer Einussnah-
me. Für diese gibt es ohne Zertrümmerung ihrer Ich-haftigkeit, ihres Egois-
mus, des Wegräumens ihrer Beziehungslosigkeit zur Umwelt kein soziales
Einordnen.“11
63
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
Aichhorn sah sich in seiner Arbeit mit der „Vielgestaltigkeit des Disso-
zialenproblems“ konfrontiert.15 Er unterschied zwei Hauptgruppen der Ver-
wahrlosungsformen: neurotische Grenzfälle mit Verwahrlosungserschei-
nungen und nicht neurotische. (a.a.O. S. 105)16 Eine rein neurotisch ver-
ursachte Delinquenz ist z.B. gegeben, wenn jemand, wie Freud das be-
schrieben hat, ein Verbrechen aus einem unbewussten Schuldbewusstsein
heraus, ohne realen Grund begeht und dadurch das Schuldbewusstsein „ir-
gendwie untergebracht“ werden kann.17 Dagegen ist beim Verwahrlosten
im engeren Sinne typischer Weise kein Schuldbewusstsein festzustellen.
Bei ihm fehlt „das Gefühl des Unangenehmen, die Unlustbetonung, die
dem Neurotiker das Kranksein erst bewusst werden lässt und ihn zur Be-
handlung reif macht.“(a.a.O. S. 34). Typisch für ihn ist „die geringe Fä-
higkeit, Triebregungen unterdrücken und von primitiven Zielen ablenken
zu können, sowie die ziemliche Wirkungslosigkeit der für die Gesellschaft
geltenden sittlichen Normen.“ Bei den meisten Fürsorgezöglingen kommt
es zu einem „offenen Konikt mit der Gesellschaft als Folge eines in der
Kindheit unbefriedigt gebliebenen Zärtlichkeitsbedürfnisses. In Erschei-
nung tritt sehr gesteigerter Lusthunger, primitive Form der Triebbefrie-
digung, Hemmungslosigkeit und verdecktes, aber desto größeres Verlan-
gen nach Zuneigung.“(a.a.O. S. 129f.) Ganz allgemein sind die Verwahrlo-
sungsursachen in der präödipalen Kindheit zu suchen, „wo sich die von der
Norm abweichenden ersten objektlibidinösen Bindungen hergestellt haben.
Die Verwahrlosung selbst ist nur der Ausdruck für Beziehungen zu Perso-
nen und Dingen, die andere sind, als die Sozietät sie dem Einzelnen zubil-
ligt.“(a.a.O. S. 105).
Die Problematik des Verwahrlosten, wie sie Aichhorn beschreibt, lässt
den Zusammenhang mit ihren frühen Ursprüngen erkennen: „Vieles, was
Verwahrloste zeigen, ist als kindliches Verhalten, wenn auch mit stark ver-
zerrten Zügen, zu deuten: sie sind genau so wenig wie Kinder längere
Zeit mit Interesse bei ein und derselben Beschäftigung zu halten, haben
in vielen Belangen genau dieselbe geringe Urteilsfähigkeit wie die Kinder,
15
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 35)
16
Ich gehe hier nicht auf alle Kategorien der Verwahrlosung ein, die Aichhorn unterschei-
det. Siehe dazu Aichhorn,A., 1959 (1972)
17
Freud, S., 1915a, S. 389f.
64
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
reagieren auf Reize so unmittelbar wie diese, sind in ihrem Handeln auch
von augenblicklichen Eingebungen geleitet und entladen ihre Affekte ganz
ungehemmt.“ „Es sieht so aus, als ob die Verwahrlosten ohne Übergang
einen Sprung von der unbewussten Lustwelt des kleinen Kindes in die raue
Wirklichkeit hätten machen müssen, der nur einem Teil ihres Ichs gelungen
ist.“(. . . )“ Diese Spaltung des Ichs, wenn wir das Fehlen der einheitlichen
Entwicklung so nennen wollen, zeigt jeder Verwahrloste.“ Einerseits ist der
Verwahrloste einem übermächtigen Lustprinzip unterworfen, andererseits
kann er sich im Existenzkampf sehr geschickt behaupten, „wo die Reali-
tät nur die nackte Selbstbehauptung fordert.“ Zweierlei Entwicklungsstö-
rungen kommen zustande: Entwicklungshemmung und Regression.(a.a.O.
S. 171f.)
Es sind drei Konstellationen in früher Kindheit, durch die diese psy-
chischen Störungen verursacht werden. Entweder sind diese Kinder aus zu
viel Liebe zu sehr verwöhnt oder sie sind zu streng erzogen worden. Oder
sie waren einem Wechselbad von zu großer Strenge und zu großer Zärt-
lichkeit und Verwöhnung ausgesetzt. In ersterem Fall steht das Kind ganz
im Mittelpunkt des Interesses und „lebt ungehemmt den Wünschen sei-
nes Lust-Ichs.“ Da die Mutter es gegen die wirkliche Realität abschirmt,
kommt es lange Zeit nicht zur notwendigen Modikation des Lustprinzips.
Soweit dem Kind Versagungen zugemutet werden, geschieht dies an der
falschen Stelle als Folge von Überbehütung und Verzärtelung. Bis dann
schließlich irgendwann die Realität mit ihren unerbittlichen Ansprüchen
nicht mehr vom Kind ferngehalten werden kann und das, was bei normaler
Entwicklung allmählich an das Kind herantritt und nach und nach bewältigt
wird, plötzlich mit vehementer Gewalt über das Kind hereinbricht.(a.a.O.
S. 174) Wenn es dann nicht zu nervösen Erkrankungen kommt, „ammt ei-
ne Auehnung gegen das Lusthindernis auf, der man im Elternhaus nicht
mehr Herr wird, die sich in dissozialen Äußerungen verschiedenster Art
auslebt.“18
Frühzeitige übermäßig zärtliche Beziehungen zu den Eltern oder Ge-
18
Aichhorn verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass er durchaus sieht, dass Ver-
wahrlosung nicht restlos aus dem nicht überwundenen Lustprinzip erklärt werden kann,
sondern „dass auch nicht normal erledigte, besondere libidinöse Beziehungen der Kind-
heit mitspielen.“ (S. 175)
65
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
19
Deutsch, 1955, S. 501
66
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
67
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
ödipalen Konikte, ermöglicht hätten. Freud hat die Folge von zu lieblo-
ser Erziehung angegeben: „Beim Verwahrlosten, der ohne Liebe erzogen
wurde, entfällt die Spannung zwischen Ich und Über-Ich, seine ganze Ag-
gression kann sich nach außen richten.“23
Aichhorn stellte im Hinblick auf seine Arbeit verallgemeinernd fest,
er habe in seiner langjährigen Praxis mit der dissozialen Jugend noch kei-
nen Fall von Verwahrlosung oder Kriminalität erlebt, in dem die Familie
intakt gewesen wäre.24 Allerdings machte er auch die Beobachtung, dass
Schicksalskonstellationen so wirken können, als ob Fehler in der Erzie-
hung gemacht worden seien.25 So können z.B. schreckhafte Erlebnisse zu
psychischen Traumen und dadurch zur Verwahrlosung oder zu Verwahrlo-
sungserscheinungen führen.(a.a.O. S. 57) Es sind immer exogene und en-
dogene Faktoren am Zustandekommen der Verwahrlosung und des Verbre-
chens beteiligt. Wenn man Verwahrlosung als „Symptom des erkrankten
sozialen Organismus“ erkennt, kann man „viel eher die Mittel zur Aushei-
lung nden und damit die Dissozialität zum Verschwinden bringen. Wer
Dissozialität verhindern will, muss die Wohnungs-, Ernährungs-, Arbeits-
frage lösen, dann den Eltern zeigen, wie sie ihre Kinder zu pegen und zu
erziehen haben.“26
Bei seiner Arbeit in Erziehungsanstalten hatte Aichhorn viel mit ju-
gendlichen Verwahrlosten zu tun, die in künstlichen Gruppen zusammen-
geschlossen waren. Auf spontane Gruppenbildungen Verwahrloster geht er
nicht ein. Verwahrloste sind jedoch sehr leicht beeinussbar. Sie schlie-
ßen sich leicht anderen Personen an, wenn dies ihren Interessen entgegen-
kommt. Ihre Freundschaften sind jedoch üchtiger Art. Ebenso die Grup-
pen, in denen sie sich gelegentlich zusammentun. Diese können horden-
artige Zusammenschlüsse ohne einen Anführer sein, aber auch straff or-
ganisierte Banden mit einem Führer.27 Häug ist mit dem Anschluss an
eine Verwahrlostengruppe der Übergang von der latenten zur manifesten
Verwahrlosung verbunden. Der psychische Gewinn kann dabei in der nar-
23
Freud, S., 1930, Fußnote S. 490
24
Aichhorn, T., 1976, S. 94 ff.
25
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 169)
26
Aichhorn, A., 1921 (1976, S. 48)
27
Siehe dazu Spanudis, 1954, S. 24. Auch Zulliger, 1971. Zur Terminologie Zulliger, 1961
68
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
69
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
70
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
36
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 108).
37
Fraiberg spricht von den „magischen Jahren“. Fraiberg, 1972
38
Eissler, K.R., 1950, S. 104. Dazu ausführlicher in der Folge.
71
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
39
Zum Folgenden siehe Aichhorns Aufsatz „Die narzisstische Übertragung des ‚jugend-
lichen Hochstaplers‘“ in Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974). Dazu auch Aichhorn, T.,
2001
40
Aichhorn, A., 1932 (1936) (1974, S. 112)
41
Eissler, 1950. Dort auch zum Folgenden. Siehe auch Aichhorn, T., 2007b
72
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
42
Staub, H., 1943. Eissler verweist darauf, dass es sein kann, dass der Verwahrloste, dem-
gegenüber sich der Analytiker in der ersten Phase ganz „unanalytisch“ verhalten hat,
sich auf diese völlige Änderung der Art der Beziehung in der zweiten Phase nicht um-
stellen kann. Er empehlt in solchen Fällen, dass ein anderer Analytiker die Arbeit mit
dem Patienten fortsetzt. Eissler, 1950, S. 119
43
Aichhorn, A., 1925 (1974, S. 34)
44
Johnson, M. A.; Szurek, 1952
45
Siehe zum Begriff der „sekundären Neurose“ und zur Technik der Behandlung von Ver-
wahrlosten die detaillierte Darstellung des ehemaligen Analysanden und Mitarbeiters
von Aichhorn Spanudis, 1954 und hier im Folgenden.
46
Spanudis, 1954, S. 83
73
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
in gleicher Weise therapiert werden, wie dies bei Neurosen sonst auch ge-
schieht.47
Mit seiner Entwicklung der Technik der narzisstischen Übertragung
hat Aichhorn wohl seinen bedeutendsten Beitrag zur psychoanalytischen
Theorie und Praxis geleistet.48 Seine Vorgehensweise wurde nicht nur von
Kollegen und Schülern wie Eissler, Hoffer und Staub bei der Arbeit mit
Verwahrlosten aufgegriffen, sondern auch von Analytikern, die im Bereich
herkömmlicher psychoanalytischer Arbeit mit erwachsenen Patienten ge-
blieben sind. So vor allem von Aichhorns ehemaligem Analysanden Heinz
Kohut. Dieser hat sein therapeutisches Verhalten und sein Konzept der Alter
Ego oder Zwillingsübertragung in Auseinandersetzung mit Aichhorns ak-
tivem therapeutischem Verhalten und der narzisstischen Übertragung ent-
wickelt. Er bezeichnet Aichhorn als Pionier, der in diesem Bereich die
ersten Schritte unternommen habe. Er relativiert dieses Lob jedoch so-
gleich, indem er hinzufügt, Aichhorn habe aber nicht zwischen dem Ich-
Ideal und seinem Vorläufer, der idealisierten Eltern-Imago unterschieden
und dem „Größen-Selbst“ keinen getrennten und besonderen Platz zuge-
wiesen.49 Trotzdem hält er Aichhorns aktive Technik, die dieser in seiner
Arbeit mit Verwahrlosten angewendet hat, für „durchaus vereinbar mit den
theoretischen Überlegungen im Hinblick auf die Übertragungsbedingungen
bei einem breiten Spektrum narzisstischer Persönlichkeitsstörungen jen-
seits der Fälle jugendlicher Verwahrlosung.“ Kohut bezieht sich auf eine
Formulierung von Anna Freuds Nachruf für Aichhorn, der zufolge bei die-
sem der Therapeut dem Hochstapler „ein verklärtes Spiegelbild seines ei-
genen verbrecherischen Ichs und Ich-Ideals“ darbietet. Kohut kommentiert,
diese Formulierung stehe „der Unterscheidung zwischen einer Übertragung
auf der Grundlage eines therapeutisch wiederbelebten Größen-Selbst (ins-
47
Zu den behandlungstechnischen Aspekten siehe in der Folge.
48
Das scheint bis heute nicht wahrgenommen zu werden. In dem sonst so soliden Dic-
tionnaire International de la Psychanalyse wird Aichhorns Schüler Kohut als Ernder
des Begriffs „Narzisstische Übertragung“ bezeichnet. Siehe „transfert narcissique“ in
Mijolla, 2002. Die Modizierungen, die sie in Kohuts Konzeption erfährt, rechtfertigen
das nicht. Siehe dazu auch in der Folge
49
Diese Relativierung ist eine, die nicht so sehr die Sache als vielmehr die Terminolo-
gie betrifft. Danach hätte Aichhorn selbst schon den Begriff „Größen-Selbst“ ernden
müssen. Hierzu und zum Folgenden Kohut, 1973, S. 188ff.
74
Verwahrlosung in psychoanalytischer Perspektive
50
Kohut, 1973, S. 189. Kohut interessiert sich ansonsten nicht für Verwahrlosung und für
Aichhorns nosologische Sicht von Verwahrlosung.
51
Cremerius, J., 1983 (1981)
75
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
Für die sozialpsychologische Perspektive meiner Untersuchung ist es nicht
notwendig, auf alle Details der verfügbaren psychoanalytischen Untersu-
chungen und Erkenntnisse einzugehen, die zum Thema Verwahrlosung zu
nden sind. Jedenfalls nicht auf alle Ausdifferenzierungen der verschie-
denen Varianten psychischer Störungen, insbesondere der verschiedenen
Vermischungen mit neurotischen Störungen, die psychoanalytisch oft auch
als Verwahrlosung bezeichnet werden. Ich gehe hier nur auf die wichtigs-
ten ein. In der neueren psychoanalytischen Literatur spielt der Begriff Ver-
wahrlosung ohnehin keine Rolle mehr.1 Stattdessen ist von antisozialer Per-
sönlichkeitsstörung, Dissozialität, Psychopathie oder auch Soziopathie die
Rede. Wie ich noch begründen werde, halte ich es für wichtig, am Ver-
wahrlosungsbegriff festzuhalten, ungeachtet der Kritik, die gegen ihn ver-
schiedentlich vorgebracht wird. Wer ihn als „reichlich altväterlich“ ablehnt,
argumentiert oberächlich und nimmt offensichtlich seine kritischen Kon-
notationen nicht wahr.2 Davon abgesehen ignoriert er, dass der Begriff in
der psychoanalytischen Terminologie nicht weniger nützlich sein kann als
die Termini Neurose und Psychose. Bei Aichhorn und seinen ersten Nach-
folgern bezeichnet er bestimmte Varianten psychischer Konstitution. Er hat
bei ihnen auch einen gesellschaftskritischen Anklang. Verwahrlosung ver-
weist auf Vernachlässigung, Verwilderung, Verkommenheit und Versäum-
nisse. Das könnte einer der Gründe sein, warum der Begriff in der inter-
nationalen psychoanalytischen Diskussion nie eine größere Rolle gespielt
hat. Ein anderer Grund, den ich schon erwähnt habe, ist, dass der Begriff
so schwer zu übersetzen ist.3 In den üblichen Übersetzungen, geht jeweils
1
Abgesehen von Arbeiten, die sich ausschließlich auf psychoanalytische Sozialarbeit mit
Jugendlichen oder Pädagogik beziehen. Der erwachsene Verwahrloste, mit dem sich
einige Analytiker im Anschluss an Aichhorn noch auseinandergesetzt haben, ist später
verschwunden. Siehe dazu in der Folge.
2
So z.B. Bittner, 2001. Ihm ist der Terminus Psychopath lieber, er möchte ihn aber ohne
belastende Konnotationen verstanden wissen.
3
Das wird in französischsprachigen Arbeiten zum Thema „Verwahrloste Jugend“ be-
sonders deutlich. Neben den bereits genannten Varianten „Jeunesse à l’abandon“ und
76
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
„Jeunes en souffrance, ist auch von „Jeunes à la dérive“ die Rede. In dem Sammel-
band von Houssier und Marty (2007) nden sich alle genannten Varianten. In einer
Fußnote zur Übersetzung von Aichhorns „Kategorien der Verwahrlosung“ heißt es z.B.
plötzlich, ohne weitere Begründung, Verwahrlosung, die bis dahin mit dérive übersetzt
worden ist, werde nun mit abandon übersetzt. Der Grund dürfte sein, dass in diesem
nosologischen Text verschiedene Varianten von Verwahrlosung mit verschiedenen So-
zialisationsschicksalen in Beziehung gesetzt werden.
4
Winnicott, 1956 (1983, S. 230)
5
Aichhorn, T., 2007b
6
Perner, 2005, S. 42. Perner erwähnt als bleibende Beiträge Aichhorns neben seiner Be-
deutung als Pionier der psychoanalytischen Sozialarbeit, dass man in ihm einen Vorläu-
fer der Objektbeziehungstheorie und den Begründer der psychoanalytischen Familien-
therapie sehen kann. Außerdem seine Techniken der korrigierenden Erfahrung und der
narzisstischen Übertragung. Siehe dazu auch in der Folge.
7
August Aichhorn, zitiert in Aichhorn, Th., 2011 und in Freud, A., 1951, S. 1596. Dort
auch zum Folgenden.
77
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
78
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
dersetzungen gebunden. Bei ihm „wird das Ich der Schauplatz der Kämpfe
zwischen Über-Ich und Es.“ Es kann nur versuchen, innerlich zu iehen.
Dagegen kann man beim proletarischen Kind geradezu einen „Zwang zur
realen Flucht“ beobachten. Bei ihm ist der Schauplatz der Kämpfe die Rea-
lität.11 Darum hat dieser Verwahrlosungstyp „psychosen Charakter für die
Deskription, nicht aber für die Prognose“. Bernfeld ergänzt, dass solche
psychoseähnlichen Verwahrlosungen gelegentlich in jedem Milieu entste-
hen können und dass natürlich auch in proletarischen Verhältnissen reine
Neurosen entstehen. Es ist aber der soziale Ort, der die Häugkeitschancen
für die Entwicklung in die eine oder die andere Richtung setzt.
Auch Friedlander stellt fest, dass die frühen Störungen der Beziehung
zwischen Mutter und Kind ihre Ursache in ungünstigen sozioökonomi-
schen Umständen haben können, die die Mutter daran hindern, sich aus-
reichend dem Kind zu widmen.12 Aber auch die Persönlichkeit der Mutter
muss eine Rolle spielen, da manche Kinder selbst unter sehr ungünstigen
Umständen nicht verwahrlost werden. Friedlander nennt soziale Faktoren
wie häusliche Probleme, Mangel an Disziplin, schlechter Umgang, fehlen-
de Freizeitgestaltung und ökonomische Faktoren, die das Entstehen von
Verwahrlosung begünstigen. Diese führen aber ihrer Meinung nach ab ei-
nem Alter von sechs Jahren nur zu Verwahrlosung, wenn zuvor schon ein
Zustand latenter Verwahrlosung oder eine antisoziale Charakterbildung ge-
geben war. Eine solche ist durch drei Faktoren charakterisiert: die Stärke
der Triebwünsche, die Schwäche des Ichs und die fehlende Unabhängig-
keit des Über-Ichs.(a.a.O., S. 94)
Letztlich ist sich Friedlander, wie die anderen Autoren auch, nicht si-
cher, was den Ausschlag gibt, ob ein Individuum neurotisch wird oder
verwahrlost.13 Sie vermutet, dass der spezische Faktor bei der Verursa-
chung von antisozialer Charakterbildung das konstante Alternieren von zu
viel Frustration und zu viel Befriedigung von primitiven Triebregungen ist.
Die Störungen der Mutter-Kind-Beziehung können in der Persönlichkeit
11
Das „innere Gestörtsein“, das Aichhorn in allen Fällen annimmt, wird nach außen in die
Realität verschoben Bernfeld, 1929 (1969) (1971, S. 209 f).
12
Friedlander, 1947
13
Was, wie sie anmerkt, auch daran liegt, dass es zu wenige psychoanalytische Behand-
lungen von Verwahrlosten gibt. (a.a.O. S. 99)
79
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
14
Schmideberg stellt im selben Sinne fest, dass es wohl kein Kind gibt, das nicht in ir-
gendeinem Stadium seiner Entwicklung gestohlen, gelogen oder die Schule geschwänzt
hat. Schmideberg, 1935, S. 22
15
In Frankreich werden die „Ados“ in den Medien häug als eine Art familialer Alptraum
thematisiert.
16
Freud, A., 1949 (1987, S. 1077 ff). Anders als die anderen Autoren spricht sie immer
schon vom ersten Lebensjahr.
80
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
obwohl er gerade für das Verständnis der Probleme von erwachsenen Ver-
wahrlosten von erheblicher Bedeutung sein dürfte. Sie erläutert zunächst,
wie aufgrund der Lusterlebnisse bei der Befriedigung der ersten Körper-
bedürfnisse sich die Libido des Kindes in steigendem Maße von den Vor-
gängen im eigenen Innern abwendet und diejenigen Personen in der Au-
ßenwelt (Mutter, Pegerin) besetzt, von denen die Befriedigung ausgeht.
„Wo die Mutter in ihren Gefühlen und in der Kinderpege unzuverlässig ist
und als Befriedigungsquelle versagt, oder wo die Pege und Wartung ohne
Zuneigung von wechselndem Pegepersonal besorgt wird, dort gelingt die
Umwandlung der narzisstischen Libido in Objektlibido nicht in vollem Ma-
ße. Als Resultat bleibt für das ganze spätere Leben die Bereitschaft, Libido
von den Objekten auf die eigene Person zurückzuwenden, wann immer die
Objektwelt sich als enttäuschend erweist. Der eigene Körper und seine Be-
dürfnisse bleiben stärker besetzt als normal, die autoerotischen Betätigun-
gen (rhythmische Bewegungen, Lutschen, Masturbation) stärker betont. In
weiterer Folge führt die Schädigung der Libidoentwicklung durch Liebes-
entzug zu einer ungenügenden Bindung der destruktiven Impulse.“(a.a.O.
S. 1078). Dieser Feststellung entsprechend müsste beim Auftreten psycho-
somatischer Symptome der Verwahrlosungsproblematik mehr Beachtung
geschenkt werden, als dies normalerweise der Fall ist. Darauf hat Spanu-
dis hingewiesen. Er nimmt an, dass die meisten vegetativen Neurosen der
psychosomatischen Medizin der Gruppe der potentiell Verwahrlosten zu-
zurechnen sind.17
Lampl de Groot nennt zwei Aspekte als Ergänzungen und Vertiefungen
zu Aichhorns Überlegungen. Zum einen verweist sie auf einen Erkenntnis-
gewinn, der sich ergibt, wenn man Über-Ich und Ich-Ideal deutlich vonein-
ander unterscheidet. Zum anderen hebt sie hervor, dass es zum psychoana-
lytischen Verständnis von Verwahrlosung und Delinquenz wichtig ist, nicht
nur das Schicksal der libidinösen, sondern auch der aggressiven Triebantei-
le zu beachten.
Im harmonischen Erwachsenen sind Ich-Ideal und urteilendes Über-Ich
homogen und bilden eine Einheit. Ihre Entwicklung muss aber getrennt be-
trachtet werden. Für die Ichidealbildung sind die ersten Identizierungen
17
dazu in der Folge
81
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
von bleibender Bedeutung für die ganze Entwicklung. Das Stimulieren des
Identizierungsprozesses ohne Übertreibung ist eine wichtige Erziehungs-
methode und kann angemessene Ideale liefern. Dasselbe Prinzip gilt für die
Bildung des urteilenden Über-Ichs. Hier sollten dem Kind akzeptable Ge-
bote und Verbote gegeben werden. Identizierungen können aber in frühen
Perioden sehr wechselhaft und instabil sein und oft bleibt das so das ganze
Leben lang.
Eine wesentliche Grundvoraussetzung für das Gelingen der Entwick-
lung von Ich-Ideal und Über-Ich ist, dass die Ichfunktionen nicht be-
einträchtigt sind.18 Lampl de Groot nennt 1)Wahrnehmung 2)Gedächtnis
3)Realitätsprüfung (reality testing) 4)Bewegungsbeherrschung (control of
motility) 5)Synthese.19 So gibt es z.B. in allen Fällen, in denen die synthe-
tische Funktion beeinträchtigt ist, keine Harmonie mehr in der Persönlich-
keit. In anderen Erkrankungen, vor allem der Zwangsneurose, ist die Intel-
ligenz – auch wenn sie insgesamt hoch ist – teilweise zur primitiven Ebene
der magischen Phase regrediert, zu einem Vorläufer des logischen Den-
kens. Hier ist die Persönlichkeitsspaltung offensichtlicher als bei Hysterie.
Die weitestgehende Ichregression kann in den sogenannten narzisstischen
Neurosen und den Psychosen beobachtet werden. Hier ist das Ich wirklich
aufgespalten, die synthetische Funktion ist verschwunden, die Realitätsprü-
fung ist verfälscht oder, in schlimmen Fällen, fast außer Kraft gesetzt. Die
Beurteilung der Außenwelt hat primitivem Wunschdenken Platz gemacht.
Offensichtlich hat das Entstehen auch von Verwahrlosung mit Störungen
der Ichfunktionen zu tun. Lampl de Groot betont überdies die auch von an-
deren Autoren hervorgehobene Psychoseähnlichkeit der oft weitgehenden
Realitätsverkennung und Realitätsleugnung bei Verwahrlosten.20
Auch Lampl de Groot legt dar, dass für eine adäquate, d.h. nicht delin-
quente soziale Anpassung, eine ausreichend gute Objektbeziehung und eine
gesunde Ich-Ideal-Bildung nötig sind. Aggressive Energie, die zur Sicher-
stellung der Ideale auf das eigene Selbst gerichtet wird, stärkt die Selbstach-
18
Siehe dazu Jacobson, 1973, S. 137: „Offensichtlich ist der psychische Organismus nicht
in der Lage, das Überich als Funktionssystem aufzubauen, bevor nicht die Reifung des
Ichs und der Objektbeziehungen ein gewisses Niveau erreicht hat.“
19
Lampl-de-Groot, 1965, S. 117 ff.
20
Diese ist allerdings im Vergleich zum Psychotiker nur partiell.
82
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
tung. Der verbleibende Teil der freien, aggressiven Energie wird für men-
tale, intellektuelle und körperliche Aktivitäten in der Außenwelt genützt,
um zu lernen, sich anzupassen oder die Umwelt zu verändern. Er wird in
Aktivität „sublimiert“. Dieser duale komplizierte Prozess wird oft gestört.
Oft wird zu viel Aggressivität gegen das Selbst gerichtet. Diese Aggression
wird dann sexualisiert und die ganze Beziehung zwischen Über-Ich und Ich
hört auf, eine urteilende, regulierende Funktion im Dienst normaler Anpas-
sung zu sein. Stattdessen wird daraus eine sadomasochistische Beziehung.
Das Ergebnis ist eine hartnäckige Tendenz zur Selbstbestrafung, eine Ar-
retierung und Einschränkung der Ichentwicklung und der Bildung des Ich-
Ideals.21
Den unterscheidenden Faktor zwischen Neurotikern und Delinquenten
sieht Lampl de Groot in einem Unterschied zwischen ihrer Ich-Ideal- und
Über-Ich-Bildung. Wo es eine starke Idealbildung in früher Kindheit gab,
die später durch ein überstrenges Über-Ich gestört wurde, wird die Ichent-
wicklung gehemmt und die Sublimierung von aggressiver Energie in Ak-
tivität verhindert. Die rigorosen Ideale verbieten den Ausdruck jeglicher
Aggressivität in die Außenwelt und so richtet sie sich deswegen gegen das
Selbst. Das Ergebnis ist der bekannte vitiöse Zirkel der Neurose.
Wenn es in dem jungen Kind zu einer schwachen Idealbildung gekom-
men ist, die später von einem sadistischen Über-Ich gestört wurde, ist das
Ergebnis Selbstbestrafung und ebenfalls defektive Ichentwicklung. Aber in
solchen Fällen ist die schwache Idealbildung unfähig, die Entladung von
Aggressivität zu verhindern und die Aggression des Über-Ichs wird gegen
die Umgebung ausagiert. Das Ergebnis ist dissoziales Verhalten oder Delin-
quenz. Die Beeinträchtigung der Idealbildung bedeutet auch eine zweifache
Frustrierung der narzisstischen Bedürfnisse des Kindes. Sowohl durch den
Mangel an Liebe, als auch durch die mangelhafte Idealbildung als solche.
Es nden sich vielfach Mischungen dieser Prozesse.
Das Über-Ich ist keineswegs unbedingt einheitlich. So gibt es z.B. Men-
schen, die zum Teil hohe Ideale in manchen Bereichen befolgen, in anderen
aber keine haben und dissozial agieren.(a.a.O. 146) Und Lampl de Groot
fügt hinzu, dass so, wie wohl jeder, und sei er auch noch so „normal“, einen
21
Lampl-de-Groot, 1949. Dort auch zum Folgenden.
83
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
84
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
ren asozialen Patienten stellte sie fest, dass ihre libidinöse Entwicklung der
späten oralen oder frühen analen Phase entsprach.24 D.h. ihre libidinösen
Beziehungen haben den Charakter von Partialliebe. Für die Struktur ihres
Über-Ichs waren schlechte introjizierte Objekte charakteristisch. Hinsicht-
lich des Fehlens von moralischen und liebevollen Gefühlen bei diesen Pa-
tienten stellte auch sie fest, dass Schuldgefühle sich nur da entwickeln, wo
es eine positive Objektbeziehung gibt. Und wo diese verloren geht, schwin-
det auch das Schuldgefühl. Schuld wird nur gegenüber dem „guten“ und,
wegen der vorhandenen aggressiven Triebregungen, ambivalent geliebten
Objekt empfunden. Das „gute“ Objekt ist nicht einfach eine Person, die
Lust ermöglicht, sondern eine, die das Kind trotz seiner Aggression liebt
und ihm diese nicht heimzahlt. Das gefürchtete „schlechte“ Objekt macht
Angst. Fatalerweise kann das Überwiegen von schlechten introjizierten Ob-
jekten dazu führen, dass gute Objekte und Liebe und Freundlichkeit gar
nicht als solche wahrgenommen und verinnerlicht werden können. Die Er-
fahrungen mit den schlechten Objekten werden auf sie projiziert. Je stärker
die ursprünglichen aggressiven Triebregungen weiter bestehen, desto inten-
siver ist das Schuldgefühl. Schuld entsteht aus dem Ambivalenzkonikt und
wenn dieser zu unerträglich wird, kann die Lösung darin bestehen, dass die
positive Objektbeziehung aufgegeben wird. Das bis dahin ambivalent ge-
liebte Objekt wird schlecht, indem die eigenen aggressiven Regungen auf
es projiziert werden. Das Schuldgefühl wird zu Angst. So ist es möglich,
dass das Fehlen von Schuldgefühl nicht die Folge eines mangelnden Über-
Ichs zu sein braucht. Je schwächer der Glaube des Subjekts an hilfreiche
Objekte ist und je größer die Angst vor einem grausamen Über-Ich, umso
dringlicher wird es bei äußeren Objekten Hilfe suchen. Wenn diese Suche
wegen zu exzessiver Angst misslingt, kommt es zu einer dissozialen Ein-
stellung. Auf dem Stand der psychischen Entwicklung, auf dem sich ver-
wahrloste Kinder in der Regel benden, können gute Objekte auch durch
Gegenstände und Plätze repräsentiert werden.25
Das Stehengebliebensein der libidinösen Entwicklung mit den dazuge-
24
Schmideberg, 1935. Der von ihr benützte Begriff „asozial“ entspricht ungefähr der
Aichhornschen Klassikation „dissozial“.
25
Schmideberg, 1935, S. 32. Was unter anderem zu bedenken ist, wenn Kinder weglaufen
und sich auf der Straße herumtreiben.
85
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
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Ergänzungen zu Aichhorns Werk
31
Die wichtigsten Arbeiten über erwachsene Verwahrloste, die als solche begriffen wer-
den, stammen von Eissler, Finkelstein, Schmideberg und Spanudis.
32
Johnson, M. A.; Szurek, 1952, S. 341
33
Johnson, A. M., 1949 (1974), Johnson, M. A.; Szurek, 1952. Dieser Mechanismus ist
nicht nur in Bezug auf Delinquenz von Bedeutung. Er kann auch in anderen Fehlent-
wicklungen eine Rolle spielen, so. z.B. auch beim Erwerb der sexuellen Identität des
Kindes. Wie vielfältig und komplex solche Delegierungsmechanismen sein können, hat
H.E. Richter ausführlich analysiert und dargestellt. Richter, 1963 (1969), Richter, 1970
(1972)
88
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
Schluss: „Ob wir also „gut“ oder „schlecht“ werden, hängt von den Phan-
tasien ab, die sich unsere Eltern über uns machen.“34
Der Ausgangspunkt der Überlegungen von Ruth Eissler sind auch, wie
bei Johnson und Szurek, Erfahrungen mit delinquenten Kindern, die offen-
sichtlich eine Sündenbockrolle angenommen haben. Sie betont in diesem
Zusammenhang in Berufung auf Aichhorn, dass man sowieso das delin-
quente Kind nie isoliert, sondern in seinen familialen Beziehungen sehen
muss. Eissler erweitert jedoch ihre Perspektive über einzelne Familien hin-
aus. Verallgemeinernd stellt sie fest, dass delinquente Kinder häug die
unbewussten feindlichen Impulse und Über-Ich-Forderungen der Elternge-
neration befriedigen. Solche feindlichen Impulse gegenüber Kindern gibt
es immer schon. Sie entspringen zwei Quellen, der Ödipussituation und der
Geschwisterrivalität.
Eissler betont jedoch darüber hinaus die sozialpsychologische Bedeu-
tung des Sündenbocks. Er ermöglicht die Verschiebung von Konikten
nach außen und bewirkt damit eine Spannungslinderung. Für die Gesell-
schaft als ganze sind Kriege die Lösung par excellence, um große aggres-
sive Triebentladungen zu ermöglichen. Da Kriege jedoch auch Selbstzer-
störung bewirken, bedient man sich ihrer aus Selbsterhaltung nicht unbe-
schränkt. So bleibt der Gesellschaft insgesamt nur noch eine Möglichkeit
von Triebabfuhr, die moralisch gerechtfertigt werden kann und die die ge-
wünschte Erleichterung verschaffen kann, d.h. innere Konikte nach außen
zu bringen, ohne bewusste Schuldgefühle zu verursachen. Das ist die Ver-
folgung der Schlechten, der Kriminellen, derer die Gewalt anwenden, Ge-
setze brechen und sich nicht den Anforderungen der Gesellschaft fügen.35
Wenn es aber so ist, dass die Gesellschaft Kriminelle in der gleichen Wei-
se braucht, wie die Eltern, die ihre Kinder zu Sündenböcken machen, steht
es schlecht um die Möglichkeiten, Kriminalität wirksam zu bekämpfen und
ihr vorzubeugen. Zwei Tendenzen wirken dem entgegen. 1)Individuen wer-
den zu kriminellem Handeln verführt. 2)Überall wo etwas zustande kommt,
was Kriminalität entgegenzuwirken verspricht, wird dagegen angegangen.
Diese Erfahrung macht man auch im begrenzten Bereich von Sozialarbeit.
34
Zitiert nach der deutschen Version des Textes von Johnson, A. M., 1949 (1974)
35
Eissler, R. S., 1949 (1966, S. 295)
89
Ergänzungen zu Aichhorns Werk
90
Aspekte der berücksichtigten Ergänzungen, die von besonderer Bedeutung sind
des Über-Ichs zu erklären ist. Es gibt auch eine Moralität, die auf Liebe
beruht.
Die genannten Autoren orientieren sich an Aichhorn vor allem hin-
sichtlich seiner Einstellung zu Verwahrlosung, folgen ihm aber nicht ge-
nau in seiner Terminologie. Der Verwahrlosungsbegriff der referierten Bei-
träge umfasst Mischformen verschiedener Art. Diese Autoren werden in-
sofern dem eingeschränkteren und genaueren Verwahrlosungsbegriff von
Aichhorn, an dem Spanudis anknüpft, nicht gerecht. Dementsprechend
sind von ihnen ausgehend verallgemeinernde Aussagen über einen Zusam-
menhang zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten bzw. be-
stimmten Sozialisationsbedingungen und der Entstehung von subjektiver
Verwahrlosung kaum möglich. Die verschiedenen beschriebenen psychi-
schen Verwahrlosungskonstellationen lassen sich nicht auf einen einheit-
lichen psychoanalytischen Begriff bringen. Sie präzisieren und verdeutli-
chen aber, wie weitgehend die für Verwahrloste charakteristische Über-Ich-
Problematik mit frühen Störungen der Ichentwicklung und der Entwicklung
eines Ich-Ideals verschränkt ist.
91
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
Aichhorn hat sich nur mit kindlichen Hochstaplern auseinandergesetzt. Er
sah in ihnen die reinste Form des Typus jugendlicher Verwahrloster, bei de-
nen es zu narzisstischer Übertragung kommt. Der erwachsene Hochstapler
ist darin eine Besonderheit, dass sich für ihn als erwachsenem Verwahrlos-
ten auch in neuerer Zeit Psychoanalytiker gelegentlich interessieren.1 Er ist
aus mehreren Gründen ein besonders interessanter Typus von Verwahrlo-
sung. Er tritt bevorzugt in besseren Gesellschaftskreisen auf. Bei ihm sind
die problematischen Merkmale des Verwahrlosten meist nicht auf Anhieb
wahrnehmbar. Im Gegenteil, perfekte Anpassung an die Erwartungen der
anderen und perfektes Rollenspiel spielen eine zentrale Rolle. Der Hoch-
stapler wird oft längere Zeit gar nicht als solcher erkannt. Er kann sich
völlig normal und unauffällig verhalten, bis er dann, in manchen Fällen auf
Grund eines Zufalls, entlarvt wird. Z.B. weil das Fehlen eines wichtigen
Qualikationsnachweis bemerkt wird oder eine biographische Angabe sich
als falsch erweist. Häug aber auch, weil er sich selbst durch eine unbe-
wusst verursachte Unachtsamkeit, eine Fehlleistung oder ähnliches, selbst
verrät und er als Betrüger entlarvt wird. Er verfügt also über Fähigkeiten,
die man braucht um sich in der gesellschaftlichen Realität beruich, ökono-
misch und sozial behaupten zu können. Er darf nicht rücksichtslos handeln
oder als unbeherrschter Lustsucher aus der Rolle fallen. Er ist kein simpler
Betrüger, sondern er muss die Fähigkeit haben, andere Menschen zu täu-
schen und sie zu verführen, so dass sie ihm seine vorgetäuschte Identität
glauben.
Hugo Staub charakterisiert den „Verbrechertyp“ Hochstapler so: „Intel-
ligent, liebenswürdig, gewandt, von angenehmsten Umgangsformen, weiß
der Hochstapler immer wieder die Sympathie und das Vertrauen eines Ge-
sellschaftskreises zu erringen, um in diesem dann auf die verschiedens-
ten Arten zu betrügen und wirtschaftlich zu schädigen. Eine auffallende
Großmanns- und Verschwendungssucht und die Tendenz, sich mit rafnier-
ter Geschicklichkeit als Angehöriger einer höheren Gesellschaftsschicht
1
Siehe de Vries, 2004 und die bibliographischen Angaben darin.
92
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
93
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
Hassbereitschaft zu. Das Übermaß von Hass und Wut, das, ursprünglich
gegen einen engen Personenkreis gerichtet ist, gilt später der sozialen Ge-
samtheit. Der narzisstischen Regression der Libido, entspricht auch eine
Hemmung der Charakterbildung, ein Stehenbleiben auf niederer Stufe. Im
Alltag von N. bedeutet das, dass er sich unter einer „inneren Nötigung“
allen Menschen „liebenswürdig, d.h. ihrer Liebe würdig zeigen muss, um
dann bald sich und ihnen zu beweisen, dass er dieses Gefühls unwürdig
sei.“5
Bemerkenswert an diesem Fall ist nicht zuletzt, dass das Verhalten von
N. sich nicht durch Gefängnisstrafen verändert, zu denen er verurteilt wird,
sondern dass er sich auf Grund der Veränderungen seiner Lebenssituati-
on, dem Zustandekommen einer Liebesbeziehung zu einer mütterlichen
Frau, sozial angepasst und erfolgreich verhalten kann. Abraham hat den
Eindruck, „dass N. an einer Ersatzperson spät geglückt war, was in der
Kindheit nicht stattnden konnte: die Libido-Übertragung auf die Mutter.“
Ihm ist allerdings klar, dass das dies keine „Heilung durch Liebe“ bedeu-
tet. Immerhin ist aus der manifesten Verwahrlosung durch die Veränderung
äußerer Umstände eine latente Verwahrlosung geworden.
Das soziale Verhalten des Hochstaplers, d.h. sein Rollenspiel, unter-
scheidet sich vom Rollenspiel normaler Menschen dadurch, dass es getrie-
benes, repetitives Verhalten involviert, das von ungelösten pathologischen
inneren Konikten herrührt. Er leidet an einer starken Identitätsstörung, die
sich in multiplen Identizierungen und fragmentarischem, nachahmendem,
nicht verinnerlichtem Rollenspielen ausdrückt. Er spielt angemaßte Rollen,
für die er nicht qualiziert ist. Dabei ist er permanent damit beschäftigt,
durch die Vortäuschung einer sozial angesehenen Identität, narzisstische
Probleme zu geringer Selbstachtung und das Wissen um seine psychischen
Schwächen und Ängste zu neutralisieren. Manche Hochstapler sind fähig,
ganz verschiedene Rollen zu spielen. Und oft spielen sie sie gut. Zu den
typischen Eigenschaften des Hochstaplers gehören auch sprachliche Ge-
wandtheit, eine hypertrophe Entwicklung einer in bestimmter Weise einge-
schränkten Empathie, von Dilettantismus und esoterischen Fähigkeiten und
5
a.a.O., S. 77
94
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
Listigkeit.6 Er kann sehr anziehend wirken, weil er, wie mehrere Autoren
betonen, nicht kalt und beziehungslos erscheint, sondern imstande ist, sich
hingebungsvoll mit den Gefühlen der anderen auseinanderzusetzen.
Der Hochstapler erscheint also als ein Typus narzisstischen Charakters,
der ein unrealistisches, grandioses Ich-Ideal hat, oder anders formuliert,
idealisierte Selbstvorstellungen, die er erreichen muss, um sich wohlfühlen
zu können. Sein defektes Ich ermöglicht es ihm nicht, Frustration zu verzö-
gern, aufzuschieben, vorauszuplanen und zu dulden. Um seine idealisier-
ten Ziele zu erreichen, muss er sich pathologischer Mittel bedienen. Um
sich selbst zu überzeugen, er habe seine Ziele erreicht, muss er verleug-
nen, rationalisieren, sich verstellen usw., um sein Publikum zu täuschen. Er
braucht ein Publikum das ihm glaubt, um sich selbst einreden zu können,
das, was er vortäuscht, sei Realität.7
Helene Deutsch präzisiert das und sagt, der Hochstapler bemühe sich,
die Unstimmigkeit zwischen seinem pathologisch übertriebenen Ich-Ideal
und dem anderen, entwerteten, miesen, schuldbeladenen Teil seines Ichs in
einer Weise zu beseitigen, die charakteristisch ist für ihn. Er tut so als sei
sein Ich-Ideal identisch mit ihm selbst und als erwarte er, dass alle anderen
dies auch so sehen. Wenn die innere Stimme seines entwerteten Ichs einer-
seits und die Reaktionen der Umwelt andererseits ihn daran erinnern, dass
sein Ich-Ideal nicht realistisch ist, klammert der Hochstapler sich weiter an
seine narzisstische Position. Er versucht verzweifelt – indem er unter einem
anderem Namen vorgibt ein anderer zu sein –, sein Ich-Ideal zu erhalten,
es sozusagen der Welt aufzuzwingen.8 Greenacre weist darauf hin, dass so-
weit dies dem Hochstapler gelingt, in der Zusammenarbeit seiner Opfer mit
ihm, auch ein soziales Element involviert ist. Demnach ist Hochstapelei in
großem Maßstab am erfolgreichsten in Zeiten unruhiger oder revolutions-
naher sozialer Verhältnisse, wenn die Leute nach Allheilmitteln und einem
Retter Ausschau halten.9
Finkelstein sieht in der gestörten Wahrnehmung der Realität und der
eigenen Identität des Hochstaplers vor allem eine Folge einer zu engen Be-
6
Gediman, 1985
7
Deutsch, 1942, S. 503
8
Deutsch, 1942, S. 503
9
Greenacre, 1958b, S. 526
95
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
96
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
fen konnte, standen die Eltern überkreuz. Oft verachtete, schimpfte oder
attackierte die Mutter den Vater, der entweder keine enge Beziehung zu
dem Kind hatte oder sich ihr durch Tod oder Verlassen entzog. Das inten-
sive mütterliche Anklammern, dem sich der künftige Hochstapler ausge-
setzt sieht, schwächt seine Wahrnehmung seiner Eigenständigkeit und die
Entwicklung seiner Identität.14 Indem das Kind in eine Situation klarere
Überlegenheit gegenüber dem Vater kommt, sei es allein durch das Verhal-
ten der Mutter oder weil der Vater durch Tod oder Verlassen verschwindet,
kann möglicherweise in der ödipalen Situation ein schwerwiegendes Un-
gleichgewicht in der Beziehung dem Vater gegenüber entstehen. Das Kind
kann sozusagen an die Stelle des Vaters treten. Dies bedingt unvermeidlich
eine Verstärkung des Narzissmus des Kindes, der begünstigt, dass es sich
in anderen Gesichtspunkten seiner Selbsteinschätzung auf Kosten der Rea-
litätsprüfung starker auf Allmachtsphantasien verlässt. Ein solches Kind
kommt in einem bereits beeinträchtigten Zustand in die ödipale Situation.
Die Frustration, die sich weitgehend der Unfähigkeit verdankt, die ödipa-
len Bedürfnisse auszuleben, und die verstärkte Angst vor dem Vater, die
auf der ablehnenden Einstellung zu einer positiven Identikation mit ihm
beruht, machen den Konikt scharf und unlösbar. Im Kampf darum, die
Oberhand zu behalten wird dann wieder die Attitüde einer quasi magischen
Macht eingenommen, die, wie andere bereits erwähnte Verhaltensbeson-
derheiten des Hochstaplers, auf das Verhalten des Kindes im zweiten bis
dritten Lebensjahr verweisen.
Greenacre kommt anhand der von ihr untersuchten Fälle zum Schluss,
dass anhaltendes Hochstapeln zwei wichtige Funktionen im Leben des
Hochstaplers erfüllt. Zum einen das Ausleben eines ödipalen Konikts
durch Wiederbeleben des frühesten deutlichen Bildes des Vaters. In dem
Maße, in dem es zur vollständigen Entwicklung zum Hochstapler kommt,
wird der Vater „getötet“, indem er völlig beseitigt wird. Zum anderen dient
es dazu, vorübergehend ein Gefühl der Vervollständigung der Identität (des
Selbstgefühls) hervorzurufen, das auf diese Weise eher zustande kommt als
14
Thomas Manns Hochstapler Felix Krull (Mann, 1954) (1989) verfügt über eine präzise
Einsicht in seine Gefühlszustände und kann sie sehr genau ausdrücken. Das ist nicht
typisch für Hochstapler oder auch Schwindler. Bei Krull ist dafür das genuine künstle-
rische Talent zu stark entwickelt. Greenacre, 1958b, S. 532 ff.
97
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
98
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen
inneres Erleben. Diese Personen handeln, als hätten sie ein volles Gefühls-
leben. Der Mangel an echten Gefühlen ist bei ihnen nicht die Folge von
Unterdrückung, Verdrängung etc. sondern ein realer Verlust von Objekt-
besetzungsfähigkeit. Die scheinbar normale Beziehung zur Welt entspricht
dem Nachahmen des Kindes und ist der Ausdruck einer Identizierung mit
der Umgebung, eine Mimikry, die auf eine offensichtlich gute Anpassung
an die reale Welt hinausläuft, trotz des Mangels an Objektbesetzung. Sie
identizieren sich leicht mit dem Denken und Fühlen der anderen Perso-
nen. Das befähigt sie zu größter Treue und zu perdestem Handeln. Jedes
Objekt kann als Brücke für Identizierung dienen. Sie sind innerlich leer,
ohne Individualität, ohne Charakter und feste eigene Moral und Überzeu-
gungen. Sie schließen sich leicht sozialen, ethischen und religiösen Grup-
pen an, um ihrer inneren Leere Inhalt und Realität zu geben und die Gül-
tigkeit ihrer Existenz durch Identizierung zu behaupten. Überenthusiasti-
schem Anschließen an eine Philosophie können ein völliger Umschwung
und ein Anschließen an eine ganz entgegengesetzte Orientierung folgen.
Ohne jede Spur innerer Transformation, einfach als Resultat einer zufälli-
gen Veränderung der Bezugsgruppe. Ihre aggressiven Tendenzen sind fast
völlig verborgen hinter einer Maske von Passivität und dem Anschein von
milder Freundlichkeit etc., die aber leicht in Bösartigkeit umschlagen kann.
Auch beim „als ob“ Typus ist, wie beim Hochstapler, der Identi-
zierungsprozess über das Stadium des Nachahmens kaum hinausgekom-
men, das eher ein Vorläufer der Identizierung als Identizierung ist. Diese
„Identizierung“ ist, wie beim Verwahrlosten, mangels eines konstanten
affektiv besetzten Objekts nie gefestigt worden. Von daher erfolgte auch
keine Internalisierung. Die Objekte wurden entwertet wegen Mängeln oder
wegen traumatischer Erfahrungen. Dementsprechend ndet sich auch nur
ein mangelhaft ausgebildetes Über-Ich. Zu Delinquenz scheint es bei die-
sem Typus aber wegen seiner hohen Beeinussbarkeit vorwiegend als Fol-
ge von Verführung durch andere Personen zu kommen. Er kann in kurz-
er Zeit ganz unterschiedliche moralische Positionen beziehen, Ideale und
Überzeugungen und Bezugsgruppen wechseln. Er ist sehr suggestibel.
Die Entwicklungsgeschichte des „als ob Typus“, wie Ross sie resü-
miert, ähnelt insgesamt stark der des Hochstaplers. Ein Unterschied zwi-
schen beiden Typen scheint zu sein, dass der Hochstapler weniger zu viel-
99
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
100
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen
nen suchten.“21 Wie „als ob“ Persönlichkeiten suchen Personen dieses Ty-
pus unaufhörlich die Gesellschaft anderer, in der Hoffnung ein bedürfnis-
befriedigendes Objekte zu treffen. Es sind Personen, die „im Wesentlichen
hinsichtlich der Realität gewöhnlich gut orientiert sind, eine gute Intelli-
genz besitzen, sehr leistungsfähig und gesellschaftlich erfolgreich sind.“
Sie werden aber von einem „unersättlichen Hunger nach neuen Erlebnis-
sen und neuen Objekten angetrieben.“(a.a.O. S. 76) Sie können nicht allein
oder unbeschäftigt sein. „Die neuen Objekte und Erlebnisse bieten nicht nur
Trieb- und narzisstische – Befriedigungen in der Gegenwart, sie verleugnen
auch Elend und Unsicherheit. Sie beseitigen aber nicht die alte Depression
und Angst, sondern dienen als Deckformation. Diese Patienten versuchen
nicht, die Übel der Vergangenheit zu bewältigen, sie versuchen die Vergan-
genheit zu verleugnen. Deckmanöver und Deckhunger drücken ihrer Per-
sönlichkeit einen entschiedenen Stempel auf. Das Zwingende, Drängende
und Wiederholende ihres Verhaltens ist darauf zurückzuführen, dass die
Deckaktivität gleichzeitig libidinöse, narzisstische und Abwehrbedürfnisse
zu befriedigen sucht.“(daselbst.) Ungeachtet einiger Züge von Verwahrlo-
sung, wie vor allem einem mangelhaft funktionierenden Über-Ich, ist dieser
Typ deutlicher als der „als ob Typ“ vom Typ Verwahrloster unterschieden.
Er ähnelt eher einer Mischform von Verwahrlosung mit ödipalen Anteilen.
In den von Ross ebenfalls erwähnten Arbeiten von Annie Reich wird
die Frage aufgegriffen, ob der Geschlechterunterschied beim Entstehen des
„als ob Typus“ von Bedeutung ist.22 Reich hat dazu Frauen untersucht, die
ihren Partnern völlig untertan, geradezu hörig waren und solchen, die sich
zu „als ob“ – Persönlichkeiten entwickelten. Bei beiden Varianten scheint
die mit der Entdeckung des Geschlechterunterschiedes verbundene spe-
zisch weibliche Kränkung zu einer regressiven Wiederbelebung primiti-
ver narzisstischer Ich-Ideale geführt zu haben. Größere Störungen des Ich-
Ideals gehen jedoch häug Hand in Hand mit einem unzulänglich entwi-
ckelten Über-Ich, die zur Abhängigkeit von den Meinungen der Umwelt
oder spezischen dritten Personen führt. Reich sieht im Ich-Ideal die ältere
Struktur, sozusagen einen Vorläufer des Über-Ichs. Das Weiterbestehen des
21
Greenson, 1958 (1993, S. 88)
22
Reich, A., 1953 und Reich, A., 1954
101
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
102
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen
äche die Illusion eines realen Seins her, das aber nur allzu oft darunter den
reaktiven Ärger widerspiegelt, der aus der frühen Frustration entsteht, die
das Selbst ursprünglich hilos und leer gemacht hat, das auf die Suche nach
Eltern und dann nach Autoren geht.25
Bald nach Aichhorns „Verwahrloste Jugend“ ist auch „Der triebhafte
Charakter“ von Wilhelm Reich erschienen.26 Reich kannte Aichhorns Ar-
beit, vermied es jedoch, sich damit auseinanderzusetzen. Erst am Ende sei-
ner Arbeit kommt er etwas ironisch ablehnend darauf zu sprechen: „Die von
Aichhorn mitgeteilten erzieherischen Erfolge an Dissozialen sind zwar au-
ßerordentliche, doch sind seine Dissozialen erstens mit unseren triebhaften
Charakteren nicht völlig identisch, wenn sie auch reichlich Ähnlichkeiten
aufweisen. Zweitens kann sich kein Arzt und nicht so bald eine Anstalt
die Zertrümmerung von Mobiliaren zum Zwecke des Abreagierens leis-
ten. Drittens wird jeder, der mit solchen Kranken zu tun gehabt hat, zuge-
ben, dass sie sich gerade durch die Unfähigkeit auszeichnen, Persuasionen,
schon gar nicht auf die Dauer, zu akzeptieren (Trotz!!). Wir bleiben also
dabei, dass erzieherisches Eingreifen immer notwendig ist, um die folgen-
de Analyse überhaupt zu ermöglichen. Die Frage, wie dem nachteiligen
Durchbrechen der Impulse vorgebeugt werden könnte, müssen wir offen
lassen.“ Mit dieser üchtigen, auf praktische Aspekte der Arbeit von Aich-
horn bezogenen Abgrenzung wird Reich Aichhorn sicher nicht gerecht. Ei-
ne nähere ernsthafte Beschäftigung des exzellenten Klinikers, der Reich da-
mals war, mit den theoretischen und praktischen Erkenntnissen Aichhorns,
wäre der Mühe wert gewesen.
Der „triebhafte Charakter“ von Reich steht in Bezug auf gewisse spezi-
sche psychische Mechanismen zwischen Symptomneurose und Psychose.
Die meisten der triebhaften Charaktere zeigen, neben der meist nicht als
krankhaft empfundenen Triebhaftigkeit, Symptome vieler Art, wie Phobi-
en, Zwangshandlungen und –zeremonielle, Zwangsgrübeleien. Besonders
bei weiblichen Charakterneurosen kommen alle bekannten Formen des
Konversionssymptoms vor. Unverhüllte Perversionen sind fast die Regel,
ebenso eine akute und scharfe Ambivalenz. Reich meint, man könne beim
25
Martin, 1984
26
Reich, W., 1925
103
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
104
Dem Hochstapler ähnliche und weitere narzisstische Typen
gen u.a. Es würde zu weit führen, die vorhandene Literatur zum Thema
in einem Überblick vorzustellen. Im Vergleich dazu, wie in den Arbeiten
von Christopher Lasch und Richard Sennett der narzisstische Charakter
und von Thomas Ziehe der „Neue Sozialisationstypus“ als moderne Sozial-
charaktere dargestellt werden, stellt der Verwahrloste in mancher Hinsicht
eine Steigerung dar. Bei ihm lässt sich das Entstehen aber weniger damit
erklären, dass die Mutter in der modernen Familie das Kind zur eigenen
emotionalen Stabilisierung benutzt und die Beziehung des Kindes bestehen
bleibt, wenn auch als narzisstische30 , sondern er hat die Erfahrung gemacht,
affektiv verlassen zu werden. Oder er hat durch eine völlige affektive Ver-
einnahmung einen irreparablen Realitätsentzug erlitten.
Beim Neuen Sozialisationstypus kommt es, im Gegensatz zum Ver-
wahrlosten, noch in erheblichem Maße zu Identizierungen. Derart nar-
zisstisch Gestörte haben auch ein hartes und strafendes Über-Ich. In der
permissiven Gesellschaft, in der in weiten Kreisen der Bevölkerung die prä-
genitalen, besonders die oralen und die aggressiven Triebe bei Kindern und
Jugendlichen in sehr geringem Maße kontrolliert werden, werden die Ju-
gendlichen in vielen Fällen und in vielfacher Hinsicht von den Eltern sich
selbst überlassen. „Die hemmende, kontrollierende und leitende Funktion
des Über-Ichs, die heute weitgehend mit der des Ichs zusammenfällt, ist
durch die Schwäche der Eltern, die nachgiebige Erziehung und das gesell-
schaftliche Klima abgeschwächt. Die sexuellen und aggressiven Triebe hal-
ten sich immer weniger an Regeln. Aber wir haben immer noch das strenge-
re Über-Ich aus der frühen Kindheit, das in der Tiefe des Individuums fort-
lebt.“31 Unklar bleibt, an welchen Werten sich ein solches Über-Ich bevor-
zugt orientiert. Lasch argumentiert im selben Sinne, dass die Gesellschaft
Unterordnung unter die Regeln gesellschaftlichen Umgangs verlangt, die-
se jedoch nicht verbindlich deniert. Angesichts fehlender, maßgebender
gesellschaftlicher Verbote leitet das Über-Ich einen Großteil seiner psy-
30
Ziehe, 1975, S. 116. Es sei denn, das Kind würde dabei verwöhnt und überbehütet, was
auch Verwahrlosung verursachen kann.
31
Loewenfeld; Loewenfeld, 1970, S. 711. Dazu auch Ziehe, 1975. Diese Argumentation
übernimmt auch Lasch, 1979a, S. 305 f. Gabriel dagegen moniert, dass Lasch für die
Existenz eines strengen Über-Ichs keine Belege angeben könne Gabriel, 1983, S. 254
ff.
105
Der Hochstapler, ein Spezialfall von Verwahrlosung
32
Lasch, 1979 (1986, S. 28 und S. 56)
106
Die Einordnung der Verwahrlosung in die
psychoanalytische Krankheitslehre durch Spanudis
Verwahrlosung und sekundäre Neurose
107
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
108
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
lander, Schmideberg und einigen anderen, sowie auf der Grundlage seiner
Erfahrungen aus acht Analysen von „sekundären Neurosen“ erwachsener
latent Verwahrloster, gibt Spanudis in diesen Vorträgen eine zusammenfas-
sende Darstellung der Psychogenese von Verwahrlosung im engeren Sinne.
Also der „primären Verwahrlosung“, bei der die anderen psychopathologi-
schen Prozesse von Neurose, Perversion und Psychose allenfalls eine nur
untergeordnete Rolle spielen. Auf dieser Grundlage leistet er eine systema-
tische Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheits-
lehre. Ich stelle zunächst ihren Ausgangspunkt dar, erläutere dann Einzel-
heiten, und schließlich die Einordnung selbst.
Im Anschluss an Aichhorn unterscheidet Spanudis zunächst zwischen
latenter Verwahrlosung, die er auch „potentielle Verwahrlosung“ nennt,
und manifester Verwahrlosung. Latente Verwahrlosung ist an sich im en-
geren Sinne keine Krankheit, sondern bezeichnet eher einen bestimmten
psychologischen Typus. Den latent Verwahrlosten charakterisiert Spanudis
als einen besonders egoistischen, anspruchsvollen, fordernden und primiti-
ven Menschen. Die Objektbeziehungen des latent Verwahrlosten sind pri-
mitiv, extrem egoistisch, anspruchsvoll und kindlich wie bei einem zweijäh-
rigen Kind gegenüber seiner Mutter.(a.a.O. S. 38) Sein Infantilismus äußert
sich in „Unvorsichtigkeit, Verantwortungslosigkeit, Misstrauen gegenüber
anderen Personen, exzessivem Egozentrismus, gesteigertem Egoismus, so-
fortigem Reagieren, vor allem aggressiv, auf Frustrationen aller Art, Un-
fähigkeit Frustrationen auszuhalten“.(a.a.O. S. 23) Seinen Objektbeziehun-
gen fehlt die wichtigste Eigenschaft, die Anerkennung des Objekts. Unter
günstigen äußeren Umständen kann er aber ein normales Leben leben. Po-
tentiell nennt Spanudis die latente Verwahrlosung, weil aus ihr manifeste
Verwahrlosung werden kann. Das Umgekehrte ist, wie der von Abraham
beschriebene Fall zeigt, unter günstigen äußeren Umständen auch ohne
Therapie möglich. Eine solche Verwandlung eines manifest Verwahrlos-
ten in einen potentiellen Verwahrlosten mit neuroseähnlichen Symptomen,
Spanudis spricht von „sekundärer Neurose“, kann spontan erfolgen, wenn
das ersehnte mächtige Objekt sich seiner angenommen hat, für ihn Partei
ergriffen hat. Der Verwahrloste will ihm dann nicht missfallen, will es nicht
enttäuschen.
Wenn die latente Verwahrlosung nicht zu manifester Verwahrlosung
109
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
110
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
5
Sonst wäre eine Entwicklung psychotischer Art zu erwarten. Die Schwierigkeiten des
Verwahrlosten mit der Realitätswahrnehmung sind nicht prinzipieller Art.
6
Spanudis spricht, sich auf eine Formulierung von Werner Kemper beziehend, vom Ab-
schluss der „psychischen Geburt“ Spanudis, 1954, S. 69
7
Spanudis, 1954, S. 70
111
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
Wert (ich kann dies und jenes) fühlen und es ist ihm möglich, seine mega-
lomanischen Phantasien als absurd und unnötig aufzugeben. Die affektive
Unerreichbarkeit des Objekts erlaubt eine solche Korrektur nicht. Das Kind
sucht vergeblich weiter nach mächtigen Objekten und psychischer Sicher-
heit. Es reagiert mit Angst, Unsicherheit und Enttäuschung. Indem es sich
verlassen oder zurückgesetzt erlebt, entwickelt es Aggressionen und patho-
logische Abwehrmechanismen. Es kommt zu einer vorzeitigen Unabhän-
gigkeit und dem Abzug der Liebe von den Objekten. Verunsicherung, un-
realistische Selbstwahrnehmung, und mangelnde Identizierungsmöglich-
keiten schwächen das Ich des Kindes und verhindern, wie bereits beschrie-
ben, in der weiteren Entwicklung die Ausbildung eines stabilen Über-Ichs.
Das Kind bleibt infantil und erwirbt keinen festen Charakter. Der Primär-
prozess dominiert. Von daher lebt der Verwahrloste ganz im Augenblick,
ohne Zukunftsüberlegungen, ohne Aufschub von Befriedigungen. Manch-
mal kommt es zu Pseudoidentizierungen und einem Pseudo-Über-Ich. Der
Verwahrloste erliegt jedem Einuss und ist immer bereit jede beliebige Rol-
le zu akzeptieren, soweit die Rolle ihm psychologischen Gewinn bringt. Ei-
ne Rolle, die mit Frustration verbunden ist, wird sofort aufgegeben. Stabile
und belastbare Objektbeziehungen kommen nicht zustande, weil sie zumin-
dest Teilverzichte implizieren, zu denen der Verwahrloste nicht in der Lage
ist. Seine Beziehungen sind immer narzisstischer Art.
Von Verwahrlosung wird, wie schon mehrfach erwähnt, psychoanaly-
tisch selbst da gesprochen, wo diese latent bleibt, wo kein Konikt mit
der Gesellschaft entsteht, wo eventuell sogar aus eigenem Antrieb psycho-
therapeutische Hilfe gesucht wird. Die Kriterien für die psychoanalytische
Diagnose „verwahrlost“ beziehen sich auf die grundlegenden psychischen
Mangelerscheinungen, die immer eine Rolle spielen. Verwahrlosung ist
Spanudis zufolge dann gegeben, wenn folgende fünf Charakteristika vor-
liegen: Mangel an stabilen Identizierungen, narzisstische und somit lose
Objektbeziehungen, Fortbestehen des Primärprozesses, schwaches Über-
Ich und extreme Selbstwertgefühlsschwankungen. Diese fünf Eigenschaf-
ten charakterisieren den „wahren Verwahrlosten, sei er manifest oder po-
tentiell verwahrlost.(a.a.O. S. 28 ff.) Er ist dementsprechend impulsiv und
oft aggressiv, rastlos und psychisch labil. Aber so, wie er nicht unbedingt
zum manifesten Verwahrlosten werden muss, muss er auch nicht unbedingt
112
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
8
vergl Trescher, 1982, S. 350. Zu letzterem Gesichtspunkt siehe auch Friedlander, 1947,
S. 107. Er ist in weiterem Sinne sicher auch von Bedeutung hinsichtlich des Umgangs
mit den Medien und den unzähligen Verbrechen, Morden und Gewalttaten mit denen
sie tagtäglich konfrontieren.
9
Spanudis hält wenig von der Annahme der Kleinianer eines sehr frühen Über-Ichs.
113
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
114
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
Wenn es nicht möglich ist, den Gegner oder Rivalen anzugreifen oder ab-
zuwerten, richtet er die Affekte gegen sich selbst als einzigem verfügba-
rem Objekt. Auf diese Weise wird er in gewisser Weise bis zu einem ge-
wissen Grad sich selbst genügend (autosuciente).(a.a.O. S. 53 ff.) Jede
instinktiv-affektive Abfuhr, die durch Konikte mit der Realität verursacht
wird oder durch seine Bedürfnisse, erledigt er an sich selbst. Diese defensi-
ve Selbstgenügsamkeit, die es dem Individuum ermöglicht, sich vom affek-
tiven Zusammenleben mit den Objekten fernzuhalten, stellt einen relativen
Gewinn dar. Der Primärprozess kann weiter funktionieren und die affekti-
ve Getrenntheit von den Objekten schützt vor schmerzhaften Wiederholun-
gen von Enttäuschungen und Frustrationen der Kindheit, vor der affektiven
Verlassenheit. Aber diese defensive Selbstgenügsamkeit muss irgendwann
scheitern, weil die affektiven Bedürfnisse nicht vom eigenen Ich befrie-
digt werden können. Das Individuum führt einen kräftezehrenden inneren
Kampf zwischen der Tendenz sich affektiv an das Objekt binden zu wollen
und der Tendenz absolute Selbstgenügsamkeit zu suchen. Solange es dem
Individuum gelingt, zwischen den beiden Tendenzen, d.h. vereinfacht zwi-
schen sozialen und „asozialen“ Tendenzen einen Gleichgewichtszustand zu
halten, bendet es sich im Zustand „potentieller Verwahrlosung“. Wird das
Gleichgewicht gestört und es entsteht ein Konikt, ist das Resultat eine „se-
kundäre Neurose“ oder manifeste Verwahrlosung. Soweit es noch zumin-
dest in der Phantasie genügend affektive Verbindungen mit den Objekten
der Kindheit gibt, können diese eine manifeste Verwahrlosung verhindern
und das Individuum wird sekundär neurotisch. Andernfalls entsteht mani-
feste Verwahrlosung.
Manifest Verwahrloste fügen eher Anderen Leid zu, als dass sie an sich
selbst leiden würden. Aber selbst sie leiden nicht nur an den Folgen ihres
Verhaltens, sondern in besonderem Maße, wie die zu sekundären Neuro-
tikern gewordenen potentiellen Verwahrlosten, an enormen Selbstwertge-
fühlschwankungen, mit ihren schwer erträglichen Gefühlen absoluter Wert-
losigkeit. Eissler hat sie eindringlich beschrieben.12
Der sekundär neurotisch Verwahrloste, der einen Therapeuten aufsucht,
kann eine ganze Reihe von Symptomen aufweisen, die auch an eine primäre
12
Eissler, K. R., 1949 (1966b)
115
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
116
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
das Ergebnis von Schuldgefühlen sind, wie beim wahren Neurotiker, son-
dern einfache aggressive Entladungen gegen sich selbst.
Spanudis nimmt an, dass sehr wahrscheinlich die meisten psychoso-
matischen Krankheiten und hypochondrischen Symptome Verwahrlosungs-
symptome sind. Er sieht sich darin durch Untersuchungsergebnisse der
Gruppe von Franz Alexander in Chicago bestätigt.15 Diese hat eine relativ
große Zahl von Patienten untersucht, die Alexander Neurotiker nennt, ohne
zu präzisieren, um welche Art von Neurotikern es sich handelt. Er vermei-
det es von Konversionshysterie zu besprechen und zieht die Bezeichnung
„vegetative Neurosen“ vor. Diese haben in der Regel keinen ödipalen se-
xuellen Inhalt. Bei den Grundkonikten der von Alexander untersuchten
psychosomatischen Fälle, Magengeschwüre, Bronchialasthma, rheumati-
sche Arthritis, Bluthochdruck und Diabetes mellitus, geht es immer um Be-
dürfnisse affektiver Sicherheit, Abhängigkeitswünsche, Passivität, rezepti-
ve Liebe, starke Aggressionen, etc. Das heißt, es geht immer um präödipale
Konikte, um das Bedürfnis geliebt und bestärkt zu werden, das von den
enormen Aggressionen des wütenden Ichs blockiert wird, das sich verlas-
sen fühlt, betrogen und enttäuscht. Es geht also um alle typischen Konikte
des potentiell Verwahrlosten. Das ist ein Sachverhalt, der angesichts der
weiten Verbreitung psychosomatischer Störungen in unserer Gesellschaft
Beachtung verdient. Er impliziert, dass in unserer Gesellschaft viele psy-
chosomatisch Erkrankte latent Verwahrloste sind.
Behandlungstechnische Gesichtspunkte
Es lohnt sich, auch kurz auf die behandlungstechnischen Gesichtspunkte
von Spanudis einzugehen, weil sie verdeutlichen, wie stark sich der Psy-
choanalytiker bei seiner Arbeit mit Verwahrlosten, die zu „sekundären Neu-
rotikern“ geworden sind, im Vergleich zur Behandlung von primären Neu-
rotikern umstellen muss und warum erwachsene Verwahrloste, die als Psy-
chopathen wahrgenommen werden, meist als nicht behandelbar gelten. Der
Analytiker bekommt es mit den meisten Formen neurotischer Symptome
zu tun, die auch primäre Neurotiker aufweisen. Aber da es sich jeweils um
15
Spanudis, 1954. S. 47 ff. Siehe dazu auch Alexander, 1934
117
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
118
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
gen den die stärkste Abwehr aufgebaut worden ist. Der Analytiker sollte
also auf keinen Fall die Übertragung interpretieren. Das unsichere, infan-
tile, zwischen Aggressionen und Ängsten verwirrte Ich, wäre nicht in der
Lage die Interpretation zu ertragen oder einen positiven Nutzen daraus zu
ziehen.
In den Fällen, in denen der Patient versucht, sich selbst als mächtiges
Objekt zu realisieren, ist die Beziehung zum Analytiker eine von Misstrau-
en, Erwartung und Ausprobieren. Die Unsicherheit hinter den megaloma-
nischen Versuchen verursacht Angst in Bezug auf den Therapeuten. Der
Patient weiß nicht, was er vom Analytiker zu erwarten hat; ob er zu seinen
Feinden oder seinen Freunden gehört, ob er ihn angreift und den megalo-
manischen Versuch zerstört oder ob er ihm hilft, ihn zu realisieren. In dieser
Situation kann jede Äußerung des Therapeuten missverstanden werden, als
Kritik, als Angriff gegen den megalomanischen Versuch. Die Folgen sind
Aggression oder Flucht.
In den gegenteiligen Fällen, in denen der Patient sich nicht selbst, son-
dern den Analytiker zum mächtigen Objekt macht, um sich daran anzu-
klammern, sich ihm zu unterwerfen, um auf diese Weise Sicherheit zu ge-
winnen, wird er, solange er die Illusion des übermächtigen Analytikers sich
erhalten kann, ein Ausbund absoluter Unterwürgkeit, Pünktlichkeit, Ge-
horsam etc. sein. Jede darauf bezogene Interpretation würde als Zurück-
weisung erlebt werden.
In beiden Konstellationen hätten Interpretationen katastrophale Folgen
und würden mit einem Abbruch der Beziehung enden. Spanudis rät dement-
sprechend, die Übertragungsbeziehung nicht zu interpretieren, am besten
nicht zu beachten. Stattdessen soll der Analytiker viel fragen, so z.B. wenn
der Patient sich ängstlich zeigt, fragen was er von ihm fürchtet. Wenn er
Phantasien produziert, fragen woher die Erfahrungen stammen, die solche
Phantasien produzieren. Wenn er den Analytiker als mächtig idealisiert, fra-
gen ob er mit anderen Personen schon solche Erfahrungen gemacht hat. Der
Analytiker soll den Patienten akzeptieren, wie er ist. Das genügt allerdings
beim „sekundären Neurotiker“ nicht. Während beim primären Neurotiker
aktives Verhalten des Analytikers normalerweise unangebracht ist, muss er
sich beim „sekundären Neurotiker“ aktiv verhalten. Beim primären, also
ödipalen Neurotiker ist aktives Eingreifen fehl am Platze, weil er in seinen
119
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
120
Die Einordnung der Verwahrlosung in die psychoanalytische Krankheitslehre
16
Spanudis, 1954, S. 57
121
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen. Das
Verschwinden des Verwahrlosten in
Narzissmustheorien und seine Metamorphosen
Aichhorn hat seine Technik der narzisstischen Übertragung vor allem in
seinen Auseinandersetzungen mit jugendlichen Hochstaplern entwickelt.
Er erwähnt erwachsene Verwahrloste nur ganz am Rande. So z.B. wenn
er davon spricht, dass in manchen Fällen die Eltern eines verwahrlosten
Kindes selbst Verwahrloste sind. Auch bei seinen Nachfolgern kommt der
erwachsene Verwahrloste, von den wenigen genannten Ausnahmen abge-
sehen, nicht vor. Er ist aus der Psychoanalyse verschwunden. Während
Fenichel in seiner Neurosenlehre auf Verwahrlosung immerhin noch auf
einigen Seiten eingeht, wird sie in einer neueren Abhandlung dieser Art
gerade noch in zwei Sätzen erwähnt.1 Wie schon erwähnt, wurde dagegen
lange Zeit der rein deskriptive Begriff „Psychopathie“ verwendet.2 Das ent-
sprach der Terminologie des Diagnostischen und Statistischen Handbuchs
Psychischer Störungen (DMS). Die Version dieses Handbuchs von 1994
und die folgenden verwenden dagegen die Bezeichnung antisoziale Per-
sönlichkeitsstörung.
Es liegt die Frage nahe, warum von den wenigen genannten Ausnah-
men und von wenigen Abhandlungen über den Hochstapler als Spezialfall
von Verwahrlosung abgesehen, Psychoanalytiker sich mit den erwachsenen
Verwahrlosten nicht beschäftigt haben. Ein naheliegender Grund ist, dass
jugendliche Verwahrloste, die nicht geheilt werden konnten und wieder in
ihr altes Milieu zurückkehren, schließlich als „Stammgäste“ in verschiede-
1
Mentzos, 1982 (1990). Andere nicht-neurotische psychische Störungen werden dagegen
durchaus berücksichtigt.
2
Aichhorn erwähnt diesen Begriff nebenbei. Er gibt nur die übliche psychiatrische De-
nition des Psychopathen wieder, bei dem „die emotionale Seite des Seelenlebens, der
Gemüts- und Willenstätigkeit und die Triebe (das Temperament und der Charakter)
in subjektiv und objektiv störender Weise unausgeglichen, reizbar oder unzulänglich
sind, ohne dass eine organische Erkrankung des Zentralnervensystems oder eine Geis-
teskrankheit im engeren Sinne vorliegt.“ Aichhorn, August, 1959 (1972, S. 153)
122
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
123
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
permanent. Seine Beziehung zur Realität ist gestört, weil er eine völlig
unrealistische Selbsteinschätzung hat. Sie ist magisch verzerrt. Die Um-
welt hat für ihn eine vorwiegend feindliche Tönung. Dagegen muss er sein
Allmachtsgefühl mobilisieren. Deshalb erscheint er oft als paranoid. Seine
häuge Angst vor bevorstehender Zerstörung ist auf die Fixierung an eine
frühe Phase zurückzuführen, in der jede Gefahr unmittelbare totale Zerstö-
rung bedeutete. Er hat gar keine differenzierte Wahrnehmung von Gefahr.
Der Verwahrloste beschäftigt sich permanent mit der äußeren Realität
und überhaupt nicht mit seiner inneren. Auf Grund seiner oralen Fixierung
und seiner Unfähigkeit zur Sublimierung hat er die Tendenz, nur den kon-
kreten Teil der Realität anzuerkennen.7 Der Verwahrloste hat auch ein star-
kes hetero- oder homosexuelles Interesse, aber ohne jede Berücksichtigung
der Bedürfnisse des Liebesobjekts. Er sucht im anderen ausschließlich sich
selbst. Von der Psychoanalyse erhofft sich der Verwahrloste, dass sie ihm
hilft, seine grandiosen Ideale zu erreichen, perfekt oder omnipotent zu wer-
den. Wenn er merkt, dass das nicht klappt, verliert er sein Interesse an ihr.
Diese Zusammenfassung der psychischen Eigenschaften des Verwahrlosten
erklärt hinlänglich, warum die meisten Psychoanalytiker den Verwahrlos-
ten als Psychopathen sehen und ihn für nicht behandelbar halten.
Das Verschwinden des erwachsenen Verwahrlosten und seine Erset-
zung durch den Psychopathen haben mehrere Folgen. Zunächst die bereits
erwähnte, dass dadurch wichtige Einsichten, wie die von Lampl de Groot
und Schmideberg, verloren gegangen sind. Durch die Änderung der Termi-
nologie wird eine Kluft zwischen normalen Menschen und Psychopathen
unterstellt. Der Psychopath trägt ein Kainsmal.8 Die Bezeichnung neuro-
tisch wird keineswegs nur auf Menschen angewendet, die manifest Neuro-
tiker sind und psychotherapeutischer Behandlung bedürfen. Man kann im
Gegenteil sogar sagen, dass bei vielen Menschen bis zu einem gewissen
Grad neurotische Züge zu nden sind, ohne dass sie als Neurotiker klassi-
ziert werden müssten. Das müsste in gleicher Weise auch für die Bezeich-
nung verwahrlost gelten. Die Behauptung, dass viele normale Menschen
7
Eissler, 1950, S. 114. Deshalb haben Geld für Männer und Sex für Frauen bei Verwahr-
losten eine so große Bedeutung. Über diese Mittel haben sie das Gefühl mit der Realität
in Kontakt zu sein, geliebt zu werden und zu lieben.
8
Meloy, J.R., 2001
124
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
auch psychopathische Züge aufweisen, ndet man jedoch fast nie.9 Eben-
so wenig die Behauptung, jemand sei latent psychopathisch. Von latenter
Psychopathie zu sprechen, ergibt sowieso keinen Sinn, da Psychopathie auf
manifeste Verhaltensmerkmale bezogen deniert wird. Das Gleiche gilt,
wenn neuerdings von antisozialem Verhalten anstelle von Verwahrlosung
die Rede ist. Latent antisoziales Verhalten ergibt keinen Sinn. Und es erge-
ben sich bei dieser Terminologie neue Unklarheiten. Antisoziales Handeln
kann auch andere Ursachen haben als das, was zuvor als Verwahrlosung
bezeichnet worden ist.
Was Aichhorn und seine Nachfolger unter Verwahrlosung verstanden
haben, wird heutzutage wesentlich narzissmustheoretisch erörtert. Aber da
diese Diskussionen nicht direkt an denen von Aichhorn und seinen Schü-
lern anknüpfen, wird deren Verwahrlosungsbegriff nicht mehr berücksich-
tigt. Der Verwahrloste erlebt in den umfangreichen Narzissmusdiskussio-
nen zahlreiche, ihm mehr oder weniger ähnliche Metamorphosen. Meist
wird er nur noch als Psychopath gesehen. Das gilt selbst für einen Autor
wie Meloy, der als Ausnahme auffällt, weil er an Aichhorn und einigen
anderen Aichhorn berücksichtigenden Autoren, wie Friedlander, Johnson,
aber auch Greenacre und Deutsch, explizit anknüpft.10 Aber aus Aichhorns
Verwahrlosung wird selbst bei ihm terminologisch rückwirkend Psycho-
pathie. Meloy sieht auch nicht, dass Aichhorns „gewöhnliche Verwahrlo-
sung“ (A. Freud) sich als klinische nosologische Einheit zwischen den ech-
ten Neurosen und den Psychosen verorten lässt. Er geht dementsprechend
auch nicht darauf ein, dass Aichhorn unterstellt, dass Verwahrlosung auch
dann gegeben sein kann, wenn sie nie manifest wird. Er lobt ihn wegen sei-
nes vorzüglichen theoretischen Verständnisses der idealisierenden narziss-
tischen Übertragung, erwähnt aber nicht, dass Aichhorn diese entwickelt
hat. Er hebt an ihm hervor, dass er ein Verständnis der Psychopathie ent-
wickelt habe, das zentriert war auf ödipale Konguration, Narzissmus und
das Misslingen früher Identizierungen.
In der narzissmustheoretischen Diskussion, die Meloy zusammenfasst,
ist die psychopathische Persönlichkeitsorganisation eine Unterform der
9
Von den genannten Ausnahmen Lampl de Groot und Schmideberg abgesehen.
10
Meloy, J.R., 2001
125
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
11
Zum Folgenden Meloy, 1998 (2002, S. 19 ff).
12
Meloy, J. Reid, 2001, S. 191. In der DSM-IV (1994) kommt die „antisoziale persönliche
Störung“ der Verwahrlosung am nächsten. Ihre Kriterien sind: 1) Unangepasstheit an so-
ziale Normen. 2) Täuschung. 3) Impulsivität oder Unfähigkeit zu planen. 4) Reizbarkeit
und Aggressivität. 5) Nichtbeachtung der Sicherheit der eigenen Person und von ande-
ren. 6) Verantwortungslosigkeit in Bezug auf Arbeit oder nanzielle Verpichtungen.
7) Keine Reaktionen des Bedauerns. (a.a.O. S. 195)
13
Kernberg stellt fest, bei der im engeren Sinne antisozialen Persönlichkeit sei die Progno-
se für eine psychotherapeutische Behandlung im engeren Sinne praktisch Null, obwohl
er sich keineswegs auf nur psychoanalytische therapeutische Mittel beschränkt Kern-
berg, O.F., 2007, S. 527
14
Symington, 1980, S. 292.
126
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
127
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
17
Kernberg, O., 1970, S. 801
18
Kernberg, O., 1975 (1983, S. 31)
128
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
19
Kernberg, O. F., 1989 (2001, S. 315). Im praktischen pädagogisch-therapeutischen Um-
gang mit schwer gestörten „Kindern, die hassen“, haben Redl und Wineman festgestellt,
die „allerschlimmste Kombination“ sei nicht die von „Mängeln des Über-Ichs und zu-
gleich des Ichs, sondern die von Mängeln des Über-Ichs und einem starken, mit Delin-
quenz identizierten Ich.“ Redl; Wineman, 1951 (1979, S. 214)
129
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
Die Schwere kriminellen Verhaltens wird betont. Die Frage der Kriterien
für das, was als antisozial gelten soll, wird gar nicht gestellt. Hervorgeho-
bene Bedeutung gewinnen die Ursprünge von antisozialem Verhalten in der
Kindheit. Indem die kriminellen Aspekte von antisozialem Verhalten her-
vorgehoben und Delinquente ganz unterschiedlicher psychischer Beschaf-
fenheit in einen Topf geworfen werden, wird zwischen soziokulturellen und
ökonomischen Determinanten von Delinquenz auf der einen Seite und der
Psychopathologie der Persönlichkeit auf der anderen Seite nicht deutlich
unterschieden. (a.a.O. S. 316ff.) Idealerweise müsste man jedoch, so Kern-
berg, zu einer nur psychologischen Denition der antisozialen Persönlich-
keit kommen, dergegenüber verhaltensbezogene und juristische Aspekte
sekundär sind. (a.a.O. S. 319) Eine solche Denition hat Spanudis für die
verwahrloste Persönlichkeit vorgeschlagen. Dass sie in den Begriffen der
inzwischen schwer überschaubaren narzissmustheoretischen Diskussionen
eine Bestätigung nden könnte, ist kaum vorstellbar. Die wesentliche Un-
terscheidung zwischen Neurose und „sekundärer Neurose“ ndet darin kei-
ne Entsprechung.
Auch Bursten kritisiert die Bezeichnung „antisoziale Persönlichkeit“,
weil sie auf einer Verbindung psychologischer und soziologischer Kri-
terien beruht.20 Nur allzu leicht wird bei wiederholten Störungen und
Konikten mit dem Gesetz eine „antisoziale Persönlichkeit“ unterstellt.
In Auseinandersetzung mit Kernberg und anderen Narzissmustheoreti-
kern entwirft Bursten vier Typen von narzisstischen Persönlichkeiten.
Die quengelnd-anspruchsvollen (craving), paranoiden, manipulativen und
phallisch-narzisstischen Persönlichkeiten. In dieser Typologie entspricht
der manipulative Typus der antisozialen Persönlichkeit. Er umfasst jedoch
nicht alle Persönlichkeiten, die sonst als antisoziale Persönlichkeiten be-
zeichnet werden. Auch dieser Begriff lässt sich nicht als narzissmustheo-
retisch formulierter Ersatz für den Begriff Verwahrloster verwenden. Auch
hier wird deutlich, dass es besser wäre, den Begriff Verwahrlosung auch in
anderen Sprachen beizubehalten.21
20
Bursten, 1978 S. 289. Beim Verwahrlosungsbegriff bezieht sich der soziologische
Aspekt auf die Genese von Verwahrlosung. Deswegen kann auch von latenter Verwahr-
losung die Rede sein.
21
Dafür spricht auch, dass der Begriff die Verbindung zwischen jugendlichem Verwahr-
130
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux
131
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
24
Seine Charakterisierung des Psychopathen würde es im Wesentlichen erlauben, im
Deutschen vom Verwahrlosten zu sprechen. Ich behalte jedoch der Genauigkeit wegen
seinen Terminus „Psychopath“ bei.
25
Devereux, G., 1953, S. 630
26
Devereux, G., 1952, S. 170f. Dort auch das Folgende.
27
Devereux, G., 1953, S. 630
132
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux
Das normale Individuum stellt sich auf kulturelle Sachverhalte ein, geht
damit um und erfährt sie in Begriffen von Bedeutungen und Werten, die
kompatibel sind mit der realen zeitgenössischen sozialen Szene und mit sei-
nem wahren Status und chronologischen Alter. Dagegen stellen psychische
Störungen verschiedener Art – auch solche, die im Verlauf von Übertra-
gungsneurosen auftreten – eine teilweise Entdifferenzierung und Entindi-
vidualisierung dar, oder in anderen Worten „eine teilweise Regression vom
Menschen zum homo sapiens“.28 Devereux vergleicht diesbezüglich den
Psychotiker mit dem Psychopathen. Während ersterer von seinem sozialen
„Negativismus“ dazu gebracht wird, Kultur als solche abzulehnen, führt
der Psychopath sozusagen einen systematischen und provozierenden Krieg
gegen Kultur.29 In seinem Kampf lässt er nicht einfach seinen Trieben frei-
en Lauf, sondern er führt ihn über Reaktionsbildungen gegen seine Triebe
und gegen Sublimierungen, die die Gesellschaft anbietet. Devereux schlägt
deshalb vor, von einem „abwehrgetriebenen Psychopathen“ und nicht von
einem „triebhaften Psychopathen“ zu sprechen. Psychische Krankheit ist
für ihn ganz allgemein primär keine Desintegration und Desorganisation,
sondern der verzweifelte Versuch einer Reorganisation. Diese umfassen-
de Reorganisation geht oft auf Kosten des Ichs. Es muss lernen völlig un-
vereinbare Elemente zusammenzuhalten. „Die Welt wird auf Kosten der
Struktur des Ichs restrukturiert, der ganze Organismus wird auf Kosten der
Ich-Funktionen am Funktionieren gehalten. Die Welt und der Organismus
werden auf Kosten einer realistischen, logischen Vereinbarkeit emotional
vereinbar gemacht.“30
Devereux sieht also wie Aichhorn das Kindhafte des Psychopathen. Al-
lerdings nicht nur als Regression. In seiner Sicht besteht das Kindhafte beim
Psychopathen vor allem darin, dass er eine kindliche Sicht des Verhaltens
von Erwachsenen ausagiert, anstatt sich an einer realistischen Denition
von reifem Verhalten zu orientieren. Der Psychopath orientiert sich in sei-
nem Benehmen an einer Auffassung von erwachsenem Verhalten, wie es
frustrierte Kinder sehen, die als Folge der Traumatisierungen durch Abstil-
len und Sauberkeitserziehung ihre eigene Allmacht an die frustrierenden
28
Devereux, G., 1953, S. 632
29
a.a.O. S. 640. Dort auch zum Folgenden.
30
Devereux, G., 1952, S. 171
133
Vom Verwahrlosten zum Psychopathen
31
Devereux, G., 1953, S. 641
32
Devereux, G., 1953, S. 642
134
Exkurs: Sozialisationstheoretische Parallelen bei Aichhorn und Devereux
135
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher
Pathologie
Ausgehend von der Darstellung, was psychoanalytisch unter Verwahrlo-
sung als subjektiver charakterlicher Eigenschaft verstanden wird, wie sie in
Sozialisationsprozessen entsteht und wie sie sich im Alltagsleben auswirkt,
lässt sich genauer angeben, wie aktuelle gesellschaftliche Gegebenheiten
das Entstehen von narzisstischen Störungen und speziell von Verwahrlo-
sung begünstigen oder verursachen, aber auch wie adaptives manifest ver-
wahrlostes Verhalten verursacht wird, das nicht eine Folge subjektiver Ver-
wahrlosung ist. Ähnlich wie es z.B. für Delinquenz in dem Sprichwort „Ge-
legenheit macht Diebe“ ausgedrückt wird.1 Darauf bezogen lässt sich dann
in psychoanalytischer Perspektive auch der Begriff objektiver gesellschaft-
licher Verwahrlosung zumindest teilweise ergänzen und präzisieren.
Ob der Eindruck, dass es in den letzten Jahren eine Zunahme von Ver-
wahrlosung gegeben hat, auch in psychoanalytischem Sinne zutrifft, lässt
sich jedoch nicht mit Sicherheit beurteilen. So vor allem deswegen nicht,
weil in den neueren psychoanalytischen Diskussionen die Verbindung zu
den älteren Arbeiten von Aichhorn und seinen direkten Nachfolgern ver-
loren gegangen ist. Allerdings gibt es auch bezogen auf den Psychopa-
then, der an die Stelle des erwachsenen Verwahrlosten getreten ist, Indi-
zien, dass er „ein zunehmendes klinisches und damit soziokulturelles Phä-
nomen ist“.2 Für die Beantwortung der Frage ob es aktuell in erheblichem
Maße Verwahrlosungstendenzen gibt, kann man aber auch einige nicht-
psychoanalytische sozialpsychologische Publikationen heranziehen, die In-
dizien dafür liefern.
Wie ich schon berücksichtigt habe, weist die narzisstische Persönlich-
keit der „Kultur des Narzissmus“ einige Eigenschaften auf, die man durch-
1
Kovel macht in Bezug auf die Narzissmusdiskussionen den triftigen Einwand, es sei
schwierig zwischen adaptivem und pathologischem Narzissmus zu unterscheiden. Ko-
vel in Alt; Hearn, 1980. Das gilt oft auch für verwahrlostes Verhalten, das adaptiv oder
die Folge subjektiver Verwahrlosung sein kann. Siehe dazu auch oben den Beitrag von
Bernfeld.
2
Meloy, 1998 (2002, S. 6)
136
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
137
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
gönnen, vielmehr selbst ewig jung bleiben wollen, können sich die Jungen
nur mit Rücksichtslosigkeit und Gewalt behaupten.“5
Die Charakterisierung unserer Gesellschaft als „autistischer Gesell-
schaft“ ndet sich in einem Buch des emeritierten Professors für Kinder-
und Jugendpsychiatrie Reinhart Lempp.6 Mit autistisch meint er nicht das,
was in engerem Sinne klinisch unter Autismus verstanden wird. Er ver-
steht darunter wesentlich absolute Selbstbezogenheit, das sich zum alleini-
gen Maßstab machen. Damit einher gehen Rivalitätsdenken, ein Mangel an
Solidarität, Verantwortungsgefühl und Mitgefühl. Lempps Gesellschafts-
diagnose ist theoretisch nicht fundiert. Publikationen wie die von Lasch,
die für seine Position von Interesse sind, nimmt er nicht zur Kenntnis. Sein
Buch ist aber durchaus von Interesse als Zeugnis eines psychiatrischen Ex-
perten, der bei seiner Arbeit über viele Jahre konkrete Veränderungen be-
obachtet hat, die man im Sinne einer Tendenz zu gesellschaftlicher Ver-
wahrlosung interpretieren kann und von ihm in diesem Sinne interpretiert
werden. Er verweist unter anderem auf den Sachverhalt, dass man heutzu-
tage das Verhalten mancher Leute, wie z.B. lautstarkes Handybenutzen in
geschlossenen Räumen, das Blockieren einer Autoausfahrt oder eines Be-
hindertenparkplatzes o.ä., gar nicht angemessen als rücksichtslos bezeich-
nen kann. Eine solche Charakterisierung würde bewusstes Verhalten unter-
stellen. Die betreffenden Personen kommen jedoch überhaupt nicht auf den
Gedanken, was ihr Verhalten für andere bedeutet. Auf solche Phänomene
bezogen von subjektiver Verwahrlosung im herkömmlichen Sinne zu spre-
chen wird schwierig, wenn der Andere im Bewusstsein gar nicht mehr vor-
kommt. Lempp kommt, wenn auch nicht ausführlich, auch auf Aspekte von
Sozialisationsprozessen zu sprechen, die über die herkömmlichen Ausein-
andersetzungen mit Verwahrlosung hinausführen und die hier in der Folge
noch berücksichtigt werden. So auf die Bedeutung des Spracherwerbs des
Kindes. Auch dieser spielt ja im Alter von zwei bis drei Jahren eine zentra-
le Rolle in der Entwicklung des Kindes. Ebenso auf Medienwirkungen im
Kindesalter.
Georges Devereux hat schon vor mehr als 70 Jahren auf die Tendenz
5
Szczesny-Friedmann, 1991, S. 201
6
Lempp, 1996
138
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
139
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
140
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
mit einem Fuß auf dem elektronischen Computer und mit dem anderen in
der kleinen Kirche an der Ecke, wo die Erneuerung des Glaubens gepre-
digt wird . . . oder gar zwischen den Ektoplasmen einer spiritistischen Sit-
zung.“16 In diesem mentalen Milieu wird der moderne Mensch dazu kon-
ditioniert, sich systematisch an kindliche Attitüden anzupassen und darauf
zu beharren, seine Wünsche für Realitäten zu halten.17 „Nachdem man ihn
gehörig davon überzeugt hat, dass es notwendig ist, seiner Existenz eine
Rechtfertigung zu geben, – gerade so als ob das Leben nicht schon als sol-
ches seine eigene Rechtfertigung wäre –, schärft man ihm auch noch ein,
sich bei dieser Rechtfertigung auf die zu beziehen, die ein rotes Telefon
haben, das direkt mit der ewigen Wahrheit verbunden ist, der, die gerade
Mode ist.“(a.a.O. S. 267)
Fragmentierung, Infantilisierung, Verkennung der Realität, und Entper-
sönlichung bedingen schizoide Tendenzen beim modernen Menschen. De-
vereux beschreibt, wie und auf welche Weise der moderne Mensch außer-
halb der Mauern der psychiatrischen Anstalten von der Gesellschaft schi-
zoid gemacht wird.18 Er nennt fünf Faktoren. 1) Es wird ihm eingetrichtert,
er solle immer cool, unpersönlich und objektiv sein. Aber „hinter der Mas-
ke souveräner Indifferenz verbirgt sich immer ein tiefreichendes Gefühl
der Unsicherheit und der Selbstverachtung.“ (Der Amerikaner ist gewalt-
tätig und sentimental, ja larmoyant, wenn er betrunken ist und verachtet,
wenn er nüchtern ist, den, der Gefühle zeigt.) (a.a.O. S. 260) 2) Dem se-
xuellen Leben fehlt die Affektivität. (Dafür könnte man viele Beispiele an-
führen. So z.B. die one night stands, die für viele Menschen selbstverständ-
lich sind.) 3) Zerstückelung und ein nur partielles Engagement unserer all-
täglichen Handlungen werden systematisch gefördert, soweit Engagement
überhaupt noch gefragt ist. 4) Eine Realitätsdeformierung, durch die Rea-
16
Devereux, G., 1965 (1977, S. 265). Dort auch zum Folgenden.
17
Die religiösen Lehren und Praktiken der großen christlichen Religionen und des Islam,
die in unserer Gesellschaft verbreitet sind, haben in der Tat unverkennbar infantilisie-
rende Implikationen. Daran sind wir gewöhnt. Das zeitgenössische Klima ist allerdings,
wie Lasch bemerkt, viel mehr therapeutisch und weniger religiös. Aber auch das im-
pliziert Entmündigung und Infantilisierung. Ebenso die Entmündigung durch Experten.
Gronemeyer fragt sich, warum so viele Erwachsene und gerade Manager eine „hohe
Afnität zu Esoterik und Okkultismus“ haben Gronemeyer, 1996, S. 82
18
Devereux, G., 1965 (1977b, 257 ff).
141
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
lität an ein ktives Modell angepasst wird, das ausgehend von kulturellen
oder subjektiven Bedürfnissen entworfen wurde – oder sogar ausgehend
von den Halluzinationen von unter Drogen Stehenden. Dieses Phänomen
hat allerdings für sich allein nichts Schizophrenes an sich. Es gehört all-
gemein zur menschlichen Natur. Sein einziges wirklich schizophrenes Ele-
ment, die ihm zu Grunde liegende Spaltung, wird nur verständlich im Zu-
sammenhang mit dem folgenden Tatbestand, der 5) Verwischung der Gren-
ze zwischen dem Realen und dem Imaginären. Aus historisch-kultureller
Perspektive gesehen, ist die Existenz dieser Grenze eine relativ neue Entde-
ckung. In den meisten primitiven Gesellschaften ist der Traum wesentlich
der Realität kosubstantiell. Unsere pseudorationelle Gesellschaft verwischt
diese Grenze. 6) Auch der Infantilismus ist tief in unserem sozio-kulturellen
Modell verwurzelt. Bekanntlich sieht man den Schizophrenen – und sogar
manchen Schizoiden – ihr Alter nicht an. Das geschieht höchstens nach ih-
rer Heilung, wenn eine zustande kommt. Unsere Gesellschaft huldigt aber
geradezu einem fetischistischen Kult der jugendlichen Erscheinung. Von
diesem systematischen Ansporn wie Kinder von zehn Jahren zu denken,
fühlen und handeln zur fötalen Regression des Schizophrenen ist es nur ein
Schritt.
7) Fixierung und Regression sind die Mittel durch die man zum Zustand
von Kindischkeit und Kindlichkeit und damit zu Ehren in unserer Gesell-
schaft gelangt. Wenn der moderne Mensch sich systematisch an kindliche
Attitüden anpasst und darauf beharrt, seine Wünsche für Realitäten zu hal-
ten, dann deswegen, weil er durch sein Milieu dazu konditioniert worden
ist. 8) Mit der Zerstückelung und dem Infantilismus geht auch die Ent-
persönlichung des Individuums einher. Sie wird noch dadurch verschärft,
dass man vom Individuum verlangt, dass es sich ungerührt und reserviert
und unpersönlich verhält, dass es sich zurückhält, sich an die Verhaltens-
normen des Durchschnittsbürgers anpasst etc. Wahre Identität kommt nicht
mehr zustande. Sie würde doch nur Schwierigkeiten verursachen. Stattdes-
sen schafft man sich persönliche Markenzeichen.
Die schizoiden Tendenzen in unserer Gesellschaft bedeuten eine Über-
schreitung der psychologischen Grenzen der Gesellschaft. Devereux argu-
mentiert dementsprechend radikal. Seiner Meinung nach kann nur noch
„eine grundlegende Revision der abendländischen Kultur und eine radikale
142
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
143
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
nicht gelingt, das Objekt, den Gegner oder Wettbewerber anzugreifen oder
zu entwerten.24
Auch der französische Psychoanalytiker Brunner charakterisiert die
postmoderne Gesellschaft als quasi verwahrlost.25 Er geht dabei auch auf
die Rolle des Staates ein. Dieser drückt sich zunehmend vor seinen sozia-
len Verpichtungen. Er ist impotent gegenüber dem Markt, der „ein Ty-
rann ohne Kopf und Verantwortung“ ist. Brunner konstatiert eine Krise der
Werte in einer barbarischen, ja anomischen Gesellschaft. Eine Gesellschaft
in der die klassischen Bedeutungsträger – die Nation, die Republik, das
Gesetz, der Katholizismus, der Sozialismus, der Vater – für das Individu-
um immer weniger wichtig sind. Stattdessen geht es um das Individuum,
das Vergnügen, den Körper, um Sex, um Geld. Die Gesellschaft mit vielen
Gesetzen, aber im psychoanalytischen Sinne ohne Gesetz, ist barbarisch
geworden. Und so wie sich jede Gesellschaft nach der Barbarei zurück-
sehnt, so sehnt sich jedes Subjekt nach seiner kindlichen Barbarei zurück,
nach dem kleinen Barbaren, der es einmal war. Brunner neigt demzufol-
ge dazu, unsere Gesellschaft als perverse Gesellschaft zu charakterisieren.
„Die perverse Gesellschaft wäre diese ultra-liberale, libertine und permissi-
ve Gesellschaft, die das Subjekt, von einem nachsichtigen Über-Ich beauf-
sichtigt, seinen Trieben überlässt. Die perverse Gesellschaft gründet auf in-
fantilisierten Massen, auf einem egoistischen und genießerischen Subjekt,
das nur mit Mühe Frustration erträgt und einen sofortigen Genuss, hier und
jetzt, verlangt.“26
Von perverser Gesellschaft zu sprechen, ist aber nicht haltbar, wenn
man den Terminus pervers im engeren psychoanalytischen Sinne ge-
braucht. Als solcher ist er eng mit dem Begriff sexueller Abweichungen
verbunden. Dieser spielt in der neueren psychoanalytischen Neurosenlehre
keine wesentliche Rolle mehr. Eine Gesellschaft als ganze als abweichend
zu charakterisieren, impliziert ohnehin die eingangs erwähnten Schwierig-
keiten, eine Gesellschaft als krank zu bezeichnen. Brunner gibt diesbezüg-
lich anders als Devereux keine Kriterien an.
24
Spanudis, 1954, S. 48
25
Brunner, R, 1998
26
Brunner, J, 1995, S. 110
144
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
Bei Brunner ndet sich ein Gesichtspunkt, der sonst wenig berücksich-
tigt wird. Er macht darauf aufmerksam, dass narzisstische Selbstbehaup-
tung normalerweise scheitert, wenn Individuen sozial scheitern. Arbeitslo-
sigkeit, vor allem Langzeitarbeitslosigkeit, Abstieg in Armut, chronisches
Kranksein, wiederholtes Scheitern u.a. bedeuten gesellschaftlichen Aus-
schluss in der Gesellschaft, in der Solidarität selten wird.27 Soweit „Nar-
zissmus eine Ethik des psychischen Überlebens in einer Welt ist, in der von
den anderen nichts erwartet werden kann“, lässt er sich unter diesen Um-
ständen nicht durchhalten.28 Es kommt zu einer „Entnarzissierung“, zu ei-
ner narzisstischen Katastrophe. Die Selbstwahrnehmung als Gescheitertem,
als Verlierer, als Sozialfall, als Ausgeschlossenem, die Selbstzweifel, ob
man nicht auch selbst an seinem Scheitern Schuld ist, ruinieren das Selbst-
wertgefühl. Gefühle des Überüssigseins, der Entmutigung und der Ver-
zweiung dominieren. Das Ausgeschlossensein wird durch sozialen Rück-
zug verstärkt. Die gegebene Situation wird als sinnloses Schicksal gesehen,
demgegenüber man sich nur passiv verhalten kann. Depressionen, Selbst-
zerstörung durch Alkohol- und Drogenmissbrauch und sogar Selbstmord,
sind naheliegende Reaktionen. Verwahrlosungstendenzen können demnach
sowohl die Folge von gesteigertem Narzissmus sein, als auch von seinem
völligen Scheitern. Das ist von umso größerer Bedeutung, als die soziale
Schere in unserer Gesellschaft sich zunehmend öffnet und den einen Über-
uss und narzisstische Gratikationen bietet, den anderen Verarmung und
Marginalisierung.
Die Frage, in wieweit narzisstische Selbstbehauptung überhaupt durch-
gehalten werden kann, stellt sich allerdings heute noch in viel umfassen-
derer Weise. Die Folgen eines neoliberalistisch ungehemmten kapitalisti-
schen Wachstums sind eine weltweite ökonomische und eine ökologische
Krise. Die enormen Summen, die eingesetzt werden, um den Bewegungen
an den deregulierten Finanzmärkten und ihren Auswirkungen gegenzusteu-
ern, werden aus Steuermitteln bestritten. Für sozialstaatliche Aufgaben ist
nie genug Geld da. Auch der Umweltschutz wird unzulänglich betrieben.
27
Einer Studie des Bielefelder Instituts für interdisziplinäre Koniktforschung zufolge
hat die Mehrheit der Deutschen abwertende bis feindselige Einstellungen zu Langzeit-
arbeitslosen. FR Online 14.12.2007
28
Zit Richards, 1984, S. 135. Zum Folgenden siehe Brunner, R., 1998, S. 78 ff.
145
Sozialpsychologische Diagnosen gesellschaftlicher Pathologie
Unter den gegebenen Umständen ist klar, „dass sich die westliche Welt
keine Kultur des Narzissmus mehr leisten kann und das ist nicht als morali-
sche Ermahnung, sondern als Tatsachenfeststellung gemeint.“29 Unter den
Voraussetzungen sich verschlechternder sozialer Verhältnisse und sich ver-
schärfender sozialer Diskrepanzen, ist unten und oben in der Gesellschaft
mit zunehmenden, schichtspezisch unterschiedlichen Verwahrlosungser-
scheinungen zu rechnen.
Die referierten sozialpsychologischen Diagnosen enthalten offensicht-
lich jeweils in Teilen wesentliche Elemente, die in den hier dargestellten
Zusammenhang gebracht, die Annahme einer aktuellen erheblichen Ten-
denz gesellschaftlicher Verwahrlosung stützen.
29
Lasch, 1979b, S. 200. Er nennt diesen Aspekt im englischen Titel seines Buches Lasch,
1979a
146
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung
in Sozialisationsprozessen
Familie und Erziehung aktuell
Es liegt auf der Hand, dass die Verhältnisse in Familien in der „Kultur des
Narzissmus“ den Entwicklungsbedürfnissen der Kinder in mancher Hin-
sicht nicht förderlich sind.1 Das gilt zunächst für die größere Instabilität der
Ehen und der Familienverhältnisse. Sie ist unter anderem eine Folge von be-
ruichen Mobilitätsanforderungen und anderen spezischen Belastungen,
wie sie sich durch das zunehmende Verschwinden des Normalarbeitsver-
hältnisses, des Normalarbeitstages, durch exible und lange Arbeitszeiten,
Termindruck und andere Flexibilitätsforderungen ergeben. Aus dem Arbei-
ter wird ein „Zeitarbeiter“, „der keinen Beruf hat, sondern Kompetenzen“.2
Auch in stabilen Familien ist es sehr schwierig, dauerhafte und stabile inti-
me Familienbeziehungen zu schaffen. Die in ihrem sozialen Status und als
Erzieher verunsicherten Eltern werden durch widersprüchliche Ratschläge
von Experten verwirrt und durch Lifestyle Klischees der Konsumangebote
verhöhnt.3 Mal wird ihnen geraten, ihre Kinder nicht allzu sehr zu fordern,
sie Kind sein zu lassen. Mal wird ihnen geraten, ihre Kinder durch ein
strenges, anspruchsvolles Regime für den gesellschaftlichen Konkurrenz-
kampf t zu machen. Manche gestalten und überwachen als „Helikopter“-
oder „Curling“- Eltern permanent den Alltag ihrer Kinder, um jeder Art von
1
Ich muss mich hier auf Stichwörter beschränken. Eine eingehende Berücksichtigung
der heutigen familialen Sozialisationsbedingungen würde eine eigene Abhandlung nötig
machen.
2
Unsichtbares Komitee, 2009 (2010). Vergl. dazu die geplanten Veränderungen der Ar-
beitsverhältnisse bei IBM, die DER SPIEGEL als „Blaupause für die Arbeitswelt von
morgen“ bezeichnet. DER SPIEGEL 6 / 2012. Berufsarbeit verliert auf diese Weise die
psychologische Bedeutung, die ihr Freud zuschreibt. Die Bindung an Realität durch die
„mit ihr verknüpften menschlichen Beziehungen“ und die Möglichkeit auf sie aggres-
sive, narzisstische und selbst erotische libidinöse Komponenten zu verschieben. Freud,
S., 1930, S. 438
3
Richards, 1984. Dazu auch Kovel, 1980
147
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
4
Gemeint sind damit Eltern, die permanent um ihre Kinder schwirren und sie durch Über-
behütung realitätsunfähig machen bzw. Eltern, die wie beim Eisstockschießen alle Hin-
dernisse vor ihrem Kind aus dem Weg räumen. Siehe „DER SPIEGEL Nr. 33. 2013.
5
Lasch, 1979 (1986, S. 193)
6
Lasch, 1979 (1986, S. 69)
148
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
tasien projizieren und so tun als seien ihre Kinder quasi Prinzessinnen und
Prinzen, deren Wünsche unbedingt erfüllt werden müssen.7 Sie überschüt-
ten sie mit Bekundungen ihrer Aufmerksamkeit. Verbote und Grenzen kann
man ihnen nicht zumuten. Ein Resultat dieser bereits erwähnten Variante
von Realitätsentzug sind, wie ein Buchtitel formuliert, „Tyrannen in Turn-
schuhen“.8
149
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
Frühkindlicher Fernsehkonsum
Zu der Frage, ob Fernsehkonsum für kleine Kinder schädlich ist, gibt es
zahlreiche Veröffentlichungen. Psychoanalytische Untersuchungen sind al-
lerdings selten. Letzteres gilt besonders für die Frage der psychologischen
12
Lasch, 1979 (1986, S. 94)
13
Adorno, Th. W., 1964, S. 73 ff.
14
Lazar, 1985, S. 158
15
Goethe, 1995, „Zahme Xenien“ I.3, S. 256. Zitiert in Lempp, 1996, S. 121
150
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
Folgen des Umgangs mit Videospielen, Computern, dem Internet und virtu-
ellen Realitäten. Wenn Kinder fernsehen, ist von vornherein problematisch,
dass sie dabei körperlich völlig stillgestellt sind. Ihre Aufmerksamkeit ist
völlig absorbiert, wird aber an Stelle einer Konzentration auf bestimmte
Wahrnehmungen auf ständig wechselnde Reize gelenkt. Das lässt sich unter
anderem durch Tricks wie rasche Bildfolgen, Ton- und Farbeffekte und be-
stimmte Bildeinstellungen erreichen. Die Konzentrationsfähigkeit der Kin-
der nimmt ab. Sie spielen nicht und handeln nicht. Es handelt sich um eine
oral-passive Befriedigung durch eine Flut von Bildern, die gar nicht ver-
arbeitet werden können. Das Fernsehen überschwemmt das frühkindliche
bzw. kindliche Gehirn genau zu der Zeit mit Bildern, in der es lernen soll-
te, Bilder aus sich selbst zu erzeugen.16 Ob die Fernsehbilder Realität oder
Fiktion abbilden, können Kinder noch schwerer als Erwachsene beurteilen,
weil sie noch bis in die Zeit der ödipalen Konikte Phantasie und Realität
nicht klar unterscheiden können.
Unter diesen Umständen ist es erstaunlich, dass es Eltern gibt, die ih-
re Kinder schon im Alter von wenigen Monaten mit Fernsehsendungen für
Babys traktieren. Seit etwas mehr als 10 Jahren gibt es das Angebot „Ba-
by TV“ eines privaten Senders, der bisher in 35 Ländern in 12 Sprachen
Fernsehen für Babys ab vier bis sechs Monaten anbietet und 120 Millionen
Haushalte erreicht. Eltern wird das Programm als Entwicklungsförderung
für ihre Babys empfohlen. Mit deren Besorgnissen, die Entwicklung ihrer
Kinder optimal zu fördern, lassen sich offensichtlich gute Geschäfte ma-
chen. Sie haben bereits einen Umfang von 500 Millionen Dollar.17 Damit
verbunden ist auch, dass versucht wird, schon Kleinkinder zu Konsumen-
ten zu machen. Dies geschieht vor allem dadurch, dass die Kinder Objekte
haben möchten, die sie von den Sendungen her kennen. In der Werbung
heißt es aber: „Baby TV bietet eine der größten Sammlungen an hochqua-
litativen, originalen Fernsehserien, die mit der Hilfe von Fachleuten in den
Bereichen Kinderpsychologie und Babyentwicklung besonders für Babys
16
Sanders, 1995, S. 63
17
Siehe dazu den SPIEGEL ONLINE Artikel von Christian Buß vom 04.02.2011, der
sich auf eine Fernsehsendung von Arte bezieht. Was das Alter der Babys betrifft, legen
sich die Anbieter nicht fest. Zum Folgenden auch die deutsche „Baby TV“ Startseite
(http://babytv-channel.de/)
151
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
18
Zitiert in FOCUS Online vom 30.03.2009. Dort auch zum Folgenden. In dem Artikel
ndet sich ein Link zu einem anderen Artikel über die genannte amerikanische Studie.
Siehe auch die Kritik der Leiterin des Staatsinstitutes für Frühpädagogik in München,
Fabienne Becker-Stoll. n-tv online 19.01.2009. Der Schaden von kindgemäßen DVDs
lässt sich allerdings ab einem bestimmten Alter weitgehend vermeiden, wenn man sie
mit dem Kind wiederholt gemeinsam betrachtet und mit ihm darüber redet. Tisseron,
2008a. S. 24
19
Soweit ich keine andere Angabe mache, ist das Folgende eine Zusammenfassung von
Tisseron, 2008a. Ich mache der Lesbarkeit meines Textes wegen hier nur wenige Sei-
tenangaben, zumal es sich bei dem Text um eine schmale Broschüre handelt. Siehe dazu
auch die anderen Veröffentlichungen Tisserands in den bibliographischen Angaben.
152
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
nat können Babys jeweils nur ganz kurz ihren Blick auf einen Bildschirm
konzentrieren. Nach einigen Minuten geben sie fast immer Zeichen von
Müdigkeit von sich, weinen, reagieren irritiert oder gähnen. Erst ab dem
sechsten Monat erwerben Kinder die Fähigkeit ungefähr eine Viertelstun-
de lang die Bilder zu betrachten. Vorausgesetzt, dass man sie direkt vor
einen Fernseher setzt und dass sie sonst nichts Interessantes zu tun haben.
Wenn man ein Kind in diesem Alter vor den Bildschirm setzt, wird es auf
nicht mehr als 10% dessen achten, was es sieht. Vor dem neunten Monat
ist das Kind an der leuchtenden Oberäche des Bildschirms interessiert,
versteht aber nicht, was da vor sich geht. Es ist fasziniert von den raschen
Bewegungen der Personen, den Veränderungen in den Bildern, der Unvor-
hersehbarkeit von Szenen, der Intensität von Toneffekten, merkwürdigen
oder nicht menschlichen Stimmen etc. Deshalb mögen Kinder besonders
Zeichentricklme, die ihren Erwartungen entsprechen.
Später fangen sie an, den inhaltlichen Zusammenhang einer Erzählung
zu verstehen. Vom Fernsehgeschehen nehmen sie aber bis zu zweieinhalb
Jahren nur eine Folge von bunten Formen und Personen wahr. Bis dahin
spielen inhaltliche Unterschiede zwischen Programmen keine Rolle, weil
sie erst dann inhaltliche Zusammenhänge verstehen können. Ein Kind vor
dem 18. bis 24. Monat vor den Fernsehapparat zu setzen, nützt nichts, son-
dern schadet ihm. Und seien die Sendungen auch noch so kindgerecht von
„Fachleuten“ konzipiert. Die Gründe dafür liegen darin, dass bei ganz klei-
nen Kindern die geistige Tätigkeit permanent unter Beteiligung des Bewe-
gungsapparates erfolgt, insbesondere der Möglichkeit, mit den Objekten
ihrer Wahrnehmung hantieren zu können. Ihre Intelligenz ist, wie schon
Piaget und Wallon nachgewiesen haben, sensormotorisch. Der Blick, das
Gehör, die Berührung, der Geruchssinn sind zugleich beteiligt.
Die beste Interaktion mit dem Kind ist die von Angesicht zu Angesicht,
das mit dem Kind Sprechen, sich mimisch und gestisch mit ihm verständi-
gen. Es sind Verständigungsinteraktionen, in denen das Kind dem mentalen
Zustand seines Gegenübers nahe zu kommen versucht. Diese spielerischen
Auseinandersetzungen sind der Schmelztiegel, in dem das Kind sein Ein-
fühlungsvermögen erwirbt. Das Fernsehen ist dagegen wie eine übererre-
gende Mutter, die absolut unsensibel ist, in Bezug auf die Reaktionen des
153
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
20
Tisseron, 2010, S. 131
21
Tisseron, 2008a, S. 28
154
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
155
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
immer wieder der gleichen Lieder und bei wiederholtem Vorlesen ergeben.
Beim Fernsehen dagegen wird selbst bei Wiederholungen, wie sie in Kin-
dersendungen vorgenommen werden, Sprache stark von Bildern überlagert.
Vor dem Fernseher verstummt das Kind. „Das Kind wird auf ein Reali-
tätskonzept verpichtet, das sich aus den Simulationen auf einer immern-
den Mattscheibe speist. In dieser Realität sind die Subjekte von Emotionen
nicht lebende Menschen, sondern die Abbilder lebender Menschen.(. . . )24
Was das Kind, körperlich stillgestellt, affektiv erlebt, wird nicht mit Worten
verschmolzen. Der Spracherwerb ist jedoch fundamental wichtig.
Anny Katan ist bei der Arbeit mit drei- bis fünfjährigen Kindern be-
züglich des Spracherwerbs zu drei Ergebnissen gekommen: „1)Die Ver-
balisierung von Wahrnehmungen der Außenwelt geht der von Gefühlen
voraus. 2)Verbalisierung führt zu einer Stärkung der Kontrollfunktion des
Ich über Affekte und Triebe. 3)Verbalisierung fördert die Möglichkeit des
Ichs zwischen Wünschen und Phantasien einerseits und Realität anderer-
seits zu unterscheiden. Kurzum, Verbalisierung führt zu einem Integrati-
onsprozess, der seinerseits zu Realitätsprüfung führt und damit hilft, den
Sekundärprozess zu etablieren.“25 Wenn Kinder jedoch nicht lernen, Af-
fekte und sensorische Impulse sprachlich auszudrücken, agieren sie kör-
perlich. Die heutzutage häuge Verhaltensauffälligkeit der Zappelphilipp-
kinder, Aufmerksamkeitsdezit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) genannt,
ist sehr wahrscheinlich in vielen Fällen eine Variante von Verwahrlosung.26
24
Sanders, 1995 (1995)
25
Katan, A., 1961
26
In dem oben dargelegten Sinne, in dem Spanudis auch bestimmte psychosomatische
Symptome als Folgen von Verwahrlosung versteht. Die Psychoanalytikerin und AD-
HS Expertin Leuzinger-Bohleber spricht von „Traumatisierungen oder Frühverwahr-
losung.“ Leuzinger-Bohleber, 2009. Dazu auch der Artikel „Eine Krankheit. Keine
Krankheit“ in: „DIE ZEIT“ vom 10.08.2006. Darin wird Leuzinger-Bohleber zitiert. Sie
nennt da außerdem als mögliche Gründe von ADHS: eine besondere Begabung, Trau-
er, kulturelle Verschiedenheiten und vieles mehr. Eine Diskussion der einschlägigen
wissenschaftlichen Literatur, die für diese mögliche Genese von Verwahrlosung durch
frühzeitigen Medienkonsum von Bedeutung ist, ist hier allein schon aus Platzgründen
nicht möglich. Einer solchen psychoanalytisch-psychodynamischen Einschätzung ste-
hen Auffassungen mit naturwissenschaftlich-biologischer Orientierung gegenüber. Da-
zu und zur Geschichte der Auseinandersetzung mit motorischer Unruhe bzw. ADHS
siehe Delion, 2010
156
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
Auch in dem für Verwahrlosung typischen Sinn einer Folge von Vernach-
lässigung. Die Kinder werden dann mit Psychotherapie oder Medikamenten
oder mit beidem behandelt.
Max Horkheimer hat schon zu einer Zeit, in der Kinder noch nicht
stumm in die „Glotze“ starrten, festgestellt, dass, indem „die Industriege-
sellschaft auf eine Stufe übergeht, in der das Kind unmittelbar mit den kol-
lektiven Kräften konfrontiert wird“, „das Gespräch und folglich das Denken
in seinem psychologischen Haushalt eine immer geringere Rolle“ spielt.
„Damit zerfällt das Gewissen oder das Über-Ich.“27 Der Literaturwissen-
schaftler Barry Sanders hat in diesem Sinne besonders nachdrücklich dar-
auf hingewiesen, wie fundamental wichtig es ist, dass das Kind zuerst die
orale Dimension voll erleben kann. Dazu gehören das Üben im Reden und
Geschichten erzählen und die Freude am Spiel mit der Sprache. „Ohne eine
stabile Verbindung zu einer Mutter kann vielleicht niemand einen spieleri-
schen und das heißt zugleich einen vollständig in das eigene Fleisch und
Blut übergegangenen Sinn für das Lesen und Schreiben entwickeln.“ „Oh-
ne Mutter um sich herum, bleibt dem Kleinkind die volle Erfahrung der
Oralität vorenthalten, so dass es später in die Welt der Literalität mit ei-
nem Handicap eintritt.“ Es sollte deswegen auch nicht zu früh Lesen und
Schreiben lernen, d.h. nicht bevor es gelernt hat, sich selbst auszudrücken.28
Zwischen Oralität und Literalität besteht ein enger Zusammenhang.
Erstere ist die Grundlage für letztere. Die Alphabetisierung zwingt das Kind
gewissermaßen, sich zu verdoppeln. Das Alphabet schied die Rede, in dem
sie sie in ein Kunstgebilde verwandelte, für alle Zeit vom Sprecher und
schuf dabei „ein eigengesetzliches Etwas namens Sprache, das untersucht,
analysiert und diskutiert werden konnte.“29 „Die Literalität erzwingt das
Auseinandertreten von Wissendem und Gewusstem.“ Damit wird reexi-
ves kritisches Denken möglich. Indem ein Individuum Lesen und Schrei-
ben lernt, schafft es sich einen neuen Raum – „einen Seelenraum“, der in
die Außenwelt projiziert wird.(a.a.O. S. 102) Kinder, bei denen der Wech-
sel in die Literalität nicht zustande kommt, verfügen nicht über die Fer-
tigkeiten, die es ihnen ermöglichen, in kontemplativer Einstellung Distanz
27
Horkheimer, 1946, S. 213f.
28
Sanders, 1995 (1995), S. 130. S. 318
29
Sanders, 1995 (1995), S. 94 f. Dort auch das Folgende
157
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
zu Ereignissen herzustellen. Sie sind unfähig, „ihre eigenes Tun von außen
zu betrachten.“ Dementsprechend verstehen sie sich selbst nicht und ihr
Einfühlungsvermögen in andere ist verkümmert. „Sie werden vom Schwall
der Ereignisse, der sie täglich überspült, mal hierhin, mal dorthin gewor-
fen“.(a.a.O. S. 97) Ihr Gefühls- und Seelenleben verödet. In der Schule
scheitern sie. Und da „persönliche Schuld und Gewissen und das Selbst
nur unter den Bedingungen der Schriftkultur möglich sind“, „müssen wir
uns an den Gedanken einer Nation gewöhnen, die von minderjährigen Psy-
chopathen bevölkert ist.“(a.a.O. S. 165)
Bei den genannten Mechanismen, durch die Verwahrlosung gefördert
wird, sind die Sinnzusammenhänge, mit denen Kinder als Fernsehkonsu-
menten konfrontiert werden, freilich auch nicht ohne Bedeutung. Folgen-
reich ist besonders, wenn Kinder von dem Gesehenen erschreckt und über-
wältigt werden, weil sie die Sinnzusammenhänge nicht verstehen können.
Bei einem Kleinkind kann das bedeuten, dass man ihm z.B. erklären muss,
dass der gezeigte Löwe sein Maul nicht aufreißt, weil er jemand fressen
will, sondern weil er gähnt. Rasche Bilderfolgen erschweren das Verständ-
nis auch größerer Kinder. Den wesentlichen Inhalt eines komplizierten Bil-
des können Kinder erst in einem Alter von ca. 8 Jahren erfassen. Für ein
volles Verständnis einer Fernsehsendung, muss ein Kind mindestens drei
kognitive Fähigkeiten beherrschen: „Es muss die Segmentierung des Er-
eignisablaufes in einzelne Einstellungen verstehen, es muss sich auf die
wesentlichen Aspekte konzentrieren und es muss nicht explizit ausgeführte
Handlungsteile rekonstruieren können.“30 „Auch das Erschließen von Zu-
sammenhängen (wenn Beispielsweise ein Mann von einem Verbrecher nie-
dergeschossen wird, weil er Zeuge von einem zuvor gezeigten Überfall
war) gelingt Kindern vollständig erst nach dem elften bis zwölften Le-
bensjahr.“31 Ein Verständnis dessen was Filmtechnik psychisch bewirken
kann, wird man nicht einmal bei vielen Erwachsenen voraussetzen kön-
nen. Wer sich nie damit beschäftigt hat, ist sich wohl kaum der Wirkungen
bewusst, die Bildeinstellungen, Bildschnitte, Kameraeinstellungen, Rück-
30
Furian; Maurer, 1984, S. 54
31
Winterhoff-Spurk, 1986. S. 55
158
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
159
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
sie vor zehn Jahren bei Kindern dieses Alters praktisch noch unbekannt
waren.33
Gewaltdarstellungen in den Medien sind zweifellos problematisch. Es
ist umstritten, ob sie direkt delinquentes Verhalten verursachen können.
Unzweifelhaft ist aber, dass die permanente Konfrontation mit Gewaltta-
ten aller Art, unzähligen Morden und Verbrechen, abstumpft. Die Kinder
lernen, dass Gewalt eine Lösung von Problemen in menschlichen Bezie-
hungen ist.34 Sie wenden nicht unbedingt selbst Gewalt an, soweit sie nicht
schon dazu neigen, aber sie akzeptieren sie als normal, wenn sie von ande-
ren ausgeübt wird. Der Gebrauch von Gewalt erscheint als etwas Selbstver-
ständliches. Hinsichtlich der Frage, ob Gewaltdarstellungen im Fernsehen
und mehr noch in speziellen Videos, die schauerlichen Gewalttaten man-
cher Kinder und Jugendlicher verursacht haben können, sind die Überle-
gungen von Dorothea Dieckmann plausibel: „Wenn die Bilder einen großen
Teil der kindlichen Realitätsbildung ausmachen, kann sich die Form der
Wahrnehmung durchsetzen, die sie monopolisieren: die Auffassung, dass
Handlungen – selbst wenn sie von starken Emotionen begleitet sind – un-
körperlich und folgenlos sind.“ „Ihre Vorstellungen, an die vorhandenen
Bilder gebunden, sind immer schon „fertig“. Immunisiert gegen jede eige-
ne Phantasieleistung, mangelt es ihnen an den Instrumenten, von der Tat-
sächlichkeit der Gewalt einen Begriff zu bilden. Kinder, die auf die Realität
des Bildschirms verwiesen sind, können daher kein Konzept für die End-
gültigkeit der Gewalt und des Todes erhalten.“35
Soweit Kinder auch mit pornographischen Inhalten konfrontiert wer-
den, besteht die Gefahr, dass sie glauben, das Bild der Sexualität, das sie
zeigen, entspreche der Realität und müsse womöglich sogar so praktiziert
werden, um normal zu sein.36 Die bereits erwähnte Vermischung von Se-
xualität und extremer Gewalt stellt ein zusätzliches Problem dar. Die un-
vermittelte Konfrontation damit kann schockieren.
Vor dem Hintergrund all dieser gesundheitlichen Risiken des Fernseh-
konsums ist verständlich, dass z.B. in Frankreich Fernsehprogramme für
33
Tisseron, 2008a, S. 50
34
Siehe dazu Barron, 1954, Lazar, 1985, Tisseron, 2010
35
Dieckmann, 1994, S. 64 und S. 67
36
Tisseron, 2011, S. 4
160
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
Kinder unter drei Jahren verboten sind.37 In Deutschland empehlt die Bun-
deszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Kinder vor dem dritten Le-
bensjahr nicht fernsehen zu lassen. „Zwischen drei und fünf Jahren sollten
Kinder nicht länger als eine halbe Stunde pro Tag fernsehen. Computer-
spiele, zum Beispiel einfache Lernspiele, – sind erst ab vier Jahren geeig-
net.“ Der Fernsehkonsum ab sechs Jahren sollte auf 45 Minuten begrenzt
bleiben.38 Was den Mediengebrauch ihrer Kinder betrifft, empehlt Tisse-
ron den Eltern die Formel 3-6-9-12. Das bedeutet: kein Fernsehen für die
Kinder vor dem dritten Lebensjahr, keine Spielkonsole vor dem sechsten
Lebensjahr, kein Internet vor dem neunten Lebensjahr und danach nur in
Begleitung bis zum Besuch einer weiterführenden Schule im elften oder
zwölften Lebensjahr.39
Für Jugendliche, die in der „Digitalen Ära“, also nach 1980 geboren
sind, sind Handys, Computer und Internet die wichtigsten Vermittler ihrer
zwischenmenschlichen Beziehungen. Der größte Teil ihres Alltagslebens
ist durch die digitalen Technologien vermittelt. Der Autor einer Recherche
über Facebook stellt fest: „Die Generation der 12 bis 17-Jährigen regelt
ihr halbes Leben über das Netzwerk“.40 Ihre Beziehungen untereinander
sind in mehrfacher Hinsicht verschieden von denen früherer Generationen.
Die psychologischen und gesellschaftlichen Folgen davon lassen sich noch
kaum abschätzen. In vielen Familien kann man geradezu die Gefahr einer
Spaltung der Generationen wahrnehmen.41
37
Siehe den Beschluss des Conseil supérieur de l’audiovisuel (CAS) vom 22.07.2008,
sowie dessen Empfehlungen und Beschlüsse dazu. Dazu auch die Stellungnahme der
französischen Direction générale de la santé (DGS). http://www.csa.fr/television/le-sui
vi-des-programmes/jeunesse-et-protection-des-mineurs
38
„Kinder und Medien. Tipps und Regeln zum Umgang mit Fernsehen und Computer.“
www.kindergesundheit-info.de der BZgA. Wenn die Gefahren des Fernsehens für klei-
ne Kinder, wie sie in den referierten Publikationen dargestellt werden, tatsächlich so
schwerwiegend sind, frage ich mich, da ich einen Teil meines Lebens in Brasilien ver-
bracht habe und noch verbringe, was aus den vielen brasilianischen Kindern wird, die in
ihrem Alltag vom ersten Tag ihres Lebens an, daran gewöhnt sind, dass der Fernsehap-
parat morgens angestellt wird und den ganzen Tag angestellt bleibt. Das ist in Brasilien
normal.
39
Tisseron, 2013
40
Manfred Dworschak in DER SPIEGEL Nr. 19, 2012
41
Tisseron, 2010, S. 211
161
Neue Faktoren der Entstehung von Verwahrlosung in Sozialisationsprozessen
42
Tisseron, 2008b, S. 33ff. Im Spiegelstadium, das ungefähr zwischen dem sechsten und
dem achtzehnten Monat zustande kommt, „antizipiert (das Kind) imaginär das Ergreifen
und die Beherrschung der Einheit seines Körpers.“ Laplanche; Pontalis, 1967 (1972).
„Spiegelstufe“. Dazu auch „stade du miroir“ in Mijolla, 2002.
162
Psyche offline und online
Der Computer als Erweiterung der Person
Computer und Internet haben in wenigen Jahren eine enorme Bedeutung
gewonnen. Sie sind phantastische Kommunikationsmittel, die die verschie-
densten Bereiche der Gesellschaft, von der Weltwirtschaft, der Technik, der
Telekommunikation, den Wissenschaften bis hin zu Kunst und Kultur ein-
schneidend verändert haben. Jeder, der einen Onlinezugang hat, kann sich
weltweit über Bild und Ton mit anderen Menschen verständigen, kann Pu-
blikationen der verschiedensten Art aus anderen Ländern lesen, kann Daten
aller Art abrufen, kann in Bibliotheken recherchieren, kann virtuell Muse-
en besuchen, kann nach einem neuen Lebensgefährten oder einer Lebens-
gefährtin oder einem Sexpartner mit den gleichen Neigungen suchen, kann
Einkäufe machen, usw. Ich kann im Folgenden nur auf einige Aspekte ein-
gehen, die für das Thema dieser Arbeit von Bedeutung sind.
Der Computer, der ursprünglich nicht mehr als ein elektronischer Rech-
ner war, ist durch immer rafniertere Programme zu einem vielseitigen
Werkzeug, zu einem Kommunikationsinstrument geworden, mit dem man
vielfältige Beziehungen unterhalten kann. Mit dem Computer kann man
nicht nur Manuskripte verfassen und graphische Darstellungen entwerfen.
Man kann mit ihm fast wie mit einem menschlichen Gegenüber kommuni-
zieren. Er ermöglicht es allein zu sein, ohne sich unbedingt gefühlsmäßig
der Situation allein zu sein, ausgesetzt zu fühlen. Der Computer kann so-
gar zu einer Art Erweiterung der Person werden. Das impliziert auch, dass
er Einuss darauf bekommt, wie wir über uns denken, wie wir uns selbst
und die anderen sehen. Er ist deswegen eine „psychologische Maschine“
genannt worden.1
Mitte der sechziger Jahre hat der Informatiker Joseph Weizenbaum ein
Programm erfunden, das er, in Anspielung auf das Theaterstück Pygmali-
on von George Bernard Shaw, Eliza nannte. Das Programm sollte zeigen,
dass es möglich ist, über natürliche (per Tastatur eingegebene) Sprache mit
1
Turkle, 1984 (1986, S. 13)
163
Psyche ofine und online
2
Weizenbaum, J., 1966, Weizenbaum, 1977
3
Die davon abgeleitete Computergestützte Psychotherapie, bei der der Computer von
einem Therapeuten als Hilfsmittel eingesetzt wird, ist inzwischen keine Seltenheit mehr.
4
Holland, 1996
5
Suler. „Cyberspace as Psychological Space“ in Suler, 1999
164
Psyche ofine und online
verstanden wurde, wird nun eventuell als Fehlschaltung gesehen. Der Sinn
der Handlung steht dann gar nicht mehr zur Debatte.6 All dies kann noch
viel größere Bedeutung gewinnen, wenn über den PC der Zugang zum In-
ternet möglich ist. Großer Beliebtheit erfreut sich der Computer zunehmend
für seine Nutzung von Spielen. Man kann mit ihm z.B. Schach spielen. Der
große Renner aber sind in neuerer Zeit Videospiele. Deren neuesten Va-
rianten ermöglichen, sich in sehr realistischen virtuellen Räumen, d.h. in
simulierten Welten, zu verhalten. Dabei setzen aber die Spielregeln gewis-
se Grenzen. Grenzenlos werden dagegen die Räume, in denen man sich im
Cyberspace verhalten kann. Der enorme kommerzielle Erfolg der Video-
spiele ist wohl auch ein Indiz für die von mehreren Autoren diagnostizierte
Infantilisierung unserer Gesellschaft.
Obwohl unbestreitbar ist, dass der Computer und das Internet phantas-
tische neue, bereichernde Formen menschlicher Interaktion ermöglichen,
bergen sie doch offensichtlich auch psychologische Risiken, die für das
Thema Verwahrlosung von Bedeutung sind. Das bedeutet z.B. in mancher
Hinsicht eine Verstärkung der Fernsehwirkungen. So ist es z.B. psycho-
logisch etwas anderes, ob ein Kind mit Gewaltdarstellungen als passiver
Zuschauer konfrontiert wird oder aktiv in Videospielen Gewalt anwendet.
Der bekannte Satz des Soziologen Urie Bronfenbrenner, wonach die
meisten amerikanischen Familien aus zwei Eltern, einem oder mehreren
Kindern und einem Fernsehgerät bestehen, hat auf die Verbreitung von
Computer und Internet übertragen, eine ganz neue Bedeutung bekommen.
Das Internet mit all den virtuellen Gestalten, die es bevölkern, hat über den
PC im Alltag, zuhause und im Beruf, eine permanente Präsenz gewonnen.
Es bewirkt eine Verwischung der Grenzen zwischen dem Leben online und
dem Leben als solchem. Für die Erwachsenen kann das z.B. bedeuten, dass
sie ihren Partner mit virtuellen Partnern betrügen. Kindern, die oft schon
erstaunlich früh erste Erfahrungen mit dem Computer machen, ermöglicht
das Internet, dass sie sich eine phantasierte Familie schaffen und mit ihren
Mitgliedern parallel zur realen Familie interagieren können.7 Was Freud
„Familienroman“ nannte, können sich Kinder nun virtuell schaffen und die
6
Turkle, 2012
7
Tisseron, 2008b, S. 81ff.
165
Psyche ofine und online
Leben im Internet
Während der Computer ohne Internetzugang noch ein Gegenüber mit be-
schränkten Kommunikationsmöglichkeiten ist, kann man online mit unzäh-
ligen Gegenüber kommunizieren, Emails schicken, skypen, chatten u.a. So-
weit man aber dabei nicht mit Personen kommuniziert, die man persön-
lich kennt oder sie zumindest über andere Kanäle zuverlässig identizieren
kann, weiß man nie sicher, mit wem man es zu tun hat. Die Beziehungen
sind anonym. Im Internet können viele einer sein und einer viele. Das Ge-
genüber kann Eigenschaften vortäuschen, die es nicht hat, z.B. Alter und
Geschlecht falsch angeben. In virtuellen Räumen kann man es mit Avata-
ren zu tun bekommen, die wie Repräsentanten wirklicher Personen wirken,
aber keine sind. Umgekehrt kann ein Avatar zu einem Teil der Identität wer-
den.9 Man kann sich auch selbst in verschiedenen Gestalten im Cyberspace
aufhalten und auf diese Weise Facetten seiner selbst ausprobieren.10 Man
8
Ausführlicher dazu John Suler „Adolescents in Cyberspace“ in Suler, 1999
9
Palfrey; Gasser, 2008, S. 244. Der Duden deniert Avatar so: „grasche Darstellung,
Animation, Karikatur o. Ä. als Verkörperung des Benutzers im Cyberspace“.
10
In der Literatur zum Thema ist in diesem Zusammenhang oft von multiplen Identitä-
ten die Rede. Dabei bleibt offen, wie einst bei der Rollentheorie, wer oder was diese
Identitäten zusammenhält. Diese Frage erledigt sich spätestens dann, wenn man z.B.
Zahnschmerzen bekommt oder sich einen Finger einklemmt. Ich ziehe es vor mit Tisse-
ron von Facetten des Selbsts zu sprechen Tisseron, 2008b, S. 198
166
Psyche ofine und online
kann so über das Internet mit einer Vielzahl von Menschen in Kontakt ste-
hen. Man kann sich mit Beziehungsnetzen verschiedener Art, privaten wie
großen kommerziellen wie Facebook, Twitter, LinkedIn u.a. verbinden. Für
manche ist eine virtuelle Gemeinschaft wichtiger als die Familie, die Mit-
schüler oder die Arbeitskollegen.11
Die Internetkommunikation weist einige psychologische Besonderhei-
ten auf, die als solche nicht unproblematisch sind. Besonders die Anonymi-
tät der Kommunikation ist folgenreich. Sie verführt zu einer Reduzierung
der Selbstzensur und damit zu einer Enthemmung.12 Man ist ja niemand
Rechenschaft schuldig. Man begibt sich in eine Welt, in der man machen
kann, was man will. Dementsprechend geht es im Internet oft sehr aggres-
siv zu. Das gilt auch für die Sexualität. Ungehemmte Beleidigungen und
sexuelle Belästigungen sind alltägliche Phänomene. Die Leute versuchen
auch sexuelle Wünsche zu befriedigen, zu denen sie sich in der Realität
nicht bekennen würden. Und sie suchen dazu Orte auf, an die sie sich in
der Realität nicht begeben würden. Sie tauschen sich mit Unbekannten über
ihre intimsten sexuellen Wünsche aus. Sie leben Größenphantasien, Angst-
phantasien und sexuelle Phantasien vermittelt über ihre Avatare aus. Das
Internet bewirkt offensichtlich unter anderem auch Regression zu kindli-
chem Verhalten und Verwahrlosung. Man kann im Internet aber auch po-
sitiven Einstellungen begegnen. So kann man z.B. bei Problemen mit dem
Computer oder der Software im Internet sehr großzügige Hilfe von völlig
unbekannten Personen bekommen.
Die Avatare haben die Macht, Emotionen und Empndungen als sehr
real empnden zu lassen. Man kann in virtueller Realität angenehme Er-
fahrungen machen. Das ermöglicht, aus dem unerfreulichen Alltag in er-
freuliche Welten zu üchten. Man kann aber auch verletzt und vergewal-
tigt werden. Das liegt daran, dass Virtuelles durchaus etwas Reales ist. Es
ist nicht die gewöhnliche Realität, sondern eine Realität mit eigenen Ei-
genschaften. Sie kann, wie Realität überhaupt, psychische Auswirkungen
haben, ist selbst jedoch nichts Imaginäres bzw. nichts Psychisches.13
11
Tisseron, 2008b, S. 222
12
siehe zum Folgenden Holland, 1996 und „The Online Disinhibition Effect“ in Suler,
1999
13
Das scheint manchen Psychoanalytikern nicht klar zu sein. Vergl. dazu Plassmann,
167
Psyche ofine und online
Norman N. Holland nimmt an, dass neben der Anonymität auch eine
spezische Eigenart von Computerkommunikation regressionsfördernd ist.
Normalerweise ist es so, dass man eine relativ lange Mitteilung eingibt und
dann eine relativ kurze Antwort bekommt. Sofort oder eventuell erst nach
längerer Zeit, wenn der Adressat der Mitteilung wieder online gegangen
ist. Holland vergleicht das mit der Beichtsituation, in der der unsichtbare
Priester auf lange Ausführungen kurz antwortet. Auch auf der Couch des
Psychoanalytikers erlebt man oft, dass der hinter dem Kopfende nicht ge-
sehene Analytiker oft nur kurze Antworten gibt. Manchmal nach einigen
Minuten, manchmal nach langen Pausen. Beide Beziehungsmodi fördern
die Regression zu Abhängigkeit und Phantasien, wie das Internet.
168
Psyche ofine und online
15
„The Online Disinhibition Effect“ in Suler, 1999. Das Problem bei der Realitätswahr-
nehmung besteht überwiegend darin, dass Fiktion für real gehalten wird. Das Umge-
kehrte kommt allerdings oft auch vor. So gibt es heute noch Menschen, die die Landung
auf dem Mond für eine Fiktion halten. Döring bringt den Sachverhalt auf eine Formel:
Ent-Sinnlichung, Ent-Räumlichung, Ent-Zeitlichung ergeben Entwirklichung Döring,
2003, S. 210
16
Zu dieser Feststellung kommen die meisten Autoren, die sich mit den psychologischen
Aspekten des Internets befassen. Vergl.: Turkle, 1998, Tisseron, 2008b, Döring, 2003,
Suler, 1999, Palfrey; Gasser, 2010
17
Turkle, 1998, S. 24
169
Psyche ofine und online
18
Leary, 1994. Er erörtert die Auswirkungen dieser Auffassungen auf psychoanalytische
Theorie.
19
Tisseron, 2010, S. 202 f. Zur „als ob“ Persönlichkeit siehe oben.
20
Siehe dazu die oben von Spanudis beschriebene, für den potentiellen Verwahrlosten ty-
pische Reaktion der Spaltung anstelle von Verdrängung und die Bedeutung die Kernberg
Spaltung bestimmten narzisstischen Störungen zuschreibt.
170
Psyche ofine und online
ckiert und in anderen befreit.“21 Das macht verständlich, dass viele Kin-
der und Erwachsene ganz plötzlich und brutal und ohne Schuldgefühle von
der Akzeptierung sozialer Regeln zu ihrer völligen Missachtung übergehen
können. Auf diese Weise kommen Persönlichkeiten mit multiplen Facet-
ten zustande. Wie ich oben gezeigt habe, hat Aichhorn Spaltung des Ichs,
d.h. das Fehlen der einheitlichen Entwicklung, für eine Eigenschaft jedes
Verwahrlosten gehalten.
Eine besondere Variante dieser Spaltung ndet sich bei rechtsradikalen
„Glatzen“, die sich in unserer Gesellschaft der unbeständigen Werte be-
wusst für unmoralisches Verhalten entscheiden. Sie wollen nicht aus dem
„normalen“ Leben aussteigen, aber aus den dazugehörigen Werten.22 Ei-
nerseits suchen sie das Leben in geordneten Verhältnissen mit Beruf und
Karriere, Kleinfamilie und Konsum, akzeptieren somit die äußeren Formen
der Sozialisation. Andererseits sind sie „demonstrativ gewalttätig und bö-
se. Sie umgeben sich mit einem Habitus, der empndungslos machen soll.
Springerstiefel und Glatze signalisieren Kälte und Brutalität. Ihre Träger
wollen durch die moralische Realität der Gesellschaft nicht mehr zu er-
reichen sein. Sie entziehen sich der Ansprache durch Sprachlosigkeit. Sie
schütten sich mit Alkohol zu, um sich für die eigenen Gefühle unerreichbar
zu machen.“ Als „knallharte Realisten der Normalität“ leben sie einerseits
angepasst, andererseits verweigern sie sich einem moralischen Leben, „das
sie als pures Geschwätz empnden.“ Würden sie nicht auch immer wieder
straffällig, könnte man sie als Fratzen der knallharten Realisten der ökono-
mischen Realität sehen, die ohne Rücksicht auf Moral und Gefühle, ihre
Geschäftsentscheidungen ausschließlich nach ökonomischem Kalkül tref-
fen.23 Sie wechseln z.B. Wirtschaftsstandorte einzig und allein nach Krite-
rien der Rentabilität und nehmen die Folgen davon, Massenentlassungen,
Arbeitslosigkeit und die sozioökonomische Zerstörung ganzer Regionen,
bedenkenlos in Kauf. Sie beharren auf einer Sparpolitik, die massenhaf-
tes Elend verursacht. Soweit doch Bedenken entstehen, gehört es zum Job,
21
Tisseron, 2010, S. 141f
22
Simon, 1993. Dort auch zum Folgenden. Ein Teil der folgenden Feststellungen gilt nicht
nur für Naziskins, sondern auch für andere gewaltorientierte Gruppierungen.
23
Oder wie es ein Spitzenmanager formuliert hat: „Moral hat nur eine Chance, wenn sie
Gesetz ist oder sich rechnet.“ Damolin, 1990, S. 89
171
Psyche ofine und online
24
Oft ließe sich den Widersprüchen zwischen privat für richtig gehaltenem und dem be-
ruich verlangtem Verhalten nur durch Aufgabe des Berufs ausweichen. Das ist jedoch
normalerweise keine realistische Perspektive. Es wäre jedoch schon viel gewonnen,
wenn die Widersprüche bewusst wahrgenommen und daraus politische Konsequen-
zen gezogen würden. Es gibt zahlreiche Beispiele wie führende Figuren von Politik
und Ökonomie nach ihrem Ausscheiden aus einem Amt in anderen Funktionen einen
Wandel in ihren moralischen Einstellungen vornehmen. So z.B. der ehemalige Verteidi-
gungsminister und spätere Weltbankpräsident Robert McNamara. Häug suchen Spit-
zenmanager auch in spirituellen oder esoterischen, auch religiösen Vergewisserungen
ihr Seelenheil. Damolin, 1990.
172
Verwahrlosung der Sprache
Gesellschaftliche Veränderungen, politische Ereignisse, neue Technologien
und andere Phänomene von Bedeutung für den Alltag, haben Auswirkun-
gen auf die Alltagsprache. Das gilt auch für die Tendenz gesellschaftlicher
Verwahrlosung. Dies im Einzelnen nachzuweisen wäre eine aufwendige
Aufgabe für eine gesonderte Abhandlung.1 Ich begnüge mich mit dem Hin-
weis auf wenige, besonders auffällige Mechanismen, durch die Sprache ge-
zielt beschädigt oder zerstört wird. So vor allem auf den, dass Probleme und
Missstände durch verschiedene Tricks kaschiert werden. Das erfolgt unter
anderem durch den Gebrauch beschönigender Begriffe. Aus den Armen
wird das Prekariat, die reiche Oberschicht wird zur Elite, Alte nennt man
Senioren, aus Entlassungen wird betriebliche Verschlankung, Beitragsan-
passungen sind Beitragserhöhungen, gefährlicher atomarer Müll, für den
bis heute keine dauerhafte Endlagerung gefunden worden ist und im en-
geren Sinne, also für Millionen von Jahren, keine gefunden werden kann,
wird entsorgt, Begleitservice bedeutet Prostitution, dicke Menschen sind
vollschlank, die Putzfrau wird zur Raumpegerin, von Kollateralschäden
wird gesprochen, wenn militärische Schläge, die angeblich mit chirurgi-
scher Präzision ausgeführt werden können, den Tod von Zivilisten verursa-
chen usw. usw. Manche Begriffe haben auf diese Weise einen vollständigen
Bedeutungswandel erfahren. So vor allem der Begriff Reform, der für die
jeweils Betroffenen nichts Gutes bedeutet. Neben Euphemismen trägt auch
der Gebrauch doppelter Verneinungen dazu bei, dass problematische Sach-
verhalte so erwähnt werden können, dass sie weniger anstößig wirken. Das
ist Manipulation durch Sprache. Sie „zielt darauf ab, dass der Sinn für die
Wirklichkeit verloren geht, von der die Rede ist.“2 In der Politik wird sie
systematisch betrieben.
Ein bekanntes Beispiel dafür ist Heiner Geißler, der sich als General-
sekretär der CDU dazu bekannt hat, bestimmte Begriffe müssten politisch
„besetzt“ werden. Um Begriffe „besetzen“ zu können, die auf Grund ihrer
1
Vorbildlich für eine solche Art von Untersuchung wäre die von Korn, 1962
2
Liaudet, 2012, S. 243. Siehe dazu auch Lukscheider, 2008
173
Verwahrlosung der Sprache
Konnotationen eher für den Gebrauch durch den politischen Gegner geeig-
net sind, müssen sie zuerst umdeniert werden. Uske gibt einige Beispiele
für Geißlers Vorgehensweise.3 Er erläutert sie z.B. am Begriff „Solidari-
tät“: „Solidarität ist für uns nicht der Kampfaufruf, mit Gleichgesinnten
die eigenen Interessen durchzusetzen, sondern die Aufforderung füreinan-
der einzustehen.“ Der Begriff, der in der Geschichte der Arbeiterbewegung
gerade beides bedeutete, den gemeinsamen Kampf für die Arbeiterinteres-
sen und die Solidarität, sich gegebenenfalls gegenseitig beizustehen, wird
von Geißler aufgespalten. Der für die CDU-Politik unpassende Teil, der
Kampfaufruf, wird abgespalten und denunziert. Der Rest wird als die wah-
re Bedeutung des Begriffs beibehalten.4 In seiner verstümmelten Form ist er
dann für die Parteipropaganda der CDU brauchbar. Da kann man dann So-
lidarität der „Arbeitsplatzbesitzer“ mit den Arbeitslosen fordern, was nicht
nur angesichts von Massenentlassungen zynisch ist. Es ließen sich andere
Beispiele ähnlicher Art nennen. Sie gehören auch zu den medialen Reali-
tätsinszenierungen des Politikbetriebs in der „Gesellschaft des Spektakels“,
die wesentlich autokratische Herrschaft einer zur absoluten Macht gelang-
ten kapitalistischen Marktwirtschaft ist, und das Ensemble der dazugehö-
rigen Regierungstechniken.5 Es ließen sich auch viele andere Beispiele für
Sprachverhunzung bzw. Sprachverstümmelung nennen, die als unabsichtli-
che Beschädigungen der Sprache Ausdruck einer allgemeinen Verwahrlo-
sung der Sprache sind. Die Gewöhnung daran fällt offensichtlich leicht, da
man in Emails und SMS permanent mit groben Sprachverstümmelungen
konfrontiert wird.
3
Uske, 1986, S. 13 ff.
4
Eine ganzes Wörterbuch mit solchen Bedeutungsveränderungen ist Jogschies, 1987
5
Debord, 1971 (1983), Debord, 1988, S. 12
174
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat
Der Staat, der sich aus systemischen Gründen vom Wohlfahrtsstaat zum
„Sicherheitsstaat“ entwickelt hat, ist schon seit geraumer Zeit ein Über-
wachungsstaat.1 Der Staat, der als neoliberaler „Wettbewerbsstaat“ mehr
oder weniger rigoros eine Politik macht, die an den Interessen des Kapi-
tals orientiert ist, der auf diese Weise dazu beiträgt, dass sich die Schere
zwischen Arm und Reich mehr und mehr öffnet2 , dass Massenentlassun-
gen fast reibungslos durchgesetzt werden können und der durch den Ab-
bau wohlfahrtsstaatlicher Absicherungen dauerhafte soziale Ausgrenzung
schafft, begnügt sich nicht, die soziale Desintegration auf administrativem
Wege repressiv kontrollierend und mit Hilfe seiner manipulativen Mög-
lichkeiten aufzufangen. Er verändert sich in einer Weise, „dass das hervor-
stechende Charakteristikum der aktuellen Veränderungen im Staatsapparat
die Herausbildung, Ausdifferenzierung und Vereinheitlichung umfassender
Kontroll- und Überwachungsnetze ist.“3 Sie können durch die modernen
Möglichkeiten der Datenverarbeitung und -speicherung perfektioniert wer-
den. In jüngster Zeit sind Informationen bekannt geworden, denen zufol-
ge die Kommunikationen der Menschen in den westlichen Staaten, auch
in Deutschland, lückenlos überwacht werden können und tatsächlich über-
wacht werden. Was die Geheimdienste im Geheimen tun, wird nicht aus-
reichend oder gar nicht demokratisch kontrolliert und kann es unter den
gegebenen politischen Voraussetzungen nicht werden.4
1
Sie dazu Hirsch, J., 1980, Hirsch, 1998 und Bölsche, 1979
2
Nach Angaben der OECD wächst in Deutschland die Einkommensungleichheit stär-
ker als in anderen Industrienationen. ZEIT Online 05.12.2011. Im Wirtschaftswunder-
land Deutschland gelten fast 16 Prozent der Bevölkerung als armutsgefährdet. SPIE-
GEL Online 27.03.2012. Siehe dazu auch den Essay „Wachsende Ungleichheit“ von
Hans-Ulrich Wehler in DIE ZEIT vom 07.02.2013
3
Hirsch, J., 1980, S. 96
4
Auch große Unternehmen wie die Bahn, Telekom und Lidl sind in die Schlagzeilen
geraten, weil bekannt wurde, dass sie ihre Mitarbeiter überwachen und ihnen nachspio-
nieren. Es gibt sogar Firmen, die sich nicht mit Überwachung begnügen, sondern auch
Privatdetektive auf Betriebsangehörige ansetzen. SPIEGEL Online 24.7.2009
175
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat
Der Staat ist eigentlich nicht darauf angewiesen, dass bestimmte Nor-
men und Wertorientierungen verinnerlicht werden. In einer Demokratie
könnte er sich mit Konformität in den konventionellen Verkehrsformen des
Alltags und des politischen Lebens begnügen. Aber er will mehr. Er fordert
auch eine politische Loyalität, die sogar mental eingehalten werden soll.
Man kann schon als „Sympathisant“ mit politisch unerwünschten Ideen
Schwierigkeiten mit staatlichen Stellen bekommen. Und da Computer nicht
vergessen, können die Gründe dafür in weiter Vergangenheit liegen. Um
auf abweichendes, nicht angepasstes Verhalten vorbereitet zu sein, strebt
der Staat totale Überwachung an. Dementsprechend ist auch da, wo es sich
nicht um politische Einstellungen handelt, der „Eingriff von Mächten or-
ganisierter Herrschaft in die Privatsphäre so umfassend geworden, dass es
ein privates Leben kaum mehr gibt.“5 Auf diese Weise werden die persön-
lichen Beziehungen, die einen Bereich der Zuucht vor dem zunehmend
„kriegerischen und barbarischen“ gesellschaftlichen Leben sein könnten,
selbst koniktgeladen und zu einem Bereich „vehementer Auseinanderset-
zungen“.
Das Ausmaß und die Skrupellosigkeit mit der die Überwachung der
Bevölkerung und des gesamten öffentlichen und privaten Lebens betrie-
ben wird, dieses unberechtigte Eindringen in die persönlichsten Bereiche
der Menschen, sind Symptome von Verwahrlosung. Der Staat, der als wah-
rer Spanner die Privatsphäre seiner Bürger nicht respektiert und es in Un-
mengen Daten protokolliert, wird dadurch auch zu einem verwahrlosenden
„Messie“, weil ein großer Teil der Daten über Personen Datenmüll ist oder
im Laufe der Zeit dazu wird.6 Menschen verändern sich im Laufe ihres Le-
bens, sie sind lernfähig, sie können in ihrem Denken, Fühlen und Verhalten
sich völlig wandeln. Die Daten, die über Saulus gesammelt wurden, besa-
5
Als Lasch dies feststellte war noch nicht bekannt, in welchem Ausmaß der amerika-
nische Geheimdienst NSA und andere Geheimdienste die Privatsphäre entprivatisiert
haben. Lasch, 1979 (1986, S. 47). Dort auch das folgende Zitat.
6
Als Messie-Syndrom wird zwanghaftes Horten von bestimmten oder unterschiedlichs-
ten Dingen bezeichnet. Eine relativ häuge Variante davon ist die Vermüllung von
Wohnungen, deren Bewohner sich nicht dazu überwinden können, irgendwelche Ge-
genstände fortzuwerfen. In psychologischer Perspektive kann das Syndrom als Folge
einer Wertbeimessungsstörung gesehen werden. (siehe Wikipedia „Messie-Syndrom)
176
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat
gen kaum noch etwas über Paulus und erlauben keine Einschätzung, wie
dieser sich unter bestimmten Umständen verhält.
Ein Problem besonderer Art, das nicht die Verwahrlosung des Staates
betrifft, sondern die Verwahrlosung bestimmter Gruppen in der Bevölke-
rung, sind staatliche Sprachregelungen wie z.B. das Verbot der öffentlichen
Leugnung des Holocaust. Solche Verbote der Leugnung von Verbrechen
gegen die Menschlichkeit gibt es in mehreren Ländern. In Frankreich z.B.
darf öffentlich auch nicht darauf beharrt werden, der Ende des 19. Jahrhun-
derts zu Unrecht des Hochverrats beschuldigte jüdische Ofzier Dreyfus
sei doch ein Verräter gewesen. In solchen Fällen sieht sich der Staat veran-
lasst, öffentliche Meinungsäußerungen zu verbieten, in denen falsche Be-
hauptungen über bestimmte historische Ereignisse aufgestellt werden, weil
diese Behauptungen, obwohl sie nachweislich falsch sind, nicht quasi von
selbst bedeutungslos sind, sondern problematische Auswirkungen haben.
D.h., was normalerweise für falsche Behauptungen gilt, nämlich dass sie
im Laufe der Zeit nicht mehr aufgestellt werden, weil sie als falsch erkannt
wurden, ergibt sich eben bei manchen nicht. Das gilt vor allem für sol-
che Behauptungen, die rassistische, antisemitische und ausländerfeindliche
Vorurteile bestätigen und verstärken. Aber auch wenn es verständlich ist,
dass der Staat solchen Tendenzen entgegenwirken will, so sind staatliche
Sprachregelungen per se problematisch. Dem Staat kann nicht zugestanden
werden, darüber zu benden, was historische Wahrheit ist.7 Dagegen kann
und muss er durch eine geeignete Maßnahmen dafür sorgen, dass tenden-
ziöser Unsinn der genannten Art gar nicht geglaubt wird.8 Dieses Problem
kann im Übrigen zu Überlegungen führen, wie es um das allgemeine Bil-
dungsniveau der Bevölkerung steht. Das impliziert auch die Frage nach ei-
ner weit verbreiteten geistigen Verwahrlosung.9 Dazu gibt es jedoch keine
brauchbaren Untersuchungen allgemeiner Art.10
7
Siehe den „Appel de Blois“ mehrerer bedeutender Historiker verschiedener Länder. Le
Monde 10.10.2008
8
Bloße Aufklärung allein genügt nicht, insofern der „Unsinn“ mit Vorurteilen verschmol-
zen ist.
9
Die Massenmedien, vor allem das Fernsehen könnten viel zu ihrer Bekämpfung beitra-
gen. Die Zeiten, in denen die dritten Programme der ARD noch quasi aufklärerische
Tendenzen aufwiesen, sind aber längst vorbei.
10
Soweit es Untersuchungen über das historische und politische Wissen von Jugendlichen
177
Überwachung durch einen verwahrlosenden Staat
gibt, sind die Resultate besorgniserregend. Gemessen an den Möglichkeiten der moder-
nen Medien das allgemeine Bildungsniveau zu fördern, sieht es allgemein nicht gut aus.
So ist z.B. das durchschnittliche Niveau von Fernsehsendungen in den meisten europäi-
schen Ländern sehr niedrig. In Deutschland ist diesbezüglich die Situation etwas besser,
dank des öffentlich rechtlichen Fernsehens.
178
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
Es genügt nicht, die Verbreitung von subjektiven Verwahrlosungserschei-
nungen wahrzunehmen, zu beschreiben und psychologisch zu verstehen.
Man muss darüber hinaus, im Sinne des Arguments von Arnold Hauser,
ihre gesellschaftlichen Ursachen erkennen, klar benennen und kritisieren,
wenn man über wirkungslose moralische Appelle hinauskommen will. Ei-
nige soziokulturelle bzw. gesellschaftliche Mechanismen, die subjektive
Verwahrlosung fördern, sind leicht wahrnehmbar. Das gilt wesentlich für
die fünf genannten Charakteristika von Verwahrlosung: Mangel an trag-
fähigen Identizierungen, narzisstische und somit lose Objektbeziehun-
gen, Fortbestehen des Primärprozesses, schwaches Über-Ich und extreme
Selbstwertgefühlsschwankungen. Flüchtige Identizierungen und narziss-
tische und lose Objektbeziehungen sind quasi unvermeidlich und überle-
bensnotwendig in einer Gesellschaft, in der die Individuen stets exibel,
mobil und wendig sein müssen. Das Fortbestehen des Primärprozesses wird
durch Infantilisierung, Entmündigung und medienvermittelten Realitätsver-
lust gefördert. Die Abschwächung der ödipalen Konikte und Erziehung
ohne klare moralische Orientierung in einer Gesellschaft, in der der Ehr-
liche der Dumme ist, schwächen das Über-Ich. Und starke Selbstwertge-
fühlsschwankungen werden durch dauernde soziale Unsicherheit (Arbeits-
losigkeit, Umweltgefahren, ökonomische Gefahren) zumindest verstärkt.
Die Frage ist, welche gesellschaftliche „Logik“ die Verhältnisse bestimmt.
Meine Argumentation, dass die gesellschaftliche Verwahrlosung wesent-
lich eine Folge der unaufhaltsamen kapitalistischen Durchdringung aller
Lebensbereiche ist, die alles Moralische permanent in Frage stellt, sowie
bestimmter Eigenschaften der neuen Medien und neuer Möglichkeiten von
Eingriffen in die Reproduktion der Gattung Mensch, ndet in zahlreichen
wissenschaftlichen und nichtwissenschaftlichen Beobachtungen ihre Be-
stätigung.
Ein Essay des Schriftstellers Bodo Kirchhoff z.B. enthält wesentliche
Aspekte – Infantilisierung, Finanzkrise, Medienwirkungen – für eine zu-
treffende Gesellschaftsdiagnose. Sie bleibt aber auf der Ebene von Psycho-
179
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
1
Kirchhoff, 2009
2
Precht, 2010
180
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181
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
182
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
stäblich zum Leben erweckt worden ist und zu etwas wurde, was der ver-
antwortliche Teil seiner Schöpfer niemals wollte.“ Wie weitgehend dieser
Homunkulus psychologisch möglich ist, berücksichtigt er nicht. Auch die
Autoren, auf die er sich beruft, haben offensichtlich ein ökonomistisch ver-
engtes Bild der Menschen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass egoistisches
Handeln nicht nur bedeuten kann, dass der eigene materielle Vorteil ge-
sucht wird. Es kann auch narzisstisch, aus Eigenliebe motiviert sein.8 Man
tut dies und jenes nicht, weil es dem Bild, das man von sich hat nicht ent-
spricht oder weil es dem Bild nicht entspricht, das andere von einem haben
sollen.9 Die „Nummer 2“, die nur aus Eigennutz im Sinne ihrer Schöpfer
handelt, orientiert sich nicht an irgendwelchen Werten, ist also amoralisch.
Für sie gilt die Feststellung einer von Schirrmacher zitierten Juristin: „Der
homo oeconomicus ist ein Soziopath“.10
Bei Schirrmacher nden sich zahlreiche kritische Beobachtungen zur
ökonomischen Kolonialisierung der Lebenswelt, die auch in anderen von
mir berücksichtigten Autoren und generell eher bei als links geltenden Au-
toren zu nden sind. Seine zentrale These, dass Ökonomie und ihre Ge-
dankenmodelle alle gesellschaftlichen Bereiche durchdringen, ist allerdings
keineswegs neu. Er kann jedoch erklären, warum sie in den letzten Jahren
so enorm beschleunigt erfolgte. Er leitet diese Entwicklung aus einer poli-
tischen Konstellation in den 50er Jahren in den USA ab. Die Think tanks
des militärisch-industriellen Komplexes, die nach dem Ende des mit ihrer
Hilfe gewonnenen Kalten Krieges ihr Anwendungsgebiet verloren haben,
haben in der Ökonomie ein neues gefunden. Mit Hilfe von Spieltheorie
und des Einsatzes von Algorithmen haben sie den Informationskapitalis-
mus gestaltet, der aus dem normalen Menschen eine „Nummer 2“ macht.
8
Bzw. aus Liebe, wie Schmideberg gezeigt hat. Siehe oben S. 53
9
Siehe dazu das von Schirrmacher erwähnte Experiment, das in der RAND-Corporation
mit Sekretärinnen gemacht wurde. Es wurde erwartet, dass sie, so wie die Versuchsan-
ordnung gestaltet wurde, sich egoistisch verhalten würden. Stattdessen haben sie mitein-
ander kooperiert. Das Misslingen des Experiments wurde den Sekretärinnen angelastet.
„Sie seien schwache Subjekte, unfähig, der einfachen Grundregel zu folgen, dass ihre
Strategien egoistisch zu sein hatten“ Schirrmacher, 2013, S. 64. Die Möglichkeit, dass
Egoismus auch narzisstisch motiviert sein kann, war den Forschern offensichtlich nicht
klar.
10
Lynn A. Stout
183
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
Der ökonomische Utilitarismus und seine Ursprünge sind aber schon lange
vor Schirrmacher denunziert worden.11 Schirrmacher verdeutlicht jedoch
besonders klar die Gefahren einer Verhaltenssteuerung über die neuen Me-
dien. Handy, PC, Facebook etc. erzwingen quasi bestimmte Verhaltenswei-
sen und ermöglichen vielfältige Varianten von Manipulation der Wahrneh-
mung, Wünsche und Einstellungen. Er übergeht jedoch die Widersprüche,
die sich aus den unmerklichen Zwängen eines durch Algorithmen gesteu-
erten Sozialdarwinismus einerseits und der Ideologie der Selbstverantwort-
lichkeit andererseits ergeben, der zufolge jeder Mensch zum „Manager sei-
nes eigenen Ichs“ werden soll.
Durch seine schonungslose Darlegung der Tatsache, dass im neolibera-
listischen System die viel beschworenen Werte der westlichen Welt ruiniert
werden, auf die Konservative sich gerne berufen, hat sich Schirrmacher
den Ruf eines radikalen Kapitalismuskritikers erworben. Dementsprechend
wären bei ihm radikale systemkritische Ansatzpunkte zur Veränderung der
Verhältnisse zu erwarten, wo er sich auch Gedanken über einen „Ausweg“
aus dem von ihm dargestellten Dilemma macht. Das ist jedoch nicht der
Fall. Seine Kritik endet als intellektuelles Hornberger Schießen: „Nach La-
ge der Dinge kann er (HF: der Ausweg) nur darin bestehen, die Ökonomi-
sierung unseres Lebens von einem mittlerweile fest in die Systeme verdrah-
teten Mechanismus des egoistischen und unaufrichtigen Menschenbildes zu
trennen.“(S. 286) Da kann jeder den Anfang machen: „Vielleicht ist ja ganz
einfach: nicht mitspielen. Jedenfalls nicht nach den Regeln, die „Nummer
2“ uns aufzwingt. Es ist eine Entscheidung, die der Einzelne treffen kann –
und die Politik.“
Tatsächlich gibt es Möglichkeiten, sich der Reduzierung auf einen ganz
egoistischen, protsüchtigen und ängstlichen Charakter zu widersetzen, vor
allem wenn dies nicht nur individuell, sondern in Gemeinschaft mit an-
deren geschieht. Soweit es dazu in unserer Gesellschaft kommt, geschieht
dies in der Regel auf Grund gesellschaftskritischer Einsichten, die nicht nur
11
So von Caillé, 1988. Dieser verweist in historischer Perspektive aber zurecht auch auf
Mandevilles „Bienenfabel“. In ihr wird in satirischer Schärfe ein Bienenvolk dargestellt,
dessen Bienen völlig amoralisch sind, aber wie gerade durch ihre privaten Laster ge-
sellschaftliche Vorteile entstehen. Eine Moralisierung des Bienenvolkes bedeutet seinen
Ruin. Mandeville, 1705
184
Ethos des Sozialen oder Kapitalismuskritik
185
Gesellschaftliche Verwahrlosung und
Realitätsverlust
Wie ich im Anschluss an Georges Devereux dargelegt habe, ist es prinzi-
piell legitim von gesellschaftlicher Verwahrlosung im Sinne einer patho-
logischen Gestörtheit zu sprechen, ohne sich willkürlich auf irgendwel-
che Wertvorstellungen beziehen zu müssen. Tiefgreifende gesellschaftliche
Veränderungen wie die völlige kapitalistische Durchdringung und Kom-
merzialisierung aller gesellschaftlichen Bereiche und als Folge davon die
utilitaristische Relativierung oder Suspendierung aller nicht ökonomisch
begründeten Wertorientierungen, der Ruin bestimmter anthropologischer
Grundlagen und eine Verunsicherung der individuellen und kollektiven
Wahrnehmung von Realität, als Folge einer rasanten und in den Auswir-
kungen bisher nur ansatzweise verstandenen Entwicklung der Medien, sind
ihre wesentlichen Ursachen.
In welchem Ausmaß objektive gesellschaftliche Verwahrlosung auch
subjektive Verwahrlosung im engeren Sinne verursacht, lässt sich jedoch
wie schon erwähnt, nicht angeben. Zum einen deswegen nicht, weil Ver-
wahrlosung auch latent bleiben oder sich kaschiert in psychosomatischen
Symptomen äußern kann. Zum anderen nicht, weil manifestem verwahr-
lostem Verhalten nicht anzusehen ist, ob es die Folge einer Anpassung an
die gegebenen Verhältnisse ist, also adaptive Verwahrlosung, oder die Folge
subjektiver Verwahrlosung, also einer psychischen Disposition. Das wäre in
jedem einzelnen Fall zu klären. Das aber ist schon deswegen nicht möglich,
weil die Psychoanalytiker sich inzwischen an anderen theoretischen Ansät-
zen orientieren. Sie kennen weder den erwachsenen Verwahrlosten noch
Verwahrlosung als „nosologische Einheit zwischen Neurosen und Psycho-
sen“ (Spanudis).
Es ist jedoch wahrscheinlich, dass gesellschaftliche Verwahrlosung
über einen längeren Zeitraum auch bei charakterfesten Menschen psy-
chische Folgen hat. Das Über-Ich kann sich im Laufe eines Lebens än-
dern. Dass gesellschaftliche Verwahrlosung, vermittelt über verschiedene
gesellschaftliche Institutionen, vor allem familiale Sozialisation und Er-
186
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust
187
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust
2
Devereux, Georges, 1939 (1977, S. 233)
3
Schirrmacher, 2013, S. 289
188
Gesellschaftliche Verwahrlosung und Realitätsverlust
189
Verwahrloste in Zeiten enttäuschter Erwartungen
Die psychischen Dispositionen narzisstischer und verwahrloster Menschen
sind viel zu komplex, als dass es realistisch wäre anzunehmen, diese ließen
sich beliebig den Zwängen des ökonomischen Systems und seinen sozialen
und psychologischen Auswirkungen anpassen oder durch die massenhaf-
te Verbreitung von bestimmten Produkten moderner Technologie und Al-
gorithmen steuern. Soweit sie unter den Zwängen leiden, ohne zu durch-
schauen warum, können sie auf verschiedene Arten unangemessen rea-
gieren. Sie können zum Beispiel als sekundäre Neurotiker in Therapien,
Selbsterfahrungsgruppen und spirituellen Praktiken ihr Heil suchen. Sie
können bei rechtsradikalen und fundamentalistischen Gruppierungen ih-
re Enttäuschungen und Ressentiments unterbringen und eventuell sich gar
manifest verwahrlost verhalten. Wenn die Verhältnisse sich aber krisen-
haft rascher verschlechtern, die Schere zwischen Arm und Reich sich wei-
ter öffnet und große Teile der Bevölkerung zunehmend die narzisstischen
Kränkungen erfahren, die mit der Wahrnehmung der ständig wachsenden
sozialen Ungleichheit, der Gefährdung der eigenen sozialen Situation und
der Missachtung jeglichen Privatlebens durch den Staat verbunden sind,
kann es schwierig werden, die entstehenden Reaktionen noch systemisch
aufzufangen und zu neutralisieren. Dies umso mehr, als solche Reaktionen
keineswegs in erkennbarer Beziehung zu ihren eigentlichen Ursachen ste-
hen müssen. Die Psychoanalyse kennt den Mechanismus der Verschiebung
von Unbewusstem. Verdrängtes kann verschoben in ganz andere Bereichen
entstellt zutage treten, so dass seine eigentliche Bedeutung gar nicht er-
kennbar ist. In diesem Sinne interpretiert z.B. Jakob Augstein die Pegida-
Demonstrationen in Deutschland als Reaktionen auf die zunehmende so-
ziale Kälte in einem zunehmend ungerechten Wirtschaftssystem. 1 Dement-
1
Jakob Augstein: „Null Toleranz für Pegida“, SPIEGEL Online 18.12.2014. Angesichts
der vielfachen Zwänge des beruichen und sozialen Alltags ließe sich hier auch eine
andere analoge, weniger tiefgründige Erklärung anführen, die sich in Breuers Beiträgen
zu den „Studien über Hysterie“ ndet. Der Patient, der beim Zahnarzt Schmerzen aus-
halten muss, aber den Kopf nicht bewegen darf, zuckt eben mit den Händen oder Füßen,
an denen die Schmerzen gar nicht lokalisiert sind. Breuer, J.(1895)
190
Verwahrloste in Zeiten enttäuschter Erwartungen
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