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Nibelungenlied

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1 Das Nibelungenlied
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2 Das Nibelungenlied
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5 Mittelhochdeutsch /Neuhochdeutsch
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9 Nach der Handschrift B herausgegeben
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von Ursula Schulze
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Ins Neuhochdeutsche übersetzt und kommentiert
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14 von Siegfried Grosse
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RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 18914
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2010, 2011 Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG,
26
Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
27 Druck und Bindung: Canon Deutschland Business Services GmbH,
28 Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
29 Printed in Germany 2018
30 RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und
31 RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken
32 der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-018914-6
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34 www.reclam.de
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3 Der Nibelunge Nôt
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6 1. Âventiure

1 1. Âventiure
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3 C 1 Uns ist in alten mæren wunders vil geseit 1
4 (1) von helden lobebæren, von grôzer arebeit, 1
5 von fröuden, hôchgezîten, von weinen und von klagen,
6 von küener recken strîten muget ir nu wunder hœren
7 sagen.
8
9
1 E〈z wuohs〉 in Burgonden ein vil edel magedîn, 2

10
(2) daz in allen landen niht schœners mohte sîn, 2

11
Kriemhilt geheizen; si wart ein schœne wîp.
12
dar umbe muosen degene vil verliesen den lîp.
13 2 Ir pflâgen drîe kunege edel und rîch, 4
14 (4) Gunther unde Gêrnôt, di recken lobelich, 3
15 und Gîselher der junge, ein ûzerwelter degen.
16 diu frouwe was ir swester, di fürsten hetens in ir pflegen.
17
18
3 Di herren wâren milte, von arde hôhe erborn, 5

19
(5) mit kraft unmâzen küene, di recken ûzerkorn, 5

20
dâ zen Burgonden, sô was ir lant genant.
21
si frumten starkiu wunder sît in Etzelen lant.
22 4 Ze Wormeze bî dem Rîne si wonten mit ir kraft. 6
23 (6) in diente von ir landen vil stolziu ritterschaft 6
24 mit lobelichen êren unz an ir endes zît.
25 si ersturben sît jæmerliche von zweier edelen frouwen nît.
26
27
5 Ein rîchiu kuneginne, frou Uote ir muoter hiez. 7

28
(7) ir vater der hiez Dancrât, der in diu erbe liez, 4

29
sît nâch sîme lebene, ein ellens rîcher man,
30
der ouch in sîner jugende grôzer êren vil gewan.
31 6 Die drîe kunege wâren, als ich gesaget hân, 8
32 (8) von vil hôhem ellen. in wâren undertân 7
33 ouch di besten recken, von den man hât gesaget,
34 starc und vil küene, in scharpfen strîten unverzaget.
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Kriemhild und der Wormser Hof 7

1 1. Aventiure
2
3 C 1 Uns wird in alten Erzählungen viel Wunderbares berich-
4 tet von berühmten Helden, großer Mühsal, von glücklichen Ta-
5 gen und Festen, von Tränen und Klagen und vom Kampf tapfe-
6 rer Recken könnt Ihr jetzt Erstaunliches erfahren.
7
8
9
1 Es wuchs im Burgundenland ein junges Edelfräulein heran,
10
so schön wie keine andere auf der Welt, Kriemhild hieß sie.
11
Später wurde sie eine schöne Frau. Ihretwegen mussten viele
12
Ritter ihr Leben verlieren.
13 2 Sie beschützten drei edle und mächtige Könige: Gunther
14 und Gernot, hoch angesehene Recken, und der junge Giselher,
15 ein ausgezeichneter Ritter. Kriemhild war ihre Schwester; die
16 Fürsten hatten sie in ihrem fürsorglichen Schutz.
17
18
3 Die Herren waren freigebig, stammten aus hochadligem Ge-
19
schlecht und waren von unermesslicher Kühnheit, kurzum: un-
20
gewöhnliche Recken, da in Burgund, so nannte man ihr Land.
21
Sie vollführten später im Lande Etzels gewaltige Wunder.
22 4 In Worms am Rhein lebten sie mit ihrer Heeresmacht. Ih-
23 nen diente eine stattliche Ritterschaft aus ihrem Land ehrenvoll
24 bis an ihr Lebensende. Sie gingen später am Hass zweier edler
25 Herrinnen kläglich zugrunde.
26
27
5 Frau Ute, eine mächtige Königin, war ihre Mutter. Ihr Vater
28
Dankrat hatte ihnen nach seinem Tode Land und Besitz ver-
29
erbt, ein sehr mutiger Mann, der auch in jungen Jahren großes
30
Ansehen erworben hatte.
31 6 Die drei Könige waren, wie ich gesagt habe, von hoher
32 Kampfbereitschaft. Außerdem waren ihnen die besten Recken
33 untertan, die man als stark, sehr tapfer und mutig in harten
34 Kämpfen bezeichnete.
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Nibelungenlied
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8 1. Âventiure

1 7 Daz was von Tronege Hagene und ouch der 9


2 (9) bruoder sîn, 8
3 Dancwart der vil snelle, von Metzen Ortewîn,
4 di zwêne marcgrâven Gêre und Eckewart,
5 Volkêr von Alzeye, mit ganzem ellen wol bewart.
6
7
8 Rûmolt der kuchenmeister, ein tiuwerlicher degen, 10

8
(10) Sindolt und Hûnolt, dise herren muosen pflegen 9

9
des hoves unt der êren, der drîer kunege man.
10
si heten noch manegen recken, des ich genennen
11
niene kan.
12 9 Dancwart, der was marschalc, dô was der neve sîn 11
13 (11) truhsæze des kuneges, von Metzen Ortewîn. 10
14 Sindolt, der was schenke, ein ûzerwelter degen.
15 Hûnolt was kamerære. si kunden hôher êren pflegen.
16
17
10 Von des hoves krefte und von ir wîten kraft, 12
(12) von ir vil hôhen werdecheit und von ir ritterschaft, 11
18
19
der di herren pflâgen mit vröuden all ir leben,
20
des enkunde iu ze wâre niemen gar ein ende geben.
21 11 In disen hôhen êren troumte Kriemhilde, 13
22 wie si zuge einen valken, starc, schœn und wilde,
(13) 12
23 den ir zwêne aren erkrummen. daz si daz muoste sehen,
24 ir enkunde in dirre werlde leider nimmer geschehen.
25
26
12 Den troum si dô sagete ir muoter Uoten. 14

27
sine kundes niht bescheiden baz der guoten:
(14) 13

28
»der valke, den du ziuhest, daz ist ein edel man.
29
in enwelle got behüeten, du muost in schiere vloren hân.«
30 13 »Waz saget ir mir von manne, vil liebiu muoter mîn? 15
31 âne recken minne, sô wil ich immer sîn.
(15) 14
32 sus schœn ich wil belîben unz an mînen tôt,
33 daz ich von mannes minne sol gewinnen nimmer nôt.«
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Kriemhild und der Wormser Hof 9

1 7 Das waren Hagen von Tronje und auch sein Bruder, der
2 sehr gewandte Dankwart, Ortwin von Metz, die beiden Mark-
3 grafen Gere und Eckewart und Volker von Alzey, voll im Be-
4 sitz seiner ganzen Kraft.
5
6
7
8 Der Küchenmeister Rumold, ein vortrefflicher Mann, Sin-
8
dold und Hunold waren als Gefolgsmänner der drei Könige für
9
die Hofhaltung und ihren Glanz verantwortlich. Dazu gehör-
10
ten noch viele erprobte Recken, die ich nicht alle namentlich
11
aufzählen kann.
12 9 Dankwart war Stallmeister, der mit ihm verwandte Ortwin
13 von Metz Truchsess des Königs. Der hervorragende Sindold
14 war Mundschenk. Hunold war Kämmerer. Sie alle verstanden
15 es, das hohe Ansehen des Hofes zu hüten.
16
17
10 Von der Wichtigkeit dieses Hofes, der weiten Wertschät-
18
zung seiner Bewohner und ihrer Ritterlichkeit, die diese Her-
19
ren lebenslang in froher Geselligkeit pflegten, könnte Euch be-
20
stimmt niemand alles berichten.
21 11 Mitten in dieser höfischen Pracht träumte Kriemhild, wie
22 sie einen schönen, starken und wilden Falken abrichtete, den
23 ihr zwei Adler schlugen. Dass sie dies mit ansehen musste!
24 Kein größeres Leid hätte ihr auf dieser Welt zustoßen können.
25
26
12 Den Traum erzählte sie ihrer Mutter Ute. Sie konnte der
27
geliebten Tochter keine günstigere Deutung geben: »Der Falke,
28
den Du aufziehst, der ist ein Edelmann. Wenn Gott ihn nicht
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beschützt, wirst Du ihn schnell verlieren müssen.«
30 13 »Was redet Ihr mir von einem Mann, liebste Mutter? Auf
31 die Liebe eines Recken will ich immer verzichten. Ich will so
32 schön bis an meinen Tod bleiben, so dass ich von der Liebe ei-
33 nes Mannes niemals Leid erfahren werde.«
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10 2. Âventiure

1 14 »Nu versprich ez niht ze sêre«, sprach aber ir 16


2 (16) muoter dô. 15
3 »soltu immer herzenliche zer werlde werden vrô,
4 daz geschiht von mannes minne. du wirst ein schœne wîp,
5 ob dir noch got gefüeget eins rehte guoten ritters lîp.«
6
7
15 »Di rede lât belîben«, sprach si, »frouwe mîn, 17

8
ez ist an manegen wîben vil dicke worden schîn,
(17) 16

9
wie liebe mit leide ze jungest lônen kan.
10
ich sol si mîden beide, sône kan mir nimmer missegân.«
11 16 Kriemhilt in ir muote sich minne gar bewac. 18
12 sît lebte diu vil guote vil manegen lieben tac,
(18) 17
13 daz sine wesse niemen, den minnen wolde ir lîp.
14 sît wart si mit êren eins vil küenen recken wîp.
15
16
17 Der was der selbe valke, den si in ir troume sach, 19

17
den ir beschiet ir muoter. wi sêre si daz rach
(19) 18

18
an ir næhsten mâgen, die in sluogen sint.
19
durch sîn eines sterben starp vil maneger muoter kint.
20
21
22
23 2. Âventiure
24
25
18 Dô wuohs in Niderlanden eins vil edelen kuneges 20

26
(20) kint, 19

27
des vater der hiez Sigemunt, sîn muoter Sigelint,
28
in einer rîchen bürge, wîten wol bekant,
29
nidene bî dem Rîne: diu was ze Santen genant.
30 19 Sîvrit was geheizen der snelle degen guot. 22
31 er versuochte vil der rîche durch ellenthaften muot.
(21) 20
32 durch sînes lîbes sterke er reit in menegiu lant.
33 hey, waz er sneller degene sît zen Burgonden vant!
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Nibelungenlied
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Siegfried in Xanten 11

1 14 »Nun widersprich nur nicht zu heftig«, antwortete ihre


2 Mutter da. »Wenn Du jemals auf der Welt sehr glücklich wirst,
3 so geschieht dies allein durch die Liebe eines Mannes. Du wirst
4 eine schöne Frau, wenn Dir Gott einen vorzüglichen Ritter
5 zum Mann bestimmt.«
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7
15 »Bitte sprecht nicht weiter, meine Herrin«, sagte Kriem-
8
hild. »Es hat sich an vielen Frauen sehr oft gezeigt, wie schließ-
9
lich Liebe mit Leid belohnt wird. Ich werde beidem aus dem
10
Weg gehen, dann kann mir niemals etwas Schlimmes zustoßen.«
11 16 Kriemhild verzichtete in Gedanken auf die Liebe. So lebte
12 sie eine ganze Zeit dahin, ohne jemanden kennenzulernen, den
13 sie hätte lieben mögen. Später wurde sie ehrenvoll die Frau ei-
14 nes sehr tapferen Recken.
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17 Der war eben dieser Falke, den sie im Traum gesehen und
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von der Mutter gedeutet bekommen hatte. Wie furchtbar sie
18
das an ihren nächsten Verwandten, die ihn später erschlugen,
19
rächen sollte! Wegen seines Todes allein mussten die Söhne
20
sehr vieler Mütter sterben.
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23 2. Aventiure
24
25
18 Damals wuchs im Niederland der Sohn eines sehr edlen
26
Königs heran, dessen Eltern Siegmund und Sieglinde hießen, in
27
einer mächtigen, weithin bekannten Stadt am Niederrhein: die
28
war Xanten genannt.
29
30 19 Siegfried hieß der vorzügliche, kampfgewandte junge
31 Mann. Er suchte viele Reiche in mutiger Neugier auf. Um seine
32 Kraft zu erproben, ritt er in viele Länder. Und wie viele ritter-
33 lich geübte Gefährten sollte er später im Burgundenland ken-
34 nenlernen!
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12 2. Âventiure

1 20 In sînen besten zîten, bî sînen jungen tagen, 23


2 (22) man mohte michel wunder von Sîvride sagen, 22
3 waz êren an im wüehse und wi schœne was sîn lîp.
4 sît heten in ze minne diu vil wætlichen wîp.
5
6
21 Man zôch in mit dem vlîze, als im daz wol gezam. 24

7
von sîn selbes muote waz tugende er an sich nam!
(23) 23

8
des wurden sît gezieret sînes vater lant,
9
daz man in ze allen dingen sô rehte hêrlichen vant.
10
11 22 Er was nu sô gewachsen, daz er ze hove reit. 25
12 di liute in sâhen gerne. manec frouwe und manec meit –
(24)
13 im wunschten, daz sîn wille in immer trüege dar.
14 holt wurden im genuoge. des wart der herre wol gewar.
15
16
17
23 Vil selten âne huote man rîten lie daz kint. 26

18
in hiez mit kleidern zieren Sigmunt und Siglint.
(25) 24

19
sîn pflâgen ouch di wîsen, den êre was bekant.
20
des moht er wol gewinnen beide liute unde lant.
21
22 24 Nu was er in der sterke, daz er wol wâfen truoc. 27
23 swes er dar zuo bedorfte, des lag an im genuoc.
(26) 25
24 er begunde mit sinnen werben schœniu wîp,
25 di trûten wol mit êren des küenen Sîvrides lîp.
26
27
25 Dô hiez sîn vater Sigmunt kunden sînen man, 28

28
er wolde hôchgezîte mit lieben vriuwenden hân.
(27) 26

29
diu mære man dô fuorte in ander kunege lant.
30
den vremden und den kunden gab er ross und guot
31
gewant.
32 26 Swâ man vant deheinen, der riter solte sîn 29
33 von art der sînen mâge, diu edeln kindelîn,
(28) 27
34 diu ladet man zuo dem lande durch di hôchgezît.
35 mit dem jungen kunege swert genâmen si sît.
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Nibelungenlied
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Siegfried in Xanten 13

1 20 In seiner besten Zeit, als er jung war, konnte man von


2 Siegfried die wunderbarsten Taten berichten, wie sein Ansehen
3 täglich wüchse und wie schön er war. Deshalb fanden ihn spä-
4 ter die hübschen Frauen so begehrenswert.
5
6
21 Man erzog ihn mit der Sorgfalt, die am Hofe üblich war.
7
Aber was entwickelte er auch selbst für glänzende Eigenschaf-
8
ten aus seinen Anlagen heraus! Dadurch wurde später das Land
9
seines Vaters ausgezeichnet, weil man ihn in jeder Hinsicht so
10
hervorragend beurteilte.
11 22 Inzwischen war er für die Teilnahme an der höfischen Ge-
12 sellschaft alt genug geworden. Die Leute sahen ihn gern. Viele
13 Damen und Mädchen wünschten ihm, dass er immer an den
14 Geselligkeiten teilnehmen wolle. Viele waren ihm zugetan. Das
15 merkte der Herr wohl.
16
17
23 Niemals ließ man den Jungen ohne Aufsicht ausreiten.
18
Siegmund und Sieglinde ließen ihn prächtig kleiden. Ihn unter-
19
richteten auch erfahrene Lehrer, die den Sinn der höfischen Er-
20
ziehung kannten. So konnte Siegfried Land und Leute gut für
21
sich gewinnen.
22 24 Bald war er so kräftig, dass er die Waffen zu führen ver-
23 stand. Alles, was er dazu brauchte, besaß er reichlich. Er fing
24 an, schönen Frauen bewusst zu dienen, die ehrenvoll auf seine
25 Werbung eingingen.
26
27
25 Da ließ sein Vater Siegmund seinen Lehnsleuten bekannt
28
machen, er wolle mit lieben Freunden ein Fest feiern. Diese
29
Nachricht brachte man auch in die Länder anderer Könige.
30
Den Auswärtigen und den Einheimischen schenkte er Pferde
31
und gute Ausrüstungen.
32 26 Man lud jeden jungen Edelmann, den man ausfindig
33 machte und der nach dem Stand seiner Familie Ritter werden
34 sollte, ins Land zum Feste ein. Zusammen mit dem jungen Kö-
35 nig empfingen sie später das Schwert.
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14 2. Âventiure

1 27 Von der hôchgezîte man mohte wunder sagen. 30


2 (29) Sigmunt unde Siglint, di mohten wol bejagen 28
3 mit guote michel êre, des teilte vil ir hant.
4 des sach man vil der werden nu zin rîten in daz lant.
5
6
7
28 Vier hundert swertdegene, di solden tragen kleit 31

8
mit samt Sîvride. vil manec schœniu meit
(30) 29

9
von werke was unmüezec, wan si im wâren holt.
10
vil der edelen steine die frouwen leiten in daz golt,
11 29 die si mit borten wolten wurken ûf ir wât 32
12 den jungen stolzen recken, des newas niht rât.
(31) 30
13 der wirt der hiez dô sideln vil manegen küenen man
14 ze einen sunewenden, dâ sîn sun Sîvrid wol riters namen
15 gewan.
16
17
30 Dô gie ze einem münster vil manec rîcher kneht 33
(32) und manec edel riter. di wîsen heten reht, 31
18
19
daz si den tumben dienten, als in was ê getân.
20
si heten kurzewîle und ouch vil maneger vreuden wân.
21
22 31 Got man dô zen êren eine messe sanc. 34
23 dô huop sich von den liuten vil michel der gedranc,
(33) 32
24 dâ si ze riter wurden nâch riterlicher ê
25 mit alsô grôzen êren, daz wætlich immer mêr ergê.
26
27
32 Si liefen, dâ si funden gesatelt manec marc 35

28
in hove Sigmundes. der bûhurt wart sô starc,
(34) 33

29
daz man erdiezen hôrte palas und sal.
30
di hôchgemuoten degene, di heten grôzlichen schal.
31 33 Von wîsen und von tumben man hôrte manegen stôz, 36
32 daz der schefte brechen gein den lüften dôz.
(35) 34
33 trunzûne sach man vliegen für den palas dan
34 von maneges recken hende. daz wart mit vlîze getân.
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Siegfried in Xanten 15

1 27 Von diesem Fest könnte man Wunderbares berichten.


2 Siegmund und Sieglinde verstanden es vorzüglich, mit ihren
3 reichen Geschenken großes Ansehen zu erwerben, wovon sie
4 freigebig austeilten. Deshalb sah man viele angesehene Leute zu
5 ihnen ins Land reiten.
6
7
28 Vierhundert Knappen sollten zusammen mit Siegfried die
8
Ritterkleidung tragen. Viele schöne Mädchen hatten alle Hände
9
voll zu tun, denn sie hatten ihn gern. Die Damen fassten viele
10
Edelsteine in Gold,
11 29 um sie mit Bändern den jungen, stolzen Recken auf der
12 Kleidung zu befestigen, das musste nun einmal so sein. Der
13 Hausherr ließ für die vielen kühnen Männer Sitze zur Sonnen-
14 wendzeit aufstellen, als sein Sohn Siegfried den Rang eines Rit-
15 ters bekam.
16
17
30 Da ging eine große Zahl reicher Knappen und edler Ritter
18
zum Münster. Es war richtig, dass an diesem Tag die Erfahre-
19
nen den Unerfahrenen so dienten, wie es ihnen selbst einmal
20
geschehen war. Sie unterhielten sich gut, und die Erwartung auf
21
vielerlei Freuden stieg.
22 31 Gott zur Ehre sang man da eine Messe. Da entstand unter
23 den Leuten großes Gedränge, als nach ständischem Brauch die
24 Knappen mit so herrlichem Gepränge zu Rittern geschlagen
25 wurden, wie es kaum noch einmal stattfinden dürfte.
26
27
32 Sie liefen zu den vielen schon gesattelten Pferden in Sieg-
28
munds Hof. Der Buhurt wurde so stark, dass man davon Palas
29
und Saal erdröhnen hörte. Die begeisterten Ritter machten be-
30
trächtlichen Lärm.
31 33 Die Erfahrenen und die Neulinge hörte man zusammen-
32 stoßen, so dass das Zersplittern der Lanzenschäfte die Luft mit
33 Getöse erfüllte. Man sah von der Hand vieler Ritter zerbroche-
34 ne Speere nach der Burg hin fliegen. Dies geschah voller Eifer.
35
36
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

16 2. Âventiure

1 34 Der wirt, der bat ez lâzen. dô zôch man diu marc. 37


2 (36) man sach ouch dâ zebrochen vil manege buckel starc, 35
3 vil der edelen steine gevellet ûf daz gras
4 ab liehten schildes spangen. von hürten daz geschehen
5 was.
6
7
35 Dô giengens wirtes geste, dâ man in sitzen riet. 38

8
vil der edelen spîse si von ir müede schiet
(37) 36

9
unt wîn der aller beste, des man in vil getruoc.
10
den vremden und den kunden bôt man êren genuoc.
11
12 36 Swi vil si kurzwîle pflâgen al den tac, 39
13 (38) vil der varender diete ruowe sich bewac. 37
14 si dienten nâch der gâbe, di man dâ rîche vant.
15 des wart mit lobe gezieret allez Sigmundes lant.
16
17
37 Der herre, der hiez lîhen Sîvrit den jungen man 40

18
lant und burge, als er het ê getân.
(39) 38

19
sînen swertgenôzen, den gap dô vil sîn hant.
20
dô liebt in diu reise, daz si kômen in daz lant.
21 38 Diu hôchgezît, diu werte unz an den sibenden tac. 41
22 Siglint diu rîche nâch alten siten pflac
(40) 39
23 durch ir suns liebe teilen rôtez golt.
24 si kundez wol gedienen, daz im di liute wâren holt.
25
26
39 Vil lützel man der varnder armen dâ vant. 42

27
ross und kleider, daz stoub in von der hant,
(41) 40

28
sam si ze lebene heten niht mêr deheinen tac.
29
ich wæn, ie ingesinde sô grôzer milte gepflac.
30
31 40 Mit loblichen êren schiet sich diu hôchgezît. 43
32 von den rîchen herren hôrte man wol sît,
(42) 41
33 daz si den jungen wolden ze eime herren hân.
34 des engerte niht her Sîvrit, der vil wætliche man.
35
36
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

Siegfried in Xanten 17

1 34 Der Hausherr bat das Turnier zu beenden. Da führte man


2 die Pferde fort. Auch viele Schildbuckel sah man zerbrochen,
3 zahlreiche Edelsteine, die beim Aufprall aus den glänzenden
4 Schildspangen gesprungen waren, im Grase liegen. Das war
5 durch das Stoßen geschehen.
6
7
35 Da setzten sich die Gäste des Hausherrn, wo man sie Platz
8
zu nehmen bat. Viele edle Speisen und der allerbeste Wein, wo-
9
von man ihnen reichlich auftrug, vertrieben die Müdigkeit.
10
Man erwies allen, die von nah und fern gekommen waren, gro-
11
ße Ehrerbietung.
12 36 Während sie sich den ganzen Tag über vergnügt die Zeit
13 vertrieben, kamen viele der Fahrenden nicht zur Ruhe. Sie ar-
14 beiteten für Geschenke, die es in reichem Maße gab. So wurde
15 das gesamte Land Siegmunds mit hohem Lob ausgezeichnet.
16
17
37 Der König ließ den jungen Siegfried Länder und Burgen
18
als Lehen verteilen, wie er es früher getan hatte. Siegfried
19
schenkte denen viel, die mit ihm den Ritterschlag empfangen
20
hatten. Da freuten sie sich, in dieses Land gekommen zu sein.
21 38 Das Fest dauerte bis zum siebenten Tag. Die mächtige Kö-
22 nigin Sieglinde verschenkte nach altem Brauch aus Liebe zu ih-
23 rem Sohn rotes Gold. Sie konnte leicht erreichen, dass ihm die
24 Leute freundlich begegneten.
25
26
39 Kein einziger Fahrender blieb unbeschenkt. Pferde und
27
Kleider fielen den Gastgebern wie Staub aus der Hand; so als
28
ob sie nicht länger als nur noch einen Tag zu leben hätten. Ich
29
glaube, dass sich niemals zuvor eine Hofgesellschaft so freige-
30
big gezeigt hat.
31 40 Mit großer gegenseitiger Wertschätzung ging die Festge-
32 sellschaft auseinander. Von den Mächtigen des Landes hat man
33 später wohl gehört, dass sie den jungen Siegfried als ihren
34 Herrn anerkennen wollten. Aber danach drängte sich der statt-
35 liche junge Mann keineswegs.
36
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

18 3. Âventiure

1 41 Sît daz noch beide lebten, Sigmunt und Siglint, 44


2 (43) niht wolde tragen krône ir beider liebez kint. 42
3 doch wolder wesen herre für allen den gewalt,
4 des in den landen vorhte der degen küen und balt.
5
6
7 3. Âventiure
8
9 42 Den herren müeten selten deheiniu herzenleit. 45
10 (44) er hôrte sagen mære, wi ein schœniu meit 44
11 wære in Burgonden, ze wunsche wolgetân,
12 von der er sît vil vreuden und ouch arbeit gewan.
13
14
43 Diu ir unmâzen schœne was vil wîten kunt, 46

15
und ir hôchgemüete zuo der selben stunt
(45) 45

16
an der juncfrouwen sô manec helt ervant.
17
ez ladete vil der geste in daz Gunthers lant.
18 44 Swaz man der werbenden nâch ir minne sach, 47
19 Kriemhilt in ir sinne ir selber nie verjach,
(46) 46
20 daz si deheinen wolde ze eime trûte hân.
21 er was ir noch vil vremde, dem si wart sider undertân.
22
23
45 Dô gedâht ûf hôhe minne daz Siglinde kint. 48

24
ez was ir aller werben wider in ein wint.
(47) 47

25
er mohte wol verdienen schœner frouwen lîp.
26
sît wart diu edele Kriemhilt des küenen Sîvrides wîp.
27 46 Im rieten sîne mâge und genuoge sîne man, 49
28 sît er ûf stæte minne wolde tragen wân,
(48) 48
29 daz er dan eine wurbe, diu im mohte zemen.
30 dô sprach der küene Sîvrit: »sô wil ich Kriemhilden nemen,
31
32
47 die schœnen juncfrouwen von Burgonden lant, 50

33
durch ir unmâzen schœne. daz ist mir wol bekant,
(49) 49

34
nie keiser wart sô rîche, der wolde haben wîp,
35
im zæme wol ze minnen der rîchen kuneginne lîp.«
36
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

Siegfrieds Ankunft in Worms 19

1 41 Solange Siegmund und Sieglinde noch lebten, wollte ihr


2 geliebter Sohn nicht die Krone tragen. Doch war der kühne
3 und mutige Ritter bereit, alle Gewalttaten abzuwehren, die er
4 als Bedrohung des Landes befürchtete.
5
6
7 3. Aventiure
8
9 42 Niemals bedrückte Siegfried irgendein Herzeleid. Er hörte
10 eines Tages, im Burgundenland lebe ein Mädchen von vollkom-
11 mener Schönheit, um ihretwillen sollte er später viel Freude,
12 aber auch Mühsal erleben.
13
14
43 Ihre unbeschreibliche Schönheit war weit und breit be-
15
kannt, und ebenfalls erkannten viele Helden die feine höfische
16
Bildung der jungen Dame. Das lockte zahlreiche Fremde in
17
Gunthers Land.
18 44 Aber welche Ritter man um ihre Liebe auch werben sah,
19 Kriemhild äußerte nie die Absicht, einen von ihnen als Gelieb-
20 ten zu erwählen. Noch sehr fern war ihr derjenige, dem sie spä-
21 ter gehören sollte.
22
23
45 Da dachte Sieglindes Sohn an die hohe Minne. Im Vergleich
24
mit ihm war das Werben aller anderen nichts. Denn er konnte
25
sehr wohl die Aufmerksamkeit schöner Damen wecken. Später
26
wurde die edle Kriemhild die Frau des kühnen Siegfried.
27 46 Da Siegfried sich offenbar fest zu binden hoffte, rieten ihm
28 die Verwandten und viele Gefolgsleute zu einer standesgemä-
29 ßen Heirat. Da antwortete der kühne Siegfried: »So will ich
30 Kriemhild,
31
32
47 die schöne junge Frau aus dem Burgundenland, zur Frau
33
nehmen, wegen ihrer unermesslichen Schönheit. Ich weiß sehr
34
wohl: Auch jedem noch so mächtigen Kaiser würde es gut an-
35
stehen, wenn er eine Frau haben wollte, um die Zuneigung der
36
mächtigen Königin zu werben.«
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

20 3. Âventiure

1 48 Disiu selben mære gehôrte Sigmunt. 51


2 (50) ez reiten sîne liute, dâ von wart im kunt 50
3 der wille sînes kindes was im harte leit,
4 daz er werben wolde di vil hêrlichen meit.
5
6
49 Ez gevriesch ouch Siglint, des edelen kuneges wîp. 52
(51) si hete grôze sorge um ir kindes lîp, 51
7
8
wan si wol erkande Gunthern und sîne man.
9
den gewerp man dem degene sêre leiden began.
10 50 Dô sprach der küene Sîvrit: »vil lieber vater mîn, 53
11 ân edeler frouwen minne wold ich immer sîn,
(52) 52
12 ich enwurbe, dar mîn herze vil grôze liebe hât.
13 swaz iemen reden kunde, des ist dekeiner slahte rât.«
14
15
16
51 »Unt wildu niht erwinden«, sprach der kunec dô, 54

17
»sô bin ich dîns willen wærlichen vrô
(53) 53

18
und wil dirz helfen enden, sô ich aller beste kan.
19
doch hât der kunec Gunther vil manegen hôchferten man.
20 52 Ob ez ander niemen wære wan Hagene der degen, 55
21 der kan mit ubermüete der hôchverte pflegen,
(54) 54
22 daz ich des sêre fürhte, ez mug uns werden leit,
23 ob wir werben wellen di vil hêrlichen meit.«
24
25
53 »Waz mac uns daz gewerren?«, sprach dô Sîvrit, 56

26
»swaz ich friuwentliche niht ab in erbit,
(55) 55

27
daz mac sus erwerben mit ellen dâ mîn hant.
28
ich trûwe an in ertwingen beide liute und lant.«
29 54 Dô sprach der furste Sigmunt: »dîn rede, diu ist 57
30 (56) mir leit. 56
31 wan würden disiu mære ze Rîne geseit,
32 dune dorftest nimmer gerîten in daz lant.
33 Gunther und Gêrnôt, di sint mir lange bekant.
34
35
36
Nibelungenlied
8.3.18 V:/018914_Das_Nibelungenlied/4_Herstellung/4_1_Innenteil/4_1_2_Nachauf-

Siegfrieds Ankunft in Worms 21

1 48 Das hörte Siegmund. Seine Leute redeten darüber, wo-


2 durch ihm die Absicht seines Sohnes bekannt wurde und sehr
3 schmerzlich war, dass Siegfried gerade um dieses wunderschöne
4 Mädchen werben wollte.
5
6
49 Auch Sieglinde, die Gemahlin des edlen Königs, hörte da-
7
von. Sie machte sich große Sorgen um ihren Sohn, denn sie
8
kannte Gunther und seine Leute genau. So begann man, dem
9
jungen Ritter seinen Plan sehr zu verleiden.
10 50 Da sagte der tapfere Siegfried: »Mein lieber Vater, ich
11 wollte eher auf die Liebe edler Damen verzichten, wenn ich
12 meine Werbung nicht dort vorbringen kann, wo mein Herz
13 große Liebe empfindet. Alles, was jemand dagegen einwenden
14 könnte, ist kein geeigneter Rat.«
15
16
51 »Wenn Du also nicht davon ablassen willst«, erwiderte da
17
der König, »so freue ich mich wahrlich über Deinen Ent-
18
schluss, und ich will Dir helfen, das Ziel zu erreichen, so gut
19
ich kann. Doch König Gunther hat viele stolze Gefolgsleute.
20 52 Wenn allein niemand weiter da wäre als Hagen, der Ritter,
21 der den Übermut bis zur Hoffart treiben kann, so dass ich
22 durchaus fürchte, es könnte uns schmerzhaftes Leid entstehen,
23 wenn wir um das wunderschöne Mädchen werben wollen.«
24
25
53 »Wieso kann uns das stören?«, fragte Siegfried darauf.
26
»Alles, was ich im Guten bei ihnen nicht erreiche, das kann uns
27
mit Kraft meine Hand erwerben. Ich traue mir zu, ihnen Land
28
und Leute gewaltsam zu nehmen.«
29 54 Da antwortete Siegmund, der Fürst: »Solche Rede mag ich
30 nicht; denn wenn man davon etwas in Worms am Rhein erfüh-
31 re, dürftest Du niemals dieses Land betreten. Ich kenne Gun-
32 ther und Gernot seit langem.
33
34
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36
Nibelungenlied
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22 3. Âventiure

1 55 Mit gewalte niemen erwerben mac di maget«, 58


2 (57) sô sprach der kunec Sigmunt, »daz ist mir wol gesaget. 57
3 wilt aber du mit recken rîten in daz lant,
4 ob wir iht haben vriuwende, di werdent schiere
5 besant.«
6
7
56 »Des enist mir niht ze muote«, sprach aber Sîvrit, 59
(58) »daz mir sulen recken ze Rîne volgen mit 58
8
9
durch deheine hervart, daz wære mir vil leit,
10
dâ mit ich solde ertwingen di vil wætlichen meit.
11 57 Si mac wol sus erwerben dâ mîn eines hant. 60
12 ich wil selbe zwelfte in Gunthers lant.
(59) 59
13 dar sult ir mir helfen, vater Sigmunt.«
14 dô gap man sînen degenen ze kleidern grâ und bunt.
15
16
58 Dô vernam ouch disiu mære sîn muoter Siglint. 61

17
si begunde trûren um ir liebez kint.
(60) 60

18
daz vorhte si verliesen von Gunthers man.
19
diu edele kuneginne vil sêre weinen began.
20 59 Sîvrit der herre gie, dâ er si sach. 62
21 wider sîne muoter er güetliche sprach:
(61) 61
22 »frouwe, ir sult niht weinen durch den willen mîn.
23 jâ wil ich ân sorge vor allen wîganden sîn.
24
25
60 Und helfet mir der reise in Burgonden lant, 63

26
daz ich und mîne recken haben sölch gewant,
(62) 62

27
daz alsô stolze helde mit êren mugen tragen.
28
des wil ich iu genâde mit triuwen wærlichen sagen.«
29 61 »Sît du niht wil erwinden«, sprach frou Siglint, 64
30 »sô hilf ich dir der reise, mîn einigez kint,
(63) 63
31 mit der besten wæte, di riter ie getruoc,
32 dir und dînen gesellen. ir sult ir füeren genuoc.«
33
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36
Nibelungenlied
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Siegfrieds Ankunft in Worms 23

1 55 Mit Gewalt kann niemand das Mädchen bekommen«, so


2 sagte König Siegmund, »das weiß ich genau. Wenn Du aber zu-
3 sammen mit Recken dorthin reiten willst, so können wir die
4 Freunde, die wir haben, schnell holen lassen.«
5
6
7
56 »Ich habe nicht vor«, entgegnete Siegfried, »mich wie auf
8
einem Kriegszug von Recken nach Worms begleiten zu lassen,
9
um – was mir sehr leid täte – das wunderschöne Mädchen mit
10
Gewalt zu erobern.
11 57 Sie zu erwerben, traue ich mir ganz allein zu. Ich will mit
12 elf Begleitern in Gunthers Land reiten. Helft mir dabei, Vater
13 Siegmund.« Da stattete man seine Begleiter mit grauen und
14 bunten pelzverbrämten Kleidern aus.
15
16
58 Da hörte auch seine Mutter Sieglinde von den Vorberei-
17
tungen. Sie begann, sich um ihren geliebten Sohn zu sorgen. Sie
18
fürchtete, ihn durch Gunthers Männer zu verlieren. Die edle
19
Königin fing an, sehr zu weinen.
20 59 Herr Siegfried sah nach ihr und sagte liebevoll zu seiner
21 Mutter: »Herrin, Ihr sollt meinetwegen nicht weinen. Wahrhaf-
22 tig, ich werde mich vor keinem Kämpfer fürchten.
23
24
25
60 Helft mir bei der Reisevorbereitung ins Burgundenland,
26
damit ich und meine Recken solche Kleidung bekommen, die
27
stolze Krieger ehrenvoll tragen können. Dafür will ich Euch
28
aufrichtig dankbar sein.«
29 61 »Da Du Deinen Plan nicht aufgeben willst«, sagte Frau
30 Sieglinde, »so helfe ich Dir, die Reise vorzubereiten, mein ein-
31 ziges Kind, und zwar mit der besten Kleidung für Dich und
32 Deine Gesellen, die je ein Ritter getragen hat. Ihr werdet genug
33 davon mitnehmen.«
34
35
36
Nibelungenlied
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24 3. Âventiure

1 62 Dô neic der kuneginne Sîvrit, der junge man. 65


2 (64) er sprach: »ich wil zer verte niemen mêr hân 64
3 niuwan zwelf recken. den sol man prüeven wât.
4 ich wil daz sehen gerne, wiez um Kriemhilde stât.«
5
6
63 Dô sâzen schœne frouwen naht und tac, 66

7
daz lützel ir deheiniu ruowe gepflac,
(65) 65

8
unze man geworhte di Sîvrids wât.
9
er wolde sîner reise haben deheiner slahte rât.
10 64 Sîn vater hiez im zieren sîn riterlich gewant, 67
11 (66) dâ mit er wolde rûmen daz Sigmunds lant, 66
12 und ir vil liehten brünne, di wurden ouch bereit,
13 und ir vesten helme, ir schilde schœn und breit.
14
15
65 Dô nâhet in ir reise zen Burgonden dan. 68

16
um si begunde sorgen wîb und man,
(67) 67

17
ob si immer komen solden heim wider in daz lant.
18
di helde in hiezen soumen beide wâfen und gewant.
19 66 Ir ross, diu wâren schœne, ir gereite goldes rôt. 69
20 lebt iemen ubermüeter, des enwas niht nôt,
(68) 68
21 denne wære Sîvrit und di sîne man.
22 urloubes er dô gerte zuo den Burgonden dan.
23
24
67 〈I〉n werten trûreclichen der kunec und sîn wîp. 70

25
er trôste minneclichen dô ir beider lîp.
(69) 69

26
er sprach: »ir sult niht weinen durch den willen mîn.
27
immer âne sorge sult ir mînes lîbes sîn.«
28 68 Ez was leit den recken. ez weinte ouch manec meit. 71
29 ich wæn, in het ir herze rehte daz geseit,
(70) 70
30 daz in sô vil der friuwende dâ von gelæge tôt.
31 von schulden si dô klageten. des gie in wærliche nôt.
32
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Siegfrieds Ankunft in Worms 25

1 62 Da verneigte sich Siegfried, der junge Mann, vor der Köni-


2 gin und sagte: »Ich will, dass wir auf der Fahrt nicht mehr als
3 zwölf Recken sind. Denen soll man die Kleidung anmessen. Ich
4 will so gerne sehen, wie es um Kriemhild bestellt ist.«
5
6
63 Da saßen schöne Damen Tag und Nacht und gönnten sich
7
keine Ruhe, bis man die Ausrüstung für Siegfried fertiggestellt
8
hatte. Er wollte auf seine Reise keinesfalls verzichten.
9
10 64 Sein Vater ließ ihm seine ritterliche Kleidung kostbar aus-
11 statten, mit der Siegfried Siegmunds Land verlassen wollte, und
12 ihre glänzenden Rüstungen, die festen Helme und die schönen
13 und breiten Schilde wurden bereitgelegt.
14
15
65 Da kam für sie der Tag ihrer Abreise ins Burgundenland.
16
Überall machten sich Frauen und Männer Sorgen, ob die Hel-
17
den jemals wieder in die Heimat zurückkehren würden. Die
18
Helden ließen Waffen und Ausrüstung auf die Saumtiere laden.
19 66 Ihre Pferde waren schön, ihr Reitzeug rot von Gold. Nie-
20 mand hätte einen Grund gehabt, sich selbstsicherer zu fühlen
21 als Siegfried und seine Begleiter. Er bat um Abschied für seine
22 Reise zu den Burgunden.
23
24
67 Den gewährten der König und seine Gemahlin traurig.
25
Siegfried tröstete beide liebevoll. Er sagte: »Ihr sollt meinetwe-
26
gen nicht weinen. Nie braucht Ihr eine Gefahr für mein Leben
27
zu befürchten.«
28 68 Das ging den Recken nahe; auch viele Mädchen weinten.
29 Ich glaube, ihr Herz hatte ihnen richtig vorausgesagt, dass viele
30 ihrer Freunde und Verwandten wegen dieser Reise den Tod
31 finden sollten. Zu Recht klagten sie, sie hatten wirklich Grund
32 dazu.
33
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