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(Eichstätter Philosophische Studien - 5) Michael Maier - Philosophie Der Begegnung - Studien Über Robert Spaemann-Karl Alber (2021)
(Eichstätter Philosophische Studien - 5) Michael Maier - Philosophie Der Begegnung - Studien Über Robert Spaemann-Karl Alber (2021)
EICHSTÄTTER
philosophische
Studien
5
Michael Maier
Philosophie der
Begegnung
Studien über
Robert Spaemann
.
P
EICHSTÄTTER
philosophische
Studien
5
Herausgegeben von
Walter Schweidler und
Markus Riedenauer
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Michael Maier
Philosophie
der
Begegnung
Studien über
Robert Spaemann
https://doi.org/10.5771/9783495825488
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Michael Maier
Philosophy of encounter
Studies about Robert Spaemann
The author:
Michael Maier studied German philology, Slavic philology and philo-
sophy at the Free University of Berlin and Sankt Petersburg State
University. He teaches at a grammar school and a practical school
seminar in Berlin and completed his doctorate at the Catholic Univer-
sity of Eichstätt-Ingolstadt in 2020 with the present thesis.
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Michael Maier
Philosophie der Begegnung
Studien über Robert Spaemann
Der Autor:
Michael Maier studierte Germanistik, Slawistik und Philosophie an
der Freien Universität Berlin und der Staatlichen Universität Sankt
Petersburg. Er unterrichtet an einem Gymnasium und einem Schul-
praktischen Seminar in Berlin und hat mit der vorliegenden Arbeit
2020 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt promo-
viert.
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Zugl.: Dissertation, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2019
Originalausgabe
Printed in Germany
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Danksagung
Ein Buch, das von seinem Autor selbst als Antwort verstanden wird,
verlangt geradezu nach einer Vorrede, in der nach ihrem Ursprung
gefragt wird. Wie viel mehr noch muss das gelten, wenn sich dieses
Buch die Begegnung und unser Hervorgehen aus ihr zum zentralen
Thema macht. Die Suche nach dem Ursprung führt jedoch zwangs-
läufig zu dem Paradox, dass der Anfang weder im Anderen noch in
uns selbst gefunden werden kann, sondern sich entzieht und uns im-
mer wieder auf die Frage selbst zurückwirft.
In dieser Lage bleibt zumindest in der Vorrede nur die Möglich-
keit, die Frage einfacher anzugehen und im Rückblick der Menschen
zu gedenken, die das Werden dieses Buches ermöglicht und befördert
haben.
Von den ersten konkreten Vorüberlegungen bis zur Verteidi-
gung der als Promotionsschrift an der Katholischen Universität Eich-
stätt-Ingolstadt im November 2019 eingereichten Arbeit vergingen
vier Jahre, in denen es mir meine Familie mit viel Verständnis ermög-
lichte, neben einer vollen Berufstätigkeit in der zur Verfügung ste-
henden freien Zeit konzentriert zu arbeiten. Allen voran meiner Frau
gilt daher mein erster Dank. Meinen drei Kindern danke ich für die
von ihnen aufgebrachte Geduld.
Meinem Doktorvater Professor Walter Schweidler danke ich für
seine Offenheit mir gegenüber, die stets treffsicheren und hilfreichen
Hinweise zum Fortgang meiner Arbeit und die inspirierte Atmo-
sphäre in seinen Kolloquien. Professor René Torkler danke ich für
die Übernahme des Korreferats und seine freundliche Beratung. Bei-
den bin ich zusammen mit den Professoren Bernd Birgmeier und
Markus Riedenauer dankbar für die Durchführung meiner Disputa-
tion als Präsenzveranstaltung in der Corona-Zeit.
Dass dieses Buch zustande gekommen ist, verdanke ich auch der
Hartnäckigkeit meiner langjährigen Gesprächspartnerin Dr. Irene
Dehmel. Dafür, dass es neben meinen beruflichen Verpflichtungen
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ungestört gedeihen konnte, bin ich meinen Kolleginnen Maria Appel
und Oksana Bieleke zu Dank verpflichtet.
Für die gemeinsamen Gespräche und die schriftliche Korrespon-
denz, die mir halfen, offene Fragen zu klären, danke ich Dr. Lasma
Pirktina, für die Unterstützung in allen organisatorischen Fragen Dr.
Tobias Holischka und für die Hilfe beim Korrekturlesen Dr. Heike
Wapenhans.
Diese Aufzählung ist nicht nur nicht vollständig, sondern krankt
an dem zu Anfang benannten Problem, dass der Wille dankzusagen
uns in eine Denkbewegung verstrickt, die die Möglichkeiten einer
Vorrede überschreitet. Eine Fortsetzung könnte dieser Gedankengang
daher erst nach dem Ende dieses Buches finden.
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Inhaltsverzeichnis
Erster Teil
Explikation des philosophischen Problems der
Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des
Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung . . . . . . . . 28
Zweiter Teil
Die Philosophie der Begegnung
im Werk Robert Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . . 83
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
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Inhaltsverzeichnis
Dritter Teil
Perspektiven der Philosophie der Begegnung . . . . . . 745
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Inhaltsverzeichnis
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963
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Erster Teil
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1 Einführung
Der Begriff der Begegnung kann bislang nicht als ein in der Philo-
sophie etablierter Begriff angesehen werden. Das Historische Wörter-
buch der Philosophie verweist im Begriffsregister 1 vom Stichwort
›Begegnung‹ allein auf den von Michael Theunissen verfassten Arti-
kel über das »Ich-Du-Verhältnis« 2, in dem zunächst festgestellt wird,
dass »[g]enauso landläufig wie der Begriff ›Ich-Du-Verhältnis‹ […]
mittlerweile die mit ihm verknüpften Begriffe ›Begegnung‹ und ›Dia-
log‹ (›dialogisch‹) geworden« 3 seien. Eigens thematisiert wird der Be-
griff hier lediglich im Zusammenhang mit Martin Bubers Hauptwerk
»Ich und Du« 4: »Beherrschend […] ist in ›Ich und Du‹ der Begriff der
Begegnung: was das Grundwort ›Ich-Du‹ meint, wird da abstrakt als
Beziehung und konkret, letztgültig als Begegnung ausgelegt. Bubers
entschiedene Hinwendung zum dialogischen Denken ist eins mit sei-
ner Entdeckung des Begegnungsbegriffs« 5. Martin Buber, der »dem
dialogischen Denken die zugänglichste und auch die phänomenal
reichste Ausgestaltung gegeben« 6 hat, geht in seinem frühen Haupt-
werk »Ich und Du« aus dem Jahre 1923 von einem dualistischen
Schema aus, insofern er zwei Haltungen zur Welt unterscheidet, die
er durch die Grundworte ›Ich-Du‹ und ›Ich-Es‹ bezeichnet. Dem In-
tentionalitätsschema der Transzendentalphilosophie entspricht dabei
das Grundwort ›Ich-Es‹, in Abstoßung von dem Buber das Grundwort
›Ich-Du‹ entfaltet. Während im Grundwort ›Ich-Es‹ ein Subjekt sich
eine gegenständliche Welt erschließt, deren mögliche Gegenstände
als Gegenstände immer schon in einem mittelbaren Verhältnis zum
Subjekt stehen, bezeichnet das Grundwort ›Ich-Du‹ einen Welt-
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1 Einführung
zugang, der nicht auf Konstitution aus der Subjektivität zielt, sondern
aus der Korrelation mit einem Gegenüber hervorgeht. Das ›Du‹ ist
folglich nicht intentionaler Gegenstand, sondern eine jedem Denken
vorausgehende, unmittelbar begegnende Wirklichkeit. Nicht in der
Haltung des ›Ich-Es‹, sondern erst im Beziehungsgeschehen zwischen
einem ›Ich‹ und seinem ›Du‹ ereignet sich Wirklichkeit, kommt das
›Ich‹ überhaupt erst zu sich selbst: »Ich werde am Du; Ich werdend
spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« 7 »Der Mensch
wird am Du zum Ich.« 8 Da Buber die beiden Grundworte gegenüber-
stellt, scheint sich die Bedeutung des ›Ich-Du‹ negativ aus der des
›Ich-Es‹ ableiten zu lassen. Für das Verständnis von Bubers Ansatz
ist es jedoch entscheidend zu sehen, dass das Grundwort ›Ich-Du‹ sich
keineswegs als dialektische Antithese zum Grundwort ›Ich-Es‹ ver-
stehen lässt. Das sprachliche Nebeneinander der Grundworte ›Ich-
Du‹ und ›Ich-Es‹ verdeckt nur auf den ersten Blick die klare Hierar-
chisierung, insofern Bubers Dialogik die intentionale Haltung des
›Ich-Es‹ für einen »aus der dialogischen Beziehung abgeleiteten Mo-
dus des Fremdverstehens und des Seinsverständnisses überhaupt er-
klärt« 9. Das dualistische Haltungsschema macht zwar deutlich, dass
der Zugang zum ›Ich-Du‹ eine Abstoßung vom ›Ich-Es‹ zur Voraus-
setzung hat; mit dieser Abstoßung ist der Zugang jedoch noch nicht
geleistet. Vielmehr bedarf es dazu noch eines weiteren Schrittes, der
im Hinzeigen auf ein konkretes Erleben besteht, das an die Grenze
der Sprache bzw. bei Buber zum Versuch einer poetisierenden Ver-
gegenwärtigung des Uneinholbaren führt. Damit ist zugleich ein
Hinweis darauf gegeben, warum Buber im Allgemeinen als »religiö-
ser Existentialist« 10 aufgefasst und in der akademischen Philosophie
marginalisiert wird. Sein Ausgang vom Erleben eines dialogischen
Begegnungsereignisses, das sich der begrifflichen Erfassung entzieht
und nur durch ein Zeigen vergegenwärtigt werden kann, scheint sein
Denken prinzipiell aus dem Bereich intersubjektiver philosophischer
Verständigung auszugrenzen.
Der Buber-Biograph Gerhard Wehr spricht im Hinblick auf die
Entstehungszeit von Bubers frühem Hauptwerk von den im Zeitgeist
sich öffnenden »Dimensionen der Sprache, des Anredens, des An-
10
Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 675.
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
das Sein dieses Subjekts zu überwinden und den Weg zur Begegnung mit dem Ande-
ren zu öffnen.« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-
Luc Marion, 74.
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1 Einführung
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
zur Sozialontologie der Gegenwart (erste Auflage 1965, zweite, um eine Vorrede ver-
mehrte Auflage 1977) und auf die in Auseinandersetzung mit Theunissens Arbeit
entstandene Studie: Bloch, Jochanan, Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik
Martin Bubers (1977). Darüber hinaus sehr aufschlussreich sind Vorträge und Dis-
kussionen im Rahmen des Kongresses zum 100. Geburtstag Bubers 1978, veröffent-
licht in: Bloch/Gordon (Hrsg.), Martin Buber. Bilanz seines Denkens (1983).
22 Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 229.
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Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 467.
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1 Einführung
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
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Ebd. 85.
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1 Einführung
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Bloch, Die Aporie des Du, 316.
37 Ebd. 285. – Vgl. zum ersten Satz aus Bubers »Ich und Du« – »Die Welt ist dem
Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.« (Buber, Werke I, 79) – fol-
gende Bemerkung Blochs: »Tatsächlich hat sich Buber schon im ersten Satz von ›Ich
und Du‹ verrannt. Aber man muß seine Legitimation sehen: denn die Erfahrung, für
die er zeugt, ist wirklich ›erprobt‹. Er muß auf sie hinzeigen. Und er muß, da er spricht
und ein Buch schreibt, in Begriffsformulierungen auf sie hinzeigen – und damit hat er
sich schon an ihr vergangen. Nur wenn man seine Erfahrung ganz ernst nimmt und
man eben darum seine Begriffe nicht ganz ernst nimmt, kann man dem Zeigen folgen.
Die Aporie des von ihm Vorgetragenen ist notwendig, da die Wirklichkeit, die er zeigt,
aporetisch ist; und sie kann sprachlich gar nicht anders als in der Aporie gezeigt wer-
den.« – Bloch, Die Aporie des Du, 285.
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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
1
Es handelt sich um das Gedicht »Wiederfinden« aus dem »Buch Suleika« des
»Divan«, entstanden am 24. September 1815. – Vgl. Böhler, Poeta Absconditus. Zu
Goethes Gedicht Wiederfinden – von Hofmannsthal her gelesen, 4.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
2
Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83.
3 Michael Böhler weist auf den Unterschied zwischen der Kosmogonie in »Wieder-
finden« und in Goethes Schöpfungsmythos im achten Buch von »Dichtung und
Wahrheit« hin: »Denn dort wird die Expansionsbewegung des Auseinanderstrebens
im Zeichen des Lichts als der Schöpfung ›bessere Hälfte‹ bezeichnet und zur [sic]
›einseitigen Richtung Luzifers‹ in der ›Konzentration‹ auf sich selbst ausschließlich
positiv bewertet – dies in auffallendem Gegensatz zur schmerzvoll vereinsamenden
Wirkung des Auseinanderfliehens der Elemente in der ersten Weltschöpfungsphase
in Wiederfinden.« – Böhler, Poeta Absconditus, 13–14.
4
Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83–84.
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1 Einführung
5 Die in diesen Strophen dargestellte teleologische Verfassung der Natur ist einerseits
in den einzelnen Wesen fundiert und insofern als immanente Teleologie zu bezeich-
nen. Andererseits enthält der zweite Vers der fünften Strophe – »Sucht sich, was sich
angehört,« – doch auch den Anklang an das universalteleologische Bild der Welt als
ökologisches System, so dass eine eindeutige Qualifizierung der teleologischen Vor-
stellung in dem Gedicht nicht möglich ist.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
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1 Einführung
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
9 Vgl. Schweidler/Fritz, Zum Tod des Philosophen Robert Spaemann. Ein katho-
lischer Intellektueller mit ungeheurer Wirkung.
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1 Einführung
der Philosophie Spaemanns noch immer ein Desiderat und der Ver-
such einer solchen stünde vor einer schwierigen Aufgabe:
A full-scale analysis of the outlook and the implications of his thought
is still awaited. This kind of overview is particularly important because
it is impossible to understand one feature of Spaemann’s thought thor-
oughly except in the context of the whole. […] It should be said,
though, that the coherence and complexity of Spaemann’s thought
make it a difficult challenge to provide a comprehensive and systema-
tic account. There is always the danger of losing sight either of the
overall context or of the details and subtle nuances of his philosophy. 10
Spaemann selbst hat kaum Versuche einer Selbstdeutung der Zusam-
menhänge seines Denkens unternommen, das Zaborowski mit einem
Hologramm vergleicht, in dem die Teile und das Ganze einander äh-
neln. 11 Charakteristisch für Spaemanns Philosophieren ist der Essay-
ismus der Form. Nicht nur besteht der weit überwiegende Teil seines
Gesamtwerks aus Essays und Reden, sondern auch seine Hauptwerke
»Glück und Wohlwollen« und »Personen« sind jeweils in relativ selb-
ständige »Versuche« 12 unterteilt. Der Essay, so konstatiert Lothar
Černý, »macht Schluß mit der Philosophie als Schule und Wissen-
schaft und kehrt zurück zu ihrem Eigentlichen, das ihr Name aus-
drückt: zur Liebe der Weisheit nämlich, zur Weisheit, die der Lebens-
erfahrung entspringt und nicht der Gelehrtenstube« 13. Und weiter
bemerkt Černý:
In dieser Wendung zur Erfahrung liegt die Kritik an der abstrakten
Vernunft aus weltoffener Skepsis heraus. Aber im Verzicht auf die
abstrakte Vernunft liegt zugleich die List der Vernunft. Der Verzicht
auf strenge Logik läuft parallel zu einer Haltung, die man fast »epoché«
nennen möchte. Alles wird beobachtet, aber nichts für selbstverständ-
10
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 10–11.
11 Vgl.: »Spaemann’s thought can be compared to a hologram in which the parts
resemble the whole and one another: the components of Spaemann’s philosophy elu-
cidate one another.« – Ebd. 11. – Vgl. auch: »Spaemann’s philosophy is systematic in
that it explores the coherence of different features and areas of reality. However, it is
not systematic in the sense that it develops a closed systematization of reality subject
to a priori principles of, say, subjectivity, of a special political ideology, or the metho-
dology of scientific reasoning.« – Ebd. 12.
12 »Glück und Wohlwollen« (1989) trägt den Untertitel »Versuch über Ethik«, »Per-
sonen« (1996) den Untertitel »Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und
›jemand‹«.
13
Černý, Essay, in: HWPh II, col. 748.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
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1 Einführung
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
mentiert werden. Dem Leser des zweiten Teils dieser Arbeit wird eine
gewisse affirmative Grundhaltung ihres Autors gegenüber dem Den-
ken Spaemanns nicht entgehen, die sich konkret darin zeigt, dass im
diachronen Nachvollzug seiner philosophischen Intentionen weniger
die kritische Auseinandersetzung mit Einzelpositionen als die Suche
nach dem Organisationsprinzip dieses Denkens im Mittelpunkt steht.
Dass sich in dieser Herangehensweise keine unkritische Übernahme
der genannten philosophischen Intentionen verbirgt, soll durch den
expliziten Hinweis auf eine empfundene Übereinstimmung zwischen
dem Autor dieser Arbeit und Robert Spaemann als dem in ihrem
Mittelpunkt stehenden Denker gezeigt werden, wobei anschließend
nach der Bedeutung dieser Übereinstimmung für die Auslegung sei-
nes Werks zu fragen sein wird. Es geht bei dieser Übereinstimmung –
denkbar global – um eine Grundhaltung zur Welt, die als eine be-
stimmte Haltung gegenüber dem Phänomen ›Leben‹ konkretisiert
werden kann. Diese Haltung gewinnt zwar in der Philosophie Bedeu-
tung, geht ihr aber vorauf und kann daher selbst nicht philosophisch
genannt werden. In Frage steht dabei, ob das begegnende Andere –
gemeint ist nicht nur die andere Person, sondern allgemeiner das an-
dere Lebewesen, vielleicht in letzter Verallgemeinerung das Andere
der Begegnung schlechthin – in seiner Gegebenheit für das Subjekt
der Erkenntnis aufgeht oder ob dieses Andere aufgefasst wird als et-
was, das sich immer auch zum Teil verbirgt und das durch das Subjekt
der Erkenntnis nur anerkannt werden kann. Eine etwas vereinfachte
Formulierung der Frage wäre, ob Lebensphänomene prinzipiell der
wissenschaftlichen Erklärbarkeit unterliegen oder ob sie etwas Un-
einholbares sind. In diesen Fragen vertritt Spaemann in seinen Wer-
ken – und es dürfte kaum einen Text von ihm geben, in dem diese
prinzipielle Vorentscheidung nicht zumindest implizit eine Rolle
spielt – eine dezidiert antireduktionistische Haltung, indem er das
Moment des Uneinholbaren im Begegnenden betont. Nun ist diese
Vorentscheidung keineswegs trivial. Spaemann ist in den öffentlichen
Diskursen über Jahrzehnte hinweg vor allen Dingen durch seine nicht
selten polemischen Einlassungen zu ethischen Fragestellungen – zur
Abtreibung, zur Sterbehilfe, zur Nutzung der Kernenergie usw. –
wahrgenommen worden, in denen er sich als überaus streitbarer
Denker gezeigt hat. In ihrem Nachruf in der »Zeit« schrieb Ijoma
Mangold: »Robert Spaemann war ein erbarmungsloser Polemiker,
seine schärfste Waffe war die blitzende Klarheit seiner Argumente.
Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Schaum
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1 Einführung
vor dem Mund seiner Gegner, deren Wut er provoziert hatte, ihn
befriedigte.« 17 Die Stoßrichtung seiner polemischen Haltung ergab
sich dabei sehr oft aus der Ablehnung des Reduktionismus und aus
seinem zentralen Anliegen der »Rettung des Lebendigen« 18. Wenn
man dieses Anliegen mit Spaemann teilt, zeigt sich, dass er genau
genommen nur darin dogmatisch auftritt, dass er Dogmen ablehnt,
und dies in dem exakten Sinn, dass die ständige Inspirationsquelle
seines Denkens und der Ausgangspunkt seines Philosophierens die
Ehrfurcht vor dem Leben ist. Unter diesem entscheidenden Vorzei-
chen seines Denkens vertritt Spaemann eine am ehesten sokratisch zu
nennende Geisteshaltung, in der er aus dem Dialog mit anderen
Positionen seine Gedanken argumentativ entwickelt, ohne diese sei-
nen Gesprächspartnern aufzudrängen. Dabei entstand im Laufe der
Zeit kein Lehrgebäude und kein Spaemann’sches System, sondern
ein äußerst komplexes Gefüge sich wechselseitig stützender Argu-
mente, die im Einzelnen immer dem Widerspruch gegenüber offen
sind. Aus diesem Charakteristikum seines Denkens ergibt sich, dass
man – im Falle der Übereinstimmung mit der benannten Grundüber-
zeugung – in seinen weit verzweigten Gedankenräumen mit Spae-
mann in einen Dialog treten kann, in dem er nicht Lehrmeister,
sondern Geburtshelfer ist, weswegen eine gewisse affirmative
Grundhaltung, die ihm im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ent-
gegengebracht wird, kein Zeichen einer unkritischen Haltung, son-
dern eine Voraussetzung des philosophischen Dialogs ist, die an den
Ursprüngen dessen ansetzt, was als Philosophie verstanden wird.
Nachdem im zweiten Teil das Denken Spaemanns als Philoso-
phie der Begegnung dargestellt wurde, widmet sich der abschließende
dritte Teil auf verschiedenen Ebenen den Perspektiven, die diese Phi-
losophie der Begegnung eröffnet. Zunächst geht es dabei um alter-
native Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk, die erst an dieser
Stelle als Gesamtdeutungen der Spaemann’schen Philosophie be-
trachtet und mit der hier vorgelegten Interpretation verglichen wer-
den. In einem zweiten Schritt geht es um alternative Beiträge zur
Philosophie der Person als dem Thema, durch das Spaemanns Denken
im philosophischen Diskurs der Gegenwart am stärksten verankert
ist. Die personenphilosophischen Konzeptionen anderer Denker wer-
17
Mangold, Freigeist und Polemiker. Zum Tod des großen Philosophen Robert Spae-
mann.
18
Ebd.
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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung
den hier kritisch geprüft und – ähnlich wie im ersten Schritt – in einer
rückläufigen Betrachtung auf die Ergebnisse des zweiten Teils dieser
Arbeit bezogen. In einem dritten Schritt wird schließlich das Fazit
gezogen und ausgehend von der Betrachtung des ›Urphänomens‹ der
Begegnung im Rahmen eines Gedankenexperiments eine letztgültige
Fassung des zentralen Begriffs der Begegnung versucht. Die Arbeit
wird abgeschlossen durch Ausblicke auf mögliche Weiterführungen
des hier entwickelten Ansatzes einer Philosophie der Begegnung.
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2 Die Denkbewegung einer
Philosophie der Begegnung
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und
der verlorene Begriff der Substanz
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
1
Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt.
2 Ebd.
3 Ebd.
κείμενόν ἐστι καθ᾽ οὗ τὰ ἄλλα λέγεται, ἐκεῖνο δ᾽ αὐτὸ μηκέτι κατ᾽ ἄλλου. διὸ
πρῶτον περὶ τούτου διοριστέον· μάλιστα γὰρ δοκεῖ εἶναι οὐσία τὸ ὑποκείμενον
πρῶτον.« – Ebd. 8.
6
Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39–40.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
10 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Substanz.
11 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 362.
13 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 379. – Vgl.: »Wenn also selbst Descartes unter
der unscheinbaren, aber verhängnisvollen Wendung, die das Ego zur substantia cogi-
tans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus macht und zum Ausgangs-
glied für Schlüsse nach dem Kausalprinzip, kurzum der Wendung, durch die er zum
Vater des (wie hier noch nicht sichtlich werden kann) widersinnigen transzendentalen
Realismus geworden ist. All das bleibt uns fern, wenn wir dem Radikalismus der
Selbstbesinnung und somit dem Prinzip reiner Intuition oder Evidenz treu bleiben,
also hier nichts gelten lassen, als was wir auf dem uns durch die ἐποχή eröffneten
Felde des ego cogito wirklich und zunächst ganz unmittelbar gegeben haben, also
nichts zur Aussage bringen, was wir nicht selbst ›sehen‹. Darin hat Descartes gefehlt,
und so kommt es, daß er vor der größten aller Entdeckungen steht, sie in gewisser
Weise schon gemacht hat, und doch ihren eigentlichen Sinn nicht erfaßt, also den
Sinn der transzendentalen Subjektivität, und so das Eingangstor nicht überschreitet,
das in die echte Transzendentalphilosophie hineinleitet.« – Ebd. 63–64.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
15 Lateinisches Original des Zitats und Verweis durch Anmerkung [52] auf die Quelle:
»Omnis res cui inest immediate, ut in subjecto, sive per quam existit aliquid quod
percipimus, hoc est aliqua proprietas, sive qualitas, sive attributum, cujus realis idea
in nobis est, vocatur Substantia«. – Medit. de prima philos. (1641), Rationes Dei exis-
tentiam & animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dispositae,
Def. V, a.O. 7, 161.
16 Verweis durch Anmerkung [53] auf: Entretien avec Burman (1648), lat./dtsch. hg.
18 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Descartes, Meditationes II, 3; Discours IV, 1
u. a.
19
Verweis durch Anmerkung [4]: Vgl. M. Heidegger: Die Frage nach dem Ding
(1967) bes. 76 ff.
20
Verweis durch Anmerkung [5] auf: Descartes, Meditationes II, 1.
48
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.
2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
Op. philos. lat., hg. W. Molesworth (London 1839 ff., ND 1966) 3, 280.
24
Lateinisches Textzitat in Klammern und Verweis durch Anmerkung [66] auf die
Quelle: »subiectum sensionis ipsum est sentiens, nimirum animal«. – Elementorum
philos. sectio prima De corpore IV, 25, 3 (1655), a.O. 319.
25 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380.
27 Verweis durch Anmerkung [60] auf: J. Locke: An essay conc. human underst. II, 23,
29 Ebd.
30
Verweis durch Anmerkung [70] auf: D. Hume: A treat. of human nature I, 4, 3
(1739–40). Philos. works, hg. T. H. Green/T. H. Grose (London 1882 ff., ND 1964) 1,
508.
49
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.
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
dem Ende des 19. Jh. allgemein bekannt, in der Zeit zwischen Descartes und Leibniz,
vielleicht im Zusammenhang mit dem Wechsel vom Lateinischen zu den jeweiligen
Landessprachen, umgekehrt«. – Ebd. col. 373. – Vgl. auch folgende Erläuterung des
Begriffs Subjekt: »im Mittelalter bis zum 18. Jh. gebräuchlich für den vom Erkennen
und Vorstellen unabhängigen Gegenstand, d. h. für das, was jetzt Objekt heißt«. –
Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt. – Vgl. außerdem: »Sub-iectum (auch substratum)
war in der ganzen Scholastik bis hin zu Descartes die Übersetzung für hypokeimenon
und bezeichnete somit den ›Gegenstand‹, die Substanz. Erst nach Descartes – wiewohl
maßgeblich bereits durch ihn bestimmt – vollzieht sich der Wandel des Subjekt-
begriffs zum Subjektiven, zum Ich als dem alleinigen Subjekt – ein Wandel, der sich,
abgesehen von der grammatisch-logischen Terminologie, im Deutschen restlos durch-
gesetzt hat.« – Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39, Fn. 18.
34
Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXII, Fn.
35 Ebd. B XVII.
36
Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 381.
50
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
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eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an
sich selbst ist 43«. 44
Der Ausgang des Denkens bei Kant von der transzendentalen Apper-
zeption steht also durchaus in einem ambivalenten Verhältnis zur
aristotelischen Substantialität, deren Annahme einerseits als Über-
schreitung der Grenzen des Erkennbaren zurückgewiesen wird, deren
regulative Funktion andererseits aber für die Vernunft unverzichtbar
ist. Der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung ist somit im
Ausgang der kantischen Philosophie von der synthetischen Einheit
der Apperzeption bereits enthalten.
Zum Abschluss dieses die weitere Explikation des Problems der
Begegnung einleitenden Gedankengangs soll ein erstes Zwischenfazit
gezogen und der Ausgangspunkt für die Fortführung des Gedankens
bezeichnet werden. Zuvor jedoch ist zu erläutern, warum der knappe
philosophiehistorische Abriss zur Entwicklung des Begriffspaars Sub-
jekt/Substanz nicht über Kant hinaus weitergeführt wird. Im zweiten
Teil der vorliegenden Arbeit wird sich im Rahmen der Untersuchung
der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im
Werk Robert Spaemanns zeigen, dass die wesentlichen Referenz-
punkte, auf die im Zusammenhang mit der Problematisierung des
Subjektbegriffs Bezug zu nehmen sein wird, in dem skizzierten phi-
losophiehistorischen Spektrum zwischen Aristoteles und Kant zu ver-
orten sind. Als Lücke in der bis hierhin durchgeführten Betrachtung
wäre an dieser Stelle am ehesten auf die mittelalterliche Philosophie,
insbesondere Thomas von Aquin als Vermittler zwischen Aristoteles
und der Neuzeit, hinzuweisen. Da Spaemanns Bezugnahmen auf die
nachkantische Philosophie entweder kritischer Art sind oder aber auf
Voraussetzungen aufbauen, die erst im zweiten Teil entwickelt wer-
den, würde eine Betrachtung der Entwicklung des Begriffspaars Sub-
jekt/Substanz im 19. und 20. Jahrhundert für das Anliegen der Expli-
kation des Problems der Begegnung kaum Fortschritte bringen. 45
Rande ein Blick geworfen werden soll, da Spaemann selbst im Rahmen der Entfaltung
von Grundzügen seiner Philosophie in den Essays der 80er Jahre auf sie Bezug nimmt.
In der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« (1807) knüpft Hegel in kritischer
Distanzierung an Spinozas Metaphysik der einen Substanz an und kündigt deren
Übersteigung hin zu einer Metaphysik der Subjektivität an: »Es kömmt nach meiner
Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß,
52
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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz
alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt auf-
zufassen und auszudrücken.« – Hegel, Phänomenologie des Geistes, 13–14. – Das
Subjekt kann nach diesem Plan die Explikation dessen leisten, was die Substanz an
sich bereits war. Dies ist möglich, weil der Geist im Sinne der spekulativen Grundfigur
des Hegel’schen Denkens als Identität von Identität und Nicht-Identität drei Aspekte
umfasst: »Das Ansich oder die Substanz, das Fürsich oder das Subjekt und schließlich
die Bewegung, die Verwandlung von jenem in dieses«. – Trappe, Substanz; Substanz/
Akzidens. IV. 19. und 20. Jh., in: HWPh X, col. 536. – Die Fundierung des Subjekts in
der Substanz ist allerdings in Hegels Denken nur möglich durch einen »Holismus des
Bewußtseins«, die systemtragende Prämisse also, »daß in Wahrheit alles immer schon
im Bewußtsein ist, daß nichts Neues in es hineinkommt und daß es in der Phäno-
menologie des Geistes nur darauf ankommt, das ganz ›für es‹ zu explizieren, was ›an
sich‹ in ihm schon enthalten ist.« – Schnädelbach, G. W. F. Hegel zur Einführung,
157. – Nachdem die Philosophie bereits im 19. Jahrhundertaus diesem »intellektuelle[n]
Traum« – ebd. 166 – erwacht war, wäre eine Anknüpfung an das Hegel’sche Pro-
gramm nur im Zeichen einer völlig anders gearteten Prämisse denkbar. Eine solche
kann in der Überzeugung Spaemanns gesehen werden, wonach das teleologische Na-
turverständnis der Antike unter modernen Denkbedingungen erneuert werden kann.
In der Umsetzung des aus ihr hervorgehenden, sein Denken insgesamt charakterisie-
renden Projekts knüpft Spaemann in gewissem Sinn an Hegel an. Die Aufgabe der
von ihm verfolgten Philosophie wird, wie er mit Bezug auf den zitierten Satz aus der
Vorrede der »Phänomenologie des Geistes« schreibt, »in Abwandlung eines bekann-
ten Hegelwortes wohl so formuliert werden müssen: ›Es kommt darauf an, Subjekte
als Substanzen zu denken.‹« – Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 72–73, vgl.
Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330. – Das Programm der Ge-
dankenentwicklung im zweiten Teil dieser Arbeit ist mit dieser Formulierung bereits
angedeutet.
53
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2.2 Das Denken der Transzendenz und
die Überwindung seiner Negativität
1 Die folgenden Überlegungen zum Begriff der Transzendenz beziehen sich an meh-
reren Stellen auf Wolfgang Struves auf Vorlesungen aus dem Wintersemester 1960/
61 und dem Sommersemester 1966 zurückgehende Buchveröffentlichung »Philo-
sophie und Transzendenz« (1969). – Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs der
Transzendenz bemerkt er: »Transzendenz ist von dem mittellateinischen Substantiv
transcendentia gebildet. Dieses kommt von dem Verbum transcendere, das zusam-
mengefügt ist aus trans und scandere, wobei aber die Bedeutungsmomente der Prä-
position und des Verbums in dem Ausdruck nicht gleichgültig und zufällig neben-
einanderliegen, sondern sich gegenseitig fordern und ergänzen, eine innere Einheit
und Ganzheit bilden. Die Grundbedeutung von trans ist jenseits, über, über-hin(weg),
über-hinaus (französisch: très); die von scandere steigen. Transcendentia heißt also
wörtlich: das Übersteigen, die Übersteigung, der Überstieg.« – Struve, Philosophie
und Transzendenz, 37.
55
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
2
Vgl.: »Transzendenz und Transzendieren können also sowohl die graduelle Trans-
zendenz (ὑφειμένη ὑπεροχή) […] des je höheren Seins über die je untergeordneten
Seinsstufen, und speziell die der höchsten Stufe innerhalb einer kontinuierlichen Stu-
fenfolge des Seins, als auch die absolute Transzendenz (ἐξῃρημένη ὑπεροχή, ὑπερ-
βολή) […] über das Sein schlechthin und im ganzen und das Übersteigen der Totalität
des Seins bedeuten.« – Halfwassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittel-
alter, in: HWPh X, col. 1443.
3
Struve, Philosophie und Transzendenz, 57.
4 Ebd. 23.
5
Ebd. 58.
56
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
von ihm als Immanenzphilosophie heftig kritisierten Denken Hegels, das die Bewußt-
seinsimmanenz alles Wirklichen behaupte und daher das Transzendente leugne […].
Mit ›Transzendenz‹ bezeichnet er die von der Immanenz bzw. der wissenschaftlichen
Totalität qualitativ radikal verschiedene Sphäre des Religiösen, die nur durch die
transzendierende Kraft des Paradoxes und des qualitativen Sprungs des Glaubens (als
Existenzkategorien) erreicht werden kann«. – Enders, Transzendenz; Transzendieren.
II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1448.
9 Struve, Philosophie und Transzendenz, 58. – Struve weist hier darauf hin, dass es
12
Bloch, Die Aporie des Du, 285.
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
16 Vgl.: »Das lateinische Verb ›transcendere‹ bzw. das Partizip ›transcendens‹ dienen
bei Augustinus als Äquivalent für Plotins Termini ἀναχθῆναι, ἀναβαίνειν und ἀνα-
βεβηκός […], womit Augustin wahrscheinlich der (verlorenen) Plotin-Übersetzung
des Marius Victorinus folgt […]; seit Johannes Scotus Eriugenas Übersetzung der
Schriften des PS.-Dionysius Areopagita dienen sie dann auch zur Übersetzung von
μεταβαίνειν […], διαβαίνειν […], μεταταχθῆναι […] und παρατραπῆναι […],
seit Ambrosius Traversari auch zur Übersetzung von ὑπέρ und Zusammensetzungen
damit […], bes. ὑπερέχειν […], ὑπερβαίνειν […], ὑπερβεβηκός […], ὑπερβάλ-
λειν […], ὑπερκείμενος […], ferner von ἐξῃρημένος […] und ἐπέκεινα […], seit
M. Ficino ferner zur Übersetzung von ὑπεριδρύεσθαι […] und seit B. Cordier auch
zur Übersetzung von ἐκβεβηκός […], ἐπιβεβηκός […] und κρεῖττον […].« – Half-
wassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittelalter, in: HWPh X, col. 1442–
1443.
17 Struve, Philosophie und Transzendenz, 13.
18
Hager, Natur. I. Antike, in: HWPh VI, col. 421.
59
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
30 Vgl.: »Man kann nicht dadurch, daß man auf etwas reflektiert, den reflektierten
Sachverhalt überhaupt erst zu Bewußtsein bringen. Reflexion ist zumindest eine ge-
zielte Aktivität. Das, was durch sie zum ausdrücklichen Bewußtsein gebracht werden
soll, muß wenigstens implizit bereits gegenwärtig sein, so daß es einen Akt der Re-
flexion auslösen kann, der im Blick auf es erfolgt. Reflexion ist nicht nur ein zufälliges
Auftreten konzentrierten Bewußtseins auf irgendeinen Sachverhalt. Sie setzt voraus,
daß dieser Sachverhalt auffällig geworden ist und Spannungen erzeugt hat, welche die
Konzentration des Bewußtseins auf ihn veranlassen oder erzwingen. Für die Refle-
xionstheorie des Selbstbewußtseins muß dieser Sachverhalt natürlich das Subjekt des
Selbstbewußtseins sein. Somit ist in der Reflexion ein Bewußtsein des Subjekts vo-
rausgesetzt. Die Reflexionstheorie kann also allenfalls explizite Selbsterfahrung,
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
xionstheorie ist vorläufig 31 nur durch den Sprung in eine andere Be-
trachtungsweise zu entgehen, der praktisch möglich ist, da die Ver-
nunft, insofern sie Transzendieren der Natur ist, selbst natürlich ist,
da die Natur also, wie aus dem Schema hervorgeht, ihrerseits auf das
Transzendieren ihrer selbst angelegt ist und sich der Vernunft als
ihres Organs bedient. Unser Verhältnis zur eigenen Natur zwingt
also aus der Subjektperspektive zur Annahme eines für unser
Selbstverständnis konstitutiven Präreflexiven, zu dem wir nur einen
indirekten Zugang haben, insofern wir von jeder Vorstellung, die
wir uns davon bilden, hypothetisch ihr Gedachtsein abziehen müss-
ten, um das ihr Zugrundeliegende denken zu können. Im Hinblick
auf unser Selbstverständnis ergibt sich somit ein prinzipieller Vor-
behalt, dass wir uns selbst nur adäquat verstehen könnten, wenn wir
in der Selbstverständigung reflektieren auf das sich uns in uns Ent-
ziehende. 32 Während aus der theoretischen Perspektive des Subjekts
nicht aber Selbstbewußtsein als solches erklären, ob sie nun Reflexion als Akt des Ich
auffaßt oder nicht.« – Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theo-
rie, 265–266.
31 Der vorliegende Gedankengang ist auf dem Weg zum Ereignis der Begegnung und
Fn. 30), wenn er schreibt: »Um zu einer Identifikation mit sich selber zu kommen,
muß das Subjekt nämlich schon wissen, unter welchen Bedingungen es etwas, dem
es begegnet oder mit dem es vertraut ist, sich selber zuschreiben kann. Diese Erkennt-
nis kann es niemals durch Selbstbeziehung allererst gewinnen. Sie muß als Wissens-
bestand jeder Reflexion einer Tätigkeit auf sich vorausgehen.« – Henrich, Selbst-
bewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, 267. – Henrich unterscheidet
Bewusstsein und Selbstbewusstsein bzw. Reflexivität – vgl.: »der Gedanke vom Be-
wußtsein als ichlosem Grund des Selbstbewußtseins«, ebd. 282 – in einer Art und
Weise, die durchaus in einer Nähe zur hier vorgenommenen Differenzierung zwi-
schen dem Horizont des Vernünftigen und dem Bereich der Intentionalität steht, vgl.:
»Läßt man die Hilfe einer Metapher zu, so ist man versucht zu sagen, daß das Be-
wußtsein eher von sich einen Zugang zu uns hat, als daß es ein Verfahren geben
könnte, mittels dessen wir es uns zugänglich machen können.« – Ebd. 271. – Vgl.
ebenso: »Bewußtsein ist ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen voran-
gehen muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt.« – Ebd. 275.
64
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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität
Ethik, 415–508.
67
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und
die Freiheit im Ereignis der Begegnung
1 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 165. – Hegel zi-
tiert hier frei Spinoza und verweist als Quelle auf: Spinoza, Epistola 50, wo dieser
Satz sich aber nicht im Wortlaut findet.
2
Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.
68
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
3
Vgl. Kapitel 8, Die Ontologie der Person, 509–650.
69
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
durch, dass sie sich als absolute Vernunft und das Selbst als ihre In-
stantiierung begreift. Unter der Prämisse der Fundierung der Ver-
nunft in der teleologisch verstandenen Natur ist diese autonome Ver-
nunft ein Selbstmissverständnis, das immer in dem Widerspruch lebt,
den natürlichen Richtungssinn, aus dem sie hervorgegangen ist, in
sich selbst zurückzubiegen. Die andere Interpretation der Exzentrizi-
tät, die hier als personaler Standpunkt bezeichnet wird, reflektiert auf
den Ursprung des Richtungssinns der natürlichen Vernunft in der
menschlichen Natur. Die exzentrische Positionalität wird somit als
›Haben einer Natur‹ verstanden, durch das sowohl ausgedrückt wird,
dass sie über die Zentralität des natürlichen Lebewesens hinaus ist, als
auch, dass sie nur aus dem Richtungssinn dieses natürlichen Wesens
hervorgeht. Die erste wesentliche Differenz zum Standpunkt der au-
tonomen Vernunft besteht also darin, dass die Personalität sich nicht
als Anfang und Ausgangspunkt verstehen kann, sondern sich selbst
aus ihrer Relationalität zu ihrer Natur versteht. Das personale Über-
die-Natur-hinaus-Sein füllt sich inhaltlich aber erst durch Akte der
Erkenntnis des Transzendenten. Wenngleich die Standpunkte der au-
tonomen Vernunft und der Personalität also zu extensionaler Kon-
gruenz tendieren, ist der wesentliche Unterschied zwischen ihnen
ein intensionaler, 5 insofern der Richtungssinn der Vernunft dort auf
die abstrakte Entität eines Selbst zurückgelenkt wird, während er hier
auf ein Zentrum der Bedeutsamkeit außerhalb des eigenen Horizonts
verweist.
Was den personalen Standpunkt von der autonomen Vernunft
vor allen Dingen unterscheidet, ist sein Weltverhältnis. Streng ge-
nommen kann in Bezug auf die autonome Vernunft von einem Welt-
verhältnis gar nicht die Rede sein, da es für diese keine Welt jenseits
des transzendentalen Bewusstseins des Subjekts gibt. Vom persona-
len Standpunkt aus geht es nicht um eine im transzendentalen Be-
wusstsein konstituierte Welt, sondern ganz wesentlich um das Ver-
hältnis zu einem Transzendenten. Das erste Transzendente ist vom
personalen Standpunkt aus die eigene Natur. Insofern diese als eine
solche begriffen wird, die durch die Vernunft uns in uns immer schon
voraus ist, ist sie wesentlich ein Uneinholbares. Das Verhältnis zur
eigenen Natur steht modellhaft für das personale Weltverhältnis
5
Vgl.: »Unter der Extension eines Begriffes versteht man den Begriffsumfang im
Unterschied zur Intension als dem Begriffsinhalt.« – Kauppi, Extension/Intension,
in: HWPh II, col. 878.
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
6 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in:
was auch anders möglich ist. Und es ist auch anders möglich, weil es im Sinne klassi-
scher Ontologie keinen notwendigen Existenzgrund hat.« – Makropoulos, Moderni-
tät als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, 59. – Vgl. auch: »Strenggenom-
men ist ›Kontingenz‹ eine zweifach bestimmte Modalkategorie und bezeichnet das,
›was weder notwendig noch unmöglich ist‹. So E. Scheibe, ›Die Zunahme des Kontin-
genten in der Wissenschaft‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 5. Und im
Unterschied von ›Möglichkeit‹ im Sinne von dynamis, bezeichnet ›Kontingenz‹ die
›zweiseitige Möglichkeit‹, sofern die einseitige Möglichkeit durchaus notwendig sein
kann. Dazu vgl. D. Frede, Aristoteles und die ›Seeschlacht‹, Göttingen 1970, S. 53 ff.,
sowie G. Striker, ›Notwendigkeit mit Lücken‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25
(1985), S. 148.« – Ebd. Fn. 18.
9 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in:
72
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
10 Im Folgenden wird Bezug genommen auf Franz Josef Wetz’ Aufsatz »Kontingenz
der Welt – ein Anachronismus?«, dessen programmatischer Titel bereits auf die vom
Autor intendierte Überwindung des Kontingenzbewusstseins als einer historischen
Täuschung hinweist.
11 Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 82.
12 Ebd.
13
Ebd.
14 Historisch wurde die mit dem personalen Standpunkt gegebene Daseinserfahrung
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
bar im Zusammenhang mit dem biblischen Gedanken der Erschaffung der Welt aus
dem Nichts: »Daß etwas ist und nicht nichts ist, und daß ausgerechnet alles so ist, wie
es ist, fällt gewissermaßen erst in dem Augenblick auf, an dem sich die Möglichkeit
des Überhauptnichtseinmüssens zu erkennen gibt. Diese zeigt sich jedoch erst, als die
Welt das Werk eines freien Willens genannt wurde, eben das Werk der schöpferischen
Macht Gottes.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 84. – Schöp-
fungstheologische Vorstellungen ermöglichen ein Bewusstsein der Kontingenz der
Welt, insofern der göttliche Welturheber als Grund des Auch-anders-sein-Könnens
der Welt erscheint.
15
Die philosophische Verarbeitung des Kontingenzbewusstseins ging gerade diesen
Weg und zeigt, dass die neuzeitliche Philosophie keine Philosophie der Person ist,
sondern die eines absoluten, weltlosen Subjekts. Diese aber läuft auf eine Eliminie-
rung der metaphysischen Kontingenz hinaus. F. J. Wetz bezeichnet die in der Schöp-
fungstheologie fundierte Weltsicht als die erste von vier Entwicklungsstufen des me-
taphysischen Verständnisses der Kontingenz. »Es war vor allem Kant, der, Kontingenz
vermutlich erstmals als Zufälligkeit übersetzend, dieses alte Verständnis von Kontin-
genz der Welt aufs tiefste erschütterte.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachro-
nismus?, 89. – Mit dem »Aufkommen von Zweifeln an der Schöpfungsphilosophie«
wurde der mit der Idee eines göttlichen Urhebers aufs engste verbundene Gedanke der
Kontingenz der Welt zu einer »nicht mehr ohne weiteres zu beseitigende[n] Leerstelle
im System möglicher Weltdeutungen« – Ebd. 92. – Die spezifisch nachchristliche
»Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts« – ebd. 98 –, musste,
wenn sie nicht offen gelassen wurde, die Vernunft überfordern und zu einer »Meta-
physik des göttlichen Absoluten« – ebd. 92 – führen. Der nächste Schritt in der Ent-
wicklung war – angetrieben von den modernen Naturwissenschaften – die philo-
sophische Einsicht in die »absolute Grund- und Zwecklosigkeit des Ganzen« – ebd.
93 –, womit bereits als letztes Stadium des metaphysischen Verständnisses der Kon-
tingenz die nihilistische Konsequenz vorbereitet war, die im 19. Jahrhundert vor allem
von Nietzsche gezogen wurde: »An die Stelle der ursprünglichen Bedeutung von Kon-
tingenz der Welt ist deren absolutes Gegenteil getreten. Einst erschien das Ganze als
kontingentes Faktum und war gerade als solches gerechtfertigt, da es Gottes Erwäh-
lung und Bejahung sicher sein konnte. Jetzt erscheint es als ungerechtfertigt, weil es
keinen letzten Grund und Zweck mehr besitzt. Daß alles ganz anders sein könnte und
überhaupt nicht zu sein bräuchte, beweist nur noch, daß es besser wäre, wenn es
überhaupt nicht existierte.« – Ebd. 95. – Die Entwicklung ist damit allerdings nicht
74
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
abgeschlossen, da sich nunmehr nach Wetz die Möglichkeit bot, die »Erwartung eines
obersten Grundes und letzten Zweckes der Welt« – ebd. 95 – selbst aufzugeben und
»das grund- oder zwecklose All […] als sich selbst genügend« – ebd. 100 – vorzustel-
len: »Der Schluß ist unvermeidlich: Die Formel Kontingenz der Welt ist heute ein
Anachronismus, der etwas bezeichnet, das es wahrscheinlich gar nicht gibt.« – Ebd.
101. – In der postmetaphysischen Philosophie – Wetz führt als Beispiel R. Rorty an –
wird der Begriff Kontingenz »nicht mehr auf die Welt selbst […], sondern nur noch
auf deren Deutungen und dazu auf unsere Selbsterfahrung und Gesellschaft« – ebd.
101–102 – bezogen. Die naturalistische, Kontingenz ausschließende Weltsicht führt
so ohne jeden inneren Widerspruch zu einer postmetaphysischen Kontingenzphiloso-
phie: »Nach dem Tode Gottes und der Trauerarbeit darüber schwindet die metaphy-
sische Kontingenz der Welt in jeder erwähnten Hinsicht; zurück bleibt eine selbst-
genügsame Natur, die auch den Menschen einschließt, der jetzt keiner besonderen
Wertung unterliegt. Aber gerade in dieser, von keiner metaphysischen Kontingenz
mehr durchsetzten und überlagerten Natur wird die Menschenwelt schließlich Ort
metaphysisch neutraler Kontingenz – und das nicht, obwohl der Mensch nur ein
wesenloses Stück Natur ist, sondern gerade weil er bloß ein solches ist.« – Ebd. 104
(kursiv im Original). – In dieser postmetaphysischen Kontingenzphilosophie bleibt
»als Rest unvermittelbarer Kontingenz« – ebd. – der Mensch mit seinen existentiellen
Fragen, auf die er in diesem Weltbild keine Antworten findet. Hier empfiehlt Wetz
den »existentielle[n] Realismus, die Unvermeidlichkeiten von Sorge, Mühe und Not
anzuerkennen und das Unabänderliche so zu nehmen, wie es kommt und es sich
trifft«. – Ebd. 106. – Die der von Wetz vorgetragenen naturalistischen Argumentation
zugrunde liegende Reflexionsposition ist die einer autonomen, weltlosen Vernunft.
Im Rahmen der vom Plessner’schen Schema ausgehenden Überlegungen zur exzen-
trischen Positionalität wurde dargelegt, dass die Reflexionsposition der autonomen
Vernunft durch den Gedanken eines absoluten Bewusstseins, dessen Instantiierung
sie ist, möglich wird. Die Objektivierung des Ursprungs der Kontingenz – Gott bzw.
das Absolute – geht also aus demselben Schritt hervor wie die Reflexionsposition des
transzendentalen Subjekts, das außerhalb der Welt steht. Wetz legt in seiner Darstel-
lung der Geschichte des Kontingenzbewusstseins dar, wie – seiner Meinung nach
folgerichtig – der Gedanke metaphysischer Kontingenz in mehreren Stufen überwun-
den wird und zur postmetaphysischen Kontingenzphilosophie führt, argumentiert
dabei aber durchgängig eben aus derjenigen Reflexionsposition, die genealogisch der-
selben Interpretation der menschlichen Exzentrizität entspringt wie der Ursprung der
nach Wetz zu liquidierenden metaphysischen Kontingenz. Wetz’ Naturalismus
schlägt damit dialektisch um in eine Spielart des Spiritualismus.
75
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
16
Struve, Philosophie und Transzendenz, 154.
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
von der Macht und dem Zwang anderer« 17 und somit im philosophi-
schen Sprachgebrauch Freiheit im engeren Sinn bezeichnet wird. 18
An dieser Stelle soll in einem kurzen Exkurs auf das Denken Kants
Bezug genommen werden, mit dem die transzendentale Wende in der
Philosophie vollzogen wurde. »Autonomie – i[…]m Sinne einer
Selbstgesetzgebung durch Vernunft – kann als Strukturprinzip der
gesamten Kantischen Philosophie verstanden werden: ›Alle Philo-
sophie … ist Autonomie‹ 19.« 20 Kants Begriff der Autonomie enthält
negativ den Ausschluss aller Einflüsse auf das Subjekt, die zum Ur-
sprung einer Heteronomie werden könnten, und positiv die selbst
gewählte Bindung des guten Willens an das Sittengesetz in Form des
kategorischen Imperativs: »Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht
anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben
Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« 21 Dieses
Prinzip der Autonomie bildet gleichzeitig den positiven Freiheits-
begriff, der mit dem Befolgen des Sittengesetzes zusammenfällt:
Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an,
um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu den-
ken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen,
weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, denn Freiheit
und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin
Wechselbegriffe […]. 22
Freiheit im kantischen Sinn hat nichts mit Selbsttranszendenz zu tun
und ist erst recht nicht verbunden mit einer unwillkürlichen Sponta-
17 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Freiheit.
18 Vgl.: »Die Frage, ob der menschliche Wille sich selbst bestimmen könne, also auto-
nom sei, oder ob er von fremden Mächten bestimmt werde, also unfrei, heteronom
sei, hat die Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt und hat im allgemeinen drei ver-
schiedene Antworten hervorgerufen: Entweder haben Philosophen den Willen für
autonom erklärt und diese Autonomie als den Gegensatz zur Ursächlichkeit, als die
Aufhebung des Kausalitätsgesetzes für den Willen angesehen. Oder sie haben den
Willen für heteronom und alles Handeln lediglich für verursacht erklärt, wie die Vor-
gänge in der Natur es sind. Oder sie haben die Selbstbestimmung des Willens nicht
geleugnet, aber die Freiheit des Willens nicht für den Gegensatz zur Ursächlichkeit,
sondern für eine bestimmte Form der Verursachung genommen.« – Ebd.
19 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Kant, Opus postumum. Akad.-A. 21, 106.
col. 707.
21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 74–75.
22
Ebd. 85–86.
77
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
28
Vgl.: »Das Neue in der Einstellung der Philosophie des 17. Jh. zur Determinismus-
Problematik besteht darin, daß man den menschlichen Willen nicht mehr allein durch
Gott und das von ihm abhängige moralisch Gute, sondern durch die Naturgesetze
bestimmt sieht.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeterminis-
mus. I, in: HWPh II, col. 151. – Vgl. auch: »Von der Voraussetzung her, daß alle
Naturgesetze mechanischer Art seien und die Welt eine große ›Weltmaschine‹ dar-
stelle [Verweis durch Anmerkung [2] auf: H. Dingler, Der Glaube an die Weltmaschi-
ne und seine Überwindung (1932)], ergab sich der Gedanke einer vollständigen De-
terminiertheit der Welt. Laplace hat dies durch die Vorstellung einer übermensch-
lichen Intelligenz illustriert: ›Ein Geist, der für einen Augenblick alle Kräfte kennen
78
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
würde, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage aller Wesenheiten, aus
denen die Welt besteht, müßte, wenn er umfassend genug wäre, um alle diese Daten
der mathematischen Analyse unterwerfen zu können, in derselben Formel die Be-
wegung der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome begreifen, nichts
wäre ungewiß für ihn, und Zukunft und Vergangenheit läge seinem Auge offen da‹
[Verweis durch Anmerkung [3] auf: P. S. de Laplace, Essai philos. sur les probabilités
(Paris 1814)].« – Frey, Determinismus/Indeterminismus. II, in: HWPh II, col. 155.
29 Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, 550.
30
Der deterministische Gedanke erstreckt sich genau genommen bei Kant über den
Bereich des homo phaenomenon hinaus auch auf den des homo noumenon. – Vgl.
dazu: »Kant löst das Determinismus/Indeterminismus-Problem theoretisch dadurch,
daß es kein Widerspruch sei, Freiheit und Kausalität zu denken. Im Bereich der prak-
tischen Vernunft ist Freiheit und Determinismus kein Gegensatz. Da ›Determinism‹
›die Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe‹ ist, kann Freiheit
nicht als ›Indeterminism‹, sondern nur als Determination durch das moralische Ge-
setz verstanden werden.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeter-
minismus. I, in: HWPh II, col. 152.
31
Kaulbach, Natur. V. Neuzeit, in: HWPh VI, col. 470.
32 In eine Diskussion des physikalischen Determinismus kann an dieser Stelle nicht
eingetreten werden. – Vgl. dazu: »Der gesamte Streit um die Frage, ob der Determi-
nismus nun die Freiheit ausschließt oder nicht, erbringt keinerlei Erkenntnisgewinn
über die Freiheit (wie immer man in diesem Streit optieren mag). Er ist insofern ein
höchst verwirrendes Ablenkungsmanöver von einer philosophisch recht wichtigen
und interessanten Frage.« – Buchheim, Unser Verlangen nach Freiheit, 116. – Buch-
heim konstatiert die prinzipielle Denkmöglichkeit einer »innerphysisch basierte[n]
Freiheit« – ebd. 171 – auf der Grundlage einer ontologischen Differenzierung von
physischen Ereignissen und Lebensäußerungen: »Wenn nun im Falle organischen
Lebens zugleich in allen Körperteilen physiologische Ereignisse und Prozesse der di-
versesten Arten ablaufen und diese nur zusammen das Lebendigsein eines indivi-
duellen Organismus integrieren, dann ist klar, daß die Lebensäußerungen organi-
schen Lebens eine Doppelnatur besitzen: Sie sind einerseits Cluster physiologischer
Prozesse mit sehr unterschiedlichen Körperregionen als ihren ›Subjekten‹, an oder in
denen sie sich vollziehen […]. Sie sind andererseits Regungen oder Tätigkeiten des
gesamten Individuums, sofern es lebendig ist und in ihnen sein Leben fortsetzt […].«
– Ebd. 40–41. – Dieses Nebeneinander von »Lebensäußerungen und organischen Pro-
zessen« fasst Buchheim als »horizontalen Dualismus« – ebd. 41 – gegenüber den in
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung
telt ist, ist der Gedankengang nun beim Ereignis der Begegnung an-
gelangt und kann das der Sache nach ›Frühere‹ – πρότερον τῇ φύ-
σει –, in der Reflexionsbewegung aber ›Spätere‹ – ὕστερον πρὸς
ἡμᾶς – nun als der gesuchte Ausgangspunkt begriffen werden. Jede
Wahrnehmung des Transzendenten ist ein Begegnungsereignis. Da-
mit ist nicht präjudiziert, dass Begegnung nur als interpersonale
denkbar ist, wenngleich für Personen eine Begegnung, die ihrem We-
sen vollständig gerecht wird, nur in einer solchen möglich sein mag.
Allgemein lautet aber eine zentrale These der Philosophie der Begeg-
nung, dass natürliche Wesen durch ihre auf Überschreitung ihrer
selbst angelegte Natur das Ziel ihrer natürlichen Bewegung nur in
der Begegnung erreichen. Jedes Abstrahieren vom Ereignis der Be-
gegnung, in dem von einem Subjekt aus die Selbsttranszendenz oder
von einem Zwischen aus das Hervorgehen der Individuen gedacht
werden soll, führt letztlich in die Paradoxie. Die Idee der Begegnung
ist der Gedanke, dass alles Natürliche erst zu sich selbst kommt in der
Überwindung seiner selbst, deren spezifisch personale Form das Ver-
nünftige ist. Die Person entgeht der Selbstentfremdung nur durch das
Erinnern der Natur in der Vernunft, das sich in der Begegnung er-
eignet. In dieser einführenden Explikation des philosophischen Pro-
blems der Begegnung war dieser Gedanke seit den epistemologischen
Überlegungen zur Transzendenz bereits als implizites Organisations-
prinzip anwesend. So wie dort die Transzendenz der subjektiven In-
tentionalität letztlich erst durch den Gedanken der Begegnung mit
konkretem Inhalt gefüllt werden kann, so ist auch die ontologische
Reflexion auf das personale Verhältnis zur eigenen Natur ein abs-
trakter Gedanke, solange er nicht durch das Ereignis der Begegnung,
in dem die Freiheit von der Natur sich in ›Zeitgestalten‹ 33 verwirk-
licht, lebendig wird.
Für die spezifisch interpersonale Begegnung gilt, dass im Über-
stieg über den subjektiven Interessenhorizont ein transzendenter An-
derer erreicht wird, wodurch sich eine Umkehr der Perspektive ereig-
net. Aus dieser Umkehr entspringt das – zugleich mit eigenen und
mit anderen Augen gesehene – Bild der Welt, das ein von jeder inten-
tionalen Spannung befreiter Horizont ist, der auf ein anderes Zen-
trum der Bedeutsamkeit verweist, das nicht durch das eigene Interes-
se definiert ist. Zu einem Ganzen wird die Welt zuallererst in diesem
81
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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung
Bild, das zugleich ein Anschauen und ein Sehen ist, in dem die Diffe-
renz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist. Aus der Wahrnehmung
des Bildes geht das Selbstsein der Begegnenden hervor. Selbstsein ist
als ›Haben einer Natur‹ ontologische Substanz. Die Gedankenbewe-
gung dieser Explikation des philosophischen Problems der Begeg-
nung, die vom aristotelischen ὑποκείμενον als Substanz-Subjekt
ausging, ist damit an ihrem Ziel angekommen, ein nicht in seiner
gegenständlichen Wahrnehmung aufgehendes Selbstsein zu denken.
Gedacht werden kann dieses aufgrund der im personalen Daseinsvoll-
zug gegebenen ontologischen Differenz, durch die das Denken seinen
eigenen Erkenntnisanspruch so relativieren kann, dass ihm aufgeht,
was es selbst nicht hervorbringen kann.
82
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Zweiter Teil
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
Zur aristotelischen Lehre des Glücks«: »Nicht von der Zielhaftigkeit der menschlichen
Handlungen geht Aristoteles aus, sondern von dem allgemeinen Prinzip seiner Phi-
losophie, daß die Betätigung alles Lebendigen die Aktualisierung naturgegebener
Möglichkeiten ist, und daß so die Natur in ihrer Betätigung zugleich als Zweck zu
dem Ende hindrängt, das ihnen Verwirklichung und Erfüllung gibt. Was für alles
Lebendige gilt, das muß auch für den Menschen gelten; auch ihn treibt seine Natur
als Zweck in der Macht seiner naturgegebenen Anlagen und seines Seinkönnens, aber
sie tut es nicht so, daß sie wie bei den übrigen Lebewesen sein Handeln unmittelbar
führt, sondern so, daß sie verborgen und hintergründig in den gewollten und gesetz-
ten Zielen treibt; dem Wollenden und Handelnden eigentümlich fremd, drängt sie im
Spiel seiner Ziele; die Natur, die ihn nicht unmittelbar bestimmt, zieht ihn als das in
seinen Möglichkeiten und Anlagen vorgezeichnete Gute und als Zweck in den Vor-
stellungen, in denen er sich selbst sein Ziel und das Bild des höchsten Guts entwirft,
dem er nachjagt: ›Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vor-
stellt‹ (Pol. I, 1. 1252 a 2–3). Weil der Mensch in diesen Zielvorstellungen lebt, darum
kann er das ihm durch seine Natur vorgezeichnete Beste nicht ohne die Hilfe einer
Einsicht erkennen, die ihn hierauf hinweist.« – Ritter, Metaphysik und Politik, 62–
63.
4 In Bezug auf Letztere spricht Ritter von der »hermeneutischen Hypolepsis«. – Ebd.
66.
85
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
5 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
131.
6 Ebd. 131–132.
mus« aus dem Jahre 2000 und »Die zwei Interessen der Vernunft« aus dem Jahre
2012. Vgl. Abschnitt 7.3.2, ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich,
724–744.
87
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
Gedanken. Wer sich davon freimacht, kann die Sache selbst nicht
mehr verstehen, um die es ihm geht. Er ist dazu verurteilt, immer
wieder von vorn beginnen zu müssen. 12
Diese Sätze beinhalten einerseits das Programm der Spaemann’schen
Philosophie, der es wesentlich um das erinnernde Gegenwärtighalten
der Natur 13 geht, sie geben andererseits aber nach meiner Überzeu-
gung eine Anleitung zur Erschließung der komplexen Gedankenwelt
Spaemanns selbst. Das »Erfassen des Gewordenseins« 14 dieser Ge-
dankenwelt ist hier notwendige Voraussetzung für eine philosophi-
sche Hermeneutik seines Werks. In dem oben bereits zitierten Inter-
view aus dem Jahre 2007 sagt Spaemann zur Eigenart seiner
Gedankenentwicklung:
Im Allgemeinen muß ich sagen, daß bei meinen eigenen Beiträgen die
Tendenz und die Abfolge sehr ungeplant sind. Es gibt Philosophen, die
deduktiv arbeiten. Sie haben einen Grundgedanken und entfalten
dann logisch daraus eine Abfolge von Schriften. Bei mir ist es so, daß
mir der innere Zusammenhang der Dinge, die ich geschrieben habe,
immer erst nachträglich deutlich wird. Manchmal wird er überhaupt
erst von anderen entdeckt. Denn ich neige dazu, philosophische Fragen
in intentio directa anzugehen. Wie mein Denken im Zusammenhang
mit dem steht, was ich früher gedacht habe, kann ich nachträglich
reflektieren. Es ist aber nicht leitend bei [der] Arbeit. Es ist eher wie
ein Puzzle […], das hinterher zusammengesetzt plötzlich ein Bild er-
gibt. 15
Das Erfassen des Gewordenseins der Gedankenwelt ist also notwen-
dige, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für ein Verstehen,
denn für dieses bedarf es auch der Entdeckung des inneren Zusam-
menhangs dieser Gedankenwelt. 16
12
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164. – Vgl.: »Spaemann befragt die
Philosophiegeschichte wie kaum ein Zweiter. Aber er tut dies nie aus bloß histori-
schem Interesse.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 13. – Vgl. ebenso:
»Robert Spaemann treibt Philosophiegeschichte um der Philosophie willen und ent-
wickelt umgekehrt seine zentralen Thesen gerne anhand philosophiegeschichtlicher
Untersuchungen.« – Schöndorf, Der Philosoph Robert Spaemann, 315.
13 Vgl. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 78.
15 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
132.
16 Vgl. die Bemerkungen in der Einführung zur Charakterisierung von Spaemanns
89
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
istik und den spezifischen Eigenschaften des Essays. – Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz
im Denken der Begegnung, 34–35.
17 Als Beispiel zu nennen wäre etwa die besondere Bedeutung Rousseaus für Spae-
mann, die im Rahmen dieser Untersuchung erst in Kapitel 5 thematisch in den Mit-
telpunkt tritt, wiewohl sich bereits in der Dissertation über Bonald Hinweise auf
Rousseau in diesem Sinn finden.
18 Erhaltung als Ziel der Gesellschaft ist ein wesentlicher Ertrag der Analyse von
90
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
der Erhaltungsgedanke als »Inversion der Teleologie« neu interpretiert und gewinnt
infolgedessen eine zentrale Bedeutung in Spaemanns Denken.
19 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110–111.
20
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.
91
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
21
Vgl. Fn. 4.
92
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
22
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 275.
93
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns
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3 Die Krise der Philosophie und
Ansätze eines Gegenentwurfs
3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
4 Ebd. 81–82.
5 Ebd. 82.
6 Ebd. 85.
7 Ebd. 82. – Für Spaemanns weitere Entwicklung als Denker sind freilich gerade die in
97
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
11 Ebd. 93.
12
Ebd. 96.
13 Ebd. 97.
14
Ebd. 108.
98
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3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
stand zum Inhalt hat« 15, sondern religiösen Ursprungs ist. An die
Stelle einer theologischen Begründung trete jedoch bei Adorno und
Horkheimer ein »psychoanalytische[r] Rousseauismus […], für den
die Selbstentfremdung des Menschen tatsächlich mit seinem
Menschsein beginnt« 16. Spaemann vergleicht diesen Rousseauismus
mit der scholastischen Vorstellung einer »materia prima, deren Na-
tur es ist, sich in bestimmte Gestalten zu entfremden«, von der aus-
gehend die »Negation des Bestehenden […] kein Ziel« finden kann
und »manische Züge« 17 bekommt. Den Ansatz seines Münsteraner
Lehrers Joachim Ritter hält Spaemann der dialektischen Philosophie
gegenüber für überlegen, da Ritter »nicht nur methodisch, sondern
der Sache nach das Problem der bürgerlichen Gesellschaft und den
Entfremdungscharakter der modernen Welt von Hegel her zu beden-
ken« 18 versuchte. Er versteht »die ungeschichtlich-abstrakte Bedürf-
nisnatur des Menschen«, die für Adorno und Horkheimer der Aus-
gangspunkt ist, »von dem aus diese das Wesen der Entfremdung zu
bestimmen versuchen«, bereits als »Produkt der Entfremdung« 19:
»Ritter interpretiert mit Hegel die Entfremdung als Entfremdung
der bürgerlichen, durch rationale Bedürfnisbefriedigung definierten
Gesellschaft von ihrer eigenen geschichtlich-metaphysischen Her-
kunft.« 20 Die »Entzweiung« zwischen der Gesellschaft in ihrer Abs-
traktheit als »System der Bedürfnisse« 21 und dem geschichtlichen
Menschen mit seiner das Religiöse, Sittliche, Ästhetische usw. um-
fassenden Herkunft sieht Ritter nicht als Entfremdung, sondern als
etwas Positives, das die »welthistorische Gestalt« der Subjektivität
erst hervorbringt. 22 Angesichts einer »antagonistische[n] Wirklich-
18
Ebd.
19 Ebd. 109–110.
20
Ebd. 110.
21 Ebd.
22 Vgl. die Aufsätze »Hegel und die französische Revolution« (1956), in: Ritter:
99
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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
sieren. Die gesellschaftliche Moderne bedarf also zu ihrer Stabilisierung der Ver-
gegenwärtigung der eigenen historischen Substanz, mit anderen Worten: der ver-
zweifelten, weil paradoxen Leistung eines historistisch aufgeklärten Traditionalis-
mus.« – Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der
Bundesrepublik (1983), in: Ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 88.
23 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 111.
24 Ebd. 110.
25 Ebd. 111.
26
Ebd.
27 Ebd.
28
Ebd.
100
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.
3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte
184.
32 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive,
187–214.
101
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3.2 Das Ende der Metaphysik in der
Gesellschaftstheorie de Bonalds
(1959), 13–19.
3 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 104.
4 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 21.
– Spaemann verweist auf folgende Quelle des eingefügten Zitats: G. W. F. Hegel, Vor-
lesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke XI., ed. Glockner,
Stuttgart 1949, S. 557. – Ebd.
102
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3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds
9
Ebd. 31.
103
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
10 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 37.
11
Ebd. 37–38.
12 Ebd. 38.
13
Ebd.
104
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.
3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt
14
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 38.
15 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110.
16
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.
105
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
17
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 64.
18 Ebd. 32
19
Ebd. 34
106
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.
3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt
Eindeutig spielt Spaemann hier auf Descartes als den Stammvater der
modernen Philosophie an, der gleichwohl oben 20 in der Reihe der Ver-
treter der »wahren Philosophie« genannt worden ist: »Einerseits hat er
mit seiner Lehre von den eingeborenen Ideen den Platonismus erneu-
ert und gehört so in die Ahnenreihe der wahren Philosophie. Anderer-
seits aber erscheint sein Ausgangspunkt des universalen Zweifels als
Angelpunkt der gesamten von Bonald angegriffenen modernen
Philosophie.« 21 Die Auseinandersetzung mit Descartes, die sich wie
ein roter Faden durch das Werk Spaemanns und dementsprechend
durch den zweiten Teil dieser Arbeit ziehen wird, beginnt in der Studie
über Bonald und gelangt in ihr bereits zu weit über sie hinausreichen-
den Aussagen, auf die gegen Ende der Thematisierung der Studie ein-
zugehen sein wird. An dieser Stelle sei zunächst der »Grundgedanke in
Bonalds Kritik des cartesischen Ansatzes« genannt:
Philosophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Ver-
such, »in uns selbst den Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns
erheben wollen« (III 34), führt nicht über den Ausgangspunkt selbst
hinaus. Die Philosophie mit »Ideologie« (Lehre von der Entstehung
der Ideen) und Erkenntnistheorie anzufangen heißt überdies, »den
Geist von seiner eigentlichen Funktion, der Erkenntnis des gesamten
physisch-moralischen Universums, ablenken zur sterilen Kontempla-
tion seiner selbst« (III 35). 22
Die gesamte moderne Reflexionsphilosophie erscheint somit als ein
fataler Irrweg und das erste Zwischenfazit im Nachvollzug der
Bonald’schen Grundgedanken kann also lauten, dass nur im Über-
schreiten des Subjekts ein Anfang der Philosophie gefunden werden
kann: »Die Vernunft kann als individuelle nicht den Vernunftzustand
herstellen, weil sie wesentlich ihre Substanz, durch die sie sich kon-
stituiert, außerhalb ihrer hat.« 23 Die im ersten Teil dieser Arbeit
dargelegte Problematisierung des Subjektbegriffs und die daraus
abgeleitete Notwendigkeit der Selbsttranszendenz bildet somit den
Grundzug von Spaemanns Thematisierung der Bonald’schen Philo-
sophie.
20 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 35, u. Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesell-
schaftstheorie de Bonalds, 103.
21
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 36.
22 Ebd. 44–45.
23
Ebd. 129.
107
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
Bonald entwirft ein dualistisches Bild des Menschen durch die neben-
einander bestehenden Dispositionen der »Neigung« und der »Ver-
nunft« ; Neigung bedeutet dabei Wille zur Macht, Vernunft eine
Selbsttranszendenz, die der Mensch sich nicht selbst verdanken kann:
Der Mensch als Vernunft ist ja wesentlich durch Überschreitung sei-
ner selbst gekennzeichnet. Der Mensch als bloßer Mensch ist der
Mensch in der Subjektivität seiner Neigungen; die stärkste Neigung
aber ist diejenige, die Gesellschaft als Ganze neu zu integrieren in die
Subjektivität der eigenen Neigungen, das heißt, »sich eine neue Ge-
sellschaft zu machen, deren Gesetzgeber und Machthaber man selbst
ist« (III 134). 24
Das Verhältnis von Neigung und Vernunft klärt folgender Schlüssel-
satz Bonalds, den Spaemann gleich zu Anfang seiner Studie zitiert:
»›Die Vernunft des Menschen ist nichts anderes als die gebändigte
Leidenschaft, deshalb genügt die Vernunft allein nicht, um die Lei-
denschaft zu bändigen‹ (III 406)«; Spaemann kommentiert ihn direkt
im Anschluss folgendermaßen: »In einem solchen Satz liegt der An-
satz einer Überwindung bloßer Verstandes- und Reflexionsphiloso-
phie beschlossen.« 25 Der Satz Bonalds und Spaemanns Kommentie-
rung sollen hier näher erläutert werden.
Zunächst stellt sich die Frage, was die Leidenschaft im Menschen
bändigen kann, wenn die Vernunft erst das Produkt dieser Bändigung
ist. Da die Leidenschaft sich nicht selbst bändigen kann, muss ihr
etwas von außen zur Hilfe kommen. Die Frage kann also dahin-
gehend umformuliert werden, wodurch eine Verbindung zwischen
dem Individuum und der ihm äußerlichen Wirklichkeit hergestellt
wird. Das Denken scheidet aus, denn: »Das individuelle Denken ist
notwendig abstrakt in dem präzisen Sinne, daß es nur auf mögliche
Gegenstände geht« 26, d. h. es bewegt sich zunächst in seiner eigenen
Welt, die ständig dem Verdacht ausgesetzt ist, nur Idiosynkrasie zu
sein, mit der Wirklichkeit selbst nicht übereinzustimmen. Das Indi-
viduum ist demnach solipsistisch verfasst, solange ihm nicht die
Wirklichkeit als solche gegeben wird: »Die Weise der Gegebenheit
des Wirklichen nennt Bonald – offenbar im Anschluss an Rousseau
24
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 95.
25 Ebd. 23.
26
Ebd. 132.
108
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft
27 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
132
28 Ebd. 132–133.
29 Ebd. 134.
30
Ebd. 136.
31 Ebd.
32
Ebd.
109
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht be-
trachtet wird, obgleich es mit beiden etwas Analogisches hat« 33. 34
Das Individuum bzw. das Subjekt überwindet also seine Grenzen und
realisiert Selbsttranszendenz durch das sentiment bzw. den respect,
insofern es durch diese teilhat an der allgemeinen Wirklichkeit: »Sen-
timent ist daher wiederum die vermittelnde und darum eigentlich den
konkreten, moralisch-physischen Menschen konstituierende Funk-
tion. Es ist die Mitte, wo der Mensch in seiner individuellen sinn-
lichen Wirklichkeit im Allgemeinen, in der universalen Vernunft ver-
wurzelt ist.« 35 Damit ist einerseits die immense Bedeutung des
sentiment im Denken Bonalds geklärt; andererseits wird von diesen
Gedanken aus deutlich, dass das sentiment als Mittler zwingend an-
gewiesen ist auf ein Außen, in dem die Vernunft bereits verwirklicht
ist. In Anlehnung an den Gedankengang der Explikation stellt sich
hier also die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz.
Man würde permanent gegen bessere Einsicht den stärkeren Neigun-
gen folgen, wenn nicht eine vom bloßen Denken verschiedene Macht
in uns als Antrieb lebendig wäre, die uns bestimmte, das zu tun, was
wir sollen. Dieser Impuls heißt »sentiment«. Das sentiment erhält
aber seinen Inhalt in der Bildung durch die Gesellschaft. Zu fragen,
ob ein Wilder außerhalb der Gesellschaft ein Gefühl von Gott hat, ist
ebenso sinnlos wie die Frage, ob ein Kind seine Eltern kennt, wenn es
sie nie gesehen hat. 36
Die Antwort Bonalds auf die Frage nach dem Worauf der Selbsttrans-
zendenz liegt in der Thematisierung der Gesellschaft. Insofern nach
Bonald dem Individuum durch das sentiment die Teilhabe an der Ver-
nunft vermittelt wird, ist die Verwirklichung der universalen Ver-
nunft in der Gesellschaft bei Bonald bereits vorausgesetzt. Diese
These ruft eine Reihe von Fragen hervor, um die es im Folgenden
gehen muss: Mit welchen philosophischen Mitteln begründet Bonald
diese Vorstellung einer idealen Gesellschaft? An welchem Kriterium
ist erkennbar, inwiefern ein geschichtlicher Zustand der Gesellschaft
33 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Immanuel Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Berlin 1941, Bd. IV,
S. 401. – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 137.
34
Ebd.
35 Ebd. 137–138.
36
Ebd. 139.
110
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit
37 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66.
38 Ebd.
39 Ebd. 118.
40 Ebd. 66.
41 Spaemann verweist als Quelle der Zitate auf: Hegel, System der Philosophie, Sämt-
liche Werke X, ed. Glockner, Stuttgart 1949, S. 409 u. S. 410. – Ebd. 21 u. 65.
42 Ebd. 65.
43
Ebd. 66–67.
111
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
zeitlichen Staatstheorien, die, wie Hobbes, den Staat nicht, wie die
aristotelische Philosophie, aus dem Streben der Menschen nach Er-
füllung, nach Glück, nach dem »guten Leben«, sondern aus dem Be-
dürfnis nach Selbsterhaltung ableiten. Diese Staatsauffassung gründet
in einer neuen, nichtteleologischen Metaphysik, die ihren klassischen
Ausdruck bei Spinoza gefunden hat: »Conatus, quo unaqua[e]que res
in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter essentiam rerum.« 44
Die Gesetze der Erhaltung eines Wesens sind zugleich die Gesetze
seines Daseinsvollzuges, denn dieser Vollzug ist nichts als Selbsterhal-
tung. »Der Mensch ist nur auf Erden, um die Mittel seiner physischen
und moralischen Erhaltung zu vervollkommnen« (I 607). Gilt für
Thomas von Aquin noch die Notwendigkeit, erst etwas über das »bene
vivere« des Menschen auszumachen, um das Wesen des Staates zu
bestimmen, so läßt sich nun das Wesen des Menschen umgekehrt
nur von dem her bestimmen, was zu seiner Erhaltung notwendig ist,
das heißt aber von der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist die Form der
»absoluten Erhaltung«. 45
Die Einordnung der Gesellschaftstheorie Bonalds in die Tradition
neuzeitlicher nichtteleologischer Metaphysik führt zu der Frage, wie
der Mensch als natürliches Wesen überhaupt in den gesellschaftli-
chen Zustand gelangen konnte oder, mit anderen Worten, welche
treibende Kraft die Gesellschaft konstituiert.
Im Folgenden wird sich zeigen, dass in Bonalds nichtteleologi-
scher Metaphysik gleichwohl eine verborgene Teleologie wirkt. Zu-
nächst ist es wichtig zu sehen, dass für Bonald der gesellschaftliche
Zustand nicht eine Überwindung des Naturzustands ist, sondern im
Gegenteil seine eigentliche Verwirklichung. Spaemann zitiert Bo-
nalds Forderung:
»Die Natur muß die einzige gesetzgebende Gewalt der Gesellschaft
sein« (I 392). Denn was ist die Natur? Die Natur der Dinge ist »die
Gesamtheit der allgemeinen Gesetze ihrer Erhaltung, Gesetze, die
nichts anderes sind als die Beziehungen, die aus ihrer je besonderen
Art des Daseins folgen« (III 449). Diese Definition ist im Grunde die
gleiche, die Hobbes im Leviathan gegeben hatte (Leviathan, II.
44 Spaemann zitiert hier frei nach der »Ethik« Spinozas. Im Original lautet der Satz in
der Propositio VII des dritten Teils: »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse per-
severare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.« – Deutsch: »Das
Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes
als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« – Vgl. Spinoza, Ethik in geometrischer
Ordnung dargestellt, 238–239.
45
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66.
112
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.
3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit
Kap. 14). Aber der fundamentale Irrtum Rousseaus und Hobbes’ war
es, den Naturzustand als den vorgesellschaftlichen Anfangszustand zu
bezeichnen. […] Nach Bonald ist der Naturzustand gerade nicht der
Anfangs-, sondern der Endzustand beziehungsweise der Zustand der
Vollkommenheit eines Wesens. 46
Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau versteht Bonald also den
Naturzustand nicht als Gegensatz zu Kultur bzw. Zivilisation, viel-
mehr war es in seiner Sicht gerade der Naturzustand, der sich in
Frankreich im Ancien Régime 47 als einer gefestigten Zivilisation ver-
wirklicht hatte: »›Die zivilisierte Gesellschaft ist deshalb die natür-
lichste Gesellschaft, wie der vollkommenste Mensch der natürlichste
Mensch. Ein Irokese oder ein Karibe sind ursprüngliche Menschen;
Bossuet, Fénelon und Leibniz sind natürliche Menschen‹ (III 451).« 48
Diese Vorstellung der idealen Gesellschaft muss freilich wieder die
Frage aufwerfen, wie der ursprüngliche Mensch überhaupt zum na-
türlichen Menschen werden konnte. Zwar partizipiert im gesell-
schaftlichen Zustand der Einzelne durch das sentiment an der gesell-
schaftlich verwirklichten Vernunft; die Frage bleibt aber, wie es
überhaupt zu ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung kommt, durch
die die Überwindung der individuellen Partikularität erst möglich
wird. Um diesen Übergang zu erklären bedarf Bonald »einer Art von
Teleologie innerhalb eines durch Selbsterhaltung definierten Natur-
begriffs« 49: »So ist Natur nicht das anfänglich Vorhandene, sondern
der ›Plan‹, nach dem jedes Wesen angelegt ist und der das Prinzip
seiner Entwicklung enthält.« 50 Bonalds Begriff der Natur ist somit
zweideutig, insofern er einerseits, wie oben gesehen, durch Selbst-
erhaltung definiert ist, andererseits aber auf die Entfaltung einer
Anlage ausgerichtet ist. Im Rückblick bemerkte Spaemann: »Bonald
versucht, der Zweideutigkeit des neuzeitlichen Naturbegriffs zu ent-
gehen, indem er den ›homme natif‹ vom ›homme naturel‹ unterschei-
det.« 51 Da diese Zweideutigkeit des Naturbegriffs jedoch ungeachtet
46 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 68.
47 Spaemann weist darauf hin, dass dies nur galt bis zur Verletzung der Konstitution
durch Ludwig XVI. im Mai 1789 im Zusammenhang mit der Einberufung der Ge-
neralstände. – Vgl. ebd. 157. – Vgl. auch Spaemann, Über Gott und die Welt (2012),
105.
48 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70.
49
Ebd. 68.
50 Ebd. 69.
51
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 137.
113
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
52 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
211.
53
Ebd.
54 Ebd. 212.
55
Ebd.
114
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung
56 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70.
57
Ebd. 69.
58 Ebd. 70.
59
Ebd. 69.
115
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
60 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
128.
61 Ebd. 129.
62
Ebd. 38 u. 201.
116
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung
63Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
138–139.
117
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
64
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
145.
65
Ebd. 72.
118
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.5 Die Selbstaufhebung der Vernunft
66 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
205.
67 Ebd. 203.
68 Ebd. 204.
69 Ebd. 204.
70
Ebd. 205.
71 Ebd. 206.
72
Ebd. 207.
119
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
73 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 96.
74
Ebd. 207.
75 Ebd.
76
Ebd.
120
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
77 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
207.
78
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 350.
79 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 106.
80
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 138.
121
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
81
Vgl. die Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesell-
schaftstheorie de Bonalds, 103.
82 Vgl.: »Spaemann’s study on the ›maitre de la contrerévolution‹ is, not at least be-
cause of the paradigmatic character of Bonald’s philosophy, a nucleus out of which his
later thought, particularly his criticism of modernity, develops.« – Zaborowski,
Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 141.
83 Vgl. Abschnitt 3.2.4, Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung,
114–118.
84 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
203.
122
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.
3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
»Das Thema der Teleologie ist eigentlich der rote Faden durch alles, was ich seit dem
Buch über de Bonald geschrieben habe. Dies ist mir mehr und mehr deutlich gewor-
den. Schon bei de Bonald findet sich als Definition der menschlichen Existenz, der
Mensch sei auf Erden, um die Mittel seiner physischen und psychischen Erhaltung
zu perfektionieren. Das ist die ›Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen
seiner Erhaltung‹. Es ist das, was ich später als ›Inversion der Teleologie‹ bezeichnet
habe. Es gibt aber etwas, das über die Erhaltung hinausgeht.« – Spaemann/Nissing,
Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 126.
87 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
203.
88 In den Studien über Fénelon »Reflexion und Spontaneität« wird Spaemann von
einer »Inversion der Teleologie« in der neuzeitlichen Ontologie sprechen, die in der
weiteren Entwicklung seines Denkens zum Ausgangspunkt seines Gegenentwurfs
wird. – Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 61–62, u. Teilkapitel 4.1, Bürger-
liche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142.
89 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 203.
123
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
90 Vgl.: »Bonald hat – darin liegt seine geschichtliche Bedeutung – zum ersten Mal die
Theorie der Gesellschaft als umgreifende prima philosophia an die Stelle der Meta-
physik gesetzt. Hier liegt der Ursprung der Soziologie, als deren Begründer Léon
Brunschvicg und Jean Lacroix den Vicomte de Bonald mit Recht bezeichnet haben.«
– Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
210.
91 Ebd. 184.
93 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
211.
94 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.
95 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
184.
96 Ebd. 185.
97
Ebd. 192.
124
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.
3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens
Mein De Bonald-Buch ist nun ein Buch, das zwar mit viel Sympathie
für de Bonald geschrieben ist. Am Schluß aber enthält es eine Kritik an
de Bonald – und zwar am Funktionalismus: De Bonald befrage Reli-
gion, Philosophie u. a. auf ihre gesellschaftliche Funktion hin. So ist
das Buch eigentlich eine kritische Auseinandersetzung mit meinem
Lehrer. 98
Die Gemeinsamkeit zwischen Bonald und Ritter besteht darin, dass
beide von einem gesellschaftlichen Bezugssystem ausgehen, relativ
zu dem das metaphysische Denken eine Funktion zu erfüllen hat.
Eine solche Sicht widerspricht Spaemanns Philosophieverständnis,
wie Zaborowski in Bezug auf das Bonald-Buch zutreffend bemerkt:
»Spaemann criticizes this functionalistic interpretation of philosophy
because it contradicts his understanding of philosophy – as theoria
that cannot be functionalized but, rather, critically examines functio-
nal relations and rationally reflects upon what precedes any function;
that is, substantial reality.« 99 Spaemann hält fest an einem Meta-
physikverständnis, das jede funktionalistische Relativierung ablehnt
und den Bezug auf das Absolute wahrt, und sieht gerade in ihm den
Weg, um die Moderne vor sich selbst zu schützen: »Nur wenn der
absolute Inhalt des Glaubens in seiner alle geschichtliche Realisie-
rung transzendierenden Gestalt als er selbst gegenwärtig ist, vermag
sich die geschichtliche Dynamik zu entfalten, die Europa kennzeich-
net, ohne daß der Zusammenhang mit der überkommenen Substanz
verlorengehen müßte.« 100 Im funktionalistischen Denken Bonalds ist
für die Gegenwärtigkeit eines absoluten Inhaltes kein Platz. Die Ori-
entierung an diesem Inhalt wird gleichwohl Leitlinie in der weiteren
Entwicklung von Spaemanns Denken sein.
98 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
122.
99
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 161.
100 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
192–193.
125
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.
3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
Zum Abschluss dieses Kapitels wird ein dritter Text Spaemanns aus
den 50er Jahren thematisiert: »Zur Frage der Notwendigkeit des
Schöpferwillens Gottes« 1. Obwohl dieser Text chronologisch der erste
der drei in diesem Kapitel behandelten ist, eignet er sich als Abschluss
desselben, da er Ausblicke zu geben vermag, in welche Richtung
Spaemann in seiner philosophischen Entwicklung bereits in den 50er
Jahren zielte. Während Spaemann in seinem Vortrag aus dem Jahre
1957 das Fazit zog, dass die in die Krise geratene Metaphysik am
besten in einer Geschichtsphilosophie aufgehoben sei, die ihre Bezie-
hung zur Metaphysik bedenkt, und er in seiner Dissertation am Bei-
spiel Bonalds den funktionalistischen Charakter des modernen Den-
kens als nihilistisch wertete, bietet der frühe theologische Aufsatz
durchaus philosophische Perspektiven für ein Denken, dem es, wie
gesehen, um die unmittelbare Gegenwart des Absoluten geht.
Thema des Aufsatzes ist ein »Theologisches Paradoxon«, näm-
lich die »Unvereinbarkeit der Lehre von der Identität des Willens
Gottes […] und seines notwendigen Wesens mit der Lehre von der
Nichtnotwendigkeit der Weltschöpfung« 2. Hintergrund dieses Para-
doxons ist die Einsicht, dass die Welt schon allein deshalb nicht als
notwendige Schöpfung betrachtet werden kann, weil Gott sonst als
Schöpfer nicht frei gehandelt hätte. Wenn aber andererseits von der
Prämisse ausgegangen wird, dass Wesen und Willen Gottes identisch
sind, müsste sein Wille, die Welt zu erschaffen, Ausdruck seines We-
sens und somit notwendig sein. Das Paradoxon besteht also darin,
dass sowohl die Notwendigkeit als auch die Nichtnotwendigkeit der
Schöpfung als theologische Postulate vertreten werden können. Spae-
mann diskutiert in diesem Aufsatz die aktuelle Stellungnahme eines
Theologen zu diesem Problem, um deren Unzulänglichkeit zu zeigen
und darauf zu verweisen, dass bereits Thomas von Aquin sich mit
diesem Problem an mehreren Stellen beschäftigt hat. Der Rückbezug
auf Thomas erfolgt dabei mit dem offensichtlichen Anspruch, in Ver-
gessenheit geratene Denkweisen in Erinnerung zu rufen und ihre
unverminderte Aktualität zu betonen. Den Schlüssel zur Lösung des
126
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.
3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
3 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 241.
4
Ebd. 242.
127
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
etwas mit einer zu wendenden Not zu tun hat, nämlich der zu über-
windenden Nichtidentität von Dasein und Wesen. 5
Es wäre nun aber zu einfach, die im Raum stehende Frage schlichtweg
als falsch gestellt zurückzuweisen. Denn auch wenn die Rede von
Notwendigkeit Gott nicht gerecht wird, bleibt die aus der mensch-
lichen Daseinserfahrung resultierende Perspektive, durch die die
Differenz von Essenz und Existenz in die Gegenstände des Denkens
projiziert wird. Ein Wesen, das in sich selbst die Spannung zwischen
Essenz und Existenz erlebt, kann Gegenstände seines Denkens nicht
anders denken als mit einer analogen inneren Differenz. Daher gilt,
dass Gott für uns eine entsprechende innere Differenz aufweist:
»quoad nos gibt es auch in Gott einen Unterschied zwischen ›erster
und zweiter Substanz‹, zwischen abstraktem und konkretem Be-
griff« 6:
Der abstrakte Begriff Gottes ist der des ipsum esse subsistens, wel-
chem zugleich die transzendentalen Bestimmungen des Seins zu-
kommen. Wenn nun Thomas sagt, der Schöpfungswille sei nicht not-
wendig – absolute dictum –, so besagt dies: Absolut, also losgelöst von
der Faktizität des Seins der Welt, enthält der abstrakte Begriff Gottes
nichts, das über die bloße Identität mit sich selbst, den Willen zu sich
selbst, die Erkenntnis seiner selbst hinausführte. 7
Ein konkreter Begriff Gottes dagegen kann nur aus der Schöpfung
hervorgehen, da nur durch sie – und sei es auf dem Weg der Negation
wie in der Mystik – ein konkreter Zugang des Menschen zu Gott
möglich ist. Insofern die Faktizität des Seins der Welt nicht notwen-
dig sein kann, sieht man sich bei Thomas also »in das Paradoxon zu-
rückversetzt«, da eine »Auflösung nach der Seite der Notwendigkeit
[…] nicht möglich« 8 scheint.
Die Lösung des Widerspruchs, die Thomas »mehr andeutet als
ausführlich expliziert«, besteht in »einer Distinktion im Begriffe des
Notwendigen« 9, in der Einführung des Begriffes eines »necessarium
ex suppositione«, eines »bedingt Notwendigen« 10: »Er sagt nämlich:
5 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 244.
6 Ebd.
7 Ebd. 244–245.
8
Ebd. 240.
9 Ebd. 241.
10
Ebd.
128
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.
3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
Sed facta suppositione quod Deus illud (sc. Petrum salvari) velit vel
voluerit, impossibile est eum non voluisse vel non velle … (De ver.
XXIII. 4.), d. h. unter der Voraussetzung, dass Gott tatsächlich etwas
will, ist es unmöglich, dass er dieses nicht will.« 11 ›Bedingte Notwen-
digkeit‹ bedeutet somit nicht, dass die kontingente Faktizität des Da-
seins aus menschlicher Perspektive aufgehoben würde und in ein not-
wendiges Wesen verwandelt würde; ›bedingte Notwendigkeit‹
bedeutet, dass die aus unserer Sicht – quoad nos – kontingente Fak-
tizität nicht aus Gottes Sicht nicht gewollt sein kann:
Wie nun schon nur Gott vom endlichen Individuum eine Idee besitzt,
so hat erst recht nur Gott selbst von sich eine konkrete Idee, welche
freilich mit seinem »Wesen« identisch ist. Die Dialektik dieser Idee
wird uns jedoch nur ex suppositione sichtbar, nämlich unter der Vo-
raussetzung der Faktizität des kontingenten Daseins, welches wir nun
seinerseits hinwiederum ex suppositione als ein necessarium bezeich-
nen müssen, wobei ich es vorziehen möchte, necessarium wörtlich mit
»unausweichlich« anstatt mit notwendig zu übersetzen. 12
Das ›necessarium ex suppositione‹, das ›bedingt Notwendige‹, ist also
eine Formel, mit der die aufgrund unserer spezifischen Daseinserfah-
rung – quoad nos – im eigentlichen Sinne notwendige Paradoxie der
Identität von Natur und Wille Gottes und der Nichtnotwendigkeit
der Schöpfung überwunden werden kann. Dabei weist das ›ex sup-
positione‹ auf die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher
Perspektive hin. Das ›ex suppositione‹ drückt eine Teilhabe an der
göttlichen Perspektive seitens eines Wesens aus, das sich selbst als
kontingentes Sosein erlebt. In der menschlichen Perspektive auf sich
selbst, auf die Welt und durch diese auf Gott ist eine unaufhebbare
Paradoxie enthalten. Die Überwindung des Widerspruchs, von dem
der Gedankengang in dem Essay ausging, ist überhaupt nicht argu-
mentativ leistbar, sondern nur durch den Verweis auf die Faktizität
des Seins der Welt:
Wenn die Frage nach der Notwendigkeit des Schöpfungswillens nach
dem Enthaltensein dieses Willens in unserem Begriff des Wesens Got-
tes, mit anderen Worten nach der Deduzierbarkeit fragt, so muss sie
strikte verneint werden. Ist jedoch nach dem »wirklichen«, d. h. kon-
kreten Wesen Gottes als des Schöpfers gefragt, so ist die Frage inso-
11 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 243.
12
Ebd. 245.
129
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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs
fern sinnlos, als dieses faktische Wesen Gottes ja eben dadurch mit
definiert ist, dass er der Schöpfer ist. 13
Abschließend weist Spaemann darauf hin, dass »das innere Verhält-
nis von abstraktem und konkretem Wesen Gottes« 14, das trotz der
Aufhebung des Widerspruchs ex suppositone noch ungeklärt ist, nur
durch eine Spekulation über die Trinität zu thematisieren ist, 15 was
hier nicht weiterverfolgt werden kann.
Inwiefern haben nun die theologischen Überlegungen dieses
frühen Aufsatzes Spaemanns eine Aussagekraft in Bezug auf philoso-
phische Fragestellungen, denen sich Spaemann in der Entfaltung sei-
nes Denkens in den folgenden Jahrzehnten widmete? Die Bedeutung
dieses Aufsatzes ist nach meiner Einschätzung darin zu sehen, dass in
ihm zum einen Begriffsdistinktionen durchdacht werden, die später
im Rahmen von Spaemanns Personendenken von Bedeutung sein
werden, dass zum anderen sich eine strukturelle Eigenart seines
künftigen metaphysischen Denkens zeigt. Die »Realunterscheidung
von Essenz und Existenz« 16, von der Spaemann hier spricht, wird eine
zentrale Rolle spielen in seinen anthropologischen Überlegungen, für
die die Anknüpfung an Thomas von Aquin von bleibender Bedeutung
sein wird. Auch von der Person gibt es keine θεωρία und die Person
kann ihre innere Differenz – ihre Distanz zu einem kontingenten
Wesen – nur in der Paradoxie eines necessarium ex suppositione den-
ken, in der das ›ex suppositione‹ sich aus dem Übersteigen der eigenen
Perspektive ergibt. Philosophisch eingeholt wird dieser Gedanke erst
in den Schriften Spaemanns der 80er und 90er Jahre. 17 Zum anderen
lässt die Argumentationsstruktur dieses Aufsatzes, in dem es darum
geht, die Auflösung des genannten Paradoxons zu vermeiden und
vielmehr nach einem Horizont zu suchen, vor dem dieses Paradoxon
als notwendig erscheint, eine Eigenart von Spaemanns Denken her-
vortreten. Durch eine Reflexion auf die Grenzen rationaler Argu-
mentation gelangt er zu einem – vielleicht mit dem Begriff ›existen-
tiell‹ am besten bezeichneten – Denken, für das die Einbeziehung des
sich dem Begriff Entziehenden in den vernünftigen Diskurs konstitu-
13 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 245.
14 Ebd.
15 S. ebd. 246–247.
16
Ebd. 244.
17 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen
130
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.
3.3 Das Absolute an sich und quoad nos
131
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.
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4 Studien über Fénelon:
Das Denken der Selbsttranszendenz
4
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 16.
133
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
134
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
auf der anderen Seite um eine mit dem Begriff Liebe verbundene
absolute Selbsttranszendenz. In dem Streit ging es somit um die Fra-
ge, ob eine absolute Selbsttranszendenz in der reinen Liebe möglich
ist oder ob jede menschliche Liebe, auch die zu Gott, in den Grenzen
des Subjekts verbleiben muss, weil das, was geliebt wird, nie die Sache
selbst ist, sondern immer nur ein subjektives Bild derselben bleibt.
Zunächst soll nun der philosophiegeschichtliche Aspekt dieser
Fragestellung kurz beleuchtet werden. Die Studien über Fénelon kön-
nen als eine Fortsetzung der in der Dissertation über Bonald begon-
nenen Arbeit gelesen werden. In der Französischen Revolution wurde
eine Entzweiung gesellschaftliche Realität, deren Wurzeln weiter in
die Vergangenheit zurückreichen. Fénelons Bedeutung besteht in den
Augen Spaemanns darin, dass »er vielleicht als erster Theologe […]
die Frage nach der Möglichkeit christlicher Existenz unter den Bedin-
gungen der Entfremdung gestellt hat« 7, dass er »das Problem christ-
licher Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Ent-
zweiung gestellt hat« 8. Konkret stellt sich also die Frage, inwiefern im
Streit um den amour pur jene Entzweiung vielleicht zum ersten Mal
klar zutage tritt, die später in der Französischen Revolution gesell-
schaftliche Realität wurde.
Wenn die Lehre von der Caritas, die in der katholischen Schultheolo-
gie bereits eine außerordentlich differenzierte Ausbildung seit Jahr-
hunderten besaß, plötzlich zum Anlaß eines Europa bewegenden
Streits wurde, so kann der Grund dafür nur gefunden werden, wenn
man fragt, inwiefern das allgemeine philosophische Denken der Zeit
und ihr Lebensgefühl Wandlungen erfahren hat, in Anbetracht deren
bestimmte alte Antworten nicht mehr als Antworten auf die eigenen
Fragen erscheinen. 9
Bossuet und Fénelon teilen Denkvoraussetzungen, durch die ein in
der mittelalterlichen Theologie argumentativ auflösbares Problem in
eine Aporie führen kann, deren Ausblendung auf der Seite Bossuets
erhebliche theologische und kirchengeschichtliche Konsequenzen ha-
ben sollte, deren Annahme auf der Seite Fénelons dagegen zur In-
fragestellung des menschlichen Denkens selbst führte. Das philo-
sophiehistorische Interesse Spaemanns in den Studien über Fénelon
besteht darin, diese Denkvoraussetzungen des 17. Jahrhunderts als
7
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 21.
8 Ebd. 23.
9
Ebd.
135
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
10 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
192.
11 Dieses Schlagwort geht zurück auf die Jansenisten, die von den »schimärischen
136
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
seiner Lehre (4.3). Im nächsten Schritt wird der Blick gelenkt auf die
Folgen der Niederlage Fénelons im Streit mit Bossuet für die katho-
lische Kirche und auf den Sieg des Fénelonismus in der Philosophie
Kants und anderer (4.4). Aufbauend auf dieser Untersuchung der
weit reichenden philosophiegeschichtlichen Vernetzung Fénelons soll
auf einer Metaebene die Perspektivik von Spaemanns Studie und da-
mit ihre wissenschaftliche Methode betrachtet werden, um die ge-
schichtsphilosophische Bedeutung dieser Studien über Fénelon he-
rauszuarbeiten (4.5). Abschließend wird Spaemanns Gesamtdeutung
des Phänomens Fénelon nachgezeichnet, wobei sowohl die Größe als
auch die Grenzen Fénelons beleuchtet werden (4.6).
137
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.
4.1 Bürgerliche Ethik und
nichtteleologische Ontologie
Das zweite Kapitel der Studien über Fénelon widmet sich unter dem
Titel »Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische
Ontologie« den oben erwähnten Denkvoraussetzungen der beiden
Kontrahenten im Streit um den amour pur. Ausgangspunkt ist hier
die Frage »nach dem sachlichen Hintergrund jenes Zerwürfnis-
ses […], das über einer Frage entstand, über die schließlich bereits
eine jahrhundertealte hochdifferenzierte und von Fénelon ebenso
wie von Bossuet anerkannte Lehrtradition vorlag.« 1 Den im 17. Jahr-
hundert zutage tretenden Wandel des Bewusstseins, durch den die
»schroffe[ ] Entgegensetzung von amour propre und amour pur de
Dieu« 2, Eigenliebe und reiner Gottesliebe, möglich wurde, fasst Spae-
mann unter folgenden beiden Aspekten: »1. das nichtteleologische
Verständnis der Natur und des Menschen als Naturwesen, 2. die
Selbstreflexion des Subjekts als Ausgangspunkt der Metaphysik wie
der Ethik und – damit zusammenhängend – die Umschmelzung der
Philosophie in die Form des Systems.« 3 Im Folgenden sollen beide
Aspekte knapp erläutert und ihre Bedeutung im amour-pur-Streit
dargelegt werden.
Die nichtteleologische Ontologie fand ihren paradigmatischen
Ausdruck in dem oben im Zusammenhang mit Bonald 4 bereits zitier-
ten Satz Spinozas: »Per realitatem et perfectionem idem intelligo.« 5
Ebenso wie in der Bonald-Studie stellt Spaemann in den Studien über
Fénelon diesem Satz die aristotelische Unterscheidung von Sein und
Vollkommenheit bzw. Leben und gutem Leben (ζῆν und εὖ ζῆν) ge-
genüber. Die Vollkommenheit erscheint dem Sein gegenüber als
»zweite Wirklichkeit«:
Diese zweite Wirklichkeit aber hat ihrerseits wiederum teleologische
Struktur, denn sie wird als »Tätigkeit« bestimmt. Drei Axiome des
4
Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 122–123.
5 Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 100. – Deutsch: »Unter Rea-
138
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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie
6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Sum. theol. III,
qu. 9, art. 1. Vgl. Aristoteles, De caelo II, 3. 286a. Vgl. auch Sum. theol. I, qu. 105,
art. 3: »Die Form, die die erste Wirklichkeit ist, ist um ihrer Tätigkeit willen, welche
die zweite Wirklichkeit ist.« – Ebd. 317.
7 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 73, art. 1, und I, II,
10 Ebd. 61. – Spaemann zitiert hier frei Francis Bacon, ein Zitat, das in seinen späteren
139
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
12 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 61. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Spinoza, Ethica III, Prop. VII. Opera II. S. 146. – Ebd. 317. – Vgl.
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66,
u. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 112.
13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 63.
14 Ebd. 62.
15 Ebd. 30.
16 Ebd. 65.
17
Vgl. die Ausführungen zu Spaemanns Stuttgarter Antrittsvorlesung unter dem
Titel »Die zwei Grundbegriffe der Moral« in Abschnitt 5.3.2, Das Absolute in ethi-
scher Perspektive, 304–313.
140
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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie
Haltung zu sein, die nur überwunden werden kann durch das Ab-
sehen vom eigenen Interesse und somit durch einen guten Willen,
den Kant in seiner Pflichtethik in den Mittelpunkt stellt. Das 16. und
17. Jahrhundert stellt in dieser Entwicklung einen Übergang dar mit
einer »bürgerlichen Philosophie […], die in ihren großen systemati-
schen Vertretern die Ethik gerade im Ausgang vom Interesse neu zu
begründen bestrebt ist« 18. Es liegt auf der Hand, dass Selbsttranszen-
denz bzw. die Möglichkeit einer reinen Gottesliebe mit einer in die-
sem Sinne eudämonistischen Ethik kaum vereinbar sein dürften.
Dass die »Selbstreflexion des Subjekts« 19 Ausgangspunkt des
Denkens sowohl in der Metaphysik als auch in der Ethik ist, zeigt sich
also dort am Selbsterhaltungsparadigma, hier am Prinzip der Phil-
autie. Darüber hinaus dringt, wie Spaemann zeigt, mit dem Ausgang
von der Selbstreflexion des Subjekts der aus neuzeitlicher Sicht
selbstverständlich erscheinende Begriff des Systems erst im 17. Jahr-
hundert »aus der Astronomie und Musik in die philosophische und
theologische Terminologie« 20 ein: »Die Entstehung dieses Begriffs,
der gewöhnlich von zeitgenössischen Autoren durch die Kohärenz
von Aussagen untereinander und ihre Ableitung von einem gemein-
samen ›Prinzip‹ definiert wird, zeigt eine tiefgreifende Wandlung des
Denkens, die keineswegs ohne Bedeutung für dessen Inhalt ist.« 21
Indem in der beginnenden Neuzeit bei Telesio und Campanella die
Selbsterhaltung zum höchsten Gut wird, ergibt sich die Möglichkeit
einer »systematische[n] Ableitung aller Tugenden aus einer Wurzel«,
womit »zum erstenmal ein ›System‹ der Ethik« 22 entsteht. Damit ist
eine Verwandlung des philosophischen Denkens im Allgemeinen zu
einer Subjektphilosophie eingeleitet: »Die Interpretation aller phi-
losophischen Aussagen zu einem homogenen Ganzen ist die Folge
einer Vermittlung aller dieser Aussagen durch die Reflexion des Sub-
jekts.« 23 Auch in diesem Zusammenhang dürfte deutlich sein, dass die
»theozentrische Einheit« 24, um die es beim Gedanken einer reinen,
20 Ebd. 68.
21 Ebd.
22
Ebd. 67.
23 Ebd. 68.
24
Ebd. 45.
141
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
142
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4.2 Reflexion und Spontaneität in
Fénelons ›kleiner Mystik‹
gie wird nicht biologisch destruiert.« – Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in:
Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 216–217. – Eine Entgegnung auf die hier
von verschiedenen Seiten vorgetragene Kritik an Spaemanns Konzeption der Inver-
sion der Teleologie ist nur möglich auf der Grundlage der positiven Ausdeutung der
Subjektivität im neuzeitlichen Verständnis durch Spaemann. Nach der hier vorgeleg-
ten Interpretation gewinnt diese ihre endgültige Gestalt aber erst mit der Ontologie
der Person, die Gegenstand des achten Kapitels sein wird. Insofern Teilkapitel 12.1 im
Sinne einer retrospektiven Illumination Spaemanns Auseinandersetzung mit dem
Teleologie-Problem noch einmal vom Standpunkt seiner hier vor allem in den Kapi-
teln sechs bis neun zu entwickelnden Ontologie beleuchten wird, soll dort noch ein-
mal Bezug genommen werden auf die hier zitierte Kritik seiner Konzeption. – Vgl.
Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleo-
logischen Denkens‹, 878–879, Fn. 32.
1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 28.
2
Ebd. 29.
3 Ebd. 35.
4
Vgl. ebd. 37.
143
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
5 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 39. – Deutsch: »Es wäre um jenes
reine Feuer geschehen, das der Herr Jesus vehement anfachen wollte und das der
Bischof von Meaux ausgelöscht wünscht.« III, 547. – Ebd. 312.
6 Ebd. 39.
7 Ebd. 35.
8 Ebd. 36.
9 Ebd. 237.
10 Ebd. 303.
11
Ebd. 36.
12 Das siebente Kapitel der »Studien über Fénelon« trägt den Titel: »Der ›Geist der
144
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.
4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
so wollen und lieben, wie er selbst will und liebt, d. h. umsonst und
ohne das Motiv einer zu erreichenden Seligkeit« 13. Näher an das Ver-
ständnis der reinen Liebe heran führt daher die Problematisierung
der Reflexion.
In seiner Thematisierung der Reflexion sieht Spaemann Féne-
lons wesentliches philosophisches Verdienst: »Die Weise, wie Fénelon
die Reflexion als zentrales Problem thematisiert, verleiht ihm mehr
als alles seinen Rang in der Geschichte des neuzeitlichen Bewußt-
seins.« 14 Die Reflexion ist das zentrale Problem in Fénelons Lehre
von der reinen Liebe, denn sie »macht gerade das unmöglich, wonach
sie auf der Suche ist, […] die Transzendenz« 15. Worin besteht nun im
Kern das Problem der Reflexion? Die Reflexion zerreißt den direkten
Zusammenhang zwischen einem Subjekt und seinen Objekten, denn
in jedem reflexiven Bezug auf ein Objekt ist nicht das Objekt selbst
vorhanden, sondern nur eine subjektive Vorstellung, seine Relevanz
für das Subjekt. Von zentraler Bedeutung ist daher für Fénelon die
»Unterscheidung von Objekt und Motiv« 16 oder, mit anderen Wor-
ten, die »Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz
des Objekts« 17. Durch die Reflexion wird jedes Objekt auf das Ich
und die Eigenliebe bezogen und erscheint so nur noch in seinem
Nutzwert für das Subjekt:
Diese Reflexion ist es, die, indem sie erst die »Zueigenheit«, die »pro-
priété« stiftet, für Fénelon wie für die gesamte Mystik zur eigentli-
chen Ursünde wird. Aber hinter diese Reflexion kann nun nicht zu-
rückgegangen werden auf eine ursprüngliche ungebrochene Einheit
von Subjekt und Objekt, sondern sie kann nur aufgehoben werden in
jenem »abandon total«, jener vollkommenen Hingabe des Subjekts,
die für Fénelon das Wesen der reinen Liebe ausmacht. 18
Den Versuch eines solchen Zurückgehens hinter die Reflexion auf
eine ungebrochene Einheit von Subjekt und Objekt erkennt Fénelon
in der eudämonistischen Ethik seines Zeitalters, die er leidenschaft-
lich bekämpft: »Der individualistische Motivbegriff dient Fénelon nur
13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 43. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Œuvres complètes de Fénelon, archévêque de Cambrai (Edition de
Saint-Suplice), 10 Bände, Paris, Lille, Besancon, 1848–1852, III, 424. – Ebd. 313 u. 351.
14 Ebd. 127.
15 Ebd. 131.
16
Ebd. 42.
17 Ebd. 46.
18
Ebd.
145
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
22 Ebd.
23
Ebd. 136.
24 Ebd. 280. – Spaemann zitiert hier Jean Paul und verweist auf folgende Quelle des
Zitats: Levana, Sämtl. Werke Abt. I, Bd. 12, S. 336. – Ebd. 346–347.
146
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
Interesse zerstört, welches ihr zugrunde liegt.« 25 Erst wenn die Re-
flexion »sich selbst und die Befriedigung des Hochmuts als Triebfeder
der eigenen Moralität offenbart«, kehrt sie sich gegen sich selbst,
wird die »moralische Skepsis des aristokratischen Weltmannes La Ro-
chefoucauld […] zur Verzweiflung bei dem aristokratischen Kirchen-
mann Fénelon« 26. Was übrig bleibt, ist ein »Zustand innerer Leere
und Öde, in dem die Reflexion nichts mehr findet, worauf sie ihr
Interesse richten könnte als sich selbst und ihre eigene Nichtigkeit.
In diesem Zustand gelangt der Mensch zu einer ›reflektierten Über-
zeugung von der eigenen Verdammnis‹.« 27 Dieser Zustand ist »der
Untergang der Reflexion, die sich nun als identisch mit jenem amour
propre erweist, den sie beständig zu enthüllen schien« 28, zugleich ist
dies der »Zustand der äußersten Gottesferne« 29, der paradoxerweise
das letzte aus eigener Kraft erreichbare Ziel darstellt: »Denn diese
äußerste Gottesferne ist die Bedingung der Befreiung des Menschen
zu Gott, die äußerste Entfremdung der Anfang der Versöhnung, die
erbarmungslos zu Ende geführte Reflexion die Bedingung für die
Entbindung neuer, ungebrochener Spontaneität.« 30 Aus dem Zirkel
der Reflexion kann nur die Aufgabe jeglichen Eigeninteresses heraus-
führen, die zugleich Annahme der eigenen Verdammnis ist und in
verzweifelter Gottesferne paradoxerweise den höchsten Akt des Ge-
horsams gegenüber Gott darstellt:
Gehorsam ist für Fénelon die letzte Antwort auf das Problem der un-
endlichen Reflexion. Solange der Sprung aus der Selbstisolierung he-
raus selbst nur in der Reflexion geschieht, bleibt er nichtig. Erst in der
realen Übergabe des eigenen Willens an den eines andern geschieht die
reale Befreiung, die Befreiung von der Gefangenschaft des Ich in sich
selbst. 31
Die vollkommene Hingabe des Subjekts wird somit erreicht »durch
den Tod jener um sich selbst kreisenden Natur« 32. Diese Radikalität
25
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 140.
26 Ebd. 141.
27 Ebd. 142.
28 Ebd.
29 Ebd.
30 Ebd. 142–143. – Vgl.: »Vielleicht könnte man Fénelons Standpunkt zugespitzt mit
dem Satz: ›Wer nicht suchet, der findet‹ ausdrücken.« – Kreuzer, Die wahre Defini-
tion der Caritas, 159, Fn. 4.
31 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 192.
32
Ebd. 57.
147
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
40 Ebd. 23.
43
Vgl. Heidrich, Seelengrund, in: HWPh IX, col. 93–94, Ders., Fünklein, Seelen-
fünklein, in: HWPh II, col. 1137–1138, u. Ders. Seelenspitze, in: HWPh IX,
col. 110–111.
149
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹
der Spontaneität, für die die Unterscheidung von direkten und reflek-
tierten Akten grundlegend ist« 52. Da »der Zustand der Gottverlassen-
heit […] nach der Lehre Fénelons nicht durch reflektierte sittliche
Anstrengung zu überwinden ist« 53, bleiben nur als direkte Akte »die
›indifférence‹ […] und die Einwilligung in die ›supposition impossi-
ble‹, die unmögliche Annahme der eigenen Reprobation 54 im Gehor-
sam gegen den Willen Gottes« 55. In dieser Lehre von den direkten
Akten sieht Spaemann die »eigentliche Leistung Fénelons«, da er
durch sie, »ohne Rückgriff auf die scholastische Ontologie der Sub-
stanz, doch deren praktischen Sinn erneuerte« 56.
Der auf diesen Seiten unternommene Versuch einer knappen
Skizzierung der »kleinen Mystik« Fénelons hatte sich mit der
Schwierigkeit auseinanderzusetzen, dass jener ›einzige Gedanke‹
Fénelons von der reinen Liebe 57 sich stets entzieht und nur durch sein
wiederholtes Umkreisen an Kontur gewinnt. Dies liegt wesentlich
daran, dass hier mit der Spontaneität der reinen Liebe ein Negatives
thematisiert wird, insofern sie »sich zwar im Vollzug ihrer selbst be-
wußt ist, aber sich jeder Vergegenständlichung durch Introspektion
entzieht« 58. Nur indirekt konnte es überhaupt gelingen, durch Ana-
lyse der ontologischen Bedeutung psychologischer Erfahrung über-
haupt einen gewissen Begriff von ihr zu gewinnen. Man kann inso-
fern von einem grenzorientierten Philosophiebegriff Fénelons spre-
chen, der auf die Lebenspraxis als sein eigentliches Ziel verweist:
Wo das Denken als »reflektierendes Raisonnieren« und dieses als Ak-
tivität einer um sich selbst kreisenden Natur gefaßt wird, da wird die
entschiedene Wendung zum Praktischen, ja Pragmatischen zur Kon-
sequenz eines Weges, dessen Ziel ursprünglich in Begriffen wie Passi-
vität, Ruhe usw. formuliert wurde. »Man darf keine Wahrheit in Be-
tracht ziehen«, so schreibt Fénelon, »es sei denn mit Bezug auf die
Praxis«. 59
Seligkeit zu verstehen.
55 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.
56 Ebd. 76.
57
Vgl. ebd. 303.
58 Ebd. 137.
59
Ebd. 147.
151
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Nicht von ungefähr trägt daher das letzte Kapitel der Studien zu
Fénelon den Titel »Die Lehre von der reinen Liebe als pädagogische
Theorie« 60, denn der Sinn des Fénelon’schen Werks, so Spaemann,
»enthüllt sich, wo es als pädagogisches gesehen wird. Das will sagen,
daß Fénelon als den eigentlichen und einzigen Ort der Versöhnung
die Subjektivität begreift, die die Entfremdung auf sich zu nehmen
und als heilbringendes Kreuz zu tragen bereit ist.« 61 Das »Problem
christlicher Existenz […] auf dem Boden der Entzweiung gestellt« 62
zu haben, bedeutet mit Blick auf Fénelon also die Konversion aller
philosophischen Bemühungen in einer pädagogischen Theorie, der
es mit der Überwindung des amour propre um ein »›Verschwinden
[…]‹ im bürgerlichen Leben« geht, in dem die »Nichtidentität des
Subjekts mit seiner ›Welt‹« 63 erst voll zutage tritt.
63
Ebd. 257.
152
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4.3 Philosophiegeschichtliche Verortungen
Die Bedeutung Descartes’ für das Verständnis der Lehre Fénelons und
den Streit um den amour pur betont Spaemann wiederholt: »Fénelon
und Bossuet sind Cartesianer, und ihre theologische Kontroverse
kann nur auf dem Hintergrund dieser Tatsache verstanden werden.« 1
Allerdings ist Fénelon, so Spaemann, ein Cartesianer, dessen Grund-
gedanke »dem Geist des Cartesianismus durchaus fremd« 2 ist. Daher
soll zunächst dargelegt werden, inwiefern Fénelon als Cartesianer den
Cartesianismus selbst überwindet, bevor auf die Bedeutung der carte-
sischen Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten für die
Mystik und Fénelon eingegangen wird.
Als Cartesianer kann Fénelon zunächst bezeichnet werden auf-
grund seines Ausgangs im Denken vom Subjekt und seinem, wie
Spaemann bemerkt, »beinahe krankhaften Grad der Selbstreflexi-
on« 3. Er orientiert sich an der philosophischen Methode Descartes’,
wenn er versucht, »eine orthodoxe Interpretation der Mystik auf dem
Boden der clara et distincta perceptio zu geben« 4, und ein »formales
Ideal […] der Gewißheit, der certa cognitio« 5 verfolgt. Allerdings
kann Fénelon im Sinne seines Leitgedankens der reinen Liebe nicht
auf der Grundlage des cartesischen Cogito stehen bleiben. »Denn in
der ›reinen Liebe‹ wird ja nun eben doch das Cogito, der Ring der
Reflexion gesprengt. Die Möglichkeit eines solchen Transzendierens
liegt nicht im Bereich jener Philosophie, die auch die Fénelons ist. Um
ihretwillen muß vielmehr der Vernunft und der Philosophie abgesagt
werden.« 6 Diese Überwindung realisiert Fénelon durch eine Steige-
rung des cartesischen »Zweifel[s] zur Verzweiflung« 7. Sein Wider-
153
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
12
Ebd. 114.
154
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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus
155
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
in den Zweifel zurückziehe« 22. Daher gilt, dass auch der Zweifel be-
reits eine vollzogene Wahl ist, die aber aus dem zweifelnden Bewusst-
sein heraus nicht begründet werden kann. Auf der anderen Seite der
Alternative kommt dagegen Gott ins Spiel, der allerdings im
»Medium der neuen [Metaphysik] nur in der Form der Möglichkeit
erscheinen kann« 23. Aber allein seine Möglichkeit entscheidet, wie
Fénelon unterstreicht, welche Wahl angesichts dieser Alternative zu
treffen ist:
Wenn ein allmächtiges, unendlich gutes und wahrhaftes Wesen mich
gemacht hat, damit ich die Wahrheit erkenne durch die rechte Ver-
nunft, die es mir gegeben hat, dann bin ich unentschuldbar, wenn ich
mich selbst durch einen willkürlichen Zustand verblende, und mein
universaler Zweifel ist ein Monstrum. Wenn dagegen meine Vernunft
falsch ist, bleibe ich entschuldbar, wenn ich ihr folge. Denn was kann
ich Besseres tun, als mich treulich alles dessen bedienen, was in mir ist,
um zu versuchen, gerade auf die Wahrheit zuzugehen. 24
Aus der Radikalisierung des cartesischen Rationalismus durch Féne-
lon ergibt sich also auch streng argumentativ die Überwindung der
Reflexion, insofern die »Forderung unbezweifelbarer Gewißheit im
Ausgang vom denkenden Subjekt […] zum Primat der praktischen
Vernunft« führt und die Liebe zur »Bedingung der Möglichkeit […]
aller Erkenntnis überhaupt« 25 wird.
Abschließend soll noch ein weiterer Aspekt des Cartesianismus
erwähnt werden, der im Zusammenhang mit Fénelons Denken von
Bedeutung ist. Spaemann bemerkt, dass die »Geringschätzung der
geistlichen Bedeutung einer methodischen Meditation innerhalb der
quietistischen Mystik […] eine eigenartige Parallele zur cartesischen
Lehre von der Erschaffung der sog. ewigen Wahrheiten« 26 darstellt.
Diese Lehre besagt, dass z. B. der Satz 2 + 2 = 4 nicht deshalb ewig
wahr ist, weil er unabhängig von den materiellen Gegenständen be-
steht und mit dem göttlichen Verstand identisch ist, sondern deshalb,
weil Gott diesen Satz, wie er ist, geschaffen hat. Gott hätte an seiner
Stelle ebenso einen anderen Satz schaffen können.
22 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 114. – Spaemann verweist als Quel-
le der beiden Zitate auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. – Ebd. 327.
23 Ebd. 115.
24 Ebd. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. –
Ebd. 327.
25 Ebd. 116.
26
Ebd. 232.
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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
33
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 234.
34 Ebd. 226.
35 Ebd. 234.
36 Ebd. 237.
37 Ebd. 225.
38 Ebd. 231.
39 Ebd. 70.
40
Ebd. 265.
41 Ebd. 319. – Vgl. ebd. 217–218. – An diesem Gedanken wird Spaemann in der wei-
teren Entfaltung seines Denkens festhalten, so dass Leibniz für ihn neben Descartes
158
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.
4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche
43 Ebd.
44 Ebd. 82.
45
Ebd. 212.
46 Ebd. 215.
47
Ebd. 216.
159
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
51
Ebd. 218.
52 Vgl. die Wiederaufnahme dieses Gedankens in Abschnitt 9.2.2, Das Kunstschöne
versuch kam trotz dreier seitens Leibniz’ unternommener Versuche aus verschie-
denen Gründen nie zustande. – Vgl. ebd. 222–235.
54 Ebd. 222.
55
Vgl. Fénelons Unterscheidung von »Objekt und Motiv« – ebd. 42 – bzw. die
»Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz des Objekts« – ebd. 46, u.
Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 145–146.
160
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
Perspektive, 172–179.
161
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den
amor perfectus« geht Spaemann insbesondere auf eine Stelle zur tho-
mistischen caritas-Lehre aus der Summa theologica ein, »die zu zitie-
ren Bossuet nicht müde wird«: »Dato enim per impossibile quod Deus
non esset hominis bonum, non esset ei ratio diligendi.« 60 Für Bossuet
stellt dieser Satz einen schlagenden Beweis dar, dass jede Liebe – also
auch die Gottesliebe – ein amour propre sei. Fénelon dagegen unter-
scheidet zwischen dem Verhältnis von Gott als Schöpfer zum Men-
schen als seinem Geschöpf und der Motivation des Menschen zur
Liebe Gottes. Der Satz bezieht sich nach seiner Lesart auf den ersten
Zusammenhang, nicht auf den zweiten. Um nun die Bedeutung des
Satzes aus der Sicht Thomas’ zu verstehen, muss sein Kontext in der
betreffenden quaestio beachtet werden. Der Satz ist in der quaestio
der Summa theologica die Antwort auf den Einwand, dass »in der
(ewigen) Heimat« der irdische ordo amoris, demgemäß der Mensch
nach Gott sich selbst am meisten liebt, aufgehoben und »der Gott
Näherstehende mehr als das eigene Selbst geliebt« 61 werden müsse.
Vereinfacht gesagt, stellt dieser Einwand also die Berechtigung der
Selbstliebe grundsätzlich in Frage. Dem zitierten Satz folgt in der
quaestio untermittelbar die conclusio: »Et ideo in ordine dilectionis
oportet quod post Deum homo maxime diligat seipsum« 62. Der Sinn
der Antwort ist dann nach Spaemann folgender:
Dort wo Gott das totale Gut des Menschen ist, bedarf es, um der Un-
terordnung unter die Gottesliebe willen, nicht einer besonderen Be-
vorzugung der Gott Näherstehenden. Denn alle Liebe ist hier Gottes-
liebe und nichts als dies, so daß der ordo amoris, in dem die Selbstliebe
den ersten Platz hat, durchaus erhalten bleiben kann, ohne daß der
Gottesliebe Abbruch geschieht. 63
Entscheidend für das Verständnis des Satzes im konkreten Kontext
der quaestio ist der Liebesbegriff Thomas’, nach dem die Selbstliebe
des Menschen gleichgesetzt wird mit der Zuwendung zu Gott als dem
höchsten Gut und frei ist von jeder Konnotation einer egozentrischen
62
Ebd. – Deutsch: »Daher ziemt es sich in der Ordnung der Liebe, daß der Mensch
nächst Gott sich selbst am meisten liebt.« – Ebd.
63
Ebd.
162
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
163
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
Der Grund, warum Fénelon und Bossuet sich mit ganz konträren
Intentionen auf Thomas beziehen können, liegt vor allen Dingen in
Thomas’ Begriff der Natur, der sich in seiner Weite vom Naturbegriff
des 17. Jahrhunderts unterscheidet. Thomas sagt sowohl: »Die Natur
ist auf sich selbst zurückgebeugt« 71, womit die Selbstliebe als Teil der
Natur bezeichnet ist, als auch, dass »von Natur jedes Wesen Gott
mehr liebt als sich selbst« 72, womit die reine Gottesliebe ebenso zu
einem Teil der Natur wird. Diese beiden Sätze stehen in einem
scheinbaren Widerspruch, der sich auflösen lässt durch Thomas’ Be-
griff der natürlichen Neigung, durch den das Verhältnis von Selbst-
und Gottesliebe in Analogie zu seinem oben erörterten Liebesbegriff
erklärt wird. In diesem Zusammenhang führt Spaemann zwei Zitate
Thomas’ an:
»Die Natur ist auf sich selbst zurückgebeugt, nicht nur in bezug auf
das, was sie Besonderes hat, sondern vielmehr in bezug auf das, was
gemeinsam ist. Denn ein jedes Ding ist dazu geneigt, nicht nur sich als
Individuum, sondern auch seine Art zu erhalten. Und um so mehr hat
ein jedes Ding eine natürliche Neigung zu dem, was das allgemeine
Gut schlechthin ist.« 73 […]
»Ein jedes natürliche Ding, welches in dem, was es selbst ist, einem
anderen zugehört, neigt sich fundamentaler und intensiver zu dem
hin, welchem es zugehört, als zu sich selbst.« 74
Der »ekstatische Charakter dieser Anthropologie« des Thomas – »Der
ganze Mensch ist um eines äußeren Zieles willen da, nämlich daß er
Gott genieße« 75 – ist im 17. Jahrhundert verloren gegangen und der
Naturbegriff auf das Streben nach Selbsterhaltung bzw. Eigenliebe
reduziert. Unter diesen Bedingungen »wäre die natürliche Liebe per-
71
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 95. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5, obj. 3. – Ebd. 324.
72
Ebd. 95. – In der Anmerkung zu diesem Thomas-Zitat verweist Spaemann auf
folgendes Zitat: »Gott über alles und mehr als sich selbst zu lieben ist nicht nur einem
Engel und dem Menschen naturgemäß, sondern überhaupt jeglichem Geschöpf.«
Quaest. quodl. I, 8. – Ebd. 324.
73 Ebd. 95. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5,
ad 3. – Ebd. 324.
74 Ebd. 95–96. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60,
– Ebd. 317.
164
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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität
vers und könnte durch die übernatürliche Tugend der caritas nicht
vollendet, sondern nur destruiert werden« 76.
Abschließend soll nun »nach den Gründen […] für die Wand-
lungen in der philosophischen Deutung der Liebe im Übergang zur
Neuzeit«, die sich in der Bezugnahme auf Thomas im amour-pur-
Streit widerspiegeln, gefragt werden. Spaemann sieht »zwei wesent-
liche Gesichtspunkte« 77, die oben im Zuge der Darstellung der bür-
gerlichen Ethik und nichtteleologischen Ontologie bereits erwähnt
wurden 78:
Der eine betrifft die Ersetzung des teleologischen Dynamismus in der
Ontologie durch eine Ontologie, in deren Mittelpunkt der Begriff der
Selbsterhaltung, und eine Psychologie, in deren Mittelpunkt das Mo-
tiv der Lust steht. Damit wird der thomistische Begriff des amor natu-
ralis hinfällig. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Theorie des amor
intellectualis […] [, die] zur notwendigen Voraussetzung die realisti-
sche Vernunfttheorie hat, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist
als sie selbst anwesend ist; auf Grund dieser im ekstatischen Wesen der
Vernunft gründenden Anwesenheit ist eine vernünftige Liebe denk-
bar, die das Andere als es selbst – nicht bloß in seiner Beziehung auf
die eigene »Natur« – zu ihrem Gegenstand macht. 79
Fénelon und Bossuet stehen beide auf dem Boden der als Selbsterhal-
tungsontologie gekennzeichneten neuzeitlichen Philosophie, – Bos-
suet in einer affirmativen, Fénelon in einer die Skepsis radikalisieren-
den ablehnenden Haltung. Beide sind dem cartesischen Ideal einer
distanzierenden »certa cognitio« 80 verpflichtet. Bossuets Bezugnahme
auf Thomas kann man als anachronistisch bezeichnen, er beruft sich
auf den Begriff hominis bonum (des Menschen Gut) bei Thomas, dem
er jedoch eine ganz andere Bedeutung beimisst als Thomas; für Féne-
lon stellt allein die reine Liebe eine Brücke zum Kern der thomasi-
schen Lehre dar. Die Fremdheit Thomas von Aquins aus der Sicht der
Kontrahenten im amour-pur-Streit konnte hier nur indirekt dazu bei-
tragen, die Lehre Fénelons weiter zu konturieren. An späterer Stelle 81
wird Thomas’ Denken im Zuge der Betrachtung der wissenschaft-
80
Ebd. 109.
81 S. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische
Perspektive, 172–179.
165
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
166
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.
4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
4
Ebd. 208.
5 Kant unterschied in »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«
7 Ebd. 19.
8 Auf dieser Linie liegt auch der Vicomte de Bonald, dessen funktionalistisches Den-
ken, wie oben – s. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens,
123–124 – gesehen, die mögliche Eliminierung Gottes aus seinem Gesellschaftsmodell
nahelegte. – Vgl. das Kapitel »Das Dilemma des Traditionalismus: Saint-Simon –
Comte – Maurras« in: Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration (1959), 183–193.
167
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
12 Vgl. Kant, KpV, A 82, »Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen
Vernunft«: »Das moralische Gesetz ist in der Tat ein Gesetz der Kausalität durch
Freiheit, und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysi-
sche Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Kausalität der sinn-
lichen Natur war, und jenes bestimmt also das, was spekulative Philosophie unbe-
stimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Kausalität, deren Begriff in der
letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objektive Realität.«–
Kant, Werke, Bd. 6, 162.
13 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Vorrede zur 2. Auflage der
Kritik der reinen Vernunft. – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 322.
14
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 87. – Vgl. Abschnitt 5.3.2, Das Ab-
solute in ethischer Perspektive, 304–313.
15
Ebd. 242.
168
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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
gegen hat für »Fénelons Konzeption der Liebe […] diese in der Tat
keine andere Realität als die des Prozesses, in der sie erstrebt wird« 16:
Hier ist nun wohl die entscheidende Differenz zwischen jenen beiden
Konzeptionen des Ethischen zu sehen, die so überraschend viele Züge
und vor allem den antieudämonistischen gemeinsam haben. Jene Me-
tanoia, die die Befolgung eines für alle geltenden Gesetzes aus reiner
Achtung für dasselbe zur ausschließlichen Maxime des eigenen Han-
delns erhebt, steht bei Fénelon nicht in der erhabenen Isolierung, in
der sie sich bei Kant befindet, sondern ist selbst nur Moment in einem
Prozeß stufenweiser Läuterung zu immer größerer »Reinheit« der
Liebe, sie ist Stadium auf einem Wege, der weit unterhalb der kantisch
begriffenen Moralität beginnt – in seinen Anfängen trägt er ganz of-
fen und unbekümmert eudämonistische Züge –, einem Weg, der aber
in seinem Fortgang die Kantische Moralität hinter sich läßt und in den
Bereich jenes »Edlen« führt, das nach Kant »auf leere Wünsche und
Sehnsüchte nach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft« 17, wo-
mit Kant den alten, von den Jansenisten erhobenen Vorwurf des
»Schimärischen« wiederaufnimmt. 18
Den Grund für diese Differenz erkennt Spaemann in der »abstrakten
Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Vernunft« bei Kant, die bei
Fénelon durch die »Antithese von Liebe und Selbstsucht« 19 ersetzt ist,
wodurch er das sittliche Problem in ein pädagogisches verwandelt.
Abschließend sei noch kurz auf Schopenhauer, der sich selbst als
»Thronfolger Kants« 20 bezeichnete, und seine ausdrückliche Bezug-
nahme auf Fénelon hingewiesen. 21 Schopenhauer, der mit Bezug auf
Fénelon »die ›reine Liebe‹ als Mitleid bestimmt« 22, teilt die anti-
eudämonistische Orientierung der kantischen Ethik, kritisiert aber
ihre Form, wonach Sittlichkeit nur »durch Reflexion auf eine die
Selbstliebe transzendierende Maxime« 23, den kategorischen Impera-
tiv, erreicht werden soll. Demgegenüber ist für Schopenhauer die
16
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 243.
17 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Kritik der praktischen Ver-
nunft, S. 155. – Ebd. 344.
18 Ebd. 244.
19 Ebd. 246.
20 Vgl. den Brief Schopenhauers an Julius Frauenstädt vom 26. 09. 1851. – Schopen-
23
Ebd. 304.
169
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
170
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.
4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken
aber erscheint die Forderung des geistigen »Sterbens« nicht als ein
metaphysisches Postulat, sondern als die Folge der Sünde. Im Hin-
durchgang durch diesen »Tod« aber stellt sich der ordo amoris so wie-
der her, daß alles Endliche und auch die natürliche Selbstliebe darin
»aufgehoben« ist. Nicht das Nichts, sondern das Koinón ist das Wo-
raufhin der menschlichen Transzendenz bei Fénelon. 30
Im Rahmen dieser Ausführungen zur Fortwirkung Fénelons müsste
noch eine weitere Linie Erwähnung finden, die von Fénelon über
Kant bis ins 19. Jahrhundert führt und – wiederum gegen Kant –
den Fénelon’schen Begriff der Liebe akzentuiert. Auf diese wird aber
erst im abschließenden Teilkapitel 4.6 eingegangen werden.
30
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 306.
171
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.
4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik:
Die geschichtsphilosophische Perspektive
Spaemanns Studien über Fénelon zeichnen sich durch eine auch für
seine späteren Hauptwerke 1 charakteristische essayistische Heran-
gehensweise aus. In den einzelnen Kapiteln werden als Schwerpunkte
entweder die Beziehung Fénelons zu bestimmten anderen Denkern
oder bedeutende inhaltliche Aspekte, unter denen seine Lehre be-
trachtet wird, ausgewählt. Dabei wiederholen sich wesentliche Ge-
danken leitmotivisch und es ergibt sich ein feingliedriges Netz an
intertextuellen Bezügen zwischen den einzelnen Kapiteln. Schwierig
scheint mir die Frage zu beantworten, worin das organisierende Prin-
zip dieser einzelnen Essays besteht, das sie, abgesehen von der mit
dem Untertitel »Studien über Fénelon« gesetzten inhaltlichen Klam-
mer, zu einer Einheit verbindet. Meine These, die ich im Folgenden
ausführen möchte, besteht darin, dass dieses organisierende Prinzip
der Studien in einer bestimmten Art der Perspektivierung der Lehre
Fénelons und der geistigen Strömungen und Denker, die zu ihm in
Beziehung gesetzt werden, besteht, die ihrerseits Ausdruck eines oft
latenten geschichtsphilosophischen Horizonts des Autors ist. Offen
gelegt wird dieser geschichtsphilosophische Horizont beispielsweise
durch einen literarischen Vergleich am Ende der Einleitung, womit
der Autor zugleich so etwas wie eine ›Leseanleitung‹ der Studien gibt.
Er bringt dort das Grundthema der Fénelon’schen Lehre – die Selbst-
aufhebung der Reflexion als Durchgangsstadium zur reinen Liebe –
mit Kleists »Marionettentheater« in Verbindung: »Wie in diesem
sind in ihr 2 das pädagogische und das geschichtsphilosophische Motiv
noch nicht voneinander geschieden, sondern zusammengehalten von
der theologischen Perspektive, wie sie Kleist in der Alternative von
›Gliedermann‹ oder dem Gott aufscheinen läßt.« 3 Wenn im letzten
Satz von Kleists Aufsatz – »das ist das letzte Kapitel von der Ge-
1 Dies gilt insbesondere für »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik« (1989) und
»Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« (1996).
2 Die Bezüge in diesem Satz sind etwas undurchsichtig. Mir scheint am überzeu-
gendsten die Lesart, dass mit »diesem« auf das Thema der Fénelon’schen Lehre, mit
»ihr« auf das »Marionettentheater« – zu substituieren ist dann: »die Erzählung« –
Bezug genommen wird.
3
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 32.
172
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
7
Vgl.: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja nicht der Hoffnung, einen
höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist gleichbedeutend mit Absage
an Philosophie überhaupt.« – Ebd. 303.
173
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
8
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 138.
9 Ebd. 280.
10
Ebd. 32.
174
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.
4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
darf die Liebe zu Gott mit keinem anderen Motiv vermischt werden,
so dass die Hoffnung auf das zu erlangende Heil die reine Liebe zer-
stören würde. Fénelon beruft sich dabei auf Suarez 11 und unterschei-
det formale Seligkeit (»beatitudo formalis«) und objektive Seligkeit
(»beatitudo objectiva«) 12. Die eigentliche Seligkeit besteht demnach
nur in der Übereinstimmung von formaler und objektiver Seligkeit.
Der Sinn der Unterscheidung für Fénelon ist aber die Möglichkeit des
Auseinandertretens beider, wenn der subjektive Gesichtspunkt des
amour propre ins Spiel kommt, der dann die eigentliche Glückselig-
keit unmöglich macht. Für Bossuet dagegen kann die Hoffnung auf
Glückseligkeit nicht von der eigentlichen, zu erwartenden Glück-
seligkeit getrennt werden und er »insistiert auf der existentiellen Ein-
heit der Glückseligkeit im Vollzug unter Berufung auf das aristote-
lisch-thomistische Axiom, daß Erkenntnis und Erkanntes im Vollzug
des Erkennens identisch werden« 13. Es geht also um die Identität der
als Motiv der Gottesliebe im Denken vorhandenen Glückseligkeit
und ihrer Wirklichkeit in der Gottesschau. Das klassische Axiom der
Identität von Denken und Sein bei Aristoteles besagt, dass das Wesen
einer Sache, ihr Sosein, identisch ist mit dem Begriff von dieser
Sache, was sich bei Aristoteles sprachlich schon in der Doppeldeutig-
keit von εἶδος als einerseits die das Wesen der Sache bestimmende
Formursache, als andererseits der ihr Wesen bezeichnende Art-
Begriff 14 ausdrückt. Zu Bossuets Berufung auf dieses Axiom bemerkt
Spaemann: »Das klassische Axiom der Identität von Denken und
Sein, auf die Ebene der Reflexionsphilosophie transportiert, definiert
diese Identität aber nun nicht mehr vom intelligiblen Sein, sondern
rität, 163.
13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 44–45.
14 Diese Ausdrucksweise ist allerdings nicht ganz exakt, da die Formursache logisch
»nur durch ein Gefüge definitorischer Begriffe umgrenzt« wird, was demnach die
exakte logische Bedeutung von εἶδος wäre. – Vgl. Horst Seidl, Einleitung zur Meta-
physik des Aristoteles, in: Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband, XXIX.
175
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
176
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
gleich sein Interesse wahr. Aber durch diese Reflexion des endlichen
Bewußtseins sind Erkenntnis und Handeln nicht definiert. 17
Die klassische Philosophie wird missverstanden, wenn ihre prinzi-
pielle Fremdheit, die von Spaemann im Rahmen der Studien wieder-
holt betont wird, nicht aktiv reflektiert wird. Um die Bedeutung die-
ser Fremdheit in seinem geschichtsphilosophischen Horizont
nachzuvollziehen, muss jedoch zunächst die Perspektivierung der
Auseinandersetzung Fénelons und Bossuets um die Glückseligkeit
weiterverfolgt werden. Nachdem Bossuets Position als Anachronis-
mus entlarvt wurde, betrachtet er die Position Fénelons, deren eigent-
liche Bedeutung in dieser Perspektivierung jedoch nicht in der Op-
position gegenüber Bossuet besteht, sondern vielmehr darin, dass er
in seiner festgehaltenen Orientierung an der »theozentrischen Ein-
heit« Bossuets Position dialektisch aufhebt und damit indirekt den
Sinn der alten Philosophie erneuert. Indem Fénelon in diesem kon-
kreten Zusammenhang die Identität von Denken und Sein bestreitet,
bedeutet seine Berufung auf die reine Liebe nichts anderes als das
Offenhalten der Möglichkeit der Identität von Denken und Sein, die
ihm aber nur im reinen Glauben zugänglich ist. Durch die spezifische
Sicht Spaemanns auf diese Zusammenhänge erhält das Thema des
reinen Glaubens erst seine genuin philosophische Bedeutung. Diese
die innere Verbindung zwischen der alten Philosophie und der Posi-
tion Fénelons hervorhebende Perspektivierung rechtfertigt Spae-
mann im übrigen auch durch eine Aussage Fénelons selbst über Pla-
ton und Aristoteles, die diese in die Nähe des Gedankens der reinen
Liebe bringt:
»Diese Heiden, die in der Eitelkeit der Sinne wandelten und so sehr
sich selbst vergötterten, haben doch immer noch spekulativ von einer
Schönheit, einer Ordnung, einer Tugend, einer Gerechtigkeit gewußt,
die besser war als sie, und von einer Liebe zu dieser Schönheit, die,
weit davon entfernt, auf die Selbstliebe gegründet zu sein, vielmehr
Fundament und Regel für die Selbstliebe jedes einzelnen sein muß.«18
Wenn Fénelon sich gegen Bossuet oder auch gegen andere Vertreter
der neuen bürgerlichen Philosophie wendet, so gewinnen seine Dis-
tinktionen in dem Maße an philosophischer Bedeutung, wie sie nicht
17
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69.
18 Ebd. 83. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] III, 358.
– Ebd. 322.
177
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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
allein als explizite Absage an die Reflexion bzw. die Philosophie über-
haupt gelesen werden können, sondern von Spaemann zumindest
implizit immer auch als indirekte Erneuerung des antiken substanz-
ontologischen Denkens gelesen werden, das bei allen Modifikationen,
die an dieser Stelle noch nicht erläutert werden können, auch in der
mittelalterlichen Philosophie, hier vor allen Dingen bei Thomas von
Aquin, fortlebt. Eine weitere Textstelle soll die Perspektivik von Spae-
manns Untersuchungen und ihren geschichtsphilosophischen Hori-
zont verdeutlichen. Im Zusammenhang mit der im Übergang vom
Mittelalter zur Neuzeit vollzogenen Aufhebung der »realistische[n]
Vernunfttheorie, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist als sie
selbst anwesend ist« 19, bemerkt er:
Wo Erkenntnis, wie in der Spätscholastik und dann bei Descartes, zu
einer Erfassung immanenter Begriffe wird, wird der Liebe nun die
ganze Last einer Realität aufgebürdet, von deren Erreichung die spe-
kulative Vernunft ausgeschlossen ist. Für Descartes ist allein der Wille
empfänglich für das Unendliche. Bei Fénelon wird sogar das cartesi-
sche Cogito auf einen vorausgehenden Akt der Liebe und des Gehor-
sams gegründet. Die Reinheit der Liebe aber erweist sich gerade im
Mut zum Ausharren in der »Dunkelheit des reinen Glaubens«. Mit
seiner Theorie des amour désintéressé, die nun wesentlich negativ,
von der Negation der Selbstliebe her verstanden aber doch in ihrer
»Objektivität« gerettet wird, steht Fénelon jedoch der Auffassung des
heiligen Thomas näher als die meisten Theorien der Liebe in der Neu-
zeit, die die »Objektivität« der Liebe überhaupt preisgeben, indem sie
sie auf das reduzieren, was bei Thomas amor concupiscentiae heißt,
oder doch, um die Subjektimmanenz nicht sprengen zu müssen, die
»delectatio« zum eigentlichen telos der Freundschaftsliebe machen –
was bei Thomas nur für den nicht zur Realität vordringenden amor
sensitivus gilt. 20
Dieses Zitat verdeutlicht zum einen, dass Fénelons reine Liebe für
Spaemann eine Art Brückenprinzip ist, durch das im Rahmen des
neuzeitlichen Denkens – wenn auch keine Erneuerung substanzonto-
logischen Denkens stattfindet – doch zumindest sein Platz durch eine
negative Theorie freigehalten wird. Zum anderen verdeutlicht dieses
Zitat, dass Fénelon selbst sich nur teilweise der metaphysischen Kon-
stante, die in seiner Lehre von der reinen Liebe ihren Ausdruck fin-
det, bewusst war. Seine Unterscheidung in der Dissertatio zwischen
19 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 102.
20
Ebd. 102–103.
178
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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive
179
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4.6 Versuch einer Zusammenfassung:
Größe und Grenzen Fénelons
180
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4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons
den Mittelpunkt rückt. Das Problem des Negativen als Worauf der
Selbsttranszendenz findet drittens in den Studien eine Erörterung,
die durch ihren charakteristischen geschichtsphilosophischen Hori-
zont erste Hinweise liefert, wie jenes »koinón« 1, das am Ende der
Studien als »Woraufhin der menschliche[n] Transzendenz« 2 bezeich-
net wird, denkbar wird und damit aus der reinen Negativität des Sich-
Entziehenden herausrückt. In dieser Sache leisten die Studien, wie
erwähnt, aber erst Sondierungen, durch die sich spätere Schritte der
gedanklichen Entfaltung bei Spaemann allenfalls andeuten; bei Féne-
lon nämlich bleibt es im Wesentlichen bei der »Dunkelheit des reinen
Glaubens«, der letzte Satz der Studien über Fénelon lautet: »Aus dem
spekulativen Karfreitag gibt es für ihn wesentlich keine spekulative,
sondern nur eine wirkliche Auferstehung.« 3
Eben in dieser Eigenschaft des Fénelon’schen Denkens kann auch
seine größte Schwäche gesehen werden. Das wesentliche Charakteris-
tikum seiner Lehre, um das in ihrer Darstellung durch das Umkreisen
des sich prinzipiell Entziehenden gerungen werden muss, wurde
ebenso zum Problem seiner Wirkungsgeschichte:
Die Fénelonsche Idee einer unvermittelten Unmittelbarkeit, der Wie-
dergewinnung spiritueller Spontaneität durch die totale Aufgabe des
endlichen Ich als Zentrum der Reflexion in der reinen Liebe konnte
sich schwerlich durchsetzen, da sie nur in einer gegenüber der Zeit
und ihrem Denken ohnmächtigen Inhaltslosigkeit auftrat. 4
Diese Inhaltslosigkeit ist nun aber nicht einfach das unabänderliche
Schicksal einer Lehre von der reinen Liebe, sondern die Folge einer
bestimmten Ausdeutung derselben, in der Spaemann eine problema-
tische Vorentscheidung Fénelons erkennt. Auf diesen Punkt soll nun
noch etwas näher eingegangen werden. Als Schüler Descartes’ ist
Fénelon Occasionalist: »Fénelon ist Anhänger der occasionalistischen
Theorie der Kausalität, die alle echte Verknüpfung und Wirkursäch-
lichkeit im Bereich des Endlichen ausschließt bzw. durch Gott vermit-
telt sein läßt. Es gibt kein Mitsein: alles Endliche ist als solches von
allem anderen Sein isoliert.« 5 Dieser Grundsatz hat im Fénelon’schen
Denken entscheidende Bedeutung für die Beurteilung möglicher zwi-
181
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI, 141. – Spae-
Grund, warum kein Geschöpf uns aus unserem eigenen Bann lösen kann, liegt darin,
daß eben keines verdient, daß wir es uns selbst vorziehen‹ VI, 141.« – Ebd. 328.
8 Ebd. 121.
9 Ebd. 125. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI,
182
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons
keit immer die normative Kraft eines absoluten Ideals hat, ist der
Überzeugung, daß es sie als natürliche für den Menschen nicht gibt. 12
Als Kontrapunkt zu dieser Blässe soll abschließend, wie angekündigt,
eine zuvor ausgesparte Linie der Fénelon-Rezeption angedeutet wer-
den, die sich mit dem Thema der Liebe gerade als irdischer befasst.
Einen Anhang zu seinen Studien widmet Spaemann dem Dich-
ter Jean Paul (1763–1825), der mit Berufung auf Fénelon »in aus-
drücklicher Abgrenzung gegen Kant« das Sittliche in der »durchaus
als ›metamoralisch‹ verstandenen Liebe« 13 fundiert sein lässt. Für
Kant kam ein solcher Versuch nicht in Frage, weil Liebe als Gefühl
für ihn in den Bereich des ›Pathologischen‹, also auf Lust Gegründe-
ten, gehört und eine solche Fundierung daher eine heteronome wäre.
Wenn Jean Paul im Unterschied zu Kant »nicht primär auf Pflichten
reflektiert, sondern auf jene spontane dialogische Transzendenz, in
der alle Pflichten gründen« 14, so geht es ihm um das, »was wir heute
eine personalistische Begründung der Sittlichkeit nennen würden« 15.
Diese Liebe wird von dem Verdacht, etwas bloß ›Pathologisches‹ zu
sein, dadurch befreit, dass die in ihr zum Ausdruck kommende
Selbsttranszendenz selbst als Grundtrieb der lebendigen mensch-
lichen Natur verstanden wird:
[…] die Öffnung des Ich aber zum schlechthin Anderen, das nicht ein
Fichtesches Nicht-Ich, sondern selbst wieder ein Ich ist, ist nicht Werk
des Willens, sondern der Liebe, und diese als das »Zentralfeuer« der
Existenz wird als »angeborene Kraft und Blutwärme des Herzens« be-
stimmt. Dem Herzen aber wird das körperliche zum Muster gegeben:
»Verletzbar, empfindlich, rege und warm, aber ein derber freifortschla-
gender Muskel hinter dem Knochengitter, und seine zarten Nerven
sind schwer zu finden.« 16 Der Begriff des Herzens 17 hat seit Pascal die
Funktion, dasjenige zu bezeichnen, was an zentral Menschlichem vom
Begriff der Vernunft nicht mehr gefaßt werden kann. Bei Jean Paul
15 Ebd.
16 Spaemann verweist in Anmerkungen als Quelle der Zitate auf: Levana, Jean Pauls
sophie eine entscheidende Bedeutung erlangen. – Vgl. das Kapitel »Warum wir Per-
sonen ›Personen‹ nennen« in: Spaemann, Personen, 25–42, u. Abschnitt 8.3.1, Die
Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574.
183
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.
4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz
21 Vgl. den Grundgedanken Martin Bubers: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« –
Buber, Werke I, 97. – Spaemann spricht in diesem Kapitel wörtlich von einem »dia-
logischen Verhältnis«, aus dem heraus der Mensch lebt. – Spaemann, Reflexion und
Spontaneität (1963), 277.
184
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
1 Vgl.: »Im Wintersemester 1976/77 habe ich dann den Versuch gemacht, der Frage
nachzugehen, wie es zur Abkehr vom teleologischen Denken im ausgehenden Mittel-
alter kam und wie ein Neuzugang zu ihm – die wesentlich schwierigere Frage – ge-
wonnen werden kann.« – Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 214.
185
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
2 Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens
(2008), 131.
186
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.
5.1 Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer
Perspektive
1
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 241.
2 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 15.
3
Ebd. 9.
187
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
es sei denn, dieser Autor sei selbst sein eigener Gegenstand, es gehe
ihm darum, in Umkehrung der primären Intentionalität sein eigenes
Denken als unmittelbares zu beschreiben, eine Art privater Phänome-
nologie des Geistes zu geben, und er beanspruche für diese private
Erfahrung einen exemplarischen Charakter. 4
Den theoretischen Status seines Denkens sichert somit die existenz-
philosophische Interpretation seines Werks, durch die in seinen Wi-
dersprüchen eine subjektive Verarbeitung der Antinomien des eige-
nen Zeitalters erkannt wird. Dies führt zu einer Konkretisierung der
Fragestellung an das Werk Rousseaus:
Inwiefern ist denn Rousseaus geistige Erfahrung exemplarisch, so daß
ihr eine theoretische und das heißt allgemeine Bedeutung zukommen
kann? Dies ist doch wohl nur dann der Fall, wenn die inneren, bewußt
ausgehaltenen Widersprüche einer geistigen Existenz geschichtliche,
das heißt allgemeine Antinomien einer Zeit sind. 5
Seinen eigenen Beitrag zur Rousseau-Forschung versteht Spaemann
als Andeutung der »Richtung einer geschichtlichen Konkretisierung
der existenzphilosophischen Interpretation« 6 Rousseaus. Dies bedeu-
tet, wie zu zeigen sein wird, dass Spaemann die disjecta membra, die
in Rousseaus Denken anzutreffen sind, genealogisch zu betrachten
versucht, um die ihnen zugrunde liegende »Idee zu rekonstruieren« 7,
womit er sich in seiner Betrachtung Rousseaus ausdrücklich über des-
sen eigenen Horizont hinauszubewegen beabsichtigt.
Diese einleitenden Bemerkungen beschließt ein knapper Aus-
blick auf die folgenden Gedankenschritte. Ausgangspunkt ist Rous-
seaus Sicht des geschichtlich-sozialen Zustands des Menschen des
18. Jahrhunderts, des Bourgeois’, dessen Verurteilung durch Rous-
seau analysiert wird (5.1.1). Danach wird zunächst Rousseaus politi-
sches Ideal skizziert, bevor im Zusammenhang mit der Kontroverse
um den ersten »Discours« der Übergang Rousseaus zum natürlichen
Ideal thematisiert wird (5.1.2). Einer eingehenderen Betrachtung be-
darf anschließend der Rousseau’sche Naturbegriff und die »Vor-
geschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« 8 (5.1.3). Auf dieser
Grundlage soll Rousseaus utopisches Erziehungskonzept knapp dar-
188
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.
5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation
des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, in: Spaemann, Rousseau – Mensch oder Bür-
ger, 85–113.
9 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 47.
10 Ebd. 56.
12
Vgl. ebd. 57–58.
13 Vgl. ebd. 58–59.
14
Vgl. ebd. 59–61.
189
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
190
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.
5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
191
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
31 Ebd. 123.
verweist als Quelle des Zitats auf: Émile ou de l’éducation. Ed. Garnier, Paris 1951,
S. 10. Ebd. 145–146.
33
Ebd. 29.
192
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.
5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
193
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
42
Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 76.
43 Ebd.
44 Ebd. 77.
45 Ebd.
46 Ebd.
47 Ebd.
48 Ebd. 78.
49
Ebd.
50 Ebd. 79.
51
Ebd. 80.
194
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.
5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal
52 Vgl. Schütz, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hom-
mes, in: KLL, XIV, 387.
53 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 100.
54 Ebd. 100–101.
55
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 37.
56 Ebd.
57
Ebd. 38.
195
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
58
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 38.
59 Ebd. 25.
60 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf den Essay Spaemanns
mit diesem Titel über Rousseau aus dem Jahre 1967 sowie den Essay »Natur« aus
dem Jahre 1973, der teilweise wörtlich mit diesem Rousseau-Essay übereinstimmt.
61 Rousseau findet in dem Essay zum ersten Mal Erwähnung im Zusammenhang mit
196
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.
5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
63
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 86.
64 Ebd.
65
Ebd. 87.
66 Ebd.
67 Ebd. 88.
noch einen dritten Begriff der Natur als »Totalzusammenhang der Erscheinungen«
und erwähnt außerdem die kantische Unterscheidung von Natur in materieller und
Natur in formaler Bedeutung. Die »Natur in materieller Bedeutung« nähert sich der
in der Tabelle unter »1« genannten, die »Natur in formaler Bedeutung« der unter »2«
genannten Bedeutung. – Vgl. ebd. 89.
197
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
1 2
Bedeutung des »individuelle, durch Selbst- »hypothetischer«, der
Begriffs Natur: erhaltungstrieb primär be- »Geschichte vorauf liegen-
stimmte Vermögensaus- der Anfangszustand des
stattung und Menschen«
Bedürfnisstruktur des
Menschen«
Korrespondierender »natürlich«, »innerhalb »antinatürlich«, »Ent-
Geschichtsbegriff: [der Natur] verbleibend« fernung von der anfäng-
lichen Natur«
Korrespondierender »Heraustreten aus« der »Rückkehr zur Natur« bzw.
Emanzipationsbegriff: Natur bzw. »Befreiung von »Befreiung der Natur«
der Natur«
73
Ein ähnlich kritischer Blick auf die Rolle des Christentums im Kontext der Ent-
teleologisierung wird geworfen in Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst
in die Natur hineinkam, 234–241.
198
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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
199
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
18. Jahrhundert (1967), 95. – Vgl.: »Die Teleologie wandert bereits in dieser Konzep-
tion erkennbar aus der Welt hinaus, und der Geist, der den Dingen ihre Richtung und
ihre Bestimmung gibt, ist dann Gott. Zurück bleibt in der Konsequenz dieses Ge-
dankens nur noch eine sich selbst genügende Natur. Diese Vorstellung einer in sich
geschlossenen Natur bereitet auf neuzeitliche Konzeptionen vor, wie wir sie bei Des-
cartes oder Spinoza vorfinden, die von einer Substanz sprechen, die für sich, ohne
Relation auf ein anderes, verständlich ist. Spinozas Formel ›Deus sive natura‹ bringt
diese Entwicklung auf den Punkt.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 178–
179.
81 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders. Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im
84
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 92.
200
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.
5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
seau noch.
88 Spaemann, Natur (1973), 28.
201
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
der ›natura pura‹« ist der Sündenfall nicht der Sturz in die »totale
Verderbtheit«, sondern lediglich der »Verlust eben jener akzidentel-
len übernatürlichen Bestimmung« 91, so dass der Unterschied zwi-
schen den Konfessionen mehr in dieser Deutung des Falls als in dem
Naturbegriff beider zu suchen ist. Die autonome Natur des Men-
schen ist im Protestantismus die gefallene, im Katholizismus die reine
Natur.
Zum Abschluss dieser Rekonstruktion der Vorgeschichte des
Naturbegriffs im 18. Jahrhundert seien die beiden von Spaemann
hervorgehobenen Konsequenzen der beiden Konzeptionen (der ka-
tholischen und der protestantischen) zusammengefasst. Auf der
einen Seite – der »protestantischen« – wird die Natur »in einen heils-
ökonomischen Zusammenhang« eingefügt und der »Naturbegriff
selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie« 92, da sich Natur
nicht empirisch zeigt und umgekehrt alles, was sich zeigt, bereits ge-
schichtlich »aus einer Entfernung von der Natur resultiert« 93. Natur
wird zu einem geschichtsphilosophischen utopischen Begriff. Auf der
anderen Seite – der »katholischen« – bleibt als einziges Bestim-
mungsmerkmal dieses Naturbegriffs der »Gegensatz zum Übernatür-
lichen«, so dass er, »wo die Idee des Übernatürlichen dem kritischen
Verdikt der Aufklärung verfällt, zum Begriff für die Totalität des
Seins wird, da er nun überhaupt kein Gegenüber mehr hat« 94. Dieser
Allbegriff bezahlt seine Ausweitung mit innerer Zweideutigkeit, er
wird »in sich selbst dialektisch, wie es mit jedem spekulativen Begriff
geschieht, der den Bezug auf sein Gegenüber verloren hat« 95.
Wie oben angekündigt soll nun diese Rekonstruktion des Natur-
begriffs im 18. Jahrhundert in Beziehung zu Rousseaus Denken ge-
setzt werden. Spaemanns These ist, dass die skizzierten »konfessio-
nellen Gegensätze in der Fassung des Naturbegriffs [sich] innerhalb
der philosophischen Naturtheorien durchhalten« 96:
Die aufklärerische Durchführung eines geschlossenen Systems der
»natura pura« geschieht im katholischen Frankreich. Die geschichts-
philosophischen Varianten der Sündenfalltheorie, die Vorstellung
93 Ebd.
94
Ebd.
95 Ebd. 98–99.
96
Ebd. 99.
202
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.
5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
97 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »e tali statu (sc. naturali) exeundum
… putemus.« Thomas Hobbes: De cive, Opera latina II, p. 166. – Ebd. 150.
98 Mit dem »système de la nature« spielt Spaemann an auf den französischen Auf-
101 Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »Com-
mençons donc par écarter tous les faits; il faut nier que … les hommes se soient
trouvés dans le pur état de nature.« J.-J. Rousseau: Discours sur l’inégalité. Ed. Gar-
nier, Paris 1960, S. 40. – Ebd. 150.
102
Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »… en
dépouillant cet être de tous les dons surnaturels, qu’il a pu recevoir et de toutes les
facultés artificielles.« A. a. O., S. 41. – Ebd. 150.
203
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Die Methode, mit deren Hilfe die Natur in ihrem positiven Gehalt
ermittelt wird, ist die der Reflexion auf die eigene, noch nicht sprach-
lich vermittelte Spontaneität, eine »méditation sur les premières et
plus simples opérations de l’âme humaine« 103. 104
Spaemann weist an dieser Stelle auf die Parallele zu Fénelon hin, des-
sen Problem, wie »die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität
zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben
wird« 105, Rousseau allerdings umgangen habe. Stattdessen setzt er
den Urzustand des homme naturel als den der reinen Spontaneität,
der wiederum – ganz im Gegensatz zu Fénelon – als transzendenz-
loser Zustand aufgefasst wird: »Der ›status naturae purae‹ ist nach
Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen
Individuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich
hinaus.« 106 Der Gedanke der »totale[n] Selbstbezüglichkeit des Indi-
viduums« 107 im Naturzustand folgt dem »aus der augustinischen Tra-
dition stammende[n] Axiom« 108, wonach die Natur »stets auf sich
selbst zurückgekrümmt« 109 ist. Menschliches Handeln ist bestimmt
»von dem invertierten Streben nach Selbsterhaltung« 110. Dass der
homme naturel diesen Naturzustand überhaupt verlässt, ist begrün-
det in »einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der
Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der da-
raus folgenden Perfektibilität« 111. Dieser Begriff habe bei Rousseau
keinerlei teleologische Implikationen, die »Perfektibilität ist keine
Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine
bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften« 112,
103 Spaemann verweist auf die Übersetzung und die Quelle des Zitats: »Meditation
über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele«. A. a. O., S. 37.
– Ebd. 150.
104 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 102.
105
Ebd.
106 Ebd. 103.
108 Ebd.
109 Ebd. – Spaemann verweist auf das lateinische Original und die Quelle des Zitats:
»Natura semper recurva in seipsa«, z. B. Albertus Magnus: Summa theol. II; tract. IV,
qu. 14, art. 2. – Ebd. 150.
110
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 28.
111 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 103.
112
Ebd.
204
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.
5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«
womit sie sich als genaues Analogon zur erwähnten potentia oboe-
dientialis im System der natura pura erweist. 113
Das »Heraustreten aus dem Naturzustand« bleibt für Rousseau
»immer zweideutig«, »Berufung des Menschen in eine übernatürli-
che Ordnung« und »Sündenfall« 114 zugleich. In jedem Fall ist dieses
Heraustreten verknüpft mit der Entzweiung: »Das Dasein außerhalb
des ›status naturae purae‹ ist und bleibt entfremdetes Dasein. Der
spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit
dem rousseauschen Naturbegriff.« 115 Die Entzweiung von Sein und
Schein kann in zwei Richtungen aufgelöst werden, durch Überwin-
dung des Seins oder des Scheins. »Rousseaus politisches Ideal ist es,
den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur ver-
schwindet.« 116 Diese Möglichkeit ist, wie oben gesehen, durch das
Christentum aufgehoben worden. Es bleibt also nur die umgekehrte
Richtung:
Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der po-
litischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der
»Contrat social« ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang.
Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »hom-
me naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen
Zwittererziehung entgegengesetzt ist. 117
113
Dieser Einschätzung der Vergleichbarkeit der Perfektibilität mit der potentia oboe-
dientialis im Rousseau-Essay aus dem Jahre 1967 widerspricht Spaemann später,
wenn er 1985 in dem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« die christ-
liche Idee der potentia oboedientialis implizit doch in die Nähe teleologischer Vorstel-
lungen bringt: »Rousseau spricht von der ›perfectibilité‹ als der entscheidenden Mög-
lichkeitsbedingung [für das Heraustreten aus der Natur]. Entgegen dem Wortsinn
bedeutet aber perfectibilité nicht irgend etwas Teleologisches. Es meint nicht so etwas
wie eine potentia oboedientialis, nicht ein Angelegtsein des Menschen auf einen be-
stimmten Zustand der Vollkommenheit. Es meint nichts anderes als das, was spätere
Anthropologie als ›Instinktoffenheit‹ charakterisiert hat.« – Spaemann, Über den Be-
griff einer Natur des Menschen (1985), 25. – Vgl.: »Perfektibilität garantiert nicht
eine schließlich erreichte Perfektion, sie ist weder Keimkraft einer Entwicklung noch
eine Mitursache der Vollendung. Sie ist nur der euphemistische Ausdruck dafür, dass
unsicher ist, ob denn der Mensch im Stand der Zivilisation zu sich findet oder sich
selbst verliert.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 185.
114 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 104.
115
Ebd. 107.
116 Ebd. 108.
117
Ebd. 109.
205
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
118 Vgl.: »Stolz war ich zum Beispiel über den Aufweis der theologischen Genealogie
des neuzeitlichen Naturbegriffs bei Rousseau.« – Spaemann, Über Gott und die Welt
(2012), 234.
119 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 32.
120
Ebd. 33.
121 Ebd. 36.
122
Ebd.
206
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.
5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt
207
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
nem fiktiven status naturae purae sind zum einen die totale Selbst-
bezüglichkeit, zum anderen die Instinktoffenheit, die erst seinen
möglichen Übergang in den geschichtlich-sozialen Zustand möglich
machen. 129 Mit diesem Übergang nun gerät der Mensch
in einen inneren Widerspruch […], den Widerspruch zwischen seinem
fortdauernden natürlichen Egozentrismus und dem Verlust der Selbst-
genügsamkeit. Der unschuldige Egozentrismus, »amour de soi«, wird
zum Egoismus, zum »amour propre«, der immer der anderen bedarf,
um sich zu befriedigen. Dieser Widerspruch ist die Wurzel der Selbst-
entfremdung. Er läßt den Menschen zu einem schwachen Wesen wer-
den. Schwäche aber ist, wie es im »Émile« heißt, der Ursprung alles
Bösen. 130
Aus dem Zustand der Schwäche heraus können zwei Wege führen.
Der erste ist die vollständige Denaturierung im totalen Staat, die
durch das Christentum der Vergangenheit angehört. 131 Der zweite
Weg ist Rousseaus utopisches Erziehungsprojekt, das auf seiner Vor-
stellung vom Naturzustand aufbaut: »Entsprechend der Asozialität
des Naturmenschen ist das Kind für Rousseau von Natur ein asoziales
Wesen.« 132 Die Frage, um die es in der Erziehung geht, fasst Spae-
mann wie folgt zusammen:
Wie kann ein Mensch seine Kräfte, seine Fähigkeiten und seine Sensi-
bilität voll entfalten und sich das kulturelle Niveau des eigenen Zeit-
alters aneignen, ohne der Entfremdung anheimzufallen, das heißt
ohne den Schwerpunkt in sich selbst zu verlieren, den der Natur-
mensch besaß? Mit anderen Worten, wie kann die Reproduktion des
Sündenfalls verhindert werden, wie kann der »Mensch der Natur« zur
Entfaltung seines Potentials gelangen, ohne dabei zum »Menschen des
Menschen« zu werden? 133
Es gehört nun abermals zu den Paradoxien Rousseaus, dass er im
Rahmen dieses utopischen Projekts konkrete Erziehungsprinzipien
entwickelt, von denen Spaemann sagt, dass sie »unter allen denk-
baren sozialen Umständen Bedingungen eines glücklichen und freien
Lebens« 134 sind. Wenn die Schwäche der Ursprung des Bösen ist, so
208
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.
5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt
209
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
aber hat der, der das Leben am meisten gefühlt hat, »qui a le plus senti
la vie« 140. 141
Die positive Bestimmung dieser Pädagogik besteht also in der Steige-
rung dieses »›sentiment de l’existence‹ […] zur höchsten Intensität«,
die »höchste Intensität aber ist das Gewissen« 142:
Im Gewissen gewinnt der moderne Mensch seine Autarkie, seinen
absoluten Schwerpunkt in sich zurück. Er wird auf der Höhe des zivi-
lisatorischen Niveaus wieder zum »natürlichen Menschen«, zum
»Wilden in den Städten«. Im Patriotismus hatte der denaturierte
Mensch seinen Existenzgrund in ein partikulares Kollektiv-Ich ver-
lagert. Im Gewissen weitet sich der Raum der Identifikation ins Uni-
versale, ins Menschheitliche und Kosmische. Aber Menschheit und
Kosmos sind, so betont Rousseau, keine realen Kollektive, die das In-
dividuum integrieren könnten. Es sind Abstraktionen, die ihre Wirk-
lichkeit nur im subjektiven Gewissen gewinnen. In ihm kehrt das Sub-
jekt ganz in die Selbstgenügsamkeit zurück. 143
Bemerkenswert ist, dass dieses Konzept einer éducation naturelle pa-
radoxerweise ein Spätprodukt ist, das erst im état civil denkbar ist:
»erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei« 144.
Daher betrachtet Émile den Staat zwar nicht als Vaterland, aber doch
als Heimat, der er bereit ist, »seine Dienste zur Verfügung zu stel-
len« 145. In drei der vier Essays des Bandes »Rousseau – Mensch oder
Bürger« zitiert Spaemann einen Satz von Leo Strauss 146: »Die höchste
Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft ist somit die Tatsache,
daß diese Gesellschaft einem bestimmten Typ von Einzelperson er-
laubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus dieser Gesell-
schaft, d. h. durch ein Leben an ihrem Rande, zu genießen.« 147 Dieser
Gedanke der »Rechtfertigung einer Gesellschaft durch das, was sie
140
Spaemann verweist als Quelle der beiden Zitate auf: Émile, S. 12. – Ebd. 146.
141 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 39.
142 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 111.
146 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz, 40, Ders., Zur Vor-
210
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.
5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee
aus sich entlässt, ohne es wieder integrieren zu können« 148, leitet über
zu einer abschließenden Problematisierung der in Rousseaus uto-
pischem Erziehungskonzept vorgeschlagenen ›Lösung‹ des Dilemmas
der Moderne.
Dass die im »Émile« gefundene ›Lösung‹ des Problems, bei der ein
Erzieher für einen Zögling verbraucht wird, um einen gesellschaftlich
nicht integrierbaren natürlichen Menschen hervorzubringen, nur
eine Scheinlösung ist, war Rousseau selbst bewusst, wie unter ande-
rem das Fortsetzungsfragment des Romans zeigt. 149 »Was Rousseau
darstellt, ist der Weg des elitären Einzelnen unter der Voraussetzung
der Ungelöstheit des Problems. Eine Lösung im Sinne Rousseaus
könnte nur in der vollkommenen und allgemeinen Aufhebung der
Entzweiung bestehen.« 150 Da eine solche Aufhebung vom politischen
Ideal her Rousseau unmöglich erscheint und er die Utopie der plato-
nischen πολιτεία für unwiderruflich vergangen hält, handelt es sich
bei diesem Erziehungsprojekt um den utopischen Versuch, »den Weg
der Phylogenese in einer neuen Ontogenese zu korrigieren, den Sün-
denfall zu vermeiden und die Einheit des natürlichen Menschen mit
sich selbst vom kindlichen Hominiden zum erwachsenen Gewissens-
subjekt durchzuhalten.« 151 In Spaemanns Rousseau-Essays klingt der
Einwand an, dass das πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen Denkens in
seinem kontrafaktischen Ideal der absoluten Identität bestehen könn-
te: »Es wäre zu fragen, ob nicht das Ideal absoluter Identität die Span-
nung natürlicher und politischer Existenz erst zu einer Antinomie
werden läßt und eine so exklusive Option notwendig macht, wie
Rousseau sie fordert.« 152 Hinter dieser Frage steht die positive Bewer-
tung der Entzweiung zwischen Individuum und Gesellschaft, die
Spaemann von seinem Lehrer Joachim Ritter übernommen hat und
die zu einer Leitlinie seiner eigenen philosophischen Forschung ge-
worden ist. Dieser Einwand könnte dazu dienen, den theoretischen
150
Ebd.
151 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 132.
152
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 33–34.
211
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
212
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5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee
213
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Rousseau, so betont Spaemann, »war der erste, der das Problem einer
›Dialektik der Aufklärung‹ gesehen hat« 163, der die selbstgefährden-
den Tendenzen der Moderne erfasst, ihre Widersprüche durchdacht
und selbst verkörpert hat. Aufgrund seiner Denkvoraussetzungen
konnte er keine anderen als utopische Lösungen finden. Um dem Di-
lemma der Moderne entgehen zu können – das ist das Fazit, das somit
aus den Rousseau-Essays Spaemanns gezogen werden kann –, be-
dürfte es der Erneuerung eines teleologischen Naturbegriffs. Mit der
Frage nach der Möglichkeit einer solchen Erneuerung wird sich das
folgende Teilkapitel beschäftigen.
163
Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 138
214
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.
5.2 »Natürliche Ziele«:
Natur in metaphysischer Perspektive
Das Thema der Teleologie zieht sich wie ein roter Faden durch das
gesamte philosophische Werk Robert Spaemanns. Am gründlichsten
durchdacht wurde es von ihm in dem 1981 zusammen mit Reinhard
Löw veröffentlichten Buch »Die Frage Wozu? Geschichte und Wie-
derentdeckung des teleologischen Denkens« 1. Die Wiedergabe einer
Reihe zentraler Einsichten aus diesem Buch ist als Grundlage für das
Verständnis der weiteren Entfaltung des Spaemann’schen Denkens
unerlässlich. An dieser Stelle soll zunächst dargelegt werden, was
mit der Frage ›Wozu?‹ eigentlich gemeint ist. Danach soll eine erste
Andeutung erfolgen, warum diese Frage in Vergessenheit geraten ist.
Schließlich wird ein Ausblick gegeben auf die konkreten Schritte, in
denen die für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Aspek-
te dieses Werks wiedergegeben werden.
Die Frage ›Wozu?‹ ist eine Variante bzw. eine Konkretisierung
der Frage ›Warum?‹. Die Warum-Frage hat zwei Voraussetzungen,
erstens einen Zustand der Vertrautheit, zweitens eine Störung dieses
Zustands:
Die Frage entsteht immer dann, wenn ein normaler Ablauf unterbro-
chen wird. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung des normalen Ganges.
Ohne den Begriff der Normalität läßt sich gar nicht verstehen, wann
und warum man »warum« fragt. Es kommt ja keinem in den Sinn, in
bezug auf Alles und Jedes »warum« zu fragen. Wir fragen genau dann
»warum«, wenn etwas geschieht, was wir nicht als normal betrachten,
bzw. was wir nicht erwartet haben. 2
Antworten auf Warum-Fragen können in zwei verschiedenen Rich-
tungen das Neue mit dem Vertrauten verbinden, entweder durch eine
»Konstruktion des ›Um … zu‹« oder durch Angabe von »Antecedens-
bedingungen und Gesetze[n]« 3. Diese beiden Antworttypen sind
1 1991 erschien eine um den Beitrag »Teleologie und Teleonomie« erweiterte Neu-
ausgabe. Wiederabdruck mit neuem Vorwort unter dem Titel: Natürliche Ziele. Ge-
schichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005.
2
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (2005, zuerst 1981 unter dem Titel »Die Frage
›Wozu‹ ?«), 13.
3
Ebd. 14.
215
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
7 Der Begriff der Stoiker bezeichnet das »Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der
Welt«. – Ebd. 14. – Vgl.: »Der Begriff steht in der Philosophie der Stoa für eine
biologische, psychologische und moralphilosophische Konzeption, nach der die Ten-
denz zur Selbsterhaltung […] den primären natürlichen Impuls jedes Lebewesens
bildet. Speziell beim Menschen schließt sich als zweite Stufe eine rationale Selbst-
affirmation sowie eine vernünftige Akzeptanz aller anderen Menschen an. Der Aus-
druck οἰκείωσις ist eine Ableitung aus οἰκεῖος (eigen) bzw. οἰκειοῦν (sich aneignen).
Wörtlich bezeichnet er den Umstand, daß sich ein Lebewesen mit sich selbst prozeß-
förmig bekannt macht und sich selbst in Besitz nimmt. Ciceros Übersetzung der me-
dialen Verbform οἰκειοῦσθαι lautet ›sich mit sich selbst versöhnen und vertraut ma-
chen‹ (›ipsum sibi conciliari et commendari‹) [Cicero: De fin. bonorum et malorum II,
11, 35; III, 5, 16.]. Das begriffliche Gegenteil, die Selbstentfremdung, heißt in der
antiken Diskussion ἀλλοίωσις oder ἀλλοτρίωσις: Jemand entfernt sich von sich
selbst.« – Horn, Zueignung (Oikeiosis), in: HWPh XII, col. 1403.
8
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 19.
216
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.
5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive
Essay »Naturteleologie und Handlung« aus dem Jahre 1977 und wird von hier an zu
einem Leitmotiv seines Denkens, das in zahlreichen späteren Texten auftaucht. – Vgl.
Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1977), 57.
12 Ebd. 11. – In den Anmerkungen führen Spaemann/Löw die Quelle des Zitats und
das lateinische Original an: F. Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum 111,5; in:
The Works of Lord Bacon, Bd. II (London 1841, S. 340): nam causarum finalium
inquisitio sterilis est, et, tamquam virgo Deo consecrata, nihil parit. – Ebd. 259.
13
Ebd. 13.
217
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
218
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5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive
Die Frage ›Wozu?‹ und das Problem der Teleologie erweisen sich
somit als ein philosophisches Schlüsselproblem. Das Thema könnte
also kaum prinzipiellerer Natur sein: »Von Anfang an stand das Te-
leologieproblem im Mittelpunkt philosophischen Nachdenkens. Die
›Riesenschlacht um das Sein‹, von der Platon spricht (Soph 246 a),
kann ebenso als Riesenschlacht um das ›Um … willen‹ 17 interpretiert
werden.« 18 Für die »Erfassung des Gewordenseins« 19 eines Denkens,
das auf die Herausbildung einer Philosophie der Begegnung zielt, ist
die Teleologie-Problematik, wie gezeigt werden soll, von zentraler
Bedeutung. Dabei muss allerdings aus der großen Fülle der von Spae-
mann und Löw untersuchten Detailaspekte eine Auswahl im Hinblick
auf die hier verfolgte übergreifende Problemstellung getroffen wer-
den, die nun in einem knappen Ausblick auf die folgenden neun Ab-
schnitte der Darstellung erläutert wird. Der Ausgangspunkt des
teleologischen Denkens ist die klassische antike Philosophie. Von
bleibender Bedeutung für jede Anknüpfung an die Frage ›Wozu?‹ sind
die ursprünglichen Konzeptionen Platons (5.2.1) und Aristoteles’
(5.2.2), mit denen die Darstellung beginnt. Die Rezeption antiken
Denkens aus christlicher Perspektive machte eine Transformation
desselben unvermeidlich. Auch im Hinblick auf die Teleologie nimmt
Thomas von Aquin eine exponierte Stellung als Vermittler zwischen
Antike und Neuzeit ein. Seiner Umformung der aristotelischen Kon-
zeption wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet (5.2.3). Der Pro-
zess der Entteleologisierung beginnt mit der von Spaemann bereits in
den Studien über Fénelon so bezeichneten ›bürgerlichen Ontologie‹
und wird zu Ende geführt in den Naturwissenschaften des 19. und
der zu würdigen, das uns die Natur mit den von ihr hervorgebrachten Organismen
unablässig vor Augen stellt. Als Naturzwecke geben sie in ihrer Unerklärbarkeit An-
laß, stets wieder über sich hinausweisende Zusammenhänge zu erwägen. Diesen An-
laß zu übersehen und solche Erwägungen zu verbannen, rächt sich. Was vorsichtig
und mit der nötigen Disziplin auf einer im buchstäblichen Sinn naturgegebenen
Grundlage geschehen könnte, geschieht nun wild und kritiklos am unpassenden Ort.
Das Reich des Lebendigen sollte uns Mahnung sein, über einen Zusammenhang der
Natur mit dem Reich der Zwecke nachzudenken.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das
Ende des teleologischen Weltbildes, 188.
17 In der Anmerkung zu dieser Textstelle geben Spaemann/Löw folgende Erläute-
rung: »›Um … willen‹ steht hier und im folgenden für den Typus der Zweck-Antwort
auf die Warum-Frage.« – Ebd. 260.
18
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 20.
19 Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164, u. Einleitung zum zweiten
Teil, 88–89.
219
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
20
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23. – In der Anmerkung verweisen
Spaemann/Löw auf folgende Quelle des Zitats: Met A III, 984 b 17; vgl. Platon: Phai-
don 97 b. – Ebd. 261.
21 Ebd.
22 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Mit dem Anspruch, die ›Phänomene zu
retten‹, trat Aristoteles in der Naturphilosophie auf; vgl. dazu Owens (1961).« – Ebd.
260.
23
Ebd. 21.
24 Ebd. 23.
25
Vgl. ebd. 56.
220
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.
5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς
den deuteros plous, die ›zweite Fahrt‹, lösen« 26, die im Folgenden
knapp dargestellt wird.
Platon führt im »Phaidon« die »wesentliche Unterscheidung
zwischen Ursache und notwendiger Bedingung ein, zwischen causa
und conditio sine qua non« 27. Diese Unterscheidung leuchtet unmit-
telbar ein, wenn es um das menschliche Handeln geht. Um ihre Be-
rechtigung aber im Bereich der Natur aufzuzeigen, referieren Spae-
mann und Löw Grundlagen der Ideenlehre, um auf diesem Weg das
Phänomen des Werdens bzw. der gerichteten Bewegung in der Natur
erfassen zu können. »Weder das Woraus der Ionier noch der univer-
salteleogische nous des Anaxagoras, sondern das Wesentliche einer
Sache ist hier Thema, das eidos, die Idee. […] Die Ideenlehre enthält
Platons Antwort auf das bis heute aktuelle Problem des Zusammen-
hangs von Genesis und Geltung.« 28 Der Begriff der Geltung, der seine
»zentrale terminologische Bedeutung […] erst in der Wertphiloso-
phie des 19. Jahrhunderts« als »Reaktion auf die Nihilismuskrise« 29
erlangt hat, gehört zur »normativen Sprache« 30 und bezeichnet nur in
der Wahrnehmung gegebene – daseinsrelative – und gleichwohl von
jeder subjektiven Wahrnehmung unabhängige – absolute – Werte. 31
Die moderne Naturwissenschaft geht davon aus, dass das, was etwas
ist, vollständig ableitbar ist aus dem Prozess seiner Entstehung.
Menschliches Selbstsein kann somit, insofern es sich von seinen Ent-
stehungsbedingungen emanzipiert, nicht Gegenstand der Wissen-
schaft sein. Bei der Frage der Naturteleologie geht es darum, in-
wiefern man außermenschlichem Leben ein Selbstsein zugestehen
kann, das sich der Wissenschaft im modernen Verständnis entzieht,
inwiefern es also von der Genesis unabhängige Geltung gibt. Platons
Ideenlehre ist der Versuch, dieses zu denken 32:
26
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23.
27 Ebd. 24.
28
Ebd.
29 Hülsmann, Gelten, Geltung, in: HWPh III, col. 232.
30 Ebd.
Wertbegriff, 672–673.
32 Vgl.: »Dem Gelten und der Geltung kommt […] kein ontischer Charakter zu, wohl
aber sind die in den Dingen und Ereignissen wirksamen Gesetze von solcher Struktur,
daß sie notwendig und immer so und nicht anders gelten. Das unveränderliche Reich
des Geltens erweckt platonische Reminiszenzen.« – Hülsmann, Gelten, Geltung, in:
HWPh III, col. 232–233.
221
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
222
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.
5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς
gung der beiden Prinzipien […], die von sich selbst her einander ent-
gegengesetzt sind« 38. Es ist die »Einheit von Einheit und Vielheit« 39,
insofern Werden eine Bewegung ist, durch die im Substrat – d. h. in
der Vielheit – eine Idee – d. h. die Einheit – wirksam wird. Als nächs-
tes stellt sich die Frage nach dem Grund dieser Bewegung, der nicht in
der Idee selbst liegen kann. Platon beantwortet sie mit der Idee des
Guten: »Die Idee des Guten ist für Platon konstitutiver Grund dafür,
daß die Ideen Konkretes strukturieren. […] Die Idee des Guten reprä-
sentiert die universelle Struktur alles Wirklichen in seinem Gerich-
tetsein. Das universale Ziel der endlichen Wesen ist Sein, Dauer, Ein-
heit in einem bestimmten Sosein.« 40 Das Gute ist somit nicht eine
konkrete Idee, sondern als regulatives Prinzip eine Meta-Idee. Das
Streben nach dem Guten als gerichtete Bewegung setzt »ein aktives
Prinzip voraus, kraft welchem die Richtung auf das Eine und Gute
genommen und gehalten wird. Dieses Prinzip nennt er Seele, psy-
che« 41. »Die Seele als das Prinzip der Selbstbewegung ist der Grund
aller gerichteten Bewegung. […] Die Seele ist mit Vernunft, nous,
ausgestattet, und mit ihr lenkt sie gleichsam wie mit einem Kompaß
die Bewegung in die Richtung auf das Gute hin.« 42 Im »Timaios« wird
die »Verfertigung 43 der Welt dargestellt als das Werk eines Gottes, des
Demiurgen«, der, »indem er auf die Ideen schaut, der Welt eine schö-
ne Gestalt gibt« 44. Das Gute allerdings bzw. die auf es ausgerichtete
Vernunft ist nicht allmächtig, ihnen entgegengesetzt ist »die ananke,
die blinde Notwendigkeit und der Zufall«, womit die »ontologische
Dialektik von Einem und Vielem […] ihre unmittelbare Darstellung
in der Natur« 45 findet. Werden findet in der Natur in dem Maße statt,
41
Ebd. 31.
42 Ebd.
43
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Technesis als Verfertigung, Herstellung
trifft die Intention Platons besser als ›Schöpfung‹, welche in der christlichen Tradition
eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts, meint. Hier ist ursprünglich
dem Einen nichts entgegengesetzt; das Viele wird selbst gedacht als das Werk des
Einen, was aber als Voraussetzung ein differenziertes Eines hat, somit die christliche
Trinitätslehre erfordert. Diese stellt eine Bestimmung des Prinzips des Einen dar, in
welchem dieses Eine als ein in sich bestimmtes Differentes gedacht wird. Nur so kann
aus dem Einen überhaupt etwas Anderes hervorgehen.« – Ebd. 262.
44 Ebd.
45
Ebd. 33.
223
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
wie es der Vernunft, dem νοῦς, gelingt, sich gegen die Notwendigkeit,
die ἀνάγκη, durchzusetzen. Für diese Einwirkung auf die ἀνάγκη
wählt Platon »eine tiefsinnige Metapher: es geschieht durch Über-
redung« 46.
Überredung durch den nous ist die Weise, wie die an sich ungerichte-
ten Prozesse eine bestimmte Richtung erhalten; sie repräsentiert ein
quasi energiefreies Gerichtetwerden. Auf die Frage, was denn eigent-
lich nun »Überredung« in der Natur sein solle, müßten wir platonisch
antworten: es geht hier um Bewegtes; die Sprechweise ist also not-
wendig metaphorisch. Es gibt gar keine uns zur Verfügung stehende
Begrifflichkeit, mit der solche Verhältnisse exakt bestimmt werden
könnten. 47
Für die menschliche Intentionalität gilt, dass durch die Überredung
der ἀνάγκη durch den νοῦς der ἔρως, also die »Grunderfahrung, die
wir Trieb nennen« 48, seine konkrete Gerichtetheit erhält. Dabei ist
noch einmal zu unterscheiden zwischen diesem »unmittelbaren
Zweck der Begierde« und dem »objektiven Zweck« 49. Der unmittel-
bare Zweck zielt jeweils auf »einen Zustand des Subjekts, den dieses
noch nicht besitzt«, der objektive Zweck dagegen auf
die Dauer im Schönen, Einen, Guten. Das Schöne, Eine und Gute ist
aber unabhängig vom Subjekt schon da. Das Subjekt kann an ihm nur
»teilhaben«.
Aus der Nichtidentität von endlichen Dingen mit dem Guten,
durch das allein sie sind, folgt eine ontologische Differenz innerhalb
der teleologischen Verfaßtheit der Dinge, die sich in der menschlichen
Intentionalität als Differenz zwischen objektivem und subjektivem
Ziel, oder auch zwischen Zweck und Motiv darstellt. 50
Der νοῦς kann dabei nur zum Guten überreden; er ist frei in der Wahl
der Mittel, die zur Teilhabe an ihm führen, nicht darin, an ihm teil-
haben zu wollen oder nicht. Weiter unten wird gezeigt, wie Aristote-
les diese Unterscheidung terminologisch weiterentwickelt hat. 51
49 Ebd.
50
Ebd.
51 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 231–232.
224
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
225
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
stanz, 44–54.
63 Ebd. 44.
64 Ebd.
65 Ebd. 45. – An dieser Stelle wird der Bezug zum Thema Kontingenz erkennbar:
Alles, was über Möglichkeiten verfügt, ist so, wie es ist, nicht notwendig; die Distanz
zu einem kontingenten Bestand ist jenes ›Notwendige‹, um das es im personalen
Standpunkt geht. – Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die
Freiheit im Ereignis der Begegnung, 68–82, u. Teilkapitel 12.2, Abschließende Über-
legungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–904.
66
Ebd. 46.
226
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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
70 Ebd.
71 Ebd. – Vgl. Anmerkung: »Phys. III 1, 201 a 11, 202 a 8; die im Text gegebene Über-
setzung von R. Spaemann drückt das Wesentliche deutlicher aus als etwa die von
H. Wagner: ›Prozeß heißt die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem
Gegenstand‹ (Physikvorlesung, Berlin 1967, S. 59).« – Ebd. 264. – Vgl. auch: »ἡ τοῦ
δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνεσίς ἐστιν«. – Physik, 201 a 10, in der
deutschen Übersetzung von Hans Günter Zekl: »Das endliche Zur-Wirklichkeit-
Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches
ist – das ist (entwickelnde) Veränderung«. – Aristoteles, Physik I–IV, 103 (kursiv im
Original). – Auf die Ausführungen zum aristotelischen Bewegungsbegriff an dieser
Stelle wird gegen Ende dieser Arbeit angeknüpft werden. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Ab-
schließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–901.
72 Ebd.
73
Ebd. 48.
227
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
228
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.
5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
83
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 52.
84 Ebd. – Vgl. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 321–
347, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen, 680–702.
85 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 54.
86 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Gr. ariston und beltiston; Phaidon 97b.
›Gut‹ heißt immer ›für das Wesen schlechthin gut‹, und das ist aus der Perspektive des
Wesens selbst das Beste.« – Ebd. 265.
87
Ebd. 53.
88 Ebd. 54.
89
Ebd. 55.
229
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
90
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 57.
91 Vgl. ebd. 57–58.
92 Vgl. ebd. 58–59.
93 Ebd. 59.
94 Ebd.
230
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.
5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
raus folgt nicht, daß diese an sich selbst wesentlich Mittel sind. Der Hinweis auf den
Menschen hat keinen teleologischen Erklärungswert für die Natur.« – Spaemann/
Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 66.
96 Ebd. 60. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles ist ein besonders
kritischer Anhänger der Teleologie; der Zweck kann nicht nur verfehlt werden, son-
dern je mehr die Materie am Zustandekommen eines Gegenstandes beteiligt ist, desto
undeutlicher kann der Zweck für den Naturwissenschaftler sein.« – Ebd. 266.
97 Ebd. 61.
98 Ebd. 62.
99
Ebd.
100 Ebd. – Vgl.: »Allgemein ist τέλος definiert als ›das letzte Worumwillen‹ (τὸ οὗ
ἕνεκα ἔσχατον) [Aristoteles: Met. V, 16, 1021 b 30.]. Aristoteles kann dabei jedoch
231
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
strebte Sache selbst als objektive Realität, der ›finis cui‹ die subjekti-
ve Aneignung dieser Sache. Der ›finis cuius‹ bezeichnet die allgemei-
ne teleologische Verfassung, in der der Mensch sich immer schon
vorfindet und die er mit allen natürlichen Wesen teilt. Der ›finis cui‹
dagegen ist eine subjektive Zielsetzung, die den ›finis cuius‹ noch
einmal als Mittel versteht. Der ›finis cuius‹ der »Sättigung durch
die Speise« kann etwa durch den ›finis cui‹ des Subjekts, »um des-
sentwillen das Ziel erstrebt wird« 101 affirmiert oder auch abgelehnt
werden. Problematisch wird diese Unterscheidung nun, »wenn wir
von der Erhaltung des Seins, nach welchem alles Seiende strebt« 102,
sprechen: »Der finis cuius ist die Selbsterhaltung; aber um wessen
willen wird die Selbsterhaltung erstrebt?« 103 Da die Selbsterhaltung
dem Subjekt nichts hinzufügt, kann es sie nicht um seiner selbst
willen erstreben.
Aristoteles’ Antwort ist, daß das Streben alles Seienden, sich im Sein
zu erhalten, um der methexis, der Teilhabe am Göttlichen willen ge-
schieht. […] Das Streben nach Dauer, sei es als Selbst-, sei es als Ar-
auch zwischen einem primären (οὗ ἕνεκα τινός, dem späteren ›finis cuius‹ oder ›finis
internus‹) und einem sekundären, äußeren Zweck (οὗ ἕνεκα τινί, ›finis quo‹ oder
›finis externus‹ [Vgl. J. Micraelius: Lex. philos. (21662, ND 1966) 512.]) unterscheiden
[Aristoteles: Met. XII, 7, 1072 b 1–3; Phys. II, 2, 194 a 35 f.; De an. II, 4, 415 b 2 f. u. ö.;
vgl. K. Gaiser: Das zweifache Telos bei Aristoteles, in: I. Düring (Hg.): Naturphilos.
bei Arist. und Theophrast (1969) 97–113.].« – Hoffmann, Zweck; Ziel, in: HWPh XII,
col. 1488. – Obwohl dieser Sachverhalt von Spaemann und Löw nicht explizit thema-
tisiert wird, ist zu beachten, dass die Unterscheidung der beiden fines bei Aristoteles
rein terminologischer Art ist. In »Personen« wird Spaemann später schreiben: »Die
Antike kennt keinen Rückgang des Menschen hinter seine Natur, keine Objektivie-
rung der Natur. Natur ist ein Letztes, im faktischen und im normativen Sinn.« –
Spaemann, Personen, 31. – Es geht also bei Aristoteles um einen finis, der auf seine
beiden Aspekte – den objektiven und den subjektiven – hin betrachtet wird. Vgl. dazu
folgende Textstelle aus »Natürliche Ziele«, in der die Unterscheidung von ›finis quo‹
und ›finis cuius‹ bei Aristoteles erklärt wird mit der »Unterscheidung zwischen
›Zweck‹ und ›Um … willen‹ bzw. zwischen ›Zweck‹ und ›Ziel‹. Ziel wäre dann jenes
›Um … willen‹, das wir jeweils schon vorfinden und innerhalb dessen wir uns über-
haupt erst als lebendige Wesen verstehen können. ›Zweck‹ dagegen wäre das bewußt
gesetzte und in konkrete Handlungsorientierung übersetzte Ziel. Zwecke setzend hal-
ten wir zugleich nach Mitteln Ausschau, während das Ziel als Ermöglichungsgrund
des Zweck-Mittel-Dualismus diesem voraufliegt.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele
(1981; 2005), 219. – Vgl. zur Bedeutung der beiden fines außerdem: Ebd. 69, 78, 81 u.
222.
101
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 62.
102 Ebd.
103
Ebd.
232
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision
104
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63. – Vgl. die Anmerkung von
Spaemann/Löw: »Ansonsten lehnt Aristoteles den platonischen Begriff der Teilhabe
(vgl. 1. Kapitel) ab; Teilhabe an Ideen verdopple die Welt. Die Ideen haben in den
Dingen selbst Wirklichkeit, nicht in einer eigentlichen Welt der Ideen.« – Ebd. 266. –
Vgl. dazu: »Aristoteles bestreitet, daß es sich bei ›Teilhabe‹ überhaupt um einen phi-
losophischen Begriff handelt. Eine Antwort auf die Frage, was denn Teilhabe sei, habe
Platon nicht geben können […]. Nicht philosophisch sei dieses Wort, weil es leer
bleibe und nichts als eine poetische Metapher sei, auf deren Basis jedoch kein Beweis,
der Kern des Wissens, aufgebaut werden könne […]. Gleichwohl gibt es auch bei
Aristoteles mehrere Felder, auf denen er zwar keinen eigens legitimierten, aber doch
faktischen Gebrauch des Begriffes macht. Ähnlich wie Platon im ›Symposion‹ […]
spricht auch Aristoteles davon, daß es die basale Leistung von Lebewesen ist, ein
Gleichartiges zu erzeugen. Sinn der Zeugung sterblicher Lebewesen ist, ›am Ewigen
und Göttlichen Anteil zu haben‹ (τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχουσιν) […].« –
Schönberger, Teilhabe, in: HWPh X, col. 961.
105 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63.
106
Ebd. 64.
107 Ebd.
108 Auf diesen Gedankenkomplex wird in den folgenden Kapiteln mehrfach zurück-
zukommen sein. Zum einen werden im Rahmen des sechsten Kapitels die besonderen
Denkbedingungen reflektiert, durch die die antike Philosophie sich einem direkten
Zugriff entzieht und uns nur im Zuge einer Aktualisierung zugänglich sein kann.
Zum anderen wird im siebten Kapitel der aristotelische ›finis cuius‹ im Sinne des Her-
vortretens eines bewandtnislosen Umwillen zum Bild des Anderen führen und die
Anknüpfung an diesen aristotelischen Gedanken damit einen wesentlichen Schritt
zur Philosophie der Begegnung darstellen.
233
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
112 Ebd. – Dieser Gedanke der curvatio in seipsum und einer durch Umkehr, μετά-
234
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.
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
Die somit beobachtbare Verlagerung des Interesses, das die Frage der
Naturteleologie in den Hintergrund treten lässt, steht also im Zusam-
menhang mit der oben erörterten christlichen Umformung des klas-
sischen ontologischen Natur-Praxis-Schemas in die neue Unterschei-
dung von Natur und Gnade. 113
Das Problem naturimmanenter, spezifisch teleologischer Prozesse
taucht innerhalb des platonischen ersten Jahrtausends nach Christus
nicht auf, sondern wird erst mit dem durch die Araber – vor allem
Avicenna und Averroes – initiierten und im 13. Jahrhundert in der
christlichen Welt rezipierten Neoaristotelismus 114 erneut thematisch,
für den vor allem die Namen Albert der Große und Thomas von
Aquin, aber auch Johannes Duns Scotus stehen. 115
Spaemann und Löw beschränken sich auf »Bemerkungen über die
Weiterführung und Umformung aristotelischer Gedanken durch den
Heiligen Thomas« 116. Da diese für eine mögliche Anknüpfung an die
Naturteleologie aus moderner Sicht ebenso wichtig sind wie die
Grundlegungen durch Platon und Aristoteles, werden sie im Folgen-
den ausführlich wiedergegeben.
Thomas steht auf aristotelischem Boden, erweitert dessen Teleo-
logiekonzeption jedoch in wichtigen Aspekten. Wie oben erwähnt
wurde, lehnte Aristoteles eine teleologische Interpretation des Was-
serkreislaufs beispielsweise ab: »Das Wachstum des Getreides hat in
bezug auf den Wasserkreislauf, der sich erhält, keinen finalen Er-
klärungswert, denn er zerstört Getreide auch.« 117 Thomas wider-
spricht hier Aristoteles: »Unde licet pluvia non sit propter perditio-
nem, non tamen sequitur quod non sit propter conservationem et
augmentum.« 118 Gegenüber Aristoteles führt Thomas also die Unter-
113
Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,
196–206.
114
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles wurde dem Westen erst seit
Mitte des 12. Jahrhunderts durch die Übersetzungen aus dem Arabischen zugänglich;
die Kommentare zu seinen Schriften versuchten ihn so zu interpretieren, daß er der
hl. Schrift nicht widersprach.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 267.
115 Ebd. 69.
116 Ebd.
118
Ebd. – Deutsch: »Von daher erhellt, daß daraus, daß der Regen nicht für das Ver-
derben des Getreides fällt, nicht gefolgert werden kann, daß er auch nicht für das
Wachstum und Erhaltung fällt.« – Ebd. 267.
235
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
bewegen sich nicht auf ein Ziel zu, außer gelenkt von einem, der das Ziel kennt, wie
der Pfeil vom Schützen: Wenn es also in der Natur teleologisch zugeht, dann ist es
notwendig, daß sie durch einen Wissenden geordnet wird.« – Ebd. 267.
122
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 71.
236
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.
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
126 Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles würde antworten:
gar nicht, sie ist gleichursprünglich, und das heißt ewig bereits in ihr drinnen. Hier
hinkt die Analogie mit dem Flötenspieler, der seine Kunst erst erwerben mußte. Den-
noch ist sie natürlich nur in der Natur, weil die Natur von Gott bewegt wird wie das
Liebende durch das Geliebte.« – Ebd. 267.
127
Ebd.
128 Ebd.
129
Ebd. 72.
237
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
133 Ebd. 72–73. – Vgl.: »Thomas von Aquin macht den Begriff der Teilhabe zum Zen-
tralbegriff seiner Metaphysik […]. Auch er bezieht, wie schon der Neuplatonismus,
›Teilhabe‹ nicht mehr bloß auf einzelne Formen, sondern auch auf das – jetzt aber
nicht als Form, sondern als Akt verstandene – Sein überhaupt: Die Formen sind selbst
Teilhabende am Sein. Und wie auch spätere Autoren bestimmt Thomas ›participatio‹
etymologisch als ›partem capere‹ […]. […] Daraus ergibt sich die vollständige Dis-
junktion von Gott, der mit seinem Sein identisch ist, und den geschaffenen Dingen,
die am Sein nur teilhaben, d. h. in partizipierender Weise sind […]. Das sachliche Pro-
blem, wie die Einheit des konkreten Seienden angesichts der Nichtidentität der Be-
stimmungen gedacht werden kann, beantwortet Thomas – und dies ist seine eigent-
liche Leistung bei der Konzeption des Teilhabe-Begriffs – damit, daß er das Teilhabende
als Potenz, hingegen das, woran etwas teilhat, als Akt versteht […].« – Schönberger,
Teilhabe, in: HWPh X, col. 964–965.
134 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 73.
135
Ebd.
238
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.
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
239
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
147
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 78. – Vgl. die Anmerkung von
Spaemann/Löw: »Diese Differenz zwischen Albert und Thomas zieht sich theologie-
und philosophiegeschichtlich bis in die Neuzeit hinein; sie gab die Basis für die letzte
große theologische Kontroverse ab, welche die ganze europäische Öffentlichkeit inte-
ressierte, die des Bossuet gegen Fénelon. Vgl. dazu R. Spaemann (1963).« – Ebd. 268.
148 Ebd. 81.
149 Ebd.
150
Ebd. 78.
151 Ebd.
152
Ebd. 79.
240
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.
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam
höhlung« 153 der Naturteleologie gewesen sei, kritisch ab. Dem Vor-
wurf ist insofern zuzustimmen, als
bei einer Rückverfolgung aller späteren Transformationen und der
schließlichen Elimination der Teleologie Thomas als ein notwendiges
Zwischenglied erscheint. Aristoteles konnte nicht direkt transformiert
werden, da er gerade geleugnet hat, daß ein telos nur unter der
Voraussetzung eines Bewußtseins wirken kann. 154
Der Vorwurf ist hingegen zurückzuweisen, wenn bedacht wird, dass
die durch Thomas in gewissem Sinn vermittelte Abkehr vom teleo-
logischen Denken nur möglich war, indem ein »fundamentales Theo-
rieelement des Gesamtansatzes einfach preisgegeben [wurde]: der
Gedanke der konstitutionellen Bewegtheit der substantiellen For-
men« 155. Wenn allerdings eine »Rückkehr zur ›naiven‹ Naturteleo-
logie des Aristoteles nicht möglich ist«, nicht zuletzt weil seine »tra-
gende These von der Ewigkeit der Arten« nicht mehr haltbar ist,
Arten also als entstanden gedacht werden müssen, »dann stellt sich
die Frage: ›Wie ist die Kunst in die Natur hineingekommen?‹ eben
doch unabweisbar« 156. Spaemann und Löw geraten hier, im Span-
nungsfeld der Teleologiekonzeptionen von Aristoteles und Thomas,
an eine Grenze ihrer Untersuchung: »Das Teleologieproblem ist mög-
licherweise vom Theologieproblem in letzter Analyse doch nicht ab-
lösbar, und Thomas bleibt eine Herausforderung. Seine Mittelstel-
lung zwischen Antike und Neuzeit enthält die Frage, ob es sich nicht
um jene Mitte handelt, als die Aristoteles das Vernünftige definiert
hat.« 157 Diese Mittelstellung Thomas’ zwischen einem nicht direkt
erneuerbaren antiken und einem neuzeitlichen, einen Bruch mit der
antiken Tradition darstellenden Denken, das bereits in Spaemanns
Auseinandersetzung mit Fénelon und Rousseau eine latente Rolle
spielte, tritt hier zum ersten Mal in voller Deutlichkeit hervor und
wird in der weiteren Entwicklung des Spaemann’schen Denkens wei-
ter an Bedeutung gewinnen. 158
156 Ebd.
157 Ebd.
158 Eine Antwort auf die hier aufgeworfene Frage, ob Thomas’ Umformung notwen-
dig war oder ob es eine bessere Alternative gegeben hätte, wird von Spaemann weder
in »Natürliche Ziele« noch in später publizierten Texten explizit gegeben. Im Rahmen
dieser Arbeit wird erst im Schlusskapitel versucht, aus dem Kontext der späteren
241
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
162
Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 229–230.
163
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 67.
242
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.
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
164 Vgl.: »Dem christlichen Gott ist die Welt nicht gleichgültig: ›Kein Haar fällt von
eurem Haupte, ohne daß der himmlische Vater es will.‹« – Spaemann/Löw, Natür-
liche Ziele (1981; 2005), 70.
165 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,
235–237.
166 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Die Tendenz, nicht den Willen! Genau
deswegen ist die Ersetzung von Teleologie durch ›Motivkausalität‹ (Stegmüller) ganz
falsch.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 297.
167 Ebd. 231.
168 Ebd. 110. – Spaemann und Löw spielen hier an auf Ausführungen Kants im § 63
»Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede von der innern« der
KU an. – Vgl. Kant, Werke, Bd. 8, 477–480.
169 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 243.
170
Ebd.
243
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
171 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,
237.
172 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 82.
173 Ebd.
175
Ebd.
176 Ebd.
177
Ebd. 83–84.
244
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.
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
181 Ebd.
186
Ebd.
187 Ebd.
188
Ebd.
245
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
193 Ebd.
194 Ebd.
195
Ebd. – Eduard Zwierlein spricht in diesem Zusammenhang vom »deifizierte[n]
humane[n] Selbsterhaltungsabsolutum«. – Zwierlein, Das höchste Paradigma des
Seienden, 119.
246
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.
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
dieser die Bedingung seiner Erhaltung ist« 196. Der Gedanke der
Selbsterhaltung wird
zu einem »systematischen« heuristischen Prinzip, das nicht nur nach-
trägliche Interpretation, sondern funktionale Ableitung bzw. Kon-
struktion oder Rekonstruktion gestattet. Solche Rekonstruktion ge-
schieht zunächst nicht in der Naturwissenschaft, die noch nicht weit
genug fortgeschritten ist. […] Die Diskussion entsteht zunächst in
Politik, Theologie und Ethik. 197
In diesem Zusammenhang beziehen Spaemann und Löw sich auf Spi-
noza (1632–1677) und die beiden Schlüsselzitate aus seiner »Ethik«,
auf die hier zum ersten Mal im Kontext der Studie über Bonald hin-
gewiesen wurde: 198
Vollkommenheit bedeutet imstande sein, sich im Sein zu erhalten: Per
realitatem et perfectionem idem intellego.199 Alle Tätigkeit hat zum
alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin ist; alles Seiende ist
nur durch diese Tätigkeit definiert: Conatus, quo unaquaeque res in
suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem es-
sentiam. 200 Das Wesen alles Seienden besteht in nichts außerhalb des
Strebens nach Selbsterhaltung. 201
Die Erhaltungsontologie, die im Denken Spinozas ihren paradigmati-
schen Ausdruck fand, muss als die philosophische Voraussetzung ver-
standen werden für den »Versuch, Teleologie durch teleonomische
Rekonstruktion zu destruieren« 202:
Es zeigt sich nämlich, daß die Form, die die Teleologie seit der frühen
Neuzeit angenommen hat, tatsächlich destruierbar ist, die Form der
»invertierten«, das heißt der auf Selbsterhaltung reduzierten Teleolo-
verstehe ich dasselbe.‹ Ethica II, Def. 6.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981;
2005), 269.
200 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »›Das Bestreben, wonach jedes Ding in
seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.‹
Ethica III, Prop. 7. Beide Übersetzungen von B. Auerbach in der Ausgabe von A. Bu-
chenau (Berlin 1911).« – Ebd. 269.
201 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 91.
202
Ebd. 241.
247
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
gie. Wenn jenes nach seiner Erhaltung strebende Selbst nichts ist als
eben dieses Streben nach seiner Erhaltung, wenn der Satz des Spinoza
gilt: conatus sese conservandi est essentia rerum, dann läßt sich diese
Form von Teleologie in der Tat systemtheoretisch einholen und »te-
leonomisch« rekonstruieren. […] Wenn der Sinn des Daseins nur in
seiner Erhaltung liegt, dann ist das gleichbedeutend mit der These, daß
es einen solchen Sinn nicht gibt. Und wenn das Wesen des Selbst nur
in seinem Selbsterhaltungsstreben liegt, dann ist das gleichbedeutend
mit der These, daß es das Selbst nicht gibt, daß es überhaupt nicht
etwas als »es selbst« gibt. 203
Die Invertierung der Teleologie erscheint so als notwendiges Zwi-
schenstadium, gewissermaßen als Vehikel der Entteleologisierung.
Durch die mit der Invertierung verbundene Kappung aller transzen-
denten Bezüge teleologisch verfasster Wesen eröffnet sich die Mög-
lichkeit ihrer Deutung als geschlossene Systeme. Um von diesem
»programmatischen Antiteleologismus der Frühneuzeit« 204 zur uni-
versalen, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung aufbauenden kausal-
mechanischen Naturinterpretation zu gelangen, bedarf es des Sprungs
in das 19. Jahrhundert.
Was der universalen kausalmechanischen Naturerklärung bis ins
19. Jahrhundert im Wege stand, war das Problem der Lebenserschei-
nungen von Organismen, da »jeder Versuch einer a- oder gar an-
titeleologischen Biologie schon nach einer kurzen Argumentations-
strecke in den Bereich des Absurden geraten« 205 war. Erst im
19. Jahrhundert wurde mit der Selektion ein Prinzip gefunden, »nach
welchem generell jede Lebenserscheinung auf nicht-teleologische Ur-
sachen zurückgeführt werden konnte« 206. »Die Anwendung des Se-
lektionsprinzips in der Biologie – es entstammte der englischen Sozi-
alökonomie des auslaufenden 18. Jahrhunderts – ist mit dem Namen
Charles Darwin (1813–1882) untrennbar verbunden.« 207 Es ist nun
zu fragen, welche Bedeutung der Darwinismus für das teleologische
Denken hat bzw. auf welche Weise dieser beansprucht, Teleologie aus
der Naturbetrachtung eliminiert zu haben.
Unter Darwinismus versteht man die »Theorie, durch welche die
Evolution auf natürliche Auslese erblicher Varianten zurückgeführt
248
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.
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
208
Rensch, Darwinismus, in: HWPh II, col. 14. – Der Autor verweist in der Anmer-
kung auf: Ch. Darwin: On the origin of species (London 1859); A. R. Wallace: Darwi-
nism (New York 21890). – Ebd. 15.
209 Ebd.
210 Ebd.
212 Ebd.
215
Ebd. 184.
216 Ebd.
217
Ebd. 184–185.
249
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Ernst Heinrich Haeckel 218 steht, der mit seinen vier Grundthesen 219
eine materialistische »Vernunftreligion« 220 begründet zu haben
glaubte. 221
Der naturwissenschaftliche Monismus hat sich im 20. Jahrhun-
dert als universales Erklärungsmodell bis hinein in das Alltags-
bewusstsein etabliert:
Das naturwissenschaftliche Bild der Wirklichkeit ist heute von einer
nie zuvor erreichten, großartigen Einheitlichkeit. Die Genetisierung
der Natur, ihre Projektion auf die seit dem Urknall verstrichene Zeit
erfaßt sämtliche Phänomene der Wirklichkeit, weit über die organi-
sche Evolution hinaus, und lokalisiert sie an einer bestimmten Stelle
der Zeitgerade in ihrem Auftreten. 222
Eine besondere Herausforderung stellen für das monistische Weltbild
die Übergangsfragen dar, die sich auf die Entstehung von Neuem –
des Kosmos, des Lebens und des Menschen – beziehen. Von unmittel-
barer philosophischer Bedeutung sind vor allen Dingen die in der
Naturwissenschaft vorgeschlagenen Lösungen zur letzten dieser
Übergangsfragen, die sich noch einmal logisch differenzieren lässt in
die »Evolution des Geistigen (auch: Sprache, Bewußtsein)« und die
»Evolution des Sittlichen (auch: Kultur, Wirtschaft)« 223.
Die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins wird in einem Teil-
gebiet der Evolutionstheorie beantwortet, der sogenannten evolutio-
nären Erkenntnistheorie. […] Demgemäß stammen die apriorischen
Anschauungs- und Denkformen Kants aus der Evolution. Sie passen
auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in der Anpassung auf
218 Vgl.: »Ernst Haeckel (1834–1919) und viele andere haben eine solche orthogene-
221 Vgl.: »Grundsätzlich gilt also nach dem Zusammenbruch der natürlichen Teleo-
logie das folgende Programm: Wo Natur war, soll Vernunft (oder Plan, Intervention,
Technik, Wille) sein. Der ›Mensch‹ tritt in die freigewordene Stelle ein, die einst
›Gott‹ besetzt hatte.« – Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, 195.
222 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 189.
223
Ebd. 191.
250
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.
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung
228
Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 48. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele
251
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
(1981; 2005), 195, sowie die Anmerkung von Spaemann und Löw: »Es soll wohl hei-
ßen, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.« – Ebd. 291.
229 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 196.
230 Ebd.
232
Ebd. 178.
233 Vgl.: »Der berühmte Arzt Rudolf Virchow schreibt 1856: ›Der Artenwandel ist
eine unbewiesene Idee der Naturphilosophie; der wahre Naturforscher betrachtet sie
252
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.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
zung von Darwins Theorie gegen einen bis dahin bestehenden wis-
senschaftlichen Konsens ein »Musterbeispiel einer Kuhnschen Revo-
lution« 234 darstellt. »Darwin erklärte den Artenwandel (›Variabilität‹)
für ein Faktum« 235 und die »Evidenz seiner Theorie erfuhr nach 1859
mannigfache Bestätigung« 236, durch die sie allmählich in ein Dogma
verwandelt wurde:
Bis etwa 1930 währte noch ein Kampf gegen die Evolutionstheorie mit
wissenschaftlichen Argumenten. Durch Einbeziehung der Evolutions-
faktoren: Populationswellen, »ökologische Nischen«, Isolation er-
reichte die Evolutionstheorie einen solchen Status, daß antievolutio-
nistische Argumente heutzutage per definitionem unwissenschaftlich
sind. 237
Neuere Erkenntnisse aus der Biologie, die nicht der mit dem Evolu-
tionsprogramm verbundenen Erwartungshaltung entsprechen, wer-
den nicht im mindesten als Argumente gegen den Darwinismus ver-
standen: Der Darwinismus ist daher »nicht eine zur Überprüfung
anstehende Hypothese, sondern ein wissenschaftliches Paradigma im
Sinne von Thomas Kuhn« 238. Das zweite Charakteristikum besteht
darin, dass die »Stammbäume, Zwischenformen, Ahnenreihen« des
Darwinismus, die mit dem Anspruch einer empirisch nachweisbaren
Beschreibung und Erklärung von Naturzusammenhängen vorgetra-
gen werden, »logische Gebilde« sind: »Sie sind ersonnen und er-
schlossen aufgrund bestimmter Indizien; ihr oberstes logisches Kon-
struktionsprinzip aber ist der Darwinismus. Stammbäume sind
Argumentationsschemata (W. Hennig).« 239 Es liegt daher im Darwi-
nismus eine gewisse »Zirkularität der Beweisführung« vor: »Der
Tüchtigste überlebt, heißt es – aber der Tüchtigste wozu? Zum Über-
mit Skepsis‹ ; und 1877, rückblickend, findet man bei ihm, daß es ›schon etwas über-
raschend war, wie das Genie eines einzelnen Mannes [Darwins] eine Idee, die schon in
der Naturphilosophie den Status einer apriori-Notwendigkeit hatte und lange, und
nicht ganz ungerechtfertigt, verbannt gewesen war, nicht nur wieder eingesetzt hat,
sondern aus ihr die Basis einer allgemeinen Theorie der Geschichte der organischen
Welt gemacht hat‹.« – Löw, Herder und die Evolution, in: Ders. (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩ-
ΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, 140.
234 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 178.
235 Ebd.
237
Ebd.
238 Ebd. 199.
239
Ebd.
253
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
243 Vgl.: »Darwins Evolution ist immer wieder als ein Mechanismus mißverstanden
worden, aus dem sich rein naturgesetzlich die orthogenetisch, zielstrebige Höherent-
wicklung hin zu immer besser angepaßten und vollkommeneren Formen ergeben
sollte; und sie wird noch immer so mißverstanden, aus gutem Grund: Das Bedürfnis,
in der Natur Sinn und Ziel finden zu wollen, läßt sich nicht ersticken. Wenn teleolo-
gische Betrachtungen als schlechthin unwissenschaftlich verpönt werden, so wie es in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschah, dann ist man nur um so glück-
licher, statt dessen eine den strengen Maßstäben teleologiefreier Naturwissenschaft
genügende Theorie geboten zu bekommen, die dasselbe wie die Teleologie leistet,
nämlich in die Natur auf ein bestimmtes Ziel hin ablaufende Prozesse einzuführen.
Wenn erst einmal diese Möglichkeit eröffnet ist, läuft alles nach den Mustern teleo-
logischer Argumentation weiter, nur mit dem Unterschied, dass jeder Einwand mit
der Bemerkung zurückgewiesen wird, daß es sich hier um alles andere als teleologi-
sche Spekulation, sondern um strenge naturwissenschaftlich begründete Erkenntnis
handle. Ob der im vorigen Jahrhundert so beliebte Sozialdarwinismus, ob die heute zu
einer Modetorheit ausufernde evolutionäre Erkenntnistheorie: sie alle haben nichts
mit Darwins Lehre zu tun und alles mit einer unkritischen Teleologie, deren Kritik
längst gegeben und wieder vergessen wurde.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das
Ende des telelogischen Weltbildes, 186–187.
244
Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 200–209.
245 Ebd. 211.
246
Ebd.
254
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
255
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
256
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
262
Spaemann/Löw verweisen in einer Anmerkung auf: Lorenz (1973), Vollmer
(1975), Riedl (1976, 1979). – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 293.
263 Ebd.
266 Ebd.
267 Ebd. – Spaemann/Löw zitieren hier einen »der glänzendsten gegenwärtigen Evo-
lutionstheoretiker und zugleich Historiker der Biologie« – ebd. 179 –, Ernst Mayr,
und verweisen auf folgende Quelle: »Evolution und die Vielfalt des Lebens« (Berlin
1979), S. 213. – Vgl. ebd. 294 u. 302.
257
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
272
Ebd.
273 Es ist bemerkenswert, dass Spaemann und Löw hier die unaufhebbare Bezogenheit
zentraler Begriffe wie System und Information auf das menschliche Bewusstsein ge-
gen die Naturwissenschaft akzentuieren, obwohl sie doch zuvor im Zusammenhang
mit Thomas auf die Problematik der Verbindung von Naturteleologie und Bewusst-
sein ausdrücklich hingewiesen haben. Negativität, deren Bedeutung Spaemann und
Löw ausdrücklich hervorheben, wird hier ausschließlich mit menschlich-bewusstem
Leben in Zusammenhang gebracht. Im Sinne des von ihnen selbst verfolgten Projekts
einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens wäre aber gerade der Nachweis von
Negativität auch auf der Ebene nicht bewussten Lebens von entscheidender Bedeu-
tung. Es würde dabei um den Nachweis gehen, dass auch nicht-menschliche Lebewe-
sen im Unterschied zu Mechanismen nicht gleichgültig sind gegen Identität und
Nicht-Identität. Ein solcher expliziter Nachweis fehlt in »Natürliche Ziele« noch, er
taucht bei Spaemann zum ersten Mal auf in dem 1984 erschienen Aufsatz »Sein und
Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?«, in dem Spaemann im Abschnitt
»Die Unableitbarkeit der Negativität« drei Stufen der Negativität unterscheidet:
1. »Schmerz«, 2. »Andersheit«, »Nicht-ich«, 3. »der Gedanke des Absoluten«. – Vgl.
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 198. – Die dort genannte erste Stufe be-
zeichnet die Erscheinungsweise von Negativität auf einer präreflexiven Ebene, die für
258
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms
276 Ebd.
277 Ebd.
279
Ebd.
280 Ebd. 214.
281
Ebd. 215.
259
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
260
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
wir den Blick nach rückwärts wenden. Woher das Neue selbst kommt,
das kann uns keine Naturwissenschaft lehren. 287
Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist wesentlich »Bedingungsfor-
schung. Sie kennt nur abhängige Variable, also prinzipiell nur Passi-
vität. ›Selbstsein‹ ist ihr von ihrer Fragestellung her grundsätzlich
unzugänglich« 288. In den dargestellten drei Übergangswissenschaften
ist »der Bedingungscharakter verschleiert: er steckt im jeweiligen An-
fang, in der Definition des Explanandums« 289. Die innere Wider-
sprüchlichkeit des Evolutionsprogramms besteht also darin, dass es
»extrem metaphysisch« 290 ist, zugleich aber den Anspruch erhebt,
metaphysikfreie Erklärung zu bieten. Spaemanns und Löw gelangen
so zu der Schlussfolgerung,
daß die sogenannte Kausalforschung in den Naturwissenschaften vor
dem Dilemma steht, entweder sich als eingeordnet in einen teleologi-
schen Horizont zu verstehen oder sich durch Aufgabe des Ursachen-
wie des Erklärungsbegriffs ad absurdum zu führen und ins Sinnlose,
Unsagbare, Unverständliche zu verschwinden. 291
Die hier knapp dargelegte Kritik des Evolutionsprogramms wurde
ihrerseits vorbereitet durch genuin philosophische Entwicklungen
des 18. und 19. Jahrhunderts, denen nun Aufmerksamkeit gewidmet
werden soll.
Aus der Reihe von Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren
Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem von Spaemann und
Löw untersucht wird, werden hier nur Kant und Nietzsche aus-
gewählt, da ihr Denken auf sehr unterschiedliche Weise eine mög-
liche Wiederbelebung des teleologischen Denkens vorbereitet. Dabei
mag gerade diese Zusammenstellung zunächst verwundern. Die Bei-
träge Kants und Nietzsches liegen auf unterschiedlichen Ebenen.
Während Kant aufbauend auf seiner kritischen Philosophie die Frage
261
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
262
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
300 Ebd.
301 Ebd.
302
Ebd.
303 Vgl.: »Kant hat, indem er die Organismen als mögliche Naturzwecke zum Aus-
263
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
310
Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Ein prinzipiell nicht zu er-
reichendes telos verdient seinen Namen nicht.« – Ebd. 274.
311
Ebd. 114.
264
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
316 Ebd.
317 Ebd.
318 Ebd.
320
Ebd. 118.
321 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleo-
logisierung, 242–243.
265
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
322 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 119. – Diesem war auch die von
Spaemann betreute Dissertation Reinhard Löws gewidmet, die 1980 unter dem Titel
»Philosophie des Lebendigen« publiziert wurde.
323
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Vgl. H. Jonas (1973, S. 33): ›So be-
zeichnet der organische Körper die latente Krise jeder bekannten Ontologie, und das
Kriterium ‘jeder künftigen, die als Wissenschaft wird auftreten können’.‹« – Ebd. 274.
324 Ebd. 119.
325 Ebd.
326 Ebd.
327 Ebd.
328
Ebd. 120.
329 Ebd.
330
Ebd.
266
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
335
Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291.
267
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
340 Ebd.
341 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »In der Ausweitung der Willensmeta-
physik auf das Anorganische folgt Nietzsche Schopenhauer – ja, es bekommt sogar
den Vorrang: ›Wo es keinen Irrtum gibt, dies Reich steht höher: das Unorganische ist
die individualitätslose Geistigkeit.‹ Zitiert nach Jaspers (1974, S. 312).« – Ebd. 283–
284.
268
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
Wille zur Macht, sein Wille zur Steigerung. Dieser Wille ist ohne Sinn
und Ziel. 342
Voraussetzung der Freisetzung des Willens zur Macht ist für Nietz-
sche die Überwindung des Nihilismus, der sich auch im naturwissen-
schaftlichen Antiteleologismus zeigt.
In seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften
wirft Nietzsche diesen vor, »sich einer genauso falschen Metaphysik
wie die Teleologie« 343 zu bedienen. Der »Grundirrtum«, dem auch die
Naturwissenschaften erliegen, besteht für Nietzsche in der Übertra-
gung der »Selbsterfahrung auf alle anderen Ereignisse der Welt« 344.
Sobald die Selbsterfahrung »im Gedanken fixiert wird«, steht sie »in
der Dimension eines ontologischen Irrtums, weil das Gedachte und
denkend Festgemachte ja etwas anderes als die gemeinte Sache ist« 345.
Hinter dieser Denkfigur steht Nietzsches Überzeugung, dass der
»Wille zur Wahrheit«, da er stets »interpretierend bestimmte Ge-
schehnisse voneinander« isoliert, prinzipiell zu einer Verfälschung
der »wahre[n] Wirklichkeit« 346 führen muss. Dem Verdikt Nietzsches
fallen die Naturwissenschaften insbesondere dann zum Opfer, wenn
sie nicht nur beschreiben, sondern erklären zu können beanspruchen
wie der Darwinismus, der glaubte, »die teleologischen Phänomene
aus mechanistischen Verhältnissen erklärt zu haben« 347. Damit er-
liegt der Darwinismus der Dialektik des Willens zur Wahrheit und
führt zu einer verfälschten Sicht der Wirklichkeit. Dem aussichts-
losen Willen zur Wahrheit stellt Nietzsche als einzig mögliche Alter-
native den Willen zur Macht gegenüber, der nur »Einwirkung im
Sinne einer Überwältigung eines Willens durch einen anderen« 348
kennt.
Zu den Grundüberzeugungen Nietzsches gehört also, dass die
»›wahre‹ Welt […] ein chaotischer Fluß des Werdens ohne Stillstand«
und Leben »Wille zur Macht« 349 ist. Nachdem mit dem Tod Gottes die
»größte Idee der Menschheit bisher« 350 weggefallen ist, bleibt für
269
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
270
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche
stab« 357 an, von der seine Kritik am teleologischen Denken ihren Aus-
gang nahm.
Von besonderem Interesse für Spaemanns und Löws Anliegen
einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens ist die strukturelle
Betrachtung von Nietzsches Denken. Es geht dabei zunächst um die
Gedankenfigur der doppelten Negation. Zum einen geht es um die
Negation von Wahrheiten, im hier verfolgten Zusammenhang kon-
kret der Existenz von Naturzwecken; zum anderen geht es um die
Negation der Kritik an diesen Phänomenen, hier konkret der anti-
teleologischen Naturwissenschaft. Insofern die Wahrheiten für
Nietzsche selbst noch »Ausdrucksformen des Willens zur Macht« 358
sind, ist ihre bloße »Leugnung verächtlicher als die Position selbst« 359.
Die »wahre« Sicht der Dinge muß die Position wie die Negation als
Irrtümer entlarven. Position wie Negation sind beide Ausflüsse des
Willens zur Macht – das ist ihr Wahres –, mit ihrer Feststellung wird
jedoch ihr Moment des Sich-Steigerns geleugnet. Position wie Nega-
tion drücken eine Perspektive aus, welche der Steigerung des Indivi-
duums dienlich sein soll; qua Perspektive wird die Steigerungsmög-
lichkeit aber schon gehemmt. 360
Da alle »Manifestationen des Willens zur Macht […] schon die Di-
mension des Irrtums notwendig bei sich führen«, ja Wahrheit und
Irrtum selbst »beide Dimensionen des Irrtums« sind, folgt daraus,
dass das Denken selbst »die ontologische Dimension des Irrtums er-
öffnet« 361. Spaemann und Löw ziehen einen Vergleich zwischen
Nietzsche und Hegel. Für beide gilt die »Identität von Denken und
Sein« 362, »aber während für Hegel die Erkenntnis im Werden des Be-
griffs besteht, schließen für Nietzsche Erkennen und Werden einan-
der absolut aus« 363. Hegel erscheine, so Spaemann und Löw, »in
Nietzsche wie in einem Spiegel, in welchem Hegels Wirklichkeit als
entwickelte Logik des Irrtums erscheint« 364. Zu dieser Spiegelung He-
gels gehört die paradoxe Konstruktion einer ateleologischen Teleo-
logie, für die teleologisches Denken genauso falsch ist wie antiteleo-
271
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
365 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 284 (Anm. 26 zu Kapitel VII, 164).
366 Ebd. 168–169.
367 Ebd. 176.
368 Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 3, 577. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele
(1981; 2005), 176. – Dieses Nietzsche-Zitat aus der »Fröhlichen Wissenschaft« (Apho-
rismus 344) gehört zu den Leitmotiven, die in Spaemanns Werken der folgenden
Jahrzehnte häufig herangezogen werden.
369 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 173.
370
Ebd. 176.
272
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken 371
Die ersten Auflagen von »Die Frage Wozu?« schlossen zwei Kapitel
ab, 372 die als »Nachruf« auf die Teleologie angekündigt werden, deren
»Tenor« Spaemann und Löw mit folgenden Worten umreißen:
daß, wenn es wirklich die Teleologie war, die hier zur Strecke gebracht
wird, dann mit ihr alle Trauergäste und selbsternannten Erben mitver-
storben sind. Da aber die Obduktion der zu Grabe getragenen ergibt,
daß es nicht »die Teleologie« war, sondern eine schwache Karikatur
von ihr, wird sie selbst an der Spitze der Tafel ihres Leichenschmauses
Platz nehmen und, wie es immer ihre Art war, ihren Verfolgern wie
Anhängern ein reiches Mahl bieten. 373
Die Trauerfeier, so muss man diese ironische Einlassung wohl ver-
stehen, galt nicht der Teleologie selbst, sondern allenfalls den proble-
matischen Umformungen, von denen oben die Rede war. 374 Hinter
den beiden dort skizzierten Umformungen steht als eigentliches Mo-
tiv der mit der Teleologie prinzipiell nicht vereinbare Anspruch, Vor-
gänge erklären zu wollen. Gerade durch die Anmaßung dieses An-
spruchs liefert die Teleologie sich aber der Kritik aus: »Berechtigt ist
überhaupt alle Kritik an der Teleologie, wenn diese etwas im natur-
wissenschaftlichen Sinne erklären will. Das geht schon aus der
Definition des Erklärens hervor, denn teleologisches Denken ist we-
sentlich nachträgliche Interpretation« 375. Die übliche Kritik an einer
mit dem Anspruch erklären zu können auftretenden Teleologie zielt
darauf ab, dass sie das »Modell[…] menschlichen Handelns nach Vor-
sätzen« 376 unzulässigerweise auf Vorgänge in der Natur übertrage.
Dahinter steht die Vorstellung, dass zur Teleologie wesentlich Be-
371 Vgl.: »Was aber spricht positiv für die Annahme teleologischer Verfasstheit? Die
Konzeption Spaemanns hat nicht die schlichte Gestalt einer Behauptung, die durch
eine mehr oder weniger lange Reihe von Argumenten gestützt wird. Es handelt sich
um ein besonders reichhaltiges Arsenal von Gründen und Gesichtspunkten, die ihrer-
seits von ganz unterschiedlicher Art und Reichweite sind.« – Schönberger, Das Sein
des Sinnes, 37.
372 Ab der dritten Auflage von 1991 wurde der Text erweitert um ein weiteres Kapitel
374 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleo-
logisierung, 242–248.
375 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 217.
376
Ebd. 218.
273
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
380 Spaemann und Löw verweisen in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: Duns
382
Ebd. 226.
274
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
275
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
folgt »nicht vom erreichten, sondern vom ›erstrebten‹ Ziel her«, das
»in der Bewegung bereits präsent« 392 ist. Es kann immer noch etwas
dazwischenkommen, weswegen Teleologie »unbrauchbar für Prog-
nosen« 393 und »in gewissem Sinne nachträglich« 394 ist. Epistemo-
logisch bleibt der Status teleologischer Erklärung immer prekär, wes-
wegen eine theoretische Entscheidung über die Zulässigkeit ihres
Anspruchs wenig wahrscheinlich ist: »Nun ist das Teleologieproblem
so alt wie die europäische Philosophie. Gigantomachien dieser Art
legen die Vermutung nahe, daß eine Beendigung des Disputs auf der
theoretischen Ebene, auf der er geführt wurde, nicht zu erwarten
ist.« 395 Im folgenden Schritt geht es daher um die Frage nach den
Interessen, die hinter dem teleologischen Denken und dem Anti-
teleologismus stehen und damit um die Frage nach der praktischen
Bedeutung der Teleologie.
Im Bereich der praktischen Philosophie stellt sich die Frage nach
der Teleologie als Frage nach der Beweislast. »Die fundamentale Be-
weislastregel besagt, daß derjenige begründen muß, der Selbstver-
ständliches in Frage stellt.« 396 Da es in der Neuzeit zum Normalfall
geworden ist, dass Vertreter des teleologischen Denkens sich recht-
fertigen und begründen müssen, entsteht der Anschein, dass diese
Selbstverständliches in Frage stellen. Diesem Eindruck widersprechen
Spaemann und Löw, da das bedeuten würde, »daß die normalen Le-
bensvollzüge sich als solche erst rechtfertigen müssen vor der ihrer
Natur nach hypothetischen Wissenschaft« 397. Das teleologische Den-
ken orientiert sich an menschlicher Normalität und geht von hier aus
zur Betrachtung der menschlichen Umwelt über, wohingegen die hy-
pothetische Wissenschaft von Abstraktionen ausgeht, aus denen
menschliche Normalität letztlich wieder rekonstruiert werden soll.
Insofern hat teleologisches Verstehen vor kausalem Erklären zumin-
dest einen theoretischen Vorzug: in ihm kommt das Fragen zu einem
Ende, ohne des Rückgriffs auf andere Kategorien zu bedürfen, wäh-
rend die kausale Analyse stets in einen abgeschlossenen teleologischen
Kontext eingebettet ist, der vorgegeben ist entweder durch den Gegen-
stand der Analyse selbst oder aber durch das Ziel des Forschers, der
276
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
etwas Bestimmtes wissen oder Geld verdienen will. Gerade dieses Zu-
endekommen kann allerdings auch als Argument gegen teleologische
Betrachtungsweise gewendet werden: teleologisches Verstehen scheint
nicht über sich hinauszuweisen und animiert daher nicht die For-
schung. Teleologisch verstehen heißt ja, sich in der Welt schon aus-
kennen. 398
Dass somit die Beweislast eigentlich auf der Seite der Wissenschaft
liegen müsste, dieses Verhältnis aber kontrafaktisch umgedreht ist,
lenkt die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Interessen, die
hinter der kausal erklärenden Wissenschaft und dem teleologischen
Denken stehen.
Das eine Interesse, das sich in der »Reduktion unserer Erkennt-
nis der Natur auf deren kausale Erklärung« zeigt, besteht in dem
»Willen zur Naturbeherrschung« 399. Da aufgrund seiner mangelnden
Zuverlässigkeit das teleologische Denken im Sinne des Interesses an
Naturbeherrschung nicht instrumentalisierbar ist, ist das in ihm sich
ausdrückende Interesse von ganz anderer Art, es geht ihm um das
Verstehen der Welt und des eigenen Platzes in ihr, um »oikeiosis, das
Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der Welt« 400. Im Sinne der
von Spaemann und Löw mehrfach zitierten aristotelischen Unter-
scheidung von ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ ist das Herrschaftsinteresse
des Menschen ein von ihm gesetzter ›finis quo‹, der Gefahr läuft sich
zu verselbständigen, während es dem Interesse am Verstehen darum
geht, dass beide – ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ – in einem harmo-
nischen Verhältnis bleiben. In der gegen die fundamentale Beweis-
lastregel umgekehrten Konstellation von naturwissenschaftlichem
und teleologischem Denken zeigt sich somit ein signifikantes Un-
gleichgewicht der beiden genannten Interessen in der Neuzeit. 401
Allerdings verleihen Spaemann und Löw ihrer Überzeugung Aus-
druck, dass inzwischen die Zeit für eine Wende des Denkens heran-
gereift ist. Die Argumente, die sie hierfür liefern, lassen sich in zwei
Gruppen einteilen, deren erste auf den Menschen als Individuum,
deren zweite auf ihn als Gattungswesen zielt.
727–744.
277
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
278
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken
406
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 238.
407 Ebd. 239.
408
Ebd.
279
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Gut zehn Jahre nach der ersten Auflage von »Natürliche Ziele« ver-
öffentlichte Rainer Isak seine an der Theologischen Fakultät Freiburg
angenommene Dissertation unter dem Titel »Evolution ohne Ziel?
Ein interdisziplinärer Forschungsbeitrag«. Die hier im Mittelpunkt
stehende Auseinandersetzung Spaemanns und Löws mit dem teleo-
logischen Denken ist der wesentliche Referenztext der umfangrei-
chen Studie Isaks. In der Einführung wurde angekündigt, 409 dass im
Rahmen des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit Texte der For-
schungsliteratur einbezogen werden, wenn sie im Hinblick auf die
sukzessive Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk
Spaemanns einen Beitrag leisten. Obwohl Isaks Intention in seiner
Auseinandersetzung mit der Studie Spaemanns und Löws überwie-
gend kritischer Natur ist, leistet sie doch, wie im Folgenden gezeigt
werden soll, einen indirekten Beitrag zu dem genannten Ziel. Vorab
sei ein knapper Ausblick auf die geplanten Schritte gegeben: Zunächst
soll der prinzipielle Einwand Isaks gegenüber Spaemann und Löw
referiert und problematisiert werden. Danach wird die Zielsetzung
von Isaks Studie beleuchtet, vor deren Hintergrund seine kritische
Wendung gegen Spaemann und Löw verständlicher wird. In einem
weiteren Schritt wird aus der hier vorgenommenen Deutung von
»Natürliche Ziele« eine Gegenkritik an Isaks Position entwickelt.
Schließlich wird dargelegt, inwiefern ein prinzipielles Missverständ-
nis Isaks in seiner Deutung Spaemanns und Löws einen indirekten
Beitrag zur hier verfolgten Zielsetzung leistet.
Isak wirft Spaemann und Löw in der Entfaltung der antireduk-
tionistischen Programmatik von »Natürliche Ziele« einen »aggres-
siv-verletzenden« 410 Ton vor und bezeichnet sie als »Scharfmacher
[…]« im »Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie« 411.
Das argumentative Zentrum seiner polemischen Wendung gegen
Spaemann und Löw besteht in der Bestreitung des teleologischen
Phänomens selbst, also eines nicht reduzierbaren Ausseins-auf, das
nicht nur in der Selbsterfahrung gegeben ist, sondern auch in an-
deren Lebewesen wahrgenommen werden kann. Auf die »Frage, ob
409
Vgl. Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz im Denken der Begegnung, 36.
410 Isak, Evolution ohne Ziel?, 20, Fn. 28.
411
Ebd. 28, Fn. 74.
280
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks
sung des Natürlichen ist somit für Spaemann keine akademische Frage, sondern be-
trifft eine Grundentscheidung über den Zugang zur Wirklichkeit und den Fortbestand
des Humanum.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 259.
281
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
422
Ebd. 218.
282
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks
427 Ebd. 252. – Vgl.: »Wissenschaftlich formuliert ist das Monon das Resultat der
429 Isak verweist hier auf: H. v. Ditfurth, Evolutionäres Weltbild und theologische
Verkündigung. In: Riedl, Rupert J.; Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschen-
bild. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 244–263, hier: 256.
430 Ebd. 355.
431
Vgl. ebd. 357.
283
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
bezeichnet. 432 Es geht Isak damit um eine Art ›Bündnis‹ zwischen der
reduktionistischen Naturwissenschaft und der theologischen Welt-
sicht. Letztere verzichtet darauf, basale Dogmen der Naturwissen-
schaft wie das Evolutionsprogramm in Frage zu stellen, als Gegenleis-
tung erbittet sie sich von der Naturwissenschaft, dass sie im Bereich
ihrer blinden Flecke – Freiheit, Innerlichkeit, Subjektivität – der
Theologie das Feld überlässt. Gewissermaßen durch die Hintertür re-
habilitiert Isak somit wieder das teleologische Denken, das er zu-
nächst bekämpft hat. Wohl nur aus diesem Zusammenhang heraus
ist erklärbar, wie sich Isaks polemische Haltung gegenüber Spaemann
und Löw mit der kontinuierlichen Bezugnahme auf ihre Argumenta-
tionen vereinbaren lässt.
Versuchte man aus der Gedankenführung Spaemanns und Löws
in »Natürliche Ziele« eine mögliche Erwiderung auf diesen Vorschlag
einer Synthese von Evolution und Schöpfung zu entwickeln, so dürf-
ten zwei Aspekte unverzichtbar sein. Der erste ergibt sich aus Isaks
prinzipiellem Einwand bzw. aus der oben hervorgehobenen zentralen
Bedeutung des teleologischen Phänomens für Spaemann und Löw.
Isak stellt die »Frage, ab welcher Entwicklungshöhe Subjektivität auf-
tritt: Ab wann ›sich mit gutem Grund ein Strich ziehen‹ läßt ›mit
einem ‘Null’ an Innerlichkeit auf der uns abgekehrten Seite und
dem beginnenden ‘Eins’ auf der uns zugekehrten‹ 433« 434. Isak zieht
diesen Strich, so muss man schließen, jenseits normal entwickelter
erwachsener Exemplare der Spezies homo sapiens. Wenn dagegen
mit Spaemann und Löw bewusstes menschliches Leben als Steige-
rung einer naturteleologischen Anlage verstanden wird, die ebenso
in anderen Lebewesen, auch solchen ohne bewussten Lebensvollzug,
anerkannt wird, so wird dieser Strich, falls er überhaupt gezogen wer-
den kann, nur das ausgrenzen können, was keinerlei Lebensregungen
erkennen lässt. Der zweite Aspekt ergibt sich aus dem haltlosen
Schwanken der Argumentationen Isaks zwischen einem monisti-
schen und einem dualistischen Standpunkt. Einerseits spricht Isak
von einem »Monismus von Materie und Leben« 435, gegen den die
Anerkennung von Subjektivität keinen Einwand darstelle: »Denn
432 Vgl. Isak, Evolution ohne Ziel?, 374. – Isak bezieht sich hier auf das Schlusskapitel
»Epilog – jenseits von Wissenschaft« in: Bresch, Zwischenstufe Leben, 295–299.
433 Isak verweist hier auf: H. Jonas, Organismus und Freiheit: Ansätze zu einer phi-
435
Ebd. 215.
284
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks
341.
439 Isak, Evolution ohne Ziel?, 53.
440
Ebd.
285
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
das in der Neuzeit philosophisch heimatlos geworden ist. 441 Das Ne-
beneinander des in der Selbsterfahrung gegebenen Phänomens und
dieser historischen Faktizität liefert erst die Motivation zum philoso-
phiegeschichtlichen Projekt der Untersuchung der Formen des teleo-
logischen Denkens. Wie hier gesehen wurde, ist die aristotelische Fas-
sung eine gültige, uns aber unzugängliche; Thomas’ Versuch einer
neuzeitlichen Transformation aber ebnete durch ihre theologischen
Implikationen gerade den Weg zur Entteleologisierung. Eine aktuali-
sierte neuzeitliche Teleologiekonzeption, die zwischen der aristote-
lischen und der thomasischen Konzeption erfolgreich vermitteln wür-
de, gibt es somit noch nicht. Die Studie von Spaemann und Löw gibt
also keine Antwort, sondern wirft eine Frage auf und leistet ihr Mög-
liches zu deren Konkretisierung. Die im Rahmen des zweiten Teils
dieser Arbeit verfolgte These besteht darin, dass die gesuchte Aktua-
lisierung des teleologischen Denkens als das Projekt der Philosophie
Spaemanns überhaupt betrachtet werden kann und dass Spaemann
eine Antwort auf diese Frage erst in seinen späteren Hauptwerken
»Glück und Wohlwollen« und vor allem »Personen« entwickelt hat.
Erst von deren Reflexionsniveau aus kann von einem klärenden Bei-
trag zur genaueren Charakterisierung dieses Denkens gesprochen
werden. Isak dagegen trägt schon an die Eruierung der Rahmenbedin-
gungen einer möglichen Aktualisierung in »Natürliche Ziele« einen
Anspruch heran, der in ihr nicht erfüllt werden konnte, verhilft damit
aber im Rahmen dieser Untersuchung dazu, nun abschließend die
Aufmerksamkeit auf die wesentlichen offenen Fragen richten zu kön-
nen, die für die weitere Betrachtung von Spaemanns Werk entschei-
dend sein werden.
441 Vgl. »Eine solche Erneuerung der Ontologie als Einzelteleologie ist keine Wieder-
belebung einer bestimmten Tradition, sondern ein notwendiger Versuch, die Errun-
genschaften der über sich noch nicht genügend aufgeklärten Aufklärung zu retten,
deren ›Unaufgeklärtsein‹ an den Krisen des Personbegriffs bzw. der Trennung von
Person und Natur besonders deutlich wird.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegen-
wart, 549.
286
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.
5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
287
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Frage, ob der Begriff des Zweckes bzw. Zieles abgegrenzt werden kann
gegenüber intentionalen Begriffen wie Absicht oder Motiv, hat sich
als die entscheidende Frage in der Kontroverse um die Berechtigung
des teleologischen Denkens erwiesen. »Das stärkste antiteleologische
Argument beruht auf der Verwechslung von Vorsatz und Zweck« 444,
insofern die Behauptung von Naturzwecken gleichgesetzt wird mit
der anthropomorphistischen Übertragung menschlicher Handlungs-
zwecke in den Bereich der Natur. Ein zentrales Argument Spaemanns
und Löws für die Naturteleologie ist die ursprünglich aristotelische
These des unbewussten Wirkens der Naturzwecke, das zuerst im
eigenen Lebensvollzug erfahrbar ist:
Die menschliche Zwecksetzung als einziges Beispiel für zielorientierte
Prozesse zuzulassen, ist zwar moderner wissenschaftlicher common
sense; es ist dennoch falsch. Wir können Zwecke überhaupt nur setzen
unter der Voraussetzung, daß wir vor der Zwecksetzung schon etwas
wollen, und zwar etwas, was wir nicht setzen. Ich kann gar nicht wol-
len, wenn ich mich nicht immer schon wollend vorfinde. Und dieses
primäre Wollen, der primäre Antrieb, bestimmte Zwecke zu setzen, ist
selber nicht von der Art des Setzens, sondern von der Erfahrung eines
dringenden Sollens. 445
Die Unterscheidung eines primären Wollens von bewussten Zweck-
setzungen, die an die aristotelische Differenzierung von ›finis cuius‹
und ›finis quo‹ anknüpft 446, zeugt von einer Distanz des Menschen zu
seiner Natur, die anderen Lebewesen nicht gegeben ist. Die Erfahrung
des »organischen Sollens« 447 teilt der Mensch mit anderen Lebe-
wesen, aber beim Sprechen über diese Gemeinsamkeit ergibt sich
stets eine terminologische Schwierigkeit, insofern hier Begriffe an
etwas sich der begrifflichen Erfassung Entziehendes herangetragen
werden:
Das Sollen zeigt das Ziel nur an, auf welches – in Zwecke transformiert
– hin Dinge als Mittel zu seiner Realisierung ergriffen werden sollen.
Aber in diesem Anzeigen ist das Ziel selbst präsent, es ist nur noch
nicht als Zweck ausgeführt. Zweck und Mittel zeigen das begriffliche
Auseinandertreten einer Einheit an, welche das Lebewesen nicht nur
288
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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
289
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Gehalt hat, der sich meinem Horizont entzieht, dass in ihm etwas
Unbedingtes anerkannt werden muss:
Der ontologische Status der Teleologie, die teleologische Deutung des
teleonomischen Phänomens entscheidet sich an der Frage nach dem
Unbedingten. Denn jede Zielgerichtetheit, die nur als immanentes Or-
ganisationsprinzip eines komplexen Materiezustandes verstanden
wird, so daß das Wort »gut« nur eine Relation bestimmter partieller
Zustände zu diesem Organisationsprinzip meint, ist dem kausalen Re-
duktionismus ausgeliefert. 450
Teleologie im eigentlichen Sinne ist immer eine »die bloße Selbst-
erhaltung transzendierende« 451, woraus sich die entscheidende Frage
nach dem Worauf dieser Selbsttranszendenz ergibt. Für eine nicht
invertierte Teleologie ist das Ziel nicht das nackte Leben, die Selbst-
erhaltung, sondern das gute Leben, insofern es jeweils »Ereignisse
und Zustände gibt, die besser sind als andere Ereignisse und Zu-
stände« 452. Die Unterordnung des Guten unter das Bessere führt aber
letztlich zur problematischen Frage nach dem ›finis cuius‹ der Selbst-
erhaltung, die Aristoteles mit dem Gedanken der μέθεξις, der Teil-
habe am Göttlichen, beantwortet hat 453:
Die Kategorie der Darstellung, der repraesentatio, ist die Weise, wie
die platonisch-aristotelische Tradition die »absolute Teleologie« zur
Sprache brachte. Sagen, daß etwas »zur Ehre Gottes« existiert, heißt
ja nicht, es als Mittel einem äußeren Zweck unterordnen, denn nie-
mand war ja der Meinung, es handle sich hier um ein zweckrationales
Maximierungsprogramm. Es heißt vielmehr, daß es in einem absolu-
teren Sinne Selbstzweck ist, als wenn es nur »um seiner selbst willen«
existierte, also nur »für sich« oder »für anderes«, nicht aber »an sich
selbst« wertvoll, ein »Gut« wäre. 454
Teleologisches Denken kann also nicht ›bei sich‹ bleiben, sondern ist
gezwungen eine Sprache zu sprechen, in der »Worte wie ›göttlich‹
und ›heilig‹ vorkommen« 455. Ohne diesen konstitutiven Bezug auf
das Unbedingte degeneriert es:
455
Ebd. 243.
290
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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung
Wir haben gesehen, was folgt, wenn Teleologie zur obersten Kategorie
wird, wenn sie nicht in so etwas wie Sinn übergeht. Sie invertiert dann
zur bloßen Selbsterhaltungsteleologie, die entweder in einer schopen-
hauerschen Metaphysik des Absurden als das zu Überwindende ver-
standen wird, oder aber sie löst sich in teleologischen Schein, in Teleo-
nomie auf. 456
Selbstsein als teleologisches Verfasstsein ist Symbolisierung des Un-
bedingten. 457 Jedes Sprechen darüber führt »an die Grenze des sprach-
lich Vermittelbaren« 458. Das zweite zentrale Thema, das sich somit
neben dem der Anerkennung aus dem Programm der Gegenkritik
am Antiteleologismus ergibt, ist die Frage der philosophischen Fas-
sung des Unbedingten. Spaemann liegt eine unkritische Vermischung
von Theologie und Philosophie, wie sie von Isak betrieben wird, fern.
Welche genuin philosophischen Wege zu einer Annäherung an das
Unbedingte führen können, soll im abschließenden Teilkapitel be-
trachtet werden.
456
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247.
457 Vgl. ebd. 246.
458
Ebd. 245.
291
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.
5.3 Zugänge zum Absoluten
292
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5.3 Zugänge zum Absoluten
religiösen Grundhaltung korreliert, wird daran deutlich, dass er an anderer Stelle die
besagte ideologische Unzuverlässigkeit als Kennzeichen von Christen beschreibt.
Siehe den Abschnitt »Der Ideologieverdacht der Christen« in: Spaemann, Ethische
Aspekte der Energiepolitik (1980), 52–53.
293
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
6
Vgl.: »It would be entirely wrong to read these theological and religious writings as
mere by-products of his philosophy or as independent of his philosophical thought.« –
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 238.
294
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.
5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
7
Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 95.
8 Ebd. 96.
9
Ebd. 100.
295
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
296
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
19. 10. 1967 in Mainz. Zuerst erschienen in Concilium 1969. – Spaemann, Einsprüche
(1977), 135.
20
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 43.
297
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
sich als Grund, nicht im Sinne einer Kausalität, sondern als Trans-
parenz des Sagbaren auf einen Sinn hin, der schlechthin jenseits die-
ses Sagbaren liegt, außerhalb der Welt.« 21 Die mystische Tradition
des »Entwerdens« (Eckhart, Tauler), die den Weg zu Gott in einem
Verschwinden von Welt und Ich findet, bringt Spaemann in einen
Zusammenhang mit der Aufklärung: »Es ist nicht von ungefähr, daß
die Epoche der Frühaufklärung, das 17. Jahrhundert, zugleich die
Epoche ist, die Bremond 22 als ›mystische Invasion‹ hat bezeichnen
können.« 23 Der Aufklärung als Rationalisierung der Beziehungen
des Menschen zur Welt und zu sich selbst und als Ausdehnung der
Herrschaftsansprüche instrumenteller Vernunft korreliert eine Reli-
giosität, die ohne jedes Interesse an dieser aufgeklärten Welt auf ihr
ganz Anderes zielt:
Die religiöse Subjektivität sagt ihrer Besonderheit ab. Damit freilich
zugleich dem tiefsten Impuls der Aufklärung, dem Selbstbehaup-
tungswillen des neuzeitlichen Subjekts. Mystik betreibt das Geschäft
der Aufklärung nicht aktiv, sondern durch »Indifferenz«. Sie ist Ver-
wirklichung und Überwindung der Aufklärung in einem, Überwin-
dung, indem sie dem Willen zur Macht absagt, der die aufklärerische
Naturbeherrschung zur Ideologie werden läßt. Das Ich, auf das der
Mystiker sich aus dem Bereich der Objektivität zurückzieht, wird
selbst zum Gleichgültigen bis hin zur Resignatio in infernum. 24
Die Gegenüberstellung von Mystik und Aufklärung ist somit ein
weiterer Versuch, den neuzeitlichen Vorgang der Entzweiung zu
durchdenken. In diesem Zusammenhang stellt Spaemann einen Be-
zug zur modernen Philosophie her, der aufschlussreich ist im Hin-
blick auf die oben 25 aufgeworfene Frage nach dem Bezug der Philo-
sophie zur Wahrheit. Die Transzendentalphilosophie, die ihrerseits
den Anspruch hat, die Entzweiung denken zu können, postuliert ein
weltloses Ich, das in einer gewissen Analogie zum mystischen Ent-
werden steht.
24 Ebd. 45. – In diesem Zusammenhang bezieht sich Spaemann auch auf seine Studien
über Fénelon, dessen Überwindung der Reflexion durch die reine Liebe das Verhältnis
von Aufklärung und Mystik zum Ausdruck brachte. – Vgl. ebd. 45–46.
25
Vgl. im vorliegenden Abschnitt, 295.
298
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.
5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
26
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 46–47.
27 Ebd. 47.
28
Ebd. 50.
299
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
29
Vgl. Quellenhinweise: »Vortrag zur Eröffnung der Salzburger Hochschulwochen
im August 1970. Zuerst erschienen in: Internationale Katholische Zeitschrift I
(1972).« – Spaemann, Einsprüche, 135.
30 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 14.
31 Ebd. 16.
32 Ebd.
33 Ebd. 16–17.
34 Ebd. 17.
35 Ebd.
36
In diesem Zusammenhang verweist Spaemann auf de Bonald, »der 1793 bereits das
Thema einer politischen Theologie anschlug und die Wahrheit der christlichen Lehre
aus ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft beweisen wollte«. – Ebd. 18.
300
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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
37 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972),19.
38 Ebd. 20.
39 Ebd. 21.
40
Ebd. 25.
41 Ebd. 26–27.
42
Ebd. 27–28.
301
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
von Sein und Sinn, sondern der Frage nach den positiven Erschei-
nungsformen von Sinn und der Weise ihrer Erschließung.
Die primäre Erschließung von Sinn geschieht deshalb nicht durch Ar-
gumentation, sondern durch fundamentalere Weisen der Kommuni-
kation. Sie geschieht letzten Endes durch Liebe. Darum ist der Begriff
des Gottesbeweises so irreführend. Erkenntnis Gottes ist eine Sache
höchster selbstloser Aufmerksamkeit. Ihr Gegenteil aber, Müdigkeit
und Zerstreutheit, werden nicht durch Beweise beseitigt. Die Therapie
ist von anderer Art. 43
Erschließung von Sinn geht nicht aus einer Betrachtung der Welt der
Objekte durch ein ihr gegenüberstehendes abstraktes Subjekt der Er-
kenntnis hervor, sondern setzt eine Form der Intentionalität voraus,
die dieses abstrakte Subjekt-Objekt-Verhältnis aufhebt. Sinn, so
betont Spaemann, bedeutet symbolische Repräsentation: »Nur in
symbolischer Repräsentation wird die krude Faktizität des begrifflos
Einzelnen transzendiert« 44. Der aus der platonisch-aristotelischen
Tradition stammende Begriff der repraesentatio weist darauf hin, dass
Erkenntnis im Sinne von Verstehen nur möglich ist durch Anerken-
nung von Selbstsein, das sich zeigt und in diesem Sich-Zeigen über
sich hinausweist auf das Absolute, an dem es teilhat. Insofern hier
aber der intentionale Akt solchen Erkennens thematisiert wird, geht
dieser Gedanke wesentlich über die platonisch-aristotelische Traditi-
on hinaus:
Die These von der ontologischen Ursprünglichkeit von Sinn oder, um
mit den Scholastikern zu sprechen, von der Intelligibilität des Seins,
die im Gedanken Gottes gedacht wird, impliziert deshalb die ontologi-
sche Ursprünglichkeit der Sphäre symbolisch vermittelter Interaktion.
Diese ganz und gar nicht selbstverständliche These wird in der christ-
lichen Trinitätslehre ausgesprochen. Denn in der Trinitätslehre ist von
einer symbolischen, nämlich durch ein Wort sich vollziehenden
Selbstvermittlung Gottes die Rede. 45
Der wesentliche Unterschied zum antiken Teilhabe-Gedanke ist also
die Reflexion der Interaktion, innerhalb deren sich eine wechselseiti-
ge Sinnerschließung vollzieht. Durch die in diesem Zusammenhang
ins Gespräch gebrachte Trinitätslehre taucht hier der Begriff der Per-
43
Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 29.
44 Ebd.
45
Ebd.
302
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.
5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive
son auf, die nur im Plural gedacht werden kann, ohne dass dieser
Begriff an dieser Stelle von Spaemann näher reflektiert wird. 46 Inwie-
fern kann dies aber noch als Gegenstand philosophischen Denkens
betrachtet werden?
Reine Philosophie bringt es nicht etwa zur Erkenntnis eines persönli-
chen Gottes, sondern zugleich zu mehr und weniger. Sie bringt es zu
einer gewissen intellektuellen, von Philosophie selbst nicht mehr de-
finitiv entscheidbaren Schwebe zwischen Pantheismus auf der einen
Seite und Trinitätslehre auf der anderen Seite. 47
Reine Philosophie bringt es zu mehr als zur Erkenntnis eines persön-
lichen Gottes, da die nur theoretisch bestreitbare Annahme eines
»seinsmächtigen Sinn[es]« 48 als »symbolische Selbstvermittlung, al-
so trinitarisch« 49 gedacht werden muss. Sie bringt es zu weniger als
zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes, da die pantheistische Vor-
stellung der Welt als »Selbstvermittlung Gottes« faktisch mit der
atheistischen Vorstellung zusammenfällt. Die Philosophie bringt es
nur bis zur Schwebe zwischen beidem, weil sie an eine Grenze des
Denkens, »vor die Schwelle der Entscheidung« 50 führt.
Auf den Gesamtzusammenhang von Spaemanns Werk betrach-
tet führen die hier dargelegten Gedanken aus Aufsätzen und Reden
der 60er und frühen 70er Jahre weit über diese Phase der Entwicklung
seines philosophischen Denkens hinaus. Im eigentlichen Sinne phi-
losophisch eingeholt werden sie erst in seinen Hauptwerken »Glück
und Wohlwollen« (1989) und »Personen« (1996). Im Kontext seiner
Schriften des Zeitraums zwischen 1964 und 1981 stehen wesentliche
hier angeschnittene Positionen isoliert da. Dennoch dokumentieren
sie, wie gezeigt werden sollte, Spaemanns Orientierung am Absolu-
ten und Richtungen des Denkens, durch die diese Orientierung im
Weiteren philosophisch fruchtbar gemacht werden wird.
46 Die hier angeschnittenen Gedanken weisen voraus auf Spaemanns drittes Haupt-
werk »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹«.
S. Kapitel 8, Ontologie der Person, 509–650.
47 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 30.
48
Ebd.
49 Ebd.
50
Ebd. 31.
303
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Spaemanns Ansatz in der Ethik soll vor allen Dingen anhand der im
Januar 1964 gehaltenen Stuttgarter Antrittsvorlesung mit dem Titel
»Die zwei Grundbegriffe der Moral« 51 dargelegt werden. Spaemann
geht in ihr aus von der Unterscheidung des italienischen Soziologen
Vilfredo Pareto zwischen Residuen und Derivationen: »Unter ›Resi-
duen‹ verstand Pareto nichtlogische Handlungsschemata, unter ›De-
rivationen‹ die nachträgliche theoretische Begründung und Rechtfer-
tigung solcher Handlungsschemata.« 52 Die allmähliche Entstehung
von Derivationen bedeutet den
Übergang von einer Ethik der »Traditionslenkung« zu einer der »In-
nenlenkung«. Dieser Übergang ist gleichbedeutend mit dem Versuch,
die ethischen Verhaltensregeln auf so etwas wie einen letzten Grund
oder Zweck hin zu rationalisieren, auf ein »höchstes Gut«, wie es in
der Sprache der philosophischen Tradition heißt. 53
Angesichts dieses Übergangs stellen sich zwei Fragen: 1. Sind die De-
rivationen den Residuen adäquat, so dass diese »Rationalisierung
oder Formalisierung der Ethik« 54 als gelungen bezeichnet werden
kann? 2. In welchem Verhältnis stehen die Derivationen zu den Resi-
duen: Werden sie zur funktionalen Deduktion eingeführt oder gibt es
eine »andere Art von Begründungszusammenhang« 55? In die Sprache
der platonischen Philosophie übertragen geht es bei diesen Fragen um
das Verhältnis der Begriffe des Schönen und des Guten.
»Schön« nennt Plato Handlungsweisen, insofern sie sich allgemeiner
Anerkennung und Billigung erfreuen, also moralisch im landläufigen
Sinne sind. »Gut« dagegen nennt er Handlungen, insofern mit ihnen
der Handelnde jenen Zweck erreicht, um den es ihm im Handeln ei-
gentlich geht, gut ist also das Wünschbare, Nützliche, Erstrebens-
werte, Förderliche. 56
53 Ebd. 67.
54
Ebd.
55 Ebd.
56
Ebd.
304
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.
5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
Das Schöne also steht als Oberbegriff für die Residuen, das Gute als
Oberbegriff für die rationalen Derivationen. »Die Frage, die in der
Auseinandersetzung mit den Sophisten immer wieder erörtert wird,
ist die, ob das Schöne auch gut sei«. Damit wird die erste Frage, ob die
Derivationen den Residuen adäquat sind, thematisiert. Spaemann
legt die konträren Antworten der Sophisten und Platons dar. Die
Position der Sophisten – Kallikles und Thrasymachos – besteht darin,
dass das Schöne »nicht gut und deshalb auch nur aufgrund einer
tückischen Konvention, aber nicht in Wirklichkeit, nicht von Natur
schön« 57 sei. Wünschenswert für den Einzelnen sei es dagegen, die
»eigenen Begierden so groß als möglich werden« zu lassen, »ohne
sie im Zaum zu halten« 58. Die Antwort der Sophisten auf die gestellte
Frage ist demnach eine »Kritik des Schönen, also der sittlichen Kon-
vention, die mit den natürlichen Bedürfnissen und Strebungen des
Menschen nicht im Einklang sei« 59. Eine Identität des Schönen und
Guten ist demnach zwar möglich, aber nur wenn das Schöne nach
Konvention durch das Schöne von Natur ersetzt wird, wobei der ein-
zige Maßstab das starke Individuum ist. Platon stellt dieser Position
eine »kritische[…] Revision der Begriffe des Nutzens, der Lust und
des Guten« 60 entgegen, indem er das Gute so bestimmt, »daß die
Schönheit eines menschlichen Verhaltens selbst ein integrierender
Bestandteil jenes eigentlichen und letzten Handlungszweckes wird« 61.
Platon bejaht also die unbedingte Identität des Schönen und des
Guten dadurch, »daß das Interesse, das dem Handelnden unterstellt
wird, bereits selbst als durch jene Inhalte bestimmt gedacht wird, die
aus ihm abgeleitet werden sollen« 62. Es entsteht somit eine Zirkel-
struktur: Die Inhalte, also das nach Konvention Schöne bzw. die Re-
siduen, bestimmen das Interesse, also das Gute bzw. die rationalen
Derivationen, aus dem jene Inhalte wiederum abgeleitet werden. Die-
se Argumentationsstruktur liefert zugleich die Antwort auf die zwei-
te Frage, insofern klar wird, dass sich kein »deduktiver Zusammen-
hang« 63 zwischen dem Interesse und den Inhalten herstellen lässt:
305
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
Dies ist die Entdeckung der platonischen und aristotelischen Ethik ge-
wesen: Alle inhaltlich eindeutigen, alle materialen Interpretationen
des höchsten Gutes, das heißt des obersten Handlungszweckes bezie-
hungsweise der höchsten Wünschbarkeit, führen zum Verschwinden
des Schönen, das heißt des Sittlichen, wenn nicht die Inhalte des Sitt-
lichen schon von vornherein in diesen obersten Zweck hineininterpre-
tiert worden sind. […] Die moralischen Normen werden nicht aus dem
Begriff des Glücks abgeleitet, sondern der Begriff des Glücks meint
den Inbegriff eines geglückten Lebens, wobei das geglückte Leben un-
ter anderem dadurch bestimmt ist, daß es ein sittliches Leben ist. Und
was dies heißt, wird nicht deduziert, sondern im sittlichen Bewußtsein
der Polis vorgefunden. 64
An die Stelle eines deduktiven Ableitungsverhältnisses der mora-
lischen Normen aus dem Begriff des Glücks tritt also ein hermeneu-
tisches Verständnis von Ethik, die die jeweiligen Inhalte bzw. Normen
auf ihre Einfügbarkeit »ins Ganze eines guten Lebens« 65 zu prüfen
hat, wobei dieses Ganze im sittlichen Bewusstsein der Zeit bereits
vorausgesetzt wird. Ihm entspricht bei Aristoteles auf subjektiver
Seite ein »natürliche[r] Impuls zum Schönen«. Spaemann zitiert aus
der »Großen Ethik« des Aristoteles:
Es ist nicht der Logos, wie die andern meinen, Anfang und Führer der
Tugend, sondern vielmehr nichtrationale Leidenschaft. Denn Voraus-
setzung ist, daß ein gewisser irrationaler Impuls in uns entsteht, was ja
in der Tat der Fall ist, und dann muß, auf dieser Basis, als zweite In-
stanz der Logos die Sache zur Abstimmung und Entscheidung brin-
gen. 66
In diesem Verhältnis der Vernunft zu einem Natürlichen bzw. Irra-
tionalen erkennt Spaemann die »formelle Struktur ethischen Han-
delns« 67: Auf der einen Seite steht die »Unmittelbarkeit der Wert-
schätzung, die sich nicht durch Gründe vermittelt« 68, auf der
anderen Seite die »ausschlaggebende Entscheidung durch die Ver-
nunft, die die Impulse zum Schönen koordiniert und am Ziel des
guten Lebens im Ganzen kritisch mißt« 69. Spaemann verweist an die-
Ebd. 541.
67
Ebd.
68 Ebd. 70–71.
69
Ebd. 71.
306
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
ser Stelle auf die klassische Darstellung dieser Struktur in »den ›Eu-
meniden‹ des Äschylus« 70, in denen es am Ende der Orestie um den
»Ursprung der Polis« und damit indirekt um den »Ursprung des Phi-
losophie« 71 geht. 72 Die Rachegeister der Erinnyen werden zwar von
Athene vor einem Gerichtshof zurückgewiesen, gleichwohl wird
ihnen ein dauerhafter Platz in der Polis garantiert: »Das der Polis
zugeordnete Prinzip der Rationalität erweist […] darin seine huma-
nisierende und friedensstiftende Kraft, daß es sozusagen offen ist
nach unten und rückwärts, das heißt offen für das, was nicht durch
es selbst gesetzt ist.« 73 Das Verhältnis der beiden Seiten, des Natür-
lichen und des Vernünftigen, ist aber kein prästabiliertes, sondern
läuft Gefahr, in eine Richtung aufgelöst zu werden: »Nun wohnt
allerdings dem Prinzip der rationalen Integration eine Tendenz inne,
sich gegen seine eigenen natürlichen und geschichtlichen Vorausset-
zungen zu kehren und sie aufzulösen beziehungsweise sie zu funk-
tionalisieren.« 74 Spaemann spricht daher von einer »grundsätzlichen
Ambivalenz […] des ethischen Prinzips der Rationalität über-
haupt« 75. In Zeiten der einsetzenden Reflexion leistet dieses Prinzip
die Integration konkreter Inhalte, die es selbst nicht generieren kann;
das rationale Prinzip hat jedoch die Tendenz, sich von diesem Unver-
fügbaren zu emanzipieren und »das Dasein total den Bedingungen
seiner Erhaltung zu unterwerfen« 76. Als Gegenbeispiel zur Vermitt-
lung von Natürlichem und Vernünftigem durch Athene führt Spae-
mann den »Friedenspriester Sarastro« 77 an: »Aber die Vernunft, die er
repräsentiert, hat die Kraft eingebüßt, das Andere ihrer selbst in sei-
nem Anderssein zu belassen und zu bestätigen. Sie ist nicht mehr
dialektisch, sondern abstrakt, und das heißt: totalitär.« 78 Es geht hier
also um den Prozess, der mit dem Schlagwort »Dialektik der Aufklä-
de Beispiel Sarastros und der Königin der Nacht (siehe unten) ein im Werk Spaemann
leitmotivisch wiederkehrendes Motiv zur Bezeichnung einer ihre Wurzeln erinnern-
den und präsent haltenden Aufklärung bzw. einer solchen, die diese vergisst und der
Dialektik der Aufklärung anheimfällt.
73 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 71.
74 Ebd. 72.
75 Ebd.
76
Ebd.
77 Ebd. 74.
78
Ebd.
307
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
81
Ebd. 79.
308
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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
82
Am Rande sei hier auch auf den aus dem Jahre 1977 stammenden Vortrag »Phi-
losophie als Lehre vom glücklichen Leben« hingewiesen, in dem Spaemann eine Ein-
seitigkeit der kantischen Pflichtethik hervorhebt und die notwendige Verankerung
der Sollens im Wollen betont: »Der Sinn also der Frage nach dem, was wir eigentlich
letzten Endes wollen, ist offenbar der, in unser Wollen eine Einheit zu bringen, die
vorher nicht darin war. Wir können also auch fragen: Was sollen wir eigentlich wol-
len? In dieser Form ist uns die Frage als moralische geläufig seit Kant. Aber in dieser
Form bringt sie nicht zum Ausdruck, daß Einheit in unser Wollen nur kommen kann,
wenn es zugleich Einheit mit dem ist, was wir schon, ehe wir zu fragen beginnen, sind,
das heißt Einheit mit unserer Natur. Die Frage, was wir sollen, läßt sich, da sie auf
Identität zielt, nur so stellen, daß wir zugleich fragen, was wir im Grunde immer
schon wollen. Kein Sollen würde uns überhaupt erreichen, wenn es nicht Ausdruck
von etwas wäre, was wir schon wollen, oder Ausdruck einer Tendenz, die schon in
unserer Natur läge.« – Spaemann, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben
(1977), 83. – Es geht also um die Erneuerung der Naturteleologie, insofern ein natür-
liches Wollen (finis cuius) vorausgesetzt wird, das uns mit anderen natürlichen Lebe-
wesen verbindet und zu dem unsere bewussten Zwecksetzungen (finis cui) sich in ein
Verhältnis setzen müssen und zu dem sie sich nicht ohne ernste Folgen für die see-
lische Gesundheit in einen Widerspruch setzen können. In diesem Vortrag finden sich
auch Gedanken über den »intentionalen Charakter des Glücks« – ebd. 89 – bzw. die
Wirklichkeit erschließende Kraft von Gefühlen – ebd. 90 – sowie über das »Sein für
andere« – ebd. 94 –, die Vorausdeutungen auf Positionen in »Glück und Wohlwollen«
darstellen.
83
S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen
Ethik, 415–508.
84
Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 73.
309
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
1. Gehorsam gegen die Gesetze und Gewohnheiten des Landes und der
angestammten Religion; Vermeidung von Extremen, Anpassung;
2. Wahl des »probablen«, wo nichts gewiß ist, und Festhalten am ein-
mal eingeschlagenen Weg, sogar, wenn dieser mangels Probabilität
»blind« gewählt werden mußte. Einmal gewählt, sollte er behandelt
werden, als ob seine Richtigkeit feststünde. Descartes bringt hier den
Vergleich mit einem im Walde Verirrten, der auf jeden Fall gut daran
tut, geradeaus weiterzugehen; 3. Unterordnung der eigenen Wünsche
unter das Unvermeidliche, Beschränkung auf das, was in der eigenen
Macht liegt: die eigenen Gedanken. 85
Spaemann legt dar, dass ›provision‹ zu verstehen ist als ›Proviant‹ im
Sinne der Antwort auf die Frage: »Wie ist ein komplett gerechtfertig-
tes Handeln möglich unter den Bedingungen einer nicht kompletten
Wissenschaft?« 86 Da eine »partielle Rechtfertigung« 87 keine ist, geht
es also »um eine absolute Gewißheit, die auf praktischem Feld immer
schon dort angelangt ist, wohin die theoretische Wissenschaft als
nach ihrem Ideal strebt« 88. Was absolute Gewissheit im praktischen
Bereich bedeutet, lässt sich anhand eines Vergleichs mit theoretischer
Gewissheit zeigen:
Der Begriff der theoretischen Gewißheit gewinnt bei Descartes seine
spezifische Bedeutung durch den Gegensatz zur Zweifelsmöglichkeit.
Gewiß ist, was nicht bezweifelt werden kann. Nun kann aber doch die
Richtigkeit einer Handlung sehr wohl bezweifelt werden. Was heißt
also moralische Gewißheit? Auch dies muß vom Gegenbegriff her ver-
standen werden, und zwar steht hier an der Stelle des Zweifels der
Gewissensbiß, die Reue, der Vorwurf. Moralisch gewiß ist, was un-
möglich nachträglich, auch wenn es als falsch eingesehen wird, Ur-
sache für Selbstvorwürfe werden kann. 89
Praktische Gewissheit bezieht sich also einerseits auf die Eignung von
Handlungen, »die Glückseligkeit als das höchste Gut zu befördern« 90,
die jedoch »im besten Fall immer nur wahrscheinlich« 91 sein kann,
andererseits aber darauf, dass »es richtig ist, im Handeln das objektiv
nur Probable für gewiß zu halten, dies aber ist auf eine nicht zu über-
310
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive
bietende Weise wahr und gewiß« 92. Praktische Gewissheit wird also
von Descartes abgelöst von theoretischer bzw. objektiver Gewissheit.
Spaemann weist darauf hin, dass der Begriff der moralischen Gewiss-
heit, der certitudo moralis, »keine Erfindung Descartes’« ist, sondern
»im Rahmen der moraltheologischen Diskussion« 93 des 16. Jahrhun-
derts geläufig war. Die Differenz zwischen moralischer und objektiver
Gewissheit drückte sich aus im »Problem des sogenannten irrenden
Gewissens«,
das nach Lehre der maßgebenden Autoren seine Verbindlichkeit nicht
einfachhin verlieren kann. Und diese Lehre vom irrenden Gewissen ist
das eigentliche missing link zwischen der klassischen naturrechtlichen
Ethik und der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. Denn wenn das
Gewissen auch da bindet, wo es hinsichtlich der objektiven Verpflich-
tungen irrt, so kann ja, wie es scheint, die Quelle der Verbindlichkeit
nicht in jenen objektiven Verpflichtungen liegen. 94
Den entscheidenden Schritt zur neuzeitlichen Subjektivitätsphilo-
sophie tut Descartes, insofern bei ihm »das Problem der objektiven
Richtigkeit des Handelns, d. h. seiner Angemessenheit an ein zu er-
reichendes höchstes Gut, ausdrücklich als zur Zeit unlösbar aus-
geklammert und vertagt« 95 wird. Es geht hier also wesentlich um die
Überwindung der eudämonistischen Ethik zugunsten einer Ethik des
reinen guten Willens, wie sie dann bei Kant entfaltet wird. 96 Die aris-
totelische Eudämonie wird bei Descartes »ihrer Wirklichkeit in der
polis entkleidet«, verwandelt sich zu einem »utopisch-universalen
Prinzip totaler Menschheitswohlfahrt« und verliert so schließlich
»jede konkret-praktische Bedeutung« 97.
Der Grund für Spaemanns Interesse an Descartes’ provisorischer
Moral, der man, wie er hervorhebt, im Allgemeinen »kein besonderes
sachliches Interesse zuzuwenden« 98 pflegt, besteht darin, dass die
»gesamte politische Ethik der westlichen Welt […] im Sinne Des-
92
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 87.
93 Ebd.
94 Ebd. 89–90.
95 Ebd. 90.
96 Bei Kant ist der Übergang vollzogen, weswegen der Gedanke eines irrenden Ge-
wissens für ihn seinen Sinn verliert: »Bei Kant sehen wir denn auch konsequenter-
weise den Begriff des irrenden Gewissens als eine contradictio in adjecto behandelt.« –
Ebd. 90.
97 Ebd.
98
Ebd. 83.
311
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
cartes’ provisorische Moral« 99 ist und die Krisen der moralischen Ge-
wissheit in der Gegenwart auf den Ansatz Descartes’ zurückgeführt
werden können. Theorie und Praxis sind in Descartes’ Idee einer Uni-
versalwissenschaft auf seltsame Weise verschränkt. Während für
Aristoteles θεωρία »Selbstzweck, höchste Form menschlicher Pra-
xis« 100 war, dient sie für Descartes einem praktischen Ziel, nämlich
»den Menschen zum maître et possesseur de la nature zu machen« 101.
Umgekehrt besteht ein solches funktionales Verhältnis aber auch
zwischen Praxis und Theorie:
Die vorsorgliche Moral, die Descartes im »Discours de la méthode«
entwickelt und die auf Suspendierung des eigenen Urteils in mora-
lischen Dingen beruht, ist deshalb ausschließlich gerechtfertigt durch
die zugrundeliegende Absicht, »mich weiter zu instruieren«, das heißt
methodische Wissenschaft zu betreiben. Dies ist der einzige reell mög-
liche Beitrag des einzelnen zum allgemeinen Besten, solange dessen
Bedingungen noch nicht mit absoluter Gewißheit theoretisch und
praktisch verfügbar sind. Wer Wissenschaft betreibt, leistet jenen ein-
zig möglichen Beitrag zu einer künftigen rationalen Universalzivilisa-
tion, der ihn für die gegenwärtige Praxis allen auf die Veränderung des
Ganzen zielenden Engagements enthebt. 102
Dieser Dienst an der Wissenschaft ist die vierte Maxime, durch die die
Gültigkeit der anderen drei begründet wird. 103 Aus heutiger Perspek-
tive ist diese Rechtfertigung der vorsorglichen Moral allein schon
dadurch nicht mehr gegeben, dass die »Idee der Vollendbarkeit der
Universalwissenschaft« 104 ebenso überwunden ist wie Descartes’ Vor-
stellung eines »akkumulativen Fortschreitens von Gewißheit zu
Gewißheit« 105 in der Wissenschaft. Abgesehen von diesem veränder-
ten Bild der Wissenschaft erscheint aus heutiger Perspektive aber
auch Descartes’ Absicht, »Existenzentscheidungen nicht von dem je-
weiligen Stand der Wissenschaft abhängig machen, sondern aus dem
Wissenschaftsprozeß gänzlich ausklammern« 106 zu wollen, aufgrund
der engen Verflechtungen von Wissenschaft und menschlicher Exis-
103 Vgl.: Spaemann, Moral, provisorische, in: HWPh VI, col. 173.
104
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 84.
105 Ebd.
106
Ebd. 92.
312
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.
5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
107
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 93.
108 Ebd. 94.
109 Ebd.
110 Die Argumentation zugunsten des Naturrechts hat somit im Ansatz eine der Ar-
112
S. Ritter, Metaphysik und Politik, 133–179.
313
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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur
konzeption zurückzukehren« 113 und diese auf die Spezifik der Gegen-
wart zu übertragen, die von Ritter als Entzweiung gefasst wurde:
Entzweiung des gesellschaftlichen, auf die abstrakte, egalitäre Bedürf-
nisnatur reduzierten Daseins von der nicht durch diese Gesellschaft
definierbaren geschichtlich-ethischen Substantialität, die durch die
moderne Gesellschaft als private Sphäre »freigesetzt« wird. Indem
Recht und Staat diese Freisetzung gewährleisten, heben sie – das ist
Ritters These – die Entzweiung nicht auf, sondern versöhnen das Ent-
zweite. Naturrecht im aristotelischen Sinne, übersetzt in unsere Le-
benswirklichkeit, wäre also Hermeneutik des bestehenden Rechts auf
seinen Versöhnungscharakter hin. 114
Spaemann bringt diesem Projekt Ritters viel Sympathie entgegen,
beurteilt die Gegenwart jedoch skeptischer als dieser, insofern er eine
»immanente Tendenz zur Totalität« 115 erkennt in einer Gesellschaft,
die »jede ethische Motivation […] in der homogenisierten Form des
›Bedürfnisses‹ – des kulturellen, sittlichen, religiösen usw. – artiku-
liert« 116, und insofern das System der Bedürfnisse des Menschen
»kein ›natürliches‹ System« sei, »aus dem sich, wie es ursprünglich
schien, ein neues Naturrecht entwickeln ließe« 117. Während Ritter
also das Rechtssystem, das die Entfaltung der Subjektivität ermög-
licht, in den Mittelpunkt stellt, geht es Spaemann um eine Tendenz
der gesellschaftlichen Entwicklung, die dieses Rechtssystem aufzu-
lösen droht. Spaemann betont: »Um jedoch von Aristoteles lernen
zu können, muß man sich zuvor schon klar werden über das, was
uns von ihm trennt« 118; die Differenz zwischen Ritter und Spaemann
scheint mir in der Interpretation dieses Trennenden zu bestehen. Rit-
ter sah, was uns sozialgeschichtlich von Aristoteles trennt: die Ent-
zweiung, aber er unterschätzte, was uns ontologisch von ihm trennt,
nämlich die Teleologie, die als »Zerfallsprodukt« eine »Zwei-Welten-
Lehre in ihren verschiedenen Formen« hinterlassen hat: »Reich der
Ursachen und Reich der Zwecke, Sein und Sollen, Tatsachen und
Werte.« 119 Da der aristotelische Naturrechtsgedanke den »ontologi-
116 Ebd.
118
Ebd. 64.
119 Ebd. 67. – Vgl.: »Die Unterscheidung von Sein und Sollen ist bei den antiken
314
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.
5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen, in: Buchheim/Schön-
berger/Schweidler, Die Normativität des Wirklichen, 32.
120
Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 66.
121 Ebd. 73.
122
Ebd. 73–74.
315
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
196–206.
126 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf eine Textstelle bei Hegel:
316
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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten
Paradigma des Bleibens in der Natur ist für Spaemann wiederum pa-
radoxerweise die »pure Naturwüchsigkeit« 128 der progressiven Na-
turbeherrschung. Zwar tritt der Mensch als Subjekt der Naturbeherr-
schung aus der Natur heraus; wo diese Herrschaft jedoch zum
»Selbstzweck« 129 wird und sich, wie spätestens durch die ökologische
Krise sichtbar wurde, »gegen den Menschen selbst wendet« 130, fällt
sie in die Natur zurück:
Ausdehnung der Herrschaft über die Natur ist deshalb immer zugleich
Ausdehnung der Beherrschbarkeit von Menschen. Aber der Prozeß
dieser Ausdehnung ist selbst noch naturwüchsig. Und eine Geschichte
des Menschen, die als bloße Geschichte der Naturbeherrschung ver-
standen wird, ist selbst bloße Naturgeschichte. 131 D. h. aber: In ihr hat
die Unterscheidung »natürlich–unnatürlich« gar keinen Ort. […] Der
vollendete Technizismus ist so zugleich vollendeter Naturalismus. 132
Was aber bedeutet es dann, das Hinausgehen aus der Natur, das mit
dem Selbstbewusstsein schon zur conditio humana gehört, bewusst
zu ergreifen und den Rückfall in die pure Naturwüchsigkeit zu ver-
meiden? »Herausgehen aus der Natur findet nur statt,« so Spaemann,
»wo Natur als sie selbst erinnert wird« 133. Erinnerung bedeutet zu-
nächst Reflexion auf die »natürlichen Voraussetzungen menschlicher
Existenz« 134. Insofern die Natur nun dem Menschen auf unterschied-
lichen Ebenen Grenzen setzt, lässt Freiheit sich nicht als absolute Au-
tonomie eines Herrschaftssubjekts realisieren, sondern nur als Ge-
staltung eines Spielraums, der von einem Unverfügbaren umgrenzt
ist: »Freiheit ist nicht ein ›Kern‹, der zurückbleibt, wenn alle Natur
unterjocht ist. Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzich-
tes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des ›Seinlassens‹.
In ihrer gegenseitigen Anerkennung und Freilassung allein über-
schreiten natürliche Wesen die Natur.« 135 Die naturrechtliche Denk-
weise, von der Spaemann spricht, ist also ein mit dem menschlichen
Herrschaftsinteresse konkurrierendes und als Korrektiv dessen fatale
131 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf: S. Moscovici, Essai sur
133
Ebd. 36.
134 Ebd. 37.
135
Ebd.
317
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5 Die Spur des Absoluten in der Natur
318
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«:
Grundzüge einer Philosophie
Das vorangestellte Zitat ist ein Auszug aus dem Dialog zwischen Iwan
und Alexej Karamasow im fünften Buch von Dostojewskijs letztem
Roman, in dem der rastlose Analytiker Iwan seinem Bruder Alexej
von seinem leidenschaftlichen Lebensdrang berichtet. Alexej pro-
voziert durch sein Fazit die ungläubige Nachfrage Iwans, bevor er
noch einmal den Gedanken präzisiert, wonach der Sinn nicht Voraus-
setzung, sondern Folge der Liebe zum Leben ist. Die zentrale These
des vorliegenden Kapitels über die weitere Entfaltung von Spaemanns
Denken besteht darin, dass ein ähnlicher Gedanke der Überordnung
des Lebens über den Begriff Charakteristikum der Philosophie Spae-
manns ist. Diese These kann insofern problematisch erscheinen, als
der Novize Alexej in Dostojewskijs Roman ihn als intuitive Einsicht
vertritt, ohne ihn gegenüber Iwan argumentativ stützen zu können;
bei Spaemann hingegen kann es sich dabei nur um eine philosophi-
sche Argumentation handeln. Für eine solche aber scheint dieser Ge-
danke prinzipiell ungeeignet, insofern er das begriffliche Denken
selbst abwertet. Nun ist eine ähnliche Gedankenfigur in den ersten
Kapiteln – im Zusammenhang beispielsweise mit de Bonald 2, mit
1 »›Ich glaube, jedermann sollte über alles auf der Welt das Leben lieben.‹/ ›Soll man
das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?‹/ ›Unbedingt; man soll es vor der
Logik lieben, wie du sagst, unbedingt vor der Logik, dann erst wird man auch den
Sinn begreifen. […]‹« – F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Fünftes Buch,
Drittes Kapitel.
2 Vgl. z. B. Bonalds Kritik am cartesischen Ansatz der Reflexionsphilosophie: »Phi-
losophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Versuch, ›in uns selbst den
319
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns erheben wollen‹ (III 34), führt nicht über
den Ausgangspunkt selbst hinaus.« – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus
dem Geist der Restauration (1959), 44–45. – Vgl. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit
des Ausgangs vom Subjekt, 107.
3
Vgl. z. B. Spaemanns Aussage: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja
nicht der Hoffnung, einen höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist
gleichbedeutend mit Absage an Philosophie überhaupt.« – Spaemann, Reflexion und
Spontaneität (1963), 303. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die
geschichtsphilosophische Perspektive, 173, Fn. 7.
4 Vgl. z. B. Spaemanns und Löws Aussage in Bezug auf teleologisch verfasstes Selbst-
sein: »Es ist ein Unmittelbares, das man überhaupt nicht erklären und in gewissem
Sinne auch nicht verstehen oder eben nur so verstehen kann, daß es den Horizont
seines möglichen Verstandenwerdens selbst erst in seinem Sich-Zeigen eröffnet.« –
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247.
5 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 25.
6
Ebd. 20.
320
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
ist die 1987 unter dem Titel »Das Natürliche und das Vernünftige«
erschienene Sammlung von Essays, die als eine Summe seines Den-
kens der 80er Jahre bezeichnet werden kann, sowie der Text Ȇber die
Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«. Auch wenn in
dem nun zu betrachtenden Abschnitt die zuvor nur schwach vermit-
telten Linien von Spaemanns Denken zusammengeführt werden und
eine einheitliche Spaemann’sche Philosophie Konturen gewinnt, ist
es dennoch sinnvoll, die im dritten Kapitel vorgenommene Drei-
teilung in einen philosophiehistorischen, einen stärker systematisch
orientierten und einen – religionsphilosophischen und ethischen Fra-
gen gewidmeten – im weitesten Sinne praktischen Teil beizubehalten.
Diese Gliederung kann zum einen der Übersichtlichkeit des zu struk-
turierenden Materials dienen und zum anderen transparent machen,
auf welche Weise in den 80er Jahren die zuvor nur implizit verbun-
denen Linien von Spaemann zusammengeführt werden.
In der Einleitung 7 zu seinen 1983 erschienenen »Philosophi-
schen Essays« schreibt Spaemann, er habe »zum Verständnis jenes
Geschehens der Moderne, in das wir alle verwickelt sind, stets zwei
Weisen des Zugangs gesucht. Die eine ist die Geistesgeschichte.« 8 In
Fortführung der philosophiehistorischen Untersuchungen über de
Bonald, Fénelon und Rousseau der vorangegangenen Kapitel wird in
Teilkapitel 6.1 eine Gedankenbewegung Spaemanns verfolgt, die von
der Gegenwart in die Antike und von dort zurück in die Neuzeit
führt. Neben Aristoteles und Thomas von Aquin werden hier vor
allem Descartes, Leibniz und Whitehead im Mittelpunkt der Auf-
merksamkeit stehen. Sein »zweiter Zugang zum Phänomen der Mo-
derne« ist nach Spaemann »ein spontaner Widerwille gegen die Um-
interpretation unseres natürlichen Selbstverständnisses« 9 und damit
sein Projekt der Wiederbelebung des teleologischen Denkens. Im
Teilkapitel 6.2 wird es daher um die in den 80er Jahren von Spaemann
hergestellte Verbindung des teleologischen Denkens mit dem Thema
der Selbsttranszendenz gehen, die anhand der Begriffe Anerkennung
7 Spaemann, Einleitung (1983), 3–18, unter dem Titel »Versuche, das Ganze zu den-
ken. Anstelle eines Vorworts« mit leichten Veränderungen übernommen in: Spae-
mann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 7–23.
8 Spaemann, Einleitung (1983), 10.
9 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken (2010), 17. – Diesen Satz hat Spaemann
erst in der Ausgabe von 2010 in den Einleitungstext eingefügt; der darin ausgedrückte
Gedankenzusammenhang war gleichwohl in der Ausgabe von 1983 bereits implizit
vorhanden.
321
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
322
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.
6.1 Das philosophiehistorische Projekt einer
Erneuerung der antiken Substanzontologie
1 Zuerst veröffentlicht in: Philosophisches Jahrbuch 117 (2010), 5–19. Danach in:
Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 27–49.
2 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 219.
3
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 48.
323
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« geht
Spaemann aus von der »Frage nach dem Sein und ihre[r] Bedeutung« 4,
wobei er sich zunächst auf Heidegger und dessen Vorwurf bezieht,
wonach die Geschichte des Seins eine »Verstehens- und Vergessens-
geschichte« 5 ist, die mit der klassischen griechischen Philosophie be-
reits begonnen habe: »Die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes
thematisiert, ist zugleich von Anfang an eine Verdrängung des ur-
sprünglich Gemeinten.« 6 Heideggers Denken wird hier jedoch nur
knapp umrissen und dient im Rahmen des Textes eher als Hinführung
zur entscheidenden Fragestellung: »Wie steht es mit Heideggers These
von der Seinsvergessenheit der griechischen Metaphysik? Und zwar
fragen wir mit Bezug auf Aristoteles. Was will Aristoteles eigentlich
wissen, wenn er das on he on thematisiert?« 7 Die folgenden wenigen
Seiten über die aristotelische Metaphysik sind stark verdichtet und
enthalten in nuce eine kultur- bzw. geschichtsphilosophische These,
die für Spaemanns Verständnis der antiken Philosophie und sein Den-
ken im Allgemeinen von zentraler Bedeutung ist. An diese These he-
4 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 27.
5
Ebd. 28.
6 Ebd.
7
Ebd. 31. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Γ, 1003 a 21–26.
324
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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
ran kann zunächst die Einsicht führen, dass Spaemann die selbst ge-
stellte Frage nach der Bedeutung der Thematisierung des ὄν ᾗ ὄν bei
Aristoteles nicht direkt beantwortet, sondern vielmehr in einer Reihe
von Negationsschritten aus neuzeitlicher Perspektive naheliegende
Antworten als anachronistisch zurückweist. Als erste Zurückweisung
kann Heideggers Frage selbst nach der Bedeutung von Sein genannt
werden: »Die Frage nach dem on he on bei Aristoteles ist nicht eigent-
lich die Frage nach dem, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas ist –
das setzt Aristoteles in der Tat als das gnorimotaton, als das Allerbe-
kannteste voraus 8 –, sondern es ist die Frage, wodurch und warum das
ist, was ist.« 9 In Bezug auf die Bedeutung von Sein wird bei Aristoteles
also Selbstverständlichkeit unterstellt und vielmehr nach den Prinzi-
pien und Ursachen (ἀρχαί und αἴτια) des Seins gefragt. Die zweite
Zurückweisung betrifft die kantische Fassung der Frage:
Wir könnten versucht sein, es kantisch als die Frage nach den Bedin-
gungen der Möglichkeit zu übersetzen. Aber diese Frage ist nicht die
aristotelische. Die Bedingung der Möglichkeit ist nämlich, so wieder-
holt Aristoteles immer wieder, die Wirklichkeit. Möglichkeit ist ein
teleologischer Begriff. Möglichkeit ist etwas am Wirklichen, und zwar
etwas, das in seiner Art, wenngleich nicht an diesem Wirklichen, ent-
weder selbst schon wirklich oder einem schon Wirklichen verwandt
sein muss, um überhaupt möglich zu sein. Die Frage, warum das ist,
was ist, ist daher die Frage nach dem Grund seiner Wirklichkeit. 10
Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit stellt also die für
Aristoteles gültige Unterordnung der Genesis unter die Geltung auf
den Kopf und verfehlt damit das Sein als Wirklichkeit im aristote-
lischen Sinn. Eine dritte Zurückweisung betrifft die Frage nach dem
Sosein 11 und dem Dasein bzw. nach dem Wesen und der Existenz.
8
Spaemann fügt hier folgende Anmerkung ein: »Siehe Metaph. III 4, 1001 a 18–24:
›Seiendes‹ und ›Eines‹ sind das am meisten Allgemeine; wenn sie nichts beitragen zur
Erkenntnis der Dinge, dann auch nicht alle anderen Allgemeintermini; vgl. IV 3, 1005
b 6–34: Das ›allerbekannteste Prinzip‹ ist die Unterscheidung zwischen Sein und
Nichtsein verbunden mit der Gewissheit, dass nicht beides zugleich auf dasselbe zu-
treffen kann.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es
gibt« (2010), 48.
9 Ebd. 32.
10 Ebd.
11
Spaemann verwendet in unterschiedlichen Publikationen die Schreibweisen ›So-
Sein‹ und ›Sosein‹. Im Sinne der Einheitlichkeit wird hier abgesehen von wörtlichen
Zitaten durchgehend die Schreibweise ›Sosein‹ verwendet.
325
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Geht es bei der Frage nach dem Sein um das Dass oder das Was des
Seienden? »Aristoteles«, so betont Spaemann, »unterscheidet diese
beiden Fragen ausdrücklich nicht: ›Es ist Sache derselben Überlegung,
zu zeigen, was etwas ist und ob es ist.‹ (Metaph. VI 1, 1025 b 17 f.)
[…] Quia unumquodque habet suum esse per quidditatem, wie Tho-
mas sehr genau die aristotelische Sicht wiedergibt.« 12 Sosein und
Dasein sind für Aristoteles also untrennbar und die reale Unterschei-
dung zwischen ihnen ist ein erst im Mittelalter entstandener Ge-
danke. 13 Insofern Aristoteles eine erste οὐσία (z. B. Sokrates) von
einer zweiten οὐσία (z. B. Mensch) unterscheidet, ergibt sich die
Möglichkeit einer weiteren Zurückweisung eines modernen Miss-
verständnisses:
Wirklich ist eine individuelle Substanz. Aber sie ist als individuelle
Substanz nur als Instantiierung einer allgemeinen ousia. So liegt es
nahe, Aristoteles in die Nähe zu Quine zu rücken: Sein heißt: Instan-
tiierung eines generellen Terminus zu sein. 14
Aber diese Formulierung bringt gerade nicht zum Ausdruck, was
Aristoteles sagen will. Sie verwechselt Logik und Sprachanalyse mit
Ontologie. Sie unterscheidet nämlich nicht Prädikatausdrücke und
Subjektausdrücke, oder wie Aristoteles sagt: Substanzbegriffe. 15
Diese Reihe von Negationsschritten ließe sich fortsetzen; stattdessen
soll aber nun gefragt werden, welches Ziel Spaemann mit ihnen ver-
folgt: Welchen Begriff von Sein will er freilegen, der von allen diesen
Fragen aus moderner Perspektive verfehlt wird? In einem ersten Vor-
griff auf die Ausführungen in Abschnitt 6.2.2 zu Spaemanns meta-
physischer Konzeption kann diese Frage dahingehend beantwortet
werden, dass er gar keinen Begriff von Sein freilegen will: »Sein ist
nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der
Anerkennung.« 16 Welches Ziel verfolgt er dann aber in der Annähe-
rung an Aristoteles in einer Reihe von Negationsschritten? Das Ziel
12
Ebd. 32–33. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Thomas-Zitats: Thomas
von Aquin, In XII libros Metaphysicorum VI, 1 (ed. M-R. Cathala, Turin 1950,
nr. 1150). – Ebd. 48. – Deutsch: Weil jedes Einzelne sein Sein hat in der Washeit.
13 Vgl. Hoffmann, Wesen, II. Mittelalter, in: HWPh XII, col. 628.
14 Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: W. V. O. Quine, »On What There Is«,
in: Ders., From a Logical Point of View. Nine logico-philosophical Essays, New York,
2. Aufl. 1963, 1–19, bes. 12–14. – Ebd. 48.
15
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
33–34.
16
Ebd. 42.
326
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.
6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
17 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
34–35. – Vgl.: »Die griechischen Klassiker, Platon und Aristoteles, haben neben dem
diskursiven Denken, der διάνοια, ein intuitives Denken, die νόησις, anerkannt. […]
Weil ihr [der Noesis] die propositionale Gliederung in Subjekt und Prädikat abgeht,
denkt (beansprucht) sie nicht etwas von etwas (τί κατὰ τινός), sondern einfachhin
etwas. Sie kann daher, wie Aristoteles Metaphysik Θ 10 ausführt, nicht falsch sein,
sondern ist wahr in einem Sinn von Wahrheit, der tiefer liegt als der Kontrast von
Aussagewahrheit und -falschheit. Die Noesis erhebt keine Ansprüche auf Wahrheit
und braucht daher keine Beweislasten oder Begründungspflichten zu übernehmen; sie
ist wahr vor aller Möglichkeit des Irrtums und der Täuschung. Sie erfaßt Seiendes,
indem sie es, wie Aristoteles sagt, gleichsam ›berührt‹ [Verweis auf: Aristoteles, Me-
taph. Θ 10; 1051 b 24 f.]. Ihre Wahrheit ist daher nicht normativ, als epistemische
Richtigkeit zu verstehen, sondern ursprünglicher: als Unverborgenheit des Erfaßten
für die Noesis, d. h. als ἀλήθεια in dem von Heidegger hervorgehobenen Sinn. Die
Wahrheit der Noesis und die Unverborgenheit des von ihr erfaßten Sachverhaltes
sind ein und dasselbe.« – Anton Friedrich Koch, Die Antinomie des Lügners und der
Satz des Protagoras, in: Buchheim/Schönberger/Schweidler, Die Normativität des
Wirklichen, 239–243.
327
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
nachvollzogen und nicht mehr verstanden werden kann ohne die si-
multane Reflexion auf die prinzipiell verschiedenen Denkvorausset-
zungen innerhalb und außerhalb dieses Raumes. 18 Die nicht in Sub-
jekt und Objekt geteilte antike Wirklichkeit können wir nicht
nachvollziehen und nur indirekt verstehen. Aber ein solches indirek-
tes Verstehen ist an die Bedingung geknüpft, dass wir unsere norma-
lerweise unreflektierten modernen Denkvoraussetzungen als uns
notwendigerweise vom antiken Denken Trennendes bewusst machen,
um dann per viam negationis solche Aspekte dieser antiken Wirklich-
keit auszumachen, denen ungeachtet ihrer spezifischen Fremdheit
eine gewisse Aktualisierbarkeit für uns eignet. Die oben angeführten
Fragen aus moderner Perspektive zum aristotelischen Seinsverständ-
nis erwiesen sich deswegen als Anachronismen, weil sie dieser Bedin-
gung nicht genügten, weil in ihnen gerade diese simultane Reflexion
unterblieben ist und auf verschiedenen Ebenen moderne Denkweisen
in die Antike hineinprojiziert wurden. Es gehört nach meiner Ein-
schätzung zu den großen Vorzügen Spaemanns als Denker, dass er
in diesem Sinne an das antike Denken stets mit einem sehr feinen
Gespür für dessen Fremdheit herangetreten ist, ohne durch diese ko-
gnitive Distanz den Blick auf das zeitlose Gemeinsame von Antike
und Moderne zu verlieren. 19 Eben auf dieses zeitlose Gemeinsame
richtet sich die zweite Frage nach der möglichen Bedeutung der anti-
ken Philosophie für uns. Grundsätzlich kann die antike Philosophie
aufgrund der genannten Rezeptionsbedingungen für uns keinen un-
mittelbaren Orientierungsrahmen bilden. Wenn sie dennoch auch für
uns eine bleibende Inspirationsquelle ist, dann kann das nur in As-
pekten begründet sein, die Ausdruck der conditio humana selbst und
dem Wandel der Zeiten gegenüber indifferent sind. In Bezug auf sol-
che Aspekte kann dann zwar die Notwendigkeit bestehen, sie in das
Bedingungsgefüge unseres neuzeitlichen Denkens zu übersetzen,
ken weiterentwickeln und in den folgenden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen, so
etwa im Zusammenhang mit dem Denken der Person. – Vgl. Spaemann, Personen,
27–29.
328
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption
aber eben eine solche Übersetzbarkeit kann für sie vorausgesetzt wer-
den. Wesentliche Aspekte dieser Art, die Spaemann im Rahmen die-
ses Textes ins Auge fasst und die für sein philosophisches Denken von
zentraler Bedeutung sind, sind die Auffassung des Subjekts als natür-
liche Substanz und damit verbunden dessen teleologische Verfasst-
heit. Der Begriff Substanz bezeichnet bei Aristoteles ein erstes Prin-
zip, da es nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird,
sondern vielmehr alles andere von ihm 20; Paradigma der Substanz ist
für Aristoteles der Mensch als Selbstsein, dem es um etwas geht:
[…] Aristoteles versteht den Menschen als natürliche Substanz. […]
Aber das bedeutet gleichzeitig, dass der Begriff der Substanz im Aus-
gang von der Selbsterfahrung des Lebendigen gebildet ist, d. h. desje-
nigen Seienden, dessen Sein nicht Vorhandensein ist für ein Subjekt,
sondern dessen Sein den Charakter des Selbstseins hat, dem es »um
etwas geht«. Worum geht es diesem Seienden? Es geht ihm darum, zu
sein. Und zwar nicht irgendwie zu sein, sondern als dieses Bestimmte
zu sein, dieses bestimmte eidos zu verwirklichen. Sein ist für Aristo-
teles – wie für Platon – jene Bewegung und Anstrengung, in der sich
aus dem mê on der hylê ständig Gestalten aktualisieren und diese sub-
stanziellen Gestalten wiederum um ihrer eigenen Selbstverwirk-
lichung willen tätig sind. 21
Dieses Prinzip der Bewegung, d. h. die teleologische Verfasstheit
lebendiger Wesen, ist ein solcher zeitloser Aspekt, der sich unter der
Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt gewiss in
anderer Form zeigen muss als in der antiken Welt, dessen Sich-Zei-
gen in der Moderne gleichwohl in einer Analogie zu seinem Sich-
Zeigen in der Antike stehen muss. Der fundamentale Aspekt
schlechthin ist der aristotelische Gedanke der natürlichen Substanz,
die ins neuzeitliche Denken übersetzt als Subjekt auftaucht und der
gerade durch diese Übersetzung die Auflösung droht. An anderer
Stelle – in dem Essay »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evo-
lutionstheorie?« 22 aus dem Jahre 1984 – spricht Spaemann von der
nicht trivialen »Trivialisierung der Subjektivität« 23 in der Moderne,
22 In: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 43–73, auch in: Ders., Phi-
losophische Essays, 185–231, u. in: Ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Re-
den und Aufsätze II, 60–81.
23
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 52.
329
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
24
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 53–54.
25 Ebd. 72–73.
26
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.
330
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
Im 1985 zuerst erschienenen Essay Ȇber den Begriff einer Natur des
Menschen« 27 geht es im Wesentlichen um ein in der Geschichte der
Philosophie dauerhaft virulentes Deutungsproblem des Menschen.
Spaemann geht aus von seiner in den 80er Jahren entwickelten Zeit-
diagnose, wonach als Zerfallsprodukt der neuzeitlichen Entteleologi-
sierung zwei komplementäre Weltanschauungen entstanden sind, die
wechselseitig gegen die ihren eigenen Erklärungswert auflösende
Rekonstruktion durch die konkurrierende Sichtweise wehrlos sind.
Diesen Antagonismus, den er später mit den Begriffen Transzenden-
talismus und Naturalismus bezeichnen wird 28, fasst er hier mit dem
Begriffspaar Hermeneutik vs. Szientismus:
Der Dualismus von Hermeneutik und Szientismus in der Frage »Was
ist der Mensch?« scheint die Form eines unüberwindbaren Patt zu
haben. […] Eine Anthropologie, die sich als reine Phänomenologie
solipsistischer Selbsterfahrung einer wesenlosen Subjektivität ver-
steht und jede Objektivierung durch den »Blick des anderen« als für
die Selbstdeutung entweder bedeutungslos oder destruktiv ablehnt,
eine solche Anthropologie kann nicht mehr Wahrheit beanspruchen
als jene szientistische Reduktion, die sie nur ignorieren, aber nicht
integrieren kann. Und umgekehrt: Der Reduktionist kann eine Selbst-
deutung ruhig stehenlassen, die für sich gerade nicht »Objektivität«
beansprucht. Er kann dieser Selbstdeutung jene Absolutheit ohne wei-
teres zugestehen, die sie sich selbst vindiziert, da es ja nur eine »Ab-
solutheit« des Für-sich-Seins ist, das kein An-sich-Sein beansprucht
27 Erschienen zunächst in: Michalski, Krzysztof (Hrsg.): Der Mensch in der moder-
nen Gesellschaft (= Castel Gandolfo-Gespräche [1]), Stuttgart 1985, 110–116. Wie-
derabdruck in: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 13–39.
28
Vgl. z. B. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138–139.
331
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
29
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 17–19.
30 Ebd. 26.
31
Ebd. 34.
332
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
32 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 26.
33 Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De gen. anim. 736 b. – Ebd. 39.
34
Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De anima, 430 a. – Ebd. 39.
35 Ebd. 26–27.
36
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.
333
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Wäre nämlich, so schreibt Thomas 37, der intellectus agens eine sub-
stantia separata, so wäre der Mensch »von Natur nicht hinreichend
ausgestattet«. Denn »er besäße nicht in sich selbst die Prinzipien,
durch die er die Tätigkeit des Erkennens ausführen könnte … darum
verlangt die Vollkommenheit der menschlichen Natur, daß beide –
aktive und passive Vernunft – etwas im Menschen sind«. 38
Zunächst vollzieht sich nun die erneute Verschiebung des Dualismus:
»Der anthropologische Dualismus, den Thomas zu überwinden sucht,
taucht allerdings unvermeidlich an anderer Stelle wieder auf und
führt nun zum Begriff des ›Übernatürlichen‹, dem gegenüber auch
noch die Vernunft zur ›Natur‹ gerechnet werden muß.« 39 Da »die
vollendete Seligkeit in der in diesem Leben unerreichbaren visio Dei
besteht« und da »der Mensch dieses Ziel nicht ›per sua naturalia‹
erreichen« 40 kann, wird so das Übernatürliche zur notwendigen Er-
gänzung des natürlichen Menschen. Gegen diese neue Form des Dua-
lismus führt Thomas selbst den Einwand an: »natura non deficit in
necessariis.« 41
Die Antwort auf diesen Einwand enthält nun ein zentrales anthro-
pologisches Argument. Sie lautet: »Die Natur versagt dem Menschen
gegenüber nicht im Bereich des Notwendigen, obgleich sie ihm nicht,
wie den Tieren, Waffen und Schutzwehren verliehen hat; denn sie hat
ihm Vernunft und Hände gegeben, mit denen er sich diese Dinge
selbst verschaffen kann. Ebenso versagt sie nicht dem Menschen ge-
genüber hinsichtlich des Notwendigen, wenn sie ihm kein Prinzip ver-
lieh, durch das er die Seligkeit erreichen kann. Das war nämlich un-
möglich. Dafür gab sie ihm den freien Willen, durch den er sich zu
Gott bekehren kann, daß dieser ihn selig mache.« 42 Und dann fügt er
37 Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin. In Arist. De anima, III, 10. –
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 39.
38 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 27.
39 Ebd. 28.
40 Ebd.
41 Ebd. – Das Zitat lautet bei Thomas im Kommentar zu »De anima« vollständig:
»natura nihil facit frustra, neque deficit in necessariis.« – Deutsch: »Die Natur tut
nichts Überflüssiges und bleibt hinter dem Notwendigen nicht zurück.« – Sentencia
De anima, lib. 3, lectio 14 n. 17.
42 Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa theologica, I a,
334
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.
6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
als Zitat des Aristoteles an: »Was wir durch unsere Freunde können,
können wir gewissermaßen durch uns selbst.« 43
Die Erwiderung von Thomas enthält zwei Übersetzungen aristote-
lischer Positionen im Sinne der Ausführungen des vorangegangenen
Abschnittes. Zum einen wird die aristotelische Überzeugung, wonach
die Natur des Menschen sich erst in der Wirklichkeit der Polis entfal-
tet, übertragen auf das Verhältnis des Menschen zu Gott; zum ande-
ren – und das ist das zentrale anthropologische Argument, von dem
Spaemann spricht – wird die Bedeutung der menschlichen Vernunft
als Kompensation physischer Schwäche erläutert durch ihr Potential
einer spezifisch menschlichen Realisierung natürlicher Selbsttrans-
zendenz:
Wie die Isolierung einer selbstgenügsamen individuellen »Natur« und
ihrer Vermögen für Aristoteles eine Abstraktion von der sozialen Na-
tur des Menschen ist, zu welcher Natur immer die Freundschaft ge-
hört, so ist für Thomas die Isolierung einer natura pura eine Abstrak-
tion von der religiösen Natur des Menschen, einer Natur, die zur
»Gottesfreundschaft« führt. Selbsttranszendenz der menschlichen
Natur aber wird in Analogie gesetzt zu der Überwindung der Mängel-
lage, in der der Mensch sich als Naturwesen befindet, durch Hände
und Vernunft, was schon ein antiker Topos war. Natur – das ist die
Grundstruktur des Gedankens – bringt im Menschen etwas hervor,
was mehr ist als Natur, »nobilior«, heißt es bei Thomas. Der Mensch
ist nicht dieses Mehr, er ist das Wesen, in dem Natur sich selbst auf das
Mehr überschreitet. »L’homme transcend infiniment l’homme«, wird
Pascal sagen. 44
Dieses zentrale anthropologische Argument, in dem die reflektierte
Selbsttranszendenz als Wirken der Natur im Menschen begriffen
wird, kann als die vielleicht bedeutendste philosophische Entdeckung
Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum gelten. 45 Dieses Argument
43
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 28–29. – Spaemann
verweist als Quelle des Zitats auf: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1112 b 25. – Ebd.
38–39.
44 Ebd. 29. – Das Pascal-Zitat lautet im Original: »l’homme passe infiniment
335
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
len, auch wenn sie als solche von den großen neuzeitlichen Autoren der Philosophie
nahezu durchweg verkannt worden ist – und nicht nur von solchen, die es in seinen
Textdokumenten nicht zur Kenntnis genommen haben.« – Schönberger, Die Trans-
formation des klassischen Seinsverständnisses, 10.
46 Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215–
291.
47 Vgl. Teilkapitel 5.3, Zugänge zum Absoluten, 292–318.
48
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 60–61, u. Teilkapitel 4.1, Bür-
gerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 139.
49 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 29–30. – Deutsch:
»Alles Seiende ist um der ihm eigenen Tätigkeit willen.« »Alle Tätigkeit geschieht um
eines Zieles willen.«
50 Ebd. 30.
51 Ebd. – Deutsch: »Der Mensch ist das Ziel der ganzen Schöpfung.« – Spaemann
verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa Contra Gentes, III, 22. – Ebd. 39.
52 Ebd. 30.
53
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336
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
und von sich her ist, sichtbar, weil ihre Um-willen-Struktur erst in
ihm die Zweideutigkeit des Als-ob verläßt und als freies Wollen und
freie Anerkennung des nicht selbstgesetzten Grundes und Zieles her-
vortritt. 54
Auch wenn die natürliche Selbsttranszendenz im klassischen antiken
Denken bereits wirksam war, geschieht im Mittelalter doch ein ent-
scheidender Schritt darüber hinaus, insofern dieses Denken nun erst
reflexiv gewendet wird und die Selbsttranszendenz ausdrücklich
setzt. 55 Es ist auffällig, dass die Gedanken zu dieser mittelalterlichen
Übersetzung aristotelischer Grundgedanken sich in den 80er Jahren
verstreut in verschiedenen Schriften Spaemanns finden, ohne dass er
selbst hier schon explizit die Zusammenhänge herstellt und die Deu-
tung dieser Übersetzung im vollen Umfang entwickelt. Was sich in
seinen Schriften der 80er Jahre andeutet und ansonsten an impliziten
Zusammenhängen ablesbar ist, wird später in »Glück und Wohl-
wollen« und »Personen« explizit ausgeführt. An dieser Stelle sei nur
auf zwei weitere Texte der 80er Jahre hingewiesen, die Beiträge zu
dieser Übersetzung beinhalten. Bei beiden Textauszügen geht es um
das Problem, wie in der mittelalterlichen Philosophie aristotelische
Grundgedanken in den durch den christlichen Schöpfungsglauben
gesetzten Orientierungsrahmen übersetzt werden können. Erst im
Gedanken der Schöpfung wird die Setzung eines Objekts durch ein
Subjekt denkbar, dessen Gegenstück aus subjektiver Perspektive die
reflexiv gewendete Selbsttranszendenz ist. Der platonische Demiurg
ist ebenso wie der aristotelische unbewegte Beweger ein Weltgestal-
ter, der mit einem vorgegebenen Material arbeitet, wohingegen der
jüdisch-christlich-islamische Schöpfergott ohne ein vorgegebenes
Material die Welt aus dem Nichts erschafft. Genau diese Differenz
ist der Hintergrund eines weiteren Aspektes der oben als zentrales
anthropologisches Argument bezeichneten Übersetzung der aristote-
lischen Position:
Erst im Kontext des Schöpfungsglaubens wird übrigens überhaupt je-
ner spezifische Begriff von Existenz entwickelt, der wiederum eine
54 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 30.
55 Vergleiche hierzu die Bemerkung Spaemanns in den Studien über Fénelon über das
Problem der Reflexion und die »scholastische Unterscheidung von einer Reflexion im
vollzogenen Akt und im ausdrücklich gesetzten Akt – in actu exercito und in actu
signato« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69 – u. Teilkapitel 4.5, Zur
wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 176–177.
337
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
338
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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte
führt also zur Aristoteles fremden Unterscheidung von esse und es-
sentia, die das Charakteristikum der Selbsterfahrung eines Wesens
ist, das auf die eigene Fähigkeit zur Selbsttranszendenz zu reflektie-
ren beginnt. Im dritten Teil von »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,
›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkt Spaemann in diesem Zusammen-
hang:
Die berühmte These von der Realdistinktion zwischen esse und essen-
tia ist nur so verständlich: Meine essentia, mein So-Sein ist es, Subjekt
zu sein, und alles, was ist, in meinem Bewusstseinsraum zu konstitu-
ieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere Existenz nicht schlecht-
hin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren. Dies unterscheidet
gerade die Existenz eines vernünftigen Lebens vom bloßen Leben
eines Lebewesens. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das
Leben als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des
Lebendigen aus, wie wir gesehen haben. 58 Darum hat das Lebendige
bloß als Lebendiges keine Kontingenzerfahrung. Von ihm als von
einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als »Seiendem« spre-
chen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten
Selbsttranszendenz fähig sind. 59
Die Bedeutung dieser inneren Differenz und der Kontingenzerfah-
rung wird in den beiden folgenden Kapiteln auf dem Weg zur Per-
sonenphilosophie Spaemanns von größter Bedeutung sein.
Die Fortsetzung der Geschichte des anthropologischen Dualis-
mus nach dem Hochmittelalter führt direkt zu dem am Anfang dieses
Abschnitts beschriebenen Antagonismus von Transzendentalismus
und Naturalismus, für dessen Anbahnung die im Spätmittelalter ein-
setzende Invertierung der Teleologie von entscheidender Bedeutung
war. »Die spezifisch anthropologischen Überlegungen bei Thomas,
nach welchen die Natur im Menschen sich selbst übersteigt, entfal-
len.« 60 Diesen Abschnitt der Entwicklung des anthropologischen
Dualismus hatte Spaemann zuvor im Rahmen seiner Auseinander-
339
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
64
Ebd. 16.
65 Ebd. 14.
66
Ebd. 16.
340
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.
6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
gewandt werden auf den Beginn der Neuzeit, auf den Moment in der
Geschichte der Philosophie, in dem die in der mittelalterlichen Real-
distinktion von esse und essentia bedachte Kontingenzerfahrung des
vernünftigen Lebewesens radikal zu Ende gedacht wird, nämlich im
Denken Descartes’.
Die Frage nach dem Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ steht im Mit-
telpunkt des dritten Teils des Essays Ȇber die Bedeutung der Worte
›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« und des aus dem Jahre 1987 stammen-
den Essays »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« 67, auf die sich die
folgenden Ausführungen beziehen werden. Vorab sei noch einmal an
den vorbereitenden Gedankengang 68 erinnert. Ausgehend von Hei-
deggers Vorwurf der Seinsvergessenheit wurde nach der Bedeutung
des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles gefragt und ermittelt, dass Sein bei Aris-
toteles kein logischer Begriff ist, sondern ein von der Selbsterfahrung
des Menschen als natürlicher Substanz abgeleiteter »Ausdruck mit
teleologischer Konnotation« 69. Im Übergang zur Neuzeit hat gerade
dieser in der menschlichen Selbsterfahrung liegende paradigmatische
Ort der Seinserfahrung einen tiefgreifenden Wandel erfahren, der im
an die Stelle der aristotelischen Substanz rückenden modernen Sub-
jektbegriff seinen Ausdruck findet. In der Verschiebung vom Sub-
stanz- zum Subjektbegriff verliert das Sein den unmittelbaren Bezug
zur menschlichen Selbsterfahrung und wird zu einem Objektbegriff
distanziert. Sein heißt neuzeitlich »Gegenständlichkeit für ein Be-
wusstsein« 70. Als abschließende Formulierung dieses Gedankens zi-
tiert Spaemann häufig Quines Formel: »To be [is] to be the value of a
bound variable« 71 bzw. »Sein heißt: Wert einer gebundenen Variablen
sein.« 72 In dieser Formel vollendet sich die Reduktion der Wirklich-
keit auf die Gegenständlichkeit für ein Subjekt. Descartes gilt Spae-
69 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.
70
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.
71 Ebd.
72
Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 172.
341
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
mann als einer der geistigen Väter dieses modernen Denkens, das bei
ihm stets unter einem kritischen Vorzeichen steht. 73 Er spricht in
diesem Zusammenhang von einem »cartesische[n] Typus« der Wis-
senschaft, deren Kennzeichen »die radikale Reduktion ihrer Gegen-
stände auf ihre Gegenständlichkeit, der Ausschluß aller Ähnlichkeit
der res extensa mit der res cogitans, das Verbot des Anthropomor-
phismus zugunsten eines radikalen Anthropozentrismus« 74 ist. Zu-
gleich fällt jedoch auf, dass Spaemann schon seit seiner frühen Arbeit
über de Bonald eine gewisse Ambivalenz der Bewertung des cartesi-
schen Denkens erkennen lässt. 75 Einerseits steht Descartes für eine
radikale neuzeitliche Entteleologisierung und die Auffassung der Na-
tur als Mechanismus – die Seite der res extensa –, andererseits entfal-
tet Spaemann, wie im Folgenden ausführlich dargelegt werden soll,
die These, wonach der Zweifelsbeweis im ›cogito ergo sum‹ als eine
Übersetzung der aristotelischen Rede vom Sein ins neuzeitliche Den-
ken unter den Bedingungen der Entteleologisierung verstanden wer-
den kann – die Seite der res cogitans. Über die Schwelle der Entteleo-
logisierung hinweg, so lautet also die These, lässt sich von Descartes
ein Bezug zur aristotelischen Rede vom Sein herstellen. Descartes
greift nach Spaemann die Frage auf, die Aristoteles selbst explizit
nicht gestellt hat:
Wir abstrahieren aus der Erfahrung des bewussten Lebensvollzuges
jenes Moment, das uns sozusagen zu einem Element der Allklasse
macht, und nennen dies »Sein«. Aber was ist es denn, was wir da abs-
trahieren? Und was wir dann dem Denken als ein ihm Voraus- und
ihm Entgegengesetztes gegenüberstellen? 76
Aristotelisch verstanden zielt diese Frage auf das Analogon, das un-
seren bewussten Lebensvollzug mit allen natürlichen Dingen verbin-
73
Die kritische Auseinandersetzung mit Descartes beginnt in der Studie über de Bo-
nald, in der Descartes’ Gründung der Philosophie im reinen Denken, die Abstraktheit
des individuellen ›cogito‹ abgelehnt wird – vgl. Spaemann, Der Ursprung der Sozio-
logie aus dem Geist der Restauration (1959), z. B. 36, 44–45, 207 – sie setzt sich fort in
den Studien über Fénelon, in denen im Zusammenhang mit dem Cartesianismus vom
»Ring der Reflexion« und der »Isolation des Verstandessubjektes« die Rede ist – vgl.
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), z. B. 69, 108 – und bildet im Weiteren
ein Leitmotiv seines Denkens bis in seine späten Publikationen hinein.
74 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 102.
75
Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
36, u. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt, 105–107.
76
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 37.
342
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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
det. Für Aristoteles könnte man antworten, dass dieses Analogon die
φύσις ist »als inneres teleologisches Prinzip spezifischen Bewegt-
seins« 77. Diese Antwort ist, wenn sie Menschen, Lebewesen und na-
türliche Dinge verbinden soll, an die analoge Verwendung von ›Sein‹
gebunden: »pollachōs légetai – ›es wird auf vielfältige Weise aus-
gesagt‹« 78. Unter der Voraussetzung von Descartes’ Streben nach Ge-
wissheit, für das der »univoke[…] Begriff«, die »clara et distincta
perceptio« 79 das Ideal ist, scheidet diese Antwort aus und muss die
Frage völlig neu gestellt werden. Mit Bezug auf diese Frage beginnt
Spaemann den Descartes gewidmeten dritten Teil des Essays Ȇber
die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« mit den Wor-
ten: »Um die Frage zu verdeutlichen, bitte ich den Satz des Descartes
zu vergegenwärtigen: ›Ich denke, also bin ich.‹ Was fügt das ›ich bin‹
dem ›ich denke‹ hinzu?« 80 Dieser Frage muss nun intensiv nach-
gegangen werden.
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass im ›cogito sum‹ in Be-
zug auf die res cogitans die Begriffe cogitare und esse nicht gleichbe-
deutend sein dürfen, wie es diese Begriffe in Bezug auf die res extensa
sind, für die ja gilt, dass Sein Gegenstand für ein Bewusstsein ist,
wenn das ›cogito sum‹ nicht rein tautologisch sein soll:
Wodurch unterscheiden sich diese Begriffe? Im Cogito sum bezeich-
nen sie ja denselben Gegenstand. Sie dürfen jedoch nicht bedeutungs-
gleich sein, denn es soll ja im Cogito sum ein Fortgang des Gedankens
stattfinden, wenn auch nicht in der Form des Syllogismus. Worin be-
steht dieser Fortgang? Wieso folgt aus dem Cogito überhaupt etwas,
und wie unterscheidet sich das, was folgt, von dem, woraus es folgt?
Offenbar sind die beiden Begriffe extensional identisch, solange wir
den Ring des Zweifels, den Ring des Solipsismus, nicht gesprengt ha-
ben. Intensional identisch jedoch dürfen sie nicht sein, wenn das
Cogito sum einen Sinn haben soll. 81
Auch im Falle des einsamen Denkers der cartesischen Meditationen
muss es also einen intensionalen, d. h. inhaltlichen Mehrwert des
›sum‹ gegenüber dem ›cogito‹ geben, nach dem hier zu fragen ist.
Bei der Analyse des ›cogito sum‹ unterscheidet Spaemann vier Stufen
343
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Auf der ersten Reflexionsstufe, der des Zweifels, führt Descartes ei-
nen fiktiven Täuschegeist, den genius malignus ein, der dem Men-
schen eine falsche Welt vorspiegelt:
Der Genius malignus selbst hat offenbar ein von seinen Opfern unter-
schiedenes Bewusstsein. Er sieht die Sache anders, als er sie die Opfer
sehen lässt. Und offenbar ist er es, der sie richtig sieht. Descartes aber
kommt zu dem berühmten Schluss, dass mindestens an einem Punkt
er, Descartes, sie auch so sehen muss, wie sie ist, nämlich wo er sich
seines Bewusstseins bewusst wird. 84
Dieser Schluss bildet die dritte Stufe des Bewusstseins bzw. die zweite
Reflexionsstufe.
Die zweite Reflexion dubito ergo cogito (ich zweifle, also denke ich)
steht in sich selbst und ist unhintergehbar. Aber sie ist ebenso leer. Der
Horizont des Bewusstseins ist nun geschrumpft auf den zeitlich und
82
Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, 32–67.
83 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 38.
84
Ebd. 39.
344
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.
6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
88 Ebd. 140–141.
89 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: L. Wittgenstein, Tractatus Logico-
Geistes, Werke, ed. Glockner, Bd. 2, Stuttgart 1951. Vgl. auch: Vorlesungen über die
Philosophie der Religion, in Werke, ed. Glockner, Bd. 15, 136: »Wird der Zweifel Ge-
genstand des Zweifels, … so verschwindet der Zweifel.« – Ebd. 148.
91
Ebd. 141.
345
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Diese res füllt damit nicht mehr a priori den Raum aus, der durch das
Cogito aufgespannt ist. Sie ist ja selbst ein Vorkommnis in diesem
Raum. Sogar wenn sie das einzige Element der Klasse aller Dinge ist,
ist sie nicht mit dieser Klasse identisch. Daher wird nun das Sein dieser
res cogitans vom Denken selbst unterschieden. Descartes interpretiert
diese Unterscheidung mit Hilfe der aristotelischen Begriffe von Sub-
stanz und Akzidens. Für das Sein der Substanzen gilt, dass sie etwas
anderes sind als ihr Gedachtsein: »Wir erkennen die Substanz nicht
unmittelbar durch sie selbst, sondern nur weil sie Subjekt bestimmter
Akte ist.« 92 Das aber heißt: Die Unmittelbarkeit der Selbstgewissheit
des Cogito geht wieder verloren im Übergang zum sum. Es gibt keine
Unmittelbarkeit der Erkenntnis der endlichen Substanz. 93
An dieser Stelle sei an den im ersten Teil untersuchten neuzeitlichen
Subjekt-Wechsel und die dort konstatierte eigentümliche Zwischen-
stellung Descartes’ erinnert. Es ist für den weiteren Gedankengang
zunächst wichtig festzuhalten, dass Descartes, indem er das antike
Substanz/Akzidens-Schema auf das Verhältnis der cogitationes – als
Akzidentien – zur res cogitans – als Substanz – bezieht, eine Differenz
mit diesem Schema zu bezeichnen versucht, die sich Aristoteles noch
gar nicht erschlossen hatte. 94 Der Schritt vom Denken zum Sein im
›cogito sum‹, von der cogitatio zur Substanz ist somit ein Akt freiwil-
liger Selbstbeschränkung, der Fragen aufwerfen muss. Erstens: Wel-
che Motivation kann hinter einem solchen Schritt stehen? – Spaemann
bemerkt zur Rezeptionsgeschichte dieses Satzes: »Husserl hat eben
diesen Schritt kritisiert. 95 Das transzendentale Ego ist für ihn wesent-
lich letzter Horizont und gerade deshalb nicht möglicher Gegenstand,
nicht ein Seiendes in der Welt.« 96 – Zweitens stellt sich grundsätzlich
die Frage nach der Möglichkeit dieses Schrittes: »Von welchem Stand-
punkt aus ist diese erneute Objektivierung des Cogito möglich, durch
92 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Descartes, Méditations, Réponses aux
troisièmes objections. Obj. II; A.-T. IX 136. – Spaemann, Das Sum in Descartes’
Cogito Sum (1987), 148.
93 Ebd. 141.
94 Vgl.: »Die aristotelischen Aussagen der Metaphysik als Wissenschaft betreffen das
Wesen der Dinge; alles andere hat den Status eines esse per accidens: sein Zukommen
oder Nichtzukommen kann aus dem Wesen der Sache nicht erklärt werden.« –
Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 249.
95
In einer Anmerkung verweist Spaemann auf: E. Husserl, Cartesianische Meditatio-
nen, in: Husserliana Bd. I, Haag, 1950. – Ebd. 148.
96
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 141–142.
346
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.
6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
die dieses endgültig als Seiendes stabilisiert wird?« 97 – Und kann nicht
das Sein des ›sum‹ erneut in den Horizont des Gedachten hinein-
genommen werden, so dass es zu einem »unendlichen Regress«
kommt, »der nie bei so etwas wie Sein ankommen kann« 98? Die dritte
Frage lautet also: »Wie entgeht Descartes dem unendlichen Regress der
Reflexion, in welchem immer wieder das Cogito sich vergegenständ-
licht, um als ungegenständlicher Horizont hinter seiner Vergegen-
ständlichung wieder aufzutauchen?« 99 Wie im Folgenden gezeigt wird,
ist es eine Antwort, die Descartes auf diese drei Fragen gibt.
Zu der gesuchten Antwort hin kann die Beobachtung führen,
dass es eine Parallele zwischen der ersten und der dritten Reflexions-
stufe, dem Zweifel und dem ›sum‹ gibt. Der Zweifel auf der ersten
Reflexionsstufe, den Descartes in der ersten Meditation durchspielt,
ist ein absoluter Zweifel. Selbst die Arithmetik – »zwei und drei mit-
einander addiert ergeben fünf« 100 – und die Geometrie – »das Qua-
drat besitzt nicht mehr als vier Seiten« 101 – können vom genius mali-
gnus uns vorgegaukelt sein. Es ist wichtig zu sehen, dass es hier nicht
um den Gedanken einer relativen Täuschung geht, die immer als ein
Noch-nicht-Erfassen der Wahrheit gedeutet werden könnte, sondern
um eine absolute Täuschung. Eine solche ist aber nur möglich durch
ein Subjekt, das uns täuscht. Der Wirklichkeitsraum, der in Des-
cartes’ Zweifel eröffnet wird, ist also auch im Falle des Solipsismus
zumindest von zwei Subjekten bewohnt, wobei das zweite Subjekt
des Täuschegeistes als unendlich gedacht wird. Und genau diese Vor-
stellung vom Wirklichkeitsraum ist es auch, die dem Schritt zum
›sum‹ auf der dritten Reflexionsstufe zugrunde liegt:
Was den Zweifel ermöglicht, ist das Gleiche, was seine definitive Über-
windung möglich macht, nämlich die Antizipation eines absoluten
Bewusstseins und damit einer definitiv wahren Welt. Nur auf dem
Hintergrund dieser Antizipation ist ja meine Welt möglicherweise
die falsche. […] Nur ein endliches Bewusstsein kann irren. Die Idee
Gottes ist der Horizont, auf dem das Cogito seinen absoluten Hori-
zontcharakter verliert, zu einem endlichen Faktum, einer res wird
und damit zum möglichen Opfer des Täuschungsversuchs eines genius
malignus. Gott wird von Descartes eingeführt als der, »der alles kann
101
Ebd.
347
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
und durch den ich geschaffen und hervorgebracht bin, so wie ich bin«.
Erst aber, wenn ich »un tel«, ein »So-und-so« bin, stellt sich die Frage
nach meiner Täuschbarkeit. »Un tel« aber bin ich nur, wenn es den
Blick gibt, der mich zu einem solchen macht. Erst die Antizipation
des Unendlichen ermöglicht die Transformation des Cogito vom um-
greifenden Horizont zum Gegenstand, zu einem endlichen Ding. Nur
unter der Voraussetzung Gottes ist der »génie trompeur«, der Täu-
schegeist möglich. 102
Descartes’ Argumentation liegt zunächst die Einsicht zugrunde, dass
ich mir ein fremdes Bewusstsein vorstellen kann, das mich selbst ver-
gegenständlicht. Damit dieses nicht seinerseits von einem dritten Be-
wusstsein vergegenständlicht werden kann, stellt Descartes es sich als
unendliches Bewusstsein vor. Eine solche Vorstellung bilden zu kön-
nen, ist Ausdruck natürlicher Selbsttranszendenz, der Fähigkeit, im
Denken einen Standpunkt außerhalb des eigenen Gesichtskreises ein-
nehmen zu können. Von dieser Fähigkeit zur Selbsttranszendenz
schließt Descartes spekulativ auf die Idee Gottes, womit er die »Theo-
logisierung der Ontologie« 103 betreibt. An dieser Stelle wird nun
deutlich, dass der cartesische Gedankengang sich anschließt an die in
Abschnitt 6.1.2 erläuterte mittelalterliche Übersetzung der aristote-
lischen Fassung des anthropologischen Dualismus. Dort wurde die im
Kontext der christlichen Schöpfungslehre fundierte Einführung des
Übernatürlichen in den Dualismus in einen Zusammenhang gebracht
mit der reflexiven Wendung der natürlichen Selbsttranszendenz, 104
durch die erst die Wahrnehmung von Kontingenz – der eigenen wie
der der Schöpfung – möglich wurde. Die damit verbundene Realdis-
tinktion von esse und essentia wird nun von Descartes in klaren – von
Aristoteles übernommenen! – Begriffen nachvollzogen, wobei aller-
dings die Selbsttranszendenz den für die mittelalterliche Philosophie
konstitutiven Bezug auf die teleologisch verstandene natürliche Sub-
stanz verliert. An ihre Stelle tritt bei Descartes als Substanz die res
cogitans, deren Akzidens die cogitationes bzw. das ›cogitatur‹ sind,
das, wie gesehen, die zweite Reflexionsstufe darstellt. Dieses ›cogita-
tur‹ als reines Horizontbewusstsein, das sich seiner selbst gewiss, je-
doch auch völlig leer ist – »ein Wissen des Wissens, in dem nichts
339.
348
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.
6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹
gewusst wird« 105 –, kann als die cartesische Fassung der denkbar wer-
denden Existenz, also des ›esse‹ der mittelalterlichen Realdistinktion,
aufgefasst werden. Die Selbsterkenntnis bzw. die Erkenntnis der ei-
genen Substanz, zu der der Mensch in diesem Akt der Selbsttrans-
zendenz gelangt, ist jedoch immer schon eine vermittelte. Der Schritt
von der zweiten zur dritten Reflexionsstufe besteht in der Wahrneh-
mung einer inneren Differenz des erkennenden Wesens in sich selbst:
Das cartesische Cogito ergreift sich erst dadurch als Seiendes, dass es
sich aufspaltet in die Antizipation eines absoluten, schlechthin mit
sich identischen Seins, das es selbst nicht ist, und in ein durch dieses
göttliche Sein be-dingtes »Ding«, die res cogitans, die es selbst ist und
deren Substanzialität gerade nicht identisch ist mit seiner cogitatio. 106
Die Selbsterkenntnis der res cogitans als Substanz geschieht also erst
in der Vermittlung durch ein absolutes Sein, das das Worauf des Ak-
tes der Selbsttranszendenz ist. Dieser Akt der Selbsttranszendenz ist
somit die reflexive Wendung auf eine innere Differenz zwischen dem
Sosein als Subjekt, das alles, was ist, in seinem Bewusstsein konstitu-
iert, und der die Grenzen dieses Subjekts überschreitenden Ahnung
des Seins, des absoluten und des eigenen. 107 Erst aus dieser inneren
Differenz enthüllt sich die Kontingenz des Soseins, das in den Seins-
akt hineingezogen wird: In ihm kann die res cogitans als Seiendes sich
zum eigenen Sosein noch einmal verhalten. Zu sein bedeutet für ein
der Selbsttranszendenz fähiges Lebewesen also die Spannung zwi-
schen dem Sosein und dem absolut Offenen, an dem es im Seinsakt
teilnimmt.
Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist
das Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität,
so dass das diesen Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes
selbst als ein Seiendes vorkommt, als res cogitans. Es ist »an sich«, dass
ich »für mich« bin, und das heißt: Es ist für jedes Denken, dass ich für
mich bin, d. h. denke! Der Seinsraum konstituiert sich nicht durch die
einfache Intentionalität meines Bewusstseins, sondern durch die Rezi-
prozität eines durch Sprache bestimmten Bewusstseins. Sprechend
meinem Bewusstseinsraum zu konstituieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere
Existenz nicht schlechthin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren.« – Spae-
mann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45.
349
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
muss das Subjekt auf seine Gegenständlichkeit für ein anderes Subjekt
reflektieren. […] So sieht es die Welt nicht aus der Perspektive seiner
eigenen Mitte, sondern aus einer Perspektive, die überhaupt keinen
Mittelpunkt in einem Bewusstsein hat. 108
Mit dem ›cogito ergo sum‹ liefert Descartes also eine spekulative Theo-
rie reflexiv gewendeter Selbsttranszendenz, die unter den Vorzeichen
des neuzeitlichen – entteleologisierten – Denkens dennoch die als
Übersetzung der antiken Form des anthropologischen Dualismus zu
verstehende Realdistinktion von ›esse‹ und ›essentia‹ in klaren Begrif-
fen ausdeutet. Es sei an dieser Stelle an die bemerkenswerte Tatsache
erinnert, dass Fénelon diese Theorie im Sinne seines amour-pur-Ge-
dankens ablehnte und die Evidenz des Schlusses in Frage stellte. 109 Was
Fénelon dabei nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass Descartes spe-
kulativ einen mittelalterlichen Gedanken interpretierte, der seiner-
seits wieder eine Übersetzung jenes substanzontologischen Denkens
darstellte, das Fénelon selbst in seiner Lehre von den direkten Akten zu
erneuern versuchte. 110 An dieser Stelle kann nun auch, der Ankündi-
gung in Abschnitt 3.2.5 entsprechend, an die dort zitierte Bemerkung
Spaemanns über de Bonald angeknüpft werden. Dort hieß es:
Gerade durch seinen absoluten Gegensatz zu dem individualistischen
Cogito erweist Bonald sich als noch unter der gleichen Voraussetzung
stehend. Das Ergebnis ist paradox: Gerade weil er die in diesem Ansatz
verborgene Wahrheit nicht wahrzunehmen vermochte, wurde er zu
einem Glied in dem geschichtlichen Prozess der Vollstreckung seiner
Unwahrheit. 111
Oben wurde bereits dargelegt 112, inwiefern Bonalds Position bei glei-
chen Voraussetzungen einen absoluten Gegensatz darstellt. Vor dem
Hintergrund der hier durchgeführten Untersuchung der Bedeutung
des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ wird nun auch erkennbar, worin
die »in diesem Ansatz verborgene Wahrheit« besteht. Es geht dabei
108
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
40–41.
109 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 111, u. Abschnitt 4.3.1, Féne-
Mystik‹, 149–151.
111 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
207.
112 Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstauf-
350
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.
6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
113 Vgl.: »Erst durch die Antizipation des Anderen und seines Blicks wird [der Prozess
der Reflexion] zum Stehen gebracht. Wenn der Andere sich nicht selbst täuschen will,
muss er denken, dass ich denke. In diesem cogitat me cogitare weiß sich das Cogito als
sum.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 147.
114 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.
115
Leider ist bislang nur ein Text veröffentlicht, der Spaemanns Beschäftigung mit
Leibniz dokumentiert: der den folgenden Ausführungen zugrunde liegende, im Rah-
men einer Ringvorlesung der Universität München 1987 gehaltene Vortrag »Leibniz’
Begriff der möglichen Welten«. Zuerst erschienen in: V. Schubert (Hrsg.), Rationali-
tät und Sentiment, St. Ottilien 1987, 7–36. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte
über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 149–170. Eine Edition von Spae-
manns Leibniz-Vorlesung steht noch aus. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt
(2012), 219–220.
116 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 169.
117
Ebd. 168.
351
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
erreichte, von einer »Philosophie sub specie Dei« 118, einer »Onto-
logie sozusagen vom Standpunkt Gottes aus« 119. Im Folgenden wird
ausgehend von Leibniz’ Begriff der möglichen Welten 120 die Vor-
geschichte dieses Theorems, wie Spaemann sie rekonstruiert, knapp
dargelegt, bevor seine philosophischen Implikationen näher erläutert
und die Ausführungen zu diesem Thema in den Kontext der philoso-
phiehistorischen Untersuchungen Spaemanns – nicht zuletzt seiner
Überlegungen zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Naturbegriffs 121 –
eingeordnet werden.
Die Entstehung und Verbreitung des Begriffs möglicher Welten
ist eng verbunden mit der Frage nach der ›Allmacht Gottes‹ 122 und der
Problematik menschlicher Freiheit. »Eingeführt wurde der Begriff
nach herrschender Ansicht durch Leibniz.« 123 Spaemanns These ist,
»dass Leibniz nicht der erste Erfinder« 124 dieses Begriffes war, dass er
ihn aber »vor allem dadurch so berühmt gemacht« habe, »dass er ihn
in den Rahmen der These stellte, nach der unsere Welt die beste aller
möglichen Welten ist« 125. Leibniz Grundgedanke kann folgender-
maßen zusammengefasst werden:
Die tatsächliche Welt ist nur eine von unendlich vielen möglichen
Welten, die existiert haben könnten 126. Genau diejenige Folge oder
Kombination von Dingen, bzw. – wie man einfacher sagen kann – die-
jenige mögliche Welt wird von Gott geschaffen, die insbesondere in
der Hinsicht am vollkommensten ist, daß in ihr mehr Individuen zur
Existenz kommen als in irgendeiner anderen möglichen Welt: »Ich
sage daher, daß ein Seiendes existierend ist, wenn es mit der größten
Anzahl von Dingen kompatibel ist« 127. Unsere Welt ist damit die beste
in Leibniz’ Metaphysik.
121 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,
196–206.
122 Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443.
124 Ebd.
125 Ebd.
126 Verweis durch Anmerkung [4] auf: Remarques sur la lettre de M. Arnauld [1686],
a.O. 40; vgl Art. ›Optimismus I.‹. Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1240–1246.
127
Verweis durch Anmerkung [5] auf: Generales inquis. de analysi notionum et ve-
ritatum (73) [1686], in: Opusc. et fragm. inéd., hg. L. Couturat [COp] (Paris 1903,
ND 1961) 376.
352
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
128 Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443.
129 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 153.
130 Ebd. 153–154.
132
Ebd.
133 Ebd. 154. – Die These findet sich »im Sentenzenkommentar, in der 25. Quaestio
im 1. Teil der ›Summa theologica‹ und in der ›Summa contra gentiles‹.« – Ebd.
353
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
138
Ebd.
354
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.
6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
355
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
145
Spaemann, Freiheit, IV, in: HWPh II, col. 1089.
146 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164–165.
147
Reinhardt, Scientia media, in: HWPh VIII, col. 1507.
356
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
357
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Er übernimmt den Begriff der series rerum als einer ideellen Einheit.
Gott schafft, indem er eine solche series rerum in die Realität über-
führt, und wenn dies, dann natürlich die beste – das ist die Leibniz’sche
Zutat. Die Frage aber, wie die series rerum sich zu der Kontingenz der
Einzelereignisse verhält, ob sie also den Menschen, der ihr angehört,
zu bestimmten Handlungen determiniert oder nicht, beantwortet
Leibniz damit, dass er sagt: Jede Monade ist definiert durch die Ge-
samtheit ihrer Prädikate. Sie muss nicht determiniert werden, weder
durch die series rerum noch durch Gott, denn es gehört zu ihrem We-
sen, dieser und keiner anderen series rerum anzugehören. Sie ist, wie
sie ist, weil die Welt so ist, wie sie ist. Und umgekehrt, die Welt ist, wie
sie ist, weil jede einzelne Monade ist, wie sie ist. Gott bestimmt nicht
den einzelnen von außen zu irgend etwas, sondern jeder ist von An-
fang an der, der das tut, was er tut. Dieser nominalistische Begriff der
Monade bedeutet eine Dynamisierung des Wesensbegriffs. 156
Zuvor hatte Spaemann in seinem Vortrag bereits darauf hingewiesen,
dass Leibniz’ Begriff der Monade exakt nach dem Modell der thomis-
tischen Engelslehre konzipiert ist: »wo die Materie, wie im Aristote-
lismus des Mittelalters, als das principium individuationis gilt, da
folgt, dass es nicht zwei immaterielle Wesen der gleichen Art geben
kann. Jeder Engel ist eine eigene Spezies.« 157 Entsprechend gilt für die
Monaden: »Jede Monade […] ist ihre eigene Spezies«, »sie ist de-
finiert durch die Gesamtheit ihrer Prädikate« 158. Leibniz’ Vermitt-
lungslösung ist also der Versuch einer »Ontologie […] vom Stand-
punkt Gottes aus« 159:
So übernimmt Leibniz von den Molinisten den Gedanken der Welt als
einer bestimmten, sozusagen nach einer einheitlichen Formel zu kon-
struierenden Ereigniskurve. Von den Thomisten übernimmt er das
Theorem von der vollständigen Ursächlichkeit Gottes für alle Ereig-
nisse. Aber diese Ursächlichkeit scheint nun nicht die Freiheit der Mo-
nade zu beeinträchtigen, weil Gott sie nicht sozusagen von außen zu
etwas bewegt, sondern weil ihre Substanz identisch ist mit einer be-
stimmten Repräsentation des gesamten Weltverlaufs. Erschaffung des
Individuums und Erschaffung einer Welt ist identisch. 160
358
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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei
235–237.
164 Vgl.: »Für Albert den Großen zwar gilt die totale Selbstbezüglichkeit der Natur als
Axiom, wenn er, einen Terminus Augustinus’ aufnehmend, schreibt: ›Natura semper
re curva in se ipsa.‹« – Spaemann, Natur (1973), 25.
165
Spaemann, Natur (1973), 25.
166 Ebd. 26.
167
Michael Bajus (1513–1589), ein katholischer Theologe.
359
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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
logen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, der ge-
genüber die Gnade nur den Charakter eines ›superadditum‹ hat.« 168
Für den hier verfolgten Gedankengang ist nun entscheidend, welche
Bedeutung die Konzeption der natura pura für das Verständnis des
menschlichen Handelns hat: »Die Freiheit des Handelnden liegt nicht
in einer Unabhängigkeit vom Determinismus, der die Natur durch-
waltet, sondern nur im Erkennen der eigenen Knechtschaft und in der
Zustimmung zu dem, was ohnehin geschieht.« 169 Insofern eine posi-
tive menschliche Freiheit nach dem hier in Erinnerung gerufenen
Gedankengang in der teleologisch verstandenen menschlichen Natur
fundiert ist, wird klar, dass die dem im Mittelpunkt des Leibniz-Vor-
trags stehenden Gnadenstreit zugrunde liegende Problematisierung
der menschlichen Freiheit ihrerseits ein Resultat der im Mittelalter
einsetzenden Entteleologisierung ist. Aus dieser Sicht fällt nun ein
neues Licht auf Leibniz’ Vermittlungslösung zwischen Molinismus
und Báñezianismus, die keine Aktualisierung des thomasischen teleo-
logischen Naturbegriffs versucht, sondern auf spekulative Weise
durch eine Theologisierung der Ontologie die im Gnadenstreit aus-
einander getretenen Positionen versöhnen will. Für die Rettung des
menschlichen Freiheitsanspruchs bedarf es dabei keines geringeren
metaphysischen Konstrukts als der prästabilierten Harmonie, durch
die jedes Individuum den gesamten Weltverlauf in sich trägt, was
aber nur dem göttlichen Bewusstsein gegeben ist. Hierin zeigt sich –
bei allen sonst bestehenden Differenzen – eine Parallele zwischen
Descartes und Leibniz, insofern beide unter den Bedingungen der
Entteleologisierung Errungenschaften der mittelalterlichen Philo-
sophie spekulativ verarbeitet haben. Dies galt wie oben gesehen 170
für Descartes, insofern er die in der mittelalterlichen Realdistinktion
von esse und essentia zum Ausdruck kommende natürliche Selbst-
transzendenz unter Ausklammerung der natürlichen Substanz in ei-
ne rein spekulative Sprache übertrug. Dies gilt nun für Leibniz, inso-
fern er die kontroversen Positionen im Gnadenstreit durch eine
spiritualistische Konzeption zu versöhnen versucht: »Leibniz kann
nicht den aristotelischen Gedanken denken, dass die Seele das Form-
prinzip des Körpers ist. Er denkt das Verhältnis daher wieder nach der
168 Spaemann, Natur (1973), 27. – Als »Theoretiker der natura pura« nennt Spae-
170
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
360
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
361
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
175 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
Bemerkungen zum Paradigma von Whiteheads Kosmologie« (1983) wurde zuerst ver-
öffentlicht in: F. Rapp, R. Wiehl (Hrsg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. In-
ternationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg / München 1986,
169–181. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte
Reden und Aufsätze I, 171–188.
177
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 172.
178
Ebd. 173.
362
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
179 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
192. – Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 125.
181 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
184
Ebd.
363
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
185 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
187
Ebd. 178.
188 Ebd.
189 Ebd.
190 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
191 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
364
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
194 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
341.
196 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
365
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
197 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 183. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Zitats: Vgl. Ad-
ventures of Ideas, New York: Macmillan 1933, S. 201. – Ebd. 188.
198
Ebd. 182.
366
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
199 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 183.
200 Ebd. 184.
203
Ebd.
204 Ebd.
205
Ebd. 185.
367
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
206 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
208
Ebd.
209 Ebd.
210
Ebd.
368
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
211 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-
213 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-
215
Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.
369
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
216 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335–
336.
217
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-
hen? (1983), 186–187.
218
Ebd. 187.
370
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen
219
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 187.
220
Ein detaillierter Vergleich der philosophischen Konzeptionen Whiteheads und
Spaemanns liegt außerhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit. Ein solcher würde eine
intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Werken Whiteheads – insbeson-
dere »The Concept of Nature« (1920), dt. »Der Begriff der Natur«, »Science and the
Modern World« (1925), dt. »Wissenschaft und moderne Welt«, »Process and Reality.
An Essay in Cosmology« (1929), dt. »Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmo-
logie«, »Adventures of ideas« (1933), dt. »Abenteuer der Ideen« – voraussetzen. Auch
sollte ein solcher Vergleich die bislang unveröffentlichten Skripte zu Spaemanns Vor-
lesung über Whitehead Anfang der 80er Jahre in München einbeziehen. – Vgl. Spae-
mann, Über Gott und die Welt (2012), 249.
371
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2 Die Konturen einer eigenständigen
metaphysischen Konzeption
Die folgenden, die Mitte des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit
bildenden Abschnitte stellen insofern ein Novum im Rahmen der
bisherigen Ausführungen zu Spaemanns Denken dar, als in ihnen
weder eine philosophiehistorische Untersuchung bestimmter Reprä-
sentanten der Philosophiegeschichte noch eine systematische Be-
trachtung eines konkreten Problemfeldes der philosophischen Refle-
xion im Mittelpunkt stehen. Die im Folgenden zu entwickelnde These
ist, dass sich in Spaemanns Schriften der 80er Jahre – in nuce und an
verstreuten Stellen – die Konturen einer eigenständigen metaphysi-
schen Konzeption abzeichnen, die in seinen späteren Hauptwerken
»Glück und Wohlwollen« und »Personen« maßgeblich entfaltet wird.
In Anknüpfung an die dargelegten philosophiehistorischen Orientie-
rungspunkte soll versucht werden, diese metaphysische Konzeption
in ihren wesentlichen Grundgedanken darzulegen. Zunächst wird
ausgehend von der alternativen metaphysisch-analogen Deutungs-
möglichkeit des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ der darzulegende
Spaemann’sche Ansatz in dem zuvor entworfenen philosophiehis-
torischen Orientierungsrahmen verortet, wobei es zentral um den
Lebensbegriff und die Bedingungen seiner Denkbarkeit gehen wird
(6.2.1). Danach wird der Kerngedanke Spaemanns einer Verbindung
von Naturteleologie und Selbsttranszendenz anhand der für seine
Essaysammlung der 80er Jahre namensgebenden Schlüsselbegriffe
des ›Natürlichen‹ und des ›Vernünftigen‹ entwickelt und die meta-
physischen Kategorien der Anerkennung bzw. der Repräsentation
präzisiert (6.2.2). Schließlich wird die Bedeutung der genannten Ver-
bindung und dieser metaphysischen Kategorien dargelegt, indem das
Paradigma einer Philosophie der Person abgehoben wird von dem der
Transzendentalphilosophie und somit die Selbstpositionierung Spae-
manns im entworfenen philosophiehistorischen Orientierungs-
rahmen nachvollzogen wird (6.2.3).
372
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
In seinem Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« aus dem Jahre
1987 spricht Spaemann in Bezug auf den Fortschritt vom ›cogito‹ zum
›sum‹ von zwei Deutungsmöglichkeiten: »Ich möchte die eine die me-
taphysisch-analoge nennen, die andere die spekulativ-dialektische.« 1
Bei der oben dargelegten Deutung 2, die sich in den Bahnen der carte-
sischen Meditationen bewegte, handelte es sich um die zweite Deu-
tungsmöglichkeit. Im genannten Essay 3 skizziert Spaemann nun die
alternative metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit, die Des-
cartes selbst aus Gründen, die nun erläutert werden sollen, nicht
möglich war. Dazu muss noch einmal am Begriff des Seins angesetzt
werden. Oben wurde Spaemanns Deutung wiedergegeben, wonach
Descartes im ›cogito sum‹ eine Übersetzung der aristotelischen Rede
vom Sein unter den Bedingungen der Entteleologisierung leistet, in-
dem er eine spekulative Theorie der Selbsttranszendenz entwickelt.
Spaemann nahm damit nicht nur Aristoteles vor dem Heideg-
ger’schen Vorwurf der Seinsvergessenheit in Schutz, sondern dehnte
diese Apologie auch auf das ›cogito sum‹ aus. 4 Vor diesem Hinter-
grund geht es nun um eine alternative Deutungsmöglichkeit des
»Sein und Zeit«: »Mit dem Cogito beansprucht Descartes, der Philosophie einen neu-
en und sicheren Boden bereitzustellen. Was er aber bei diesem radikalen Anfang un-
bestimmt lässt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer der Seins-Sinn des ›sum‹!« –
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 24. – Dieses Zitat kommentiert Spaemann dann mit
folgenden Worten: »Die Frage ist, ob es hier überhaupt etwas zu bestimmen gibt, ob
nicht ›Sein‹ als erster Begriff, als primum notum jeder näheren Bestimmung unbe-
dürftig und unfähig ist. Descartes hat es zweifellos so gesehen, wenn er auf die 6. Ent-
gegnungen antwortet, die Kenntnis der ›Natur des Denkens und der Existenz‹ sei
›allen Menschen natürlich‹, sie sei eine ›innere Erkenntnis, die der erworbenen stets
vorausgeht‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: Descartes, Meditations, Réponses aux
sixièmes Objections, § 1; A.-T. VII, 422., ebd. 147] Cogitare und esse seien, so ant-
wortet er im Brief an Clerselier, ursprüngliche Begriffe, ›die erkannt werden ohne
irgendeine Affirmation oder Negation‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: ›qui se con-
naissent sans aucune affirmation ni négation‹: A.-T. IX, 206.]« – Ebd. 136.
373
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Magnus, In Dionys. de div. nom., ed. Col. 37,1 col. 135a. – Ebd. 147.
8
Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Thomas von
Aquin, In Eth. Arist. ad Nicom., lib. IX lect. 11, Nr. 1902. – Ebd. 147.
9
Ebd. 137.
374
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
Leben ist also eine andere Aussageweise des Seins, eine dritte ist das
Erkennen. Dabei verweisen diese Aussageweisen auf eine Hierarchie:
Was erkennt, lebt; was lebt, ist. Diese Aussagen lassen sich nicht ein-
fach umkehren, da es Seiendes gibt, das nicht lebt, und Lebendiges,
das nicht erkennt. Wesentlich ist es nun festzuhalten, dass der
Mensch in seiner Selbsterfahrung zum Sein immer nur Zugang hat
als Erkennender, aus der Perspektive bewussten Lebens. »Der Schluss
vom Denken aufs Sein ist daher in dieser Sicht ein Schluss a fortio-
ri« 10, ein Schluss vom Stärkeren her. Das metaphysisch-analoge Den-
ken thematisiert also einerseits das allen Seienden Gemeinsame, an-
dererseits gibt es den Blick frei auf die Stufen der Entfaltung des Seins
und ihre Ordnung, die es mit sich bringt, dass in der Betrachtung des
Seins keine Stufe übersprungen werden kann, das heißt, dass Er-
kennen als Aussageweise des Seins nicht begreifbar ist ohne die Zwi-
schenstufe des Lebens als einer vermittelnden Aussageweise:
Die Trias Sein – Leben – Denken, die auf Platons »Sophistes« 11 zu-
rückgeht und in der neuplatonischen Tradition zentrale Bedeutung
gewinnt 12, bleibt bestimmend bis ins 14. Jahrhundert. Das Verhältnis
von Bewusstsein und Sein als ein Verhältnis der Analogie zu denken
setzt den Mittelbegriff des Lebens voraus. Die subjektiven Erfahrun-
gen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust, Begierde, Streben,
Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn
charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar
nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins.
Wir finden uns durch sie immer schon in einer teleologischen Struk-
tur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Leben-
digen verbindet. 13
merkt Eduard Zwierlein treffend: »Das bewußte Wollen vermittelt sich erst über ein
natürliches ›Sollerleben‹ der Triebe und Bedürfnisse, deren wir im Modus des wieder-
holenden Bewußtseins gewahr werden, die wir aber als dem Vorbewußten entstam-
mendes Unwillkürliches und Vorgegebenes verstehen. Über die Leibhabe und die ihr
nachfolgende teleologische Handlungserfahrung, die der naturphilosophische, an-
thropologische und hermeneutische Fokus des teleologischen Denkens sind, erfährt
das vernünftige Bewußtsein seine vorgängige Lebendigkeit als zielgerichtete und
sinnvolle Selbstbewegung.« – Zwierlein, Das höchste Paradigma des Seienden, 123.
375
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
14
Der Begriff des ›Ausseins-auf‹ bezeichnet bei Spaemann die teleologische Struktur
von Lebewesen. Er erscheint bei Spaemann, soweit ich sehe, zum ersten Mal im Essay
»Teleologie und Teleonomie« – zuerst in: Henrich/Horstmann (Hrsg.), Metaphysik
nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987, Stuttgart 1988, 545–556 –, der in die
dritte Auflage von »Natürliche Ziele« aufgenommen wurde. Spaemann benutzt in
verschiedenen Texten die unterschiedlichen Schreibweisen ›Aus-Sein-auf‹, ›Aus-
sein-auf‹ und ›Aussein-auf‹. Hier wird durchgängig die von Spaemann unter anderem
in »Glück und Wohlwollen« und »Personen« verwendete Schreibweise ›Aussein-auf‹
benutzt.
15
Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 225–233, Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277, u. Ab-
schnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–289.
376
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.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
16 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: E. Gouhier,
Cartésianisme et Augustinisme au 17ième siècle. Paris 1978, S. 175. – Ebd. 148.
17 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Fr. Bacon, De
dignitate et augmentis scientiarum III, 5. In: The Works of Lord Bacon Bd. II, London
1984, S. 340. – Ebd. 148.
18 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
19 Ebd. 139.
20 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
21 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.
22
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 348.
377
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
23 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 346.
24 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45.
25 Ebd. 40.
26
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
27 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
40–41.
378
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.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
deutung, das Verhältnis der Reflexion zum Präreflexiven genau zu bedenken. Ute
Kruse-Ebelings Spaemann-Deutung scheitert, wie mir scheint, gerade an dieser Auf-
gabe. Sie versucht »zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: Der Ebene der ›ein-
fachen‹ Wahrnehmung des Seins als Selbstsein und der Ebene der ›metaphysischen‹
Wahrnehmung des Seins als Selbstsein.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 358. – In
Bezug auf die erste Ebene spricht sie von einer »vorreflexiven, leiblichen Erfahrung
des eigenen und anderen Selbstseins«. – Ebd. 360. – In Bezug auf die zweite Ebene
spricht sie »von der von [Spaemann] für evident erachteten metaphysischen Wahr-
nehmung von Selbstsein als Unbedingtes«. – Ebd. 374. – Dabei kritisiert sie, dass
Spaemann mit der zweiten Ebene einen aus ihrer Sicht nicht notwendigen ›Überbau‹
konstruiere: »Selbst Spaemann scheint, trotz allen Eintretens für die Ansicht, dass
sich der positive Sinn des Seienden, dass Selbstsein als Unbedingtes sich ganz ur-
sprünglich im Horizont der spontanen, alogischen liebenden Bejahung und Wahrneh-
mung erschließt, für die Fundierung seiner Ethik des Wohlwollens denn doch noch
einen zusätzlichen Rahmen zu benötigen, in den er die Bejahung von Selbstsein als
Unbedingtes einbettet.« – Ebd. 393. – Dass dieser Vorwurf eines metaphysischen
Überbaus Spaemanns Sichtweise verfehlt, kann anhand ihrer Analyse der konkreten
379
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Wahrnehmung von Selbstsein am Beispiel einer Katze gezeigt werden: »Zwar kann
ich mir das Tier als bewusstes Leben abzüglich des Selbstbewusstseins vorstellen und
entsprechend auf diese Weise sein Selbstsein rekonstruieren. Gleichwohl scheint mei-
ne Wahrnehmung von ihm als Selbstsein sich nicht in diesem Denken zu erschöpfen,
geschweige denn in ihm seinen Ausgangspunkt zu nehmen: Das Selbstsein der Katze,
der ich begegne, ist mir immer schon auf leiblicher Ebene aufgegangen, lange bevor
ich in meinem Selbstbewusstsein darüber nachgedacht habe, ob sie über Subjektivität,
Leben oder andere Dinge verfügt, die sie mit mir teilen könnte.« – Ebd. 364. – Nach
dieser Analyse gibt es also die präreflexive Wahrnehmung des Selbstseins der Katze
und danach, in einem sekundären Schritt, die Reflexion auf dieses Selbstsein. Diese
Analyse greift aber zu kurz, wie leicht gezeigt werden kann. Wenn es richtig ist, dass
ich für die Katze meinerseits nur Teil ihrer Umwelt bin und sie daher meinen
Schmerz, wenn sie mich kratzt, nicht wahrnimmt, dann folgt daraus, dass ich die
Katze als ein Zentrum der Bedeutsamkeit, das seinerseits über Schmerzempfindung
verfügt, nur wahrnehmen kann, weil ich meine Zentralität überwunden habe. Das
Überwinden der Zentralität ist aber ein Akt der Reflexion. Was sich mir beim Anblick
der Katze mit intuitiver Evidenz erschließen kann, dass sie nämlich Schmerzen emp-
findet, hat dennoch epistemologisch zur Voraussetzung, dass ich in einem Akt der
Reflexion meine eigene Zentralität durch die Übernahme einer Außenperspektive
verlassen habe und mir als schmerzempfindungsfähiges Wesen selbst zum Gegen-
stand geworden bin. Dies ist die conditio sine qua non jeder Wahrnehmung fremder
Schmerzen als Schmerzen, d. h. als Negativität und damit als Selbstsein. Dass dies
dann in einem konkreten Wahrnehmungsakt nicht mehr über eine bewusste Refle-
xionskette geschehen muss, ist selbstverständlich, widerspricht aber nicht der Spae-
mann’schen Deutung, dass jeder Wahrnehmung von Selbstsein ein ursprünglicher
Reflexionsakt zugrunde liegt. Es kann keine ›präreflexive Wahrnehmung von Selbst-
sein‹ geben, weil das in dieser Wahrnehmung Wahrgenommene noch nicht als Selbst-
sein erkannt wäre. Kruse-Ebelings Darstellung zielt zwar auf den wesentlichen Sach-
verhalt, dass es eine der Katze und mir gemeinsame lebendige Zentralität geben muss
als Voraussetzung ihrer reflexiven Überwindung, aus der die Wahrnehmung von
Selbstsein erst hervorgehen kann, ihre Unterscheidung von ›einfacher‹ und ›meta-
physischer‹ Wahrnehmung verfehlt aber im Kern den Ansatz Spaemanns.
380
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.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
381
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Evolutionstheorie, 249–252.
38
Auf die zweite Stufe wird in Abschnitt 6.2.2, 392, auf die dritte in Abschnitt 6.3.1,
406, zurückzukommen sein.
39
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62.
382
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.
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken
40
Spaemann verweist in einer Fußnote zu der im Folgenden zitierten Textstelle auf
die ersten beiden Abschnitte des 9. Kapitels »Zeit« aus »Personen«.
41
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 41.
383
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
196–206.
384
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
46
Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
47 Vgl. Abschnitt 6.1.4, Leibniz: Ontologie sub specie Dei, 351–361.
49 Ebd. 112.
50 Ebd.
51 Ebd. 117.
52
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
53 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 51–52.
54
Ebd. 52.
385
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
386
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.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
– Vgl. dazu auch: Schröder, Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den
Sophisten bis Nietzsche.
64
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.
387
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
denz, die vergleichbar, ja noch fundamentaler ist als die Evidenz des-
sen, was wir meinen, wenn wir »Ich« sagen –, der brauchte keine wei-
teren Tugenden. Sein Handeln wäre der unfehlbare Ausdruck dieser
Evidenz. Das Wahre einzusehen heißt, ihm zuzustimmen. Das Gute
wirklich einsehen heißt, es wünschen. Tatsächlich aber besitzen die
meisten von uns eine solche geradezu mystische Evidenz nicht. 65
Gegenüber der sophistischen Argumentation macht Platon geltend,
dass »es ein koinon agathon, ein gemeinsames Gutes gibt, und dies
nicht nur als Resultat eines Kompromisses, solange die Kräfte sich die
Waage halten, sondern als spezifisches Interesse des vernünftigen
Menschen: ›Das Gute, wenn es an den Tag kommt, ist allen gemein-
sam.‹« 66 Da die Sophisten die entsprechende Evidenz nicht besaßen
und das gemeinsame Gute für eine Illusion hielten, stellt sich aller-
dings die Frage, was das Einswerden mit der erkannten Sache, um das
es beim platonischen Wissen geht, verhindern kann. »Der entschei-
dende Grund dafür […], daß wir das für uns Gute, d. h. Zuträgliche
nicht von Natur, d. h. von selbst wissen, liegt darin, daß unserer Natur
die Indirektheit des Selbstverhältnisses wesentlich ist.« 67 Damit spielt
Spaemann an auf die antike Vorstellung des Menschen als ζῷον πο-
λιτικόν, das erst wird, was es von Natur ist, indem es aus der Natur
heraustritt, also eine Sprache lernt und ein gesellschaftliches Wesen
wird. Die Natur des Menschen ist es, so könnte man pointiert formu-
lieren, den Antagonismus der Natur zu überwinden:
Die Schlüsselstelle für die Aufhebung des Antagonismus der Natur, in
welcher Fressen natürlich, Gefressenwerden aber unnatürlich ist, ist
das Gespräch des Sokrates mit Polos im »Gorgias«, wo Sokrates den
Satz verteidigt: »Wie das Handelnde handelt, so leidet das Leidende«
(476 d). Daß dies für die Härte des Schlagens, die Hitze des Brennens
und die Schärfe des Schneidens gilt, das gesteht jedermann leicht zu.
Aber daß Polos zugesteht, es gelte auch für die Gerechtigkeit, also
Schönheit, also Gutheit des Strafens, damit ist er nach Ansicht des
Kallikles in die Fußangeln getappt, die Sokrates ihm gelegt hat. Denn
hier habe Sokrates gerade den Nomos der Natur mit dem von Men-
schen gemachten Nomos fälschlich identifiziert. 68
65 Spaemann, Disziplin und das Problem der sekundären Tugenden (1988), 251–252.
66
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.
67 Ebd. 121.
68
Ebd. 122–123.
388
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.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
Sokrates’ Anliegen ist jedoch nicht eine bloße Identifikation des von
Menschen gemachten Nomos mit dem Nomos der Natur, sondern
eine analoge Interpretation jenes durch diesen. Die vernünftige Ein-
sicht in die mögliche Gerechtigkeit des Strafens enthält den Gedan-
ken eines gemeinsamen Guten, der sich über den hedonistischen Kal-
kül erhebt: »Bedenke aber, o Kallikles, ob nicht das Edle und Gute
etwas anderes ist als retten und sich retten lassen.« 69 Der Antagonis-
mus der Natur hebt sich also deswegen auf, weil die Natur des Men-
schen die Vernunft ist:
Das An-den-Tag-Kommen des für alle gemeinsamen Guten heißt:
Vernunft. Und insofern Vernünftigkeit zur Natur des Menschen ge-
hört, ist die Aufhebung des natürlichen Interessenantagonismus nicht
unnatürlich. Vernunft ist nicht identisch mit Natur. Aber erst das Ver-
nünftige ist auch das An-den-Tag-Kommen der Wahrheit über das
Natürliche, und dieses An-den-Tag-Kommen liegt selbst in der Teleo-
logie der Natur. Natürliches als bloß Natürliches verhält sich antago-
nistisch zu anderem Natürlichen. Aber die Wahrheit über das Natür-
liche ist eine gemeinsame, und wo natürliche Wesen als vernünftige
an dieser Wahrheit Interesse nehmen, da hebt sich der unmittelbare
Antagonismus auf. 70
Es ist also gerade Kennzeichen teleologischer Verfasstheit für ein sei-
ner selbst bewusstes Wesen, dass in ihm eine Spannung besteht zwi-
schen dem Natürlichen und dem Vernünftigen, die so zu verstehen
ist, dass das Natürliche erst eigentlich zu sich kommt im Vernünfti-
gen. Die Vernunft selbst ist Ausdruck der Teleologie der mensch-
lichen Natur. »Dieser platonische Grundgedanke ist nicht irgendein
philosophischer Gedanke, es ist der Gedanke, der die Philosophie kon-
stituiert.« 71 Im Folgenden muss es nun um die Frage gehen, wie dieser
platonische Grundgedanke in der Moderne aktualisiert werden kann,
wobei zugleich die Frage mitgemeint ist, wie sich Philosophie in die-
sem fundamentalen Sinn überhaupt unter den Bedingungen neuzeit-
lichen Denkens aktualisieren lässt.
Spaemann weist darauf hin, dass dieser Grundgedanke immer
wieder bestritten wurde, und führt als Beispiel aus der Philosophie
des 20. Jahrhunderts Michel Foucault an:
69 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20. – Vgl. Platon,
Gorgias, 512 d 5.
70 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.
71
Ebd.
389
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
72 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »Die Ordnung des Diskurses«, Frank-
furt am Main 1979, S. 39.
73 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: S. 36/37. – Vgl. Foucault, Die Ord-
75
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.
390
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
76 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
77
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 126.
391
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
Wendung ἐπέκεινα τῆς οὐσίας Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung
in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 581, u. Einleitung zu Kapitel 9, Zur
Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 654, Fn. 16.
81 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
41–42.
392
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
82 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
83 Vgl. Kant, KrV, B 626–627.
84
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62.
85 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132.
86
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20.
393
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
nunft mit der Metapher »Erwachtsein zur Vernunft« 87, hebt anderer-
seits hervor, dass die diese Vernunft kennzeichnende »Umkehr der
Perspektive« 88 die Überwindung der instrumentellen Vernunft, das
»Verlassen der rein theoretischen Einstellung« 89 bedeutet:
Denn in dieser bleibt der andere unvermeidlich immer Gegenstand,
der sich im Verhältnis zum vergegenständlichenden Subjekt definiert.
Etwas nicht als Gegenstand, sondern als schlechthin wirklich, als
Selbstsein realisieren, das ist das, was in der Sprache der philosophi-
schen Tradition vernünftige Liebe oder amor benevolentiae heißt.
Amor benevolentiae im Unterschied zum amor concupiscentiae inten-
diert nicht primär Vereinigung, sondern er vereinigt, indem er distan-
ziert. Er läßt das Für-sich-Sein des anderen für mich sein. Jede natura-
listische Deutung dieser Transzendenz ist notwendigerweise eine
reduktionistische Umdeutung. […] Vernünftige Liebe im Sinne des
amor benevolentiae läßt erst Wirklichkeit für uns entstehen und mit
ihm einen Nomos, der gerade in dem Maße natürlich ist, wie er nicht
von Natur ist. Daß er göttlich sei, diese Formel drückt nur aus, daß er
den endlichen Perspektivismus verläßt, indem er ihn enthüllt und
allem Endlichen seine eigene Perspektive zugesteht. 90
Die im Begriff der Anerkennung sich kristallisierende Aktualisierung
des Grundgedankens der platonischen Philosophie wird also durch die
der antiken Tradition unbekannte wirklichkeitserschaffende Kraft der
vernünftigen Liebe realisiert, die den subjektphilosophischen Per-
spektivismus aufhebt.
Für das Verständnis von Spaemanns metaphysischer Konzeption
ist es nach meiner Überzeugung entscheidend, den Zusammenhang
der beiden Seiten des Natürlichen und des Vernünftigen festzuhalten
und ihn nicht, was vielleicht naheliegend erscheinen könnte, zur Seite
des Vernünftigen als des vermeintlich eigentlich Menschlichen hin
aufzulösen. Das Argument für die unaufhebbare Bedeutung des Na-
türlichen lässt sich wiederum in zwei Richtungen wenden: Erstens ist
das Natürliche der Ursprung der Bewegung, die zum Vernünftigen
hinführt:
Natur prinzipiell unter der Form der Selbsttranszendenz – also teleo-
logisch – verstehen ist nun auch die Bedingung dafür, daß sie als Me-
394
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
91 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 35.
92 Ebd.
93 Ebd.
94 Ebd.
95 Ebd. 36.
96
Ebd.
97 Ebd. 37.
98
Ebd. 35.
395
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
396
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz
397
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
104
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf die Einleitung zur »Phänomenologie
des Geistes«.
105
Spaemann, Einleitung (1983), 13.
398
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie
399
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
phie partiell aus der Kritik aus: »Wo Kant den Begriff des Dinges an sich über die bloße
Grenzbestimmung eines Gegenstandes überhaupt, eines x hinaus bestimmt, da be-
stimmt er es als Freiheit. Freiheit rückt in die Leerstelle, die in der ›Kritik der reinen
Vernunft‹ durch den Begriff des Dinges an sich geschaffen wurde. Sein ist nur in-
sofern ein Gegenstand der Erkenntnis, als es ein Korrelat des in jedem Erkenntnisakt
implizierten Aktes der Anerkennung ist.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Wor-
te »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43. – Er expliziert seine Kritik am Beispiel
Heideggers: »Auch Heidegger bleibt in ›Sein und Zeit‹ noch in diesem transzendental-
philosophischen Ansatz stecken. Er gewinnt den Gedanken des Seins – den er insofern
durchaus noch als eine Art transzendentalen Begriff konzipiert – durch eine Analyse
des Seins des nach dem Sein fragenden Daseins, bestimmt aber dann das Sein des
innerweltlich Begegnenden, insofern es sich nicht um Menschen handelt, als Zuhan-
denheit bzw. Vorhandenheit statt Mitsein. Beim späteren Heidegger kehrt sich diese
Sicht allerdings um, und die Dinge beginnen zu ›dingen‹. D. h. ihr Sein wird nach
Analogie des menschlichen Daseins als Vollzug ihres So-Seins gedacht. Das So-Sein
ist diesem Vollzug nicht vorgeordnet, sondern ist selbst nur eine Weise des Seins, sich
anwesend zu machen. Hier scheint mir allerdings die Transzendentalphilosophie un-
mittelbar in Mythologie umzuschlagen, und zwar deshalb, weil Heidegger bei der
Bestimmung des Dinges den klassischen Begriff der physis übergeht und das Sein
der Dinge daher doch weiterhin an die Lichtung des Seins im Menschen bindet.« –
Ebd. 43–44.
110 Vgl.: »Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist das
Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität, so dass das diesen
Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes selbst als ein Seiendes vorkommt,
als res cogitans. Es ist ›an sich‹, dass ich ›für mich‹ bin, und das heißt: Es ist für jedes
Denken, dass ich für mich bin, d. h. denke!« – Ebd. 40.
111
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 9, 87, 144: »Personen gibt es nur im Plural.«
400
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie
112 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
44.
401
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.3 Der metaphysische Hintergrund der Religions-
philosophie und der philosophischen Ethik
402
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit der
metaphysischen Konzeption
gen, hrsg. von G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 159. – Ebd. 231.
403
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
404
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit
341.
12
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351,
bes. 350–351.
13
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.
405
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
406
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
zendenz der Welt als Ganzes haben sollte, außer jener, in der Welt
selbst deren Sinn zu vergegenwärtigen. Aber das ist selbst schon eine
religiöse Antwort, denn es setzt voraus, daß es mit den Tatsachen der
Welt noch nicht abgetan ist. 17 Dies »sehen« heißt für Wittgenstein,
»an einen Gott glauben«. 18
Nach Spaemann ist nun gerade »die Struktur von Antizipation auf
irgendeine Weise in der generellen Struktur der Natur vorgezeich-
net« 19, die, weil sie keine Funktion mehr erfüllt, das Unbedingte in
der Weise der Repräsentation vergegenwärtigt. Die um die Kern-
gedanken von Anerkennung und Repräsentation aufgebaute meta-
physische Konzeption Spaemanns kann somit als mögliche Ausprä-
gung des gesuchten kognitiven Interpretationsinstrumentariums für
die Wahrheitsansprüche der christlichen Religion aufgefasst werden.
19 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 34.
21
Ebd.
22 Ebd. 12.
23
Ebd.
407
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
24
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 14.
25 Ebd. 21.
26 Ebd. 20.
27 Ebd. 25.
28 Ebd. – Vgl. zu dem hier angedeuteten Gedankengang auch die wesentlich differen-
ziertere Darlegung in Spaemanns Vortrag »Die zwei Grundbegriffe der Moral«, s. Ab-
schnitt 5.3.2, Das Absolute in ethischer Perspektive, 304–313.
29
Ebd. 29.
30 Ebd. 31.
31
Ebd. 34.
408
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
32
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 43.
33 Ebd. 37.
34 Ebd. 42.
35 Ebd.
36 Ebd. 48.
37 Ebd. 49.
38 Ebd. 48.
39
Ebd. 49.
40 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz:
409
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
ist, darum sprechen wir von der Würde des Menschen und aus keinem
anderen Grunde. 41
Mit dem Begriff des Gewissens ist keine über den ethischen Grund-
gedanken der Öffnung für die Wirklichkeit hinausgehende Hyposta-
sierung des Absoluten im Menschen intendiert: »Gewissen ist der
Ruf zur Aufmerksamkeit.« 42 Dieser Ruf ist unendlich und darum
nicht erfüllbar, ihm entspricht auf menschlicher Seite die Liebe:
Es ist eine Haltung der grundsätzlichen Bejahung der Wirklichkeit.
Aus ihr entspringt ein universelles Wohlwollen, für das wir selbst
nicht mehr im Mittelpunkt der Welt stehen, das sich aber sehr wohl
auch auf uns selbst erstreckt: man muß mit sich selbst in Freundschaft
leben, um gut zu leben. Gemessen an diesem Maßstab der Liebe aller-
dings sind wir alle nur bedingt gut. 43
Es besteht daher eine unaufhebbare Unzulänglichkeit des Menschen
gegenüber der Wirklichkeit, der er immer nur teilweise gerecht wer-
den kann, wobei diese Unzulänglichkeit als Kontingenzerfahrung be-
wusst ist, angesichts deren der aus der mittelalterlichen Mystik stam-
mende Begriff der Gelassenheit für Spaemann die einzig vernünftige
Antwort enthält: »Unter Gelassenheit verstehen wir die Haltung des-
sen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines
Handelns in sein Wollen aufnimmt, der die Grenzen akzeptiert.« 44
Es geht Spaemann in »Moralische Grundbegriffe« nicht um eine
metaphysische Fundierung seiner Thesen, sondern unter Berufung
auf ein intuitiv Selbstverständliches um die theoretische Wider-
legung von Argumentationen, die dieses in Frage stellen, und um
praktische Aussagen zum gelingenden Leben. Daher hängen wesent-
liche, in diesem Text einfach gesetzte Prämissen gewissermaßen in
der Luft, wenn man ihn isoliert betrachtet. Liest man die »Mora-
lischen Grundbegriffe« jedoch vor dem Hintergrund der im vorigen
Abschnitt dargelegten metaphysischen Konzeption Spaemanns, wird
klar, dass diese Prämissen in ihr eine Fundierung finden. Ich greife
zur Verdeutlichung hier nur die wichtigsten Prämissen und die ihnen
entsprechenden Momente der metaphysischen Konzeption heraus.
Als erste Prämisse kann die moderne Aktualisierbarkeit von Positio-
410
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.
6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
45Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 396–397.
411
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.
6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie
habe es keinen Sinn zu fragen, was man von der Freude hat. »Von der
Freude hat man nämlich nichts, sondern etwas von etwas haben, das
heißt eben: sich darüber freuen. Mehr als Freude kann man nicht von
etwas haben.« 46 Dieses fundamentale Verständnis der Freude könnte
man als idealistische Überhöhung abtun und die Macht der Abstrak-
tion entgegenstellen in dem Sinne, dass ein Wissen, wie jede Freude
beliebig generierbar ist, mehr ist als bloße Freude. So kommentiert
Mephisto im zweiten Teil des »Faust« das von ihm zum Zwecke gren-
zenloser Wunscherfüllungen am Kaiserhof eingeführte Papiergeld
mit den Worten:
Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat;
Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen,
Kann sich nach Lust in Lieb’ und Wein berauschen. 47
Die Entgegnung, wonach es hier nur um Lust, nicht um Freude gehe,
könnte ihre Entkräftung in der Betonung des Interesses an der Wirk-
lichkeit finden, das aber gegenüber dem kritisierten Begriff der Freu-
de noch einmal beliebig gesteigert werden kann. Zu wissen, welche
Freuden man sich jederzeit generieren kann, wäre in dieser Logik
mehr als die bloße Freude, die man nur als Geschenk empfangen
kann. Auch wenn also zugestanden würde, dass man nicht mehr als
Freude von etwas haben kann, kann man doch, so der Einwand,
immer noch mehr Freude haben. Um gegen diesen Einwand wirksam
zu argumentieren, müsste ein Argument, das in den »Moralischen
Grundbegriffen« erst anklingt, ausgebaut und systematisch entfaltet
werden. Spaemann erwähnt »die Tatsache, daß kein Mensch sich über
seine egozentrische Sicht der Welt völlig erhebt« 48, und spricht in
diesem Zusammenhang von einer Schuld, die einen noch unbe-
stimmten Status hat, »weil die Unaufmerksamkeit, die dem Bösen
zugrunde liegt, gerade auf einer Verdrängung beruht« 49. Wie ich mei-
ne, liegt hier die Wurzel eines in Spaemanns ethischem Denken der
80er Jahre noch offenen Problems, das er dann in »Glück und Wohl-
wollen« durchdenken wird.
Es zeigt sich hier eine gewisse Parallele zwischen den Grundpro-
blemen der theoretischen und der praktischen Philosophie. Mit Bezug
412
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.
6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus
53
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11.
413
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung
der eudämonistischen Ethik
415
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
3
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330–331.
4 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17.
5
Ebd. 21.
416
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
9
Ebd.
10 Ebd. 150.
11
Ebd. 150–151.
417
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
12 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 393–396.
13 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 282.
15
Ebd. 112.
16 Ebd.
17
Ebd.
418
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
ten Bedeutung – und damit der Einheitspunkt von Ethik und Meta-
physik – ist in der Evidenz der Wahrnehmung fundiert, womit eine
bestimmte Perspektivierung ihres Gegenstandes zum Prinzip der
praktischen Philosophie wird: »Nur wo Seiendes als unbezüglich, als
Selbstsein wahrgenommen wird, gewinnt der unbezügliche Gebrauch
des Wortes ›gut‹ seinen Sinn.« 18 Diese erste Beobachtung, dass in
einem publizierten und damit auf den philosophischen Diskurs aus-
gerichteten Werk über Ethik die argumentative Letztbegründung
18
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 112–113. – Vgl. dazu E. Levinas’ Kon-
zept der ›Exteriorität‹ : »Weil es Gegenwart der Exteriorität ist, wird das Antlitz nie-
mals Bild oder Intuition. Alle Intuition hängt ab von der Bedeutung, die nicht auf die
Intuition zurückgeführt werden kann. Diese Bedeutung kommt von weiter als die
Intuition, und sie allein kommt von weit her. Die Bedeutung, die nicht auf Intuitionen
zurückgeführt werden kann, hat ihr Maß am Begehren, an der Moral und an der Güte
– sie ist eine unendliche Forderung, die an mich gerichtet ist, oder Begehren des
Anderen oder Beziehung mit dem Unendlichen.« – Levinas, Totalität und Unendlich-
keit, 431. – Ungeachtet der im Gedanken der Wahrnehmungsevidenz anklingenden
Nähe Spaemanns zu Levinas’ Begriff der ›Exteriorität‹ zeigt sich in dem von Spae-
mann behaupteten Zusammenhang von Ethik und Metaphysik, die bei ihm ganz im
Gegensatz zu Levinas ein Synonym für Ontologie ist – vgl. Spaemann, Glück und
Wohlwollen (1989), 11 – zugleich das Trennende zwischen beiden Denkern. Im Vor-
wort zur zweiten Auflage von »Reflexion und Spontaneität« aus dem Jahre 1990 stellt
Spaemann einen Zusammenhang zwischen dem Denken Levinas’ und dem amour-
pur-Streit her: »Inzwischen fordert Emmanuel Levinas mit einer jüdischen Variante
des amour pur systemtheoretische Ontologie, naturalistische Philosophie des Geistes
und die im Begriff der Sorge kulminierende Daseinsanalyse heraus. Seine These von
der theoretischen Uneinholbarkeit des Anderen und vom radikalen Primat der Ethik
vor der Ontologie setzt in kritischer Absicht das gleiche Paradigma der Selbstbehaup-
tung voraus, von dem nun gesagt wird, es liege aller europäischen Ontologie zugrun-
de. Wenn es sich so verhält, dann wäre es in der Tat besser, die Wahrheit au-delà de
l’être zu suchen. Mein Vorschlag, die Prämisse in Frage zu stellen und den Gedanken
der Teleologie auf anfänglichere, nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken, ist bisher
überwiegend auf höfliche Skepsis gestoßen. Ich sehe zwar nicht, wie ohne einen sol-
chen Neuanfang die Dialektik der zwei Kulturen, die eskalierende Dialektik von Na-
turalismus und Spiritualismus zum Stehen gebracht werden kann, die die Humanität
unserer Zivilisation in der Tiefe bedroht. Aber noch übertrifft offenbar der Schrecken
vor den theoretischen und praktischen Folgelasten einer solchen Revision die Sorge
vor dem, was von selbst geschieht, wenn weiter gedacht wird wie bisher.« – Spae-
mann, Reflexion und Spontaneität (1963), 13–14. – Spaemann versteht Levinas’ Kon-
zept der ›Exteriorität‹ selbst noch als dialektische Gegenbewegung gegen das durch die
Invertierung der Teleologie freigesetzte ›Paradigma der Selbstbehauptung‹. Indem
Spaemann die Prämisse der Entteleologisierung in Frage stellt, geht er hinter den
Gegensatz von ›Selbstbehauptung‹ und ›Exteriorität‹ zurück und kann im Gegensatz
zu Levinas in der Wahrnehmung des Anderen gerade den weiterhin unverlorenen
Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik bzw. Ontologie sehen.
419
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
19Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 393–396.
420
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
dass sie sich auf die Fundierung des die Beweisforderung einschlie-
ßenden Denkens in einer vorgängigen Wahrnehmungsevidenz be-
ruft. Im Bereich der praktischen Philosophie ist damit die prinzipielle
Möglichkeit einer das diskursive Denken selbst noch einmal begrün-
denden Argumentation denkbar. Dies allein ist noch nichts anderes
als das, was sich bereits im kantischen Dualismus einer auf ihre Gren-
zen reflektierenden theoretischen und einer im sittlichen Gebot das
Unbedingte denkenden praktischen Vernunft gezeigt hatte. Dem-
gegenüber ist es der entscheidende Schritt, den Spaemann mit »Glück
und Wohlwollen« gehen will, dass er in seiner spezifischen Perspek-
tivierung die Identität von theoretischer und praktischer Philosophie
zu denken versucht, wodurch die theoretische Aporie in eins mit dem
sittlichen Schlüsselproblem des Solipsismus überwunden wird. Die
wahrgenommene Evidenz von Selbstsein wird nicht nur zum Aus-
gangspunkt der praktischen Philosophie, sondern durch sie vermittelt
auch zu einer Position der theoretischen Philosophie, indem der Ge-
danke des Sprungs zurückgewiesen, der Spieß umgedreht und die den
Sprung erst nötig machende Beweisforderung aus dieser Perspektive
suspendiert wird. Wesentlich für diesen Ansatz ist die durchgängig
einheitliche perspektivische Ausrichtung aller gedanklichen Linien
auf die Wahrnehmungsevidenz. Diese ist gewissermaßen der Nukleus
aller Gedanken sowohl der theoretischen als auch der praktischen
Philosophie: »Ethik geht so wenig der Ontologie als erste Philosophie
vorauf wie diese jener. Ontologie und Ethik werden durch die Intui-
tion des Seins als Selbstsein – des eigenen ebenso wie des andern –
uno actu konstituiert.« 20 Um im Folgenden gemäß dieser veränderten
Zielsetzung Spaemanns die zentralen Gedankenlinien von »Glück
und Wohlwollen« nachvollziehen zu können, müssen daher mit der
ethischen Konzeption des als Aktualisierung des Eudämonismus ver-
standenen Wohlwollens auch die von ihr nicht abtrennbaren onto-
logischen Implikationen beleuchtet werden. Letztlich geht es damit
um die Prüfung der Leistungsfähigkeit dieses auf den Einheitspunkt
von Ethik und Ontologie ausgerichteten Ansatzes und um die Refle-
xion auf seine Grenzen.
Abschließend sei nun ein Ausblick gegeben auf die hier gewählte
Struktur, mit der die für den Zusammenhang dieser Arbeit wesent-
lichen Gedankenlinien aus »Glück und Wohlwollen« dargelegt wer-
den sollen. Die Untersuchung teilt sich zunächst in zwei Hauptteile,
20
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11.
421
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
422
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
423
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7.1 Eudämonismus und Pflichtethik
1
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 85.
424
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.
7.1.1 Εὐδαιμονία
7.1.1 Εὐδαιμονία
425
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
9
Ebd. 19.
10 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 a 1.
11
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 223.
426
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.
7.1.1 Εὐδαιμονία
427
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Wohl aber ist es möglich, dass der Mensch sich irrt in Bezug auf
dieses immer schon vorgefundene Umwillen 17 und dass seine subjek-
tiven Handlungsziele zu ihm in einen Gegensatz treten. Bevor diese
Problematik weiterverfolgt werden kann, muss nun der Begriff, mit
dem in der antiken Philosophie dieses Umwillen bezeichnet wurde, in
seiner Bedeutung entfaltet werden: εὐδαιμονία.
Eudämonistische Ethiken sind im allgemeinen Verständnis sol-
che, die in der Glückseligkeit das Ziel des menschlichen Handelns
bzw. im Streben nach Glückseligkeit den Grund der Sittlichkeit
sehen. Der Gedanke lässt sich folgendermaßen konkretisieren:
»Alle Menschen möchten glücklich sein.« In diesem Satz drückt sich
die gemeinsame Überzeugung aus, auf der alle antiken Lehren vom
richtigen Leben beruhen, wie unterschieden sie im übrigen auch sein
mögen. Alle Menschen wollen, daß ihr Leben gelingt. Weiter geht die
zweite These, daß alle Menschen alles, was sie sonst wollen, letzten
Endes um dieses Zieles willen wollen. Die dritte, im engeren Sinne
»eudämonistische« These besagt dann, daß die Richtigkeit und Ver-
kehrtheit menschlicher Handlungen sich letzten Endes danach beur-
teilt, ob sie geeignet sind, dieses Ziel zu fördern oder nicht. 18
Als Grundgedanke des Eudämonismus kann man also zunächst he-
rausstellen, dass es eine hierarchische Überordnung eines Lebens-
zieles über partikulare Ziele gibt und dass diese sich nur am Maßstab
von jenem beurteilen lassen. Spaemann weist auf die mit diesem
Grundgedanken bereits gesetzten Implikationen hin:
Er impliziert erstens, daß Leben überhaupt so etwas wie ein Ganzes
sein kann oder daß es zumindest darum geht, es als ein solches Ganzes
begreifen zu können. Er impliziert zweitens, daß das Verkehrte im
moralischen, das heißt auf das »gemeinsame Ziel des ganzen mensch-
lichen Lebens« bezogenen Sinn auf Mangel an Einsicht in die Bedin-
gungen des Gelingens beruht. […] Die dritte Implikation schließlich
ist, so scheint es, daß im moralischen Sinne schlechte Handlungen
»falsche Handlungen« sind, also gar keine wirklichen Handlungen,
weil wir mit ihnen nicht das tun, was wir tun wollen. 19
19
Ebd. 22.
428
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.
7.1.1 Εὐδαιμονία
24 Ebd. 33.
25 Ebd.
26
Ebd. 34.
27 Ebd. 35.
28
Ebd.
429
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
29
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35.
30 S. ebd. 35–41.
31
Ebd. 36.
32 Ebd. 37. – Der klassisch verstandene antike Eudämonismus klammert die Möglich-
keit einer egozentrischen Vorstellung vom Gelingen des Lebens aus. Vgl.: »[E]xterne
Kosten für das Gelingen des Lebens« könnte es nur als Kosten geben, »die andere zu
tragen haben in Gestalt einer Minderung ihres Lebens«. – Ebd. 38. – Dieser Einwand
zielt aber am Grundgedanken des Eudämonismus vorbei, dem es gerade darum geht,
»alle externen Kosten zu verinnerlichen und so den Begriff einer eudaimonia zu den-
ken, die als Inbegriff des Gelingens keinen Preis mehr hat«. – Ebd.
33 Ebd. 38.
34
Ebd.
430
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.
7.1.1 Εὐδαιμονία
durch die Absicht definiert wäre, das Leben gelingen zu lassen, ohne
irgendeine besondere partikulare Absicht.« 35 Das Missverständnis,
um das es hier geht, ist somit die »Instrumentalisierung der beson-
deren Inhalte des guten Lebens« 36. Demgegenüber ist es wichtig fest-
zuhalten,
daß die Inhalte des guten Lebens sich zu diesem nicht verhalten wie
bloße Mittel, sondern eher wie die Teile zu einem Ganzen. Im Zweck-
Mittel-Verhältnis ist der Zweck unabhängig von den Mitteln definier-
bar und bestimmt als solcher die Suche nach den Mitteln. Was ein
gelungenes Leben ist, wissen wir hingegen nicht unabhängig von den
Inhalten, die dieses Leben ausmachen. Diese Inhalte werden durch die
Hinordnung auf ein solches Ganzes nicht zu »Mitteln« funktionali-
siert und dadurch prinzipiell austauschbar gemacht. 37
Diese beiden Missverständnisse des Begriffs der εὐδαιμονία können
als fundiert verstanden werden im »Doppelsinn des Begriffes ›Ziel‹,
telos«, der im Rahmen dieser Arbeit zuerst bei der Betrachtung von
Platon und besonders Aristoteles in »Natürliche Ziele« thematisiert
wurde: 38 die Unterscheidung zwischen finis quo und finis cuius. Es
geht dabei um die fundamentale Unterscheidung zwischen vom Men-
schen gesetzten Zielen und vorgefundenen Zielen:
Bestimmte Handlungsziele verweisen zunächst auf fernere Ziele, um
derentwillen sie als Mittel gewollt werden. Aber auch wenn wir ein
letztes Ziel ins Auge fassen, bleibt immer noch die Differenz zwischen
diesem und demjenigen, »dem zuliebe« wir das Ziel zu erreichen wün-
schen. Wenn wir das Gelingen des eigenen Lebens wünschen, so
handelt es sich um ein äußeres Ziel. Wem aber, oder wem zuliebe
wünschen wir die Erreichung dieses Zieles? 39
Die Antwort des Aristoteles besteht, wie oben bereits gesehen, 40 in
der μέθεξις, der ›Teilnahme‹ am Göttlichen. Ein anderes Umwillen
des übergreifenden Zieles des gelingenden Lebens ist nicht denkbar,
35
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 38.
36 Ebd.
37 Ebd. 39.
sion, 231–232; Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277; Abschnitt
5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–290, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphy-
sisch-analoge Denken, 376.
39
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35.
40 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 225–233.
431
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
was hier als erster Hinweis auf die religiöse Dimension der Frage nach
dem Gelingen des Lebens festgehalten werden sollte. 41 Die beiden zu-
erst erörterten Missverständnisse sind eine direkte Folge der Tat-
sache, dass der Gedanke des Gelingens des Lebens für den Menschen
nicht noch einmal operationalisierbar ist, was darin begründet ist,
dass es auf die Frage nach dem Umwillen dieses Gelingens keine an-
dere als eine im weitesten Sinne religiöse Antwort geben kann.
Das Erschließen der konkreten Bedeutung des mit dem Begriff
der εὐδαιμονία eröffneten Horizonts für den Handelnden wird also
dadurch erschwert, dass der begrifflichen Annäherung eine kaum
überwindbare Abstraktheit anhaftet: »Der ›Eudämonismus‹ nennt
nicht ein bestimmtes inhaltliches Um-willen des Lebens, sondern
stellt eine bestimmte Reflexionsform dar, aus der ein solches Um-
willen erst entspringt.« 42 Εὐδαιμονία ist ein »bestimmter, reflexiv
gewonnener Inbegriff, der alles Wünschbare in seiner Vielfalt zu
einer wünschbaren Ganzheit zusammenwachsen läßt« 43. Insofern
also der begrifflichen Annäherung an ihn offenbar Grenzen gesetzt
sind, wählt Spaemann zu seiner konkreteren Erhellung ein Verfah-
ren, das Verhältnis von Handlungen und Handlungszweck in einem
bestimmten Lebensbereich als Modell des Lebens im Ganzen zu ver-
stehen: »Aber das Gelingen des Lebens hat vielleicht etwas damit zu
tun, daß es uns gelingt, es als Ganzes nach Analogie eines Spiels zu
verstehen.« 44 Konkret denkt Spaemann dabei an das Schauspiel, in
dem »das Ganze von Handlung und Handlungszweck in Klammer
gesetzt und als dieses Ganze ›gezeigt‹« 45 wird. Die Handlung, die der
Schauspieler auf der Bühne zeigt, ist einerseits »konstituiert durch
ihren unmittelbaren Zweck«, andererseits aber ist »dieser Zweck
[…] nicht mehr ihr Grund. Grund ist vielmehr, daß sie gesehen wer-
den soll« 46. Das »tertium comparationis dieser Analogie von Leben
und Schauspiel« 47 besteht nach Spaemann nun darin, dass
43 Ebd. 28.
44 Ebd. 41.
45
Ebd. 42.
46 Ebd.
47
Ebd.
432
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7.1.1 Εὐδαιμονία
jede Handlung, wenn sie aufs Gelingen des Lebens als ein Ganzes be-
zogen und von daher beurteilt wird, von der unmittelbaren Fixierung
auf ihren Zweck abgelöst und mit diesem zusammen als Teil des Ge-
lingens von etwas anderem betrachtet wird, einmal des Spiels und ein-
mal des Lebens. Und dabei verlagert sich der Sinn der Handlung auf
sie selbst, auf ihr Stattfinden. Dies wird wichtiger als der unmittelbare
Zweck. Diese Verwandlung gilt in einem viel radikaleren Sinn für das
Leben als für das Theater. 48
Wie das Handeln des Schauspielers ist jedes menschliche Handeln,
das in seinem Bezug auf das Gelingen des Lebens betrachtet wird,
letztlich symbolisch. 49 Es ist nicht nur bloßes Handeln, sondern
immer zugleich auch ein rituelles: 50
Handlungen auf das Gelingen des Lebens als ganzes beziehen heißt,
sie genau das sein und bleiben zu lassen, was sie sind, und ihre intentio
recta nicht durch eine intentio obliqua, wie die des Zeigens im Theater
zu »entwirklichen«. Es wird ihnen vielmehr eine neue, höhere Dimen-
sion hinzugefügt, durch die die intentio recta relativiert wird, ohne
ihre Realität zu verlieren. Es kommt nicht mehr unbedingt auf die
Erreichung des handlungskonstituierenden Zweckes an, sondern auf
die richtige Handlung. Sie soll wirklich stattfinden, und nicht bloß
ihr Schein. Denn beim Gelingen des Lebens geht es um einen absolu-
ten Zuschauer, der durch keinen Schein zu täuschen ist. 51
Da diese Analogie von Leben und Schauspiel als die konkreteste Fas-
sung des antiken Begriffs der εὐδαιμονία gelten muss, die Spaemann
zu seiner Erhellung gibt, muss hier noch einmal gefragt werden, was
diese Fassung leistet bzw. welche Fragen sie offenlässt. Einerseits ist
dieses Gleichnis, wie man es mit einigem Recht nennen könnte, 52 so-
lange als tertium comparationis die Ablösung der jeweiligen Hand-
433
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
selseitig die Bedeutung erhellen, die ausdeutend direkt hinzugefügt wird«. – Wilpert,
Sachwörterbuch der Literatur, s. v. Gleichnis.
53 Diese Problematik lag dem Streit zwischen Fénelon und Bossuet über den amour
pur zugrunde, insofern jeder eudämonistische Lohngedanke aus Fénelons Sicht die
reine Liebe zerstören müsste, welche Konsequenz Bossuet ebenso dezidiert ablehnte.
– Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–184.
54
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 44.
55 Ebd.
56
Ebd.
434
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.
7.1.2 Platonischer Intellektualismus und
aristotelischer Kompromiss
435
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
61
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 151.
62 Ebd. 17.
63
Ebd. 18. – Vgl. Platon, Hippias Minor, 376 c.
436
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
437
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
438
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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
In dieser Teilhabe aber ist der Mensch seiner selbst nicht Herr. Sie ist
eine Art Ekstase, eine Weise des Eros. Nicht im Sinne eines irrationa-
len Untertauchens, eines Außersichseins nach Art der poetischen In-
tuition, sondern als eine Ekstase der Vernunft selbst, die im Guten das
berührt, was als äußerstes Umwillen aller Wirklichkeit die Vernunft
selbst nicht ist, sondern das, was sie als ihren Grund und ihre höchste
Möglichkeit ergreifen kann. Gelingen des Lebens heißt, sich von die-
ser höchsten Möglichkeit ergreifen lassen, und dieses Sich-ergreifen-
Lassen heißt: Philosophie. 74
Der Gefahr des Abgleitens in eine der beiden Unfreiheiten entgeht
nach der platonischen Lehre damit allein der Philosophie Treibende,
und zwar durch eine äußerste Steigerung seiner menschlichen Mög-
lichkeiten, wobei sowohl die Frage nach der individuellen Begabung
als Voraussetzung einer solchen als auch die nach der Möglichkeit,
sich dauerhaft in einem solchen Zustand zu halten, keine Beachtung
finden. In bewusster Absetzung von Platon stellte Aristoteles diesem
Maximalismus »die Herabminderung des Glücksanspruchs und die
Überwindung der Antinomie durch den Kompromiß« 75 entgegen:
Aristoteles hat den Gedanken des philosophischen Glücks nicht auf-
geben wollen. Aber er hat gegen Platon eingewandt, das »Gute«, »Ei-
ne« und »Unbedingte« sei kein Maß, an dem das spezifisch mensch-
liche Gelingen des Lebens sich orientieren könne. Aristoteles lehnt es
ab, den Menschen als ein Wesen zu denken, dessen Leben nur gelingen
kann, wenn es sich von dem Unbedingten, das es selbst nicht ist, er-
greifen läßt und darin seine höchste Möglichkeit realisiert. So entwirft
er in der Nikomachischen Ethik die Hermeneutik eines Gelingens, das
sich an der Normalität, der conditio humana orientiert und an deren
Zweideutigkeit teilhat. 76
Der Mensch ist ein zweideutiges Wesen durch das Spannungsverhält-
nis zwischen seiner lebendigen Natur und seiner Vernunftbegabung.
Diese Zweideutigkeit zeigt sich im Nebeneinander einer Innenper-
spektive des Lebewesens und eines Blicks von außen auf dieses, deren
Vermittlung problematisch erscheint. Überall, wo Aristoteles be-
ginnt, über menschliches Glück nachzudenken, stößt er auf Para-
doxien. So ist Glück einerseits das »Erlebnis von Glück« aus der
Innenperspektive, andererseits nur von außen beurteilbares »Ge-
74
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 74–75.
75 Ebd. 74.
76
Ebd. 75.
439
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
lingen« 77. Der Begriff des Glücks scheint zu zerfallen in zwei unver-
mittelte Aspekte, wenn keine andere als die utopische Vermittlung
beider bei Platon gedacht werden kann.
Die Antwort des Aristoteles auf diese Paradoxien besteht darin, daß er
– im Unterschied zu aller sonstigen antiken Philosophie – zwei Weisen
der eudaimonia unterscheidet. Die eine ist im eigentlichen Sinne
menschlich, hält sich im Rahmen bürgerlicher Normalität und beruht
auf einem Kompromiß. Die andere ist radikal im Sinne der Plato-
nischen Vernunftekstase, und sie wäre vollkommen, wenn sie die con-
ditio humana hinter sich ließe und von dieser nicht immer wieder
eingeholt würde. 78
Aristoteles unterscheidet sich von Platon also nicht in der Bewertung
der Philosophie als »Vergegenwärtigung des Immerseienden«: »Theo-
ria ist selbstgenügsame, göttliche Tätigkeit und insofern eudaimonia,
Glückseligkeit im äußersten Sinne.« 79 Ihm geht es aber im Unter-
schied zu Platon um die Einbeziehung der conditio humana und da-
mit der oben erwähnten Fragen nach der individuellen Begabung und
der Dauerhaftigkeit der Vernunftekstase, die bei diesem ausgeklam-
mert sind. »Wenn Aristoteles […] gelingende theoria nicht mit
Gelingen des Lebens gleichsetzt, so deshalb, weil die philosophische
Kontemplation eben nicht das Ganze des menschlichen Lebens aus-
machen kann.« 80 Um nun die Tragweite der aristotelischen Unter-
scheidung zwischen einer menschlichen εὐδαιμονία und einer un-
bedingten zu verstehen, ist es wichtig, sich die »zweifache[…] Rolle«
zu vergegenwärtigen, »die die Vernunft im menschlichen Leben
spielt« 81:
Vernunft ist einerseits Organ der Lebensbewältigung, Organ, das un-
sere Praxis orientiert und strukturiert. Andererseits ist sie die Er-
öffnung einer Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des
Unbedingten, einer Dimension, die verschwinden würde, wenn man
sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung ver-
stünde. Die Eröffnung einer solchen Dimension des Unbedingten, des
Göttlichen durch die Vernunft veranlaßt aber Aristoteles, von ihr zu
440
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.
7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
sagen, sie sei nicht eigentlich ein Teil der menschlichen Seele, sondern
komme »von außen herein« (De gen. anim. 736 b). 82
Der Hinweis auf die Herkunft der Vernunft von außen – θύραθεν –
verdeutlicht, dass eine die Normalität der conditio humana berück-
sichtigende menschliche εὐδαιμονία nur auf einer praktisch vermit-
telten Vernunft aufgebaut sein kann. Die Antwort auf die Frage, was
für Aristoteles eine Hermeneutik des Gelingens und damit die Über-
windung der mit ihm verbundenen Paradoxien ermöglicht, ist daher
die menschliche Gemeinschaft der Polis:
Nur die Polis ist autarke Ganzheit, und nur in einem bestimmten Ver-
hältnis zu ihr kann von einem richtigen und gelingenden Leben die
Rede sein. Nur in diesem Verhältnis werden die anfänglichen Wider-
sprüche dieses Gedankens zu einer – relativen und prekären – Versöh-
nung geführt. So vor allem der Widerspruch zwischen einer Beurtei-
lung des Lebens aus der Innenperspektive des Erlebens einerseits und
aus der Perspektive des Nutzens für andere andererseits. Der Bürger
einer freien Polis lebt richtig, wenn sein Leben für seine Mitbürger, für
die Erhaltung und das Wohlergehen der Polis nützlich ist. […] Der
Bürger der freien Polis identifiziert sich mit der Polis so, daß die Nütz-
lichkeit für sie zugleich seine eigene Befriedigung bedeutet. 83
Der Antagonismus von Leben und Vernunft im Menschen, durch den
die Vermittlung von Innen- und Außenperspektive problematisch
wird, lässt sich nicht nur durch die platonische Vernunft-Ekstase
überwinden, sondern auch – orientiert an der menschlichen Norma-
lität – durch ein bestimmtes Verhältnis zum anderen Menschen:
Philia, Freundschaft, ist der Grundbegriff, der den Kern der politi-
schen Philosophie des Aristoteles bildet. Für die Freundschaft aber ist
es charakteristisch, daß die Innen- und Außenperspektive des eigenen
Lebens miteinander verschmelzen. Da der Freund zu meinem Leben
gehört, ist die Weise, wie er mich sieht, selbst Teil meiner eigenen
Wirklichkeit. Und nur in dieser Verschmelzung kann das Glück lie-
gen […]. 84
Der platonischen Überforderung des Menschen in einer dauerhaften
Vernunft-Ekstase stellt Aristoteles somit eine im eigentlichen Sinne
politische Philosophie entgegen, die neben der Entlastung des Einzel-
82
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 76.
83 Ebd. 77.
84
Ebd.
441
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
nen auch die Überwindung der Antinomien bewirkt, die mit dem Ge-
danken eines gelingenden Lebens verbunden sind. Das Ideal einer Mit-
te zwischen der Intentionalität alles Handelns und seiner Beziehung
auf den Horizont des Gelingens, das im Bild des Schauspiels vergegen-
wärtigt wurde, wird bei Aristoteles durch die Polis als das Medium ver-
wirklicht, in dem die normale menschliche Tätigkeit sich bewegt:
Menschliches Handeln ist intentional, und diese Intentionalität
scheint durch die Selbstthematisierung des Handelns vernichtet zu
werden. Andererseits scheint diese Selbstthematisierung doch unver-
meidlich zu sein, wenn wir das Gelingen des Lebens überhaupt thema-
tisieren wollen. Dieser Widerspruch hebt sich dann auf, wenn der Ge-
genstand der Intentionalität dem Handelnden so gegenübertritt, daß
er in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich bleibt oder zu sich zu-
rückkehrt. Eben dies ist wiederum in der Polis der Fall. 85
Es muss nun noch näher betrachtet werden, wie die Vermittlung von
Leben und Vernunft im Menschen durch die Polis konkret vorzustel-
len ist. Zwischen der Partikularität des Individuums und der Wirk-
lichkeit der Polis vermittelt die Tugend als »Selbst-Inbesitznahme«
des Einzelnen durch eine vernünftige »Antwort auf die Kontingenzen
des Daseins« 86: »Vernunft allein gewährleistet Autonomie. Tugend
aber ist jene auf Erziehung und Übung beruhende habituelle Disposi-
tion, die den, der sie besitzt, in Stand setzt, sich auf sich selbst als
vernünftig Handelnden zu verlassen und gegenüber anderen für sich
gerade zu stehen.« 87 Die in der Tugend begründete Autonomie des
Einzelnen ist aber »selbst noch einmal kontingent« 88, da sie erst er-
worben werden muss durch »richtige Erziehung« 89 und damit von der
Verwirklichung der Vernunft in der Polis abhängig ist.
Richtige Erziehung setzt wiederum die Polis voraus, »gute Gesetze«,
sagt Aristoteles. Das meint nicht nur geschriebene Gesetze, sondern
das Ganze einer in Sitten, Gewohnheiten und Gesetzen sich voll-
ziehenden gemeinsamen Lebensordnung. Eine solche auf Dauer ge-
stellte gemeinsame soziale Praxis ist diejenige Bedingung normalen,
richtigen Lebens, die dessen Paradoxien bis zu einem gewissen Grade
aufhebt, nämlich soweit es die conditio humana überhaupt zuläßt.
442
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.
7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss
90
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 80–81.
91 Ebd. 81.
92
Ebd. 23–24.
443
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
hebung der Vernunft, 118–121, u. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung der Bo-
nald’schen Denkens, 121–125.
96
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81.
444
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.
7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
102
Vgl. ebd. 77.
103 Ebd. 66.
104
Ebd. 67.
445
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
der ethischen Reflexion in der Antike lässt sich damit als ein Ringen
um eine mögliche Verortung des gelingenden Lebens verstehen:
Für Aristoteles ist die Polis jener Ort, der als Ersatz für die Ortlosig-
keit (utopia) des absoluten Gelingens »menschenmögliches Glück« er-
laubt. Seine Ethik ist Lehre von diesem Gelingen. Mit dem Ende der
autarken Polis aber wird die Philosophie zur Lehre vom utopischen,
absoluten Glück, sei es, wie bei Epikur, im radikalen Rückzug auf die
Endlichkeit, sei es, wie in der Stoa, in der Fiktion des Weisen, der alle
individuellen Interessen überwunden und sich als Medium reiner Ver-
nunft mit dem Weltlogos identifiziert hat. 105
Eine »kopernikanische Wende des Eudämonismus« 106 wurde durch
die christliche Antwort auf die Frage nach dem Gelingen des Lebens
eingeleitet, weil sie im Unterschied zu allen antiken Lehren den Ort
der Erfüllung überhaupt nicht in dieser Welt sieht: »Was wir als In-
bild vollkommenen Glücks in uns tragen, läßt sich unter empirischen
Bedingungen prinzipiell nicht adäquat realisieren. Es ist ein alle
Erfahrung transzendierender Gedanke.« 107 Diese Wende verdient be-
sondere Aufmerksamkeit; es muss gefragt werden, warum das Ge-
lingen des Lebens unter empirischen Bedingungen, das im aristote-
lischen Kompromiss zumindest im Sinne einer »prekären Balance« 108
doch möglich war, unter christlichen Bedingungen prinzipiell un-
möglich zu werden scheint. Zunächst sei in diesem Zusammenhang
erinnert an ältere Überlegungen Spaemanns zu dieser Frage, die in
vorangegangenen Kapiteln thematisiert wurden. Für Rousseau war
das Christentum die Macht, die das politische Ideal der Polis zerstört
hat, da das Christentum »die ›religion de l’homme‹ [ist], die den Men-
schen als Menschen freisetzt und zum Bürger des Universums
macht« 109. Dem Wandel der Bedingungen menschlichen Denkens im
Übergang von der Antike zur christlichen Zeit, der hinter dieser Frei-
setzung des Menschen steht, ging Spaemann zunächst in dem Essay
»Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« nach,
wo er mit Bezug auf die aristotelische Philosophie feststellte, dass
diese nicht vom Subjekt ausgeht. 110 Wenn dementsprechend eine An-
109
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 29. – Vgl. Ab-
schnitt 5.1.2, Vom politischen zum natürlichen Ideal, 191–196.
110
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327.
446
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
111 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333–
334.
112 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 86.
113
Ebd. 86–87.
447
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
sofern das Gelingen des Lebens abhängt von der Realisierung absolu-
ter Selbsttranszendenz, die ihrerseits ein Gelingen in dieser Welt un-
möglich werden zu lassen scheint, verwandelt sich die Verbindung
von Subjektivem und Objektivem, die in der aristotelischen Ethik als
prekäre Balance möglich war, in eine Antinomie:
Weder die Innenansicht noch die Außenansicht kann offenbar so etwas
wie Gelingen des Lebens definieren. Die Antinomie gründet darin, daß
das menschliche Leben nur vom Ende und von Außen betrachtet zu
einem Ganzen wird. Subjektivität, Für-sich-Sein aber geht gerade nicht
in Gestalthaftigkeit, also in das »An-sich« ein, als welches das Dasein
sich dem Blick eines Anderen darbietet. Die Antizipation der Eudämo-
nie aber ist die Antizipation eines An-und-für-sich-Seins. 114
Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass diese Antinomie des Ge-
lingens in Latenz auch in der klassischen antiken Philosophie gegen-
wärtig war; sie konnte jedoch latent bleiben, insofern der Handelnde
»in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich selbst bleibt oder zu
sich zurückkehrt« 115. Unter christlichen Denkbedingungen dagegen
scheint die Reflexion auf das Gelingen des Lebens das Auseinander-
fallen der beiden Seiten des Für-sich und des An-sich unausweichlich
zu machen.
Bevor nun die Konsequenz, die in der neuzeitlichen Ethik aus
dem Antinomisch-Werden des Eudämoniegedankens gezogen wurde,
dargestellt wird, muss an den in Spaemanns Sicht zentralen Umbruch
des Denkens an der Schwelle zur Neuzeit erinnert werden, nämlich
die im Spätmittelalter einsetzende Invertierung der Teleologie, durch
die der Gedanke, dass »die Natur im Menschen sich selbst über-
steigt« 116, aufgegeben wurde. Der daraus folgende Schluss, dass es
der Natur allein um die Selbsterhaltung geht, hat im Kontext der hier
verfolgten Problematik der Antinomie gelingenden Lebens entschei-
dende Bedeutung. Im Rahmen eines teleologischen Denkens und, wie
zu ergänzen ist, unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt be-
steht die Antinomie darin, dass das subjektive Streben nach absolu-
tem Gelingen seine objektive Erfüllung nur jenseits der Todesgrenze
finden kann. Im Leben kann die Erfüllung nur antizipiert werden.
»Die Existenz dieser Antizipation als desiderium naturale in uns
legitimiert jedoch für Thomas die Gewißheit seiner Erfüllbarkeit.
114
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 87.
115 Ebd. 78.
116
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31.
448
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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
›Denn die Natur tut nichts vergeblich‹ 117.« 118 Die Quelle dieser Ge-
wissheit ist also die natürliche Selbsttranszendenz, als deren Organ
im Menschen die Vernunft wirkt. Durch diese Vernunft, die die Ver-
bindung des Menschen zu Gott herstellt, ist die Antinomie gleichwohl
immer schon aufgehoben, so dass für ihre Deutung das Verständnis
der menschlichen Vernunft von entscheidender Bedeutung ist:
Die Innenperspektive, die Perspektive des Erlebens kann zu so etwas
wie einem Ganzen des Gelingens nicht führen. Die Außenperspektive
kann, indem sie etwas als Totalität vorstellt, diese gerade nicht selbst
als Glück erleben. Der Gegensatz zwischen beiden ist nur der subjek-
tive Modus der antinomischen Struktur endlicher Erkenntnis des fieri
aliud inquantum aliud, des »Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein«. 119
Unter der Bedingung einer auf Gott gerichteten natürlichen Selbst-
transzendenz ist die Struktur endlicher Erkenntnis lediglich insofern
antinomisch, als sie immer nur eine Antizipation der jenseits der To-
desgrenze möglichen Gottesschau (visio intuitiva) sein kann. 120 Fällt
hingegen diese Bedingung weg, droht sie in einem radikalen Sinn
antinomisch zu werden. Die subjektive Wahrnehmung erfasst die
Wirklichkeit als gegenständliches An-sich, über das hinaus es zu
einem anderen Für-sich-Sein nur durch Identifikation mit ihm und
damit die Aufgabe des eigenen Standpunktes, denen natürliche Gren-
zen gesetzt sind, gelangen könnte; Erkenntnis des Anderen wird so zu
einer Unmöglichkeit. Aber nicht einmal in Bezug auf das eigene
Selbst ist die Einheit von Für-sich und An-sich erreichbar:
Unser Erleben und die Selbstreflexion dieses Erlebens führen den
Dualismus in den eigenen Lebensvollzug ein. Sie kommen nicht zur
Deckung. Das Zur-Deckung-Kommen, die adaequatio rei et intellectus
wäre gerade das Erlöschen der Reflexion. Und Erlöschen der Refle-
xion, Ekstase, reines selbstvergessenes Eintauchen in die Unmittelbar-
keit des Erlebens ist denn auch seit jeher synonym mit dem Traum
vollendeter Seligkeit. Aber gerade dieser Traum ist mit seiner Reali-
sierung unvereinbar. 121
117 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Summa contra
Gentiles III, 48.
118 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 101.
120 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung Spaemanns mit dem Thomas-Zitat »Dato
enim per impossibile …« in Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hinter-
grund gerückte Autorität, 161–166.
121
Spaemann, Glück und Wohlwollen, 88.
449
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
122 Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–
184.
123 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 57.
124
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 89.
125 Vgl. ebd. 130.
126
Ebd. 92.
450
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.
7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
127
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 92.
128 Ebd.
129
Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 18.
451
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
letzteren ins »Höchste Gut« ist deshalb bei Kant nicht ein Bestandteil
der Moralität selbst, sondern ein moralisch geforderter Glaube zur
Stützung der Moralität. 130
Als »menschlicher Wille« wird bei Kant das thematisiert, was in der
antiken und mittelalterlichen Philosophie weitgehend ausgeklam-
mert worden ist: das Böse. 131 Der Begriff zielt darauf, dass schlechte
Handlungen nicht aus Unwissen hervorgehen müssen, sondern ge-
wollt werden können, und damit entgegen der platonischen Auffas-
sung echte Handlungen sind. 132 Dagegen richtet sich der »heilige
Wille« auf das Gesetz der praktischen Vernunft, das sich im kategori-
schen Imperativ ausdrückt. An die Stelle des Glücks als leitenden Be-
griffs tritt somit die Pflicht. Dabei ist es wesentlich festzuhalten, dass
diese Pflicht sich gerade gegen den natürlichen Willen, also auch den
zum Glück, durchsetzen muss. Gut ist eine Handlung nicht aufgrund
eines als gut einzuschätzenden Resultats, sondern nur dann, wenn sie
aus Pflicht geschieht. Diesem kantischen Gedanken liegt ein pessi-
mistisches Menschenbild zugrunde, wonach der Mensch wesentlich
egoistisch ist und selbst die Liebe nur ein Ausdruck dieses Natur-
triebes ist, weswegen allein die vernünftige Selbstbestimmung als
Gesetzestreue das Sittliche hervorbringen kann. Gleichwohl kehrt
der Gedanke der Eudämonie bei Kant zumindest in der Form wieder,
dass das vom moralischen Gesetz geforderte Handeln nicht im Wider-
spruch zum Verlangen nach Glück gedacht wird, wobei allerdings
»die Kriterien zur Erlangung der Glückswürdigkeit sich nicht aus
dem Gedanken des Glücks herleiten lassen, sondern unabhängig
davon gewonnen werden« 133. Als Postulat der Vernunft weist die Ver-
bindung von Glückwürdigkeit und Glückseligkeit über die Todes-
grenze hinaus, womit die kantische Ethik der Antinomie des Eudämo-
nismus entgeht. Der Preis dafür ist allerdings, dass die »konstitutive
Einheit und Zusammengehörigkeit von gelingendem Leben und ge-
rechtfertigtem Handeln« 134 sich auflöst. Dies führte in der Geschichte
miss, 435–436.
133 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 102.
134
Ebd. 105.
452
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.
7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
138 Vgl.: »Schiller unterschied in den ›Briefen über ästhetische Erziehung‹ zwischen
der ›moralischen‹ und der ›vollen anthropologischen Schätzung‹. Jemand kann ein
wohlgeratener Mensch sein und doch der Versuchung unterliegen, wortbrüchig zu
werden. Jemand kann ein kümmerlicher Mensch oder ein Schlawiner sein und im
entscheidenden Augenblick anständig bleiben und seinen Mitmenschen nicht im
Stich lassen.« – Spaemann, Wer ist ein gebildeter Mensch? (1994), 515.
139 Vgl.: »Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Er-
folge gerechnet werden soll, so muß es Natur sein, und er muß schon durch seine
Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Cha-
rakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei
zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und
darf keine physische Nötigung greifen.« – Schiller, Ästhetische Erziehung, 4. Brief,
Werke, Bd. 5, 576.
453
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
140
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29.
141 Ebd. 117.
142
Ebd. 30.
454
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.
7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik
455
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.
7.2 Metaphysik und Gelingen des Lebens
456
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.
7.2.1 Conditio humana
1 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1967), 49. – Vgl. die Einleitung zum zweiten
Teil, 88.
2 Vgl.: »Leben drängt gewissermaßen danach, bewusst zu werden. Und wo es bewusst
wird, da wird es bewusst als ein Aus-Sein-auf, das allem bewussten Wollen und
Zwecksetzen vorausgeht. Leben ist wesentlich, wie es das aristotelische to ti en einai
sagt – ein Gewesensein dessen, was ist.« – Spaemann, Zum Begriff des Lebens (zuerst
erschienen 1989 unter dem Titel »On the concept of life«; deutsche, leicht erweiterte
Übersetzung 1994), 84.
3
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 110.
457
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
8
Ebd. 113.
458
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.
7.2.1 Conditio humana
9
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 116.
10 Ebd. 112.
11
Ebd. 116–117.
459
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
15 Ebd.
16 Ebd. 121.
17 Vgl.: »Es führt zu nichts, die Ersten Prinzipien ›durchschauen‹ zu wollen. Wenn
man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine völlig durch-
sichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.« –
Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 82.
460
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.
7.2.1 Conditio humana
21 Ebd. 214.
22
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1989), 123.
23 Vgl. Abschnitt, 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
461
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
dass sich die organische »Lebendigkeit immer schon auf das All-
gemeine vernünftiger und sozialer Lebensformen hin transzendiert
hat und daß umgekehrt Vernunft immer schon in solchen inhaltlich
reich strukturierten Lebensformen gegenwärtig ist« 24. Nun differen-
ziert diese dritte Antwort im Grunde nur aus, warum eine Antwort
auf die erste Frage nicht möglich war. Zusätzlich hat die Antwort auf
die zweite Frage durch den Verweis auf das metaphysisch-analoge
Denken klargestellt, dass hier überhaupt nicht Antworten erwartet
werden können, die ohne analoge Begriffe und damit den Bezug auf
ein Unvordenkliches auskommen. Das angekündigte intensive Nach-
denken über den Zusammenhang von Vernunft und Leben kann aber
damit noch nicht zu Ende gekommen sein, wenn es hier darum gehen
soll, in »Glück und Wohlwollen« einen substantiellen Fortschritt in
der philosophischen Entwicklung Spaemanns gegenüber dem im
sechsten Kapitel untersuchten Zeitraum zu konstatieren.
Ein neuer Ansatz des Nachdenkens über das Verhältnis von Ver-
nunft und Leben wird nun möglich durch die Besinnung auf den spe-
zifisch ethischen Ansatz von »Glück und Wohlwollen« und durch die
Frage, was dieser zur Überwindung der Aporie beitragen könnte, in
die die metaphysischen Überlegungen unausweichlich zu geraten
scheinen. Wenn die durchschnittliche Verfassung des Menschen als
ein »Zustand der Halbwachheit zwischen bloßer Lebendigkeit und
bewußtem Leben« 25 bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage,
wie es um die Verantwortung des Menschen für diese Halbwachheit
bestellt ist. Für das durchschnittliche sittliche Empfinden ist ja die
Berufung auf Unachtsamkeit im Falle der Verkehrtheit von Handlun-
gen nur bedingt entschuldbar. Es ist somit nach der Bedeutung der
Verkehrtheit von Handlungen – und zwar Verkehrtheit nicht auf-
grund von Irrtum, sondern im eigentlich moralischen Sinne 26 – im
Hinblick auf das in ihnen zu Tage tretende Verhältnis von Leben
und Vernunft zu fragen. Wenn die moralische Verfehlung als defi-
zienter Modus der Erwachtheit zur Vernunft zu verstehen ist, lässt
sich die Frage dahingehend konkretisieren, wie moralische Schuld aus
einem solchen Mangel an Aufmerksamkeit abgeleitet werden kann,
462
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7.2.1 Conditio humana
463
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
464
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7.2.1 Conditio humana
schauen ist selbst erst Folge einer Umkehr. Und diese Umkehr kann
niemand sich selbst verdanken. 29
Bevor die volle Bedeutung dieser Textstelle expliziert werden kann,
muss gezeigt werden, dass die hier vorgenommene Deutung des Sün-
denfalls im Gegensatz zu derjenigen steht, die in der Moderne Epoche
gemacht hat. Spaemann weist zunächst auf Rousseau hin, 30 für den
der Urzustand ein status naturae purae war, aus dem herauszutreten
der notwendige Schritt zur Freiheit war. 31 In seinem Essay Ȇber
einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre« (1991) bemerkt
Spaemann hierzu: »Die von Rousseau angeregte Identifizierung von
Sündenfall und Freiheitsgeschichte läuft natürlich auf eine Zerstö-
rung des Begriffs des peccatum originale hinaus.« 32 Mit Bezug auf
die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts führt Spaemann in
»Glück und Wohlwollen« aus:
Man sieht leicht, wie sowohl Kants oder Schopenhauers Lehre von der
Wahl des intelligiblen Charakters als auch Heideggers Theorie der
Verfallenheit Versuche sind, die Erbsündenlehre in eine Theorie zu
transformieren und die radikale Kontingenz des Sündenfallmythos,
den die Bibel erzählt, in so etwas wie eine apriorische Verfaßtheit des
menschlichen Wesens zu verwandeln. Aber man sieht auch, daß der
Mythos hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll. 33
Gegen den Gedanken, dass »der Mensch nur durch die Übertretung
dieses Gebotes sich als Freiheitswesen erfahre« 34, dessen Echo er in
den in der Rousseau’schen Tradition stehenden Konzeptionen der drei
Genannten erkennt, stellt Spaemann die »traditionelle Auslegung des
Mythos als dessen authentische Selbstauslegung« 35, die durch eine
weitere Textstelle präzisiert werden soll:
Dann nämlich sagt er, der Mensch sei von Anfang an herausgerufen
aus der Selbstzentriertheit der natürlichen Lebendigkeit zu einer
Handlungsweise, genauer: einer Unterlassung aus überindividueller,
aus göttlicher Perspektive. Diesem Ruf habe er sich versagt. Zwar sei
202–205.
32 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203.
33
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.
34 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203.
35
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.
465
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
er durch diesen Ruf zur Vernunft erwacht, aber er habe diese sogleich
umgedeutet in ein Instrument jener Selbstzentriertheit, die er doch
hätte verlassen sollen. Damit sei aber ihre tierische Unschuld ver-
lorengegangen. Einmal zur Vernunft erwacht und in den Horizont
des Absoluten getreten, kann die curvatio in seipsum, das Festhalten
an der Mittelpunktstellung, nur noch in der Form der Hybris gesche-
hen, nämlich als »Sein-wollen wie Gott«. Diese »unvernünftige Ver-
nunft« aber ist zugleich unnatürliche Natur. 36
Der ursprüngliche Ruf, der sich an den Menschen richtet, wird nicht
wie in der Rousseau’schen Tradition als der zur Übertretung des Ge-
bots, sondern als der in der Naturteleologie fundierte Ruf zur Selbst-
transzendenz in der Befolgung des Gebots verstanden. Es handelt sich
also um eine direkte Umkehrung der Konstellation. Da das scheinbare
Freiheitsgeschehen der Übertretung die Richtung auf die curvatio in
seipsum einschlägt, bedeutet der Beginn der vernünftigen Reflexion
auf die natürliche Selbsttranszendenz im Gegenteil den Verzicht auf
die Übertretung. Der vermeintlichen Selbsttranszendenz der Über-
tretung wird die ursprüngliche vernünftige Selbsttranszendenz, die
über sich hinausgeht, ohne das Gebot zu übertreten, entgegengestellt.
Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Deutungen besteht
in der Antwort auf die Frage, ob die Verfallenheit als Ausgangspunkt
und damit als Normalität der conditio humana angenommen wird
oder ob sie als Folge einer Schuld und damit als ontologische Anoma-
lität begriffen wird. Im letzteren Fall ist eine Umkehr – μετάνοια –
möglich, die sich allerdings immer einer Befreiung von außen ver-
dankt. Die sich im Zuge dieser Überlegung aufdrängende Frage, ob
und inwiefern die Bezugnahme auf einen biblischen Mythos im Rah-
men einer philosophischen Argumentation legitim ist, 37 sowie die, ob
es auch genuin philosophische Mittel gibt, um das hinter dieser Be-
zugnahme stehende Anliegen zu vertreten, soll zunächst ausgeklam-
mert und erst an späterer Stelle betrachtet werden. 38 Hier ist zunächst
festzuhalten, dass die Idee eines »ursprünglichen Erwachtseins« zum
einen die Möglichkeit bietet, die hier eingangs bedachten Paradoxien
im Verhältnis von Vernunft und Leben zu überwinden, und sie sich
zum anderen in dem bei Spaemann vorausgesetzten Bedingungsrah-
466
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7.2.2 Amor benevolentiae
Die zentrale Frage, die sich nach der Darlegung der anthropologi-
schen Grundgedanken in »Glück und Wohlwollen« stellt, besteht
darin, wie ein Erwachen zur Wirklichkeit ausgehend von der als
ontologischer Anomalität gekennzeichneten Normalverfassung des
Menschen möglich ist. Bevor dieser Frage nachgegangen werden
kann, muss man sich zunächst klarmachen, was damit gefragt ist bzw.
welche Antworten überhaupt erwartet werden können. Nicht gefragt
ist damit nach der Rekonstruktion des Übergangs von bloßer Leben-
digkeit zu bewusstem Leben, da dieser, wie gesehen, nur als μετάνοια
begreifbar ist, nicht als Überwindung bloßer Lebendigkeit verstanden
werden kann und die Verbindung von Leben und Vernunft nicht ana-
lysierbar ist. Im Sinne der dargelegten Asymmetrie möglicher
menschlicher Bewegungen, nach der frei wählbar der Abfall von der
Wirklichkeit, die umgekehrte Richtung aber nur durch eine Befrei-
ung von außen möglich ist, muss die Frage somit auf das Ereignis der
Begegnung zielen, durch die die Befreiung bewirkt wird. Die An-
näherung an das Ereignis der Begegnung erfolgt am Leitfaden der
Gedankenentwicklung im Kapitel »Wohlwollen« zuerst in weit-
gehender methodischer Beschränkung auf das Selbst im Sinne der
subjektiven Voraussetzungen – also auf das, was in dem Ereignis ent-
gegengebracht wird; danach erst wird der Blick auf die Intersubjekti-
vität ausgeweitet und im Sinne der Evidenz der Wahrnehmung eines
anderen Selbst auf das gerichtet, was in dem Ereignis entgegen-
kommt. Es geht somit um eine phänomenologische Analyse der
Wahrnehmung und ihre Verwandlung durch das Ereignis der Begeg-
nung, in das der Wahrnehmende so hineingezogen wird, dass aus
diesem Ereignis die Antwort auf die gestellte Frage hervorgeht.
Die Frage nach der Möglichkeit eines Erwachens zur Wirklich-
keit fragt danach, wie die Subjektivität welthaltig werden kann. Die
subjektive Eigenschaft der Welthaltigkeit impliziert notwendig ein
Interesse an der Welt. Für dieses Interesse, das, wie im Folgenden
dargelegt werden soll, zur »Lösung des Eudämonismusproblems« 39
39
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 123.
467
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
468
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7.2.2 Amor benevolentiae
wandtnis hat und das »selbst nicht noch einmal aus einem Umwillen
heraus verstehbar ist« 44. Das »bewandtnislose Um-willen ist das
schlechthin Wirkliche«, sein Sichtbarwerden ist gleichbedeutend mit
dem Erwachen zur Vernunft. Was Heidegger als Entdeckung der
»Eigentlichkeit« beschrieben hat und Spaemann mit »Erwachen zur
Wirklichkeit« 45 übersetzt, 46 »ist mit jener Blickwendung verbunden,
die aus der Perspektive des Triebes nicht ableitbar ist« 47, mit jener
μετάνοια im Erwachen zur Vernunft, nach der hier gefragt wird
und die genauer untersucht werden soll. Was diese Blickwendung
positiv bedeuten kann, entfaltet Spaemann vor dem Hintergrund
ihrer solipsistischen Zurückbiegung auf die lebendige Zentriertheit,
die zuerst betrachtet werden muss. Den Schlüssel zu diesem Vorgang
liefert der Begriff des Selbsterhaltungstriebes: »Die Rede von einem
solchen Trieb hat etwas Problematisches. Sie ist charakteristisch für
den Zustand der Zweideutigkeit, den wir als Zustand der Halbwach-
heit zwischen bloßer Lebendigkeit und bewußtem Leben bezeichnet
haben.« 48 Die Zweideutigkeit ergibt sich daraus, dass Selbsterhaltung
prinzipiell »finis cuius gratia, nicht Wozu, sondern Umwillen« 49 ist,
dass ein vernünftiges Wesen in ihrer expliziten Thematisierung aus
ihr aber ein Triebziel, einen finis quo zu machen versucht. Es ist wich-
tig, sich den inneren Widerspruch dieses Vorgangs klarzumachen:
Das Erwachen zur Vernunft, in dem das Selbst als Umwillen entdeckt
wird, bedeutet wesentlich die Loslösung von der Bindung an den
Trieb, also eine Distanznahme zur eigenen Natur; durch die Rede
von der Selbsterhaltung aber versucht nun die erwachte Vernunft
sich auf das Triebziel der Erhaltung und damit auf eine Bewandtnis
des Selbst zurückzubiegen. 50 Die erwachte Vernunft gerät also in
48 Ebd.
49 Ebd.
nisses gelesen werden, das der oben skizzierten Rousseau’schen Deutung des Sünden-
fallmythos zugrunde liegt. Der vermeintliche Schritt in die Freiheit im Übertreten des
Gebots erweist sich als Negierung der Selbsttranszendenz und Rückzug in die cur-
vatio in seipsum.
469
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
einen inneren Widerspruch, weil sie sich mit dem identifiziert, aus
der Distanz zu dem sie selbst hervorgegangen ist. Dadurch kommt
es aber gewissermaßen zu einem ›Kurzschluss‹, da es gerade das We-
sen der Vernunft ist, vom Trieb nicht determiniert zu sein. Die Folge
ist der Verlust des Selbst entweder praktisch als Rückzug aus der
Wirklichkeit – die frei wählbare der beiden Bewegungen – oder theo-
retisch als Negation des Selbst:
Der Selbsterhaltungstrieb, der das zum Triebziel macht, was doch we-
sentlich Umwillen des Triebes ist, entwirklicht das Selbst. Er gibt ihm
eine »Bewandtnis«. Aber da diese Bewandtnis eben jenes Selbst zur
Voraussetzung hat, um dessen Erhaltung es geht, kann dieses Triebziel
vor der Vernunft nicht bestehen. Der Selbsterhaltungstrieb ist kein
»Grund« zur Selbsterhaltung für den, der nicht an den Trieb gefesselt
ist. Schopenhauer, der das Selbst nur als Ziel des Selbsterhaltungs-
triebs kannte, mußte es eben deshalb als durch diesen Trieb durchaus
bedingt ansehen. Mit dem Erlöschen des Triebes sinkt es in die Un-
wirklichkeit zurück. Erwachen zur Vernunft ist daher für ihn gleich-
bedeutend mit dem Verschwinden des Selbst. Der Trieb kann nicht
Grund seiner eigenen freien Bejahung sein. 51
Die Reflexion auf den Selbsterhaltungstrieb muss also, wenn sie sich
als Reflexion erhalten will und nicht zu einem Zurücksinken in bloße
Lebendigkeit führen soll, eine Position jenseits des Bewandtnis-
zusammenhangs einnehmen, um sich von diesem ›Nichts‹ aus zu
ihm noch einmal verhalten zu können. Der Moment des Erwachens
zur Wirklichkeit, in dem das Selbst als Umwillen erfahren wird,
bleibt damit als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und of-
fen für zwei gegensätzliche Deutungen. Die hier zuerst betrachtete
Deutung »aus der Perspektive des Triebhangs« bezeichnet Spaemann
als »Position des Nihilismus«; sie besteht in der Möglichkeit, die in
der μετάνοια sich zeigende Unbezüglichkeit des Selbst als das zu in-
terpretieren, »was – weil selbst bewandtnislos – seine Bedeutung erst
in seiner Relation auf anderes, ebenso Bedeutungsloses gewinnt, wo-
bei der Bedeutungszusammenhang als Ganzer wiederum bedeu-
tungslos ist« 52. Das Erwachen zur Wirklichkeit, die Erfahrung des
Selbst als Umwillen erlaubt jedoch auch eine entgegengesetzte Deu-
tung: Sie »läßt dieses Subjekt in einem Glanz erscheinen, der nicht
470
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7.2.2 Amor benevolentiae
sein eigener ist« 53. Das bedeutet, dass der den Bewandtniszusammen-
hang transzendierende Bezug zur Wirklichkeit ins Zentrum der Auf-
merksamkeit rückt. Diese Deutung knüpft an den Gedanken der Re-
präsentation an, der bereits im sechsten Kapitel als Schlüsselbegriff
der Spaemann’schen metaphysischen Konzeption ausgewiesen wur-
de 54 und hier als Repräsentation des Unbedingten in der Weise des
Bildes 55 wiederkehrt. 56 Was ist ein Bild?
Ein Bild ist etwas, das nicht selbst ist, was es zeigt. Es ist ein physisches
Objekt. Bild ist es nicht durch eine physische Existenz, sondern da-
durch, daß es zeigt. Mit dem Bild des Unbedingten verhält es sich noch
einmal anders. Bild des Unbedingten ist etwas gerade dadurch, daß es
in einem emphatischen Sinne ist, durch seine Substantialität, die es
dem Prozeß des Werdens enthebt und seine »Geltung« mit seiner
Genesis inkommensurabel macht. 57
Um diesen Gedanken im vollen Umfang verstehen zu können, muss
die Bedeutung von »zeigen« und »sein« genau verstanden und zu-
sammengedacht werden. Zur Bedeutung von »sein« im für Spae-
manns Denken zentralen Sinn ist Grundlegendes im sechsten Kapitel
gesagt worden: »Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das
Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 58 In »Glück und Wohl-
wollen« liest man in Ergänzung dazu:
Sein ist nicht Gegenständlichkeit. Sein ist Substantialität, Selbstsein,
das aller Gegenständlichkeit zugrunde liegt. Der paradigmatische Fall
solcher Substantialität aber ist Subjektivität. Für sie gilt, was Aristo-
56 Vgl.: »Die ›Repräsentation des Bildes‹ und das ›Unbedingte‹, von denen Spaemann
58
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
471
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
teles von der Substanz sagt: Von ihr wird alles ausgesagt, sie selbst
aber wird von nichts anderem ausgesagt. Sie ist nicht Eigenschaft eines
Seienden, sondern sie ist schlechthin. Und gerade in diesem schlecht-
hinnigen Sein ist sie Bild, sie ist das Absolute in der Weise des Bildes. 59
Während die wesentlich negative Bedeutung von ›sein‹ als Verzicht
auf einen vereinnahmenden subjektiven Zugriff auf der Hand liegt,
stellt sich aber die Frage, was das Bild der für das Sein paradigmati-
schen Subjektivität als Substanz ›zeigt‹. Die Antwort kann nur lau-
ten: Alles. Es geht um das Bild der Welt, das angeschaut wird, indem
das Bild angeschaut wird. Das Bild ist zugleich das Angeschaute –
›sein‹ – und das Sehen – ›zeigen‹. Entscheidend ist nun aber das Er-
eignis der Wahrnehmung des Bildes, »das Sich-zeigen des schlechthin
Unbezüglichen«, in das der Anschauende selbst hineingezogen wird:
Es besteht im Sein desjenigen endlichen Seienden, in dem der Gedanke
des unbezüglichen Seins ineins mit dem Dank aufgeht. Das diesen
Gedanken denkende Seiende, also das bewußte Leben gewinnt darin
selbst jene Unbezüglichkeit, jene »Substantialität«, durch die es zum
Bild dessen wird, was es verehrt, und das in jedem anderen vernünfti-
gen Wesen eben jenes Bild wiedererkennt. 60
Obwohl Spaemann im hier untersuchten ersten Abschnitt des Kapi-
tels »Wohlwollen« die Fragestellung in weitgehender methodischer
Beschränkung auf das singuläre Selbst anging, wird spätestens in sei-
nen Ausführungen zum Begriff des Bildes klar, dass vom Sichtbar-
werden des Selbst als Umwillen in einem anderen als nihilistischen
Sinn nur im Rahmen eines reziproken interpersonalen Begegnungs-
geschehens die Rede sein kann. Die Wahrnehmung des Anderen als
unbezügliches Selbst, als bewandtnisloses Umwillen, verwandelt den
Wahrnehmenden seinerseits in ein ebensolches unbezügliches
Selbst. 61 Näher heran an das Verständnis des Wohlwollens kann da-
tierischen Welt – aus? Sie besteht darin, diese Zentralität des Tieres hinter sich gelas-
sen zu haben. Dieser entscheidende Schritt ereignet sich anlässlich der Entdeckung
des Anderen, die mit der Entdeckung ›meiner selbst‹ einhergeht, in der man das Fun-
dament des Miteinander sehen darf. Ich entdecke erst den Anderen, indem ich einem
anderen Menschen begegne, dessen Blick auf mich ich nachvollziehe. Eine solche Per-
spektive einzunehmen läuft darauf hinaus, für immer die Selbstzentriertheit hinter
sich zu lassen. Der Mensch entkommt der Enge seiner vitalen Umwelt, um in einen
neutralen kognitiven Raum einzutreten, dessen Zentrum überall liegt. Der Mensch
472
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7.2.2 Amor benevolentiae
ist das ›exzentrisch‹ gewordene Lebewesen.« – Duplá, Die Theorie der Person und die
Bioethik bei Robert Spaemann, 254–255. – Der Schluss, dass der Mensch damit die
Selbstzentriertheit für immer hinter sich lasse, blendet allerdings die menschliche
Fähigkeit zu einer curvatio in seipsum aus. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Condito humana,
466, u. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 507–508.
62
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 222.
473
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Ein Anderer ist für mich vielmehr bedeutsam durch das, was er nicht
für mich, sondern an sich selbst ist. Hinter diesem Paradox verbirgt
sich das, was wir als Erwachen zur Wirklichkeit beschrieben haben.
Das Ich im Triebhang hat weder sich noch den Anderen entdeckt. Es
bleibt in der Zentralstellung alles Organischen sich selbst verborgen.
Im Akt des Erwachens zur Vernunft wird die eigene Wirklichkeit und
die des Anderen gleichzeitig sichtbar. Das Sichzeigen der Wirklichkeit
des Anderen ist gleichbedeutend mit dem Mitvollzug dieser Wirklich-
keit als einer teleologischen, der Wirklichkeit eines Ausseins-auf. Nur
in diesem Mitvollzug wird uns der Andere wirklich. 63
Die das Wohlwollen konstituierende Paradoxie ist somit ein Interesse,
das nicht durch das eigene Interesse definiert ist, – die Realisierung
reiner Selbsttranszendenz. Ein solches Interesse wird möglich auf-
grund des Nachvollzugs des teleologischen Ausseins-auf des Ande-
ren, also seines finis quo, bei gleichzeitigem Sichtbarwerden seines
Selbst, also seines finis cuius gratia. Die Paradoxie des Wohlwollens
besteht darin, dass der auf Identifizierung zielende Mitvollzug der
teleologischen Wirklichkeit des Anderen durch das Sichzeigen dieser
Wirklichkeit zugleich wieder distanziert wird. Was im Verhältnis zu
sich selbst, wie gesehen, zur Entwirklichung dieses Selbst führt, näm-
lich die Thematisierung des Umwillen, lässt im Verhältnis zum Selbst
des Anderen die mitvollzogene Wirklichkeit erst als solche hervortre-
ten. Eine Paradoxie stellt das im Wohlwollen sich äußernde Interesse
am Anderen solange dar, wie die beiden Seiten des Ich und des Ande-
ren als Gegensätze betrachtet und Wahrnehmung des Anderen als
Gegenstandswahrnehmung aufgefasst wird. Die Wirklichkeit des
Wohlwollens kann daher nicht als Welt von Objekten für ein Subjekt
aufgefasst werden, sondern erscheint als Wirklichkeit von Menschen,
die diese einander erst zeigen, was Spaemann mit dem Begriff der
Person ausdrückt:
Die unzweideutige Wirklichkeit aber ist die der Person. In der Liebe
wird mir der Andere nun so wirklich, wie ich mir selbst in eben diesem
Erwachen werde. Er und ich gewinnen die Wirklichkeit des Bildes. Das
Bild soll etwas. Es soll nicht verschwinden, sondern zeigen, erscheinen
lassen. Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrnehmen, sich
von ihm etwas zeigen lassen. Was erscheint in der Subjektivität? Sein,
Wirklichkeit. Und zwar gerade deshalb, weil Subjektivität selbst nicht
Positivität, sondern Negativität ist, nicht vorfindbares Faktum, son-
63
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 130.
474
https://doi.org/10.5771/9783495825488
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7.2.2 Amor benevolentiae
dern Reflexion. Nur in dem, was nicht von der Art des positiven Fak-
tums ist, kann das Faktum erscheinen. Der Mensch ist der Ort der
Erscheinung des Seins. 64
Zum Ort der Erscheinung des Seins wird der Mensch im Erwachen
zur Vernunft, das aus einem Begegnungsgeschehen hervorgeht. Im
Sinne der Aussage, dass Sein Korrelat eines Aktes der Anerkennung
ist, bedeutet die interpersonale Begegnung, in der der Andere als Bild
– verstanden sowohl als Antlitz als auch als Blick auf die Welt – einen
vom eigenen Interesse freien Zugang zur Welt ermöglicht, die Über-
windung der individuellen Bedingtheit. Aus der Perspektive der in
»Glück und Wohlwollen« leitenden ethischen Fragestellung ergibt
sich aus der hier versuchten Explikation des Begriffs Wohlwollen eine
Schlussfolgerung von fundamentaler Bedeutung:
Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart. Und dieses Sich-
zeigen geht allem Sollen voraus. Es ist die Gabe, die jeder möglichen
Aufgabe zugrundeliegt. Das Wohlwollen ist für den Wohlwollenden
selbst Geschenk. Es ist die eudaimonia, das Gelingen des Lebens, das
uns auf der Ebene der bloßen Lebendigkeit und des Triebes mit unauf-
löslichen Antinomien behaftet schien. Erst das zur Vernunft erwachte
Leben ist eines solchen Gelingens fähig. 65
Was es bedeutet, dass das Wohlwollen das Gelingen des Lebens ist,
kann erst aus einer Betrachtung hervorgehen, in der die Brechung der
Idee des Wohlwollens im konkreten menschlichen Leben untersucht
wird. 66 An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass Spaemann den
Anspruch vertritt, mit dem Wohlwollen die gesuchte Aktualisierung
der antiken εὐδαιμονία gefunden zu haben. Zum Abschluss dieser
Untersuchung des Wohlwollens ist die Frage nach der Bedeutung die-
ses Begriffs im Gesamtzusammenhang von Spaemanns »Versuch
über Ethik« zu stellen.
Zwischen der Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand und
dem Sichtbarwerden seines Selbst im Wohlwollen gibt es keinen
Übergang, sondern liegt jener Sprung, um dessen Einholung im Den-
ken es hier wesentlich geht. Möglich ist diese Einholung entweder
durch den Imperativ der praktischen Vernunft oder aber im Sinne
einer Neuverteilung der Beweislast durch den Ausgang von der
64
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.
65 Ebd. 137–138.
66
S. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489.
475
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
476
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.
7.2.2 Amor benevolentiae
477
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Schritt in Richtung auf eine größere Angepasstheit des Lebens, sondern eine Wende,
ein Richtungswandel ist, muss man das Erwachen zur Vernunft notwendigerweise als
ein Ereignis verstehen, das von außen eingeführt wurde.« – Duplá, Die Theorie der
Person und die Bioethik bei Robert Spaemann, 257.
478
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
»Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart.« 76 Das Wohl-
wollen vermittelt somit zwischen der partikularen Perspektive des
Wohlwollenden und dem Unbedingten und es stellt sich die Frage,
wie eine solche Vermittlung vorstellbar ist. Die im vorangegangenen
Abschnitt gegebene Antwort auf diese Frage bestand wesentlich im
Hinweis auf die Repräsentation des Unbedingten in der Weise des
Bildes, dessen Wahrnehmung im Erwachen zur Vernunft möglich
wird. Diese Antwort scheint aber problematisch zu sein und zu einer
Paradoxie zu führen: Das, was als Bild erscheint, ist »einzig, inkom-
mensurabel, unvergleichlich, unbezüglich, nur mit sich identisch.
Aber gerade darin ist es eben doch vergleichbar, denn es steht in einer
Ähnlichkeitsbeziehung mit allem, was ebenfalls es selbst und mit sich
identisch ist.« 77 Die Wahrnehmung von Selbstsein ist also immer be-
gleitet von der Möglichkeit einer sie relativierenden Betrachtung,
selbst wenn diese Relativierung nur in der vergleichenden Feststel-
lung der gemeinsamen Unvergleichlichkeit von Selbstsein besteht.
Diese Paradoxie der Wahrnehmung lässt sich konkretisieren zu einer
Paradoxie des Wohlwollens:
Es ist so universell wie der Horizont, den es eröffnet. Es gilt jedem
Seienden als einem Einmaligen, Inkommensurablen. Und doch muß
der Wohlwollende als endliches Wesen spätestens dann Kommensura-
bilität herstellen und das Begegnende relativieren, wenn er zu handeln
beginnt. Denn als Handelnder ist er wesentlich endlich. Handeln ist
selektiv. 78
Das Wohlwollen scheint sich im Übergang von der reinen Betrach-
tung zur Handlung ebenso aufzuheben wie die Wahrnehmung von
Selbstsein in der Reflexion auf diese selbst. Es scheint damit so, als
gäbe es Wohlwollen nur als auf die gesamte Welt gerichtete »trans-
zendentale optio fundamentalis«, die »den ›kategorialen‹ Anwendun-
76
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.
77 Ebd. 141.
78
Ebd.
479
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
82 Ebd. 141.
83 Vgl. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 143–
152.
84 Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons Niederlage und sein Fortwirken, 167–171.
85
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144.
480
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Position, für die etwa Kant steht, und der hier verfolgten Konzeption
des Wohlwollens ein entscheidender Schritt liegt. Zum inneren Zu-
sammenhang »zwischen der Erfahrung einmaliger und exklusiver
Liebe und der Universalität des Wohlwollens« 86 führt erst die An-
knüpfung an Spaemanns der Wiederbelebung des teleologischen
Denkens gewidmete metaphysische Konzeption, deren Erweiterung
in »Glück und Wohlwollen« ausgehend vom teleologischen Lebens-
begriff oben im Abschnitt »Conditio humana« dargelegt wurde. 87 Im
Mittelpunkt der Überlegungen stand dort der Gedanke des »ur-
sprünglichen Erwachtseins« als anthropologischer Grundbestim-
mung, auf den die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Lebendigkeit
und Vernünftigkeit in der durchschnittlichen Verfassung des Men-
schen zu analysieren, zurückgeführt wurde. Dabei fand diese anthro-
pologische Grundbestimmung, wie gesehen, ihre Fundierung in der
Berufung auf den Mythos von der Erbsünde und damit auf ein ur-
sprüngliches Verhältnis des Menschen zu Gott. Aus eben dieser Fun-
dierung wiederum entwickelt Spaemann die Überwindung der skiz-
zierten Paradoxie des Wohlwollens, insofern das abstrakte Verhältnis
von Allgemeinem und Konkretem durch diese Fundierung eine Ver-
mittlung erfährt: »Das Verhältnis von Gottesliebe und ›Nächsten-
liebe‹ hingegen ist nicht das von transzendentaler Form und katego-
rialem Anwendungsfall, sondern von Präsenz des Absoluten und
dessen realem Symbol. Das Bild ist nicht eine ›Anwendung‹ dessen,
wovon es Bild ist. Es stellt das, wovon es Bild ist, dar.« 88 Durch den
Begriff der Darstellung wird nun also versucht, die Doppeldeutigkeit
des Bildes als Sein und Zeigen, 89 als Angeschautes und Sehen zu-
gleich, neu zu denken. Sobald das Wohlwollen die kontemplative Po-
sition verlässt und sich handelnd auf die Welt bezieht, verwandelt es
sich, so schien es, entweder in einen »Kult reiner Spontaneität« und
»Fanatismus der Leidenschaft« oder in den »Imperativ der Unpartei-
lichkeit und die Verallgemeinerungsforderung« 90. Diese Antinomie,
in die das praktisch werdende Wohlwollen zu geraten scheint, soll
nun aufgehoben werden durch eine Vermittlung zwischen dem Kon-
kreten, dem das Wohlwollen gilt, und dem Ganzen der Wirklichkeit,
481
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
482
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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
483
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
484
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.
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
Andere »ein Verhältnis zu sich selbst hat, also ein Selbst ist« 102. Da-
rüber hinaus antwortet Spaemann auf die Frage, »ob es ein sittliches
Verhältnis des Menschen, ein Verhältnis des Wohlwollens und des
Zuhilfekommens, auch jenseits zwischenmenschlicher Beziehungen
gibt« 103, mit einem klaren Ja, ohne auf die weiteren Abstufungen in
der Tier-, der Pflanzen- und der anorganischen Welt an dieser Stelle
einzugehen.
Um den Gedanken der ›Brechung‹ des Wohlwollens im Lebens-
vollzug weiter mit Inhalt zu füllen, muss noch ein zweiter Aspekt
thematisiert werden, der von der Herausbildung einer Rangordnung
des ordo amoris vorausgesetzt ist und durch den ein Bezug zur Be-
deutung der Polis in der oben dargelegten aristotelischen Kompro-
missfassung des Eudämonismus hergestellt wird: 104
[…] Traditionen, Sitten, normative Orientierungen haben die Funk-
tion, die Unbedingtheit des Wohlwollens, in der die Wirklichkeit des
Selbstseins erscheint, zu vermitteln mit den vielfältig bedingten Situa-
tionen, in denen endliches Handeln geschieht. In ihnen muß sich
Wohlwollen »brechen«, um sich äußere Realität zu geben. Diese struk-
turellen Vorprägungen unserer Erwartungen und Pflichten stellen
dem Wohlwollen gewissermaßen eine »Sprache« zur Verfügung. 105
Die Bedeutung, die Spaemann Traditionen, Sitten und normativen
Orientierungen beimisst, entspricht sehr genau der von ihm be-
schriebenen Funktion der Polis-Wirklichkeit in der Ethik des Aristo-
teles, die wesentlich in der Kontingenzreduktion durch die von ihr
garantierte Normalität bestand. Traditionen, Sitten und normative
Orientierungen bieten somit einen für die Entfaltung des Individu-
ums wesentlichen Rahmen, ohne die Verantwortung des Einzelnen
für diese Entfaltung aufzuheben:
Sitte ist zur Darstellung des Wohlwollens unentbehrlich, doch eine
adäquate Darstellung wird dieses in der Sitte nie finden können.
Gerade deshalb ist Sitte, Konvention für menschliches Handeln
unerläßlich. Sie stiftet Normalität, die für alles Lebendige konstitutiv
ist. 106
miss, 440–444.
105 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 203.
106
Ebd. 204.
485
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
486
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.
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
111
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 147.
487
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
von der wir zugleich erkennen, daß sie von uns nicht ausfüllbar ist.
Niemand ist vollkommen erwacht. Natürlichkeit ist Unbewußtheit. 112
Bevor eine Deutung der die Überforderung des Menschen kompen-
sierenden Entlastung gegeben werden kann, müssen einige Vor-
bemerkungen zur Einordnung der hier verwendeten Begriffe in den
übergreifenden Kontext der Spaemann’schen Gedankenentwicklung
gemacht werden. Bedeutsam scheint mir an dieser Stelle der Bezug
auf die Unterscheidung von Sein und Wesen bzw. esse und essentia zu
sein, die oben im Zusammenhang mit der beginnenden Reflexion auf
die natürliche Selbsttranszendenz in der mittelalterlichen Philosophie
thematisiert und mit der Kontingenzerfahrung in einen Zusammen-
hang gebracht wurde. 113 An der hier zitierten Stelle wird als Ort der
Kontingenzerfahrung zur reflektierten Selbsttranszendenz fähiger
Wesen das reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen ausge-
wiesen. Die Wahrnehmung von Selbstsein als »Grund« und »Form«
der Anerkennung, die in der vollzogenen Selbsttranszendenz die
eigene Verwandlung in ein Selbstsein bewirkt, geht einher mit dem
Bewusstsein der Kontingenz des eigenen Soseins bzw. Wesens als
»Gegenstand« und »Inhalt« der Anerkennung. Der entscheidende
Gedanke, der nun an dieser Stelle entwickelt wird, ist, dass die aus
der lebendigen Zentralität hervorgehende Selbsttranszendenz als na-
türliche nicht durchgehalten werden kann. Es wäre nicht richtig zu
sagen, sie könne sich nur teilweise entfalten, denn, wie gesehen wur-
de, 114 ist Vernunft »wesentlich Antizipation eines Vollendeten« 115.
Selbsttranszendenz ist, wo sie gelingt, vollendete Selbsttranszendenz.
Aber wie Vernunft »nicht Substanz, sondern Geschehen« 116 ist, so ist
Selbsttranszendenz Ergebnis der Anstrengung eines natürlichen
Lebewesens, der zeitliche Grenzen gesetzt sind. Da diese aus der con-
ditio humana hervorgehende Beschränkung ein Teil der Selbsterfah-
rung eines jeden ist, kann im Akt der Anerkennung die natürliche
Lebendigkeit des Anderen als ihr Gegenstand und Inhalt nicht ver-
leugnet werden, ohne dass dieser Akt sich selbst aufhöbe. Diese kon-
stitutive, die Entlastung realisierende Komponente der Anerkennung
116
Ebd. 117.
488
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.
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung
nennt Spaemann Verzeihung: »Die Verzeihung, von der hier die Rede
ist, nenne ich deshalb ›ontologisch‹, weil sie unser Sein zum Gegen-
stand hat, die Tatsache, daß wir sind, wie wir sind.« 117 Wir sind auf-
grund des unauflösbaren Spannungsverhältnisses von Natürlichkeit
und Vernunft in der »Situation der Zweideutigkeit«:
Was am »Bleiben in der Natur« ist Natur? Wir müssen dieses Bleiben
dem anderen als Person zurechnen, falls wir ihn als freies Subjekt an-
erkennen. Wir können es ihm nicht zurechnen, wenn wir ihn als freies
Subjekt weiterhin respektieren wollen. Derjenige Akt, der diese Situa-
tion der Zweideutigkeit in die sittliche Eindeutigkeit bringt und die
Einheit von Zurechnung und Nichtzurechnung vollzieht, ist die Ver-
zeihung. In der »ontologischen« Verzeihung erlauben wir es dem an-
deren, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen
ist. Wir erlauben ihm die Perspektivität eines endlichen ordo amoris,
in dem wir ihm weniger wirklich sind, als wir uns selbst erfahren, und
der deshalb mit dem unsrigen nur darin identisch ist, daß er um seine
eigene Endlichkeit und Perspektivität weiß, sie anerkennt und sich
selbst auf Bedingungen der Koexistenz mit anderen Ordnungen des
Wohlwollens zurücknimmt. 118
Spaemanns Theorie des Wohlwollens, wie sie in ihren Grundzügen
hier expliziert wurde, nimmt also aufgrund der konkreten Brechung
im ordo amoris und der menschlichen Normalität sowie der die onto-
logische Überforderung kompensierenden ontologischen Verzeihung
die Gestalt eines Kompromisses an, wodurch die Form der Aktualisie-
rung des antiken εὐδαιμονία-Gedankens im Wohlwollen, die von
Spaemann entwickelt wird, eine deutlich größere Nähe zu Aristoteles
erkennen lässt als zur reinen Lehre Platons.
489
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.
7.3 Wohlwollen: Ethische Bedeutung und
ontologische Konsequenzen
490
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.
7.3.1 »Glück und Wohlwollen« als Beitrag zum
ethischen Diskurs der Gegenwart
1
Mit dem Utilitarismus beschäftigen sich beispielweise die Publikationen »Über die
Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik« (1981), »Wer hat wofür Verant-
wortung? Kritische Überlegungen zur Unterscheidung von Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik« (1982) und »Teleologische und deontologische Moralbegrün-
dung« (1983). Zum Thema Diskurstheorie sind vor allen Dingen zu erwähnen »Die
Utopie der Herrschaftsfreiheit« (1972) und der unter dem Titel »Die Utopie des guten
Herrschers« ebenfalls 1972 veröffentlichte Briefwechsel zwischen Spaemann und
J. Habermas.
2 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159.
3
Ebd. 158–159.
491
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
4
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159.
5 Ebd. 162.
6 Ebd. 163.
7 Diese polemische Haltung zum Utilitarismus macht Oliver Hallich Spaemann zum
Vorwurf. Seiner Behauptung, dass Spaemann »seine Thesen nicht in Form einer Kri-
tik des Utilitarismus formuliert«, sondern »sich zu ihrer Begründung auf basale ›sitt-
liche Intuitionen‹ beruft«, soll jedoch im Folgenden widersprochen werden. – Hal-
lich, Grenzen (Rezension).
8 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 164.
9
Ebd.
492
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
Diese Auffassung läßt keinen Platz für das, was für alle bisherige
Ethik charakteristisch war und was die Griechen als αἰδώς, als Scheu
oder Scham bezeichneten, also ein Gefühl dafür, daß dem Menschen
bei der Verfolgung seiner Ziele Grenzen gesetzt sind. 10
Die für Spaemann entscheidende Frage in der kritischen Auseinan-
dersetzung mit dem Utilitarismus lautet daher: »Gibt es nun Grenzen
der Güterabwägung oder gibt es sie nicht?« 11 Aus Spaemanns Sicht
erfordert diese Frage ein klares Ja, wobei seine Argumentation in zwei
Richtungen geht. Die erste wird markiert durch einen Gedanken-
gang, der zeigen soll, dass ein »universaler Nutzenkalkül« 12 eine
Überforderung des Menschen sowohl im theoretischen als auch im
praktischen Sinn darstellt. Die theoretische Überforderung ergibt sich
schlicht aus der kognitiven Unmöglichkeit, sämtliche Folgen einer
Handlung zuverlässig zu antizipieren. Sittlichkeit wird so »zu einer
Sache von Experten für möglichst umfassende Nutzenkalküle«, was
gleichbedeutend ist mit einer »Entmündigung des Einzelnen« 13. Die
praktische ergibt sich als Verlust jeder Handlungsfähigkeit aus der
theoretischen und »besteht darin, daß jeder in jedem Augenblick,
um sittlich zu handeln, genötigt ist, das Bestmögliche zu tun, um
das Weltbeste zu fördern« 14. Die zweite Richtung der Argumentation
geht von der Betrachtung der einzelnen Handlung aus. Dass jede be-
liebige sittliche Überzeugung und die daraus folgende Handlungs-
regel »durch die utilitaristische Reflexion geschwächt« 15 wird, indem
sie sich der kritischen Prüfung durch den universalen Nutzenkalkül
stellen muss, führt nach Spaemann »zu einer sittlichen Unterforde-
rung der Person« 16 durch Reduktion des Menschen auf seine vitalen
Bedürfnisse, die zeigt, dass es dem Utilitarismus nicht gelingt, die
beiden Seiten des Menschen als Lebewesen und Vernunft in ihrer
Vermittlung zu denken. In utilitaristischer Perspektive ist der
Mensch einerseits als Vernunft Instrument des universalen Optimie-
rungsprogramms, andererseits als Lebewesen Teil der zu optimieren-
den Welt:
493
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Als Vernunftwesen ist der Mensch nicht lebendig, als Lebewesen nicht
vernünftig. Das gilt natürlich auch für den Umgang des Menschen mit
sich selbst. Als Lebewesen ist er selbst ein Teil der Welt, die es zu
optimieren gilt. Für den Umgang mit sich selbst kann daher nur fol-
gende Doppelregel gelten: 1. Vervollkommne deine Fähigkeiten, als
Instrument des vernünftigen Willens zur Verbesserung der Welt bei-
zutragen. 2. Sorge für dich als Teil dieser zu verbessernden Welt da-
durch, daß du es dir als Lebewesen so gut wie möglich gehen läßt, –
wobei zu diesem Wohlbefinden sittliche Vollkommenheit, sittliches
Erwachtsein definitionsgemäß nicht gehört. Die beiden Imperative
bleiben unvermittelt, und es ist auch nicht zu sehen, wie eine Ab-
wägung zwischen ihnen aussehen sollte. Als sittlich Handelnder bin
ich reines, auf das Optimierungsziel verpflichtetes Vernunftwesen.
Als Teil der Welt, die es zu optimieren gilt, kann meine anzustrebende
Vervollkommnung nur in der Entfaltung meiner selbst im außersitt-
lichen Sinne liegen. 17
Sittliche Überzeugungen sind in dieser Sicht nur tradierte Vorurteile,
die einer vernünftigen Überprüfung zu unterziehen sind. Das eigene
Wohlergehen als Lebewesen hängt danach nicht ab von sittlichen In-
tuitionen, sondern von als vernünftig erkannten Regeln, die wesent-
lich außersittlicher Art sind, also auf Selbsterhaltung und Lust-
maximierung zielen. Damit aber verfehlt der Utilitarismus – in den
begrifflichen Kategorien Spaemanns gedacht – gerade das Mensch-
liche am Menschen, nämlich die Vernunft als »Geschehen des Sub-
stanziell-werdens eines organischen Prozesses« 18 und damit das
Selbstsein: »Die utilitaristische Ethik bringt nicht nur das Selbstsein
des Anderen, der von unserem Handeln betroffen ist, durch Relati-
vierung zum Verschwinden, sondern auch das Selbstsein des Han-
delnden.« 19 Selbstsein ist, wie oben gezeigt wurde, 20 nach Spaemann
Repräsentation des Unbedingten, dessen Wahrnehmung ihrerseits
nur einem Selbstsein möglich ist und mit der erwähnten, dem Uti-
litarismus fremden Scheu (αἰδώς) verbunden ist:
Der eigentliche Endzweck alles sittlichen Handelns erweist sich näm-
lich als schon präsent, ehe wir zu handeln beginnen. Aus diesem Sein-
lassen erst folgt der Impuls des Zuhilfekommens. Aber jede Hilfe, die
aus diesem Impuls hervorgeht, wird – bei aller erforderlichen tech-
494
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
495
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
496
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.
7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
34 Ebd. 177.
35 Ebd.
36
Ebd.
37 Ebd. 179.
38
Ebd.
497
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Urteile«, wobei die »Bereitschaft, das eigene Urteil einer solchen Prü-
fung zu unterziehen, […] der Test auf die Aufrichtigkeit dieser Prä-
tention« 39 ist. Die sittliche Urteilsbildung unterscheidet sich von po-
litischen Entscheidungsprozessen eben dadurch, dass eine politische
Mehrheitsentscheidung, die den eigenen Überzeugungen wider-
spricht, aufgrund der Respektierung demokratischer Meinungsfin-
dungsprozesse akzeptiert werden kann, ohne dass diese Respektie-
rung diskursiv erzeugt wäre:
Der Gehorsam gründet vielmehr, wenn er mehr ist als Anpassung aus
Furcht vor Sanktionen, in jenem fundamentalen Wohlwollen, in dem
mir die Wirklichkeit meiner selbst und der Anderen wirklich wird.
Und unter den inhaltlichen Konsequenzen dieses Wohlwollens ist die
Bereitschaft zur diskursiven Verständigung über das Gute und das
Schlechte nur eine unter anderen und nicht einmal die primäre. 40
Zweitens weist Spaemann darauf hin, dass aus einem Diskurs, bei-
spielsweise dem der Wissenschaft, eine sittliche Verantwortung erst
dann hervorgeht, wenn der Teilnehmer des Diskurses in ein persön-
liches Verhältnis zu einem Anderen tritt, etwa der am medizinischen
Diskurs teilnehmende Arzt in eines zu seinem Patienten: »Ethik ist
keine ars longa, Ethik hat es immer mit der vita brevis zu tun.« 41
Drittens führt Spaemann als Argument für die sekundäre Stellung
des Diskurses im Bereich der sittlichen Urteilbildung die definitori-
sche Beschränkung auf die Diskursteilnehmer an:
Aber was ist mit Kindern, was ist mit Geisteskranken, was ist mit den
kommenden Generationen, die von unseren Entscheidungen betrof-
fen, aber in keinem Diskurs präsent sind, der ihre Interessen betrifft?
Was ist mit der Verantwortung für Leben und Tod der Ungeborenen?
Spätere Diskursteilnehmer werden nur diejenigen sein, die man am
Leben ließ. Und was ist mit der Verantwortung für das Andenken
und die Fortsetzung des Werkes derer, die vor uns waren? Die Dis-
kursethik kann die Verantwortung für diejenigen, die nicht am Dis-
kurs teilnehmen können, nicht begründen. Diese liegt vor dem Dis-
kurs. Und Verantwortung, also jenes praktisch werdende Wohlwollen,
das »Hilfe« heißt, liegt allem Diskurs zugrunde. 42
498
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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart
46 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43.
47
»Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines
jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« –
Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 61.
499
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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
48 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 397.
49
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 133.
50 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17.
51
Ebd. 11.
500
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.
7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
52
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
501
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
Der ordo amoris strukturiert unser Verhältnis zu der Vielzahl der In-
dividuen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne, son-
dern vor allem der Rangordnung der Wirklichkeiten, denen wir begeg-
nen. Was begründet eine solche Rangordnung? Die ausführliche
Rechtfertigung einer Antwort könnte nur im Rahmen einer Ontologie
geschehen. Gleichwohl kann im Rahmen einer Ethik auf sie nicht ver-
zichtet werden. Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik. Wir sahen das
bereits hinsichtlich der Notwendigkeit, den Anderen als wirklich, als
»Ding an sich« betrachten zu müssen, um überhaupt so etwas wie eine
Verpflichtung ihm gegenüber zu erfahren. Und die Erfahrung dieser
Verpflichtung ist letzten Endes nichts anderes als jene Wirklichkeits-
erfahrung. Denn diese wiederum ist nichts rein Theoretisches. Rein
theoretisch haben wir nur qualitative Erfahrung, nie die Erfahrung
von Existenz, von Selbstsein, also von dem, was gerade per definitio-
nem nicht Gegenstand ist. 53
Im Rahmen seines »Versuchs über Ethik« beschränkt Spaemann sich
also auf die Wirklichkeit des Selbstseins anderer Menschen und
streift die Frage, inwiefern es ein Verhältnis des Wohlwollens auch
gegenüber der außermenschlichen Welt geben muss, nur am Rande. 54
Die ausführliche Begründung einer »Rangordnung der Wirklichkei-
ten« wäre dagegen Sache einer Ontologie. Doch auch die Beschrän-
kung auf das Selbstsein wird Spaemann im Zuge der Entfaltung sei-
ner Gedanken problematisch, insofern »wir so etwas wie Personalität
oder Selbstverhältnis niemals direkt empirisch feststellen können« 55
und damit kein Kriterium für Selbstsein haben: »Es gehört zum We-
sen der menschlichen Person, daß sie im Unvordenklichen grün-
det.« 56 Damit aber ist jede einzelne Person immer schon angewiesen
auf eine vorausgesetzte Personengemeinschaft, ohne die sie erst gar
nicht wirklich werden kann: »Ohne Interpersonalität gibt es keine
Person.« 57 Diese Gemeinschaft kann unter diesen Voraussetzungen
nicht durch gegenseitigen Nutzen definiert sein, sondern muss eine
prinzipielle Achtung aller ihrer Mitglieder zur Voraussetzung haben:
»Was das heißt, läßt sich wiederum gar nicht oder nur in Begriffen
explizieren, die nicht der Ethik im engeren Sinne entstammen, son-
502
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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
dern einer Theorie des Absoluten angehören.« 58 Eine solche liegt au-
ßerhalb der Möglichkeiten von »Glück und Wohlwollen«, wenn-
gleich häufige Vorgriffe auf sie nicht vermeidbar sind. Im Umkehr-
schluss folgt daraus, dass für die ethische Reflexion sittliches Handeln
»jederzeit aus der Präsenz einer Totalität von Sinn lebt« und dass
diese Reflexion somit ohne »eine religiöse Implikation« 59 kaum mög-
lich ist. Am klarsten tritt diese Implikation in den Überlegungen zu
einer Verantwortung sich selbst gegenüber hervor:
Die Entscheidung darüber, ob von einer solchen Verantwortung sinn-
voll die Rede sein kann, ist eine metaphysische. Sie hängt davon ab, als
was wir die Person, als was wir uns selbst verstehen. Die sittliche Er-
fahrung ist die Erfahrung einer eigentümlichen Art von Unbedingt-
heit, ähnlich wie die Erfahrung von Wahrheit. Diese Erfahrung kann
nicht auf das kontingente Faktum der Existenz eines Exemplars der
species homo sapiens als auf ihren Grund zurückgeführt werden, ohne
sich damit als Mißverständnis, als Illusion zu enthüllen. Jede sozio-
logische, psychologische oder biologische Ableitung des Phänomens
ist gleichbedeutend mit seiner Destruktion. Nur unter der Vorausset-
zung, daß die endliche Subjektivität sich als Ort der Erscheinung, des
Unbedingten als dessen Bild oder Repräsentation versteht, das sie
selbst nicht ist, läßt sich der Gedanke einer Verantwortung vor und
für sich selbst denken. 60
Es geht hier um die entscheidende Frage des Selbstverständnisses, die
durch die Differenz zwischen Autonomie und Freiheit präzisiert wer-
den kann: Liegt es im Sinne eines autonomen Selbstverständnisses
»im Belieben des Handelnden […], sich selbst von einer Verantwor-
tung zu dispensieren, die er auch nur sich selbst auferlegen kann« 61,
oder kann im Sinne eines Freiheitsbegriffs, der ein gewissermaßen
reflexives Verhältnis der Anerkennung impliziert, Verantwortung
sich selbst gegenüber nur auf das Unbedingte als Adressat zielen,
dessen Repräsentation im Selbst erblickt wird. Es ergibt sich somit
eine klare Alternative: »entweder ich bin für mich verantwortlich
oder ich bin eine res nullius, deren sich jeder bemächtigen kann, wie
er will« 62. Dies freilich ist, wie Spaemann bemerkt, ein »religiöser
503
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
66 Kristina Klitzke bemerkt in »Das ›Heiligtum‹ der Person« mit Bezug auf das »Wo-
vor der Verantwortung«: »Dass bei einem Christen Gott das Wovor der Verantwor-
tung ist, mag richtig sein. Gleichwohl beantwortet Spaemanns Sichtweise m. E. nicht
hinreichend, weshalb nicht auch bspw. die autonome praktische Vernunfterkenntnis
und das von ihr als normativ erkannte praktische Vernunftgesetz letzter Gegenstand
der sittlichen Verantwortung des Menschen sein kann.« – Klitzke, Das »Heiligtum«
der Person, 73, Fn. 203. – Warum die autonome Vernunft und das praktische Ver-
nunftgesetz mit dieser Rolle überfordert sind, wurde in Abschnitt 7.1.3 gezeigt. Klitz-
ke verkennt zudem, dass die Alternative ›Glaube an Gott‹ oder ›autonome Vernunft‹
die Sicht Spaemanns unzulässigerweise verkürzt. Der in »Glück und Wohlwollen«
entwickelte Gegenentwurf zur autonomen Vernunft baut auf dem ›Erwachen zur
Wirklichkeit‹ auf, das trotz religiöser Konnotationen im reziproken interpersonalen
Begegnungsgeschehen eine phänomenologische Beschreibungsebene hat.
67
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 188.
504
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.
7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
samkeit« 68, von dem Spaemann sagt, dass er es nicht mit der »er-
forderlichen Differenzierung« 69 angehen kann:
Das bisherige Nichtwahrnehmen als eigene Schuld zu sehen, gehört
zum Erwachen. Als selbstverschuldet erscheint dem Aufgeklärten
nach Kant die Unmündigkeit, die er hinter sich gelassen hat. Wenn
die Wahrnehmung Gabe ist, dann scheint darin ein Widerspruch zu
liegen. Dieser Widerspruch kann hier nicht aufgelöst werden. Er hat in
Europa seit den Tagen Augustins bis zu den Religionskriegen der frü-
hen Neuzeit die Geister beschäftigt, und wenn er zur Ruhe kam, so
nur deshalb, weil er schließlich den Fragen zugezählt wurde, von
denen Kant sagte, daß die menschliche Vernunft genötigt sei, sie zu
stellen, aber unfähig sie zu beantworten. 70
Über den Hinweis hinaus, dass dieses Paradox im Rahmen von
»Glück und Wohlwollen« nicht aufgelöst werden kann, stellt Spae-
mann seine Auflösbarkeit prinzipiell in Frage: »Die theoretische Deu-
tung dieses Phänomens führt über unsere Absicht an dieser Stelle
hinaus. Und es ist auch die Frage, ob eine theoretische Deutung nicht
aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist.« 71 An die Stelle der theo-
retischen Auseinandersetzung mit diesem Paradox tritt in »Glück
und Wohlwollen«, wie oben gezeigt, an mehreren Stellen als letzte
Berufungsinstanz der Hinweis auf den Mythos des Sündenfalls, der
»hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll« 72. Ausgehend
von dieser ›Sackgasse‹ der praktischen Argumentation und der oben
dargelegten theoretischen Aporie soll im Folgenden, ohne Spaemanns
gedankliche Bahnen in »Glück und Wohlwollen« zu verlassen, eine
Auffälligkeit der Gedankenführung hervorgehoben werden, die mei-
nes Erachtens in ursächlichem Zusammenhang mit diesen Grenzen
der Reichweite von Spaemanns »Versuch über Ethik« steht und deren
Thematisierung zugleich vorauszuweisen vermag auf den bevorste-
henden Schritt der Entfaltung von Spaemanns Philosophie im achten
Kapitel.
Als eine Konstante von Spaemanns philosophischem Denken,
die sich in »Glück und Wohlwollen« unvermindert durchhält, kann
die große Bedeutung philosophiehistorischer Untersuchungen in der
505
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
506
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.
7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven
75
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.
76 Ebd. 119.
77
Ebd. 130.
507
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.
7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik
78
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 248.
508
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.
8 Ontologie der Person
Eine erste Vorstellung von den Schwierigkeiten, die sich aus der Wahl
des Begriffs der Person als zentrales Thema eines philosophischen
Werks ergeben, kann der Artikel zu diesem Begriff im Historischen
Wörterbuch der Philosophie vermitteln. Von den fast 70 Spalten des
Artikels ist weniger als ein Drittel seiner spezifisch philosophischen
Bedeutung gewidmet, was bereits darauf hindeutet, dass seine genuin
philosophische Thematisierung die Auseinandersetzung mit den
Grenzen der Philosophie selbst implizieren muss. Das Historische
Wörterbuch geht aus von der bereits umstrittenen Etymologie des
Begriffs, um danach seine außerphilosophische Bedeutung im »all-
gemeine[n] Sprachgebrauch der Römer« 1 zu skizzieren: Aufbauend
auf der Grundbedeutung der ›Maske‹ des Schauspielers geht es dabei
zum einen um die »Rolle, die der Schauspieler darstellt«, und zum
anderen um die »Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt« 2.
Eine wissenschaftliche Bedeutung erlangte der Begriff zuerst zur Be-
zeichnung der »Sprecherrollen« 3 in der Grammatik. Der größte Teil
des Artikels aber ist der Reflexion des Begriffs in der christlichen
Tradition von der Spätantike über die Scholastik bis hin zu Luther
gewidmet. Seine theologische Bedeutung erlangte der Personbegriff
in der Frage, »wie man sich das Verhältnis der drei in der Trinität
vereinigten göttlichen Instanzen vorzustellen habe« 4. Da für »das
umfassende Eine der Göttlichkeit« – in griechischer Terminologie
die οὐσία – lateinisch bereits der Begriff substantia verwendet wurde,
kam »für ὑπόστασις das genaue Äquivalent nicht mehr in Betracht«,
so dass der Begriff persona als »anthropologische Vorstellungen« 5
1 Fuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 269.
2 Ebd.
3
Ebd. 272.
4 Ebd. 277.
5
Ebd.
509
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.
8. Ontologie der Person
6 Fuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 277.
7 Kible, Person. II. Hoch- und Spätscholastik; Meister Eckhart; Luther, in: HWPh
VII, col. 284.
8
Ebd. 292.
9 Ebd. 295.
10
Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.
510
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8. Ontologie der Person
11
Beispielsweise wird Spaemanns Deutung des cartesischen ›cogito sum‹ im Rahmen
des Personen-Buchs an mehreren Stellen recht ausführlich rekapituliert. – Vgl. die
Kapitel »Transzendenz« – Spaemann, Personen (1996), 72–77 –, »Zeit« – ebd. 111–
113 –, »Das Sein von Subjekten« – ebd. 144–147 – und »Seelen« – ebd. 158–161 –,
wohingegen die für das Personen-Buch grundlegenden Vorarbeiten Spaemanns zur
Naturteleologie vorausgesetzt und kaum eigens thematisiert werden.
12 Jörg Splett bemerkte in einer Rezension zu »Personen«: »Das Buch macht es dem
Rezensenten ähnlich schwer wie der Vorgänger von 1989 [scil. »Glück und Wohlwol-
len«]: unmöglich, die Fülle an Einsichten und Ausblicken zu referieren; vielleicht
nicht unmöglich, doch ungehörig, aus der durchmessenen Denklandschaft den – mit-
unter in Tunneln verschwindenden – Gleisstrang der zielstrebigen Argumentation
rein für sich herauszupräparieren.« – Splett, Personen, 454.
511
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8. Ontologie der Person
13 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 75–76 und 88–89. – Über »Personen« hinaus
findet sich der Begriff häufig in Spaemanns späten Essays, vgl. z. B. Spaemann, Wirk-
lichkeit als Anthropomorphismus (2000), 194–195, u. Ders., Wahrheit und Freiheit
(2009), 311–316.
14 Vgl. Abel, Realismus. III. Analytische Philosophie, in: HWPh VIII, col. 166–167.
15
Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 475–479.
512
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8. Ontologie der Person
dass eine solche Fundierung möglich wird durch die Reflexion auf das
historische Gewordensein jenes Einheitspunktes von Ethik und Onto-
logie, um den es in »Glück und Wohlwollen« ging. Ausgangspunkt
der Überlegungen ist die in »Personen« von Spaemann nachgeholte
explizite Bestimmung des Verhältnisses von antikem und neuzeit-
lichem Denken, durch die er an frühere grundsätzliche Überlegungen
vor allem aus der Vorlesung »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,
›existiert‹ und ›es gibt‹« anknüpft. 16 Unter der Bezeichnung »Ent-
deckung der Person« 17 wird von Spaemann in »Personen« ein histori-
scher Umbruch rekonstruiert, durch den sich die apriorischen Vo-
raussetzungen des Denkens geändert haben, indem die Vernunft als
das dem Individuellen gegenübergestellte Allgemeine von einer per-
sonal gefassten Vernunft abgelöst wurde. Zur Rekonstruktion dieses
Umbruchs wird Spaemanns hermeneutische Untersuchung der an-
thropologischen Entdeckung des ›Herzens‹ analysiert, das als eine
die menschliche Natur transzendierende Instanz eines primären Wol-
lens Ausgangspunkt der Entdeckung der Person ist. Da der Person-
begriff selbst in seiner in diesem Kontext interessierenden Bedeutung
in der Theologie entwickelt wurde, wird anschließend Spaemanns
Exkurs in die Trinitätslehre und die Christologie nachvollzogen, des-
sen philosophische Bedeutung in einer Transformation der aristo-
telischen Metaphysik besteht. Die eigentliche Schwierigkeit des zu
entfaltenden Gedankengangs besteht darin, den in der Theologie ge-
bildeten Personbegriff in die Philosophie zu übertragen und überzeu-
gend in ihr zu fundieren. Hierzu wird das Verhältnis von Personalität
und Teleologie untersucht mit dem Ziel, den Personbegriff in Spae-
manns metaphysischem Realismus zu verankern. Der Zusammen-
hang, der so entwickelt wird, erweitert seine Konzeption des teleo-
logischen Denkens, indem die analogen Begriffe ›Person‹, ›Leben‹
und ›Sein‹ in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden (8.3).
Auf der Grundlage dieser Klärung der genuin philosophischen Denk-
barkeit des Personbegriffs und eines Blicks auf die praktischen Kon-
sequenzen kann die zentrale Frage nach dem »Vollzug des Habens, das
unsere Identität ausmacht« 18, gestellt werden und zur konkreten in-
haltlichen Bestimmung des Personbegriffs übergegangen werden.
Hierzu wird im vierten Schritt die personale Perspektive thematisiert,
16
Vgl. 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.
17 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 29, 127, 161.
18
Ebd. 48.
513
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8. Ontologie der Person
19
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 146.
514
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.
8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
1 Vgl.: »Als ›Sortale‹ oder ›sortale Prädikate‹ werden in der neueren Sprachphiloso-
phie solche Prädikate bezeichnet, deren Gegenstände (d. h. die Gegenstände, auf die
die Prädikate zutreffen) als von einander räumlich verschieden zählbar sind. Beispiele
für Sortale sind daher insbesondere Prädikate, die ›Sorten‹ von materiellen Gegen-
ständen bestimmen wie z. B. ›Tisch‹ und ›Stuhl‹ oder ›Apfel‹ und ›Birne‹.« – HWPh,
s. v. Sortal, IX, col. 1099.
2 Spaemann, Personen (1996), 14.
3
Ebd. 25.
515
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.
8. Ontologie der Person
Anlass für mich war eine wachsende Zahl von Stimmen, die nicht
mehr allen Menschen den Personenstatus zuerkennen wollen, son-
dern nur noch solchen Exemplaren der Spezies homo sapiens, die über
bestimmte zusätzliche Eigenschaften verfügen, also Neugeborenen
nicht, Embryonen nicht, Dementen, auch Altersdementen nicht. 4
Die explizite Auseinandersetzung mit dieser These ist im Personen-
Buch in das letzte Kapitel unter dem Titel »Sind alle Menschen Per-
sonen?« 5 verlegt, in dem Spaemann sechs Argumente rekapituliert,
warum im Ergebnis seiner Untersuchungen alle Menschen Personen
sind. Zu verstehen, worum es in »Personen« wesentlich geht, bedeu-
tet daher nachzuvollziehen, wie Spaemann die zitierte Gleichung des
Alltagsverstandes philosophisch begründen kann, ohne dabei ›Per-
516
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
son‹ als ein Prädikat zu verstehen, das dem ›Menschen‹ eine bestimm-
te Eigenschaft hinzufügte. 6 In seiner Autobiographie bemerkt Spae-
mann zu diesem allgemeinen Rahmen seines Personen-Buchs weiter:
Um das aber wirklich zu begründen, musste ich weit ausholen zu einer
Theorie der Person, in der der genannte Anlass nur noch eine entfern-
te Schlussfolgerung darstellt. Im Kern der Theorie steht das Verhältnis
von menschlicher Natur und Personalität, ein Verhältnis, das ich als
»Haben einer Natur« zu beschreiben suche. 7
Die Schwierigkeit beim Nachvollzug von Spaemanns Gedankengang
besteht darin, dass erst im Lauf der Untersuchung der begriffliche
Status von ›Person‹ aufgeklärt werden kann, dass gleichwohl von An-
fang an mit diesem sich entziehenden Begriff operiert werden muss,
um an diese Aufklärung heranzuführen. Die vorläufige Annäherung
an den Begriff soll hier in zwei aufeinanderfolgenden Betrachtungen
zunächst aus der Außenperspektive auf die Person und danach aus der
Innenperspektive der Person vollzogen werden, um aus dem Ineinan-
dergreifen dieser beiden Überlegungen eine Propädeutik des hier ge-
suchten philosophischen Ansatzes zu entwickeln, aus der sich die ent-
scheidenden Fragen ergeben werden, durch die dann in den folgenden
Abschnitten zur Freilegung des gesuchten Begriffs und damit zu
einer Ontologie der Person zu gelangen sein wird.
Spaemann geht aus von alltagssprachlichen Verwendungen des
Wortes ›Person‹ und konstatiert dabei zunächst einen auffälligen Ge-
gensatz. Auf der einen Seite drückt das Wort eine distanzierte oder
zumindest neutrale Haltung gegenüber Mitmenschen aus:
»Wir rechnen heute mit acht Personen zum Abendessen«: In diesem
Satz ist »Personen« keineswegs ein emphatischer Ausdruck. Im Ge-
genteil. »Wir erwarten acht Menschen« klingt gewählter und ein biß-
6
Thomas Buchheim und Jörg Noller sprechen von einem Dilemma, in das die Be-
hauptung, alle Menschen seien Personen, führe, da dies entweder zu einem Speziesis-
mus – vgl. den Abschnitt »Racism and speciesism« in: Singer, Practical ethics, 55–62
– oder zu einem Selbstwiderspruch führe: »Wenn also ›Mensch‹ und ›Person‹ nicht
gleichbedeutend sind, sondern der eine Term eine biologische Spezies, der andere zu-
mindest auch eine ethische Vorrangstellung bezeichnet, wie kann man dann an dem
Satz ›alle Menschen sind Personen‹ gerechtfertigt festhalten, ohne entweder Spezie-
sist oder ethisch-religiös motivierter Phantast zu sein?« – Buchheim/Noller, Sind
wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 146–147. – Auf die
Antwort Buchheims und Nollers auf diese Frage wird weiter unten kritisch Bezug
genommen. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 558–560, Fn. 139.
7
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 285.
517
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8. Ontologie der Person
12 Ebd. 25.
13 Ebd. 26.
14
Ebd. 14–15.
15 Vgl. ebd. 14–15.
16
Ebd. 43.
518
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.
8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
ser Apfel« oder »dort liegt ein Apfel« 17 – oder um die Zugehörigkeit
eines Dings zu einer Klasse zu bestimmen – z. B.: »dies ist ein Apfel«
oder »es ist ein Apfel, was dort liegt« 18. Dass ›Person‹ kein sortaler
Ausdruck ist, hat daher zunächst eine zweifache negative Bedeutung:
Der Begriff der Person dient nicht der Identifikation von etwas als
etwas, sondern sagt etwas aus über ein bereits als ein So-und-so Be-
stimmtes. Es handelt sich aber andererseits auch nicht um ein Prä-
dikat, das dem bereits in seiner Art Qualifizierten eine bestimmte
zusätzliche Eigenschaft zuspricht. Es gibt keine Eigenschaft, die »Per-
sonsein« hieße. Es ist vielmehr so, daß wir von Wesen aufgrund be-
stimmter Eigenschaften, die wir zuvor identifiziert haben, sagen, sie
seien Personen. 19
Bezogen auf den Ausgangssatz des Alltagsverstandes, wonach Men-
schen Personen sind, bedeutet dies, dass Menschen jeweils ein als ein
›So-und-so Bestimmtes‹ sind, aufgrund dessen der Begriff der Person
auf sie angewandt wird, wobei dieser allerdings dem als einem ›So-
und-so Bestimmten‹ nichts hinzufügt. Wenn diese Aussage sinnvoll
sein soll, muss der Begriff ›Person‹ eine andere Bedeutung haben als
der Begriff ›Mensch‹, wobei der Bedeutungsunterschied jedoch nicht
prädikativer Art sein kann. Dies kann nur heißen, dass der Begriff der
›Person‹ in einem sehr engen Verhältnis zum Begriff ›Mensch‹ stehen
und dass der Unterschied zwischen beiden in der Art des Begriffs
bestehen muss. ›Person‹ ist, wie Spaemann sagt, »kein deskriptiver
Ausdruck« 20; es handelt sich aber auch nicht um einen normativen
Ausdruck, auch wenn er »eine normative Implikation hat«: »Tatsäch-
lich gehört er, wie wir später sehen werden, zu einer dritten Art von
Begriffen.« 21
21
Ebd. – Die damit angedeutete, für Spaemann zentrale Problematik blendet bei-
spielsweise Thorsten Jantschek völlig aus, der ausgehend von einer biologisch-de-
skriptiven und einer moralischen Verwendung des Begriffs ›Mensch‹ zu dem Schluss
gelangt: »Der Personenbegriff ruht systematisch auf dem Begriff des Menschen auf,
statt ›‘Mensch’ im moralischen Sinne‹ können wir auch ›Person‹ sagen. Insofern sind
alle Menschen auch Personen in demselben Sinne wie jeder Stab eine Länge hat. ›Alle
Menschen sind Personen‹ ist ein logisch-grammatischer Satz, d. h. er bringt das in-
terne begriffliche Verhältnis von ›Mensch‹ und ›Person‹ zum Ausdruck.« – Jant-
schek, Von Personen und Menschen, 475. – Jantschek glaubt, damit auf sprachana-
lytischem Weg eine Alternative zur metaphysischen Bestimmung des Personbegriffs
519
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8. Ontologie der Person
gefunden zu haben. Jantscheks Kritik bezieht sich hauptsächlich auf »Spaemanns Nei-
gung, die deskriptive Seite des Ausdrucks ›Mensch‹ biologistisch zu bestimmen«. –
Ebd. 476 – Dieser Vorwurf läuft also auf den oben erwähnten Speziesismusverdacht
hinaus. – Vgl. im vorliegenden Teilkapitel, 517, Fn. 6. – Nach Jantschek »ist gegen die
Ausdehnung des Personbegriffs über den Menschen im alltäglichen, phänomenologi-
schen Sinne hinaus auf die biologische Struktur mit menschlichen Genen einzuwen-
den, daß eine solche Redeweise Teile unserer Praxis verfehlt und dem Metaphysik-
verdacht ausgesetzt ist, weil sich die wissenschaftliche Bestimmungspraxis allzu weit
von der Alltagspraxis entfernt hat.« – Ebd. 477. – Gegenüber dem damit implizierten
Naturalismusverdacht in Bezug auf Spaemanns Position stellt Damian Pietrowski
berechtigterweise fest: »Jantscheks Vorwurf, Spaemanns Identifikation von Mensch
und Person sei naturalistisch, lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn man seine Aus-
führungen über den teleologischen Charakter der Natur einfach ignoriert. Wenn Jant-
schek die biologische bzw. deskriptive Dimension von der normativen geschieden
wissen will, trennt er aus Spaemanns Sicht, was bei aller Unterschiedenheit doch
untrennbar ist. Der Mensch ist als das Lebewesen, als das ihn die Biologie beschreibt,
immer schon mehr als das, was sich deskriptiv erfassen lässt: nämlich ein Subjekt, das
seine Natur gewissermaßen hat. Und weil Spaemann nicht erst dem Menschen, son-
dern letztlich jedweder unterscheidbaren Kreatur einen gewissen Grad von Subjek-
tivität (ein gewisses ›Selbst‹) zuspricht, ist der Vorwurf des Speziesismus bei ihm an
der falschen Adresse. Für einen Naturalisten ist die Natur das unhintergehbar Letzte;
Spaemann aber versteht die Natur teleologisch, weil sie nicht ihr eigenes Sollen
(telos) bestimmt.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 199. – Sieht man
von der im abschließenden Kausalsatz enthaltenen schöpfungstheologischen Prämisse
ab, deutet Pietrowski hier den Weg zur genuin philosophischen Deutung des Person-
begriffs, um die es Spaemann geht. Demgegenüber ist anhand Jantscheks ›meta-
physikfreier‹ Alternative nicht zu sehen, wie die daraus sich zwangsläufig ergebende
Kooptationspraxis für Personen, die im Einzelnen immer an die konkrete Ausdeutung
des Begriffs ›Mensch‹ im moralischen Sinn geknüpft ist, von willkürlichen Grenz-
ziehungen abgehoben werden könnte. – Vgl. zu Jantscheks Kritik an Spaemann auch:
Zaborowski, Personen, Menschen und die Natur jenseits des Biologismus, und die
Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jantschek und Zaborowski in: Ku-
ciński, Naturrecht in der Gegenwart, 406–411.
520
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
22 Spaemann, Personen (1996), 17. – Vgl.: »Selbstbewußtsein ist nicht ein innerer
Reflexionsakt auf ein sog. Ich, sondern erfolgt, indem ich meine bewußten Zustände
– die Absichten, Gefühle usw. – mittels Prädikaten mir und damit einer Person zu-
spreche, die innerhalb des realen Universums unterscheidbarer Gegenstände einer
unter allen ist.« – Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 28.
23 Spaemann, Personen (1996), 17.
24
Ebd. 17–18.
25 Vgl. dazu Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–
528 u. 534–536.
521
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8. Ontologie der Person
522
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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes
523
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8. Ontologie der Person
der Person in seiner Spezifik hier noch nicht voll erfasst werden kann,
ist doch deutlich geworden, dass es sich um einen Metabegriff han-
delt, für dessen Verständnis seine Relation auf das negative Moment
eines zugrunde liegenden Bezugsbegriffes wesentlich ist. Nur als
Aussage über ein negatives Moment des So-und-so der Bestimmtheit
des Menschen eröffnet sich für den Begriff der Person ein gewisser-
maßen ›nicht-prädikatives‹ Feld der Bedeutung im Sinne einer Stei-
gerung der Negativität. Personsein könnte somit, so die Schlussfolge-
rung aus dem Gedankengang, ein Verhältnis ausdrücken, das als
bestimmte Negation eines Momentes der begrifflichen Unbestimmt-
heit des Menschen verstanden werden kann. Als solche bestimmte
Negation könnte der Begriff, ohne sortaler Ausdruck zu sein, eine
neue Dimension der Bedeutung eröffnen, an die aber nur auf Um-
wegen herangeführt werden kann. Der erste Umweg besteht in der
Erneuerung der Frage nach dem So-und-so der menschlichen Natur
als einer solchen, die, wie dieser propädeutische Gedankengang nahe-
legt, die Person aus sich entlassen kann. Da Personalität der »einzige
Status« ist, der »jemandem natürlicherweise zukommt« 31, wird zu
klären sein, welche natürliche Eigenschaft den Menschen zur Person
werden lässt. Dazu muss Spaemanns Naturphilosophie in ihren we-
sentlichen Grundgedanken rekapituliert bzw. im erweiterten Rahmen
des Personen-Buches ergänzt werden. 32 Der zweite Umweg wird da-
nach in der Frage nach der prinzipiellen philosophischen Denkbarkeit
jenes aus der Natur Entlassenen bestehen, als das in dieser Vorüber-
legung die Person erscheint. 33 Inwiefern aus dem Denken der Person
als doppelter Negation ein Positives hervorgehen kann, muss an die-
ser Stelle zunächst offengelassen werden.
524
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8.2 Historische Voraussetzungen und
›negative‹ Philosophie
525
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8. Ontologie der Person
1
Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.
2 Vgl. Meier-Oeser, Wissen. IV. Frühe Neuzeit, in: HWPh XII, col. 881.
3
Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.
4 Spaemann, Personen (1996), 111.
5 Vgl.: »Lichtenberg meinte, was uns zunächst gewiß sei, müsse eher so formuliert
werden: ›Es wird gedacht‹. Schon Avicenna dachte so: Ein Mensch, der, blind und ohne
sich selbst berühren zu können, im Raum schwebte, würde, mangels irgendeiner sinn-
lichen Erfahrung, nur denken können: ›Cogitatur‹.« – Ebd. 111.
6 Ebd.
7
Es geht also um die dritte Reflexionsstufe, von der im sechsten Kapitel die Rede war.
Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–
351.
526
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
Mit dem Gedanken »Ich bin« habe ich die Dimension des »Für mich«
überschritten, und zwar zunächst einfach dadurch, daß ich sie aus-
drücklich denke. Sie ausdrücklich denken heißt, sie unterscheiden
von einem »An-sich«, und sei es auch nur in der formalen Bedeutung,
daß es an sich ist, daß es ein Für-mich gibt. Der Raum der Differenz
zwischen Für-mich und An-sich ist identisch mit der Möglichkeit eines
Gegenüberseins für andere. Für andere aber kann ich nur sein, wenn
ich nicht nur Bewußtsein bin, wenn ich also eine »Außenseite«, eine
»Natur« habe, die dem anderen als ein »etwas« gegeben ist. 8
Daraus, dass das »Ich« erst aus dieser Überschreitung der Dimension
des »Für mich« hervorgeht, folgt, dass die Identität des Ich in Des-
cartes’ Gedankengang nur als intersubjektiv vermittelt begriffen wer-
den kann. Das Gegebensein des Ich für andere durch seine Außenseite
ist zwar nicht konstitutiv »für Subjektivität als instantanes Vertraut-
sein mit sich, wohl aber für jede Selbstidentifikation, also für das
Bewußtsein, selbst zu sein« 9. Doch wie ist die für Descartes noch vor
der Selbstidentifikation liegende reine Selbstgegebenheit des Den-
kens vorzustellen? Die Antwort ist, dass sie eben nicht vorstellbar,
sondern nur denkbar ist, weil es sich um eine reine Abstraktion
handelt:
Es handelt sich bei einem solchen Ausgang vom »Subjekt« um die
Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität
immer schon vorausliegt. Das instantane cogito ist eine Abstraktion
aus dieser Wirklichkeit. Die Möglichkeit dieser Abstraktion ist in der
Eigenart der Person begründet. Es ist für Personen, wie wir gesehen
haben, charakteristisch, daß ihre numerische Identität einerseits ein-
deutig, andererseits durch keinen qualitativen Bestand definierbar,
ihre Identifikation also durch keine Beschreibung erreichbar ist. Die
Versuchung liegt nahe, diese abstrakte, alle inhaltlichen Bestimmun-
gen distanzierende Identität als Entität zu hypostasieren und sie das
»Selbst« zu nennen. 10
Spaemann unterscheidet also erstens eine ›unvordenkliche‹ Wirklich-
keit, zweitens eine Subjektivität, die zu dieser Wirklichkeit in einem
näher zu bestimmenden Verhältnis steht, und drittens das abstrakte
cartesische Subjekt als Rekonstruktion der Wirklichkeit. Der An-
spruch Descartes’, mit dem Ausgang vom Subjekt auf ein der Wirk-
8
Spaemann, Personen (1996), 111–112.
9 Ebd. 112.
10
Ebd. 114–115.
527
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
11
Am Rande sei hier auf die Nähe des Spaemann’schen Ansatzes einer Philosophie
der Person zu dem Paul Ricœurs hingewiesen, dem es in »Das Selbst als ein Anderer«
um eine Hermeneutik des Selbst geht, in der die Person ähnlich wie bei Spaemann in
einer unvordenklichen Wirklichkeit fundiert ist: »Selbst sagen heißt nicht ich sagen.
Das Ich setzt sich – oder es wird abgesetzt. Das Selbst ist als reflektiertes in Operatio-
nen impliziert, deren Analyse der Rückkehr zu sich selbst vorausgeht.« – Ricœur,
Das Selbst als ein Anderer, 29.
12
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: R. Descartes: Discours de la méthode,
6. Teil. AT VI, 62. – Ebd. 271.
13
Ebd. 144–145.
528
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
Das gesuchte Motiv ist das dem Bedürfnis nach οἰκείωσις entgegen-
stehende Herrschaftsinteresse, dessen Subjekt als reine Selbstgege-
benheit des Bewusstseins nicht nur der Außenwelt, sondern ebenso
allem zu diesem menschlichen Subjekt Gehörenden gegenüberge-
stellt wird, was qualitativ bestimmbar ist, also ein Sosein hat. Inwie-
fern Descartes damit eine wesentliche Besonderheit des Personseins
für einen Moment sichtbar gemacht hat, soll weiter unten verfolgt
werden. Hier interessiert zunächst die »Geschichte der Destruktion
des Personbegriffs« 14, die in einem engen Zusammenhang steht mit
der cartesischen Neubegründung der Philosophie, das heißt mit der
Wahl der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins als Ausgangs-
punkt.
Der von Descartes vorbereitete Gedanke entfaltete seine Dyna-
mik im englischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts. 15 Spae-
mann konzentriert in diesem Zusammenhang seine Aufmerksamkeit
auf die Behandlung des Problems der Identität in Lockes »Abhand-
lung über den menschlichen Verstand« und Humes »Abhandlung
über die menschliche Natur«. Locke geht aus von der »Frage der Re-
identifizierbarkeit einer Entität nach Ablauf einer Zeit« 16, wobei
Dinge ihm zufolge identisch sind, »wenn sie einen einzigen Anfang
haben, den sie mit keiner anderen Sache gemeinsam haben« 17. Dies
bedeutet, dass es nach Locke zwar »[d]auernde Wesen« 18, also zum
Beispiel menschliche, geben kann, die reidentifizierbar sind; dass sie
es sind, liegt aber nicht an ihrer personalen Identität, also an ihrer
lebendigen Einheit. Es gibt nämlich nach Locke keine »zeitübergrei-
17
Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: J. Locke: An Essay on Human
Understanding II, 27, § 1. – Ebd. 271.
18
Ebd.
529
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
fende Identität« 19, sondern nur »eine Folge unendlich vieler instanta-
ner Einzelereignisse« 20:
Wenn Leben das Sein des Lebendigen ist, dann gibt es dieses Sein
nicht. Es gibt nur einzelne, diskrete Zustände von Organismen. Leben
ist also nicht das Sein dieser Organismen. Was ihre Identität aus-
macht, ist nur die Invarianz einer Struktur, die vom Austausch der
materiellen Teile unberührt bleibt. Auch Maschinen besitzen eine sol-
che Struktur. […] Für den Begriff der Person macht es, so schreibt
Locke, keinen Unterschied, ob wir ihre Einheit als die einer Maschine
oder als die eines beseelten Wesens verstehen. 21
Dass die Identität der Person somit nur in ihrem physischen Substrat
– der invarianten Struktur – begründet sein kann, rührt daher, dass
Gedanken, also verschiedene geistige Regungen bzw. Tätigkeiten, nie
identisch sein können, »weil jeder ihrer Teile einen verschiedenen
Anfang seiner Existenz hat« 22. Während also die Identität eines
menschlichen Wesens durch die Invarianz seiner Struktur gewähr-
leistet ist, kann personale Identität nur in einem aktualen Bewusst-
sein bestehen, das verschiedene Dinge aufeinander bezieht und durch
die Erinnerung dabei in die zeitliche Dimension ausgreift:
»Das Bewußtsein«, schreibt Locke, »vereinigt die getrennten Hand-
lungen zu einer und derselben Person.« Alle Handlungen, die in einem
Bewußtsein vereinigt werden, sind Handlungen dieser Person, aber
auch nur diese Handlungen. »Soweit dieses Bewußtsein rückwärts
auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, so
weit reicht die Identität dieser Person.« 23
Eine Unterbrechung des Bewusstseins bedeutet somit auch eine zu-
mindest temporäre Aufhebung personaler Identität; Spaemann zitiert
Locke: »Es ist gewiß, daß der schlafende Sokrates und der wache So-
krates nicht dieselbe Person sind.« 24 Personale Identität hat aktuales
Bewusstsein zur Voraussetzung: »Identität des Bewußtseins ist also
530
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.
8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
50.
28 Spaemann, Personen (1996), 153.
29
Ebd.
30 In der Anmerkung verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: David Hume:
A Treatise of Human Nature, Book I, part IV, sect. VI. – Ebd. 271.
31 Ebd. 154.
32 Ebd. – Vgl.: »Der ›schwache‹ Begriff von Identität erlaubt es nun aber Hume, im
Unterschied zu Locke, Identität über das selbst Erinnerte hinaus durch kausale Rück-
schlüsse auszuweiten. Kausalbeziehungen sind zwar, wie alle Beziehungen, unsere
Fiktionen. Aber mit Hilfe dieser Fiktionen können wir eine Vergangenheit rekonstru-
ieren, deren wir uns selbst nicht unmittelbar erinnern. Wir können auch Erzählungen
anderer über uns in unser Selbstverständnis aufnehmen.« – Ebd.
33 Ebd. 155. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: D. Hume: A
531
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.
8. Ontologie der Person
zugeben, […] nicht nur hart, sondern per definitionem unlösbar« 34.
Die wesentliche Prämisse ist dabei die in cartesischer Tradition ste-
hende solipsistische Vorentscheidung im Ausgang von einem instan-
tan gegebenen Bewusstsein, durch den Erinnerung als »schwächere
Reproduktion früherer Vorstellungen« interpretiert und damit als
Ausdruck der intersubjektiven Vermitteltheit des Bewusstseins aus-
geschlossen wird: 35 »Um uns aber erinnernd als Personen aneignen zu
können, müssen wir ›aus uns herausgehen‹. Und eben dies ist uns
nach Hume nicht möglich: ›We never really advance a step beyond
ourselves.‹« 36 Der cartesische Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, in dem
durch einen Akt der Selbsttranszendenz die Seelensubstanz der res
cogitans gefunden wird, wurde von Locke und Hume also zugunsten
der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins wieder aufgegeben,
was personale Identität letztlich unmöglich macht: »Der Solipsismus
part II, sect. VI. – Vgl.: »Wenn nun dem Geiste nichts gegenwärtig ist als Perzeptio-
nen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon
dem Geiste gegenwärtig gewesen ist, so folgt, daß es uns unmöglich ist, eine Vor-
stellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrü-
cken spezifisch verschieden wäre. Man richte seine Aufmerksamkeit so intensiv als
möglich auf die Welt außerhalb seiner selbst, man dringe mit seiner Einbildungskraft
bis zum Himmel, oder bis an die äußersten Grenzen des Weltalls; man gelangt doch
niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vor-
stellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Per-
zeptionen, welche in dieser engen Sphäre [des eigenen Bewußtseins] aufgetreten sind.
Dies ist das Universum der Einbildungskraft; wir haben keine Vorstellung, die nicht
darin ihr Dasein hätte.« – Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 91–92. – Der
zitierte Satz wird von Spaemann seit dem Personen-Buch häufig als Ausdruck der
szientistischen Weltanschauung angeführt und liegt dem Titel »Schritte über uns
hinaus« seiner 2010 bzw. 2011 erschienenen »Gesammelten Reden und Aufsätze«
zugrunde. – Vgl.: »Dass wir niemals einen Schritt über uns hinaus tun, diesen Satz
David Humes finde ich bei der Durchsicht meiner Texte aus den letzten Jahren immer
wieder zitiert. Er erscheint mir als ein Schlüssel zur modernen Weltanschauung.
Allerdings ist er widersprüchlich, denn wenn er wahr wäre, könnten wir ihn nicht
aussprechen und von seiner Wahrheit nicht wissen.« – Spaemann, Versuche, das
Ganze zu denken (2010), 7.
532
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.
8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
37
Spaemann, Personen (1996), 157.
38 Vgl. ebd. 148.
39
Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–379.
533
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8. Ontologie der Person
essentia bezog, erklärte er mit der res cogitans das Sosein (essentia)
zur Substanz. Demgegenüber nimmt in Spaemanns Verständnis der –
von Descartes in den cogitationes erfasste – personale Ort die Stelle
der aristotelischen Substanz ein, 40 insofern der in ihm zum Ausdruck
kommende Akt des Seins (esse) in einer Distanz steht zur ›gehabten
Natur‹ (essentia), die an die Stelle der cartesischen Seelensubstanz
tritt.
Der von Descartes gefundene Ausgangspunkt der Philosophie
hat nach Spaemann mit dem Personsein also gemeinsam, dass er eine
rein numerische Identität ohne jede qualitative Bestimmung bezeich-
net. Es geht um eine ›bestimmte Unbestimmtheit‹, einen bestim-
mungslosen ›Jemand‹, der erst durch die Antizipation eines Gegen-
übers denkbar wird. Zwei Hinweise wurden erwähnt, warum
Descartes im Finden dieses Punktes ihn sogleich falsch interpretierte.
Erstens hypostasiert er ein aus der Wirklichkeit abstrahiertes Mo-
ment zur unabhängigen Entität eines Selbst, das dadurch eine quali-
tative Bestimmtheit gewinnt, von der abgelöst zu sein gerade sein
Charakteristikum war. 41 Diese ›unbestimmte Bestimmtheit‹ kann
40 Vgl. »Insofern kann man sogar sagen, daß Personen erst im vollen Sinn den Begriff
natürlicher Substanz erfüllen. Und tatsächlich hat Aristoteles seinen Begriff der Sub-
stanz wohl am Paradigma des Menschen gewonnen.« – Spaemann, Personen (1996),
42. – Ausgehend von diesem Zitat gelangt Raphael Bexten in seiner Studie »Was ist
menschliches Personsein?« zu der Schlussfolgerung, dass Spaemann »die onto-
logisch-geistige Substantialität der menschlichen Person als gegeben voraussetzt,
auch wenn er dies hier nicht explizit betont«. – Bexten, Was ist menschliches Person-
sein?, 156–157, Fn. 6. – Wenn Bexten postuliert, »dass die Person wesensnotwendig
Substanz ist« – ebd. 182 –, so rückt sein Personbegriff in gefährliche Nähe zu dem,
was Spaemann als Hypostasierung des personalen Standpunkts ausdrücklich ablehnt.
– Vgl. Spaemann, Personen, 115, u. im vorliegenden Abschnitt, 527. – Mit Duns
Scotus spricht Bexten in Bezug auf die Person von einer »haecceitas (ein Diesesda-
Sein)« – Bexten, a. a. O., 222 – und bemerkt: »Diese Seinsweise wird menschliche
Person oder, abstrakt gesprochen, menschliches Personsein genannt.« – Ebd. 247. –
Dies widerspricht direkt der Position Spaemanns, der betont: Personen »sind nicht
eine solche Weise, sondern verhalten sich zu ihr«. – Spaemann, a. a. O., 81. – Die
substanzontologische Hypostasierung der Person bringt Bexten durch die damit zu-
geschriebene »Seinsselbständigkeit« – Bexten, a. a. O., 178 – in Schwierigkeiten bei
dem Versuch, die für Spaemanns Personverständnis konstitutive Pluralität der Per-
sonen zu denken, die er eine »scheinbar paradoxe Formulierung« – ebd. 242 u. 312 –
nennt. Diese Schwierigkeiten treten bei Bexten auch zu Tage, wenn es darum geht,
»die Selbsttranszendenz zum personalen Du, zur anderen Person« – ebd. 277 – zu
denken, die für Bexten erst aus der dritten Dimension der »Wirklichkeitsform
menschlichen Personseins« hervorgeht. – Vgl. ebd. 238 u. 288.
41
Diesen Gedanken hat Spaemann im Rahmen seines Aufsatzes »Das Sum in Des-
534
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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs
sich nur in ihrem Sein stabilisieren durch die Annahme eines absolu-
ten Bewusstseins. Der im englischen Empirismus durchgeführte Ver-
such, die Hypostasierung zur Entität durch konsequente Beschrän-
kung auf das instantane Selbstbewusstsein zurückzunehmen,
brachte jedoch, wie der Blick auf die Geschichte der Destruktion des
Personbegriffs bei Locke und Hume gezeigt hat, die innere Problema-
tik dieses Ansatzes erst zur Entfaltung. Wo aber liegt der Fehler,
wenn weder die Hypostasierung zur Entität noch der Verzicht auf
diese eine Lösung herbeiführt? Die Richtung, in der die Antwort zu
suchen ist, gibt der zweite bereits erwähnte Hinweis. Als Motiv des
cartesischen Ansatzes wurde die »Stabilisierung des Herrschaftssub-
jektes – als Selbstgewißheit – einerseits, Herrschaft über die Natur
andererseits« 42 genannt. Dieses Herrschaftsinteresse erzwingt einer-
seits die Hypostasierung des Selbstbewusstseins zur Entität der res
cogitans, gleichzeitig führt die prinzipielle Ausgrenzung alles So-
seins, also der Natur, dazu, dass die so entstehende Entität eine reine
Abstraktion bleibt. 43 Indem sie als instantanes Selbstbewusstsein sich
selbst besitzt, grenzt sie alles als ein Sosein aus, was sie besitzt. Da-
durch, dass ihr Verhältnis zum anderen ihrer selbst als Herrschaft
bestimmt ist, bleibt sie auch als hypostasierte Entität ein formales
Prinzip, das alles Inhaltliche aufgrund seiner Bestimmtheit aus-
grenzt. Das eigentliche Problem ist also die abstrakte Entgegenset-
zung des Herrschaftssubjekts, der res cogitans, und des beherrschten
Objekts, der res extensa. Diese abstrakte Entgegensetzung verhindert
jede inhaltlich bestimmte Selbstvermittlung, die nur möglich wird
durch die Reflexion auf die natürlichen Voraussetzungen der res co-
gitans und das Verständnis des ›cogito‹ selbst als gesteigerten Aus-
cartes’ Cogito Sum« durchdacht: Es würde sich eine endlose Iteration ergeben, wenn
die Dialektik von Horizontbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein nicht durch die
Einführung des Gedankens eines absoluten Bewusstseins, also durch die Theologisie-
rung der Ontologie, zum Stehen gebracht würde. – Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Des-
cartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
42 Spaemann, Personen (1996), 145.
neuzeitlichen Denkens findet sich bei Spaemann zum ersten Mal in der Dissertation
über de Bonald, in der er von »der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft«
spricht, »die das Moment der Reflexion auf ihre natürlichen Wurzeln verloren hat«.
– Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
207. – Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstauf-
hebung der Vernunft, 118–121.
535
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.
8. Ontologie der Person
44 Verweis auf die Quelle des Zitats: Aristoteles: De anima II, 4; 415 b 13: »vivere
viventibus est esse«. – Spaemann, Personen (1996), 271.
45 Verweis auf die Quelle des Zitats: Thomas von Aquin: In Eth. Arist. ad Nic., lib IX,
1643; in: Œuvres et Lettres. Ed. A. Bridoux, Paris 1953, 1157. – Ebd. 271.
47
Ebd. 146.
48 Ebd. 150.
49
Ebd. 147.
536
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.
8.2.2 Genauigkeit und Seele
Im Kontext des Personbegriffs rückt der Begriff der Seele als anthro-
pologisches Analogon zum ontologischen Begriff des Lebens in den
Mittelpunkt, dessen Geschichte zunächst betrachtet werden muss, be-
vor seine Bedeutung für die konstitutive Fundierung des Person-
begriffs in der Natur des Menschen entwickelt werden kann. Auch
im Zusammenhang mit der Geschichte des Seelenbegriffs spielt Des-
cartes eine bedeutsame Rolle: »Der prekäre philosophische Status der
Seele rührt vor allem her von der Hypostasierung einer unabhängi-
gen Seelensubstanz durch Descartes, die auf schwer erklärbare Weise
mit einer Körpersubstanz verbunden sein und zusammen mit dieser
den Menschen ausmachen soll.« 51 Im Sinne der oben skizzierten Be-
seitigung des metaphysischen Beiwerks aus dem cartesischen Ansatz
in der auf ihn zurückgehenden neuzeitlichen Philosophie trat an die
Stelle der res cogitans »bei Kant die ›transzendentale Apperzeption‹,
das ›Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten kön-
50
Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215–
291.
51
Spaemann, Personen (1996), 158.
537
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.
8. Ontologie der Person
54 Ebd. 160–161.
55
Ebd. 164.
56 Ebd.
57
Ebd. 165.
538
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.
8.2.2 Genauigkeit und Seele
341.
539
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.
8. Ontologie der Person
zwischen Seele und Geist; dieser ragt nach Aristoteles von außen –
θύραθεν – in den Menschen hinein:
Aristoteles hatte einen ontologisch radikalen Schnitt zwischen Seele
und Geist gemacht. Gott ist für ihn reiner Geist, das Sein des Geistes
aber ist Leben. Seele dagegen ist das Prinzip einer niederen Form von
Leben, nämlich des Lebens materieller Körper. 61 Es gibt eine Sorte von
beseelten Wesen, die auch Geist besitzen, nämlich Menschen. Ihr
Geist kann nicht als Eigenschaft ihrer Seele verstanden werden. Seele
ist das wesentlich egozentrische teleologische, also triebhafte Lebens-
prinzip. Sie konstituiert eine von aller anderen Wirklichkeit getrennte
Substanz. Geist aber ist über die durch die Seele konstituierte Innen-
Außen-Differenz gerade hinaus, indem er sie im Licht des Allgemei-
nen und Ewigen denkt. Er ist Teilhabe am Göttlichen. 62
Wie oben ausgeführt, wandelte sich dieser anthropologische Dualis-
mus von Geist und Seele unter christlichem Einfluss entscheidend,
wobei »zwei Motive leitend« 63 waren. Durch die in schöpfungstheo-
logischen Prämissen gründende neue Form des Dualismus von Natur
und Gnade – ›natura-gratia‹ – gelangten Seele und Geist auf die Seite
des Natürlichen, so dass zum einen die vom Menschen geforderte
Entscheidung zwischen »Geist und Fleisch« 64 eine Verwandlung der
»Seele des Menschen zur ›Geistseele‹« 65 verlangte. Zum anderen
folgte aus dem Postulat der »Unsterblichkeit der individuellen Seele«
in Verbindung mit der Verwandlung der Seele in eine »Geistseele«,
dass »der menschliche Geist als dieser individuelle unsterblich« 66 sein
müsse. Im christlich bedingten Wandel des antiken anthropologi-
schen Dualismus ist also das Bestreben erkennbar, »die menschliche
Seele durch Geist zu definieren« 67, worin die Vorgeschichte einer
neuzeitlichen »Abschaffung der Seele« 68 gesehen werden kann 69, die
61 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Aristoteles: De anima II, 1; 412 a 20. –
Spaemann, Personen (1996), 272.
62 Ebd. 161.
63
Ebd.
64 Ebd.
65 Ebd. 162.
66 Ebd.
67 Ebd. 163.
68 Ebd. 164.
69 Die Verwandlung der Seele in eine Geistseele steht in einer deutlichen Parallele
zum christlichen Einfluss auf den Prozess der »Destruktion des Gedankens einer na-
türlichen Teleologie«: »Das erste Motiv dieser Destruktion kam aus der christlichen
Theologie. Deren Argument nahm dasjenige vieler Autoren des 20. Jahrhunderts vor-
540
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8.2.2 Genauigkeit und Seele
durch die Reklamierung des Begriffs für die cartesische res cogitans
vollendet wird:
Der Seele wurde sozusagen von zwei Seiten her der Garaus gemacht.
Auf der einen Seite war da das ganze Gewicht, das die christliche Tra-
dition auf die Geistigkeit der Seele und auf ihre Unsterblichkeit legte.
Die Rede von der Seele der Tiere wurde dabei fast zu einer Äquivoka-
tion, während doch für Aristoteles Seelen gerade das waren, was
Mensch und Tier miteinander verbindet. Aber Tierseelen anzuneh-
men, wurde im 16. Jahrhundert auch von der Seite der neuen Natur-
wissenschaft und Naturphilosophie als abergläubisch abgetan. Um das
Funktionieren lebendiger Organismen zu verstehen, so sagte man, be-
darf es keiner »Formprinzipien« aristotelischer Art. Organismen müs-
sen als Maschinen begriffen und erklärt werden. Nur Menschen haben
Seelen. Und auch bei ihnen sind Seelen nicht Formkräfte ihrer organi-
schen Konstitution, sondern nur das Substrat ihres bewußten Er-
lebens: res cogitans. 70
Aufgrund dieser Vorgeschichte muss der Begriff der Seele aus neu-
zeitlicher Perspektive im Sinne einer Aktualisierung völlig neu be-
stimmt werden, um im Weiteren im Zusammenhang mit dem Person-
begriff eine Rolle spielen zu können. Die Frage, um die es dabei
zunächst geht, lautet: In welchem Zusammenhang macht sich die
Seele im neuzeitlichen Denken gerade als abwesende dadurch bemerk-
bar, dass sie eine Lücke hinterlassen hat, die nicht schließbar ist? Die
Wiederannäherung an den Begriff der Seele kann zunächst also nur
per viam negationis erfolgen. Auf der Grundlage der Beantwortung
dieser Frage kann im Sinne der eigentlichen Aktualisierung des See-
lenbegriffs danach gefragt werden, was der Begriff Seele als Prinzip
lebendiger Organisation für das Verständnis des Menschen über seine
Bestimmung als vernunftbegabtes Wesen hinaus beitragen kann.
Zum Verständnis der kritischen Haltung Spaemanns gegenüber
der neuzeitlichen Philosophie ist es wesentlich zu sehen, dass der an-
thropologische Dualismus durch die cartesische Neubegründung der
Philosophie nicht überwunden wurde, sondern ausgehend vom Dua-
lismus der res cogitans und der res extensa in der von Spaemann als
Zerfallsprodukt der Entteleologisierung interpretierten Dialektik von
541
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8. Ontologie der Person
71 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
332.
72 Vgl. Abschnitt 6.1.5, Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre
Grenzen, 361–371.
73 Spaemann, Personen (1996), 66.
74
Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 289.
542
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.
8.2.2 Genauigkeit und Seele
tionen nie der kausalen Erklärung, weswegen ihnen auch keine stren-
ge Beweisbarkeit im wissenschaftlichen Sinn zukommen kann. 75
Gleichzeitig aber wurde gezeigt, dass Kausalforschung prinzipiell un-
geeignet ist, um natürliche Prozesse vollständig zu erklären. 76 Das
teleologische Denken kann gegenüber der Wissenschaft nicht mit
dem Anspruch auf ›Erklärung‹, sondern nur mit dem auf ›Verstehen‹
auftreten. 77 In »Personen« heißt es dazu:
Wem es zur Erklärung dafür, daß der Hund zum Fressnapf läuft, nicht
genügt, daß der Hund Hunger hat, der sieht sich allerdings auf einen
langen Weg verwiesen, den Aristoteles ebenso wie Kant für unendlich
und deshalb nicht wirklich für einen Weg der Erklärung hielten. Aber
die Wissenschaft ist dieser Weg. Prinzipiell ist nichts ihrer Erklärung
entzogen – außer das Erleben selbst. 78
Die Argumentation zur Erneuerung des teleologischen Denkens und
zur Aktualisierung des klassischen Begriffs der Seele muss in Bezug
auf den Zusammenhang von bewusstem Leben und Leben, von In-
tentionalität und Erleben die inneren Widersprüche des wissenschaft-
lichen Menschenbildes aufzeigen und ihm im Sinne der Umkehr der
Beweislast die eigenen spezifischen Erklärungspotentiale entgegen-
stellen. 79
Unmittelbare Folge des Ausfalls des Lebensbegriffs ist der für die
neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie prägende »Dualismus des
Psychischen und des Physischen« 80, der »immer eine Herausforde-
rung zu dem Versuch seiner monistischen Aufhebung« 81 enthielt.
Nach dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme ist es
in der »gegenwärtigen philosophischen Diskussion […] vorwiegend
der materialistische Monismus, der sich als Alternative zum Dualis-
mus präsentiert« 82. Die eigentliche Herausforderung für den univer-
salen Erklärungsanspruch des materialistischen Monismus sind Men-
Kant und Nietzsche, die Ausführungen zum Verhältnis von kausalmechanischer und
teleologischer Naturbetrachtung bei Kant, 262–267.
77 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 273–276.
80
Spaemann, Personen (1996), 57.
81 Ebd.
82
Ebd.
543
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.
8. Ontologie der Person
schen als geistige Subjekte: »Für den Materialismus ist das Mentale
ein bloßes Epiphänomen materieller Prozesse, das als solches aller-
dings eindeutig von dem basalen Phänomen unterscheidbar ist.« 83
Spaemann unterstreicht dabei, dass der Materialismus den Dualis-
mus, den er ablehnt, methodisch voraussetzt, indem er physikalische
Ereignisse und mentale Prozesse als zwei Sphären konstatiert, »die
unabhängig voneinander definierbar sind, um dann die mentale als
Funktion der physischen zu interpretieren« 84. Die entscheidende
Frage ist also gar nicht, ob es einen Dualismus des Psychischen und
Physischen gibt, sondern wie er interpretiert wird:
Der phänomenale Dualismus ist die Bedingung des ontologischen Mo-
nismus, eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung. Denn
der Dualismus muß nicht monistisch aufgehoben werden, und es spre-
chen schwerwiegende Einwände gegen eine solche Aufhebung. Ob sie
möglich und vernünftig ist, darüber entscheidet weitgehend die Em-
pirie. 85
Spaemann wendet sich daher der Betrachtung konkreter Phänomene
und ihrer Differenzierung zu, um zunächst gegen ihre monistische
Aufhebung zu argumentieren und danach aus der Interpretation be-
stimmter Phänomene ein Argument für die notwendige ontologische
Vermittlung zwischen den beiden Seiten des Dualismus zu ent-
wickeln. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen mentalen Zu-
ständen, propositionalen Einstellungen und intentionalen Akten. Un-
ter Letzteren werden »Akte des Meinens, Wissens, Beurteilens und
Wollens« 86 verstanden, zu ihnen sind menschliche Subjekte norma-
lerweise fähig. Propositionale Einstellungen sind »Annahmen über
das, was geschehen muß, damit ein gewünschter Effekt eintritt« 87;
sie können auch Tieren zugesprochen werden. 88 Mentale Zustände
schließlich bezeichnen psychische Prozesse »nichtintentionaler und
nichtpropositionaler Art«, beispielsweise »Schmerzen, Stimmungen
oder diffuse[…] emotionale[…] Erregungszustände[…]« 89. Spae-
mann betrachtet zunächst diese mentalen Zustände. Einerseits sind
544
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.
8.2.2 Genauigkeit und Seele
schung zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist nicht mehr beisteuern kann
als […] Korrelationsaussagen bzw. Korrelationsgesetze. […] Fortschritt in der Hirn-
forschung kann nur in allmählich immer genaueren und kleinteiligeren Korrelations-
behauptungen bestehen. […] Mithin trägt die Hirnforschung nichts zu einer definiti-
ven Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems bei.« – Tetens, Der Naturalis-
mus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit?, 12–13.
93 Spaemann, Personen (1996), 60.
94
Ebd. 62.
545
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.
8. Ontologie der Person
95
Spaemann, Personen (1996), 62
96 Ebd. 50.
97
Ebd. 56.
546
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.2.2 Genauigkeit und Seele
98 Spaemann, Personen (1996), 51. – Auf den Gedanken der ›doppelten Differenz‹
wird gegen Ende dieser Arbeit zurückzukommen sein. Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschlie-
ßende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 895–896.
99 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 59.
101
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 244.
102
Spaemann, Personen (1996), 64.
547
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.
8. Ontologie der Person
103 Spaemann, Personen (1996), 63. – Vgl.: »The objective self that I find viewing the
world through T[homas] N[agel] is not unique: each of you has one. Or perhaps I
should say each of you is one, for the objective self is not a distinct entity. Each of us,
then, in addition to being an ordinary person, is a particular objective self, the subject
of a perspectiveless conception of reality.« – Nagel, The view from nowhere, 63–64.
104
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
548
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.
8.2.3 Metaphysischer Realismus
549
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8. Ontologie der Person
111 Es ist freilich deutlich, dass hier eine Äquivokation von ›Denken‹ vorliegt. ›Trans-
zendieren des Denkens‹ ist ein paradoxer Ausdruck, denn dieses Transzendieren ist
für ein selbstbewusstes Wesen nichts anderes als ein Akt des Denkens. Es geht hier
daher erstens um Denken als »stufenweise Horizonterweiterung der Intentionalität
durch begriffliche Abstraktion« – ebd. 71 –, zweitens aber geht es um ein Denken, das
den Horizont der Intentionalität selbst transzendiert und damit ›Sein‹ denkt, ohne es
zu einem Begriff zu machen. – Vgl. dazu die Überlegungen zum Begriff der Trans-
zendenz in Teikapitel 2.2. Dort wurde unterschieden zwischen einem intentionalen
Denken einerseits, das sich in einem Horizont bewegt, innerhalb dessen alles Gege-
bene auf das Interesse eines Lebewesens bezogen ist, und einem Transzendieren dieses
Horizonts durch die Vernunft andererseits, das selbst natürlich ist. – S. Teilkapitel 2.2,
Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität, 55–67.
112
Spaemann, Personen (1996), 50.
550
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
am Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ entfaltet werden, und zwar in zwei
verschiedenen Deutungen. In der spekulativ-dialektischen Deutung
Descartes’ entspricht die erste Negation der zweiten cartesischen
Reflexionsstufe, dem unhintergehbaren, aber leeren ›dubito ergo
cogito‹ 113, also der Einsicht, dass Denken möglicherweise Idiosynkra-
sie ist und allein der Zweifel als Korrelat der »Nichtigkeit bloßen
Gedachtseins« gewiss bleibt. Die zweite Negation dagegen ergibt sich
bei Descartes aus der spekulativen Annahme eines absoluten Be-
wusstseins, durch die das Denken zu einem Vorkommnis in der Welt
wird, so dass ein Raum eröffnet ist, in dem es ein Jenseits des Denkens
gibt: Sein. »Descartes nennt diesen Raum das Unendliche. Es ist ein
Jenseits aller möglichen Gedanken und intentionalen Gehalte. Aber
nicht so, daß die Bewußtseinsinhalte einfach nur Vorkommnisse in
diesem Raum wären, ohne auf ihn selbst auszugreifen.« 114 Die carte-
sische Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein besteht ganz
wesentlich darin, dass mit ihm ein Jenseits des Denkens gedacht wird.
Dieser für Spaemann entscheidende Gedanke Descartes’ hebt seinen
Ansatz prinzipiell von jeder Transzendentalphilosophie und Phäno-
menologie ab und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer
Philosophie der Person dar:
Das Wort »Sein« hat für Personen noch eine andere Bedeutung als die,
die es für »vernünftige Lebewesen« hat, nämlich die von »etwas über-
haupt«. Nur so ist der cartesische Zweifel möglich. Mit Bezug auf
etwas überhaupt als Inhalt unseres Bewußtseins hätte es keinen Sinn,
von einer möglichen Täuschung zu sprechen. Darum gehört es ja zu
Husserls Methode, Sein in dieser anderen Bedeutung auszuschalten
und Transzendenz in diesem Sinn zu suspendieren. Um den intentio-
nalen Gehalt des Bewußtseins zu zweifelsfreier Selbstgegebenheit zu
bringen, muß genau das suspendiert werden, was für Descartes Grund
des Zweifels an der Evidenz ist, die »Seinssetzung«. Descartes’ Ver-
dacht einer totalen Idiosynkrasie beruht ja noch auf einer solchen
Transzendenz, einem solchen Ausgriff auf einen Raum, der mit dem
des Bewußtseins nicht deckungsgleich ist und in dem dann das Be-
wußtsein ein sich möglicherweise irrendes Seiendes ist. Der Verdacht
setzt einen Realismus mit Bezug auf den Bereich des »Psychischen«
voraus. Das Psychische »gibt es«, und alle intentionalen Gehalte sind
möglicherweise nur Eigenschaften dieser psychischen Entität. Husserl
läßt auch diese Seinssetzung fallen. Die phänomenologische epoché
113 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 344.
114
Spaemann, Personen (1996), 72.
551
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8. Ontologie der Person
552
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
120 Rudolf Langthaler spricht in Bezug auf die Seelenproblematik bei Spaemann von
553
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8. Ontologie der Person
121
Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85. – Vgl. die Fortsetzung des Zitats an
dieser Stelle: »Die erste Erfahrung von Bewegung, so schreibt nun Kant, ist die Selbst-
bewegung. Leben rückt also von der Seite der Gegenständlichkeit nun auf die der
konstituierenden Subjektivität. Transzendentale Subjektivität ist nicht mehr das reine
›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, sondern es wird zu
einem transzendentalen ›Ich lebe‹.« – Ebd.
122 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.
123
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 389.
124
Spaemann, Personen (1996), 83–84.
554
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.
8.2.3 Metaphysischer Realismus
130
Vgl. ebd. 169.
555
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8. Ontologie der Person
556
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
tung behält, wird auch daran deutlich, dass die im Verzicht auf Ob-
jektivierung sich ausdrückende Haltung der Anerkennung nicht nur
anderen Personen gilt, sondern das Verhältnis zur Welt insgesamt
charakterisiert.
Der »metaphysische Realismus«, der unser Verhältnis zu anderen Per-
sonen charakterisiert, läßt sich nicht auf dieses Verhältnis beschrän-
ken. Er ist vielmehr das, was menschliches In-der-Welt-sein von tieri-
schem prinzipiell unterscheidet. Er bezieht sich nicht nur auf
Personen, sondern auf alles Seiende, zumindest auf alles Lebendige.
Es gibt für den Menschen gar keine reinen Subjekt-Objekt-Verhält-
nisse. Beziehung zur Wirklichkeit ist immer zugleich ein Verhältnis
des »Mit-seins«. 135
Das Konzept des metaphysischen Realismus, der sein gedankliches
Zentrum hat im »Transzendieren der Erscheinung auf ein Seiendes
hin, das sich zeigt und sich zugleich verbirgt« 136, und damit einen
Grenzbereich philosophischer Möglichkeiten fokussiert, kann als
letztes Wort Spaemanns im Rahmen der Philosophie als bloßer Ver-
nunftwissenschaft verstanden werden. 137 Es geht in diesem Konzept
darum, an der cartesischen Aktualisierung der aristotelischen Rede
vom Sein ohne dessen spekulative Seinssetzung festzuhalten, indem
durch die Überwindung der cartesischen Fehldeutung wesentlicher
Charakteristika des Personseins das Fundament geschaffen wird für
eine Philosophie, die zwar nicht auf einer clara et distincta perceptio
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8. Ontologie der Person
558
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8.2.3 Metaphysischer Realismus
zugsweise häufig beschrieben als ein ›Haben‹ ihres Wesens, aber nicht unmittelbar
›Sein‹ oder ›Sosein‹ von Personen: die Person ›habe‹ die charakteristische Natur zum
Beispiel von Mensch und ›sei‹ nicht bloß mit einem solchen Wesen identisch; und sie
›habe‹ auch das Leben (zu dem sie sich zugleich verhalten könne, darüber verfügen, es
sogar ›hingeben‹ könne für etwas oder jemand – im Unterschied zu allen Lebewesen,
die nicht Personen sind).« – Buchheim/Noller, a. a. O., 158–159. – Diese Beschrei-
bung, so die Autoren, sei »allerdings missverständlich« und könne »im Sinne Robert
Spaemanns sogar kontraproduktiv wirken« – ebd. 158: »Wenn man behauptet, dass
irgendein lebendiges Individuum insofern ›Person‹ ist, als ihm ein derartiger Exis-
tenzvollzug oder ein solcher modus existendi zukomme, dann erklärt man zugleich,
dass individuell Lebendiges, dem kein solcher Existenzvollzug zukommt, keine Person
ist. Wenn es aber (um diesen Einwand abzuweisen) etwa nicht deutlich zu explizieren
sein sollte, wann einem lebendigen Individuum ein solcher modus existendi denn
zukommt und wann nicht, dann ist die aufgestellte Behauptung sachlich leer und
bringt nichts ein für eine bessere Erkenntnis des Unterschieds zwischen ›etwas‹ und
›jemand‹ – wozu Spaemann in seinem Buch doch angetreten war.« – Ebd. 159. – Die
Missverständlichkeit Spaemanns, von der Buchheim und Noller sprechen, ergibt sich
aber erst daraus, dass sie Existenzvollzug als praktische Kategorie verstehen, während
Spaemann sie doch als ontologische Kategorie versteht, die sich ebenso auf Lebewesen
bezieht, die, solange sie lebendig sind, auch existieren. Person und Leben sind nach
Spaemann analoge Begriffe. Den Zusammenhang zwischen den Begriffen ›Person‹
und ›Leben‹ wiederum sehen Buchheim und Noller ebenso, indem sie zwei Bedeutun-
gen von ›Existenz‹ unterscheiden: »›Existenz‹ eines Lebewesens bedeutet zum einen,
dass es ein Wesen der und der Art und Beschaffenheit ›gibt‹ oder, anders gesagt, dass
mindestens eine Instanz von solcher Beschaffenheit vorkommt. […] Hier bedeutet
Existenz, dass der Begriff eines so und so zu charakterisierenden Lebewesens nicht
leer ist, sondern eine Erfüllung oder wirkliche Instantiierung hat. […] Aber der zweite
Sinn von ›Existenz‹ eines Lebewesens besteht darin, dass es nur solange und insofern
existiert, als es lebt oder lebendig ist.« – Ebd. 160. – Auch wenn dies der Sicht Spae-
manns völlig entspricht, hat sich nun das Problem lediglich verschoben auf den be-
grifflichen Status von ›Leben‹. Buchheims und Nollers Argumentation geht dahin,
Existenz als Lebendigsein durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensform
zu bestimmen: »Die Antwort Spaemanns besteht […] darin zu sagen, dass eine ge-
wisse familiäre Lebensform, in die alle Personen von ihrer Entstehung an hineinver-
setzt werden, der allgemeine und nicht zu beseitigende Grund ihres Seins als Per-
sonen sei.« – Ebd. 164. – Den Begriff Lebensform definieren Buchheim und Noller
aber folgendermaßen: »Eine Lebensform ist […] ein durch charakteristische biogra-
phische Eckwerte begrenzter Korridor des Verhaltens von Populationen einer Sorte
von Lebewesen, der sowohl individuelle Ausnahmen zulässt als auch prinzipiell an
eine biographische Realisierung durch die zugehörigen Individuen geknüpft ist.« –
Ebd. 165. – Existieren als Lebendigsein wird somit doch wieder als eine Soseins-
bestimmung aufgefasst, so dass der Gedankengang zum Ausgangspunkt im Hybrid-
begriff der Person zurückgekehrt ist. Entscheidend ist somit die Frage, »ob Leben zum
559
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.
8. Ontologie der Person
Natur, die ihrerseits nur als Antizipation, also durch den analogen
Begriff ›Leben‹, zu begreifen ist. An dieser Stelle wird nun deutlich,
dass es der analoge Begriff ›Person‹ selbst ist, der die hier gesuchte
Aktualisierung der verlorenen Seele als autopoietisches Prinzip dar-
stellt. Die Person, die als Distanz zu ihrer Natur verstanden wird,
aktualisiert erst in ihrem Verhältnis zu dieser Natur die Bedeutung
des Begriffs ›Seele‹, die historisch verlorenging, als der entdeckte per-
sonale Standpunkt von seiner natürlichen Grundlage isoliert wur-
de. 141 Die Natur ist in ihrer teleologischen Struktur wesentlich durch
eine Negation gekennzeichnet, deren zweite Negation in der Persona-
lität jene teleologische Struktur im dreifachen Hegel’schen Sinn auf-
hebt: also überwindet, bewahrt und auf eine neue Stufe stellt. Inso-
fern Person ebenso wie Sein ein Jenseits des Begriffs ist, 142 kann, was
Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins meint«. – Spae-
mann, Personen, 80. – Wie im nächsten Teilkapitel gezeigt werden soll, gibt Spae-
mann auf diese Frage die klare Antwort, dass Leben selbst den Existenzvollzug be-
zeichnet. – Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und
Personalität, 590–591. – Unter dieser Prämisse wird Buchheims und Nollers Argu-
mentation aber zirkulär und es zeigt sich, dass ihr Versuch, die Rede von analogen
Begriffen zu vermeiden und mit dem Konzept eines Hybridbegriffs Spaemanns Per-
sonbegriff gerecht zu werden, scheitert.
140 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 377–379.
141 Karl-Heinz Nusser verfehlt nach meinem Dafürhalten in einem Aufsatz »Zu Ur-
sprung und Begründung des Begriffs der Person« den im vorangegangenen und vor-
liegenden Abschnitt entwickelten Zusammenhang. Nusser wirft Spaemann vor, »die
entscheidende ontologische Voraussetzung der Person, die individuierende Seele als
Form des Leibes, […] zugunsten transzendentalphilosophischer und phänomenologi-
scher Annahmen aufgegeben« zu haben. – Nusser, Metaphysischer Realismus oder
interaktionistische Anerkennung?, 75. – Zwar ist es richtig, dass Spaemann in »Per-
sonen« die Anerkennung als Normalform personaler Transzendenz bezeichnet; den-
noch bleibt die Anerkennung im analogen Begriff der Person fundiert. Nusser deutet
Spaemanns grundlegende These, dass ›Person‹ kein deskriptiver Ausdruck ist und
Personen keine qualitative Gegebenheit haben, so, dass die Person als »ein quasi ab-
solutes Zentrum« – ebd. 77 – und von Spaemann zudem solipsistisch gedacht werde,
»da die Gewißheit, selbst eine Person zu sein, nicht die Gewißheit der Existenz ande-
rer Personen einschließt« – ebd. 76. – Spaemanns hier rekonstruierte intensive Be-
mühung um den Begriff der Seele, seine Grundkonzeption der Person als ›Haben
einer Natur‹ und die daraus hervorgehende prinzipielle Pluralität der Personen wer-
den von Nusser nicht beachtet, was um so mehr verwundert, als er sich in diesem
Aufsatz mit Thomas von Aquin auf denselben Inspirator seines Person-Begriffs be-
zieht wie Spaemann.
142
Es sei am Rande auf die Präzisierung seines Gedankens hingewiesen, die Spae-
mann hier vornimmt. Zuvor war die Rede von einer Trias ›Sein – Leben – Erkennen/
Denken‹. Auch um den Gedanken von der cartesischen Fehldeutung des personalen
560
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.
8.2.3 Metaphysischer Realismus
die Person ist, erst in den Blick kommen, wenn ein Perspektivenwech-
sel vollzogen wird. Die Betrachtung der ›gehabten Natur‹, die in
diesem Abschnitt auf dem neuen Niveau des Personen-Buches noch
einmal nachvollzogen wurde, kann immer nur an den Punkt heran-
führen, an dem der Sprung zum Sein notwendig wird. Da aber Person
wie Sein ein analoger Begriff ist und ihre Thematisierung als ›Haben
einer Natur‹ diesen Sprung immer schon voraussetzt, stellt sich er-
neut die Frage, die in »Glück und Wohlwollen« durch die Ausrich-
tung auf die Wahrnehmungsevidenz ausgeklammert wurde: Wie ist
mit philosophischen Mitteln von der ›gehabten Natur‹ zum ›Haben
einer Natur‹ vorzudringen? Im vorliegenden Abschnitt wurde im
Rahmen bloßer Vernunftwissenschaft das letzte Wort gesprochen;
zu einer positiven Philosophie der kontingent-faktischen Person 143
führt jedoch kein direkter Weg. In »Personen« findet Spaemann, so
die These, die im folgenden Teilkapitel 8.3 entfaltet werden soll, die-
sen Übergang durch die Reflexion auf das historische Gewordensein
des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, der im Mittelpunkt
von »Glück und Wohlwollen« stand. Die Richtung der Untersuchung
weist eine Akzentverschiebung: Die Frage nach dem, was Personen
sind, wird gestellt als die Frage nach ihrer Entdeckung.
Ortes abzuheben, wird nun das dritte Glied nicht mehr als ›Erkennen/Denken‹ – wo-
runter auch die autonome Vernunft zu verstehen wäre –, sondern als ›Person‹ be-
zeichnet, deren unaufhebbare Relationalität in Bezug auf ihre Natur hier betont wur-
de. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 374–375, u. Abschnitt
8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 536.
143 Vgl. zur Vorstellung einer ›positiven‹ Philosophie bei Schelling bzw. Spaemann:
»Die Philosophie Schellings bedenkt […] das, was kontingenterweise ist. Als spekula-
tiver Empirismus nimmt sie dabei Grundstrukturen der Philosophie des Personseins
vorweg, die Spaemann entfaltet hat. Denn auch Spaemanns Philosophie des Person-
seins kann als ›spekulativer Empirismus‹ – als spekulative Ernstnahme und Durch-
dringung dessen, was unserer Erfahrung gegeben ist – verstanden werden: eine Phi-
losophie, die selbst positiv ist und darin die historische und transzendental
unableitbare Tat der Schöpfung ernst nimmt.« – Zaborowski, Göttliche und mensch-
liche Freiheit, 79. – Vgl. dazu auch Zaborowski, Metaphysik, Ethik und die Frage
nach Gott, besonders Abschnitt 1, Robert Spaemanns Philosophie als Erneuerung
des Denkens F. W. J. Schellings, 120–124.
561
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8.3 Die Entdeckung der Person
3
Spaemann, Personen (1996), 27.
562
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.
8.3 Die Entdeckung der Person
außerhalb desselben lag, aber gleichwohl vorher schon da war. Bei der
Entdeckung der Person muss es um einen anderen Sinn von ›ent-
decken‹ gehen, da Personsein ein neuer Horizont ist, so dass die Per-
son durch ihre Entdeckung vielmehr erst entsteht. Gerade dieser spe-
zifische Sinn von ›entdecken‹ weist aber auch darauf hin, dass es eine
Art von Kontinuität zwischen dem als Person Entdeckten und dem
dieser Entdeckung Zugrunde- und Voraufliegenden geben muss:
Was als Person entdeckt wird, muss vorher schon dagewesen und
anders interpretiert worden sein. Der Begriff der Person bezeichnet,
wie sich im Verlauf der folgenden Untersuchungen nach und nach
zeigen wird, sowohl als Entdecktes eine Aktualisierung antiken Den-
kens 4 als auch als Entdeckung das Ereignis, aus dem die Notwendig-
keit neuzeitlicher Aktualisierungen sich erst ergibt und dessen Unter-
suchung dazu verhelfen kann, das Wesen solcher Aktualisierungen
zu verstehen. Die Entdeckung der Person ist der Paradigmenwechsel,
durch den die Anknüpfung an das antike Denken nur noch in der
Weise der Aktualisierung möglich wird, für die die Person selbst wie-
der paradigmatisch ist. Die Erhellung dieser Zweideutigkeit ist eine
wesentliche Aufgabe der folgenden Überlegungen.
Die Person kann daher Gegenstand zweier Arten der Betrach-
tung sein: einer systematisch orientierten und einer auf das Ereignis
der Entdeckung zielenden hermeneutischen Betrachtung. Die syste-
matisch orientierten Überlegungen sind im vorangegangenen Teil-
kapitel mit der Konzeption des metaphysischen Realismus an eine
Grenze gestoßen, über die mit den bislang zur Verfügung stehenden
Mitteln nicht hinauszugelangen ist. Ein neuer Ansatz der Überlegun-
gen ist daher möglich in der hermeneutischen Untersuchung des Er-
eignisses der Entdeckung der Person. In ihr geht es um die Analyse
historischer, also kontingent-faktischer Zeugnisse dieses Ereignisses
und der Geschichte der ersten Phasen seiner Verarbeitung im Den-
ken, die zu den Brüchen führt, die in Abschnitt 8.2.1 als Geschichte
der Destruktion des Personbegriffs thematisiert wurden. Die Verbin-
dung dieser hermeneutischen Betrachtungsweise mit der systema-
tisch orientierten wird sich dadurch herstellen lassen, dass das Ereig-
563
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.
8. Ontologie der Person
564
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
565
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.
8. Ontologie der Person
10
Ebd. 212.
11 Ebd. 213.
12
Ebd. 214.
566
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.
8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
Den Bereich der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, sah die antike
im Mittelalter fortwirkende Tradition in dem Spielraum, den das Wol-
len von Zwecken bezüglich der Mittel eröffnet. Eudaimonia wurde als
»letzter Zweck« verstanden, aber dieser Zweck nicht als Gegenstand
einer möglichen Wahl. Ihn wollen wir vielmehr »von Natur«. Aber er
eröffnet einen Spielraum, der prinzipiell durch keine Nutzenfunktion
eingrenzbar ist, weil nämlich die Wahl der »Mittel« und die Interpre-
tation des Zweckes hier in eines fallen. Und in dieser Wahl entscheiden
wir zugleich darüber, wer wir sind. Oder sollen wir sagen: in ihr zeigt
es sich, wer wir selbst sind?
Die antike Philosophie hat diese Frage nie klar gestellt. Denn das
Stellen dieser Frage führt hinter den Begriff der physis als eines onto-
logisch Ersten zurück. 13
Aus antiker Sicht gibt es keine innere Distanz zur φύσις, also zur
eigenen Natur. Das Wirken der Vernunft ist unmittelbarer Ausdruck
der Teleologie der menschlichen Natur. 14 Die neue Erfahrung und
damit die Entdeckung einer solchen Distanz bezeichnen den Um-
bruch, um den es im Folgenden gehen wird. Als erstes Zeugnis des
›Ausbruchs‹ aus der geschlossenen Welt des antiken Denkens ver-
weist Spaemann auf ein Wort des Apostels Paulus, in dem dieser Be-
zug nimmt auf die stoische Weisheit: »›Wenn ich alle Weisheit hätte‹,
so schreibt er, ›wenn ich meine Habe den Armen austeilte und meinen
Leib zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es
mir nichts.‹« 15 Entscheidend für den zentralen Gedanken Spaemanns
ist es, den Perspektivenwechsel zu verstehen, der hier stattgefunden
hat. Paulus akzentuiert mit dem Begriff der Liebe gegenüber der
stoischen Weisheit eine Distanzierung von der eigenen Natur, die
dem antiken Denken fremd war und in einer inneren Umkehr be-
steht:
13
Spaemann, Personen (1996), 217.
14 Das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur
wurde von Spaemann als der Gedanke bezeichnet, »der die Philosophie konstituiert«.
– Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, und hier Ab-
schnitt 6.2.2, Der Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation
und Anerkennung, 389. – Auch die im aristotelischen Verständnis ›von außen‹ –
θύραθεν – in den Menschen hineinragende Vernunft bedeutet keine innere Distanz
zur φύσις, da der νοῦς ποιητικός die unmittelbare Erkenntnis der natürlichen Sub-
stanzen – also vor jeder Teilung der Welt in Subjekt und Objekt – ermöglicht. – Vgl.
Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333.
15 Spaemann, Personen (1996), 213. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des
567
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8. Ontologie der Person
Der Stoiker ist zu allem bereit, wozu der Christ bereit ist, er braucht
dazu keine grundsätzliche Umkehr des Willen[s]. Es ist der natürliche
Wille zur Selbstbehauptung, der schließlich, durch die Einsicht ge-
leitet, zur kosmischen Ausweitung des Selbst, zur Überwindung der
Partikularität der eigenen Natur führt. Liebe dagegen im Sinn des
Neuen Testaments, agape, bedeutet nicht eine kosmische Ausweitung
der oikeiosis, der Aneignung der Welt durch das Selbst, sondern einen
radikalen Wechsel des Standpunkts, den Paulus mit dem Begriff des
»Sterbens« bezeichnet. 16 Dieser Wechsel bedeutet, daß der Andere als
der Andere – also nicht als »Teil meiner Welt« – mir ebenso wirklich
und wichtig wird, wie ich mir selbst bin. 17
Wenn also in dieser Zuspitzung die nach außen hin übereinstimmen-
den Handlungen des Stoikers und des Christen Ausdruck zweier un-
terschiedlicher innerer Haltungen sein können, muss noch einmal
nach der neuen Dimension gefragt werden, um die die antike Welt-
sicht erweitert wurde und durch die eine ihr unbekannte Differenzie-
rung in das Verhältnis des Menschen zur Welt hineingetragen wurde.
Die Antwort auf diese Frage muss ansetzen an der oben dargelegten
Bedeutung der Vernunft für die Antike als Organ des Allgemeinen.
Der fundamentale Umbruch zwischen Antike und Neuzeit zeigt sich
in der reflexiven Wendung des Denkens auf sich selbst und damit in
der Verwandlung der vormals allgemeinen Vernunft in ein indivi-
duelles Organ und dem zu ihr komplementären Hervortreten des
transzendenten Anderen:
Hier gibt es nicht eine universale oikeiosis, eine Identifikation des Ich
mit dem Ganzen der Welt, sondern statt dessen die Beziehung zu
einem unabänderlich Anderen. Und für diese Beziehung gibt es zwei
aufeinander in keiner Weise reduzierbare Möglichkeiten: die der
Selbstbehauptung und die der Selbsttranszendenz. Im einen Fall be-
hauptet der Mensch seine Zentralstellung, von der aus sich alle Be-
deutsamkeitsstrukturen funktional herleiten lassen, im anderen Fall
erkennt er an, daß es ein anderes oder viele andere Bedeutsamkeits-
zentren gibt, die sich nicht ineinander integrieren lassen und zu denen
er sich doch ebenso affirmativ wie zu sich selbst verhalten kann. 18
Im christlichen Kontext nahm die so entstandene Alternative die
Form von Gottesliebe oder Selbstliebe an: amor Dei usque ad con-
16 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Vgl. z. B. Kol 3,3. – Spaemann, Per-
sonen (1996), 273.
17 Ebd. 213.
18
Ebd. 214.
568
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
569
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8. Ontologie der Person
gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedan-
ken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.«, 2 Ko 1, 21–22: »Gott ist’s aber, der
uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt / und versiegelt und in unsre
Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.«, Gal 4,6: »Weil ihr nun Kinder seid,
hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber
Vater!«
570
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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
regiert das Herz immer, aber es entscheidet selbst, von wem es sich
regieren lassen will. Aufgrund wovon entscheidet es? Aufgrund seines
Soseins, seiner »Natur«, für die es nichts kann? Nein, das Herz in
diesem Verständnis ist nicht Natur. Es gibt kein Sosein, keine qualita-
tive Bestimmtheit, die der Grund für die Abwendung vom Guten wä-
re, für die Liebe zur Finsternis. Das Herz ist grundloser Grund in
einem Sinn, für den es in der Antike kein gedankliches und begriff-
liches Äquivalent gibt. Die Identität des Herzens liegt tiefer als alle
qualitative Bestimmtheit. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine
anthropologische Entdeckung, weil es einer Erfahrung entspricht. 26
Dass das Herz tiefer als alle qualitative Bestimmtheit liegt, unter-
streicht erstens, dass es nicht Natur ist, sondern gerade eine Distanz
zu ihr ausdrückt. Das Herz wird dabei zweitens nicht zu einer neuen
Entität als Natur vor der Natur, sondern bleibt als grundloser Grund
ein Mittleres zwischen der Natur und dem Anderen. Drittens kann es,
wenn es einmal entdeckt ist, nicht nicht entscheiden, denn auch das
cor curvatum in se ipsum hat eine Entscheidung getroffen.
Dieser Begriff des Herzens ist nun der Begriff, der dem späteren der
Person zugrundeliegt. Er bedeutet so etwas wie die Entdeckung der
Person. Das wird noch unterstrichen dadurch, daß die Entscheidung
zwischen gut und böse, zwischen Licht und Finsternis nicht eine Ent-
scheidung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist,
die als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt, so daß der
johanneische Christus die eigentlich Sünde darin sieht, »daß sie nicht
an mich glauben«, und an anderer Stelle sagen kann: »Wenn ich nicht
gekommen wäre […], so hätten sie keine Sünde.« 27 Die Erkenntnis der
Wahrheit wird als personaler Akt des »Glaubens« gedacht. Die Wahr-
heit selbst erscheint nicht als das überindividuell Allgemeine, sondern
als konkretes Antlitz eines individuell Anderen. 28
Das Herz bedeutet insofern die Entdeckung der Person, als der Um-
bruch vom Verständnis der Vernunft als Organ des Allgemeinen
durch die reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz
zu einer personalen Vernunft führt, der ein gewandeltes Verhältnis
zur Wirklichkeit entspricht. Da dieser Gedanke nach der hier vor-
gelegten Interpretation als das gedankliche Zentrum von Spaemanns
571
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.
8. Ontologie der Person
29
Spaemann, Personen (1996), 28–29.
572
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.
8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹
30
Spaemann, Personen (1996), 77.
573
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.
8. Ontologie der Person
Der erste Schritt der Annäherung an die Entdeckung der Person be-
stand in der Hermeneutik des im Begriff des Herzens sich konkreti-
sierenden neutestamentlichen Ausdrucks der dem antiken Denken
unbekannten Erfahrung, eine fundamentale Entscheidung in Bezug
auf das Verhältnis zur Welt treffen zu müssen. Um von dieser Erfah-
rung zur Entfaltung des Personbegriffs gelangen zu können, bedarf
es, wie Spaemann bemerkt, eines Exkurses in die Theologie:
Die Geschichte des Personbegriffs ist die Geschichte eines Umwegs,
dessen Vergegenwärtigung uns für eine Weile in den Kern der christ-
lichen Theologie führt. Was wir heute »Person« nennen, wäre ohne
die christliche Theologie unbenennbar geblieben und [–] da […] Per-
sonen ja nicht einfach natürliche Vorkommnisse sind – nicht in der
Welt. Das heißt nicht, daß seine Verwendung nur unter bestimmten
theologischen Voraussetzungen sinnvoll ist, wenngleich es denkbar
ist, daß das Verschwinden der theologischen Dimension auf die Länge
auch den Personbegriff wieder zum Verschwinden bringen würde. 31
31
Spaemann, Personen (1996), 26–27.
574
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
32
S. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität,
583–599. – Auf die Einschränkung, die Spaemann am Ende der zitierten Textstelle
macht, wird zurückzukommen sein in Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personen-
philosophie zur Religion, 643–650.
33 Spaemann, Personen (1996), 30.
34 Ebd. 33.
35 Ebd. – Vgl.: »›Ehe Abraham war, bin ich.‹ Dieses ›Ich‹ Jesu wird im Prolog des
gleichen Evangeliums identifiziert mit dem Logos, vom dem es heißt: ›Im Anfang
war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.‹ Und von diesem Logos
heißt es dann, er sei ›Fleisch‹ geworden.« – Ebd. – Spaemann verweist in Fußnoten auf
die Stellenangaben im Johannesevangelium: Joh. 8,58, Joh. 1,1 und Joh. 1,14. – Ebd.
266.
575
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.
8. Ontologie der Person
36
Spaemann, Personen (1996), 33–34.
576
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.
8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
37
Vgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131.
38 Vgl. ebd. 129.
39
Spaemann, Personen (1996), 34–35.
577
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8. Ontologie der Person
578
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.
8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
Der göttliche Logos verhält sich also als Person einerseits zur gött-
lichen Wesenheit, andererseits noch einmal zu einer menschlichen
Natur:
Daß er ganz Mensch ist, mit menschlicher Seele, menschlichem Geist
und menschlichem Willen, wird nun so ausgedrückt, daß er eine
menschliche »Natur« besitzt. Dem zum Personbegriff komplementä-
ren Begriff des Wesens, der usia in der Trinitätslehre, entspricht nun
in der Christologie der Begriff der Natur, der physis.
Physis ist die usia, das Wesen endlicher Dinge, das heißt der-
jenigen Dinge, die dem Werden und Vergehen unterworfen sind. 45
Der Begriff der Natur als »allgemeine Form oder Wesenheit, durch
die die spezifische Differenz dieser Art von Substanz zu allen anderen
festgelegt ist« 46, diente im 6. Jahrhundert »Boethius zu seiner Defini-
tion des Personbegriffs, die für ein Jahrtausend maßgeblich bleiben
sollte. Danach ist Personalität die spezifische Weise ›rationaler Na-
turen‹, sich individuell zu konkretisieren: ›Persona est naturae ratio-
nabilis individua substantia‹.« 47 Spaemann weist darauf hin, dass
Boethius in dieser Definition »›substantia‹ offensichtlich im Sinn
von ›hypostasis‹ in Differenz zur Wesenheit, die er ›natura‹ nennt« 48,
verwendet. 49 Wesentlich ist, dass der »Sinn der Definition bei
Boethius […] ein ontologischer« 50 ist, der Begriff der Person bezeich-
net Selbstsein, das »in keiner möglichen Beschreibung adäquat dar-
gestellt werden kann« 51. Durch die christologische Vermittlung ent-
wickelte sich so aus einem abstrakten Begriff, der zunächst zur
Lösung des theologischen Problems der Trinität gebildet wurde, der
anthropologische Personbegriff, der offenbar gerade dadurch das
menschliche Selbstverständnis treffen kann, dass er keinen qualitati-
ven Bestand, sondern vielmehr eine erlebte Distanz zu diesem aus-
45
Spaemann, Personen (1996), 37.
46 Ebd. 38.
47
Ebd. – Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats:
A. M. S. Boethius: Contra Eutychen et Nestorium, cap. 3,74. – Ebd. 265–266.
48 Ebd. 38.
49 Vgl.: »Was er mit Substanz meint, wird im gleichen Text dadurch expliziert, daß er
zwei Seiten später in der gleichen Definition ›substantia‹ durch ›subsistentia‹ ersetzt.
Subsistentia aber ist gleichbedeutend mit hypostasis.« – Ebd.
50 Ebd.
51
Ebd. – Vgl. zur Bedeutung der Definition des Boethius: Bexten, Was ist mensch-
liches Personsein?, Abschnitt 3.6.3, Boëthius’ Herleitung des Wortes ›persona‹, 132–
135.
579
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.
8. Ontologie der Person
drückt, und deshalb in der Lage ist, das neu Entdeckte, das mit dem
Begriff des Herzens gefasst wurde, zu bezeichnen.
Insofern die Person also eine Distanz zu ihrer Natur bezeichnet,
unterscheidet sich dieser Begriff grundlegend von dem, was für die
klassische Ausprägung der antiken Philosophie in der aristotelischen
Metaphysik ein Begriff sein kann. 52 Am Ende von Teilkapitel 8.2 wur-
de dieser Begriff als analoger spezifiziert. Zur Konkretisierung dieser
Spezifikation muss nach der Modifikation des begrifflichen Instru-
mentariums der klassischen Metaphysik gefragt werden, die notwen-
dig wurde, um einen Begriff wie den der Person denken zu können.
Der Wandel, um den es hier geht, ist wiederum wesentlich verbunden
mit dem Gegensatz antiker und christlicher Gottesvorstellungen:
Die »erste Substanz«, also das Einzelding, ist für Aristoteles das Sei-
ende schlechthin. Die »Form«, die es zu dem macht, was es ist, macht
auch, daß es ist. »Die Form gibt das Sein«, heißt es noch bei Thomas
von Aquin. 53 Sein heißt, wie auch bei Platon, wesensmäßig struktu-
riert sein, teilhaben an der Idee. Der platonische Demiurg ist kein
Schöpfer, sondern ein Gestalter. Er überführt das Chaos in geordnete
Formen. Daß ein vollständig so und so bestimmtes Einzelnes noch
einmal in einer inneren Differenz zu seinem Sein stehen, also sein
oder nicht sein kann, das ist ein Gedanke, der erst mit der biblischen
Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts möglich wird. Der Schöp-
fung folgt erst in einem zweiten Schritt die Überführung der amor-
phen Potentialität des »Tohu wa bohu« in Form und Bestimmtheit.
52
Vgl.: »Die Subsistenz in einer Natur ist nicht vom Aspekt des Wirklichseins, der
Existenz, zu trennen. Das Sein einer Person ist das Leben eines Menschen. Leben gibt
es aber nur als wirkliches, nicht als mögliches. Dagegen sind die Arten, auch die Art-
natur ›Mensch‹, mögliche Weisen des Soseins. Aristoteles war noch nicht mit dem
Gedanken der Kontingenz vertraut: Sosein und Dasein standen für ihn nicht in der
ontologischen Differenz, denn die Form, die den Dingen ihr Sosein verleiht, macht für
ihn auch, dass es ist. Das Seiende schlechthin ist für Aristoteles die erste Substanz.
Auf sie beziehen sich Entstehen und Vergehen, die immer nur Gestaltveränderung,
das Wechseln der Form, sein können. Das Fehlen des Schöpfungsgedankens ließ noch
nicht jene innere Differenz erkennen, die sich zwischen einem vollständig bestimm-
ten Einzelding und seinem Sein auftut. Das durch Seele und Leib vollbestimmte indi-
viduelle Wesen Mensch verhält sich für Thomas gegen Sein und Nichtsein noch ein-
mal indifferent. Anders die Person: Sie kann nie den Status des bloß Möglichen
besitzen. Sie hat entweder eine je-jetzige Existenz oder sie ist überhaupt nicht. ›Per-
son‹ nennen wir einen Menschen, sofern er aus dem Bereich des Idealen heraustritt
und als lebendiges Wesen zu existieren beginnt, denn das Wirklichsein der Person ist
immer Leben.« – Stickelbroek, Das cerebrale Subjekt, 211–212.
53 Vgl. Anmerkung Spaemanns: »Forma dat esse.« Thomas von Aquin, De princ. nat.
580
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.
8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie
Das »forma dat esse« wird sozusagen noch einmal in Klammern ge-
setzt. Das Ganze aus Materie und Form ist für Thomas von Aquin
noch einmal ideell, eine individuelle Wesenheit. Jedes Individuum be-
sitzt eine solche ideelle Struktur, die sich gegen Sein und Nichtsein
indifferent verhält. Dem entspricht, daß für Thomas von Aquin jedem
Einzelwesen eine göttliche Idee entspricht. Diese Idee ist die Idee
eines Menschen, nicht die einer Person. Denn »Person« nennen wir
diesen Menschen, sofern er außerhalb Gottes, »extra causam«, exis-
tiert. Der Existenz haftet ein Moment unaufhebbarer Faktizität an,
die, wenn sie als geschaffene gedacht wird, dazu nötigt, Gott als Frei-
heit zu denken. 54
Die in der hochmittelalterlichen Theologie durchgeführte Transfor-
mation der aristotelischen Metaphysik, in der die Entdeckung der
Person begrifflich verarbeitet wird, besteht also wesentlich in einer
Verlängerung der klassischen Potenz-Akt-Lehre, durch die die aristo-
telische Form noch einmal in einer inneren Differenz zum Sein und
damit als potentiell gedacht wird. 55 Der Seinsakt wird so ἐπέκεινα
τῆς οὐσίας – jenseits des Wesens – als ein prinzipielles Jenseits des
Begriffs verstanden 56, dessen kognitive Erfassung erst durch die Ent-
deckung der Person möglich geworden ist: »Das Selbstverhältnis der
Person ist Ursprung und Paradigma des Kontingenzgedankens, den
erstmals der islamische Philosoph Avicenna als Differenz von Sosein
und Dasein artikulierte. Personen sind Wesen, die diese Differenz
unmittelbar erleben.« 57 Nur vom personalen Standpunkt als einer
Distanz zur eigenen Natur aus ist Kontingenz im Sinne des Auch-
anders-sein-Könnens wahrnehmbar. Im personalen Standpunkt
nimmt der Mensch damit in gewissem Sinn die Perspektive Gottes
ein. Da die Person – auch die menschliche – nur so gedacht werden
kann, dass sie in ihrem ›Selbststand‹ Gott gegenüber steht, 58 muss
54
Spaemann, Personen (1996), 79–80.
55 Vgl. zum Gedanken der Realdistinktion von esse und essentia bzw. zur Seinsakt-
lehre hier die Abschnitte 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschich-
te, 339, 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 349, 7.2.3, Ordo
amoris und ontologische Verzeihung, 488, u. 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion
des Personbegriffs, 533–534.
56 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 136, 160.
57 Ebd. 81.
58 Vgl.: Das Sein der Person »ist nicht intentionales Sein, Gewusstsein von Gott,
sondern wie das Sein Gottes Selbstsein, das aller Intentionalität zugrunde liegt. Also
nicht ein Traum Gottes. Personen sind Subjekte von Träumen, nicht Objekte. Es ist
Teilhabe am Sein Gottes selbst. Und weil das Sein Gottes selbst als plurales Personsein
581
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.
8. Ontologie der Person
Gott selbst als Ursprung der Freiheit gedacht werden, an der der
Mensch als Person partizipiert. Damit sind die wichtigsten Aspekte
der theologischen Vorgeschichte des Personbegriffs nachvollzogen
und die Voraussetzungen für seine genuin philosophische Konkre-
tisierung geschaffen. 59
verstanden wird, steht die endliche Person Gott so gegenüber, wie die göttlichen Per-
sonen einander gegenüberstehen. Und eben dieser Selbststand, eben diese Nichtiden-
tität mit Gott ist Teilhabe am Sein Gottes.« – Spaemann, Person und Wiedergeburt,
25.
59 Ausführlich untersucht die hier nur knapp beleuchtete Umformung der aristote-
582
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
60 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
61
Cammann, »Ich war ein Chaot«, in: Die Zeit, Nº 19/2012.
583
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.
8. Ontologie der Person
62
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 78.
584
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
›existiert‹ und ›es gibt‹«: »In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das Leben
als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des Lebendigen aus, wie
wir gesehen haben. Darum hat das Lebendige bloß als Lebendiges keine Kontingenz-
erfahrung. Vor ihm als von einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als ›Seien-
dem‹ sprechen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten Selbsttrans-
zendenz fähig sind.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert«
und »es gibt« (2010), 46.
585
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8. Ontologie der Person
67 Vgl. die einführenden Bemerkungen zum Satz des Alltagsverstandes, wonach alle
Menschen Personen sind, und den aus ihm hervorgehenden begrifflichen Schwierig-
keiten in Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. –
Vgl. zur Trias ›Sein – Leben – Person‹ Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus,
560–561, Fn. 142.
68
Spaemann, Personen (1996), 78.
586
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
69
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin: In Eth. ad Nic. lib.
IX, lect. 11, nr. 1902. – Spaemann, Personen (1996), 268.
70
Ebd. 80.
71 Vgl. ebd. 119, 168.
72 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 111, 119, 146, 229–230.
74 Ebd. 40.
75 Ebd.
76 Vgl. zum Zusammenhang von Vernunft und Leben Abschnitt 7.2.1, Conditio hu-
mana, 457–467, und zur angedeuteten Konsequenz die Ausführungen zum Denken
Lockes und Humes in Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Person-
begriffs, 526–537.
587
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8. Ontologie der Person
80
Spaemann, Personen (1996), 216.
588
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
589
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.
8. Ontologie der Person
und können wir nicht auch mit Bezug auf Leben mögliches und wirk-
liches Leben unterscheiden? 84
Die Frage, die damit aufgeworfen wird, besteht darin, »ob Leben zum
Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins
meint« 85, ob es Eigenschaft eines Seienden oder Akt des Seins ist. Nur
im letzten Fall kann im Sinne des metaphysisch-analogen Denkens
das Sein der Person als Steigerung des Lebens gedacht und der aus
der Theologie übernommene Begriff der Person metaphysisch fun-
diert werden. Wenn ›Leben‹ nicht immer wirklich ist, sondern als
mögliches denkbar ist, scheitert die Fundierung des Personbegriffs
im lebendigen Aussein-auf. Auffällig ist nun aber, dass Spaemann
diesen Einwand des Reduktionismus in eine Form kleidet, in der mit
der Traumerscheinung und der Kinofiktion sehr spezifische Wahr-
nehmungsweisen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt
werden. Offensichtlich geht es ihm gar nicht um den prinzipiellen
reduktionistischen Einwand, dass Leben nicht von seiner Simulation
zu unterscheiden ist, sondern um die Frage, ob diese spezifischen
Wahrnehmungsweisen zu dem reduktionistischen Schluss nötigen.
Diese Lesart wird dadurch bestätigt, dass er als Antwort auf die ge-
stellten Fragen nicht in eine Diskussion des Reduktionismus eintritt,
sondern vielmehr die Wahrnehmungsweise im Hinblick auf phäno-
menal gegebene Wirklichkeit untersucht. Seinem eigenen auf die
Beispiele der Traumerscheinung bzw. der Kinofiktion hinweisenden
Einwand stellt Spaemann folgende Differenzierung des Lebens-
begriffs entgegen:
Alles Lebendige gehört einer Art an und hat eine Gestalt. Biologische
Arten sind »Weisen« des Lebens, so wie generell Wesenheiten, So-
seinsformen, Weisen des Seins sind. Diese Weisen lassen sich von
ihrem Vollzug abstrahieren und als ideelle Wesenheiten denken, die
verwirklicht oder nicht verwirklicht sein können, so wie musikalische
»Weisen« von ihrer tatsächlichen Aufführung ablösbar und zum Bei-
spiel schriftlich fixierbar und reproduzierbar sind. Weisen des Seins
sind Möglichkeiten, Sein ist Wirklichkeit. Ein geträumtes oder im
Film gezeigtes Tier ist eine Weise des Lebens, mit Bezug auf die wir
fragen können, ob sie wirklich gelebt wird. Leben gehört zu ihrem
Begriff, aber wir können aus diesem Begriff nicht ihr wirkliches Ge-
lebtwerden ableiten. Auch ein bestimmter Löwe kann als Weise des
590
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
Lebens nur so aussehen, als ob er lebte. Leben als solches kann nicht
sein oder nicht sein. Es ist Sein. 86
Die hier entwickelte Unterscheidung zwischen ablösbaren Weisen des
Seins bzw. des Lebens und dem Leben bzw. dem Sein selbst blendet
den reduktionistischen Einwand aus und fragt stattdessen nach dem
Subjekt dieser spezifischen Wahrnehmungsweisen, für das die Unter-
scheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem von Bedeutung
ist. Wer erinnert Träume und schafft fiktive Welten? »Wer Wieder-
kehr in Träumen weiss,/ den dämmt kein sterbliches Gefüge« 87 –,
dichtete 1940 Gottfried Benn und fand damit einen Ausdruck für
den spezifisch personalen Zugang zur Welt. Durch die in der Selbst-
erfahrung fundierte Fähigkeit der Person, zu allem phänomenal Ge-
gebenen auf Distanz zu gehen, eröffnet sich ihr ein Spielraum des
Umgangs mit ›Weisen des Lebens‹, der im Sich-Beziehen auf Traum-
erscheinungen beginnt und in den fiktionalen Welten der Künste
ihren paradigmatischen Ausdruck findet. 88 Gegenüber dem phäno-
menal Gegebenen scheint daher ein Agnostizismus die einzige kon-
sequente Haltung zu sein. »Alles Qualitative, alles Phänomenale ist
simulierbar.« 89 Zugleich aber gilt, dass das Phänomenale über sich
hinausweisen kann auf etwas, »das sich zeigt und sich zugleich ver-
birgt« 90. Es gibt kein Kriterium, um das Wirkliche vom Unwirklichen
zu unterscheiden 91, sondern nur die Auflösung von Täuschungen,
also beispielsweise das Erwachen aus dem Traum oder das wiederkeh-
rende Bewusstsein, einen Kinofilm zu sehen. Hier erhält nun die Ent-
scheidung des ›Herzens‹, »welcher der beiden Motivationen wir fol-
gen« 92 – der »Selbstbehauptung« oder der »Selbsttranszendenz« 93 –,
ihre philosophische Deutung. Wenn man nicht die extreme Kon-
sequenz des Solipsismus wählt, 94 in der alles phänomenal Gegebene
86
Spaemann, Personen (1996), 80–81.
87 Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, 293.
88
Vgl. im Kapitel »Fiktion« – Spaemann, Personen (1996), 91–101: »Menschen er-
weisen sich darin als Personen, daß sie die Welt der Zeichen vom Bezeichneten unter-
scheiden und deshalb über sie auf freiere Weise verfügen als über Dinge, die ohne uns
sind, wie sie sind.« – Ebd. 97.
89 Spaemann, Personen (1996), 88.
90 Ebd. 89.
92
Spaemann, Personen (1996), 216.
93 Ebd. 214.
94
Vgl.: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und bleibt eine metaphy-
591
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.
8. Ontologie der Person
als reines Für-mich aufgefasst wird, sondern etwas anerkennt, für das
gilt, dass man seinerseits zugleich für dieses ist, wenn man also Sein
in irgendeiner Form anerkennt, ergibt sich jene perspektivische Inver-
sion, um die es Spaemann in diesem Gedankengang geht. Die den
Solipsismus sprengende Anerkennung von Sein zwingt zu einer per-
spektivischen Umkehr, insofern das phänomenal Gegebene, über das
wir uns immer täuschen können, auf das hin betrachtet wird, was sich
in seinem Erscheinen verbirgt. Diese Sicht sprengt das subjekt-
philosophische Paradigma, das noch in der Rede vom Seinsakt wirk-
sam ist: 95
Die Vorstellung vom Sein als Akt, der einem Wesen zukommt, hat die
logische Schwierigkeit, immer schon die Wirklichkeit dessen voraus-
zusetzen, dessen Akt das Sein ist. So werden wir dazu geführt, umge-
kehrt Wesenheiten zu denken als »Weisen zu sein«. Endliches Sein ist
nur als Seinsweise. Die Weise hat nicht Sein, sondern das Sein hat
sie. 96
Durch die perspektivische Inversion wird die Wahrnehmung von
Substanzen unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjekt-Wech-
sels möglich. Dass das prinzipiell nicht phänomenal gegebene Sein die
von uns im Denken und Vorstellen ablösbaren Weisen des Seins hat,
dass dieses Nicht-Gegebene die Substanz der phänomenal gegebenen
Weisen zu sein ist, spiegelt in der Welt des Seienden bzw. nichtper-
sonalen Lebendigen die spezifisch personale Wahrnehmung in nega-
tiver Form wider, insofern die ablösbaren ›Weisen des Seins‹ mit der
›gehabten Natur‹ korrelieren, das personale ›Haben einer Natur‹ aber
mit der im Zeigen sich verbergenden Substanz. Diese Inversion der
Wahrnehmung ist die epistemologische Spur der Entdeckung der Per-
son, durch die sie präsent bleibt selbst in ihrer Abwesenheit. In dieser
Inversion zeigt sich das Eintreten der Person in den ihr voraufgehen-
den Zusammenhang des Ausseins-auf.
wie von einer Tätigkeit, die von Subjekten ausgeübt wird. Aber um eine Tätigkeit
auszuüben, muß ein Subjekt ja schon existieren. Bei der ›Tätigkeit‹ des Existierens
scheint es vielmehr so zu sein, daß sie es ist, die das Existierende sein läßt. So daß
wir eher sagen können: das, was existiert, ist eine Weise zu sein.« – Spaemann, Per-
sonen (1996), 40.
96
Spaemann, Personen (1996), 82.
592
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
nevolentiae, 475.
100 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.
101
Spaemann, Personen (1996), 40.
593
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.
8. Ontologie der Person
haupt nur sind, sofern sie ein Wesen, ein endliches Sosein, eine Natur
haben. Ihre Kontingenzerfahrung ist ein Blick von nirgendwo, Per-
sonalität eine Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolu-
tem und Endlichem. Dieser Indifferenzpunkt ist das, was wir Freiheit
nennen, also ein Nichtbestimmtsein durch das Gesamt dessen, was
jemand ist, und damit die Möglichkeit, alles zur »Weise« gewordene,
also die ganze Geschichte, erneut zu distanzieren, aber dies nicht aus
der positiven Kraft eines eigenen Energiepotentials oder einer eigenen
Struktur, von denen aus sich andere Präferenzen ergäben als diejeni-
gen, die in der eigenen Natur vorgezeichnet sind. Sonst wäre ja Frei-
heit selbst wieder eine Natur vor der Natur, ein Sosein, das Entschei-
dungen aus eigener Vollmacht determinierte. Der Indifferenzpunkt
der Freiheit ist der personale Ort, von dem aus es immer prinzipiell
möglich erscheint, das eigene Denken und Wollen könnte nur das ei-
gene Denken und Wollen als eine Idiosynkrasie sein. Nur zusammen
mit diesem Bewußtsein bleibt die Transzendenz in der Bewegung, die
auf Sein als das Jenseits des Gedankens geht. 102
Hier wird nun gleich durch eine Vielzahl von Varianten – ›Blick von
nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolu-
tem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt der Freiheit‹, ›personaler Ort‹
– der Punkt benannt, an den die doppelte Negation, das Transzendie-
ren des natürlichen Ausseins-auf geführt hat. Von diesem Punkt aus
enthüllt sich im Rückblick die ›Kontingenz der Welt‹, womit der An-
spruch verbunden ist, dass sich in diesem ›Blick von nirgendwo‹ die
Wahrheit auch des der Personalität voraufliegenden Zusammenhangs
noch enthüllt. Bevor die mit dem Eintreten der Person verbundene
Verwandlung dieses Zusammenhangs abschließend zu fassen ver-
sucht wird, sind noch einige Bemerkungen zur impliziten Auseinan-
dersetzung Spaemanns mit dem in Descartes’ Meditationen ent-
wickelten Neuansatz der Philosophie in dem zitierten Absatz zu
machen. Dass der ›personale Ort‹ mit der Möglichkeit des ›eigenen
Denkens und Wollens als Idiosynkrasie‹ verbunden wird, unter-
streicht noch einmal, dass Descartes, wie oben dargelegt wurde, in
seinem Ansatz wesentliche Charakteristika der Person freigelegt
hat. 103 Die Person sieht sich stets der Möglichkeit ausgesetzt, einer
Täuschung zu erliegen, wobei gerade dieses Bewusstsein Antrieb ist,
sich zum eigenen Sosein zu verhalten. Die nach Spaemann falsche
102
Spaemann, Personen (1996), 82–83.
103 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–527
u. 534–536.
594
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.
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
104 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 521.
105 Es geht bei dieser ›Schwebe‹ um die im Denken erreichbare Distanz zum gegebe-
nen, qualitativ bestimmbaren Sosein, die nicht in dem Sinn verfügbar ist, dass über sie
andere als rein negative Bestimmungen aufgestellt werden können. Eine Argumenta-
tion, die diesen Punkt als reine Idiosynkrasie herauszustellen versucht, verstrickt sich
in Widersprüche, da wir, wenn es sich um Idiosynkrasie handelte, davon nichts wissen
könnten, der Idiosynkrasiegedanke also selbst ein Argument für die Existenz dieses
Punktes ist. Jeder Versuch einer positiven Bestimmung dieses Punktes muss in ir-
gendeiner Weise mit dem Absoluten ein begrifflich Unverfügbares in die Argumen-
tation einbeziehen. Spaemanns Argumentation zeigt aber, dass ein solcher spekulati-
ver Gedankengang nicht notwendig ist, um im Rahmen philosophischer Reflexion
diesen Punkt zu erreichen. Jeder Versuch, das Ganze zu denken, müsste dagegen in
eine religiöse Reflexion führen. In diesem Sinne ist der Gedanke der ›Schwebe‹ an-
schlussfähig an das religiöse Denken, selbst aber ein genuin philosophischer Gedanke.
106
Vgl.: »Die drei ›Hypostasen‹ der Gottheit aber, wie die Griechen sagten, sollten
bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtigkeit des Einen erlaubt
keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere Differenzierung, aufgrund deren die-
se Einheit nun als Prozeß der Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung
gedacht wird, mit anderen Worten: als Leben.« – Spaemann, Personen (1996), 34–35.
107 Wie oben im Kontext der aristotelischen Fassung der Teleologie bemerkt wurde,
595
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.
8. Ontologie der Person
volles Sein, das noch einer weiteren Steigerung fähig ist in der Per-
sonalität. Die Entdeckung der Person bedeutet, dass Vernunft nicht
länger Organ des Allgemeinen ist, sondern dass in der reflexiven
Wendung die Vernunft als individuelle ihrer selbst bewusst wird
und sie im Bewusstsein ihrer Partikularität eine Selbsttranszendenz
vollzieht, durch die das Allgemeine zuallererst personal gefasst wird,
also Personen selbst das Allgemeine werden, »Totalitäten, im Ver-
hältnis zu denen alles Teil ist« 108. Diese Steigerung zum ›personalen
Ort‹ bezeichnet keinen festen Standpunkt, sondern einen ›Blick von
nirgendwo‹, der sich nun zurück auf den teleologischen Zusammen-
hang richten lässt, in den die Person dadurch eingetreten ist, dass sie
ihn transzendiert und im dreifachen Sinn aufgehoben hat. Die Person
hat den teleologischen Zusammenhang überwunden, insofern ihr
Transzendieren der Natur selbst nicht mehr Natur ist. Sie bewahrt
den Zusammenhang, insofern sie über kein eigenes Energiepotential
verfügt, sondern Personalität nur ein Verhältnis zu dem von seiner
Verwirklichung unabhängigen, also als potentiell erlebten teleologi-
schen ›forma dat esse‹ ist. 109 Sie hebt den Zusammenhang drittens auf
eine neue Stufe, insofern im Transzendieren der Natur die Wahrheit
über das Natürliche erst zu Tage kommt. 110 Personalität ist ein Para-
digma der Weltwahrnehmung, das im interpersonalen Begegnungs-
geschehen erst ganz zu sich kommt, durch das aber, einmal entdeckt,
die Differenz zwischen dem gegebenen Sosein und dem im Erschei-
nen sich verbergenden Sein sich in Abstufungen auch im nichtper-
sonalen Lebendigen und im nichtlebendigen Seienden enthüllt. Die
Funktion der Person in dem durch sie verwandelten Zusammenhang
besteht sowohl darin, dass die im Sein angelegte ontologische Diffe-
renz erst durch sie zu Bewusstsein kommt, als auch darin, dass Sein in
ihr zuallererst als Sein in Erscheinung tritt. Denkbar wird ›Person‹
also nur zusammen mit ›Leben‹ und ›Sein‹ als analoge Begriffe, deren
Gemeinsamkeit die ontologische Differenz von Sosein und Dasein
596
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
bzw. Essenz und Existenz ist, die uns in der personalen Wahrneh-
mung als ›Blick von nirgendwo‹ gegeben ist, im nichtpersonalen
Lebendigen aber als Aussein-auf und im nichtlebendigen Seienden
als im Erscheinen sich verbergendes Sein Korrelat eines Aktes der
Anerkennung ist. 111
Die Ausführungen in diesem Abschnitt verfolgten das Ziel, die
genuin philosophische Denkbarkeit des aus der Theologie übernom-
menen Begriffs der Person darzulegen. Die von Spaemann für das
neuzeitliche Denken diagnostizierte »Personvergessenheit« 112 zeugt
nun davon, dass neben dieser theoretischen Problematik der Person-
begriff auch Thema der praktischen Philosophie ist. Schon in der Ein-
leitung zu diesem Teilkapitel war die Rede von der Doppeldeutigkeit
der Person, die als Entdecktes eine Aktualisierung des antiken Den-
kens und als Entdeckung das historische Ereignis bezeichnet, aus dem
sich die Notwendigkeit neuzeitlicher Aktualisierungen erst ergibt.
Für die praktische Philosophie stellt sich damit die Frage, wie die Per-
son als entdeckte latent sein kann, wie die Präsenz der Personalität zu
denken ist für diejenigen, die ihren Platz im Raum der Personen nicht
111 Da Eduard Zwierlein das Teleologiekonzept Spaemanns 1987 ohne Kenntnis des
Personen-Buchs und somit des hier explizierten Zusammenhangs der Ontologie der
Person durchdenkt, gelangt er zu einer prinzipiellen Deutungsschwierigkeit: »Der
Mensch sucht zunächst in einem kontinuierlichen, zäsurfreien Deutungsschema in
fortgesetzter Reflexion jede Erscheinung als teleologisch in Analogie zur Selbstwahr-
nehmung zu verstehen und verwendet also die menschliche Handlung tendenziell als
Schema einer paradigmatischen Universalextrapolation.« – Zwierlein, Das höchste
Paradigma des Seienden, 126. – Da diese Extrapolation nach Zwierlein an die Ein-
drucksqualität lebendiger Prozesse gebunden ist, liegt das Anorganisch-Tote jenseits
der Grenze möglicher Extrapolation: »Die genannte Extrapolationsgrenze scheint
Spaemann mit Hilfe des Gottesbegriffs überwinden zu wollen. Eine teleologische
Universalextrapolation müßte sich demnach für ihren abschließenden Verstehens-
horizont auf ein theologisches Teleologiekonzept gründen.« – Ebd. 127. – Unter der
Voraussetzung einer solchen theologisierenden Deutung der Spaemann’schen Teleo-
logiekonzeption ergibt sich dann für Zwierlein eine »Problemverdopplung«, da die
Einbeziehung des Gottesbegriffs zum klassischen Theodizee-Problem führen muss:
»Im Rückgriff auf den Gottesbegriff der Synthesis von Sein und Sinn würde sich der
Mensch daher den Verbund von Kausalität und Teleologie, die Problematik des An-
organisch-Toten und die Unbegreiflichkeit seiner eigenen Zweiheit begreiflich machen
wollen an Hand einer noch größeren Unbegreiflichkeit.« – Ebd. 129. – Der von Zwier-
lein konstatierte »logische Anthropomorphismus des teleologischen Verstehens« –
ebd. – kann nach meinem Dafürhalten nur überwunden werden, wenn Spaemanns
Teleologiekonzept mit der hier explizierten Ontologie der Person in Zusammenhang
gesetzt wird.
112
Spaemann, Personen (1996), 106.
597
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8. Ontologie der Person
Schon die natürliche Egozentrik ist ja nicht egoistisch, sondern enthält eine Tendenz
zur Selbstüberschreitung. Der amor benevolentiae kann sich so unmittelbar aus dem
amor concupiscentiae entwickeln, daß der Eindruck eines Kontinuums entsteht.« –
Ebd. 197.
116
Ebd. 191.
598
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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität
117 Mit Bezug auf die Ausführungen zum Problem des Sprungs im Bereich der prak-
tischen Philosophie – vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbst-
transzendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396–397 – lässt sich im Rückblick
folgern, dass die epistemologische Spur der Entdeckung der Person in der personalen
Wahrnehmung jene neuzeitliche Aktualisierung des aristotelischen θύραθεν-Gedan-
kens darstellt, deren Fehlen dort beklagt wurde. – Vgl. dazu auch Spaemann, Hirn-
forschung und Willensfreiheit (2009), 146–147.
118 Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in einer positiven Philosophie
und zu deren Aufgabe: »Um festzustellen, dass die Dinge so, wie sie die Vernunft
ableitet, tatsächlich existieren, ist die Vernunft auf die Erfahrung angewiesen. Aber
selbst, wenn sich die Dinge, so wie sie apriorisch als möglich erkannt worden sind, in
der Erfahrung verifizieren ließen, wären die Dinge in ihrem Dasssein nicht von der
Vernunft selbst hervorgebracht. Die Vernunft muss vielmehr erkennen, dass die in
ihrem Wirklichsein hervorgebrachten Dinge wiederum nur einer ursprünglicheren
Wirklichkeit entsprungen sein können, die jedenfalls nicht die Vernunft selbst ist.
Die Reflexion auf diese ontologische Differenz zwischen der Vernunft und einer sie
begründenden und nicht in ihr selbst aufgehenden Wirklichkeit führt die Vernunft
über sich selbst hinaus. Das Konzept der Vernunftwissenschaft, in der alles, was exis-
599
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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung
tiert, in der Vernunft begriffen ist, bedarf also selbst der Begründung in einer Wirk-
lichkeit, die das Wirklichsein der von der Vernunft erkannten Dinge und damit das
Wirklichsein der Vernunft selbst verbürgt.« – Meier, Transzendenz der Vernunft und
Wirklichkeit Gottes, 103. – In diesem Sinne gehen die Ausführungen des nächsten
Teilkapitels über die Problematik des Sprungs hinaus und von der Wirklichkeit der
Personen aus. Die Überlegung setzt als positive Philosophie »mit dem, was allem
Denken schlechterdings transzendent ist, neu ein«: »Sie setzt an mit der absolut au-
ßerhalb der Vernunft stehenden Wirklichkeit, die diese sich in ihrem Selbstvollzug
voraussetzen muss. Da in dieser Wirklichkeit nichts von der Potentialität der Ver-
nunft ist, kann sie nur als das bloß Seiende, das nur Existierende verstanden werden.«
– Ebd. 104.
1 Dabei kann allerdings aus dem Gedankengang selbst wieder eine Argumentation
entwickelt werden, die einen solchen Verzicht auf Reflexion nachträglich rechtfertigt.
– Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:
Gewissen und Versprechen, 613–624.
600
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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung
601
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8. Ontologie der Person
der nur möglich ist in der simultanen Wahrnehmung der Orte ande-
rer Personen. Das ›Haben einer Natur‹ ist damit nur die subjektive
Bedingung der Möglichkeit von Begegnung. Die Entdeckung dieses
Habens kann in die curvatio zurückschlagen oder Gestalt annehmen
im Ereignis der Begegnung, das somit als eigentlicher Ausdruck die-
ses Habens erscheint. Daher ist es die Aufgabe der Untersuchungen
in diesem Teilkapitel zu zeigen, wie das Geschehen der Begegnung
möglich wird, wie sich dieses Geschehen gegenüber der Reflexion,
die ja keineswegs überwunden ist, erhalten kann und was sich
schließlich in diesem Geschehen ereignet, d. h. welche Verwandlung
der Mensch als Person durchläuft.
Vorab sei ein Ausblick auf die Gedankenschritte in diesem Teil-
kapitel gegeben. Zunächst wird nach der subjektiven Voraussetzung
des Eintritts in den apriorischen Beziehungsraum der Personen ge-
fragt, wobei sich diese Fragestellung als ebenso unbrauchbar für den
Zugang zum Ereignis der Begegnung erweisen wird wie der komple-
mentäre Versuch, von der Intersubjektivität einen Weg zur Subjekti-
vität zu finden. In einem zweiten Anlauf wird daher personale Sub-
jektivität als intersubjektives Vermitteltsein gedeutet, das, wie sich
zeigen wird, durch die Zeitlichkeit gestiftet ist. Deren nähere Betrach-
tung führt zur Freilegung einer Ambivalenz der Zeit, die für die Per-
son Entropieprinzip und zugleich Bedingung der Möglichkeit von
Identität ist (8.4.1). Im zweiten Schritt geht es unter Wiederaufnah-
me eines zentralen Themas der Studien über Fénelon um die Frage,
wie die Person als ›Haben einer Natur‹ gedacht werden kann, ohne
dass die Reflexion die konstitutive Distanz zu ihrer Natur aufhebt.
Die Kontextunabhängigkeit der Person wird dazu auf ihre epistemo-
logische und sittliche Bedeutung hin befragt und im apriorischen
Kontext von Personalität fundiert. Die im Durchgang durch die alle
Transzendenz einholende Reflexion erreichbare vermittelte Unmit-
telbarkeit fasst Spaemann im Begriff des Gewissens als Ausdruck der
Differenz zur eigenen Natur und damit die Person als ontologisches
Versprechen (8.4.2). Abschließend wird die Frage gestellt, die noch
hinter die Reflexion zurückgeht und auf den ersten Antrieb zielt, der
noch vor jedem konkreten Wollen steht. Um das Problem der Wil-
lensfreiheit angehen zu können, bildet Spaemann den von Harry
Frankfurt inspirierten Begriff des ›primären Wollens‹, mit dem die
Möglichkeit von Freiheit im Verhältnis der Person zu ihrer Natur
fundiert wird und der Gedankengang an die der Entdeckung der Per-
son zugrunde liegende Spontaneität des Herzens anknüpft. In der
602
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.
8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
603
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.
8. Ontologie der Person
5
Spaemann, Personen (1996), 67.
6 Ebd. 69.
7
Ebd.
604
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.
8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
8 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor be-
nevolentiae, 467–479.
9
Spaemann, Personen (1996), 193.
10 Ebd. 169.
11
Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467.
605
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8. Ontologie der Person
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
denden Zug dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 16 macht, ihn je-
doch sogleich falsch interpretiert, muss in der Vertiefung der Analyse
dieser Fehlinterpretation 17 an dieser Stelle die Frage interessieren,
welchen zentralen Aspekt der Konstitution personaler Identität Des-
cartes durch seine Abstraktion ausgeblendet hat. Die Antwort ist be-
reits im Begriff der Instantaneität enthalten: »Die Konstitution per-
sonaler Identität ist untrennbar von dem Prozeß des Sich-selbst-
äußerlich-werdens, vom Prozess der Selbstenteignung durch die
Zeit.« 18 Descartes interpretierte »das Haben der eigenen Natur als
Herrschaft« 19; die Zeit erscheint als ein Prinzip, das dieses Interesse
gerade untergräbt:
Zeitlichkeit […] bedeutet, daß Subjektivität im Aussein, im Ausgrei-
fen auf das, was sie noch nicht ist, sich selbst fortwährend zu Vergan-
genem, also zu einem Außen wird. Dieses Außen ist aber nicht von der
Art subjektloser Gegenständlichkeit, sondern selbst ein äußerlich ge-
wordenes Innen oder auch ein »inneres Außen«. Der erinnerte Hun-
ger, über den ich mit mir selbst ebenso wie mit anderen sprechen kann,
bleibt immer mein Hunger, obgleich ich jetzt, wo ich mich seiner ent-
sinne, nicht hungrig bin. Durch dieses Objektivwerden des Subjekti-
ven als des Subjektiven durch dessen Gewesensein wird es möglich,
daß Subjekte auch für andere als Subjekte objektiv sein können, und
das heißt, daß sie Personen sind. 20
Das Selbstverhältnis der Person als ›Haben einer Natur‹ bedeutet in
seiner zeitlichen Dimension durch die »intentio obliqua der Erinne-
rung« 21, dass sie sich selbst immerzu zu einem Anderen wird, den sie
dennoch als mit sich identisch weiß. Damit ist die Zeitlichkeit die
Voraussetzung dafür, dass überhaupt von der Wahrnehmung anderer
Personen die Rede sein kann. Diese Wahrnehmung kann nämlich
nicht auf bloßer Rezeptivität beruhen, denn »Selbstsein ist ja per de-
finitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist« 22. Person kann
immer nur das Korrelat eines Aktes der Anerkennung sein:
19 Ebd. 145.
20 Ebd. 116.
21 Ebd. 116–117. – Vgl. »In der Erinnerung wird die intentio recta auf intentionale
Gehalte zur intentio obliqua. Indem ich mich des Erlebens erinnere, erinnere ich mich
zugleich, ja primär des Erlebten selbst.« – Ebd. 113.
22
Ebd. 193.
607
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8. Ontologie der Person
Sie setzt ein passives Gegebensein voraus. Der Andere muß mir in der
sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen »Mensch« gegeben sein, in
der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges gegeben ist. Sein Person-
sein aber ist wesentlich das nie Gegebene, sondern in freier Anerken-
nung Wahrgenommene. Der Doppelsinn des Wortes »wahrnehmen«
kommt hier zum Tragen. So sagen wir, daß wir die Interessen eines
Menschen wahrnehmen, wenn wir sie uns zu eigen machen und Drit-
ten gegenüber vertreten. Nur in diesem Sinn werden Personen »wahr-
genommen«. 23
Wenn jedoch die Semantik von ›wahrnehmen‹ in diesem Zusammen-
hang von ihrer sinnlichen Konnotation völlig gelöst würde, wären
Beziehungen zwischen Personen nur möglich in der abstrakten Form
der reinen Anerkennung ihrer Rechte. Daraus folgt, dass die Person
erst aus dem Verhältnis zu sich selbst in der Zeit allmählich die Fähig-
keit entwickeln kann, andere Personen in einem starken Sinn wahr-
zunehmen, das heißt über die bloße Anerkennung hinaus mit ihnen
in eine Beziehung treten zu können:
Das Sich-äußerlich-werden der Subjektivität als Zeitlichkeit ist also
die Bedingung der für Personen wesentlichen Intersubjektivität.
Wenn wir Intersubjektivität denken wollen, stehen wir ja vor dem
Problem, daß uns fremde Innerlichkeit nur in symbolischer Repräsen-
tation, also in Gestalt natürlicher Bestimmungen, aber gerade nicht als
Subjektivität gegeben ist. Alles, was mir ein anderer zukehren kann,
23
Spaemann, Personen (1996), 194. – Auf das »Paradox«, von dem Spaemann hier
spricht, dass Anerkennung einerseits eine Aktivität sei, der eine Rezeptivität voraus-
gehe, die Person aber nicht als Phänomen gegeben sei, geht Charles Larmore ein:
»Wenn Philosophen von Paradoxa sprechen, geht es meist darum, daß die analytische
Arbeit noch nicht weit genug getrieben worden ist. Zwei Meinungen können nicht
zugleich wahr und inkompatibel sein, und wenn sich beide als unausweichlich er-
weisen, dann sollte man zeigen, in welchem Sinne sie sich vereinbaren lassen. Das
tut Spaemann nicht.« – Larmore, Person und Anerkennung, 462. – Dem ist zu wider-
sprechen, da Spaemann durchaus zeigt, in welchem Sinn die beiden Aussagen sich
vereinbaren lassen. Vgl. die folgenden Ausführungen zum »Sich-selbst-äußerlich-
werden der Subjektivität«. – Larmores Missverständnis der Spaemann’schen Konzep-
tion scheint mir darauf zurückzuführen zu sein, dass er Spaemann in der Frage nach
der Genese des Selbstverhältnisses der Schule zuordnet, die Subjektivität als sekun-
däres Phänomen aus der Intersubjektivität ableiten will. – Vgl. Larmore, Person und
Anerkennung, 462. – Wie oben dargelegt wurde, verhilft der Gedanke des Kontinu-
ums von Leben und Bewusstsein aber zu der Einsicht, dass Subjektivität und Inter-
subjektivität als mit der Entdeckung gleichzeitig entstanden zu denken sind und die
Frage nach der Priorität einer der beiden Seiten das πρώτον ψεύδος dieser Überlegung
ist. – Vgl. in diesem Abschnitt, 603–604.
608
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
ist immer eine Außenseite. Die Kluft wäre unüberbrückbar, wenn end-
liche Subjekte nur instantan, als einzelne Bewußtseinsereignisse exis-
tierten. Diese könnten keine Außenseite haben. Eine solche Außen-
seite wäre vielmehr gerade das Gegenteil jedes »Innen«. Das Wort
»Repräsentation« wäre eine bloße Vokabel, mit der wir die Unüber-
brückbarkeit der Kluft verschleiern würden. 24
Der Gedanke der Repräsentation, der schon in den Essays der 80er
Jahre ein Schlüsselbegriff der metaphysischen Konzeption Spae-
manns war 25 und dort einen in den theologischen Bereich verweisen-
den Grenzbegriff philosophischer Reflexion bezeichnete, wird nun in
»Personen« durch die Reflexion auf das zeitliche Selbstverhältnis zur
Explikation des Ereignisses der Begegnung verwendet. Personale
Subjektivität kann überhaupt nur aus einem intersubjektiven rezi-
proken Zusammenhang begriffen werden, in dem es keine Priorität
von Ich oder Anderem gibt. Einerseits kann Subjektivität im Anderen
nur dadurch wahrgenommen werden, dass die eigene Subjektivität in
der Erinnerung zu einem Außen wird; andererseits aber liegt diesem
zeitlichen Selbstverhältnis immer schon ein internalisierter Blick von
außen zugrunde.
Bisher wurde die Zeitlichkeit thematisiert als »Bedingung der
für Personen wesentlichen Intersubjektivität« 26; für den abschließend
darzustellenden Zusammenhang wird die Zeitlichkeit ebenfalls eine
Rolle spielen, jedoch in einem gegenläufigen Sinn, insofern gezeigt
werden soll, dass es für die Person wesentlich ist, über der Zeit zu
stehen. Dieser Gedanke mag zunächst verwundern: Wie sollte die
Person als Haben einer endlichen Natur über der Zeit stehen? Im
Gegenteil ist es doch so, dass das »Sich-äußerlich-werden« der Sub-
jektivität, ohne das es Personalität überhaupt nicht gäbe, ihr eine Art
Entropiegesetz zugrunde legt: »Zeit ist die Bedingung des Objektiv-
werdens von Innerlichkeit und damit Bedingung endlicher Personali-
tät. Aber dieses Objektivwerden der Innerlichkeit bedeutet zugleich,
daß sie unwirklich wird.« 27 Was dabei unwirklich wird, ist allerdings
nur die Innerlichkeit; der Gedanke einer Überzeitlichkeit der Person
beruht darauf, dass sie, obzwar sie mit dieser Innerlichkeit ein Kon-
27
Ebd. 118.
609
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8. Ontologie der Person
31 Ebd. 120.
32 Ebd. 120–121.
33
Auf die religiöse Dimension des Personen-Buchs wird erst an späterer Stelle in
Form eines Nachtrags eingegangen werden. – S. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der
Personenphilosophie zur Religion, 643–650.
610
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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis
den, das die Zeit vom Entropieprinzip in die Bedingung der Möglich-
keit ihrer Aufhebung verwandelt. Auch wenn Spaemann diese ge-
nuin philosophische Erklärung nicht explizit ausführt, geht eine sol-
che implizit aus den Folgerungen hervor, die er zieht:
Nun wäre der Unterschied zwischen den Augenblicken tatsächlich ein
wesenloser und Zeit ein pures Weggleiten von Sein, wäre die jeweilige
Gegenwart nicht mit Inhalt gefüllt. Es ist ja nicht »die Zeit«, die fließt,
sondern das wechselnd gestimmte und mit wechselnden Inhalten ge-
füllte Erleben. Personen sind nicht dem Aussein auf das stets ent-
gleitende Sein ausgeliefert, sondern können diese Inhalte aufeinander
beziehen, so daß sich eine Zeitgestalt ergibt. Die neutrale Zeit als un-
endlicher und unendlich teilbarer Fluß ist eine bloße Abstraktion. Die
Wirklichkeit besteht aus erlebten Inhalten von wechselnder Dauer.
Personen sind, indem sie solche Inhalte aufeinander beziehen, selbst
Zeitgestalten. 34
Der Begriff der ›Zeitgestalt‹ ist von zentraler Bedeutung für das Ver-
ständnis der Zeit als Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstauf-
hebung. Der phänomenale Gegebenheit suggerierende Begriff der
Gestalt steht als Metapher für das in der Begegnung sich ereignende
Aufeinanderbeziehen von erlebten Inhalten, das die Zeit als bloßes
Vergehen aufhebt. Den metaphorischen Charakter des Begriffs unter-
streicht Spaemann durch den Vergleich mit musikalischen Werken:
Paradigmatisch für eine Zeitgestalt ist die Musik. Die Elemente eines
Musikwerkes sind nicht einzelne Töne, sondern kleine Tonfolgen, de-
ren Länge in den Bereich der unmittelbaren Retention fällt, die also so
etwas wie eine ausgedehnte Gegenwart sind. Das ganze Stück als Ge-
stalt kann nur in bewußtem Erinnern und Aufeinanderbeziehen der
Elemente realisiert werden. Oft bedarf es dazu mehrerer Wieder-
holungen, vielleicht sogar einer theoretischen Beschäftigung mit dem
Werk. Was hier in der Zeit realisiert wird, ist etwas durchaus »Ideel-
les«, Zeitloses, das doch ohne Zeit gar nicht zu denken ist. 35
Es geht somit um eine fundamentale Ambivalenz der Zeit, in der sich
letztlich die beiden Aspekte der ›gehabten Natur‹ und des ›Habens
einer Natur‹ widerspiegeln. Als Entropieprinzip wird die Zeit wahr-
genommen vom Lebewesen, genauer gesagt aus der im Bewusstsein
fortwirkenden Perspektive der ihrer selbst bewusst gewordenen le-
bendigen Zentralität. Die Möglichkeit ihrer Aufhebung in der Bil-
611
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8. Ontologie der Person
dung von Zeitgestalten ergibt sich aus der Distanz zu dieser Zentrali-
tät, in der sich das Personsein ausdrückt. Die Person steht zwischen
diesen beiden Zeitbegriffen: »Personen existieren zwischen dem Be-
wußtsein des ständigen Vernichtetwerdens durch die Zeit und dem
Bewußtsein der Nichtigkeit der Zeit selbst auf dem Hintergrund der
Idee eines Nunc stans.« 36 Die Ambivalenz der Zeit aus personaler
Sicht ist letztlich darin begründet, dass die Person als ›Haben einer
Natur‹ sich immer zwischen zwei konkurrierenden Zusammenhän-
gen bewegt, dem durch die natürliche Zentralität des Lebewesens ge-
setzten vitalen Zusammenhang und dem durch die Realisierung des
Personsein gegebenen Zusammenhang des personalen Beziehungs-
raums:
[…] die Befreiung vom Triebhang, die den Zusammenbruch des vita-
len Bedeutsamkeitszusammenhangs ermöglicht, gibt einem anderen
Zusammenhang Raum, der durch jenen ersten verdeckt wird. Das Ge-
fühl der Absurdität gehört diesem anderen Zusammenhang an, den
wir »Sinnzusammenhang« nennen. Dieser jedoch kann […] den vita-
len Bedeutungszusammenhang integrieren. Sinn ist im Bewußtsein
der Endlichkeit gehärtete Bedeutsamkeit. Und unter »Härtung« ver-
stehe ich die Selbstbehauptung und damit das Zeitloswerden einer Be-
deutsamkeit im Angesicht des Todes. 37
Der Antagonismus von Leben – ›Bedeutsamkeitszusammenhang‹ –
und Bewusstsein – ›Sinnzusammenhang‹ – kann überwunden, Leben
und Bewusstsein als Kontinuum begriffen werden, wenn durch die
interpersonale Begegnung die Integration des Bedeutsamkeitszusam-
menhangs in den Sinnzusammenhang gelingt. Die Person, die we-
sentlich in einer Distanz zu ihrer ›gehabten Natur‹ besteht, ist nicht
ebenso der Zeitlichkeit unterworfen wie diese Natur; sie kann sich
zwar nicht zu einer absoluten Überzeitlichkeit aufschwingen, bleibt
aber im Sinne der conditio humana Ausdruck einer fragilen Negen-
tropie: »Der Gedanke der Person ist der Gedanke, die eigene Existenz
als Gestalt zu verstehen, die sich nicht als invarianter Gegenstand
zeitlosen Wissens in der Zeit durchhält, sondern selbst eine Gestalt
von Zeit ist: Zeit-Gestalt.« 38 Trotz der intersubjektiven Vermittlung,
die jeder Personalität immer zugrunde liegt, geht die Subjektivität in
612
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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
Die Frage, wie vom Begriff der Person zum Ereignis der Begegnung
zu gelangen ist, wurde zunächst so beantwortet, dass die Person
immer schon in der Begegnung steht, dass personale Identität als
Zeitgestalt Ergebnis eines Begegnungsgeschehens und damit die Be-
gegnung im Begriff der Person immer schon vorausgesetzt ist. Als
Medium der intersubjektiven Vermittlung personaler Identität er-
wies sich die Zeit, die als Entropieprinzip der Lebewesen für Personen
zur Bedingung der Möglichkeit ihrer Identität als Zeit-Gestalten
wird. Vorläufig ausgeklammert wurde in dieser Betrachtung das Pro-
blem der Reflexion, das Spaemann seit den Studien über Fénelon be-
schäftigt hat. Es besteht im Kontext der Philosophie der Person darin,
dass, so wie im amour-pur-Streit Gott durch die Reflexion in einen
Begriff verwandelt und die Liebe zu Gott auf das Motiv des Eigennut-
zes zurückgeführt wird, auch Personen als Jenseits des Begriffs von
der Reflexion wieder eingeholt werden und damit die Möglichkeit
eines ›Habens einer Natur‹ als Transzendieren des individuellen Inte-
ressenhorizonts in Frage gestellt wird. Die Möglichkeit einer Philo-
sophie der Person setzt daher voraus, dass der personale Standpunkt
die Reflexion selbst distanziert, indem das personale ›Haben einer
Natur‹ noch auf die rationabilis natura ausgedehnt wird. Die Aus-
einandersetzung mit diesem Problem erfordert eine Selbstthematisie-
rung des Denkens, die im Kontext von Spaemanns Ontologie der Per-
son anknüpft an die in Abschnitt 8.3.1 39 dargelegte Verwandlung der
menschlichen Vernunft und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit
durch das Ereignis der Entdeckung der Person. Die dort entwickelte
These, dass die Vernunft im antiken Verständnis als »Organ des All-
gemeinen« 40 mit der Entdeckung überwunden wurde durch eine per-
39
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 565–574.
40
Spaemann, Personen (1996), 29.
613
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
41
Spaemann, Personen (1996), 134.
42 Ebd.
43
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 34.
614
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
Subjekt aus denke. Auch wenn die Erfahrung von Lebendigem somit
als Grundintuition aristotelischen Philosophierens gewertet wird,
impliziert diese noch nicht jenes Wissen, um das es hier geht und
das Spaemann der personalen Perspektive reserviert. Um die Diffe-
renz zwischen Personen und anderen Lebewesen – also auch Men-
schen vor der Entdeckung der Person – darzulegen, unterstreicht
Spaemann die rein numerische, radikal vereinzelnde Bedeutung des
Begriffs Person: 44
Wir nennen Menschen Personen, weil sie auf andere Weise als jene
Lebewesen, die es sonst gibt, das sind, was sie sind. Was sie sind, setzt
sich zusammen aus Eigenschaften, die sie größtenteils mit anderen
teilen. Die individuelle Kombination dieser Eigenschaften wird wahr-
scheinlich immer einzigartig sein. Aber was Personen zu Personen
macht, ist nicht ihre Einzigartigkeit, sondern ihre Einzigkeit. 45
Personen sind als Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften para-
doxerweise über alle qualitativen Kontexte hinaus. Kontextunabhän-
gigkeit bedeutet Inkommensurabilität: »die Inkommensurabilität der
Person ist nichts anderes als die Inkommensurabilität des Seins als
›absoluter Position‹. Als Selbstsein, dessen Identität mit keiner quali-
tativen Bestimmtheit gleichgesetzt werden kann, entzieht es sich
jeder Definition durch einen Kontext.« 46
Welche konkrete Bedeutung hat die Inkommensurabilität der
Person, die aufhört, »bloß Teil zu sein«, und »selbst zur Totalität« 47
wird, in ihrem Daseinsvollzug?
Die eigentümliche Kontextunabhängigkeit, die sich, durch welche
Kontexte auch immer vermittelt, mit der Wahrnehmung der Person
verbindet, charakterisiert nun auch die Struktur und den Sinn ihrer
Äußerungen, ihr Sprechen und Handeln. Der Wahrheitswert mensch-
licher Rede und die sittliche Qualität menschlicher Handlungen be-
sitzen eine solche Kontextunabhängigkeit, aufgrund derer sie un-
mittelbar die sprechende und handelnde Person repräsentieren. 48
entlehnt Spaemann bei Kant. – Vgl. den Hinweis Spaemanns auf die Quelle des Zitats
in der Anmerkung: I. Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes, Akademieausgabe Bd. II, 73. – Ebd. 270.
47 Spaemann, Personen (1996), 137.
48
Ebd.
615
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
52 Ebd. 142–143. – Der apriorische Kontext der Personen ermöglicht wieder die Ein-
heit des Guten und Schönen, also die einstellige Verwendung von ›gut‹, die bereits
von den Sophisten in Frage gestellt wurde und deren scheinbar endgültiger Verlust
unter den Bedingungen des neuzeitlichen Ausgangs des Denkens vom Subjekt zur
Deontologie führen musste: »Die Kriterien des Wahren und des Guten setzen diesen
unendlichen Horizont voraus. Gerade weil sie durch keinen endlichen Kontext de-
616
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
finierbar sind, qualifizieren sie wahre Sätze und gute Handlungen für jeden mög-
lichen Kontext. Sie werden durch keinen endlichen Kontext depotenziert, während
umgekehrt Sätze und Handlungen, die in ihrer Funktionalität für einen bestimmten
Kontext aufgehen, eben dadurch ihre Eignung verlieren, ohne Veränderung ihrer per-
sonalen Bedeutung in beliebige Kontexte transponierbar zu sein.« – Ebd. 143.
53
Spaemann, Personen (1996), 100.
54 Vgl. zu dieser Problematik Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion
617
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
Die Maßstäbe dieses richtigen Lebens lassen sich zwar aus einer Be-
trachtung der menschlichen Natur, der Gesetze des menschlichen Zu-
sammenlebens und aus den geschichtlich vorgegebenen Verpflichtun-
gen gewinnen. Aber der Verpflichtungscharakter folgt für eine Person
aus keinem dieser Inhalte. Zu all diesen kann sie ja reflektierend in
Distanz gehen. Von keinem dieser Inhalte geht eine instinktive Nöti-
gung aus. Wir selbst schaffen erst eine solche Nötigung, indem wir auf
die distanzierende Reflexion verzichten und eine Verantwortung für
uns selbst anerkennen. Im Gedanken der Verantwortung für sich
selbst realisiert sich die Person auf exemplarische Weise. Der Verzicht
auf distanzierende Reflexion ist ja nicht ein Rückfall in natürliche Un-
mittelbarkeit, sondern eine neue, die erst möglich wird dadurch, daß
der Mensch sich von allen Interessen, sowohl eigenen wie denen an-
derer, die sich für ihn unmittelbar geltend machen, distanziert. 55
Die Differenz zum eigenen Sosein, in der die Personalität wesentlich
besteht, realisiert sich daher für das animal rationale erst darin, dass
sich die Person als Differenz noch von der eigenen Reflexion begreift.
Doch was ist dieses ›Begreifen‹ anderes als wieder eine neue Refle-
xion? Ergibt sich auf diese Weise nicht eine Iteration, aus der sich
niemals eine Differenz zur Reflexion ergeben kann? Dass dem nicht
so ist, dass es sich nicht um eine Metareflexion handelt, die in die
Iteration führt, ist aufs engste mit der oben beschriebenen anthro-
pologischen Entdeckung der Person verbunden:
Die »Stimme«, die auch noch die primäre, interessenorientierte Refle-
xion distanziert und die wir »Gewissen« zu nennen gewohnt sind,
bringt nicht einen neuen Inhalt oder ein neues Interesse ins Spiel, das
mit den anderen in Konkurrenz träte. Sie so zu verstehen, wäre eine
»naturalistic fallacy«. Sie ist eine »Stimme von nirgendwo«, die dem
für die Person charakteristischen view from nowhere entspricht. 56
Ein naturalistischer Fehlschluss wäre es, die Stimme des Gewissens
als konkreten Inhalt zu verstehen, weil sie von diesen unabhängig ist
als Urteil über das, was sein soll. Die Gleichsetzung dessen, was sein
soll, mit konkreten Inhalten würde dieses Urteil tautologisch und da-
mit unmöglich machen. Mit dem Begriff des Gewissens ist die im
Hinblick auf das reflexive Selbstverhältnis entscheidende Konkre-
tisierung der Personalität benannt: »Gewissen zu haben, ist das ein-
deutigste Signum der Person. Es vereinzelt den Menschen radikal und
618
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
619
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8. Ontologie der Person
hang mit »Glück und Wohlwollen« die Rede war. 63 Es ist somit das
Gewissen, das die Möglichkeit der inneren Differenz zur eigenen Na-
tur gegen die alle Transzendenz verschlingende Reflexion bewahrt. Es
63 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 290. – Rudolf Langthaler kritisiert im Hin-
blick auf Spaemanns dargelegte Konzeption des Gewissens eine »Einebnung des
Unterschieds von ›Gewissen‹ und ›praktischer Urteilskraft‹« – Langthaler, Über
»Seelen« und »Gewissen«, 498 –: »In gebotener Rücksicht auf einige grundlegende
Differenzierungen Kants […] bleibt vor allem schon einmal zu fragen, ob denn Spae-
manns zitierte Behauptung, der zufolge ›das …, was Kant als Leistung der Urteilskraft
bezeichnet, … selbst bereits Sache des Gewissens‹ ist, nicht einen folgenschweren
Problemverlust begünstigt, als dies doch offenbar die Tragweite der grundsätzlichen
Differenz zwischen ›formaler und materialer Gewissenhaftigkeit‹, zwischen ›Gewis-
sen‹ und ›moralischer Urteilskraft‹ verkennt bzw. bewußt ignoriert. Die von Kant
behauptete Unmöglichkeit, in einem strengen – d. i. eigentlich moralischen – Sinne
von einem ›irrenden Gewissen‹ zu sprechen, verträgt sich ihm zufolge ohne weiteres
mit der Fehlbarkeit des zugrunde liegenden Urteils und der auch von ihm deshalb
festgehaltenen Unverfügbarkeit des moralisch Guten. All diese das berühmte Urteil
Kants über das ›irrende Gewissen‹ als einem ›Unding‹ berührenden Probleme und
Einsichten sind es mithin, die gegenüber Spaemanns Behauptung: ›Das Gewissens-
urteil verlangt ‘absolute Geltung’‹ […], doch wiederum skeptische Zurückhaltung
nahelegen, gleicherweise gegenüber seiner These: ›Gerade weil es [das Gewissen]
Wahrheit intendiert, kann es irren.‹ […] Spiegelt sich jene von Spaemann wohl zu
Unrecht vernachlässigte – unaufhebbare kantische Differenz von ›Gewissen‹ und
›praktischer Urteilskraft‹, neben der Charakterisierung des ›Gewissensirrtums‹ als
eines ›sittlichen Defekts‹, nicht auch darin wider, daß im Grunde doch nur ein jener
Differenz (und damit seiner Endlichkeit?) enthobenes ›Vernunftwesen‹ sich von den
im Sinne Spaemanns verstandenen Gewissensirrtümern ›befreit‹ wissen könnte? Be-
zeichnenderweise muß jedoch ›dem Gewissen – also [!] dem, was wir als das Gute
erkannt zu haben glauben – so ‘gewissenhaft’ wie möglich zu folgen‹, auch für Spae-
mann als die ›sicherste [!, und doch wohl auch als die einzige?] Weise‹ gelten, ›sich
von Gewissensirrtümern zu befreien«, zumal das Gewissen in dieser bleibenden
Spannung zur ›praktischen Urteilskraft‹ sich nicht selbst los wird (sich nicht ›auf-
geben‹ kann) – wäre denn andernfalls die aporetische Forderung eines ›Gewissens
des Gewissens‹ nicht unvermeidlich?« – Ebd. 496–497. – Langthaler übersieht nach
meinem Dafürhalten Spaemanns prinzipielle Abwendung von der deontologischen
Ethik kantischer Prägung. Bereits in »Glück und Wohlwollen« verknüpfte Spaemann
den Begriff des Gewissens mit der Wahrnehmungsevidenz: »Die theoretisch unent-
scheidbare Frage nach dem, was ›in Wahrheit ist‹, wird an jenem Punkt entschieden,
wo theoretische und praktische Philosophie, wo Metaphysik und Ethik ursprünglich
eins sind, im Gewissen. Ich darf den Anderen nicht als bloße ›Erscheinung‹ betrach-
ten, wenn ich mir des Anspruchs bewußt werde, der von seiner Wirklichkeit ausgeht,
und ich darf mich selbst nicht als bloße Erscheinung betrachten, wenn ich mich als
Adressat dieses Anspruchs erfahre. Andererseits kann ich dem Anspruch nur genügen
durch Handlungen, die sich auf den Anderen als Erscheinung richten, denn nur auf
diese kann ich überhaupt wirken.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194. –
Wenn daher für Spaemann das Wohlwollen zur Aktualisierung der antiken εὐδαιμο-
620
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
»drängt den Menschen zur Einheit mit sich selbst, und zwar zu einer
Einheit, die zugleich Totalität ist, also nichts außer sich hat, wovon sie
nur Teil der Funktion wäre oder von wo aus betrachtet ihr Sinnhori-
zont relativiert würde« 64. Mit Bezug auf Kleists Erzählung vom »Ma-
rionettentheater« spricht Spaemann in diesem Zusammenhang von
einer »zweiten Unmittelbarkeit«, der »Unmittelbarkeit einer durch
das Gewissen aufgehobenen Reflexion« 65.
Die »Entdeckung des Gewissens« als die Erfahrung, dass »Ver-
nunft selbst konkret ist« 66, ist die Voraussetzung von Personalität, die
jedem interpersonalen Begegnungsgeschehen zugrunde liegt:
Das Eigentümliche der sittlichen Verpflichtung scheint gerade darin
zu liegen, daß sie eine bestimmte Reflexion trotz ihrer Möglichkeit
nicht zuläßt, eine Reflexion, mit der Personen sich aus jeder Verbind-
lichkeit herausreflektieren können. Der Verzicht auf diese Reflexion
scheint der eigentlich sittliche Akt zu sein. In diesem Verzicht nämlich
realisiert der Mensch sich als Person, das heißt als unhintergehbare
Bedingung der Reflexion selbst. Er übernimmt das Versprechen, das
er als Person schon ist. 67
νία wird, bedeutet dies, dass jede Person ihr Erwachtsein zur Wirklichkeit verantwor-
ten muss. An die Stelle des kategorischen Imperativs der praktischen Vernunft tritt
ein selbst wieder zu verantwortender ordo amoris als »gestufte Rangordnung inner-
halb des universalen Wohlwollens« – ebd. 146. – Nur indem die Person ihr Handeln
unter Regeln der sittlichen Vernunft subsumiert, distanziert sie sich von der relati-
vierenden Reflexion, folgt sie also dem Gewissen. Da sie in diesen Akten der Sub-
sumtion fehlbar ist, verbindet sich für Spaemann die absolute Geltung des Gewissens
ohne Widerspruch mit seiner Fehlbarkeit. Die kantische Unterscheidung zwischen
Form und Materie der Bestimmung der Handlung wird von Spaemann als abstrakt
und damit für die Orientierung im praktischen Handeln unzureichend durchschaut:
»Die Entdeckung des Gewissens ist die Entdeckung, daß Personen nicht bessere oder
schlechtere Instantiierungen einer gegen das Individuelle indifferenten Vernunft
sind, sondern daß Vernunft selbst konkret ist. Vernunft terminiert nämlich in Urtei-
len über Einzelnes.« – Spaemann, Personen (1996), 181–182. – Systematisch tritt
damit an die Stelle der Differenz zwischen Gewissen und Urteilskraft bei Kant für
Spaemann der Gegensatz zwischen ›schuldhafter Unaufmerksamkeit‹ und ›Erwacht-
sein zur Wirklichkeit‹.
64 Spaemann, Personen (1996), 185.
65 Ebd. 178. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichts-
67
Ebd. 237.
621
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.
8. Ontologie der Person
71 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
73
Ebd. 235.
74 Ebd. 247.
75
Ebd. 122.
622
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.
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens
623
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.
8. Ontologie der Person
Bewusstsein nicht zu den Phänomenen des Personseins zählt. Er eliminiert hier be-
wusst Zuschreibungen, die bei anderen Philosophen als Proprium der Person gekenn-
zeichnet werden.« – Meisert, Ethik, die sich einmischt, 209.
81
Spaemann, Personen (1996), 23.
624
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung:
Die Spontaneität des Herzens
82
Spaemann, Personen (1996), 122.
83 Ebd. 23.
84
Ebd. 22.
625
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.
8. Ontologie der Person
85
Auf diesen historischen Abriss wurde hier Bezug genommen in Abschnitt 8.3.1,
Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574.
86
Spaemann, Personen (1996), 219.
87 Ebd. 220.
88 Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf John Eccles und Karl Popper:
The Self and Its Brain, Berlin 1977. Deutsch: Das Ich und sein Gehirn, München 1989,
130 ff. – Ebd. 267 u. 273.
89 Spaemann, Personen (1996), 220.
90 Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis
92
S. Kapitel »Freiheit«, Abschnitt III. – Ebd. 222–227.
626
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
96 Ebd. 224.
97 Ebd. 225.
98 Ebd. 227.
99
Ebd. 221.
100 Ebd. 217.
101
Ebd. 213.
627
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.
8. Ontologie der Person
radikalen Sinn 102 gibt es erst für Personen. Zur theoretischen Aus-
einandersetzung mit ihr bezieht sich Spaemann auf den Aufsatz
»Willensfreiheit und der Begriff der Person« des amerikanischen Phi-
losophen Harry Frankfurt, 103 in dem dieser von »secondary volitions«
bzw. »Volitionen zweiter Stufe« spricht: 104
Es besteht eine sehr enge Beziehung zwischen der Fähigkeit, Volitio-
nen zweiter Stufe zu bilden, und einer weiteren für Personen wesent-
lichen Fähigkeit, die man oft für ein auszeichnendes Merkmal des
Menschseins gehalten hat. Nur weil eine Person Volitionen zweiter
Stufe hat, kann sie sich der Freiheit ihres Willens erfreuen oder auch
ihrer ermangeln. […]
Wenn wir fragen, ob eine Person einen freien Willen hat, dann
fragen wir nicht danach, ob sie in der Lage ist, ihre Wünsche erster
Stufe in die Tat umzusetzen. Das wäre die Frage, ob sie frei ist zu tun,
was ihr gefällt. Die Frage nach der Willensfreiheit betrifft nicht das
Verhältnis zwischen dem, was jemand tut, und dem, was er tun möch-
te, sondern sie betrifft die Wünsche selber. […]
Genauso wie die Frage nach der Freiheit einer Handlung darauf
zielt, ob sie auch die Handlung ist, die der Betreffende ausführen
möchte, so bezieht sich die Frage nach der Willensfreiheit darauf, ob
der Wille, den einer hat, der Wille ist, den er haben möchte. 105
Den Begriff der ›Volitionen zweiter Stufe‹ ersetzt Spaemann durch
»primäres Wollen« 106, in dem er den eigentlichen Gegenstand der
Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit erkennt:
scheine: »Neuerdings ist das Sein der Person auch in der analytischen Philosophie
ein zentrales Thema. In souveräner Unbekümmertheit um das in der Geschichte der
Philosophie schon Erreichte thematisiert diese Richtung der Philosophie ganz tradi-
tionelle Probleme im Zusammenhang mit dem Personbegriff. So sieht es H. G. Frank-
furt als das Wesen der Person an, ›Volitionen zweiter Stufe‹ zu haben, d. h. einen
bestimmten Wunsch wollen zu können, ohne auch nur anzudeuten, daß z. B. Augus-
tinus in ›De libero arbitrio‹ die selbstreflexive Struktur des menschlichen Wollens
schon herausgearbeitet hatte.« – Kobusch, Die Entdeckung der Person, 17.
105 Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, 75–77.
106
Spaemann, Personen (1996), 218 u. 232.
628
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
629
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.
8. Ontologie der Person
»Bleiben in der Liebe« ist nie das Gesetz der Trägheit, sondern diesem
entgegengesetzt. 112
Dies könnte nun so verstanden werden, dass der Mensch jeweils die
Wahl hat zwischen zwei Optionen: dem ›naturalen Kontinuum‹ und
der Realisierung des Personseins. Damit aber würde der fundamen-
tale Unterschied zwischen dem ›primären Wollen‹ und der Wahlfrei-
heit verwischt. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass der Begriff der
Willensfreiheit in Bezug auf diese Akte irreführend ist, denn die
»Entscheidung für die Grundrichtung des Wollens hat nicht selbst
den Charakter eines Willensaktes« 113: »Ein Willensakt bedarf eines
Motivs. Aber von welchem Motiv sollte die Entscheidung darüber,
was für mich ein Motiv ist, geleitet sein? Wir kämen hier in einen
unendlichen Regress.« 114 Das ›primäre Wollen‹ kann dagegen nur so
verstanden werden, dass sich in ihm eine Haltung ausdrückt. Diese
lässt sich »am besten, Max Scheler folgend, als Liebe und Haß be-
schreiben« 115. Dieser Gedanke schließt an Spaemanns Interpretation
der ›Entdeckung des Herzens‹ an, in der bereits mit Bezug auf Augus-
tinus von den beiden Richtungen der Liebe als amor Dei usque ad
contemptum sui oder cor curvatum in se ipsum die Rede war. 116 Was
bedeutet nun im Zusammenhang mit dem ›primären Wollen‹ Liebe
konkret?
Sie ist die Öffnung der Person in der spontanen Bejahung aller ande-
ren Mitglieder der apriorischen universalen Gemeinschaft von Per-
sonen. Diese Öffnung geht allen einzelnen Willensakten voraus. Sie
hat überhaupt nicht den Charakter des Wollens, sondern qualifiziert
unmittelbar das Sein der Person, aus dem alles Wollen hervorgeht. 117
Das ›primäre Wollen‹, so lässt sich folgern, zeigt sich entweder in
dieser Öffnung der Person oder aber darin, dass diese verweigert
wird. Die damit verbundene Entscheidung, die der Antike noch unbe-
kannt war, bezieht sich auf das Sichtbarwerden des Umwillen – des
finis cuius –, von dem zuerst in »Glück und Wohlwollen« die Rede
115 Ebd.
116
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 568–569.
117
Spaemann, Personen (1996), 229.
630
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
war, in Bezug auf das die Position des Nihilismus und die Zuwendung
zum Unbedingten in der Weise des Bildes unterschieden werden. 118
Somit ist die Grundlage gelegt für Spaemanns erste prinzipielle
Frage an das ›primäre Wollen‹ : »Ist dieses Wollen frei, beziehungs-
weise wie haben wir seine Freiheit zu denken?« 119 Die Bedeutung
dieser Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung die Möglich-
keit von Personen und damit von Begegnung abhängt.
Aber wenn die allem Willen vorausgehende Liebe selbst nicht den
Charakter des Wollens hat, wie können wir sie und damit die Person
hinsichtlich der Grundrichtung ihres »Herzens« »frei« nennen? Der
Begriff der Freiheit scheint sich eben doch zu reduzieren auf seinen
bescheidenen aristotelischen Sinn und nicht eine Verantwortung des
Menschen für das zu meinen, was dem Wollen die Grundrichtung
gibt, also die fundamentale Struktur seiner Motivationen. Der Gedan-
ke der Autonomie der Person scheint in Widersprüche zu führen. 120
Das eigentliche Problem an dieser Stelle besteht in der Interpretation
der Freiheit als Autonomie. Beide Begriffe werden oft synonym ge-
braucht, obwohl der Begriff Autonomie im genauen Wortsinn als
›Selbstgesetzlichkeit‹ wesentlich enger gefasst ist als Freiheit, die im
Sinne des interpersonal vermittelten ›Habens einer Natur‹ eine ge-
wisse Heteronomie in sich aufnehmen kann, auch wenn dieser Be-
griff zur Charakterisierung der Freiheit letztlich ebenso wenig
brauchbar ist wie der der Autonomie. Was also ist wesentlich die von
der Autonomie abzuhebende Freiheit?
Die Freiheit, die wir hier unterstellen, ist nicht »Willensfreiheit«. Sie
kann auch nicht als Autonomie verstanden werden. Freiheit ist, so
sahen wir zu Beginn, zuerst und vor allem Freiheit von etwas. Wovon
ist die Person frei? Sie ist frei von ihrer eigenen Natur. Sie hat diese
Natur, sie ist sie nicht. Sie kann sich frei zu ihr verhalten. Aber das
kann sie nicht von sich aus, sondern nur durch die Begegnung mit
anderen Personen. Erst die Bejahung anderen Selbstseins – als An-
erkennung, Gerechtigkeit, Liebe – erlaubt uns jene Selbstdistanz und
Selbstaneignung, die für Personen konstitutiv ist, also die »Freiheit
von uns selbst«. Diese Freiheit erlebt sich selbst als Geschenk. Sie ist
nur die emotionale und praktische Seite des Offenen, der »Lichtung«,
in die sich die Person gestellt sieht und in der sich ihr das Begegnende
118 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor
benevolentiae, 470–471.
119 Spaemann, Personen (1996), 218.
120
Ebd. 229.
631
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.
8. Ontologie der Person
als es selbst zeigt, nicht nur als Element einer Umwelt, die durch die
Funktionalität des eigenen Organismus und der eigenen Interessen
definiert ist. Auch die Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist das Ge-
genteil von Autonomie. Sie ist der Schritt ins Offene, der Schritt »ins
Freie«, wo sich uns Seiendes als es selbst zeigt. 121
Damit ist der Kerngedanke von Spaemanns Personenphilosophie klar
benannt. Die Freiheit von der eigenen Natur, in der die Person we-
sentlich besteht, gibt es nur durch die Begegnung, diese Freiheit ist
›Geschenk‹, durch sie erscheint Sein in dem doppelten Sinn, dass die
Person anderes Selbstsein wahrzunehmen vermag und dass sie sich
als Selbstsein realisiert. Der aus der Perspektive realisierten Person-
seins wahrnehmbare Anschein einer Wahlfreiheit ist eine Täuschung,
die sich aus der Möglichkeit des Rückzugs in die curvatio in se ipsum
ergibt:
Da wir das können, scheinen wir selbst sozusagen über der Unter-
scheidung von Gut und Böse zu stehen und »autonom« zwischen bei-
den wählen bzw. entscheiden zu müssen. Diese Entscheidung aber
scheint dann nicht noch einmal ein Motiv haben zu können.
Doch das ist eine Täuschung, und auf ihr beruhen die meisten
Antinomien, in die der Begriff der Willensfreiheit führt. Wir öffnen
uns nicht der Wirklichkeit in einem Entschluß. Wir erleben, daß sie
sich uns öffnet, und dieses Erlebnis ist schon der Anfang der Liebe. Es
gibt aber die Möglichkeit, sich dieser Erfahrung zu verweigern. Wir
finden uns immer schon im Offenen vor, aber auch immer schon mit
einer Tendenz der Verweigerung und des Rückzugs in uns selbst. 122
Die Unterscheidung zwischen Wahlfreiheit und ›primärem Wollen‹
impliziert notwendig, dass es für den Rückzug in uns selbst keinen
Grund geben kann. Vielmehr erfolgt dieser Rückzug aus dem »Wil-
len, der der eigenen Natur wieder jene Zentralstellung einräumt, die
doch durch den offenen Raum der Personengemeinschaft immer
schon relativiert ist. Dieser Wille, bloß natürlich sein zu wollen, ist
nicht natürlich, sondern grundlos und deshalb böse.« 123 Sich diesem
Willen zu überlassen, bedeutet, »den Grund zu verlassen und sich in
die Welt der Ursachen zurückzuziehen« 124. Dieser Rückzug ins natu-
rale Kontinuum ist schlicht faktisch und nicht mehr weiter erklärbar:
632
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
»Da das Böse das Grundlose ist, ist es das Unverstehbare.« 125 Wenn in
diesem Zusammenhang von ›Autonomie‹ die Rede ist, handelt es sich
in Wahrheit um ein gewissermaßen ›parasitäres‹ Verhalten, das von
der ihm voraufgehenden Realisierung personaler Freiheit lebt:
Freiheit als Autonomie ist die Freiheit zur grundlosen Weigerung, ins
Freie zu treten. Weil es diese Möglichkeit gibt, kann auch der Schritt
ins Freie selbst mit Autonomie assoziiert werden. Wer ihn tut, erlebt
ihn allerdings genau umgekehrt, nämlich, wie Platon, als ein Auf-
wachen zum Licht. Aufwecken aber kann man sich nicht selbst. 126
Bei dem Problem der ›Willensfreiheit‹ handelt es sich also »weder um
die ständigen überlegten Wahlakte aufgrund gegebener Motivationen
noch um die Entscheidung über die grundlegende Motivation
selbst« 127. Es handelt sich um eine Freiheit, die durch die menschliche
Selbsterfahrung verbürgt ist, die sich jedoch selbst immer nur als das
Geschenk eines Begegnungsgeschehens verstehen kann.
Damit kann abschließend zur zweiten prinzipiellen Frage über-
gegangen werden, die Spaemann an das ›primäre Wollen‹ stellt: »Hat
dieses Wollen wirklichen Einfluß auf das konkrete Wollen, oder han-
delt es sich nur um eine zwar vielleicht freie, aber folgenlose Refle-
xion, also um ohnmächtiges Wünschen?« 128 Die Bedeutung dieser
zweiten Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung abhängt,
ob die Person ›selbstwirksam‹ ist, wobei diese Selbstwirksamkeit in
der Möglichkeit besteht, zu einer ›Zeitgestalt‹ zu werden. Jeder
Mensch kennt »Zustände der Nichtidentität, die als Unfreiheit erlebt
werden« 129, und es stellt sich somit die Frage, ob der Mensch über-
haupt wollen kann, was er will, oder ob er sich nur von seinem fak-
tischen Wollen und Tun distanzieren kann. An dieser Stelle rekurriert
Spaemann auf den Gedanken der »schuldhaften Unaufmerksamkeit«
aus »Glück und Wohlwollen«, demgemäß es ein »absichtliches Ver-
schließen der Augen« gibt, das aus einem unvollständigen Erwacht-
sein, also dem Befangensein im Triebhang hervorgeht. 130 Die in die-
129
Ebd. 232.
130 S. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 243. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio
humana, 463–464.
633
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8. Ontologie der Person
634
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.
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung
635
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.
8.5 Grenzen einer Philosophie der Personen
636
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.
8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
Die Person wurde bestimmt als das ›Haben einer Natur‹. Sie ist einer-
seits nicht diese Natur, existiert aber andererseits auch nicht losgelöst
von dieser Natur. Man könnte somit sagen, dass das Wesen von Per-
sonalität gerade in einer konstitutiven Nichtidentität mit sich selbst
besteht.
Aber sind wir überhaupt je, was wir sind? Die Möglichkeit des Rollen-
spiels beruht darauf, daß wir – als Personen – immer schon eine Rolle
spielen. Die Identität eines Menschen ist einerseits diejenige eines na-
türlichen Dinges, eines Organismus. Als solcher ist er jederzeit von
außen reidentifizierbar. Aber diese basale natürliche Identität enthält
nur eine Vorgabe für den Weg einer Identitätssuche, die zugleich den
Charakter einer Identitätsstiftung hat. Person ist nicht das Resultat
dieser Stiftung, nicht das Ende dieses Weges, sondern der Weg selbst,
das Ganze einer Biographie, deren basale Identität ihrerseits biologisch
gesichert ist. Personen sind nicht Rollen, aber sie sind, was sie sind,
nur, indem sie eine Rolle spielen, das heißt sich auf irgendeine Weise
stilisieren. 4
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8. Ontologie der Person
10
Ebd. 98.
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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
Gerade dieser ›Grenzfall‹ der Eindeutigkeit wurde mit dem Ideal der
certa cognitio von Descartes als Ausgangspunkt der Neubegründung
der Philosophie gewählt. Welche fatale Bedeutung der von der Natur-
grundlage abstrahierende Subjektbegriff für den Gedanken der Per-
son hatte, wurde oben dargelegt; 11 der erste Denker, der nach Spae-
mann die selbstgefährdenden Tendenzen der Moderne erfasst und
ihre Widersprüche durchdacht hat, war Jean-Jacques Rousseau, 12 auf
den auch im Zusammenhang mit der personalen Selbststilisierung
Bezug genommen wird:
Rousseau macht eine Rolle daraus, keine Rolle mehr zu spielen. Es ist
bezeichnend, daß er den natürlichen Menschen als sprachlosen und
kunstlosen Hominiden versteht. Menschwerdung ist gleichbedeutend
mit Entfremdung, weil mit Sprache und Arbeitsteilung Menschen ei-
nander in Rollen gegenübertreten, statt füreinander transparent zu
sein.
Die Frage ist allerdings, warum Rousseau seine »Bekenntnisse«
schreibt. Der arme Jean-Jacques ist natürlich eine Rolle wie jede ande-
re. Aber sie ist neu, weil sie erstmals den programmatischen Verzicht
auf jene Selbststilisierung dokumentiert, die für Personsein charakte-
ristisch ist. Der Mensch »in der ganzen Wahrheit der Natur« – das ist
der Mensch, dem das Personsein zu anstrengend geworden ist und der
eben daraus eine neue Rolle macht. 13
Die verschiedenen Anläufe Spaemanns zur Interpretation Rousseaus
konvergieren, wie oben gezeigt wurde, in dem Gedanken, dass die
Idee, »deren disjecta membra sich in Rousseaus Werk spiegeln« 14,
die der Naturteleologie ist. 15 Als πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen
Denkens wurde das kontrafaktische Ideal der absoluten Identität be-
zeichnet, das sich in seinem hypothetischen Naturbegriff verbirgt.
Auf diese Rousseau-Deutung fällt nun aus der Perspektive von Spae-
manns Personenphilosophie ein neues Licht: »Aber die Person ist der
›homme double‹. Sie hat ihr Sein in einem Schein, den sie einzuholen
versucht, es sei denn, sie fällt in den Zynismus, der natürlich seiner-
11 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
12 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive,
187–214.
13 Spaemann, Personen (1996), 95–96.
14
Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18.
15 Vgl. Abschnitt 5.1.5, Rosseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee,
211–214.
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8. Ontologie der Person
19 Ebd. 99.
20 Vgl. hierzu bereits den Ausgangspunkt der vorliegenden Interpretation von Spae-
640
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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz
sen der Transzendenz auf die Schliche gekommen zu sein. Aber auch
eine solche Selbstverstümmelung zeigt noch einmal, was der Mensch
ist. Er ist nicht unwiderruflich, was er ist. Und das heißt: er ist Per-
son. 23
Auch wenn diese Vorstellung noch den Charakter der Science-Fiction
hat und die Realität durch virtuelle Welten nur teilweise verdrängt
werden kann, muss noch einmal gefragt werden nach den spezi-
fischen Eigenschaften der Person, die diese Gefährdung möglich ge-
macht haben. Was heißt es, dass der Mensch »sich selbst als einem
Wesen der Transzendenz auf die Schliche« kommt?
Personen überschreiten, wie wir sahen, alle intentionale Gegenständ-
lichkeit auf ein An-sich. Transzendenz ermöglicht Reflexion auf die
Subjektivität aller intentionalen Gegenständlichkeit. Sie ist sozusagen
die andere Seite dieser Reflexion. Aber die Reflexion kann sich selbst
auf Transzendenz beziehen und sie sozusagen als eine bloß subjektive
Zuständlichkeit verschlingen. Auch Liebe kann als ein bloßes Gefühl
mit zufälligen und austauschbaren Gegenständen betrachtet werden
und »Sein« als ein bloßes Wort oder als intentionaler Gegenstand oder
»Seinsmeinung«, obgleich diese Meinung doch gerade ein Jenseits
alles Meinens meint. 24
Wie oben gesehen wurde, bedeutet ›Gewissen‹ bzw. der auf ihm be-
ruhende Charakter der Person als ›ontologisches Versprechen‹, dass
ein Verzicht auf die jeglicher Verbindlichkeit sich entwindende Refle-
xion möglich ist. 25 Auch wurde dargelegt, dass es keine ›Wahlfreiheit‹
gibt, der Stimme des Gewissens folgen zu wollen oder nicht, sondern
dass sich im Vernehmen dieser Stimme die Wirklichkeit uns öffnet,
wir uns dieser Erfahrung aber verweigern können. 26 Die Möglichkeit
dieser Verweigerung resultiert aus dem problematischen Verhältnis
von Transzendenz und Reflexion:
Das Gleichgewicht zwischen Transzendenz und Reflexion ist instabil.
Jede der beiden Bewegungen treibt die andere als komplementäre aus
sich hervor. Das Ausgreifen über alles Gegebene auf ein Gebendes, das
Ausgreifen über alles Gegenständliche auf ein Sich-Zeigendes, das sich
641
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8. Ontologie der Person
zugleich als es selbst verbirgt, ist nur möglich, indem zugleich auf die
Gegenständlichkeit des Gegebenen, auf sein Für-mich-Sein reflektiert
wird. Jede der beiden Bewegungen aber hat die Tendenz, sich gegen-
über der komplementären als das ontologisch Grundlegende zu be-
haupten und die andere als bloßes Moment in sich zu integrieren und
aufzuheben. 27
Bei der ersten Bewegung geht es um den zentralen Gedanken Spae-
manns, den er zuerst in seiner Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹
zum ›sum‹ analysiert hat: Der Schritt zum Sein setzt die Transzen-
denz des Bewusstseins voraus. Die zweite Bewegung entsteht da-
durch, dass im Denken des Schrittes zum Sein die Selbsttranszendenz
erneut von der Reflexion eingeholt wird. In diesem dialektischen Ver-
hältnis von Transzendenz und Reflexion ist jene »Dialektik zwischen
Spiritualismus und Naturalismus« wiederzuerkennen, die Spaemann
in seinem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« aus
dem Jahr 1985 als neuzeitliche Form des anthropologischen Dualis-
mus interpretierte. 28 In »Personen« bemerkt er ergänzend hierzu:
»Man könnte auch von einer transzendenzlosen Reflexion und einer
reflexionslosen Transzendenz sprechen oder von einer Subjektivität,
die ihre Natürlichkeit desavouiert, und von einer Natur, der keine
spirituelle Dimension zuerkannt wird.« 29 Es geht um den Gegensatz
von Idealismus und Materialismus. »Vollendungen des Idealismus
sind versucht worden« 30 und wurden immer wieder aufgehoben.
»Der materialistische Monismus dagegen ist wesentlich unvollend-
bar« 31. Beide Vollendungen wären »gleichbedeutend mit der Ab-
schaffung des Menschen und dem Verschwinden der Person« 32. Per-
sonsein als ›Haben einer Natur‹, so die erste Schlussfolgerung aus
diesem ersten Nachtrag, ist wesentlich das Aushalten des instabilen
Gleichgewichts von Transzendenz und Reflexion. Personen können
aber nur eine begründete Aussicht auf eine künftige Fortexistenz
haben, wenn die hier angedeuteten Gefährdungen durch eine immer
wieder neu zu leistende Stabilisierung dieses Gleichgewichts gebannt
werden können.
30
Ebd.
31 Ebd.
32
Ebd.
642
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.
8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
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8. Ontologie der Person
37 In diesem Sinne liest Ulrich Diehl in seiner Rezension Spaemanns Buch. Mit Bezug
auf »Spaemanns gelegentliche religionsphilosophische Passagen« wirft er ihm vor,
dass er der »philosophischen Kontroverse ausweicht, um sich seinen philosophie-
geschichtlichen und lebensphilosophischen Reflexionen zu widmen«. – Diehl, Wie
es ist, ein Jemand und kein Etwas zu sein?, 110.
38 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 583–599.
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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
42
Ebd.
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8. Ontologie der Person
sung aus der Natur ist jedoch nicht absolut; das menschliche Trans-
zendieren der Natur steht noch in einem bestimmten Verhältnis zu
der Bindung an die Natur, von der es sich distanziert, ohne sich ganz
lösen zu können:
Nur wenn er mehr und anderes als Natur ist, kann er Natur als Maß
erinnern. Nicht als natürliche, nur als religiöse können Grenzen für
den Menschen verbindlich sein. Aber die Grenzen, die die Religion
setzt, sind keine anderen, als es die natürlichen wären, wenn es solche
für Personen gäbe. Nicht als Natur ist Natur für den Menschen numi-
nos, sondern als göttliche Schöpfung. 43
Der Gedanke der Natur als ›Numen‹, als angedeuteter Wille Gottes,
enthält eine Paradoxie. Einerseits bedeutet das aus der Natur selbst
kommende Überschreiten der Natur, dass diese dem Menschen keine
feste Grenze setzen kann. Andererseits aber ist die Natur für den
Menschen das ›erinnerte Maß‹ der Überschreitung derselben. Der
Gedanke setzt somit eine Analogie zwischen natürlichen und religiö-
sen Grenzen voraus oder allgemeiner: zwischen dem Natürlichen und
dem Sittlichen. »Sobald wir es mit teleologischen Strukturen zu tun
haben, beginnt es, Falsches zu geben, nämlich das Verfehlen von
Zielen, und von dort an wird Natur prinzipiell sittlich relevant, ein
möglicher Bereich der Verantwortung und ein ›lesbarer Text‹, der für
Personen Handlungsorientierungen enthalten kann.« 44 Um die Fun-
dierung des Religiösen in der Natur philosophisch denken zu können,
muss die Metapher der ›Lesbarkeit der Natur‹ gedeutet werden.
Die Metapher konstatiert eine Vergleichbarkeit der Bereiche der
Natur und der Subjektivität. Das Verhältnis der Subjektivität zur Na-
tur ist nur dann etwas anderes als unbeschränkte Herrschaft – die
aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Natur in einen Selbstwider-
spruch führt –, wenn das Transzendieren der Natur in Analogie zum
teleologischen Aussein-auf derselben verstanden wird. Der Gedanke
einer solchen Analogie setzt ein Verständnis der Person voraus, nach
dem in ihr das natürliche Aussein-auf sich erstmals selbst denkt und
dadurch den Indifferenzpunkt der Freiheit erreicht, von dem aus ab-
solute Selbsttranszendenz möglich wird. 45 Zum Sein der Person als
›Schwebe‹ zwischen Endlichem und Absolutem führt also der Gedan-
tät, 593–597.
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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
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8. Ontologie der Person
53 Dieses Argument hat Spaemann später als ›Gottesbeweis aus dem futurum
exactum‹ näher ausgeführt. – Vgl. dazu Spaemann, Der letzte Gottesbeweis. – Auf
das Argument wird weiter unten näher eingegangen, s. Abschnitt 9.3.1, Der Gottes-
beweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube, 704–727.
54 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
648
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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion
denz« zeigen, so denken, daß sie durch das zeitliche Ende einfach »ver-
nichtet« werden. Denn ihre Realität war gar nicht »in der Zeit«. Es ist
unmöglich, mit einem geliebten Menschen umzugehen, zu sprechen,
Blicke zu wechseln und gleichzeitig den Gedanken zu denken, dieser
Mensch werde demnächst einfach nicht mehr sein. Da wir wissen, daß
die Intentionalität unseres Lebensvollzugs nicht als Funktion unserer
organischen Selbsterhaltung verstehbar ist, können wir deren Fort-
dauer nach dem Tod denken. 55
Personsein bedeutet als ›Haben einer Natur‹ die Emanzipation vom
vitalen Bedeutungszusammenhang des Lebewesens mit seiner Zen-
tralität und die Stiftung eines die Zeit überwindenden Sinnzusam-
menhangs in der Selbsttranszendenz. Die Entfaltung dieses Sinn-
zusammenhangs folgt aus dem Sein von Personen als Schwebe
zwischen Endlichem und Absolutem und macht den Gedanken der
Überzeitlichkeit zum Postulat:
Wenn uns der Gedanke des Nicht-mehr-Existierens eines anderen
Menschen als unvollziehbar erscheint, dann nicht aufgrund der inten-
tionalen Struktur personalen Seelenlebens. Dies macht den Gedanken
der Unsterblichkeit nur möglich. Daß die Wirklichkeit dieser Möglich-
keit zu einem Postulat wird, folgt aus der Transzendenz der Person
und aus der damit zusammenhängenden kommunikativen Verfassung
personaler Existenz. 56
Personsein bedeutet ›Außer-sich-Sein‹, die Person findet ihre Identi-
tät in einem interpersonalen Begegnungsgeschehen, dessen Ereignis-
se immer schon Ausschnitte des zeitüberwindenden Sinnzusammen-
hangs sind. Die höchste Form dieses Geschehens ist die Liebe:
Die Liebe ist jene existenzielle Selbsttranszendenz, in der Geist und
Seele, Universalität und Erleben eins geworden sind. Die Transzen-
denz verwandelt das Erleben selbst. Es ist nicht mehr definiert durch
die vitalen Funktionen der Selbsterhaltung. In der Liebe wird die Seele
selbst zur Wirklichkeit des Geistes. […]
Die Unsterblichkeit der Seele ist ein Postulat der Liebe und ein
Postulat mit Bezug auf die Liebe, die ihr eigenes Ende nicht denken
will, weil sie es nicht denken kann, ohne ihre eigene Idee zu destru-
ieren. 57
55
Spaemann, Personen (1996), 171.
56 Ebd. 172.
57
Ebd. 173.
649
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.
8. Ontologie der Person
650
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der
Person: Nähe als Ent-Fernung
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
652
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
4 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59. – Zuerst veröffentlicht in: Die Zeit (Aus-
gabe 30. April 2009) im Rahmen einer Umfrage zum Tag der Arbeit am 1. Mai mit der
Fragestellung: »Woran arbeiten Sie gerade?« – Vgl. ebd. 59.
5 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 50.
6 Ebd. 57.
7 Ebd. 52.
8
Ebd.
9 Ebd.
10
Ebd.
653
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
16 Ebd. 53. – Das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας wurde von Spaemann zuvor thematisiert in:
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 33, und in: Spaemann,
Personen (1996), wo er den Ausdruck durch die Übersetzungen »jenseits der kate-
gorial strukturierten Wirklichkeit« – ebd. 136 – bzw. »jenseits aller qualitativen Be-
stimmtheit« – ebd. 160 – übersetzt.
17
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 53.
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
25
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 52.
26 Damit wird die Wissenschaft, wie Spaemann an anderer Stelle darlegt, »als ein
656
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
nichts anderes als Leben, Wirklichkeit des Lebens oder – man könnte auch sagen –
Lebensvollzug.« – Ebd. 235–236.
32
Spaemann, Personen (1996), 196.
659
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
Die Weise, wie Personen mit Personen umgehen, ergibt sich aus der
Weise, wie Personen einander gegeben sind. Wir verstehen diese Ge-
gebenheitsweise nicht, wenn wir sie vom Paradigma der Erkenntnis
natürlicher Dinge aus zu verstehen suchen. Sie ist vielmehr umge-
kehrt paradigmatisch für die Weise, wie uns natürliche Dinge gegeben
sind, nämlich so, daß sie in ihrem Gegebensein nicht aufgehen, daß
also ihr esse gerade nicht gleichbedeutend mit percipi ist, wie immer
wir dieses Mehr verstehen mögen. 33
Personsein ist kein qualitativer Bestand, sondern nur wahrnehmbar
in einem Akt der Anerkennung. Entscheidend ist es aber zu ver-
stehen, was es heißt, dass diese Nicht-Gegebenheit der Person umge-
kehrt paradigmatisch sein soll für unsere Wahrnehmung natürlicher
Dinge. Dass deren ›percipi‹ nicht mit ihrem ›esse‹ gleichbedeutend
sein soll, ist zunächst eine negative Aussage, die nur dadurch von
ihrer reinen Negativität befreit werden kann, dass im Hinblick auf
Naturdinge ›esse‹ und ›percipi‹ in ihrer Vermittlung gezeigt werden
können und eine phänomenale Spur des ›esse‹ nachweisbar wird. Die
Möglichkeit zu einer solchen Vermittlung ergibt sich wieder aus dem
Modell der Interpersonalität. Da Personen einander nicht qualitativ
gegeben sind, wäre die »Kluft« zwischen ihnen »unüberbrückbar« 34,
wenn sie nicht durch die Zeitlichkeit sich selbst objektiv würden: 35
»[…] da wir imstande sind, unsere eigene Innerlichkeit, unser eigenes
Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter dem
Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolge-
dessen auch mit dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel
machen.« 36 Aus diesem Selbstverhältnis geht die Fähigkeit zu einer
analogen Wahrnehmung anderer Lebewesen hervor, durch die die
objektivierende Beschränkung auf qualitative Bestände durchbrochen
wird:
Mit dem Auftreten von Trieb entstehen monadische Zentren des
Seins, die nicht primär Träger von Bedeutsamkeiten sind, sondern die
selbst Bedeutsamkeit stiften. Ein Begegnendes als Lebendiges wissen
heißt, es als Mitseiendes wissen, das nicht in dem aufgeht, was es für
mich ist. […] Wir können nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu
660
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
sein. Die Innerlichkeit des Tieres behält für uns immer den Charakter
des Rätselhaften, nicht im Sinne eines zu lösenden Problems, sondern
im Sinn einer definitiven, weil wesentlichen Verborgenheit. 37
Die Kommensurabilität der aus dem universalen Kontext ausbre-
chenden Person mit anderen Lebewesen und dem Kontext der Welt
wird also durch das die ›gehabte Natur‹ mit dem ›Haben einer Natur‹
vermittelnde Selbstverhältnis der Person ermöglicht. Das Unsicht-
bare in anderen Lebewesen ist daher nicht bloß im Akt einer abstrak-
ten Anerkennung, sondern in einer phänomenalen Spur gegeben:
»Die Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen,
sind nicht pure Äquivokationen. Bestimmte Verhaltensweisen dieser
Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe verständlicher als auf
jede andere Weise.« 38 Der für das metaphysisch-analoge Denken kon-
stitutive Begriff des Lebens ermöglicht es, dass die Person, ohne ein
Sosein zu sein, im Kontinuum der phänomenal zugänglichen Welt
verbleibt und sich selbst mit dem phänomenal Gegebenen kommen-
surabel machen kann: »Seiendes als Seiendes bestimmen, heißt, es
unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst bestimmen. Ein
kritischer Anthropomorphismus ist die Bedingung jeder Onto-
logie.« 39 Gerade in dem mit dem Attribut ›kritisch‹ bezeichneten un-
überwindbaren Verdacht des idiosynkratischen Charakters dieses
Weltverhältnisses ist der mögliche Bezug auf die Wirklichkeit vo-
rausgesetzt.
In den Gedankengang hat sich somit eine merkwürdige Zwei-
deutigkeit des Ähnlichkeitsbegriffs eingeschlichen. Ging es zunächst
um Ähnlichkeit im Sinne qualitativer Beziehungen zwischen distink-
ten Entitäten, die in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden, so
ist in der Aussage, »dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium un-
seres In-der-Welt-Seins ist« 40, eine Analogizität alles Seienden an-
gesprochen und es ist nicht direkt ersichtlich, wie diese beiden Be-
griffe der Ähnlichkeit zusammengehören sollen. Bereits der Essay
von 1996, in dem die verschiedenen Betrachtungsweisen der Ähnlich-
keit herausgearbeitet werden, schließt mit der Folgerung: »Eine Phi-
losophie der Ähnlichkeit müsste in eine Ontologie münden, deren
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
Grundbegriffe die des Nahen und des Fernen, der Distanz und der
Ent-Fernung wären.« 41 In dem Selbstkommentar von 2009 konkreti-
siert Spaemann diese Schlussfolgerung:
Ich dachte damals, Ähnlichkeit sei ein elementarer, nicht unter ein
Allgemeineres subsumierbarer Begriff, wie der des Seins. Alles, was
ist, ist Anderem, was ist, ähnlich, sonst könnten wir von ihm nicht
sprechen und nicht wissen. Und es ist ein Irrtum, Ähnlichkeit als par-
tielle Identität und partielle Verschiedenheit zu verstehen. Es gibt aber,
wie mir dann aufging, einen elementareren Begriff, unter den der der
Ähnlichkeit subsumierbar ist: der Begriff der Nähe. Alles, was ist,
steht in Beziehungen der Nähe zu Anderem, was ist. 42
Zunächst hat sich damit das Problem nur verschoben und es muss
gefragt werden: Was ist Nähe? Das Wort hat primär räumliche Se-
mantik. 43 Da Spaemann aber räumliche Nähe – neben qualitativer,
zeitlicher und anderen Formen – als Spezialfall von Nähe versteht, 44
stellt er selbst die Frage: »Aber verstehen wir, was Nähe und Ferne
sind?« 45 Hier soll versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu
entwickeln, die sich am Zusammenhang der beiden hier betrachteten
programmatischen Texte mit der zuvor erörterten Ontologie der Per-
son orientiert. In »Personen« schrieb Spaemann im Hinblick auf das
Verhältnis der Person zur räumlich-zeitlichen Indexikalität ihrer ›ge-
habten Natur‹ :
Personen sind […] die archimedischen Punkte, von denen aus es allein
möglich ist, Raum- und Zeitstellen zu identifizieren, weil durch sie
allein »Hier« und »Jetzt« definierbar sind. Ein Hier und Jetzt gibt es
nur für Personen, also Lebewesen, die einerseits ein vitales Zentrum
bilden, von dem aus sich eine Perspektive ergibt, die aber andererseits
um diese Perspektivität und also die Relativität dieses Zentrums wis-
41
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 57.
42 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58.
43
Vgl. den Artikel »Nähe« im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm
Grimm, in dem drei Bedeutungen von »Nähe« aufgeführt werden, wobei die erste
durch die Anzahl der angeführten Textbelege klar dominiert: »1) das örtliche nahesein
oder etwas nahgelegenes«, »2) das nahestehen durch verwandtschaft« und »3) zeit-
liches nahesein oder herannahen«. – Deutsches Wörterbuch, s. v. Nähe, XIII,
col. 288–289.
44 Vgl. Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59.
45
Ebd. 59. – Weiter heißt es an dieser Stelle: »Ich würde es gerne verstehen. So
widme ich diese Zeilen als eine Flaschenpost demjenigen, der das Buch schreiben wird,
das ich gern geschrieben hätte.«
662
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
Spezialfall der Nähe ist, dass die beiden Ähnlichkeiten, von denen die
Rede war, dieselbe Ursache haben und die vermeintliche Zweideutig-
keit des Ähnlichkeitsbegriffs in Wahrheit der Ausdruck unterschied-
licher Zugänge zur Wirklichkeit ist.
Die unternommene gedankliche Anstrengung hat also zu einer
Differenzierung geführt, durch die die spezifisch personale Perspek-
tive von einer vorpersonalen abgehoben werden kann, und es muss
erläutert werden, welchen indirekten Erklärungswert diese vorper-
sonale Perspektive in dem hier verfolgten Gedankengang hat. Die
personale Wahrnehmung von Ähnlichkeit als qualitative Nähe er-
laubt einen Rückschluss auf die Sicht vor der Entdeckung der Person
und die in ihr noch latente Dimension der Ähnlichkeitswahrneh-
mung. Ähnlichkeit zeigt sich auch einem Blick, dem das relationale
Verhältnis der Nähe nicht im Bewusstsein gegeben ist und der daher
Ähnlichkeit noch nicht als qualitative Nähe erkennen kann, obwohl
auch diese Wahrnehmung auf dasselbe Phänomen zielt wie die per-
sonale Wahrnehmung. Solche vorpersonale Ähnlichkeitswahrneh-
mung kann, da sie nicht vom Subjekt ausgeht, nur als unmittelbare
Wahrnehmung von Seiendem als Seiendem verstanden werden. Erst
indem diese Unmittelbarkeit im Ausgang vom Subjekt verloren ge-
gangen ist, Seiendes sich als Sosein zeigt und die Möglichkeit einer
Eliminierung von Ähnlichkeitsbeziehungen durch die Wissenschaft
entstanden ist, bietet sich die Möglichkeit, in der reflexiven Wendung
auf die Selbsttranszendenz und damit im bewussten Erfassen der Re-
lation der Nähe durch das phänomenal Gegebene hindurch im Sosein
das Seiende wahrzunehmen, das zunächst unmittelbar, und das heißt:
nicht als Seiendes gegeben war. Vor der Entdeckung der personalen
Perspektive konnte dieser Zusammenhang nicht erfasst werden,
konnte sich das Denken hier nur in jenem ›schlüpfrigen Gelände‹
bewegen, von dem oben die Rede war. Der Erklärungswert der Unter-
scheidung zweier Perspektiven besteht darin, dass sie, wenn beide
ungeachtet des Ereignisses der Entdeckung der Person, das als refle-
xive Wendung auf die Selbsttranszendenz eine Zäsur darstellt, in
einem durch das Aussein-auf gestifteten Kontinuum zu verorten
sind, in diesem Kontinuum vermittelt sein müssen. Die beiden Per-
spektiven – die der lebendigen Zentralität und die personale –, die
sich antagonistisch verhalten, sind theoretisch angenommene Grenz-
fälle, die in der Wirklichkeit immer als miteinander vermittelt ge-
dacht werden müssen. Die personale Perspektive kann sich nie voll-
ständig vom Interesse des Lebewesens, seiner ›gehabten Natur‹,
664
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
49 Vgl.: »Die reine Transzendenz wäre ihrer selbst nicht bewußt. Eine Person enthüllt
sich uns nur vermittelt durch eine Verbindung nicht einzigartiger Qualitäten.« –
Spaemann, Personen (1996), 86.
50 Auf diesen Gedanken wird zunächst in Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der
665
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
steht aber das Problem der umgekehrten Perspektive. Unter der Be-
dingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt, unter der Bedin-
gung also des Verlusts der Unmittelbarkeit, kann das Sein sich ent-
weder im phänomenal Gegebenen verbergen oder dieses auf das Sein
hin transparent werden. Der Unterschied zwischen beiden Wahrneh-
mungen besteht in dem, was sich nicht zeigt, darin, dass einerseits die
Ähnlichkeit qualitativer Bestände erkannt und dabei das die konkrete
Hinsicht dieser Wahrnehmung Fundierende unsichtbar bleiben kann,
andererseits dagegen dieser Zusammenhang zwischen dem Fundie-
renden und seiner Erscheinung in der Ähnlichkeitswahrnehmung
mit erfasst werden kann. Der entscheidende Gedanke Spaemanns,
um den es in den beiden programmatischen Texten geht, lässt sich
also folgendermaßen zusammenfassen: In jeder nicht nur auf subjek-
tiver Assoziation beruhenden Ähnlichkeitswahrnehmung kann sich
das eine gemeinsame Hinsicht begründende Unsichtbare – als onto-
logische Differenz zwischen einem qualitativen Bestand und dem im
Erscheinen sich verbergenden Sein – enthüllen; ob es sich wirklich
enthüllt, hängt davon ab, ob der Betrachtende das phänomenal Ge-
gebene als bloße objektive Gegebenheit betrachtet oder er in der Di-
mension der Offenheit steht, in der andere Zentren der Bedeutsam-
keit ihm durch die phänomenal gegebenen Weisen des Seins hindurch
sichtbar werden.
Im Folgenden sollen einige unsystematische Wege nachvoll-
zogen werden, auf denen – nach der hier vorgelegten Interpretation
– Spaemann innerhalb des skizzierten programmatischen Rahmens
Versuche der Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person unter-
nommen hat, durch die Beiträge zur allgemeinen Lesbarkeit der Welt
geleistet werden. Zunächst geht es dabei um die häufige Bezugnahme
auf die Scheler’sche Wertphilosophie in Spaemanns späten Essays, die
eine phänomenologische Erweiterung seiner philosophischen Kon-
zeption ermöglicht. Zugleich müssen in diesem Zusammenhang aber
auch Spaemanns kritische Auseinandersetzung mit Scheler und seine
über diesen hinausgehenden Ideen zu einer Wertphilosophie referiert
werden (9.1). Im zweiten Schritt steht der Begriff des Schönen im
Mittelpunkt, durch den zum einen Spaemanns naturphilosophisch-
teleologisches Denken durch die Annahme eines der Evolution vo-
rausliegenden Apriori der Schönheit und einer Selbstdarstellungsten-
denz der Natur um einen wesentlichen Aspekt erweitert wird. Zum
anderen eröffnen seine Überlegungen im Bereich der Ästhetik durch
den Gedanken simulierter Transzendenz eine weitere Möglichkeit zu
666
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
53
Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
136.
54
Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58.
667
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.
9.1 Der phänomenologische Zugang zur
ontologischen Differenz im Wertbegriff
1
Erwähnung findet Scheler beispielsweise in »Glück und Wohlwollen« – vgl. Spae-
mann, Glück und Wohlwollen (1989), 57, 183 – oder in »Personen« – vgl. Spaemann,
Personen (1996), 70, 178, 228. – Eine implizite Bezugnahme auf Schelers These der
Seinserfahrung als Widerständigkeitserfahrung liegt bereits in »Über die Bedeutung
der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« (1980/81) vor. – Vgl. Spaemann, a. a. O., 45. –
Auch wenn Scheler in »Personen« nur am Rande erwähnt wird und insbesondere im
Zusammenhang mit der Bildung des spezifischen Personbegriffs durch Spaemann
nicht auf ihn Bezug genommen wird, zeigt sich die Nähe seines Personbegriffs zum
Scheler’schen vor allem in der von diesem konstatierten »Übergegenständlichkeit«
der Person. – Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 315. – Vgl. auch:
»[…] absolut ausgeschlossen ist es, daß die Person Gegenstand, sei es der von ihr
selbst vollzogenen, oder sei es der von einem anderen vollzogenen Vorstellung oder
Wahrnehmung wird. D. h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und
lebt im Vollzug intentionaler Akte. Sie ist also wesenhaft kein ›Gegenstand‹. Umge-
kehrt macht jede gegenständliche Einstellung (sei es Wahrnehmen, Vorstellen, Den-
ken, Erinnern, Erwarten) das Sein der Person sofort transzendent.« – Scheler, Der
Formalismus der Ethik und die Materiale Wertethik, 480–481.
2 Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 181.
3
Erschienen unter diesem Titel in: Chr. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy
668
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.
9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
6 Ebd.
7 Ebd. 146.
8 Ebd.
9
Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182.
10 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146.
11
Ebd.
669
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
15 Ebd.
16 Ebd.
17 Ebd. 149–150. – Unter den ›Werten‹ versteht Scheler somit »genuine[…] Seins-
gegebenheiten, […] die uns wesentlich im Fühlen der Höher- oder Minderwertigkeit
unserer Strebensziele erkennbar werden«. – Schweidler, Max Scheler: Der Wert, in:
Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch, 131.
18 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146.
19
Ebd. 149.
670
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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
671
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
672
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.
9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
sind daseinsrelativ in dem Sinn, dass sie ihr Sein darin haben, »dem
Leben allererst Bedeutsamkeit zu geben beziehungsweise die Bedeut-
samkeitsstruktur des Lebendigen auszumachen und zu definieren« 31.
Dadurch, dass ein Lebewesen zu seiner Umwelt in eine Beziehung
tritt, entsteht die Relationalität, in der Werteinsichten möglich wer-
den, und erst im Transzendieren der eigenen Perspektivität durch ein
solches Lebewesen wird diese Relationalität und damit die Da-
seinsrelativität der möglichen Wertbeziehungen bewusst. 32 Die Ab-
solutheit der Werte ergibt sich daraus, dass das Lebewesen in die
Wertbeziehungen wesentlich rezeptiv eingeht. 33 Die in den Wertein-
sichten rezipierten Wirkungen der Welt können aber »nicht kausal
interpretiert werden im neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Sinn
formal-mechanischer Kausalität« 34. Vielmehr verfügt »Scheler über
einen Begriff von Kausalität, den er selbst ›metaphysisch‹ nennt und
der nichts mit einem gesetzmäßigen Folgen nach Regeln zu tun hat«:
»Die wahre Welt ist nicht eine Welt von Gestalten, sondern von Kräf-
ten. Diese sind es, die real wirken und die Körperbilder ebenso wie
deren formalgesetzliche Kausalverknüpfung hervorbringen.« 35 Im
Zusammenhang mit dieser »Metaphysik der Kräfte bei Scheler«, die
»eng mit seiner Idee des ›Dranges‹ und ›Triebes‹ als Urwirklichkeit
verbunden ist« 36, kommt Spaemann auf den wesentlichen Differenz-
punkt zu sprechen, an dem er sich von Scheler trennt:
36
Ebd.
673
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
674
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.
9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
ich selbst für den anderen ein anderer bin, jenseits aller möglichen
Gegenständlichkeit für ihn. Jenseits aller möglichen Gegenständlich-
keit ist für Scheler nur das Sein der Person. Was Scheler meines Er-
achtens nicht sah, ist, daß das Sein von Personen nicht ein erkennt-
nistheoretischer Grenzfall ist, sondern das Paradigma für alle Er-
kenntnis von unabhängiger, selbständiger Wirklichkeit. 41
Die Seinserfahrung, die ihren eigentlichen Ort in der interpersonalen
Begegnung hat, ist für Spaemann in Abstufungen in der Wahrneh-
mung anderer Lebewesen und – als »erkenntnistheoretischer Grenz-
fall« 42 – in der Wahrnehmung »unlebendiger Materie« 43 möglich.
Der prinzipielle Einwand Spaemanns gegenüber Scheler, wonach die-
se Seinserfahrung keine sinnliche ist, sondern als Anerkennung der
›fundamentale Akt der Vernunft‹, ist gerade dadurch kein Einwand
gegen die Wertphilosophie selbst, als für Spaemann die Anerkennung
von Sein ebenso im Hinblick auf Lebewesen und unlebendige Materie
möglich ist wie für Scheler die Widerstandserfahrung. In dieser prin-
zipiellen Differenz ist also eine Übereinstimmung verborgen hin-
sichtlich der personalen Rezeptivität in Bezug auf Sein. Damit stellt
sich allerdings die Frage, wie Schelers ›Metaphysik der Kräfte‹, die
nicht nur seinem Gedanken der sinnlichen Seinserfahrung, sondern
auch der Möglichkeit von Werteinsichten zugrunde liegt, bei Spae-
mann so transformiert wird, dass er die durch Schelers Wertbegriff
ermöglichte Ausdifferenzierung von Strukturen des Guten ohne die
Konsequenz sinnlicher Seinserfahrung aufnehmen kann.
Im letzten Abschnitt des Essays »Daseinsrelativität der Werte« 44
unternimmt Spaemann zu dieser Frage den über Scheler hinaus-
gehenden Versuch, Grundgedanken seiner Wertphilosophie mit der
Ontologie der Person in ein Verhältnis zu setzen. Ausgangspunkt der
Überlegung ist eine ›Lücke‹ in Schelers Denken:
Wenn Werte nicht Produkte wertender Akte sind, sondern das, was
diese Akte erst ermöglicht und was sie definiert, und wenn doch um-
gekehrt Werte kein Sein haben unabhängig von der möglichen inten-
tionalen Gegenständlichkeit für wertnehmende Akte, dann stellt sich
allerdings ein neues Problem, das Scheler nicht ausdrücklich erörtert
675
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
45
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 158.
46 Ebd.
47
Ebd.
676
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.
9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
ser. Denn die Akte haben ja ihren Grund in ihren Gegenständen. Das
ist in der These der Korrelativität impliziert. Die Person weiß auch von
diesen Gegenständen nur mittels ihrer Akte. 48
Die Person ist für Spaemann keine hypostasierte Entität, sondern,
wie oben gesehen, ›Blick von nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein
und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt
der Freiheit‹. 49 Das heißt, die Person hat eine Natur, ohne diese Natur
mit ihrer qualitativen Bestimmbarkeit zu sein. Und doch ist dieses
›Haben einer Natur‹ nur im personalen Daseinsvollzug gegeben und
nicht als Entität objektivierbar. Die Person als ein sich dem Begriff
Entziehendes wurde überhaupt erst denkbar durch ihre Funktion in
einem ihr voraufliegenden teleologischen Zusammenhang. Als die-
sem Zusammenhang zugrunde liegend muss ein Aussein-auf, eine
fundamentale Selbsttranszendenz, angenommen werden, die durch
die Person, indem sie sich als aus ihm hervorgehend bewusst wird,
selbst noch einmal transzendiert wird. Die Korrelativität von Akt
und Aktgegenstand hat zur Voraussetzung, dass jene fundamentale
Selbsttranszendenz der Natur und ihr personales Transzendieren zu-
einander in einem analogen Verhältnis stehen. Beide gehen aus dem-
selben Aussein-auf hervor, das durch die reflexive Wendung auf sich
selbst im personalen Standpunkt paradoxerweise die Natur transzen-
diert und zugleich natürlich bleibt. Diese Paradoxie ist begründet in
der universalen ontologischen Differenz von Dasein (Sein) und So-
sein (Wesen), die sich als natürliches Aussein-auf primär zeigt, die
aber erst zu Bewusstsein gelangt im Transzendieren dieses Ausseins-
auf, das dann gleichwohl in der reflexiven Wendung auf sein Sosein
die ontologische Differenz auf einer neuen Stufe wiederholt. 50 Hier
stößt das Denken jedoch an eine Grenze, insofern die Instanz, die
677
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
51
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 159.
678
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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff
679
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.
9.2 Die Wahrnehmung des Seins im Schönen
Die Möglichkeit der Wahrnehmung von Sein, das für Spaemann ein
Jenseits des Begriffs ist, ist begründet in dem personalen Vermögen,
Seiendes »unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst« 2
wahrzunehmen. Dieses Vermögen hat seinen eigentlichen Ort im in-
terpersonalen Begegnungsgeschehen, das erst konkret wird durch
symbolische Repräsentation 3 von Innerlichkeit. Eben dadurch ist die
Begegnung von Personen aber paradigmatisch für die Gegebenheits-
weise natürlicher Dinge und ermöglicht die Wahrnehmung von Ähn-
lichkeit als qualitative Nähe außerhalb des Beziehungsraums der Per-
sonen. Die Person selbst wurde überhaupt erst denkbar als Paradigma
solcher Wahrnehmung, als Perspektive, der im Überschreiten des na-
türlichen Ausseins-auf dieses selbst im Gegenüber als das im Zeigen
sich Verbergende gegeben wird. 4 Die personale Wahrnehmung der
Spontaneität der Natur bzw. einer sie nachahmenden menschlichen
ποίησις legt frei, was im Zusammenhang mit der Wertphilosophie
als verborgene Strukturen des Guten bezeichnet wurde. 5 Die These
dieses Teilkapitels ist, dass eine konkrete phänomenale Ausdeutung
1
Spaemann, Erziehung zur Wirklichkeit (1987), 510.
2 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55. – Vgl. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemei-
nerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 661.
3 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 116, u. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstver-
592.
5
Vgl. Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182, u.
Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im
Wertbegriff, 669.
680
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.
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
6 Zuerst erschienen in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 18/2004,
Göttingen: Wallstein, S. 133–148. Wieder veröffentlicht in: Spaemann, Schritte über
uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 251–266. – Neben diesem Text neh-
men die folgenden Ausführungen Bezug auf eine Reihe weiterer Essays Spaemanns
zum Thema Ästhetik aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
7
Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 251.
681
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
12
Ebd. 264.
682
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.
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
16
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
683
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
19 Ebd. 270.
20 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 257. – Dass diese
684
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.
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
23
Ebd. 258.
24 In diesem Kontext könnte der oben – vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realis-
mus, 558–560, Fn. 139 – thematisierte Begriff der Lebensform von Buchheim und
Noller Bedeutung gewinnen. Der Begriff der Lebensform wurde von ihnen zur Erklä-
rung des Personbegriffs herangezogen, ist jedoch geeignet, eine Analogizität zwischen
menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen erkennbar werden zu lassen:
»Die Form des Lebens, in die ein Wesen mit seiner Existenz eintritt, ist zugleich hoch-
gradig allgemein und stark umgebungsabhängig und liegt deshalb vor allem bei den
anderen Artgenossen, die sie schon vorher hatten, sowie an den Bedingungen der
›Nische‹ und des ›Habitats‹, in welche der Existenzeintritt erfolgt.« – Buchheim/Nol-
ler, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 164. – Ver-
schiedene Lebensformen könnten so als die spezifische Art beschrieben werden, wie
685
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
26
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 335–336. – Vgl.
in: Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, das Kapitel »Gestaltung als Lebens-
vorgang«, besonders 163–187.
27 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258. – Vgl.: »We-
sen mit Weltbeziehung sind nicht nur lebende Maschinerien, die stoffwechseltreibend
tätig sind, ja um dieses Stoffwechsels willen recht eigentlich da wären. Sie sind allem
voran Wesen, die sich in ihrer Eigenart darstellen, wobei diese Selbstdarstellung zu-
nächst gar nicht auf Sinnesorgane bezogen werden muß.« – Portmann, Aufbruch der
Lebensforschung, 54. – Vgl. auch: »Weltbeziehung durch Innerlichkeit und Selbstdar-
stellung in der Erscheinung sind in dieser Sicht die zwei obersten Kennzeichen des
686
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.
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
30
Ebd. 262.
687
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
688
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.
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution
Akt der Anerkennung. Aber »das im ethischen Sinn Schöne, das Zu-
rücktreten vor dem Selbstsein, wird dadurch ermöglicht, dass sich
Selbstsein als Selbstsein darstellt. Lebendiges hat die elementare Ten-
denz, sich als lebendig darzustellen.« 34 Die bewusste Wahrnehmung
des Naturschönen kann daher gefasst werden als personale Anerken-
nung von anderem Selbstsein auf der subpersonalen Ebene. Das in
der Schönheitswahrnehmung eröffnete nicht-prädikative Feld der
Bedeutung ist das in der Selbstdarstellung von Lebendigem phäno-
menal erfahrbare Selbstsein anderer Zentren der Bedeutsamkeit, die
Weise der Erscheinung der ontologischen Differenz auf einer vor-
bewussten Stufe.
Die aus der Gegenüberstellung dieser Grundgedanken zur Be-
deutung eines Apriori der Schönheit in der Natur mit der reduktio-
nistischen Sicht sich ergebende Beweislastfrage lässt sich demnach
folgendermaßen stellen:
Hat es Sinn, natürlichen Lebewesen oder einer sie hervorbringenden
Allnatur eine Tendenz zuzusprechen, sich selbst als schön, das heißt
als sehenswert und hörenswert zu präsentieren? Und zwar jeweils
ihresgleichen? Wir müssen, so scheint mir, diese produktionsästheti-
sche Frage, um sie beantwortbar zu machen, in eine rezeptionsästheti-
sche umformulieren: Gibt es, ungeachtet der Zwecke, denen das Schö-
ne dient – und die gibt es ja auch in der menschlichen Kunst –, gibt es
so etwas wie ein kontemplatives Verhalten? 35 Gibt es so etwas wie
Freude an etwas, nicht bloß Lust durch etwas? Gibt es also so etwas
wie einen intentionalen Gehalt eines Wohlgefühls und nicht nur eine
Kausalursache? 36
Noch allgemeiner formuliert lässt sich fragen, ob »es in der außer-
menschlichen Natur nicht nur Schönheit, sondern auch einen Schön-
heitssinn« gibt bzw. ob »die Tendenz von Lebewesen, sich darzu-
stellen, noch andere Adressaten als den Menschen« 37 hat. Die ver-
neinende Antwort des Reduktionismus bedeutet, dass der Mensch
als Lebewesen mit Selbstbewusstsein in der Natur völlig isoliert ist
und »Erkennen und Wollen nur sich selbst missverstehende Funktio-
nen überlebensdienlicher Anpassung sind«, womit eine Theorie, die
37
Ebd. 266.
689
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
diese These vertritt, sich selbst aufhebt, »da sie selbst nun nur noch
ein Stadium gelungener Anpassung ist, also nicht unter wahrheits-
funktionalem Aspekt betrachtet und beurteilt werden darf« 38. Die
nicht beweisbare These eines Apriori der Schönheit in der Natur da-
gegen bedeutet, dass die in der personalen Perspektive erlebbare on-
tologische Differenz von Sosein und Dasein als Überschuss überall in
der lebendigen Natur und – als erkenntnistheoretischer Grenzfall –
auch in der Welt des nicht lebendigen Seienden wahrgenommen wer-
den kann. Der im Kontext der Ontologie der Person entwickelte Ge-
danke eines teleologischen Zusammenhangs, in den die Person ein-
tritt, indem sie ihn transzendiert, gewinnt durch die Annahme eines
Apriori der Schönheit eine phänomenale Fundierung, die eine grund-
legende Verallgemeinerung dieser Ontologie ermöglicht. Darüber hi-
naus findet der für diese Ontologie zentrale Zusammenhang von Te-
leologie und Personalität durch den in einem Apriori der Schönheit
fundierten lebendigen Selbstdarstellungstrieb eine weitere Stützung.
In diesem Sinne bemerkt Spaemann in »Ritual und Ethos«:
Die Rituale des Tierreichs beweisen nicht, dass die menschliche Ritua-
lisierung des Lebens eine verborgene biologische Funktion erfüllt. Sie
können ebenso gut als Hinweis darauf verstanden werden, dass das
Leben selbst darauf angelegt ist, sich darzustellen, und dass diese Dar-
stellung missverstanden wird, wenn sie als bloße Funktion der Selbst-
erhaltung und Arterhaltung verstanden wird. Diese Selbstdarstellung
wird dann, gerade weil sie keine Erhaltungsfunktion erfüllt, beim
Menschen zum Träger von transzendenten Bedeutungen. Sie stellt
nicht mehr nur den Darstellenden dar, sondern wird zur Repräsenta-
tion seines Ursprungs. 39
Auch hier ist der religiöse Gedanke so aus der Naturphilosophie ent-
wickelt, dass er eine Grenze darstellt, über die hinaus nur spekulative
Gedanken führen, an die heran aber mit genuin philosophischen Mit-
teln gelangt wurde.
690
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.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
Mit Bezug auf die menschliche Nachahmung der Natur wurde oben 40
bereits bemerkt, dass auch vom Menschen hervorgebrachte Ge-
brauchsgegenstände durch Variation der Gestaltungsmittel über die
in ihrer Herstellung verfolgte Zweckmäßigkeit hinaus etwas darstel-
len. Von solchen überdeterminierten Gebrauchsgegenständen ist eine
andere Gruppe von Gegenständen zu unterscheiden:
Die Überdetermination, die das Gebilde als ein Selbstseiendes jenseits
seines Gebrauchs erscheinen lässt, kann sich nun aber verselbständi-
gen und so das Gebilde vom Gebrauch ganz lösen und zum reinen
Kunstding werden lassen. Dabei spielt der kultische Gebrauch eine
eigene Rolle. Er ist es eigentlich, der die Autonomie des Kunstwerks
entstehen lässt. 41
Bei der Erzeugung von Kunstschönem handelt es sich um die Sonder-
form menschlicher ποίησις, »die nicht auf Beherrschung im Dienst
unserer Selbstbehauptung zielt, sondern darauf, etwas einfach vor
uns hinzustellen« 42, und die im Unterschied zum Naturschönen we-
sentlich geschichtlich ist. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen
Entwicklung dieser ποίησις geht es Spaemann insbesondere um ihre
spezifisch personale Form, deren Untersuchung eine weitere Diffe-
renzierung der Ontologie der Person erlaubt. Verschiedene konkrete
Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst deutet Spaemann aus-
gehend vom Maßstab des Schönen als einstelligem Guten als Re-
aktionen auf die geschichtliche Entfaltung eines szientistischen Den-
kens und als Symptome der mit ihm einhergehenden Gefährdung der
Personalität. Ausgangspunkt der geschichtlichen Betrachtung des
Kunstschönen ist Platon:
Platon hat über das Problem der Nachahmung als Erzeugung von
Schein als erster nachgedacht. Er wollte dieser Fähigkeit hierzu nicht
zubilligen, Kunst zu heißen. Es ist nicht techné, sondern empeiria,
Fertigkeit, Knowhow. Kunst ist die Fähigkeit, die Erscheinung von
etwas hervorzubringen durch Hervorbringung dessen, was natür-
licherweise Grund dieser Erscheinung ist. Also z. B. im anderen eine
Überzeugung bewirken durch Vermittlung des Wissens, das diese
Überzeugung legitimiert. Diese Fähigkeit ist fachspezifisch. Wer Ma-
40
Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 684–685.
41 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 271.
42
Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 307.
691
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
43 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 332.
44
Ebd. 332–333.
45 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 312.
46
Ebd.
692
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.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
47 Vgl. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 313.
48 Ebd. 314. – Voraussetzung dieses Innovationsschubs für die Kunst war freilich die
Aufhebung des Bilderverbots durch die Auffassung Jesu als legitimes Bild Gottes,
durch die auch die künstlerische Darstellung des Menschen als »Bild und Gleichnis
Gottes« legitimiert wurde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere
(2005), 268.
49 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 314.
50
Ebd. 314–315.
693
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
bereits ist.« 51 Wenn die Rede von der Kunst als Schöpfertum berech-
tigt sein soll, muss daher eine tiefer liegende Analogie zwischen
künstlerischem Schaffen und der Erschaffung der Welt aus dem
Nichts gefunden werden. Für den Aufweis dieser Analogie bedarf es
allerdings eines Umwegs, dessen Notwendigkeit im Nachhinein eine
Erklärung finden wird.
Die Entstehung dieses Begriffs von Kunst als Schöpfung kann,
wie sich aus Spaemanns Gedankengängen in seinen späten Essays zur
Ästhetik ergibt, nur vor dem Hintergrund der antiteleologischen
Wende des neuzeitlichen Denkens verstanden werden. Die Inversion
der Teleologie, die Spaemann bereits in seinen Studien über Fénelon
untersuchte, zeigte sich in der bürgerlichen Ontologie des 17. Jahr-
hunderts darin, dass für die von jeder Transzendenz abgeschnittene
menschliche Natur Reflexion prinzipiell Ausdruck eines egoistischen
Interesses ist. Unter dieser Voraussetzung ist jede Liebe – ob zu an-
deren Menschen oder zu Gott – nicht Ausdruck einer Selbsttranszen-
denz, sondern interessegeleitet, also letztlich selbstsüchtig. Wie in
Kapitel 4 dargelegt wurde, vertrat Leibniz im amour-pur-Streit ge-
genüber Fénelon eine Gegenposition, 52 auf die Spaemann hier im
Kontext der Entstehung des modernen Kunstbegriffs Bezug nimmt.
Leibniz war der Überzeugung, dass die menschliche Natur zu un-
eigennütziger Liebe fähig ist:
Jedes Mal, wenn Leibniz seinen Begriff von uneigennütziger Liebe
erläutert, wählt er als Beispiel das Verhältnis eines Menschen zu
einem Bild – meist ist es ein Bild von Raffael. Leibniz’ Definition der
Liebe lautet: Delectatio in felicitate alterius – Freude am Glück des
Andern 53. Nun ist aber doch ein Bild keiner felicitas fähig – was Leib-
niz ausdrücklich zugibt. Aber das tut nichts, denn für Leibniz ist Glück
nur die subjektive Form, Vollkommenheit zu erleben. Wer ein Bild, so
schreibt er, wegen seiner Wertsteigerung im Handel schätzt, von der
er zu profitieren beabsichtigt, liebt nicht eigentlich, weil er nur den
eigenen Vorteil sucht. Wenn er aber das Bild erwirbt nur der Freude
wegen, die er daran hat, es zu betrachten, »cela repondroit au pur
51 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316.
52 Vgl. Abschnitt 4.3.2, Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Male-
branche, 158–161.
53
In einer Fußnote verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: Z. B. G. W. Leibniz,
Brief an Magliabecchi v. 3./13. Juni 1698. – Spaemann, Perspektive und View from
nowhere (2005), 277.
694
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.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
54
Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 275.
55 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 59. – Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons
Niederlage und sein Fortwirken, 168.
56 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 276.
Kant das Ziel des Projektes einer Kritik der reinen Vernunft. Ein nihilistisches Projekt,
könnte man sagen. […] Kleist ist daran zerbrochen. Er fühlt sich nach der Lektüre der
›Kritik der reinen Vernunft‹, wie er schreibt, ›tief in seinem heiligsten Inneren ver-
wundet‹. ›Ach Wilhelmine‹, so fährt er in seinem Brief fort, ›mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken und ich habe nun keines mehr.‹« – Spaemann, Karl Jaspers’
Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 224.
58
Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 318.
695
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
59 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 340.
60
Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 265.
61 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 319.
62
Ebd.
696
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
tät, 592.
66 Das Verständnis dessen, was angemessene ästhetische Rezeption bedeutet, setzt
697
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
698
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
den« 73. Die »Virtualisierung der Realität« 74, von der Spaemann in
Bezug auf unsere Gegenwart spricht, wurde von der Kunst seit der
frühen Neuzeit antizipiert. Zum Abschluss dieser Überlegungen über
das Kunstschöne sollen hier die wichtigsten Gedanken Spaemanns
über die Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst 75 zusammen-
gefasst werden. Bei der Betrachtung der Bildenden Kunst von der
Renaissance bis zur Gegenwart beobachtet Spaemann zwei Bewegun-
gen, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehen. Beide
Bewegungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Paradox der
neuzeitlichen Kunst, also der Erschaffung eines fingierten Selbst-
seins. In der ersten Bewegung wird dieses Paradox in dem Sinne ver-
schoben, dass das im Kunstwerk fingierte Selbstsein auf seinen Ur-
heber zurückbezogen wird. 76
Den Versuchen der frühen Neuzeit, sich dem Paradox der Transzen-
denz durch das selfish system zu entziehen, entspricht in der Bilden-
den Kunst eine analoge Tendenz, die Tendenz, die Kunst zu entlasten
vor dem Anspruch, das Wirkliche als es selbst symbolisch zu ver-
gegenwärtigen. Was sie stattdessen darstellt, ist bewusst und aus-
drücklich der Schein, zunächst die Zentralperspektive eines indivi-
duellen Betrachters, dann die subjektive optische Impression, und
schließlich der freie, von allem gegenständlichen Bezug befreite Aus-
druck freier Imagination. 77
Durch die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance-
Malerei als erstem Schritt der Entlastung der Kunst ist das Bild »ein
sich seiner selbst bewusst gewordener Blick«, durch den »die Indivi-
dualität des Künstlers erst jene überragende Bedeutung« gewinnt,
gleichbare Überlegungen zur Musik oder Literatur finden sich bei Spaemann nicht.
76 In Spaemanns Essay »Perspektive und View from nowhere« aus dem Jahr 2005
spricht er in diesem Zusammenhang davon, dass durch diese Bewegung das Paradox
beseitigt werde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273. –
Dies scheint mir übertrieben, da somit auf »die europäische Malerei von Giotto bis
Monet, also die Epoche, in der die Entdeckung der Zentralperspektive die Erzeugung
von Illusion ermöglicht«, die Charakterisierung als fingiertes Selbstsein nicht mehr
zuträfe. – Vgl. ebd. – In dem zwei Jahre später veröffentlichten Essay »Was heißt: ›Die
Kunst ahmt die Natur nach‹?« findet Spaemann eine weniger starke Formulierung,
die nicht auf eine Beseitigung des Paradoxes, sondern auf eine Verschiebung hinweist.
– Vgl. dazu das folgende Zitat aus diesem Essay.
77
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341.
699
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
»die ihr seit der Renaissance zukommt« 78. Beim zweiten Schritt, dem
Übergang zu subjektiver optischer Impression, denkt Spaemann an
die französischen Impressionisten, vor allem an Cézanne, beim drit-
ten, der freien Imagination, an Kandinsky und Paul Klee. 79 Der in
diesen Schritten sich entfaltende »Prozess der Subjektivierung ist
allerdings dialektisch« 80, insofern er in die zweite Bewegung über-
geht, in der das Paradox auf paradoxe Weise wiederkehrt: 81 »Wenn
aber die äußere Welt ganz in ihrer Wahrnehmung verschwindet,
dann verschwindet auch die Differenz von Sein und Schein. Der
Schein selbst ist das Sein. Esse est percipi – sein heißt Wahrgenom-
men-Werden.« 82 Innerhalb dieser zweiten Bewegung unterscheidet
Spaemann noch einmal zwei Erscheinungsformen, einerseits einen
Kult der Originalität, andererseits eine neue Sakramentalisierung
der Kunst. Bei der ersten Form denkt er an Kunstwerke, bei denen
»nur noch der Rahmen und das Wissen, dass dieser Rahmen von
einem Menschen um diesen Ausschnitt gelegt wurde«, sie als solche
erkennbar machen bzw. an Kunstgegenstände, denen man nicht an-
sieht, ob es sich »um beiläufig herumstehende Utensilien handelt
oder um Teile einer Ausstellung« 83:
Je subjektiver die Kunst der Neuzeit wird, je weniger sie sich als Sym-
bol der Wirklichkeit des physei on versteht, desto wichtiger wird nun
auf einmal das Bild als singuläre Realität, als »Original«, und das Be-
wusstsein, dass dieses konkrete Bild aus der Hand »eines bestimmten
Künstlers«, also eines konkreten lebendigen Wesens stammt. 84
Weit davon entfernt, solche Kunst für eine bloße Provokation des
Betrachters zu halten, versucht Spaemann eine philosophische Erklä-
rung. Wenn »die herrschende szientistische Weltanschauung das
Analogat der Naturnachahmung, nämlich eine teleologisch verstan-
dene Natur, zum Verschwinden gebracht hat« und alle natürlichen
Gestalten »zu Durchgangsstadien eines ziellosen Evolutionsprozesses
78
Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273.
79 Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274, u. Ders., Was
heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341–342.
80 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274.
81 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 343.
83 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 344. – Konkret
700
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.
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein
geworden« sind, kann Kunst »nicht physis als Gestalt, sondern Natur
als ein[en] Prozess, in dem Gestalten nur Stadien auf einem Weg
sind« 85, nachahmen. Daher werden die »Spuren seiner Entstehung«
nicht getilgt, sondern »das Werk besteht oft nur aus den Spuren eines
produktiven Prozesses« 86. Bei der zweiten Form innerhalb dieser
Gegenbewegung geht es um eine Art der Kunst, die in einer zuneh-
mend »virtuellen Welt« versucht, »die verlorene Wirklichkeit als un-
sichtbare zu vergegenwärtigen« 87. Als Beispiele solcher Kunstwerke
nennt Spaemann »das Verpacken großer Gebäude durch das Ehepaar
Christo, bei denen das Bewusstsein von Wirklichkeit durch Unsicht-
barmachen eines Dinges geweckt werden soll« 88, den »aus einer
eigens hierfür hergestellten Kaiserkrone« 89 umgeschmolzenen gol-
denen Osterhasen von Beuys und vor allem die Werke von Walter
de Maria, etwa den »tausend Meter lange[n] Stab aus Edelstahl, den
er anlässlich einer Documenta in Kassel in ein vorher hergestelltes
Bohrloch versenkte« 90. Die Gemeinsamkeit dieser sehr verschiedenen
Kunstwerke sieht er darin, dass der Kunst als Reaktion »auf die zu-
nehmende Virtualisierung der Welt« 91 damit paradoxerweise die
Aufgabe eines Erinnerns zufällt, »das nicht mehr begrifflos durch
Bilder geschieht« 92:
Wo die Bilder verstellen, was von sich selbst ist und aufgeht, d. h.
Natur, da fällt der Kunst die Aufgabe zu, karge Zeichen als Spuren zu
hinterlassen, die den, der ihnen nachgeht, an den Ort führen, wo
Sehen, Hören und Fühlen entspringen. Also an den Ursprung von
Leben. Sehen aber ist unsichtbar, Hören unhörbar und Tasten untast-
bar. Nachahmung der Natur: Das heißt das Unsichtbare nachahmen,
das die fundamentale Realität ist. 93
Die Kunst scheint damit »an die Stelle des Sakraments zu treten« 94
und »die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins« zu
85
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345.
86 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316.
87 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215.
88 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345.
89 Ebd. 346.
90 Ebd.
91 Ebd.
92
Ebd. 347.
93 Ebd.
94
Ebd. 346.
701
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
95
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215.
96Vgl. Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz, 637–
642.
702
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.
9.3 Das Absolute als eine Weise der Nähe
703
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
seits, von Gott als dem Ende des Denkens andererseits 3 –, die sich im
Verlauf der vorliegenden Untersuchung seines Werks immer deut-
licher abzeichnete, darzulegen. Die für Spaemanns Denken charakte-
ristische Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Glaube lässt
sich, wie zu zeigen sein wird, nur durch einen Gedankengang deutlich
machen, in dem durch die Reflexion des Verhältnisses von antikem
und neuzeitlichen Denken auf die Entdeckung der Person als his-
torisch-kontingenter Fundierung von Spaemanns Ontologie rekur-
riert wird (9.3.1). Abschließend werden in der Bewegung einer Ge-
genprobe zwei späte Texte Spaemanns, die als ›Summen‹ seines
Philosophierens gelesen werden können, analysiert und verglichen,
um die Tragfähigkeit der vorgelegten Deutung zu prüfen. In diesen
Texten geht es im Unterschied zur Thematik des vorangegangenen
Abschnitts um die genuin philosophische Gestalt von Spaemanns
Denken, die im Sinne des erläuterten Gedankens der doppelten Co-
dierung nicht im Widerspruch zu seinen theologischen und religions-
philosophischen Überlegungen steht, sondern im Sinne der hier un-
ternommenen Deutung des philosophischen Werks Spaemanns als
deren Fundierung erwiesen werden kann (9.3.2).
3 In einem Interview aus dem Jahr 2007 bezeichnet Spaemann als »das Ende des
Denkens« »die Einsicht: Gott ist«. – Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendi-
gen und das Ende des Denkens (2008), 136.
4 Vorwort (2007), in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 7. – Vgl. zu Pascals ›Wette‹ :
704
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.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
Glaube, ein Glaube, der mit dem Glauben an Gott eng zusammen-
hängt.« 5 In seinem zusammen mit Spaemanns Vortrag »Die Ver-
nünftigkeit des Glaubens an Gott« veröffentlichten Essay mit dem
Titel »Gott denken« fasst Rolf Schönberger das Argument Spae-
manns in folgenden Schritten zusammen:
I. Alle Tatsachenwahrheiten sind ewige Wahrheiten.
II. Jede Gegenwart ist die Vergangenheit einer künftigen Gegen-
wart.
III. Der ontologische Status dieser ewigen Wahrheiten besteht weder
in einer Wirkung noch im Erinnertwerden, sondern im Gewusst-
werden. Es ist somit einem absoluten Bewusstsein, also Gott,
gegenwärtig. 6
Schönberger weist darauf hin, dass Spaemann für dieses Argument
keine »unabweisbare Evidenz in Anspruch nimmt«, sondern »von
einem ›Postulat‹« 7 spricht. Offenbar besteht im Hinblick auf diesen
epistemologischen Status des Arguments jedoch eine erhebliche
Unklarheit. In einer sehr scharfsinnigen Analyse von Spaemanns Ar-
gument weist Thomas Buchheim auf eine weiter unten zu themati-
sierende Inkonsistenz desselben hin und folgert, dass die Wahrheits-
fähigkeit des Menschen, die für Spaemann nur zusammen mit dem
Glauben an Gott gegeben ist, unabhängig von einem solchen Zusam-
menhang behauptet werden kann. Der Zurückweisung von Spae-
manns Argument misst er dabei eine prinzipielle Bedeutung bei:
Dies halte ich im übrigen auch deshalb für wichtig, weil ein Dissens
über die Wahrheit des Gottesglaubens unter uns Menschen nicht dazu
führen sollte, den, der Gottes Existenz mit Wahrheitsanspruch leug-
net, einer Inkonsistenz bezichtigen zu können. Vielmehr ist die Leug-
nung Gottes mit Wahrheitsanspruch konsistent und kann allein des-
halb als Verstocktheit des Herzens Sünde sein. Wäre das Argument aus
dem futurum exactum der Wahrheit triftig, dann wäre ein wahrheits-
liebender, seine Überzeugung bekennender Atheist eine contradictio
in adiecto und umgekehrt: Der, der Gottes Existenz einräumt, wäre
jemand, der expliziert, was er unter »Wahrheit« verstehen möchte. 8
Wenngleich meines Erachtens dieser Einschätzung Buchheims im
Hinblick auf die Möglichkeit wahrheitsliebender Atheisten vollauf
705
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
9
Vorwort (2007), in: Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 8–9.
10Vgl.: »Ein argumentum ad hominem ist ein Argument, das von einer Prämisse
ausgeht, die der Hörer des Arguments gerne für wahr halten möchte, weil sie etwas
706
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.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
ausdrückt, was ihn selbst betrifft und auszeichnet – hier: ein freies und wahrheits-
fähiges Wesen zu sein. Wer möchte das im Ernst nicht? Dennoch ist auch ein solches
argumentum ad hominem eben ein Argument, d. h. es soll beweisen oder den betref-
fenden Menschen aus logischen Gründen zwingen – wenn er dies, was er sich selbst
zuschreiben möchte, für wahr halten will – etwas Weiteres, d. h. irgendwelche Folge-
rungen ebenfalls zu akzeptieren. Will er die Folgerungen nicht akzeptieren, so darf er
nicht mehr ohne Selbsttäuschung an der Prämisse festhalten. Deshalb bedarf auch ein
argumentum ad hominem einer durchsichtigen und genau festlegenden Form – an-
hand deren seine Voraussetzungen und Schlüssigkeit diskutierbar werden.« – Buch-
heim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 38.
11 Festvortrag an der Universität Oldenburg am 9. Juli 2008 zur Feier des 125. Ge-
burtstags von Karl Jaspers. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Deutsche Philosophie
57/2 (2009), 249–258. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus.
Gesammelte Reden und Aufsätze I, 214–232.
12
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 231.
707
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
708
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
23 Ebd. 230.
24
Ebd. 227.
25 Ebd. – Vgl. Platon, Phaidon, 114 d. – Spaemann verweist hier versehentlich auf:
116 b.
709
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
wir es mit Erzählungen zu tun, die wir mit Jaspers »Chiffren« nennen
können. Sie sind es wert, dass man sich an sie hält, denn in ihnen wird
das Wahre anschaulich. Aber diese Anschauung ist nicht die Sache
selbst und deshalb eine Sache der Selbstüberredung zum Glauben. 26
Während die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele für Platon aus
dem μέγιστον μάθημα, der Idee des Guten, hervorgeht und also ein
Wissen ist, sind konkrete Erzählungen, die diese Einsicht für den
Menschen illustieren, Inhalte eines Glaubens. Diese Unterscheidung
ist für Jaspers bedeutungslos, insofern das, was für Platon im eigent-
lichen Sinn Wissen bedeutet, für ihn selbst Gegenstand eines Glau-
bens geworden ist:
Es hat hier offenbar von Platon bis zu Jaspers eine Begriffsverschie-
bung stattgefunden. Dieses durch Studium von Mathematik und
Ideenlehre indirekt vorbereitete Ergriffensein der Existenz durch das
megiston mathema, das Platon Wissen im Sinne von absolutem Wis-
sen nennt, ist das, was bei Jaspers Glaube heißt. Offensichtlich handelt
es sich hier formal um eine Transformation des Glaubensbegriffs, an
deren Beginn die israelitischen Propheten, vor allem aber das Neue
Testament stehen. Beide Elemente des platonischen Wissens finden
sich hier im Begriff des Glaubens wieder: die alles Verstandesmäßige
übersteigende Größe des Gegenstandes, und die Intensität des Er-
griffenseins der Person, die z. B. Paulus schreiben lässt: »Nicht mehr
ich lebe, sondern Christus lebt in mir.« Allerdings findet mit dem bib-
lischen Glaubensbegriff eine Diastase zwischen Weltwissen und Glau-
ben statt, die wir auch bei Jaspers finden. 27
Mit der Diastase bzw. Spaltung von Weltwissen und Glaube ist jene
Reduktion des Wissens auf die »kognitive[…] Beziehung zu inner-
weltlichen Gegenständen« 28 im Sinne der certa cognitio eines Sub-
jekts gemeint, von der mit Bezug auf Jaspers’ Wissensbegriff die Rede
war: »die Welt der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine methodisch
geschlossene Welt geworden, deren Studium möglich ist etsi Deus
non daretur, als ob es Gott nicht gäbe.« 29 Die naturalistische Welt-
erklärung und der im Absprung von ihr mögliche philosophische
Glaube Jaspers’ sind für Spaemann eine Erscheinungsform jener spe-
zifisch neuzeitlichen Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus,
710
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
30 Vgl.: »Bereits Platon hat […] dem Eros eine heuristische Funktion zugewiesen.
Und Spaemann bemerkt, dass der Begriff der Erkenntnis aus kulturgeschichtlicher
Perspektive keineswegs identisch ist mit Descartes’ certa cognitio, der die Erkenntnis
des Lebendigen aus methodologischen Gründen verschlossen bleiben muss.« – Stark,
Das Verhältnis von Natur und Vernunft, 115.
31 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 228.
32
Ebd. 229.
33 Ebd.
34
Ebd.
711
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
39
Vgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223.
40 Ebd. – Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82–83, u. Abschnitt 8.3.3, Der philosophi-
712
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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
schnitt 8.3.3 gezeigt, 41 die Prämisse impliziert, dass Personen mit an-
deren Lebewesen ein Aussein-auf verbindet, und das im personalen
Daseinsvollzug – der ›Schwebe‹ – an seine Grenze gelangt. Zu diesem
Wissen gehört daher auch noch die Ahnung des Absoluten, dessen
konkrete Ausformung dann Gegenstand des Glaubens ist. In der
Selbsttranszendenz als fundamentalem Akt der Personalität aktuali-
siert sich der platonische Begriff des Wissens, wodurch die geläufige
Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben in Frage gestellt wird:
Es ist aber nun zur Sache eines philosophischen Glaubens geworden,
dass wir etwas wissen können und nicht nur bei uns selbst bleiben,
wenn wir mit einem guten Freund ein Glas Wein trinken und dabei
wissen, dass wir nicht das Konstrukt des Anderen und der Andere
nicht das unsere ist. Platons Begründungsfunktion des absoluten Wis-
sens für jede Art von Wahrheit scheint an Aktualität Karl Jaspers zu
übertreffen. Aber Jaspers hatte gute Gründe, dieses absolute Wissen
»Glauben« zu nennen. 42
Den Anderen für wahr zu halten, entspringt einer Evidenz der Wahr-
nehmung, von der Spaemann in »Glück und Wohlwollen« ausgeht;
und doch ist damit kein evidentes Wissen im Sinne der certa cognitio
verbunden: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und
bleibt eine metaphysische Entscheidung. Es ist die metaphysische
Entscheidung.« 43 Den Begriff ›Wissen‹ für diese Entscheidung in An-
spruch zu nehmen und damit die Philosophie – statt sie auf die Funk-
tion der argumentativen Prüfung von Meinungen zu reduzieren – als
›festeres Fahrzeug‹ zu betrachten, setzt jene Aktualisierung des plato-
nischen Denkens voraus, die in der Entdeckung der Person fundiert
werden kann und die als epistemologische Spur in jeder den Solipsis-
mus überwindenden Seinswahrnehmung anwesend bleibt. Durch
diese Fundierung im historisch-kontingenten Ereignis der Ent-
deckung ist die neuzeitliche Grenzziehung zwischen Wissen und
Glaube korrigierbar. Ohne diese Fundierung bleibt es bei den ›guten
Gründen‹, die Jaspers hatte, dieses Wissen einen Glauben zu nennen.
Insgesamt wiederholt Spaemann in seinem Vortrag über Jaspers da-
mit die Gedankenbewegung, die hier zunächst im sechsten Kapitel
rekonstruiert wurde. Aus dem neuzeitlichen Denken geht Spaemann
43
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248.
713
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
46
Spaemann, Der letzte Gottesbeweis (2007), 27.
714
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.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
47 Vgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223.
48 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 39, 79, 81.
49 Ebd. 39.
52
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
715
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
zugleich ein solches ist, das gewesen sein wird – und zwar für immer und ewig –,
gehört es immer schon der Dimension des Zeitlosen an. Als Künftiges wird es gegen-
wärtig, als Gegenwärtiges wird es zum Vergangenen, aber als Vergangenes wird es für
alle Zukunft bleiben.« – Spaemann, Personen (1996), 130. – Vgl. auch Buchheims
Verweise in den Fußnoten 4, 5 und 6 auf weitere Textstellen bei Spaemann. – Buch-
heim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 39–40.
716
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.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
717
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
62
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44.
63 Ebd.
64 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
66 Ebd.
67 Ebd. 122.
68
Ebd. 130. – Dies ist eine der Aussagen aus »Personen«, die Buchheim als erste
Fassung des Arguments bezeichnet.
69
Ebd. 122.
718
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
719
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
720
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
721
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
722
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.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
89
Nietzsche, Werke, Bd. 6, Götzendämmerung, 78.
90 Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 27.
91
Ebd. 29.
723
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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
724
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube
96
Spaemann, Deszendenz und Intelligent Design (2006), 63–64. – Die Musikwissen-
schaftlerin, von der die Rede ist, heißt Helga Thoene.
97
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 193.
725
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
98 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248.
99
Spaemann, Gottesbeweise nach Nietzsche (1998), 48.
726
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
nunft selbst auf einem Glauben beruht. Descartes hat uns belehrt, daß
wir auch am Evidentesten zweifeln können. Aber sogar der Zweifel
setzt Gott voraus. Denn er setzt voraus, daß es einen Wahrheitsraum
gibt, der nicht identisch ist mit dem Raum unseres Bewußtseins. Die-
sen Raum aber gibt es nur, wenn es Gott gibt. 100
Im Sinne dieses Selbstkommentars kann man zwei Richtungen der
Denkbewegung bei Spaemann unterscheiden. Einerseits geht er aus
von dem in der Selbsterfahrung gegebenen lebendigen Aussein-auf
und gelangt vom teleologischen Denken am Ende zur Personalität, in
der eine für seine Ontologie selbst konstitutive Grenze des philoso-
phischen Denkens erreicht wird, – konstitutiv deswegen, weil an die-
ser Grenze sich das Ende des Denkens mit dem Ausgangspunkt beim
lebendigen Aussein-auf berührt. Andererseits ist dieses antizipierte
Ende des Denkens – »die Einsicht: Gott ist« – der Beginn einer gegen-
läufigen Denkbewegung, die wieder beim Gedanken der Schöpfung
ankommt. Zum Selbstverständnis dieses Denkens gehört, dass diese
beiden Betrachtungsweisen durch ihren identischen Gegenstand in
seiner doppelten Codierung kongruent sind. Und das heißt, dass es
die genuin philosophische Möglichkeit gibt, ausgehend von der
menschlichen Selbsterfahrung durch rationale Operationen an die
Grenze des Denkens zu gelangen. Dieser genuin philosophischen
Richtung seiner Denkbewegung wendet sich nach diesem Versuch
einer Verhältnisbestimmung von Wissen und Glaube der letzte Ab-
schnitt der vorliegenden Untersuchung von Spaemanns Werk zu.
100 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
135–136.
101 Zuerst erschienen in: Was heißt »wirklich«? Unsere Erkenntnis zwischen Wahr-
727
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
102 Vgl.: »Die grundlegende Bedeutung, die unserem Selbstverständnis als Personen
für unseren Zugang zur Wirklichkeit überhaupt zukommt, entfaltet Robert Spae-
mann in seinem Beitrag Wirklichkeit als Anthropomorphismus, der zugleich als
›Summe‹ seiner Philosophie der Person verstanden werden kann«. – Vorwort von
H.-G. Nissing, in: Nissing (Hrsg.), Grundvollzüge der Person, 8. – Vgl. auch Seit-
schek, Grundvollzüge der Person [Rezension], 592.
103 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189.
104
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 322.
728
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
729
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewusstsein kam. Gefragt, was
denn der Hunger war, ehe er uns bewusst wurde, können wir natürlich
nicht antworten. Denn nur der bewusste Hunger ist uns bewusst. Und
doch ist es Teil dieses Bewusstseins, dass der Hunger schon vorher da
war und dass er durch das Bewusstwerden erst in ein neues Stadium
eintritt. Vorher war er etwas Ähnliches wie der bewusste Hunger: der
bewusste Hunger abzüglich des Bewusstseins. Das kann ich nur nega-
tiv ausdrücken, aber ich kann dafür keine positive Formulierung
finden. 107
Der einzig mögliche Zugang zum Leben im Bewusstsein besteht in
der gedanklichen Operation einer Subtraktion, in der vom bewussten
Vollzug der Selbsterfahrung oder von wahrgenommenen Lebensvoll-
zügen anderer Wesen auf ein ihm zugrunde liegendes Unvordenk-
liches geschlossen wird: »Was Ursprung, Selbstheit und Spontaneität
heißt, können wir nur wissen, weil wir uns selbst als Selbstsein erfah-
ren.« 108 Was die philosophiehistorische Bedeutung des Lebensbegriffs
anbelangt, bezieht Spaemann sich in beiden Texten auf »die klassische
Trichotomie« 109 von Sein, Leben und Denken und auf die Deutung
von Bewusstsein als Steigerung von Leben bei Thomas von Aquin. 110
Der Wegfall des Lebensbegriff und damit der »programmatische[…]
Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung« 111 am Beginn
der Neuzeit wird in beiden Texten in Zusammenhang gebracht mit
Francis Bacon. 112 Als Resultat dieses Umbruchs wird jeweils auf den
cartesischen Dualismus verwiesen:
erkennt,‹ schreibt Thomas von Aquin, ›der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur
ein halbes Leben.‹« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208,
– einmal auf Latein: »So kann Thomas sagen: Qui non intelligit, non perfecte vivit,
sed haben dimidium vitae«. – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012),
340.
111 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202.
112 Vgl.: »Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte
Jungfrauen. Die Zeit, in der man gottgeweihte Jungfrauen schätzte, war für Bacon
vorbei.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202, – und:
»Francis Bacon dagegen verabschiedete die causa finalis ganz allgemein ›tamquam
virgo Deo consecrata, quae nihil parit‹, wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts
gebiert. Er schätzte gottgeweihte Jungfrauen offenbar nicht. Sie sind nicht produktiv.
Um die Natur zu beherrschen, ist es eher lästig, die inneren Tendenzen natürlicher
730
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
Res cogitans und res extensa haben nichts mehr gemeinsam. Denn der
Begriff, der sie vergleichbar macht, ist verschwunden: der Begriff des
Lebens. Die alte Trias Esse – vivere – intelligere wird reduziert auf den
Dualismus Sein – Bewusstsein. Leben ist für Descartes ein unklarer,
ein diffuser Begriff. Entweder ist das Lebewesen ein bewusstes Sub-
jekt, oder es gehört zur Welt der res extensa, zur Welt der trägen
Objekte. 113
Der cartesische Dualismus liegt nach Spaemann dem »anthropozen-
trischen Denken[…] der neuzeitlichen Wissenschaft« 114 und damit
der »Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus« 115 zugrunde,
die die wesentlichen Bezugspunkte der kritischen Seite von Spae-
manns Philosophie sind.
Der zweite Hauptbegriff der Spaemann’schen Philosophie ist
›Person‹, der, wie gesehen, ohne prädikative Bedeutung von Men-
schen – nicht zwangsläufig ausschließlich von ihnen – ausgesagt wird
und in diesem Fall eine Distanz zur menschlichen Natur ausdrückt:
Personen geben einander zu verstehen, dass sie selbst noch etwas jen-
seits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des Anderen ist
nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewissheit aber wird uns
diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über
die gesprochen wird. Ich mag mir einbilden, der Andere sei nur mein
Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum des
Anderen. 116
Wie in »Personen« spricht Spaemann in »Die zwei Interessen der
Vernunft« von der »exzentrischen Position« 117 und dem »view from
nowhere« 118, die die innere Distanz der Person zur eigenen Natur
zum Ausdruck bringen, 119 »denn indem wir einen Elan verspüren,
einen spontanen Impuls, spüren wir gleichzeitig die Möglichkeit,
119
Auch wenn Spaemann in diesem Text stets vom ›Menschen‹ und nicht dezidiert
von der ›Person‹ spricht, geht es hier im Sinne der Distanzierung von der eigenen
Natur um das, was bei ihm sonst als Person bezeichnet wird.
731
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
120 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 344. – An dieser Stelle be-
zieht Spaemann sich auch wie in »Personen« auf die ›secondary volitions‹ Harry
Frankfurts.
121 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204, 211, 214, und
Öffnung für Wirklichkeit, die der Wirklichkeit vollständig adäquat ist, nennen wir
Liebe. Valentin Tomberg hat Liebe definiert als das Wirklichwerden des Anderen für
mich. In jener Liebe, die in der Sprache der Tradition amor benevolentiae hieß, hört
der Andere auf, Umwelt für mich zu sein, also ein vielleicht wichtiger Gegenstand, an
dem ich hänge und der für mich große Bedeutung hat. In der Liebe realisieren wir,
dass der Andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil
der Welt des Anderen sehen, so wie er Teil unserer Welt ist.« – Spaemann, Wirklich-
keit als Anthropomorphismus (2000), 207.
123 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 196–197.
124
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341.
125 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 213.
126
Ebd. 211.
732
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
129
Ebd.
733
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
finiert ist. Nur in einem Akt der Anerkennung ist die Person als Per-
son gegeben. 130
Auch in »Die zwei Interessen der Vernunft« vergleicht Spaemann die
Perspektive des Tieres, für das »alles, was ihm begegnet, Umwelt und
als solches Träger unveränderlicher Bedeutungen« 131 ist, mit der des
Menschen, der »als nicht definitiv angepasstes Wesen […] sich
immer schon dessen bewusst [ist], dass andere Wesen von Tendenzen
bestimmt sind, die sich nicht durch die Weise definieren, wie sie uns
erscheinen« 132. Dabei betont er den Zusammenhang zwischen der
Personalität und der lebendigen Zentralität, die durch sie transzen-
diert wird: »Die conditio humana ist weder rein biologisch noch rein
spirituell. Die natürliche Ordnung wird nicht außer Kraft gesetzt,
sondern in einen vernünftigen ordo amoris transformiert.« 133 Seine
eigentliche Bedeutung erhält dieser Zusammenhang in der persona-
len Wahrnehmung von nicht bewusstem Lebendigem und nicht le-
bendigem Seiendem. Die im Transzendieren der lebendigen Zentrali-
tät anerkennbare »Gegebenheitsweise anderer Personen« ist »das
Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt« 134:
Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fleder-
maus zu sein. Aber wir setzen voraus, dass es irgendwie ist, eine Fle-
dermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto oder ein
Computer zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus »Sein«
zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt »Leben«. »Le-
ben«, schreibt Aristoteles, »ist das Sein der Lebewesen«. Leben, wie
wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand
von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht
Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrü-
cken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit,
von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zu-
stand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so
auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also
Selbstsein zu. 135
Was die menschliche Person mit der Fledermaus verbindet, ist das,
»was der Bedeutung des Wortes physis zugrunde liegt«: »Aristoteles
734
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
hat eine Definition von physis gegeben, die Lebewesen als Paradigma
für Substanzen benutzt, das heißt als Paradigma für Seiendes, das
etwas an sich selbst ist.« 136 In beiden Essays wiederum beruft Spae-
mann sich auf Whitehead – den »wohl bedeutendste[n] Metaphysiker
unseres zu Ende gegangenen Jahrhunderts« 137 – und dehnt die per-
sonale Wahrnehmung von Selbstsein auf den Bereich des nicht leben-
digen Seienden aus:
Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist,
ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber White-
head geht davon aus, dass es irgendwie sein muss, falls wir berechtigt
sind von Wirklichkeit zu sprechen. Denn Wirklichkeit ist nie nur Ob-
jektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. »Wirk-
lich« nennen wir etwas nur, wenn es eine – wenn auch noch so rudi-
mentäre – Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität
einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas »erlebt«. 138
Im Zusammenhang mit dieser Anerkennung von Seiendem über-
haupt – also auch von nicht Lebendigem – als Sein und damit als eine
Art von Selbstsein spricht Spaemann von der »letzte[n] Vorausset-
zung der Philosophie, die wir nicht ihrerseits noch einmal begründen
können« 139. Diese Unmöglichkeit stellt, wie gesehen, 140 dann keinen
Mangel mehr dar, wenn die Forderung nach einer solchen Begrün-
dung als ein sekundärer Gedanke erkannt wird, der erst möglich wird
durch die Rücknahme der personalen Perspektive, in der Sein als
Selbstsein immer schon gegeben ist und die ihrerseits als historisch
gewordene ein kontingentes historisches Faktum ist, das keiner Be-
gründung bedarf.
Beide Essays enthalten neben diesen die Kohärenz des Spae-
mann’schen Denkens begründenden Gedankenkomplexen auch zahl-
reiche Reflexe seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der
Philosophie, die sich wie ein roter Faden von der Dissertation über
de Bonald bis in seine letzten Publikationen verfolgen lässt. Am An-
fang der vorliegenden Untersuchung seines Werkes stand die Zeit-
diagnose der ›Entzweiung‹, aus der die programmatische Aufgabe
139
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341.
140 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 583–599.
735
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
144
Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333 u. 341.
145 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 205.
146
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 336–337.
736
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
danken äußert Spaemann auch in »Die zwei Interessen der Vernunft«. Vgl. Spae-
mann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335.
151 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 211.
153
Vgl. ebd. 328–329.
154 Vgl.: »Der indirekt konstituierte Zusammenhang zwischen Natur und Würde des
737
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
musste verschwinden, damit es in der Substanz des Würdebegriffs neu erstehen und
dieser an seine Stelle treten konnte.« – Schweidler, Über Menschenwürde, 49.
155 Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 337.
157
Ebd. 194.
158 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561.
159
Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189–190.
738
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
setzt, die Spaemann dem neuzeitlichen Denken vorwirft, das mit dem
Begriff des Lebens den Gedanken der Naturteleologie aufgegeben
hat. 160 Wenn personales Bewusstsein als Steigerung von Leben ver-
standen wird, dann ist seine Wirklichkeit der Akt der Selbsttranszen-
160 Walter Schweidler konstatiert in seinem Aufsatz »Die Sicherheit des Zweifels«
mit Bezug auf die These der Wirklichkeit als Anthropomorphismus: »Sinn und Inhalt
dieser These lassen sich nur von dem philosophischen Ort her verstehen, an dem sie
ihre Bedeutung gewinnt. Dieser Ort ist wesentlich der des metaphysischen Zweifels,
der gegen alle Kriterien für die Differenz zwischen Wirklichem und Unwirklichem
gerichtet ist.« – Schweidler, Die Sicherheit des Zweifels, 60. – Wenn meine hier
vorgelegte Deutung der Zusammenhänge zutreffend ist, ist dieser These nur bedingt
zuzustimmen. Richtig ist, dass für uns – das heißt unter der für das neuzeitliche
Denken geltenden Voraussetzung der Entteleologisierung – der metaphysische Zwei-
fel ein Ausgangspunkt sein kann, der allerdings, wie Schweidler weiter völlig zutref-
fend ausführt, sich als Scheinproblem erweist: »Wir können die These, dass unser
Zugang zur Wirklichkeit möglicherweise Schein sei, als These nur formulieren, kön-
nen also nur beanspruchen, mit ihr im Recht zu sein, wenn wir den Schein dergestalt
explizieren, dass die Explikation bereits Form und Faktum unseres Wirklichkeits-
zugangs voraussetzt und somit dem zu Explizierenden widerspricht. Damit ist der
philosophische Ort aufgewiesen, an dem auch Spaemann die anthropomorphistische
Pointe seines Wirklichkeitsverständnisses expliziert. Man könnte ihn den Zeitort
nennen, den innerhalb von allem, das ich zu erleben vermag, mein eigenes Leben
einnimmt.« – Ebd. 65. – Damit beruft sich Schweidler auf die personale Selbsterfah-
rung gegenüber dem abstrakten metaphysischen Zweifel und gelangt so zu einer
folgerichtigen Hierarchisierung in Bezug auf das Denken einerseits, das Denkbare
andererseits: »Wir verfügen über die Differenz zwischen Wirklichem und Nichtwirk-
lichem nicht auf eine Weise, die es uns erlauben würde, sie im Philosophieren auf
alles, was dabei in Frage stehen kann, zu applizieren, sondern wir vollziehen diese
Differenz nach als die Grenze, welche die Wirklichkeit unseres Erlebens als ihren
Zeitort umschreibt; und wir tun dies, wie in allem, was wir tun, auch im Philosophie-
ren dergestalt, dass es einen Punkt gibt, an dem nicht das, was wir denken, darüber
entscheidet, ob sie, sondern an dem sie darüber entscheidet, ob das, was wir denken,
wirklich gedacht werden kann.« – Ebd. 67. – Schweidler verkennt aber nach meinem
Dafürhalten, dass der metaphysische Zweifel für Spaemann vor allem ein Punkt des
Abstoßung ist und dass es ihm bei der Frage, – wiederum mit den Worten Schweidlers
– »worin jene mit unserem Dasein gegebene Beziehung besteht, die in jeder Frage, die
wir nach ihr stellen könnten, immer schon vorausgesetzt ist« – ebd. 63 –, um die noch
die Personalität selbst fundierende Teleologie geht, die Schweidler zwar im zweiten
und dritten Teil des Aufsatzes thematisiert, ohne dabei aber dieses Fundierungsver-
hältnis in den Blick zu bekommen. Die Unterscheidung also zwischen dem Ort, an
dem für uns diese These Bedeutung gewinnt – dem metaphysischen Zweifel –, und
dem eigentlichen Ort der These selbst – dem teleologisch fundierten Zusammen-
hang –, die meines Erachtens für Spaemann von prinzipieller Bedeutung ist, wird,
soweit ich sehe, von Schweidler ausgeblendet, weswegen die eigentliche Pointe der
These von der Wirklichkeit als Anthropomorphismus auch außerhalb seines Ge-
sichtskreises zu liegen scheint.
739
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
denz, durch den es sich auf Wirklichkeit bezieht – fieri aliud inquan-
tum aliud – und selbst wirklich wird. Dass Wirklichkeit nur als An-
thropomorphismus zu verstehen ist, wird zu einer Tautologie, wenn
Menschsein gegenüber anderen Lebewesen als Überschreitung der
lebendigen Zentralität und Personsein als reflexive Wendung auf die-
ses Überschreiten verstanden wird. Tiere haben eine Umgebung, aber
sie kennen keine Wirklichkeit. Wirklichkeit entsteht erst durch den
Menschen und sein Transzendieren der natürlichen Zentralität. Wird
der Begriff des Anthropomorphismus dagegen kritisch verwendet,
also eine unzulässige Übertragung der Selbsterfahrung auf gegen-
ständlich Gegebenes beanstandet, ist dieser Zusammenhang bereits
aufgekündigt; Bewusstsein wird dann als unabhängige Entität ver-
standen, die einer Welt bloßer Objekte gegenübersteht. Diese Positi-
on führt in die Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus und
für den Menschen zu der Konsequenz, sich selbst zum Anthropomor-
phismus zu werden und folgerichtig die Überwindung seiner selbst
etwa durch eine künstliche Intelligenz wollen zu müssen. Sie ist aber
darüber hinaus selbstwidersprüchlich, da der Vorwurf des Anthropo-
morphismus der Weltwahrnehmung eine Variante des Idiosynkrasie-
gedankens ist, der nur von einem Wesen gedacht werden kann, das
immer schon über der Idiosynkrasie steht. Wenn das Denken, das
genealogisch auf Lebensäußerungen als deren Steigerung zurück-
führbar ist, die an einer Stelle die Möglichkeit eröffnet hat, auf Dis-
tanz zur eigenen Naturgrundlage zu gehen, diese Distanz absolut
setzt, sich als autonom, also unabhängig von seiner Natur versteht,
gerät es in einen inneren Widerspruch, insofern es leugnet, was ihm
voraufging und wovon es abhängig bleibt. Die im nicht durchführ-
baren metaphysischen Zweifel sich zeigende Selbstwidersprüchlich-
keit des zur unabhängigen Entität hypostasierten Bewusstseins ver-
steht Spaemann als epistemologische Spur der Entdeckung der
Person, in der durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszen-
denz der personale Standpunkt immer schon erreicht ist, so dass nur
eine sekundäre Bewegung in die Position führen kann, von der aus
der metaphysische Zweifel möglich wird. Die epistemologische Spur
besteht in dem Bewusstsein, dass alles Gegebene, wenn es keine sub-
jektive Täuschung ist, auf ein Sein verweist, das sich im Erscheinen
verbirgt, in dessen Anerkennung das Subjekt aus dem Solipsismus
heraustritt und sich als Sein sichtbar macht. Diese Anerkennung aber,
das steht fest, ist ein freiwilliger Akt, der verweigert werden kann.
Die Verweigerung führt in die Perpetuierung des Widerspruchs in
740
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.
9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
165
Ebd. 322.
166 Vgl.: »Im dritten Abschnitt des Kapitels über die Antinomien der reinen Vernunft
in seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ unterbricht Kant den Gedankenfaden durch eine
741
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
Reflexion über ›das Interesse der Vernunft in diesem ihrem Widerstreite‹. Es handelt
sich für Kant um den Konflikt zwischen ›Dogmatismus‹ und ›Empirismus‹.« – Spae-
mann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 329.
167 Vgl.: »Die beiden Interessen, die dem modernen Dualismus zugrunde liegen, sind
169
Ebd. 336.
170 Ebd.
172 Vgl.: »In der außermenschlichen Natur gibt es nur ein einziges Interesse. Es ist
definiert durch die teleologische Struktur von Lebewesen. Es gibt die Tendenz, sich zu
erhalten, sich zu entfalten, seine Natur zu realisieren.« – Ebd. 331.
173 Ebd. 336.
174
Ebd. 337.
175 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:
742
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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich
743
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.
9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung
resse präsent halten muss, ohne die Kluft zwischen dem Subjekt der
Herrschaft und der ihm gegenüberstehenden Welt der Objekte über-
winden zu können. Genau dies beschreibt die Dialektik von Natura-
lismus und Spiritualismus, von der der Essay ausgegangen ist.
Beide Essays thematisieren somit in der Tiefenstruktur ihrer
Argumentationen denselben Zusammenhang von Teleologie und Per-
sonalität in ihrer geschichtlichen Entfaltung, der für Spaemanns
Philosophieren zentral ist. Die Fragen nach der in der Gegenwart
zusehends sich entziehenden Wirklichkeit einerseits und dem Dualis-
mus von Naturalismus und Spiritualismus andererseits als Punkten
der Abstoßung von der im Zeichen der Entteleologisierung stehenden
neuzeitlichen Denktradition durch eine sich als βίος verstehende Phi-
losophie geben in beiden Essays die Zugänge und Richtungen vor, wie
die zugrunde liegende Tiefenstruktur die Gedankengänge der je-
weiligen Fragestellung entsprechend organisiert. Dabei zeigen beide
Essays noch einmal, dass es in ihnen um denselben Zusammenhang
geht, der oben in der Auseinandersetzung mit dem Gottesbeweis aus
dem futurum exactum thematisiert wurde, mit dem Unterschied
allerdings, dass Spaemann in diesen Texten allein von der philosophi-
schen Codierung seines Denkens spricht. Gerade sie sind meiner
Meinung nach geeignet, noch einmal die vom allgemeinen Sprach-
gebrauch abweichende, oben dargelegte Abgrenzung von Wissen
und Glauben bei Spaemann zu verdeutlichen und die sowohl metho-
dische als auch inhaltliche Spezifik seines Philosophierens in großen
Zügen zu demonstrieren.
744
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Dritter Teil
Perspektiven der
Philosophie der Begegnung
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.
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
1
Vgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131.
2 Vgl. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489.
3
Vgl. insbesondere Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichts-
philosophische Perspektive, 172–179.
4 Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318.
747
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
denen Begriff des Standpunktes in die Philosophie ein […]. Im § 57 seiner ›Monado-
logie‹ wird Perspektivität sozusagen zur Grundstruktur der den einzelnen Monaden
mit ihren notwendig verschiedenen Standpunkten vorgegebenen Welt«. – Ebd.
col. 365.
11
Ebd. col. 363.
12 Ebd. col. 364. – Verweis in Anmerkung [3] auf die Quelle des Zitats: G. Boehm:
col. 375.
15
»Briefe, antiquarischen Inhalts. Neunter Brief« – Lessing, Werke, Bd. 6, Kunst-
theoretische und kunsthistorische Schriften, 215. – Vgl. König, a. a. O. [Fn. 9],
col. 364.
748
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
16 König, a. a. O. [Fn. 9], col. 364. – Verweis in Anmerkung [7] auf die Quelle des
Zitats: G. Boehm, [Stud. zur Perspektivität (1969)] 12. – Ebd. col. 373.
17 Ebd. col. 365. – Verweis in Anmerkung [10] auf die Quelle des eingefügten Zitats:
Vgl. F. Kaulbach: Der Begriff des Standpunktes im Zus. des Kant. Denkens. Arch.
Philos. 12 (1963/64) 45; vgl. W. T. Krug: Allg. Handwb. der philos. Wiss.en 2 (1827,
ND 1969) 253, der das Stichwort ›P.‹ nicht führt, s. v. ›Gesichts-Punct‹. – Ebd. col. 373.
749
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
23 Vgl. E. R. Curtius, Einführung, in: Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 9–
25
Vgl. Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 42–47.
750
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
vom Standpunkt des Beschauers, eine eigene Physiognomie haben sollte. Es ist klar,
daß nach dieser Theorie jede Wahrnehmung, da sie in einem bestimmten Standpunkt
gewonnen wird, von jenem absoluten Anblick abweichen und darum falsch sein
musste. Aber die Wirklichkeit bietet wie die Landschaft unendlich viele Perspektiven,
die alle gleich wahr und gleichberechtigt sind. Falsch ist allein die Perspektive, die
behauptet, die einzige zu sein. Anders gewandt: falsch ist die Utopie, die Wahrheit,
die nicht Wahrheit ›für‹, die vom ›nirgendwo Ort‹ gesehen ist. Der Utopist – und
utopisch war der Rationalismus im letzten Grunde – irrt am meisten, denn er ist der
Mensch, der seinem Standpunkt nicht treu bleibt und von seinem Platz desertiert.« –
Ebd. 105–106.
29 Ebd. 73–74.
30
Ebd. 104.
751
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
35
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 129.
752
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
Spaemann auf die »Wirklichkeit des Bildes« 36, das nicht als Schnitt
durch die Sehpyramide, nicht als Objekt für ein Subjekt verstanden
werden kann: »Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrneh-
men, sich von ihm etwas zeigen lassen.« 37 Das Bild ist konkret und
zugleich vom situierten Ich unabhängig, seine Wahrnehmung ist eine
Umkehr der Perspektive, die als Aktualisierung der perspectiva natu-
ralis verstanden werden kann. Denken lässt sich diese Aktualisierung
nur als das Paradox einer Perspektive, die keine Perspektive ist. Es
handelt sich um eine Position, die in dem bei Ortega angedeuteten
Sinn über der für das neuzeitliche Verständnis von Perspektive cha-
rakteristischen Dialektik von Rationalismus und Relativismus steht,
da die interpersonale Vermittlung individueller Perspektiven in dem
Kontinuum von Leben und Bewusstsein fundiert ist. Diese Position
setzt, wie die Ausführungen im zweiten Teil gezeigt haben, den Ge-
danken der Anerkennung von Selbstsein voraus, der für Spaemann
nur ein Sonderfall der Anerkennung von Sein schlechthin ist. Mit
Putnam kann man hier kritisch von »der ›externalistischen Perspek-
tive‹ des metaphysischen Realismus« sprechen, »wonach die Welt aus
einer feststehenden Gesamtheit geistesunabhängiger Gegenstände
besteht«, der er seine ›internalistische‹ Auffassung gegenüberstellt,
nach der ›Wahrheit‹ »so etwas wie (idealisierte) rationale Akzeptier-
barkeit« 38 ist. Eine zentrale Frage der abschließenden Überlegungen
dieser Arbeit wird darin bestehen, wie aus dem Gedanken der Ent-
deckung der Perspektive ein Argument für die externalistische Auf-
fassung entwickelt werden kann.
Wenn nun im abschließenden Teil der vorliegenden Arbeit von
den ›Perspektiven der Philosophie der Begegnung‹ die Rede sein soll,
handelt es sich hier gegenüber den Gedankengängen des zweiten Teils
einerseits um eine Metareflexion, insofern andere Sichtweisen der-
jenigen Sachverhalte untersucht werden, um die es der im zweiten
Teil entfalteten Philosophie der Begegnung ging, womit diese sich
dem philosophischen Diskurs stellt. Wenn aber andererseits diese
Metareflexion unter dem Begriff der Perspektive gefasst wird, der
753
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
754
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.
Perspektiven der Philosophie der Begegnung
39
Vgl. die in »Glück und Wohlwollen« mehrmals wiederholte Aussage, wonach es
keine Ethik ohne Metaphysik gebe: Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11,
132, 150.
755
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Perspektiven der Philosophie der Begegnung
756
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.
10 Alternative Perspektiven auf
Spaemanns Gesamtwerk
1
Verzichtet wird daher auf eine ausführliche Darstellung der umfangreichen, im Jahr
2014 erschienenen Arbeit Stefan Meiserts »Ethik, die sich einmischt. Eine Unter-
suchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns«. Zwar unternimmt auch Meisert
einen diachronen Gang durch das Werk Spaemanns, der eigentliche Fokus seiner Auf-
merksamkeit liegt dabei aber eindeutig auf der praktischen Philosophie. – Vgl.: »Die
Aufgabe, das gesamte Schrifttum Spaemanns zu erfassen, steht offensichtlich auch
nach der umfassenden Studie von Stephan Meisert aus dem Jahre 2014 noch aus.
Meisert, dessen Dissertation viele Aspekte von Spaemanns Philosophie berührt, be-
handelt primär ethische Fragen.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41. –
Verzichtet wird ferner auf eine ausführliche Darstellung der 2015 erschienenen Ar-
beit »Alles, was ist, ist auf etwas aus. Die schöpfungstheologischen Prämissen der
Philosophie Robert Spaemanns« Damian Pietrowskis. Aufgrund ihrer eindeutig theo-
logischen Ausrichtung kann diese Arbeit ebenfalls nicht den Anspruch einer philoso-
phischen Gesamtdeutung von Spaemanns Werk erheben. – Vgl.: »So sagt Pietrowski
2015: Das Gesamtwerk wurde ›bisher weder chronologisch noch systematisch ana-
lysiert‹ und ›niemand hat sich bisher der Mühe unterzogen, die Genese und Systema-
tik der vielen Einzelbeiträge des Autors zu erschließen‹. [Pietrowski, Alles, was ist
(2015), 10.] Auch Pietrowski nahm diese Aufgabe im Übrigen nicht in Angriff.« –
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.
757
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 129.
758
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
An dritter Stelle wird Bezug genommen auf die 2016 als Disser-
tation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität
Bonn eingereichte und 2017 unter dem Titel »Naturrecht in der Ge-
genwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im An-
schluss an Robert Spaemann« erschienene umfangreiche Studie
Andrzej Kucińskis, die am Leitfaden der Naturrechtsthematik in
ihrem zweiten Kapitel eine diachrone Untersuchung von Spaemanns
Werk enthält. Im Hinblick auf die ausstehende Gesamtdeutung dieses
Werks äußert Kuciński nach einer einleitenden Darstellung von
Spaemanns Denken sich ähnlich bescheiden wie zuvor Zaborowski:
Wie an verschiedenen Stellen der dargestellten Kurzpräsentation
deutlich wurde, entzieht sich das Spaemann’sche Denken einer ein-
fachen Systematik. Viele Arbeiten zu Spaemann weisen deshalb auf
den bisherigen Mangel einer Gesamtschau seiner Philosophie hin.
Auch diese Arbeit steht nicht unter dem Anspruch, den bekannten
Mangel zu beheben, obwohl die hier gewählte Fragestellung einen er-
weiterten Horizont und die Beschäftigung mit allen grundlegenden
Werken Spaemanns erforderlich machte. 5
Auch wenn Kucińskis Arbeit eine theologische Ausrichtung und
zudem mit dem gewählten Schwerpunkt des Naturrechts eine Ver-
schiebung in den Bereich der praktischen Philosophie erwarten lässt,
gehört sie schon durch die Gründlichkeit seiner Auseinandersetzung
mit Spaemanns Werk zu den Texten, die am ehesten das Potential
einer Gesamtschau der theoretischen Philosophie Spaemanns er-
kennen lassen. Im dritten Teilkapitel sollen die allgemeinen Erträge
dieser Arbeit und ihre Grenzen im Hinblick auf die notwendige Ge-
samtschau dargestellt werden (10.3).
5
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.
759
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.
10.1 Holger Zaborowski: »Robert Spaemann’s
Philosophy of the Human Person«
1 Vgl. Kapitel 1 »Philosophy in a time of crisis« bzw. Teilkapitel 1.1 »The crisis of
modernity«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person,
1–9.
2 Vgl. Teilkapitel 1.2 »Robert Spaemann’s Christianly informed criticism of moderni-
eigentlich sagen. […] Wenn dennoch vom Selbstverständlichen immer wieder die
Rede sein muß, so nur deshalb, weil es immer wieder bestritten wird.« – Spaemann,
Moralische Grundbegriffe (1982), Vorwort, 7.
5 Vgl. Kapitel 2 »Conversation, recollection, and the search for happiness: Spae-
760
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.
10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne
10
Vgl. Kapitel 4 »Society, philosophy, and religion: Spaemann and the dialectic of
anti-modernism«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Per-
son, 136–177.
761
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
11
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 207.
12 Ebd. 202.
13 Ebd. 198.
14 Ebd. 219.
15 Vgl.: »This examination will lead us to his idea of truly post-modern philosophies
and his recollection of a relation between nature and freedom that not only is recon-
cilable with Christianity but truly overcomes the shortcomings of modernity.« – Ebd.
235.
16 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 85–86, u. Ab-
762
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.
10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
totle, the being of the persons«. – Ebd. 185. – Zaborowski zitiert hier ungenau. An der
Stelle aus »Personen«, auf die er verweist, heißt es: »Leben ist vielmehr, wie Aristo-
teles schrieb, ›das Sein des Lebendigen‹. Personen sind Lebewesen. Ihr Sein und ihre
Identitätsbedingungen sind die von Lebewesen jeweils einer bestimmten Art.« –
Spaemann, Personen (1996), 11.
763
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
22 Explizit ausgesprochen ist dieser hier implizit bleibende Gedanke in einer anderen
Arbeit Zaborowskis. In »Göttliche und menschliche Freiheit. Robert Spaemanns Phi-
losophie des Personseins und die Möglichkeit einer Kriteriologie von Religion« (2008)
schreibt Zaborowski: »Spaemann verweist in seinen philosophischen Überlegungen
zu Religion auf die Tatsache der Schöpfung oder des Gemeint- und Geschaffenseins.
Das mag zunächst verwundern, scheint sich hiermit doch ein theologischer oder reli-
giöser Begriff in den philosophischen Gedankengang eingeschlichen zu haben. Daher
stellt sich die Frage, ob Spaemann hier die Grenzen zur Theologie oder positiven
Religion hin überschreitet. Eine genauere Interpretation seiner Philosophie zeigt,
daß dies nicht der Fall ist. Er geht zwar ausdrücklich vom Paradigma der christlichen
Religion aus, argumentiert aber nicht innerhalb dieses Paradigmas in einer Weise, die
selbst als religiös oder theologisch bezeichnet werden müßte. Wir haben es hier weit
eher mit dem Fall zu tun, daß Theologie und Philosophie dieselben Themen bedenken,
ohne daß dies methodisch vorher koordiniert worden wäre, – etwa in dem Sinne, daß
der Begriff oder die Sache der Schöpfung oder des ›Gemeintseins‹ a priori der Theo-
logie zu- und der Philosophie abgesprochen würde. Denn Spaemann verwendet den
Schöpfungsbegriff in Personen in sehr formaler und theologisch oder religiös nicht
näher spezifizierter (aber daher in einem zweiten Schritt spezifizierbarer) Hinsicht.
Die Frage, ob wir Wirklichkeit als Schöpfung verstehen oder nicht, wird nicht mit
Bezug auf die Autorität etwa eines bestimmten religiösen Textes beantwortet, son-
dern mit Bezug auf die philosophisch relevante Frage, ob wir überhaupt Wirklichkeit
(und damit auch uns selbst) verstehen wollen. Und bei diesem Bemühen um ein Ver-
ständnis von Wirklichkeit hilft dem Philosophen ein lernbereiter Dialog mit der
Theologie oder positiven Religion und der Versuch, die theologisch-dogmatischen
Gehalte ins Philosophische zu übersetzen, soweit dies überhaupt möglich ist.« –
Zaborowski, Göttliche und menschliche Freiheit, 71.
23
Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theo-
logie: Der Akt des Seins, 574–582.
24
Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 501–508.
764
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.
10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
and its dialectic«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Per-
son, 86–135.
28 Vgl. die Abschnitte des zweiten Kapitels »Philosophy and recollection« und »Re-
765
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
themselves‹) allows him to bridge the gap between ancient and modern philosophy.« –
Ebd. 35, Fn. 48.
30 Vgl. Abschnitt 10.1.1, Christlich inspirierte Kritik der Moderne, 760–763.
31 Vgl. Teilkapitel 3.5 »The transformation of the doctrine of Original Sin«. – Zabo-
34 Vgl. Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 185–
211.
35 Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 505.
36
Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.
766
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.
10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis
37
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 569–570.
38 Vgl. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 12, 40–
40 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 86, u. Zabo-
767
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.
10.2 Rolf Schönberger: »Das Sein des Sinnes«
10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen
Rolf Schönberger liefert in seinem Essay »Das Sein des Sinnes« einen
freien Gang durch Spaemanns Gedankenwelt mit einer hohen argu-
mentativen Dichte auf engem Raum, der im Folgenden kurz nach-
gezeichnet werden soll. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Be-
griff des Sinns, der im Zeichen des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-
Dualismus dem Begriff des Seins gegenübertritt und zu der Frage
führt, ob Sinn im Sein vorgefunden oder umgekehrt in dieses hinein-
gelegt wird. Um Spaemanns Position deutlicher konturieren zu kön-
nen, skizziert Schönberger zunächst die Positionen anderer, ihm vo-
rangegangener Denker: »Es scheinen im Falle des in Frage stehenden
Zusammenhangs von Sein und Sinn vier Gestalten in Frage zu kom-
men: Martin Heidegger, Nicolai Hartmann, Karl Jaspers und schließ-
lich Alfred North Whitehead.« 1 Heidegger und Hartmann werden
von Schönberger als die Antipoden gekennzeichnet, als die schon
Spaemann sie in einem Vortrag 1957 dargestellt hatte: 2
Ist bei Heidegger der Sinn einzig auf das Verständliche bezogen, wird
er bei Hartmann umgekehrt unabhängig von Verständlichkeit auf be-
stimmte Qualitäten der Erfahrung beschränkt. Aber wie hängt beides
zusammen? Das lässt sich naturgemäß nicht von einer dieser Be-
schränkungen aus verständlich machen. Wenn diese Disparatheit also
überwunden werden muss, dann scheint man den Sinn mit dem Sein
in Verbindung bringen zu müssen. Der Sinn von Sein und das Sein des
Sinnes müssen, so scheint es, zur Einheit gebracht werden. 3
Jaspers und Whitehead haben beide auf ganz unterschiedliche Weise
einen solchen Versuch unternommen, wobei, verkürzt gesprochen,
jener eine allzu allgemeine, dieser hingegen eine allzu konkrete Ver-
sion dieser Einheit vorschlägt. 4 Vor diesem Hintergrund beginnt
phischen Glaubens (2009), 214–232, u. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem:
768
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.
10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen
7
Ebd. 40.
769
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
Der sich hier andeutende analoge Begriff des Lebens wird im Folgen-
den im Übergang zur »Verständigung über die Formen des Ver-
stehens« 8 vertieft. Leben ist, so führt Schönberger aus, »nach Aristo-
teles ein Begriff wie viele andere, nämlich wie viele andere Grund-
begriffe unseres Denkens, von denen gilt, dass sie vielfältig ausgesagt
werden« 9. Dass die Natur als ›unseresgleichen‹ zu verstehen ist, kann
nicht über eine begriffliche »Verknüpfung von Gemeinsamkeit und
Unterschied« 10 plausibel gemacht werden, sondern nur im »Ausgang
von der Selbsterfahrung«, die »die Möglichkeitsbedingung für das
Verstehen überhaupt« 11 ist: »Welt- und Selbstverständnis sind des-
halb keine äquivoken Weisen von Verstehen, weil der Mensch sich
nicht einzig aus dem Gegensatz zur Welt verstehen kann.« 12 Die bei-
den Seiten des Seins und des Sinns werden somit vermittelt durch
den analogen Begriff des Lebens: »Man kann nur, so seine These, Sein
und Denken als ein Verhältnis der Analogie denken, wenn der Le-
bensbegriff dies vermittelt.« 13 An dieser Stelle gelangt Schönberger
nun zum entscheidenden Problem seiner Spaemann-Deutung, inso-
fern die Vernunft aus dem angedeuteten analogen Verhältnis aus-
zubrechen scheint:
Aber damit ist eben der Gedanke noch nicht zu seiner vollständigen
Gestalt gebracht. Er liegt vielleicht sogar auf des Messers Schneide,
denn Spaemann denkt ja auf der anderen Seite Leben als Zentriertsein,
das Lebendige als Mittelpunkt seiner Welt, wohingegen die Vernunft
gerade dieses Zentriertsein überwindet dadurch, dass der andere als
einer wahrgenommen bzw. anerkannt wird, der seinerseits eine Um-
welt hat, zu der ich gehöre. Darin liegt offenkundig eine Schwierig-
keit, denn es scheint sich entweder eine solche Gradualität des Seins
denken zu lassen oder ein Gegensatz. Was sich gegensätzlich verhält,
kann keine analog verfasste Stufe sein: Analogie oder Gegensatz. 14
Um dieses Problem lösen zu können, versucht Schönberger die Span-
nung zwischen Vernunft und Leben konkret zu fassen, indem er mit
Bezug auf Ausführungen Spaemanns aus »Personen« darlegt, dass
11 Ebd. 46.
12
Ebd. 47.
13 Ebd. 49.
14
Ebd. 50.
770
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.
10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen
15 Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 52–53, u. Spaemann, Personen (1996),
128 u. 134–135.
16 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 53.
17 Ebd. 54.
18 Ebd. 55.
19 Vgl. Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 30, u. Spaemann,
21
Ebd. 59.
771
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
772
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.
10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers
30 Ebd. 196.
31
Schönberger zitiert eine Textstelle aus dem Kapitel »Handlung und Systemfunk-
tion«. Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 55, u. Spaemann, Glück und Wohl-
wollen (1989), 196–197.
773
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
Differenz zielt, scheint mir aber bei Spaemann ein Gewicht zu haben,
dem Schönberger durch die Einbindung in die dortige Aufzählung
nicht gerecht werden kann. Systematisch hängt es vielmehr mit der
Analogizität von Sein, Leben und Bewusstsein zusammen, die Schön-
berger im Anschluss in seiner »Verständigung über die Formen des
Verstehens« entwickelt hat. Dieser Zusammenhang hätte klarer zur
Sprache gebracht werden können durch die Reflexion auf das Ver-
hältnis des personalen Lebens zu der von Schönberger rekonstruier-
ten Naturteleologie.
Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass Schönberger in
seinem weitgehend überzeugenden Nachvollzug der teleologischen
Konzeption Spaemanns bis an die Grenze der Personenphilosophie
gelangt. Das Mitsein wird von ihm nur im Sinne des Handlungs-
begriffs bzw. einer prinzipiellen Überwindung der theoretischen Ein-
stellung thematisiert. Das für die Philosophie der Begegnung ent-
scheidende Weiterdenken der Teleologie-Konzeption in Richtung
personaler Selbsttranszendenz und die daraus sich ergebenden
grundlegenden Konstellationen im apriorischen Beziehungsraum
der Personen werden von Schönberger nicht reflektiert.
774
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.
10.3 Andrzej Kuciński: »Naturrecht in der
Gegenwart«
4
Ebd. 231. – Kuciński bezieht sich dabei auf: Spaemann, Wirklichkeit als Anthropo-
775
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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
6 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
10
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 237.
11 Ebd. 238.
12
Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005).
776
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10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός
res cogitans verdrängt hat.« 13 Den Hinweis Spaemanns und Löws auf
die konstitutive Bedeutung des »Unbedingten« für die »teleologische
Deutung« 14 der Phänomene bezeichnet Kuciński als eine in die Onto-
logie eingebaute »Sicherung« 15, durch die in einer erneuerten Teleo-
logie eine »religionsphilosophische Entscheidung zugunsten der ab-
soluten Begründungsinstanz« 16 falle.
Im Mittelpunkt des Kapitels 2.2 »Anthropologische Grundlage
des Naturrechts: die Teleologie der menschlichen Natur« 17 steht der
Naturbegriff einerseits in einer geschichtlichen, andererseits in einer
ontologischen bzw. metaphysischen Betrachtung. 18 Auf der ge-
schichtlichen Ebene geht es um die im 16. Jahrhundert entstandene
Antithese von Natur und Gnade, die in der Folge aufkommende Dia-
lektik des Naturbegriffs und Spaemanns intensive Auseinanderset-
zung mit Rousseau, wie sie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit
detailliert nachgezeichnet wurden. Auf der metaphysischen Ebene
stehen der teleologische Naturbegriff Spaemanns und die Frage nach
dessen Erneuerbarkeit in der Gegenwart im Mittelpunkt. Das Schlüs-
selzitat aus Spaemanns Essay »Natur« 19, wonach »das Bleiben in der
Natur gegen die Natur ist« 20, kommentiert Kuciński wie folgt:
In diesem Konzept kommen die verschiedenen Gebrauchsweisen des
Naturbegriffs durch Spaemann zur Sprache: Die menschliche Natur
ist die spezifische Form des Menschen, Naturwesen zu sein. Und im
Menschen überschreitet sich die Natur auf ein Mehr hin, verstanden
als μέθεξις, Teilhabe am Göttlichen, wobei diese ihre Eigenschaft aris-
totelisch-thomanisch in der teleologischen Verfassung aller Natur-
wesen grundgelegt ist. 21
Stark akzentuiert Kuciński somit in seiner Betrachtung des Natur-
begriffs die theologische Deutung der Teleologie: »Die Zuspitzung
des τέλος auf θεός ist für Spaemann die letzte Bedingung einer sinn-
vollen Naturteleologie überhaupt.« 22 Von diesem theologisch kon-
13
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 299.
14 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 242.
15 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 280.
16 Ebd. 302.
17 Ebd. 303–341.
18 Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318.
19 Spaemann, Natur (1973), 19–40.
20
Ebd. 32–33.
21 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 312.
22
Ebd.
777
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
778
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.
10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
779
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
35 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,
234–241.
36 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 302.
37
Ebd. 426.
38 Vgl. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion, 643–
650.
780
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.
10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
43 Ebd. 236.
44
Ebd. 235.
45 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351,
781
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
46 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132. – Vgl. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 393.
47 Mit verantwortlich für die meines Erachtens nicht haltbare Deutung des Zusam-
menhangs bei Spaemann durch Kuciński scheint mir zu sein, dass er den später ent-
standenen Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« hier nicht berücksichtigt, der
die in dem früheren Text Spaemanns angedeuteten Zusammenhänge erst zu voller
Klarheit gebracht hat.
48 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 236.
49 Ebd. 424.
50 Ebd. 423.
51
Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 585–588.
52
Spaemann, Personen (1996), 15.
782
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.
10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis
nicht bloß in eine nächste Gestalt des einzigen Substrats, das solchen
Wandlungen zugrunde liegt. Denn er ist nicht unmittelbare Realisie-
rung eines Artbegriffs wie der Hund. 53
Dass der Hund, wenn er stirbt, sich demnach nur verändert in eine
andere Gestalt des Substrats, widerspricht ausdrücklich dem aristote-
lischen Gedanken, um den es Spaemann geht. Auf derselben Seite
von »Personen«, aus der Kuciński hier zitiert, heißt es über den Hund
weiter: »Wenn er nicht bellt, fährt er doch fort zu existieren. In dem
Augenblick aber, in dem er aufhört, ein Hund zu sein, sagen wir, er ist
nicht mehr.« 54 Auch der Hund hört also auf zu existieren, wenn er
stirbt, auch wenn er im Unterschied zum Menschen eine unmittel-
bare Instantiierung seines Artbegriffs ist. Eine falsche Aussage
enthält daher auch die unmittelbare Fortsetzung der hier zitierten
Textstelle bei Kuciński: »Die menschliche Identität hat also die Be-
sonderheit, dass der Mensch nicht mit seinem Sosein identisch ist.« 55
Diese Nicht-Identität mit seinem Sosein aber gilt erklärtermaßen
auch für den Hund. Spaemanns Antwort auf die Frage, »ob Leben
zum Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses
Soseins meint«, die »über die Wahrheit des Satzes, Leben sei das Sein
der Person« 56, entscheidet, ist eindeutig: »Leben als solches kann
nicht sein oder nicht sein. Es ist Sein.« 57 Wie im zweiten Teil der vor-
liegenden Arbeit gezeigt wurde, lässt sich der Gedanke der Analogi-
zität von Sein, Leben und Person und damit die genuin philosophi-
sche Fundierung des Personbegriffs nur aufrechterhalten, wenn
Leben auf die Seite des Existierens gehört. 58 Der Unterschied zwi-
schen dem Menschsein und dem Hundsein liegt nach Spaemann viel-
mehr darin begründet, dass
wir das Verhältnis des Menschen zu seinem Menschsein anders den-
ken als das Verhältnis des Hundes zum Hundsein. Wir denken hier ein
Verhältnis, also eine innere Differenz, die wir in den anderen Fällen
53
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 356–357.
54 Spaemann, Personen (1996), 15.
55 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 357. – Vgl. auch: »Die Besonderheit der
Personen liegt darin, dass sie auf eine andere Art und Weise sind, was sie sind, als
andere Wesen sind, was sie sind – sie sind nämlich mit ihrem Sosein nicht identisch.«
– Ebd. 424.
56 Spaemann, Personen (1996), 80.
57
Ebd. 81.
58 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 590–591.
783
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.
10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk
nicht denken, wo wir ein Individuum als Exemplar einer Art identifi-
zieren. Der Mensch ist offenbar nicht auf die gleiche Weise Mensch,
wie der Hund Hund ist, nämlich als unmittelbare Instantiierung sei-
nes Artbegriffs. 59
Bei diesem Unterschied geht es aber nicht um Identität oder Nicht-
Identität mit dem Sosein, sondern um das ›Haben einer Natur‹, über
das der Hund nicht verfügt. Dieses spezifische Verhältnis der Person
zu ihrer Natur verwechselt Kuciński also mit der ontologischen Dif-
ferenz von Existenz und Sosein bzw. Wesen, die nach Spaemann zu-
mindest auf alle Lebewesen zu beziehen ist. Die für den Zusammen-
hang von Teleologie und Personalität bei Spaemann wesentliche
Auffassung des Lebens als Existenz wird somit von Kuciński nicht
erfasst. Die Reservierung der ontologischen Differenz für die Person
lässt so einmal mehr die Frage aufkommen, wie die philosophischen
Elemente seiner Argumentation Bestand haben sollten ohne den
theologischen Rahmen, der ihre Defizite überdeckt. Mit diesem Rah-
men aber steht und fällt Kucińskis Spaemann-Deutung, die wesent-
lich in einer Theologisierung seiner philosophischen Positionen be-
steht.
Festzustehen scheint mir zumindest soviel, dass, wenn Kucińskis
stark theologisch orientierte Lesart als dem Werk Spaemanns vollauf
angemessen bezeichnet werden müsste, Spaemanns Denken folge-
richtigerweise im philosophischen Diskurs auch in Zukunft keine
sehr bedeutende Rolle spielen dürfte. Aus dieser Lesart würde näm-
lich – ungeachtet der zitierten Absicht Kucińskis, sie auch den Kon-
fessionslosen zumuten zu wollen – eine klare Vorentscheidung spre-
chen, durch die dieses Denken sich zumindest in einem Randbereich
des philosophischen Diskurses verorten lassen würde. Da Spaemann
selbst aber in seinen Texten sehr klar unterschieden hat zwischen
genuin philosophischen Argumentationen und religiösen Erwägun-
gen, 60 scheint es mir im Sinne dieser philosophischen Argumentatio-
nen selbst geboten, gegen seine theologische Vereinnahmung phi-
losophisch zu argumentieren.
784
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.
11 Die Philosophie der Person im
philosophischen Diskurs der Gegenwart
Der Begriff der Person kann als ein Schlüsselbegriff der Gegenwarts-
philosophie bezeichnet werden. Ausgehend von ihm eröffnet sich die
Möglichkeit, die Stellung Spaemanns im philosophischen Diskurs der
Gegenwart zu untersuchen, da in den Diskussionen um den Person-
begriff zugleich zentrale Themenfelder seines Denkens berührt wer-
den. Michael Quante nennt »exemplarisch vier große Bereiche«, in
denen die Person eine bedeutende Rolle spielt:
– das Leib-Seele- oder Körper-Geist-Problem,
– das Freiheitsproblem,
– das Problem des Selbstbewusstseins,
– das Problem der Begründung der Ethik. 1
»Der Begriff der Person«, so Quante, »lässt sich als eine Art Knoten-
punkt ansehen, in dem sich diese vier klassischen Fragen der Philo-
sophie – neben einigen anderen – berühren und durchdringen.« 2 In
nicht geringem Maß bezeichnen diese vier Fragen aber auch die Pro-
grammatik des Spaemann’schen Philosophierens. Der Einheitspunkt
eines Denkens, das, wie bereits in der Einleitung zum zweiten Teil
dieser Arbeit betont wurde, 3 das Erinnern an das Gewordensein von
philosophischen Gedanken 4 als seine Aufgabe begreift, kann um so
mehr mit dem Begriff der Person benannt werden, als in ihm, wie
Dieter Sturma bemerkt, ein Kristallisationspunkt der neuzeitlichen
Philosophie gesehen werden kann: »Retrospektiv läßt sich in der Ge-
schichte der Philosophie der Neuzeit geradezu von einem Projekt der
Philosophie der Person sprechen, an dem oftmals unbemerkt und mit
1 Quante, Person, 5.
2
Ebd.
3 Vgl. die Einleitung zum zweiten Teil, 88–89.
4
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164.
785
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Parfit: Reasons and persons (Oxford 1984) 199 ff. – Ebd. 322. – Vgl.: Part Three,
Personal Identity, in: Parfit, Reasons and Persons, 199–347.
8 Zweite durchgesehene und um ein Nachwort und um Literaturergänzungen er-
786
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
9 Zur weiteren Klärung einiger in der »Entdeckung der Person« offen bleibender Zu-
sammenhänge wird darüber hinaus noch auf eine zweite Publikation Kobuschs, die
Studie »Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität« aus dem Jahr
2006, Bezug genommen.
10 Zweite unveränderte Auflage 2008.
11
Zweite um ein Vorwort erweiterte Auflage 2012.
787
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
788
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.
11.1 Theo Kobusch: »Die Entdeckung der Person«
4
Ebd.
5 Kobusch, Christliche Philosophie, 138.
6
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 19.
7 Ebd. 62. – Vgl. dazu auch: »Die aristotelische Metaphysik ist eine Metaphysik der
äußeren Dinge, insofern die allgemeinen ontologischen Strukturen durch eine meta-
physische Analyse der Naturdinge aufgedeckt werden. Die Metaphysik nach christ-
lichem Verständnis dagegen ist nicht eine theoretische, allgemeine Seinslehre oder
eine abstrakte Gotteslehre, sondern eine Metaphysik des inneren Menschen.« – Ko-
busch, Christliche Philosophie, 139. – Vgl. ebenso: »In der aristotelischen Metaphy-
sik dreht sich alles um den Gegenstand der Metaphysik, während das Subjekt ganz
außerhalb der Betrachtung bleibt. Hier aber haben wir es mit einer Metaphysik des
Subjekts zu tun.« – Ebd. 145–146.
789
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
8 S. 787, Fn. 9.
9 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 13.
10 Vgl.: »Doch es ist nicht diese Ontologie des inneren Menschen, die das Zentrum
und eigentümliche Merkmal der christlichen Lehre bildet. Vielmehr ist diese, in der
platonischen Philosophie grundgelegt, auch bei vielen Neuplatonikern integrierender
Bestandteil einer Theorie vom Menschen. Was jedoch die christliche Philosophie in
diesem Zusammenhang über den Platonismus hinausgehend leistet, ist die Erkennt-
nis vom grundlegenden und umfassenden Charakter der Lehre vom inneren Men-
790
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.
11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit
schen. Hier wird die Innerlichkeit erstmals als Prinzip gedacht.« – Kobusch, Christ-
liche Philosophie, 69.
11
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 27–28.
791
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
12 Kobusch, Christliche Philosophie, 72. – Kobusch legt hier dar, dass den Griechen
ein »Begriff für das spezifisch menschliche, das heißt das endliche Bewußtsein« fehlte,
und betrachtet den Unterschied zwischen den bei ihnen vorhandenen Begriffen und
diesem Bewusstsein: »Hier aber soll die Rede sein von dem der Wirklichkeit gegen-
überstehenden, spezifisch menschlichen Bewusstsein. Die Stoiker haben dafür den
Terminus ›Epinoia‹ geprägt.« – Ebd.
13 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 12.
14 Vgl.: »Auch die berühmte Persondefinition des Boethius: Persona est naturae ra-
tionabilis individua substantia, ist nur unter der Voraussetzung der so verstandenen
aristotelischen Ontologie zu verstehen. Bei Boethius […] wird Person ontologisch
und metaphysisch wie ein Naturding angesehen und behandelt. Aber auch die Be-
stimmung des Richard von St. Viktor erscheint in ihrer Einseitigkeit, indem sie der
logischen Ordnung allein zuzugehören scheint.« – Ebd. 28.
792
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.
11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit
15
Vgl.: »Obgleich auf diese Weise die scholastische Philosophie die gegenüber dem
Naturhaften eigene ontologische Würde des Personalen und damit verbunden des
gnadenhaften Seins zur Geltung bringt, hat sie sich gleichwohl nicht ganz lösen kön-
nen von der aristotelischen Naturdingontologie. Denn auch hier, bei den Vertretern
einer Ontologie des esse morale, ist jener sonst hundertfach belegbare Satz zu finden,
der eine Aussage über die Seinsweise der Gnade ist: dicendum quod gratia est acci-
dens. Kann aber wirklich – diese Frage muß wohl an die scholastische Philosophie
kritisch gerichtet werden – die Andersartigkeit des gnadenhaften Seins gegenüber
dem naturhaften gemäß der Aussage des Bonaventura (esse gratuitum est alterius
generis quam esse naturale) verstanden werden, wenn die Gnade doch als ein akzi-
dentelles Sein gedacht wird? Der Rahmen, innerhalb dessen das Problem der Gnade,
d. h. die Frage nach dem Ermöglichungsgrund endlicher Freiheit behandelt wird,
bleibt so offenkundig die Substanzontologie, die aber von ihrem Ursprung und ihrer
eigentlichen Bestimmung her die Ontologie der Naturdinge ist. Diesen Rahmen zu
sprengen blieb der neuzeitlichen Philosophie vorbehalten.« – Ebd. 54.
16 Vgl.: »Hegel stellt die Einheitlichkeit und Durchgängigkeit seiner Lehre vom sitt-
lichen Sein als intersubjektive Realität durch den Gebrauch des alten Substanz-Akzi-
dens-Schemas selbst in Frage.« – Ebd. 171.
17
Kobusch, Christliche Philosophie, 95.
793
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
794
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.
11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit
795
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
36
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 117.
37 Ebd. 101.
38
Ebd. 106.
39 Ebd. 161.
40 Ebd. 164.
41 Ebd. 170.
42 Ebd. 175.
43 Ebd. 183.
44 Ebd. 187.
45
Ebd.
46 Ebd. 204.
47
Ebd. 204–205.
796
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.
11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit
797
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
54 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52–53. – Quelle des eingefügten Zitats nach
Anmerkung 124 bzw. 123: Matthaeus ab Aquasparta, Qu. disp. de gratia, 4, 104.
55 Ebd. 63.
56 Ebd. 138.
57 Ebd. 226.
58 Ebd. 227.
59
Ebd. 236.
60 Ebd. 253. – Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: H. Plessner, Über einige
798
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.
11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit
61
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 261.
62 Kobusch, Christliche Philosophie, 16.
63
Ebd. 139. – Vgl.: »Das Wort ist der Terminologie der Mysterien von Eleusis ent-
nommen. Nach der Reinigung, dann der ersten Einweihung, wird der Myste in die
›Betrachtung‹ (ἐπόπτεια) der kultischen Symbole eingeführt: das ist die höchste
Weihe. […] In der späteren platonischen Tradition wird die Epopteia ein Teil der Phi-
losophie, und zwar deren höchste Stufe. Das geschieht im Rahmen einer Einteilung
der Philosophie, deren zu durchlaufende Phasen die Ethik (Reinigung), die Physik
(Initiation) und die Metaphysik (Epopteia) sind.« – Hadot, Epopteia, in: HWPh II,
col. 599.
64 Kobusch, Christliche Philosophie, 139.
65
Ebd. 144.
799
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
800
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.
11.1.4 Vergleichende Analyse
70 Wie Spaemann bezieht sich auch Kobusch – verbunden mit einer Spitze gegen die
analytische Philosophie – in diesem Zusammenhang auf Frankfurts »secondary voli-
tions«. – Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung:
Die Spontaneität des Herzens, 628, Fn. 104.
71 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 276–277.
72
Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), 77–106.
73 Vgl. Ebd. 106.
74
Vgl. ebd. 94.
801
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
802
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11.1.4 Vergleichende Analyse
Grund‹, 565–574.
803
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
glied zwischen der Natur und der Person, das Kobusch im Sinne sei-
ner theologischen Fundierung der Person ablehnt. 81 Dennoch dürfte
Spaemann meines Ermessens Kobusch zugestehen, dass die geistige
Erfassung des Personbegriffs im vollen Umfang erst in der Hochscho-
lastik stattfand. Um aber den wesentlichen Differenzpunkt zwischen
Spaemann und Kobusch zu verstehen, muss zurückgegangen werden
auf dessen oben thematisierte Bezugnahme auf Aristoteles. 82 Dort
wurde bereits darauf hingewiesen, dass der an Aristoteles gerichtete
Vorwurf einer fehlenden Berücksichtigung der Subjektivität als ana-
chronistisch bezeichnet werden kann. Nach meinem Dafürhalten
würde Spaemann nicht in Abrede stellen, dass es sich bei der Meta-
physik des Aristoteles um eine Dingontologie handelt. Er betont aus-
drücklich, dass sie »nicht vom Subjekt« ausgeht, sondern »vielmehr
das Subjekt selbst als natürliche Substanz« 83 fasst. Dass Spaemann
und Kobusch sich dennoch an der Deutung des Aristoteles so nach-
haltig scheiden, ist darin begründet, dass nach Kobusch jede spätere
Bezugnahme auf ihn durch das substanzontologische Schema auf den
Ausschluss der Subjektivität festgelegt ist bzw. Subjektivität nur mit
Begriffen gedacht werden kann, die der Substanzontologie fremd
sind, während es zu den grundlegenden Intuitionen der Philosophie
Spaemanns gehört, von einer Aktualisierbarkeit der aristotelischen
Substanz und des teleologischen Denkens auszugehen. 84 Die direkte
Folge dieser gegensätzlichen Aristoteles-Deutung ist, dass Spaemann
eine relative Kontinuität von Aristoteles über Boethius zu Thomas
von Aquin ungeachtet der Entstehung des Kontingenzbewusstseins
sieht, während Kobusch die aristotelische Metaphysik diametral der
Metaphysik der Freiheit gegenüberstellt und diese unvermittelt im
13. Jahrhundert einsetzen lässt bzw. von allgemeinen Präformationen
des christlichen Denkens in der Antike und dem frühen Mittelalter
81
In »Christliche Philosophie« wird allerdings deutlich, dass Kobusch das Herz eben-
falls als eine Präformation der im 13. Jahrhundert aufkommenden Metaphysik des
inneren Menschen versteht: »Als Abbild Gottes hat der Mensch wie dieser etwas Un-
ergründliches. Dieses Unergründliche nennt Augustinus auch das ›Herz‹. Der Her-
zensmensch, das heißt der innere Mensch ist der homo absconditus.« – Kobusch,
Christliche Philosophie, 143.
82 S. Abschnitt 11.1.1, Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der
Freiheit, 791.
83 Vgl. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«
(2010), 34. – Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327.
84 Vgl. Teilkapitel 6.1, Das philosophiehistorische Projekt der Erneuerung der antiken
Substanzontologie, 323–371.
804
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.
11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs
85Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
86
Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei
Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ateleologischen Teleologie und dem Ende
des Denkens bei Nietzsche, 268–272.
805
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
mehr durch den Verweis auf Gott an zentralen Stellen seiner Argu-
mentation eine Theologisierung der Philosophie betreibt. In dem hier
unternommenen Versuch eines Nachvollzugs der Geschichte und des
Wesens dieser Metaphysik der Freiheit wurde deutlich, dass die plötz-
lich auftauchende Freiheit auf Gott als ihren Ursprung zurückgeführt
wird und seine Gnade den »transzendenten Ermöglichungsgrund
menschlicher Freiheit« 87 bildet. Ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen dem aristotelischen ›unbewegten Beweger‹ und dem von Ko-
busch vorausgesetzten christlichen Gott besteht darin, dass letzterem
ein bestimmter Geschichtswille zugeschrieben werden muss, da er die
Freiheit dem Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbart
hat. Die von Kobusch ins Gespräch gebrachte Metaphysik hängt von
diesem Offenbarungsgeschehen vollständig ab. Auch wenn diese
Abhängigkeit von Kobusch selbst möglicherweise nicht als ein Pro-
blem angesehen wird, stellt dies meines Erachtens die philosophische
Bedeutung seiner Metaphysik der Freiheit in Frage. Gerade im Ver-
gleich mit Kobuschs personenphilosophischer Konzeption kann deut-
lich werden, dass Spaemann eine genuin philosophische Argumenta-
tion entwirft, auch wenn er auf die Grenze des Denkbaren reflektiert,
während Kobusch durch die unverhohlene Bezugnahme auf Gott an
zentralen Stellen seiner Argumentation Philosophie mit Theologie
vermischt.
Nach der in dieser Arbeit vorgelegten Deutung der Spae-
mann’schen Personenphilosophie kann dieser der Theologisierung
der Ontologie dadurch entgehen, dass er die Personalität in der
Naturteleologie fundiert sein lässt. Auch wenn für Kobusch, wie ge-
sehen, die Naturteleologie im Kontext seines Projekts einer Meta-
physik der Freiheit keine Rolle spielt, soll an dieser Stelle an die ein-
gangs formulierte Diskursregel erinnert werden, unter der der
Vergleich der Positionen hier stehen soll, und an Kobuschs Konzep-
tion die Frage gerichtet werden, wie weit sie in der Lage ist, die con-
ditio humana, also das antagonistische Verhältnis von Leben und Ver-
nunft im Menschen und die Fundierung der Vernunft im Leben, zu
denken. In der »Entdeckung der Person« schreibt Kobusch:
Während das naturhaft Gute oder Schlechte die Art der Beziehung
eines Aktes eines Naturdings zu dem ihm eingeschriebenen Natur-
oder Wesensgesetz bezeichnet, betrifft das moralisch Gute oder Böse
87Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52, u. Abschnitt 11.1.3, Zur inhaltlichen
Bestimmung der Metaphysik der Freiheit, 505.
806
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11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs
die Art der Beziehung zwischen einer Freiheit zu einer anderen. Diese
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Natur und Freiheit oder zwi-
schen den Seinsarten des ens naturae und ens morale bzw. volunta-
rium hat am deutlichsten der Dominikaner und spätere General seines
Ordens Hervaeus Natalis ausgedrückt, der Zeitgenosse und Gegner
des Durandus: »Das naturhaft Tätige (agens naturale) macht solches
und so, wie es ist …, aber das frei Tätige (agens voluntarium) macht
nicht solches, wie es selbst ist, sondern wie es selbst sein will«. 88 Das
bedeutet, daß das ens naturae immer an ein vorgegebenes, eingegebe-
nes Wesen gebunden bleibt, während das ens morale oder ens volun-
tarium sein eigenes Wesen erst selbst konstituiert. 89
Durch diesen Gedanken der – auf göttliche Gnade angewiesenen –
Selbstkonstitution des Freiheitswesens, das von seiner Natur in
einem absoluten Sinn getrennt ist, wird die Fundierung der Vernunft
im Leben geleugnet. Kobusch fällt damit in den cartesianischen Dua-
lismus und eine erneuerte Metaphysik des allgemeinen Subjekts zu-
rück, von der aus es unmöglich ist, den Weg zum konkreten Anderen
zu finden. Dabei erscheint die Selbstkonstitution des Freiheitswesens
als jene Hypostasierung des Selbst zur unabhängigen Entität, die
durch die Bedingung eines Diskurses, in dem jede Position, auch
wenn sie selbst nicht darauf reflektiert, sich als Perspektive verstehen
lassen muss, als mögliche Position ausgeschlossen wurde.
88 Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: Vgl. Hervaeus Natalis, In I Sent., d. 41,
p.2, a.3, 179bB.
89
Ebd. 45. – Berthold Wald, der ebenso wie Spaemann sein Verständnis der Persona-
lität ausgehend von der aristotelischen Ontologie und ihrem zentralen Begriff einer
lebendigen Substanz entwickelt, bezeichnet mit Bezug auf Thomas von Aquin die
personale Öffnung für die Wirklichkeit und die Intersubjektivität als »interne Modi-
fikationen dieser Substanz«. Im Gegensatz zu Kobusch betont Wald dabei den unauf-
hebbaren Zusammenhang des substanzontologischen und des moralischen Aspekts
der Personalität: »Für Thomas liegt darum in der Inkommunikabilität der geistigen
Akte, worin die Person zugleich ihr natürliches Sein realisiert oder auch verfehlt, die
höchste Auszeichnung der Person. Demgegenüber bleibt der Gegensatz von Freiheit
oder Natur, ens morale oder ens naturale, nicht bloß abstrakt, sondern verkürzt das
Sein der Person auf reine Subjektivität.« – Wald, Substantialität und Personalität.
Philosophie der Person in Antike und Mittelalter, 180–181.
807
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.
11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«
808
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11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«
809
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
13
Ebd.
810
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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
14
Sturma, Philosophie der Person, 62–63.
811
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
17
Ebd. 68.
18 Ebd. 75.
19
Ebd.
812
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.
11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
24
Ebd. 81.
813
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
814
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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
815
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
sches Gewicht beanspruchen kann und überdies mit einem hohen re-
duktionismuskritischen Potential ausgestattet ist. 40
Das Selbstbewusstsein zeichnet sich als Phänomen dadurch aus, dass
es »in seiner Qualität auf keinen anderen Fall intentionalen Bewußt-
seins reduzierbar und hinsichtlich seiner Instantiierung offensichtlich
selbstgenügsam ist« 41. Das Problem, das sich aus dieser Phänomen-
beschreibung ergibt, besteht darin, dass das Selbstbewusstsein, wenn
es nicht als referentiell gedacht werden kann, auch »nicht als reflexi-
ver Zustand angesehen werden« 42 könnte. Dies hätte für die »reduk-
tionismuskritischen Intentionen der Philosophie der Person« 43 zur
Folge, dass sich aus dem »Faktum der Erlebnisperspektive […] keine
bewußtseinsphilosophischen Sachverhalte in der Gestalt episte-
mischer Selbstverhältnisse« 44 ableiten ließen und das Projekt einer
Philosophie der Person im Anfangsstadium gescheitert wäre. Daraus
folgert Sturma:
Die interne Verbindung von Erlebnisperspektive und epistemischem
Selbstverhältnis läßt sich nur mit Hilfe eines Begriffs des Selbst-
bewußtseins rekonstruieren, der die Bestimmungen der Selbstver-
trautheit und Reflexion bewußtseinsphilosophisch zusammenhalten
und unmittelbar auf die Erlebnisperspektive der Person beziehen
kann. Nur auf diese Weise kann das reduktionismuskritische Projekt
der Philosophie der Person in einen konstruktiven Begriff der Selbst-
bestimmung überführt werden. 45
Mit Bezug auf Wittgensteins Privatsprachenargument legt Sturma
dar, »daß eine bestimmte Form epistemischer Selbstverhältnisse als
private Sprache aufgefaßt werden kann« 46, dass es also eine Sprache
der Subjektivität gibt – »[22–T] Subjektive Bestimmungen haben
ihre eigene Grammatik und Objektivität« 47 –, »denn ich bin derjeni-
ge, der über das faktische Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und
insofern auch über den Wahrheitswert dieser Beziehungen entschei-
det« 48. Mit Bezug auf Descartes lässt sich somit »die bewußtseinsphi-
816
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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein
817
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
seins und der reflektierten Distanz besagen, daß Personen sich aus der
gegebenen Unmittelbarkeit ihres Lebens vermittels ihres selbstrefe-
rentiellen Bewußtseins lösen können.« 58 Nach Sturma findet die »re-
duktionismuskritische Argumentationsperspektive der Philosophie
der Person schließlich ihren systematischen Abschluß« darin, dass
»die reflektierte Positionalität des Bewußtseins der eigenen Existenz
immer schon den Stellenwert eines praktischen Verhältnisses zur
Welt« 59 gewinnt. Es hat sich somit eine »subjektivitätstheoretische
Ausdeutung« 60 der konstatierten Differenz zwischen Ereignissen
und Erlebnissen ergeben:
Das unerwartete Ergebnis der Ausdeutung besteht darin, daß sich
schon in der subjektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibili-
tätsarguments die Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses ab-
zeichnen, das dadurch zustandekommt, daß die exklusive ontologische
Position einer Person unmittelbar in ihre selbstreferentiellen Bewußt-
seinszustände eingeht. 61
Das für »die Philosophie der Person entscheidende[…] Fazit« zieht
Sturma in den Thesen: »[35–T] Personen verändern partiell die Welt
der Ereignisse« und »[36–T] Personen verändern sich als Personen in
der Welt der Ereignisse.« 62
58
Sturma, Philosophie der Person, 144.
59 Ebd. 145.
60 Ebd. 146.
61 Ebd.
62 Ebd.
13. Jahrhunderts streift Sturma nur flüchtig. Mit Bezug auf die trinitätstheologische
Formel »tres personae – una substantia« bemerkt er, dass sie der »Sache nach […]
nichts anderes als das offene Eingeständnis einer nicht zu lösenden Problematik« sei.
– Vgl. ebd. 47.
818
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
819
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
67 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, 225 [II. 27 § 9]. – Vgl.
Sturma, Philosophie der Person, 164.
68 Sturma, Philosophie der Person, 164.
69 Ebd.
70
Ebd. 165.
71 Ebd. 167.
72
Ebd.
820
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
73
Sturma, Philosophie der Person, 158.
74 Ebd. 167.
75 Ebd. 168.
76 Ebd. 169.
79
Ebd. 174.
821
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
822
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person
93
Ebd. 206.
823
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
94
Sturma, Philosophie der Person, 218.
95 Ebd. 220.
96 Ebd. 231.
97 Ebd. 233.
98 Ebd.
99 Ebd.
101
Ebd. 234. – Quelle des eingefügten Zitats nach Sturma: Schelling, Sämtliche Wer-
ke, X, S. 229.
102
Ebd. 236.
824
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung
825
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
826
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung
827
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
828
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.4 Vergleichende Analyse
tät, 583–599.
829
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
tionen. Den Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, den Spaemann als
»Theologisierung der Ontologie« 132 deutet, wertet Sturma als »unbe-
rechtigte[…] Reifizierungen der res cogitans« 133. Während Spae-
mann jedoch versucht, eine alternative metaphysisch-analoge Deu-
tung dieses Schrittes ins Gespräch zu bringen, 134 die für sein Denken
von zentraler Bedeutung ist, und somit an dem Schritt selbst festhal-
ten will, geht Sturma einen Schritt zurück zur »theoretische[n] Si-
tuation nach der philosophischen Entdeckung der Selbstgewißheit
und vor der substanzegologischen Reifizierung der res cogitans« 135.
Auf diese Situation nimmt Spaemann in »Personen« Bezug und
spricht dort davon, dass Descartes in ihr »den entscheidenden Zug
dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 136 gemacht habe. Sturma ver-
sucht aus ihr seinen Begriff der Person zu entwickeln und kommt im
Kontext der Überlegungen über eine ›private Sprache‹ zu einem Ge-
danken, mit dem er sich der Position Spaemanns weiter annähert. 137
136 Spaemann, Personen (1996), 144. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der De-
zwar in öffentlicher Sprache mit Hilfe von propositionalen Einstellungen auf meine
Bewußtseinszustände beziehen, aber die Grenzen der öffentlichen Sprache sind nicht
die Grenzen der Erfahrbarkeit meiner Bewußtseinszustände. Die bewußtseinsphiloso-
phische Durchlässigkeit der öffentlichen Sprache ist auch unter der Voraussetzung
sprachanalytischer Kriterien erkennbar, denn ich bin derjenige, der über das faktische
Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und insofern auch über den Wahrheitswert
dieser Beziehungen entscheidet. Bereits daraus kann sprachanalytisch abgeleitet wer-
den, daß mir ein epistemisches Selbstverhältnis unterstellt werden muß.« – Sturma,
Philosophie der Person, 118. – Vgl. dazu andererseits folgende Bemerkung Spae-
manns: »Schmerzen Empfinden und Hören sind subjektive Ereignisse. Aber sie sind
zugleich streng objektiv und absolut in dem Sinne, dass sie zwar nur von einem Men-
schen erlebt werden, dass die Tatsache dieses Erlebens aber eine Wirklichkeit ist, die
für das Urteil aller Menschen verbindlich ist, die überhaupt darüber urteilen. Dass ich
Schmerzen habe, kann zwar nur ich mit letzter Sicherheit wissen, aber das heißt nicht,
dass es nur wahr für mich wäre. Wenn jemand sagen würde: ›Ich erlebe dich anders,
als du dich erlebst. Für mich hast du keine Schmerzen‹, so würde ich ihm antworten:
›Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder
welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über
meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine
Wahrheit nur für mich, sondern für jeden‹.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropo-
morphismus (2000), 193.
830
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.4 Vergleichende Analyse
Wie oben gezeigt wurde 138, kann das ›ich denke‹ nach Sturma deshalb
als private Sprache aufgefasst werden, weil es ein »wechselseitige[s]
Implikationsverhältnis von ›ich denke‹ und ›ich existiere‹« 139 gibt.
Wenn somit nach Sturma das ›ich denke‹ schließlich als »Ausdruck
einer spezifischen Lebensform« 140 erscheint, nähert er sich damit fak-
tisch der Fundierung des ›ich denke‹ im ›ich lebe‹ an, das den zentra-
len Gedanken des von Spaemann vorgeschlagenen metaphysisch-
analogen Denkens bildet. Die »Doppelperspektive des Selbstbewußt-
seins«, von der Sturma spricht, in der »sich das Subjekt des Bewußt-
seins auf sich als raumzeitliches Wesen bezieht« 141, unterscheidet sich
nicht prinzipiell von Spaemanns Konzeption der Person als ›Haben
einer Natur‹. Spaemanns Gedanke ist, dass die Person ihre natürliche
Zentriertheit transzendiert und so den personalen Ort erreicht, der
zwar über kein eigenes Energiepotential verfügt, also ganz aus der
transzendierten Natur lebt, gleichzeitig aber eine solche Distanz zu
dieser Natur bedeutet, aus der heraus personale Freiheit denkbar
wird. Faktisch beschreibt Sturma dieselbe Konstellation mit anderen
Begriffen: »Personales Leben ist insofern durch die strukturelle Ge-
genläufigkeit gekennzeichnet, daß in ihm Indexikalität und Idealität
bzw. ontologische Festlegung und praktische Offenheit unauflöslich
aufeinander bezogen sind.« 142 Diese Deutung personalen Lebens be-
dingt bei Sturma auch die »Verbindung von theoretischer und prakti-
scher Philosophie«, in der er den Ort einer Philosophie der Person im
»System philosophischer Disziplinen« 143 erkennt. Was Spaemann
schon in »Glück und Wohlwollen« als unlösbare Verbindung von
Ethik und Metaphysik bezeichnet, 144 findet daher der Sache nach sei-
ne Entsprechung in Sturmas Feststellung, »daß sich schon in der sub-
jektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibilitätsarguments die
Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses abzeichnen« 145.
Lockes Theorie personaler Identität, die für Sturma die »aus-
drückliche Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie der Person« 146
831
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
150 Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflicht-
ethik, 445–455.
151 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.
152
Sturma, Philosophie der Person, 233.
832
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.2.4 Vergleichende Analyse
153
Sturma, Philosophie der Person, 235.
154 Spaemann, Personen (1996), 115.
155
Vgl. ebd. 82.
833
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
160
Spaemann, Personen (1996), 121.
161 Vgl.: »Die moralische Anerkennung der anderen Person unterscheidet die Ge-
meinschaft der Personen von einem Ameisenstaat.« – Sturma, Philosophie der Per-
son, 314.
162 Vgl.: »Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie
834
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.
11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas
164 Sturma, Philosophie der Person, 84. – Sturma lehnt diese Deutung ab, da es ihm,
wie in Abschnitt 11.2.1 gezeigt wurde, um die interne Entfaltung einer Gegenposition
zur Ontologie des Physikalismus geht.
165 Ebd. 83.
166
Ebd. 81.
167 Ebd. 354.
168
Ebd. 299.
835
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
836
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.
11.3 Michael Quante: »Person«
1
Quante, Person, 8.
2 Spaemann, Personen (1996), 25.
3 Vgl.: »Das Phänomen des Versprechens wirft ein besonders eindeutiges Licht auf
das, was wir ›Person‹ nennen. Die Nichtlokalisierbarkeit des ›ursprünglichen Verspre-
chens‹ in der Zeit weist darauf hin, daß Menschen einander zwar aufgrund bestimm-
ter Eigenschaften als Personen ansehen, daß aber Personalität keine dieser Eigen-
schaften ist, sondern diesen allen als vorausliegend gedacht wird und daß sie selbst
nur in der Weise ihrer Anerkennung gegeben ist.« – Ebd. 238.
4 Quante, Person, 18.
5
Ebd. 8.
837
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
tität vermeidet. Hierzu ist eine für den weiteren Gedankengang wich-
tige Begriffsdifferenzierung Quantes zu beachten:
Die Relation der Identität ist nicht mit Bezug auf die raumzeitliche
Existenz konkreter Entitäten definiert, sondern stellt eine logische Re-
lation dar. Bei dem »ist« in der Aussage »A ist numerisch identisch mit
B« handelt es sich nicht um das präsentische »ist« (im Sinne »Jetzt ist
es hell«), sondern um eine zeitlose Aussage (im Sinne »2 plus 2 ist 4«).
Daraus allein ergibt sich schon, dass mit der Frage nach den Bedingun-
gen, die gegeben sein müssen, damit eine Entität zu einem Zeitpunkt
genau eine Entität ist, und mit der Frage nach den Bedingungen, die
gegeben sein müssen, damit es sich bei einer Entität zu verschiedenen
Zeitpunkten um ein und dieselbe Person handelt, nicht nach der Iden-
tität von Personen gefragt wird. Nennen wir, da wir den Begriff der
Identität für numerische Identität reservieren wollen, die Bedingun-
gen dafür, dass eine Entität zu einem Zeitpunkt genau eine Person ist,
Bedingungen für synchrone Einheit. […] Nennen wir die Bedingun-
gen dafür, dass eine Entität zu zwei verschiedenen Zeitpunkten ein
und dieselbe ist, Bedingungen für diachrone Einheit. […] Es ist un-
zulässig, die Eigenschaften der Relation Identität ohne weiteres Argu-
ment zu übertragen auf die Relation der synchronen oder die Relation
der diachronen Einheit. 6
In der zweiten Grundfrage geht es damit zunächst um die Unterschei-
dung zwischen den Fragen nach der synchronen und der nach der
diachronen Einheit der Person. In der dritten Grundfrage kommt der
Begriff der ›Identität‹ (in Anführungszeichen) dennoch in Bezug auf
die Person vor; diese lautet: »Wie ist die ›Identität‹ einer Person im
Sinne eines evaluativ-normativen Selbstverständnisses struktu-
riert?« 7 Quante betont, dass »›Identität‹ in diesem Sinne wenig zu
tun hat mit numerischer Identität« 8. Es geht bei dieser Begriffsver-
wendung um die inhaltliche Ausdeutung des Begriffs der Person, um
»Persönlichkeit und biografische[s] Selbstverständnis« 9.
Im Folgenden wird zunächst die Antwort Quantes auf die erste
Grundfrage und auf die zweite bis zu seinem skeptischen Fazit, wo-
nach es »keine Einheitsbedingungen für Personen« 10 gibt, nachvoll-
zogen (11.3.1). Danach werden im Rahmen seines Übergangs zum
10
Ebd. 102.
838
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.
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
839
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
18 Vgl.: »Dies bedeutet zuerst einmal, dass nicht alle Lebensformen, die zu Lust- und
Schmerzempfindungen fähig sind, zum Kreis der Personen zählen.« – Ebd. 32.
19 Ebd. 35.
20
Ebd. 39.
21 Ebd. 38.
22
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 149.
840
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.
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
26 Ebd. 43.
27 Ebd. – Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 164, u. Abschnitt 11.2.2, Zur Ge-
29
Ebd. 45.
841
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
dacht in Bezug auf Erinnerungen, der nur durch eine bereits vorausgesetzte diachrone
Identität ausgeräumt werden kann, wobei dieser Gedanke seinerseits wieder unter
Idiosynkrasie-Verdacht steht und so weiter ad infinitum.
35 Vgl. Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des Begriffs der Person, 820–821.
37
Ebd. 58.
38 Ebd. 52.
39
Ebd. 54.
842
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.
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
843
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
Quante stellt zunächst eine Liste mit vier Annahmen auf, die die
»Grundidee der erstpersönlich-einfachen Theorie personaler Identi-
tät« umreißen:
• Die diachrone Identität von Personen ist nicht reduzierbar auf
empirisch beobachtbare Relationen.
• Empirische Kriterien personaler Identität sind lediglich episte-
mische, keine konstitutiven Kriterien.
• Konstitutiv für die diachrone Identität von Personen sind syn-
chrone und diachrone Einheitsrelationen, die vollständig in der
erstpersönlichen Perspektive erfassbar sind.
• Die Identität der Person ist damit ein basales und essenziell in der
erstpersönlichen Selbstbezugnahme konstituiertes Faktum.46
Um die in diesen Annahmen vertretene Position noch stärker in ihren
Konturen hervortreten zu lassen, fragt Quante anschließend nach
ihrer direkten diskursiven Gegenposition. Aus einer Leugnung der
konstitutiven Bedeutung der erstpersönlichen Perspektive folgt dem-
nach der Wechsel in die Beobachterperspektive. Auch für die »Grund-
idee dieser beobachterperspektivischen Theorie personaler Einheit«
führt Quante die wesentlichen Annahmen an:
• Die diachrone Einheit von Personen ist reduzierbar in dem Sin-
ne, dass sie durch empirisch beobachtbare Kontinuitätsrelationen
konstituiert wird.
• Die synchrone und diachrone Einheit von Personen ist ein kom-
plexer Anwendungsfall von Persistenz, d. h. der Einheit von
raum-zeitlich ausgedehnten Entitäten zu einem Zeitpunkt und
über die Zeit hinweg.
• Die Einheit von Personen ist weder epistemologisch noch kon-
stitutiv an die erstpersönliche Perspektive gebunden.
• Die Identität der Person ist damit zwar ein reales, aber weder ein
außerordentliches noch ein unanalysierbares Faktum. 47
Quante sieht nun ein zentrales Problem der Diskussion um den Be-
griff der Person darin, dass der beobachterperspektivische Theorietyp,
der »sich auf rein kausale und funktionale Zusammenhänge be-
schränkt und dabei weder die erstpersönliche Perspektive einnimmt
[…] noch evaluative oder normative Zusammenhänge erfasst« 48, auf-
46
Quante, Person, 63.
47 Ebd. 64.
48
Ebd.
844
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.
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität
845
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
846
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.
11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
847
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
848
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.
11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
849
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
denjenigen ergriffen, die eine biologische Antwort auf die Frage nach
der Einheit der Person vorschlagen. Sie bestreiten (β) und behaupten
(non- β), dass Personen mit menschlichen Organismen identisch sind
(also (vi) wahr ist). Dabei akzeptieren sie (α), behaupten aber zusätz-
lich (γ), dass die Bedingungen der Einheit für Personen mit denen der
Einheit für menschliche Organismen zusammenfallen – dies ist die
biologische Variante der komplexen Theorie personaler Einheit. Der
hier vorgeschlagene biologische Ansatz stellt demgegenüber eine
dritte Option dar, weil die von den ersten beiden Optionen geteilte
Prämisse (α) explizit bestritten wird. Stattdessen wird behauptet (δ),
dass der Begriff des Menschen, nicht aber der Begriff der Person Be-
dingungen für die Persistenz bereitstellt. Damit macht die Alternative
(β) oder (non- β) keinen Sinn mehr, da sie unterstellt, dass sowohl
»Mensch« als auch »Person« Bedingungen der Einheit bereitstellen.
In der Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation
der Eigenschaft »Personalität« von einem menschlichen Individuum,
sodass unser b* aufgelöst wird in die Behauptung, dass b zum fragli-
chen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdualisten postulierte
zusätzliche Entität b* fällt damit weg). 75
An dieser Stelle sei zunächst Quantes Schlussfolgerung aus der Re-
flexion des konstruierten Falles festgehalten, dass im ontologischen
Sinn »für menschliche Personen das ›Menschsein‹ wesentlich [ist],
das Personsein dagegen nicht«. Quante betont, dass in dieser Aussage
›wesentlich‹ nicht evaluativ zu verstehen ist, da »wir im evaluativen
Sinne andere Eigenschaften für wertvoll erachten als die im onto-
logischen Sinne wesentlichen« 76. Auf den Fall und die dargestellten
Optionen wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. Ab-
schließend soll nun Quantes Erörterung der dritten Grundfrage
nachvollzogen werden.
Mit diesem Übergang vollzieht sich eine spürbare Abwendung
vom Ideal begrifflicher Exaktheit, das bis hierhin die Studie auszeich-
nete, und zugleich ein Perspektivenwechsel. Quante bemerkt hierzu:
»Das philosophische Bestreben nach Systematizität und Klarheit
muss dem Phänomenbereich angemessen bleiben, wobei für unseren
Kontext vor allem die Orientierung an der Teilnehmerperspektive
entscheidend ist.« 77 Da es in der systematischen Diskussion der Ein-
heitsbedingungen von Personen bis hierhin stets nur um die erstper-
75
Quante, Person, 113.
76 Ebd. 114.
77
Ebd. 175.
850
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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform
851
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
852
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.
11.3.3 Vergleichende Analyse
853
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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
anderen, das niemals sie selbst sein kann. Und dies ist nicht nur von
außen betrachtet so, sondern die Person selbst weiß von der Einmalig-
keit des Ortes, von der Unverwechselbarkeit der Beziehung zu allem
andern und damit von ihrer eigenen wesentlichen Einmaligkeit. Da es
sich also um eine Einmaligkeit der Beziehung handelt, ist sie gar nicht
ohne den Außenaspekt der Person zu denken. Dieser Außenaspekt ist
primär durch den Körper vermittelt. 89
Quantes These, dass aus der Verneinung der E-These auch die Ver-
neinung der U-These folgt, 90 dass also personale Einheit abhängig ist
»von der Identität einer selbstbewusstseinstranszendenten Sub-
stanz« 91, würde Spaemann schon deswegen mittragen, weil es nach
ihm Personen nur im Plural gibt. Die nur im Plural existierenden
Personen bezeichnen für ihn die Substanz, die einer menschlichen
Natur subsistiert: »Die Natur, deren Subsistenz die Person ist, ist die
Natur eines organischen Lebewesens. Personen sind Lebewesen.« 92
Dass der Gang der Überlegung bei Quante gerade zu der umgekehr-
ten Konstellation führt, insofern in seinem biologischen Ansatz einer
deskriptiv bestimmbaren Personalität ein menschlicher Organismus
zugrunde liegt, soll an dieser Stelle zunächst unbeachtet bleiben. Ent-
scheidend für den Vergleich der beiden Konzeptionen ist damit die
Frage nach der Gültigkeit der Komplexitätsthese. Nach Quante impli-
ziert deren Bejahung nach der Zurückweisung der Erstpersönlich-
keitsthese die Einnahme der »Beobachterperspektive« und damit die
methodische Entscheidung für die »kausal-funktionale Analyse« 93.
Hier wiederum liegt es auf der Hand, dass Spaemann die Komplexi-
tätsthese in diesem Sinn ablehnen muss. In »Personen« schreibt er:
»Der Andere muß mir in der sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen
›Mensch‹ gegeben sein, in der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges
gegeben ist. Sein Personsein aber ist wesentlich das nie Gegebene,
sondern in freier Anerkennung Wahrgenommene.« 94 Zwar spricht
auch Quante im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Per-
sonen von Anerkennung; hier handelt es sich aber um eine offen-
sichtliche Äquivokation, insofern bei ihm ein Akt der Kooptation ge-
92
Spaemann, Personen (1996), 144.
93 Quante, Person, 98.
94
Spaemann, Personen (1996), 194.
854
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.3.3 Vergleichende Analyse
95 Vgl.: »Da wir die Bedingungen der Personalität nicht nur als epistemische Werk-
zeuge zur Entdeckung und Identifizierung von Personen, sondern als konstitutive
Relationen aufgefasst haben, sind wir auf die These festgelegt, dass sowohl die Per-
sonalität als auch die Persönlichkeit eines menschlichen Individuums sozial konstitu-
iert sind. Eine Person zu sein und eine Persönlichkeit zu entwickeln, bedeutet dem-
nach, in evaluativen Relationen der Anerkennung zu stehen, die immer sozial
vermittelt sind. Dabei muss ein X über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten ver-
fügen, damit es Sinn macht, X als eine Person zu verstehen und anzuerkennen. Ohne
diese Anerkennung selbst, d. h. ohne diese Einbettung in die personale Lebensform,
kommt X die Eigenschaft, eine Person zu sein, aber nicht zu.« – Quante, Person, 139.
96 Vgl.: »Personsein ist deshalb nicht etwas, das vermutet und bei starker Vermutung
dann sozusagen juristisch anerkannt wird. Es ist vielmehr überhaupt nur im Akt der
Anerkennung gegeben. […] Achtung, Anerkennung sind Weisen von Aktivität. Es
scheint, ihnen müsse eine Rezeptivität vorausgehen, in der Personen als Personen
wahrgenommen werden. Besonders wenn es sich um die Wahrnehmung von Selbst-
sein handelt, scheint der Wahrnehmende sich rein rezeptiv verhalten zu müssen.
Aber gerade das ist nicht der Fall, und aus einsehbarem Grunde nicht. Denn Selbstsein
ist ja per definitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist.« – Spaemann, Per-
sonen (1996), 193.
97 Vgl. Quante, Person, 61. – Spaemanns Konzeption müsste hier also zum Typ 3
gehören.
98 Quante, Person, 82, vgl. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die
855
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
99 Vgl. Quante, Person, 112–114, u. Abschnitt 11.3.2, Der Übergang zum biologi-
schen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform, 849.
100 Quante, Person, 113.
102
Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und
Glaube, 704–727.
103
Quante, Person, 113–114.
856
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.
11.3.3 Vergleichende Analyse
107 Ebd.
108 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524.
109
In Quantes Terminologie müsste man Spaemanns Position durch Akzeptanz von
(α) und Behauptung von (non-β) und (non-γ) bezeichnen.
110
Quante, Person, 113.
857
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.
11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart
115 Vgl. Quantes Beschreibung der von ihm vorgeschlagenen dritten Option: »In der
Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation der Eigenschaft ›Per-
sonalität‹ von einem menschlichen Individuum, sodass unser b* aufgelöst wird in die
Behauptung, dass b zum fraglichen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdua-
listen postulierte zusätzliche Entität b* fällt damit weg).« – Ebd. 113.
858
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes
116 Vgl.: »In diesem Sinne ist deshalb für menschliche Personen das ›Menschsein‹
118
Ebd. 5.
859
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des
Begriffs der Begegnung
1
Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 56.
861
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
862
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
ral.« 2 Während bei Kobusch gar nicht zu erkennen ist, wie er vom
Subjekt zum Anderen gelangen sollte, Sturmas Bewegung vom
Selbst zum Anderen sich nur durch eine im Sinne des kategorischen
Imperativs verstandene »Impersonalität« realisiert, gerät Quante bei
der als Korrektiv zur unhaltbaren Dialektik von erstpersönlicher Per-
spektive und Beobachterperspektive eingeführten Teilnehmerper-
spektive in Erklärungsschwierigkeiten. Bei Spaemann hingegen fal-
len die Fundierung der menschlichen Vernunft in der conditio
humana und die Wahrnehmung des Anderen in eins. Vernunft ist
natürliche Selbsttranszendenz. Die Wahrnehmung des Anderen ist
der Ur-Akt der personalen Vernunft, die sich in der reflexiven Wen-
dung ihrer selbst bewusst wird. Der Begriff, der am meisten geeignet
ist, den inneren Zusammenhang von Naturteleologie und personaler
Wahrnehmung auszudrücken, ist ›Begegnung‹. Die Bedeutung dieses
Begriffs wurde im zweiten Teil dieser Arbeit allmählich konkretisiert,
wobei aber weder eine systematische Erfassung dieses Begriffes im
Allgemeinen geleistet noch seine Bedeutung als Organisationsprinzip
des Spaemann’schen Denkens konsequent durchdacht werden konn-
te. Aus diesen beiden Desideraten ergeben sich wesentliche Aufgaben
dieses Abschlusskapitels, auf dessen Teilkapitel nun ein Ausblick ge-
geben werden soll.
In Teilkapitel 12.1 soll es um die Funktion des Sachverhalts der
Begegnung im Werk Spaemanns gehen. Wenn dieser Begriff erst all-
mählich in der Entwicklung seiner Gedanken beginnt eine Rolle zu
spielen, hier aber die These vertreten wird, dass er als Bezeichnung
des Organisationsprinzips dieses Denkens gewertet werden kann,
folgt aus dieser These auch, dass bei Spaemann zunächst nur implizit
gebliebene Zusammenhänge später retrospektiv durch ihn miterfasst
werden. Da die diachrone Untersuchung seines Werks im zweiten Teil
dieser Arbeit an einen Zeitpfeil gebunden war, konnten solche im-
plizite Verweisverhältnisse auf spätere Entwicklungsstufen des Ge-
dankens nicht einbezogen werden. Dies soll hier nicht nur der Voll-
ständigkeit halber nachgeholt werden; denn in Bezug auf das für
Spaemann zentrale Thema der Teleologie und sein frühes Hauptwerk
»Natürliche Ziele« kann gezeigt werden, dass in der Forschungslite-
ratur zu ihm hervorgehobene vermeintliche Schwächen sich aus dem
Ziel der Philosophie der Begegnung retrospektiv als notwendigerwei-
se zunächst offen bleibende Fragen erweisen lassen. Indem so zum
2
Spaemann, Personen (1996), 87, 144 u. 248.
863
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
3
Vgl. die Einleitung zum dritten Teil, 747–753.
864
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
865
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1 Der Begriff der Begegnung als Organisations-
prinzip der Philosophie Spaemanns
Die für die vorliegende Arbeit leitende These, dass im Begriff der
Begegnung das Organisationsprinzip der Philosophie Spaemanns ge-
funden werden kann, bedeutet, dass durch ihn auch Zusammenhänge
in der Entwicklung seines Denkens bezeichnet werden können, die in
seinem Werk zunächst implizit geblieben sind. Da in der diachronen
Analyse seines Werks im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit der
Begriff der Begegnung erst allmählich an Bedeutung gewann, sei
hier zunächst ein Blick zurück auf die allmähliche Kontextualisie-
rung der ›Begegnung‹ geworfen. Nachdem der Begriff in den ersten
drei Kapiteln des zweiten Teils noch kaum eine Rolle gespielt hatte,
schien seine systematische Bedeutung zum ersten Mal im Zusam-
menhang mit dem Begriff der ›Repräsentation‹ des Absoluten auf,
dessen philosophische Interpretation mit dem Ereignis der mensch-
lichen Begegnung verbunden wurde. 1 Als Organisationsprinzip zeig-
te der Begriff der Begegnung sich zuerst im Rahmen der Unter-
suchung von »Glück und Wohlwollen«, in deren Mittelpunkt das
reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen stand, durch das die
lebendige Zentriertheit überwunden wird und sich das Erwachen zur
Wirklichkeit bzw. zur Vernunft ereignet. 2 Noch stärker zeigte sich
diese zentrale Stellung des Begriffs der Begegnung danach in der
Untersuchung von »Personen«, insofern festgestellt wurde, dass Per-
sonen im Ereignis der Begegnung überhaupt erst zu sich selbst kom-
men, 3 und das ›Haben einer Natur‹ in mehreren Schritten am Leit-
faden des Begegnungsbegriffs expliziert wurde. 4 Schließlich wurde
der Begriff der Begegnung in einen Zusammenhang zu Spaemanns
1 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 394–397.
2 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris
866
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1.1 Retrospektive
5 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:
Nähe als Ent-Fernung, 651–667.
6
Vgl. Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz
im Wertbegriff, 668–679, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen,
680–702.
867
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
suche zwischen Teleologie und Universalmechanik bei Leibniz, Wolff und Kant, 95–
121, und Kapitel VI., Teleologie im Deutschen Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel,
123–155.
10 Ebd. 177.
11
Ebd. 223.
868
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.
12.1.1 Retrospektive
kann vielmehr als der rote Faden bezeichnet werden, der Spaemanns
Werke über Jahrzehnte hinweg miteinander verbindet. In der Ent-
wicklung der Gedankengänge im zweiten Teil dieser Arbeit – ins-
besondere in den Kapiteln 6 bis 8 – hat sich gezeigt, dass die Onto-
logie der Person, in der wesentliche Entfaltungslinien seines Denkens
konvergieren, in ihrer vollen Tragweite nur erfasst werden kann,
wenn sie selbst als eine Erneuerung des teleologischen Denkens in
der Philosophie der Gegenwart verstanden wird. Was Isak in Bezug
auf »Natürliche Ziele« als Mangel bezeichnet hat, findet sich also in
der denkerischen Entwicklung Spaemanns erst im Zusammenhang
seiner beiden späteren Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und
»Personen«, die ihrerseits, wie gesehen wurde, ein reich verzweigtes
Geflecht an Bezügen zu einer Vielzahl weiterer Essays Spaemanns
enthalten. Ausgehend also von der These, dass die Ontologie der Per-
son eine neuzeitliche Aktualisierung des teleologischen Denkens
zumindest im Ansatz enthält, ergibt sich nun im Rückblick auf »Na-
türliche Ziele« die Frage, an welche historischen Realisierungen
Spaemann in seiner Personenontologie anknüpft und inwiefern er
sich zugleich von diesen durch seine eigene Konzeption distanziert.
Wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, kann man sich bei der
Beantwortung dieser Frage auf die beiden wesentlichen Ausformun-
gen des teleologischen Denkens bei Aristoteles und Thomas von
Aquin beschränken. 12
Im Werk des Aristoteles findet sich eine »nüchterne Teleologie
in terminologischer Präzision«, die im zweiten Teil im Rahmen von
Teilkapitel 5.2 in ihren Grundzügen dargelegt wurde. 13 An dieser
Stelle sei nur an einige für die folgenden Überlegungen wesentliche
Merkmale seines Denkens erinnert: Zum einen unterscheidet Aristo-
teles konsequent zwischen echten teleologischen Prozessen, deren
komplexeste Fälle die Zweckhaftigkeiten lebendiger Wesen im Gan-
zen sind, und solchen Prozessen, die zwar sinnvoll erscheinen, aber
zufällig sind. Aufgrund dieser Unterscheidung vermeidet er eine uni-
versalteleologische Ausweitung des Grundgedankens, die in der Ge-
schichte des teleologischen Denkens ein wesentliches Vehikel der
zision, 225–233.
869
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
14
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.
15Blendet man dieses nach der hier vorgelegten Deutung für das Verständnis von
Spaemanns Werk zentrale Projekt einer neuzeitlichen Aktualisierung des aristote-
870
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.
12.1.1 Retrospektive
lischen Denkens aus, wird die Etikettierung Spaemanns als ›altkonservativer‹ Denker
verständlich: »Die Altkonservativen lassen sich von der kulturellen Moderne gar
nicht erst anstecken. Sie verfolgen den Zerfall der substantiellen Vernunft, die Aus-
differenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverständnis
und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Mißtrauen und empfehlen […] eine
Rückkehr zu Positionen vor der Moderne. Einen gewissen Erfolg hat vor allem der
Neuaristotelismus, der sich heute durch die ökologische Problematik zur Erneuerung
einer kosmologischen Ethik anregen läßt. Auf dieser Linie, die von Leo Strauss aus-
geht, liegen beispielsweise interessante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spae-
mann.« – Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 52–53.
16 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 72.
17
Ebd. 78.
871
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
872
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.
12.1.1 Retrospektive
20 Spaemann, Personen (1996), 114–115. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der
Destruktion des Personbegriffs, 331.
21
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u.
Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.
22
Spaemann, Personen (1996), 115.
873
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
334.
874
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.
12.1.1 Retrospektive
27 Vgl. hierzu die Bezugnahme Spaemanns auf Thomas von Aquin in seinen »Studien
über Fénelon« im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den amor
perfectus« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 88–106, u. Abschnitt
4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität, 164 u. Ab-
schnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335–336.
875
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
28
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
29 Ebd. 124.
30
Ebd.
876
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1.1 Retrospektive
31
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
877
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
32 Die hier retrospektiv noch einmal betrachteten Zusammenhänge, durch die eine in
der natürlichen Teleologie fundierte Differenzierung neuzeitlicher Subjektivität als
personaler Horizont des Vernünftigen einerseits, autonomer Intentionalität anderer-
seits theoretisch expliziert wird, erlauben auch einen Rückbezug auf die kritische Erör-
terung von Spaemanns Konzept der ›Inversion der Teleologie‹ in Hans Ebelings Sam-
melband »Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne«. –
Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 142–143,
Fn. 25. – Gegen Spaemanns Konzeption wendete Ebeling ein: »Die aufklärende und
deshalb dringliche Rede von einer Inversion der Teleologie darf so sicher nicht gedeu-
tet werden als eine negative, wenn der eigene Sinn der Moderne bestimmbar bleiben
soll. Mit der Inversion ist nicht etwa die Relation von ›Leben‹ und ›gutem Leben‹
darauf reduziert, daß nun ein Moment zum alleinigen und selbst zum ganzen Bezug
würde. Vielmehr ist die Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung positiver
Ausdruck einer neuen Zielorientierung der werdenden modernen Subjektivität. Sie
bezieht sich auf eine Welt, die kein anderes zu ihr mehr hat, weshalb sie noch sachge-
mäß und nicht nur im Sinne einer Bildungsreminiszenz ›diese‹ Welt genannt werden
könnte. Denn von ›dieser‹ als der nun einzigen Welt ist hier alles.« – Ebeling, Sub-
jektivität und Selbsterhaltung, 22–23. – Ohne Zweifel trat Spaemann immer gegen
eine solchermaßen als ›Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung‹ verstandene
moderne Subjektivität ein, insofern sich mit dieser für ihn die »Unaufhaltsamkeit
eines naturwüchsigen Verhängnisses« – Spaemann, Ende der Modernität? (1986),
249 – verknüpft. Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, dass die von Ebeling unterstri-
chene Beschränkung auf ›diese‹ Welt von Spaemann im Sinne der so implizierten
Transzendenzfeindlichkeit abgelehnt wird, auch wenn seine Orientierung am ›Unbe-
dingten‹ keine Theologisierung der Ontologie bedeutet, sondern als genuin philoso-
phische Argumentation entwickelt wird, die sich sekundär mit religiösen Erwägungen
in Kongruenz bringen lässt. Nur durch eine solche Orientierung kann für Spaemann
das aus dem Paradigma der Selbsterhaltung hervorgehende Selbstverständnis der Mo-
derne korrigiert werden: »Erst wenn die Krisenerfahrung der Modernität die Gestalt
der Wiederherstellung einer nichtmediatisierbaren, nicht verwaltbaren und nicht
funktionalisierbaren Unbedingtheit gewinnt, der Unbedingtheit des Religiösen, des
Sittlichen und des Künstlerischen, dann erst kann von einer Wiederherstellung eines
integralen Erfahrungsbegriffs gesprochen werden. Und das erst wäre der Schritt aus
der Modernität, der deren Errungenschaften bewahrte, die vom modernen Bewußt-
sein selbst nicht bewahrt werden, weil dieses Bewußtsein sich selbst nicht vesteht.« –
Ebd. 255. – Der von Ebeling erhobene und mit Verweis auf Blumenberg und Buck
bekräftigte Vorwurf an Spaemann, durch seine Konzeption der invertierten Teleologie
werde die Moderne von ihm nur negativ bestimmt, übersieht allerdings, dass es Spae-
mann von Anfang an darum ging, »den Gedanken der Teleologie auf anfänglichere,
nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken«. – Spaemann, Vorwort zur zweiten Auflage
(1990), in: Ders., Reflexion und Spontaneität (1963), 14. – Das in seinem Sinne posi-
878
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
879
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
34 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 603–613.
35 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:
880
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
radoxie erscheint dieser Vorgang allerdings nur, wenn auf der einen
Seite eine natürliche und auf der anderen eine bewusste Entität iso-
liert werden und der Mensch als ein Wesen, in dem beide Entitäten
zusammenfallen, auf seine Identität hin befragt wird. Die Paradoxie
des Gedankens verschwindet entsprechend, wenn im Sinne des teleo-
logischen Grundgedankens Leben und Vernunft als Kontinuum be-
griffen werden, wenn die natürliche Seite des Geistes und die spiri-
tuelle der Natur festgehalten werden. 38
Damit kann nun gezeigt werden, dass im Erreichen des persona-
len Orts, von dem Spaemann in »Personen« spricht, 39 die Aktualisie-
rung des aristotelischen teleologischen Denkens zum Abschluss
kommt. Im Transzendieren des natürlichen Ausseins-auf können
menschliche Subjekte durch die Begegnung mit anderen Personen
eine personale Identität erlangen, die von einer auf die Genese ihrer
Natur ausgerichteten Betrachtung nicht mehr erreicht werden kann
und sich von ihrer Naturgrundlage emanzipiert. Obwohl diese Frei-
heit von der Naturgrundlage sich nur auf den sich jeder qualitativen
Bestimmung entziehenden personalen Ort bezieht, geht sie doch als
wesentlich nicht rekonstruierbares Moment in die in ihrem Sosein
beschreibbare Zeitgestalt der Person ein. Da diese These durch das
Festhalten an der konstitutiven Bedeutung des natürlichen Substrats
die Hypostasierung des menschlichen Subjekts zu einer selbständigen
Entität ausschließt und dieses Subjekt sich als Person jeder qualitati-
ven Erfassung entzieht, ist Personsein grundsätzlich nur in der
Selbsterfahrung oder in der Weise der Anerkennung anderer Per-
sonen gegeben. Der Versuch, aus dem naheliegenden Einwand, dass
es sich bei der personalen Selbsterfahrung nur um eine Illusion han-
deln könnte, eine in sich konsistente Position zu entwickeln, scheitert,
wie durch eine reductio ad absurdum gezeigt werden kann, daran,
38
Vgl.: »Das neuzeitliche Weltbild ist gespalten, und wir pendeln sozusagen ständig
hin und her zwischen der Innen- und der Außensicht unserer selbst, zwischen Spiri-
tualismus und Naturalismus, zwischen einer Welt von Objekten unserer sinnlichen
Erfahrung und der Wissenschaft, die diese Objekte konstituiert, selbst aber als ein
transzendentales Subjekt Bedingung dieser Objektwelt ist. Wir springen hin und her
wie bei der Betrachtung gewisser Vexierbilder. Jede dieser Sichtweisen springt unver-
meidlich um in die entgegengesetzte, und immer wieder wird der Versuch gemacht,
die Weltbilder zu vereinigen durch Integration der einen Sicht in die andere. Eines nur
durfte nie geschehen: Nie durfte der Geist eine natürliche Seite und nie die Natur eine
spirituelle Seite haben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit« (2009),
159–160.
39
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82.
881
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
dass eine solche Theorie selbst keinen Anspruch auf Wahrheit mehr
erheben könnte. 40 Der individualteleologische aristotelische Grund-
gedanke, in dem das Aussein-auf als unvordenklich und also vom
Bewusstsein abgelöst vorgestellt wird, ist durch den Gedanken der
doppelten Negation – also das Transzendieren des natürlichen Aus-
seins-auf, das seinerseits durch die konstitutive Innen-Außen-Diffe-
renz ein wesentliches Moment der Negation enthält – mit dem un-
vermeidbar gewordenen Ausgang des Denkens vom Subjekt, der
Aristoteles verschlossen war, vermittelt worden, wobei durch diese
Aktualisierung gleichzeitig eine Umdeutung der aristotelischen Te-
leologievorstellung in dem Sinne stattgefunden hat, dass in das τέλος
eine Offenheit für die Begegnung hineingelegt wird, die Aristoteles
noch nicht kannte. Das Subjekt hat seine primäre Selbstgegebenheit
im Überschreiten seiner natürlichen Zentralität, von der es sich
gleichwohl als abkünftig erfährt, insofern die überschreitende Ver-
nunft selbst noch als eine Form des natürlichen Ausseins-auf begrif-
fen wird. Der Ausgang des Denkens vom Subjekt führte in der tho-
masischen Umformung der aristotelischen Teleologievorstellung zu
der Frage, wie die Kunst in die Natur hineingekommen ist. Spaemann
vertritt in dieser Frage durch die zentrale Stellung des immer nur
privativ vom Bewusstsein aus bestimmbaren Lebensbegriffs in sei-
nem Denken philosophisch zunächst eine agnostische Position, die
in seinen Texten zu Fragen des Glaubens durch kongruente religiöse
Erwägungen ergänzt wird. Aus der Perspektive der Philosophie Spae-
manns wäre Thomas’ Frage folgendermaßen umzuformen: ›Was
bedeutet es, dass wir die Natur und uns selbst nicht anders denken
können als so, dass die Kunst immer schon in die Natur und in uns
hineingekommen sein muss?‹ An der auf die cartesische Hypostasie-
rung der Subjektivität zur unabhängigen Entität zurückgehenden
Tradition der neuzeitlichen Subjektphilosophie und der aus ihrem
Programm der Entteleologisierung hervorgehenden Dialektik von
Naturalismus und Spiritualismus ist die philosophiegeschichtliche
Konsequenz abzulesen, die aus Spaemanns Sicht dieses Nicht-an-
ders-Können nahelegt. Jedes Denken, das das Phänomen des leben-
digen Ausseins-auf in seiner irreduziblen Bedeutung ausblendet, ge-
langt am Ende zwangsläufig zu seiner dialektischen Selbstaufhebung.
Die Anerkennung der Bedeutung des Phänomens bedeutet allerdings
noch nicht die Überwindung des Partikularismus. Ein in unserer te-
40
Vgl. z. B. Spaemann, Wahrheit und Freiheit (2009), 314.
882
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.
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
883
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
41
Dieser Gedanke impliziert eine ›Verlängerung‹ des aristotelischen Stoff-Form- bzw.
δύναμις-ἐνέργεια-Verhältnisses. Während bei Aristoteles die Formursache im Sinne
des Entelechie-Gedankens substanzimmanent gedacht wird, wird hier das teleologi-
sche Aussein-auf wesentlich als eine Unterbestimmtheit verstanden, die erst im Akt
der Selbsttranszendenz ›zu sich selbst‹ kommen kann. Die im menschlichen Subjekt
potentiell angelegte Zeitgestalt kann daher nicht im Sinn der aristotelischen Form-
ursache als präexistent – die Wirklichkeit geht bei Aristoteles der Möglichkeit vo-
raus –, sondern nur als ›offene Form‹ aufgefasst werden, deren konkrete Verwirk-
lichung von kontingenten Begegnungsereignissen abhängig ist.
42
Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258.
884
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
ner selbst willen angeschaut zu werden. Schönheit ist die Weise, wie
Selbstsein sich im Erscheinen verbirgt, ihre Wahrnehmung ist also
eine Weise der Anschauung, die auf alles, was ist, bezogen werden
kann. Während ›gut‹ als zweistelliges Prädikat im Sinne des ›gut für‹
das Aussein-auf einer natürlichen Zentralität zur Voraussetzung hat,
verweist ›schön‹ als einstelliges Prädikat auf die Überwindung der
natürlichen Zentralität. Die bewusste Wahrnehmung des Schönen
ist nur im vernünftigen Transzendieren der Natur möglich. Der
transzendentale Begriff des Schönen impliziert daher eine anthropo-
zentrische Perspektive, da wir von keiner anderen Spezies wissen, die
zu einer vernünftigen Selbsttranszendenz fähig ist. Für die Schön-
heitswahrnehmung gilt daher, was für die personale Seinswahrneh-
mung gilt, dass sie jederzeit dem Verdacht der Idiosynkrasie, dem
Verdacht also, eine bloß subjektive Illusion zu sein, ausgesetzt ist.
Gerade aus dem Verdacht der Idiosynkrasie und der in ihr enthalte-
nen Selbstwidersprüchlichkeit geht jedoch die Transzendenz hervor,
die auf das Sein als Jenseits des Gedankens, auf das Selbstsein und
damit auf das Schöne geht. Die Wahrnehmung des Schönen kann
daher nicht, wie die Rede vom transzendentalen Begriff suggeriert,
als subjektive Konstitution begriffen werden, sondern ›schön‹ muss
ebenso wie ›sein‹ etwas Wirkliches bezeichnen, das unabhängig von
der subjektiven Perspektive ist. Das Denken erreicht hier zwangsläu-
fig jene Grenze, von der oben im Zusammenhang mit dem personalen
Ort bereits die Rede war, da zum ›Sein‹ wie zum ›Schönen‹ als Jenseits
des Begriffs zwar in einer Denkbewegung gelangt wurde; über diese
Grenze hinaus aber kann das Denken nicht führen, ohne sich in den
Bereich der Spekulation zu begeben. Zu den ›plausiblen Annahmen‹
in diesem Bereich, von denen Spaemann spricht 43, gehört das teleo-
logische Naturverständnis, das, wie nun gezeigt werden soll, un-
trennbar von der Annahme der Gegebenheit des Schönen auch in
der außermenschlichen Natur ist. Der zentrale Gedanke des teleolo-
gischen Denkens bei Aristoteles und ebenso in der Aktualisierung,
um die es Spaemann in seinem Gesamtwerk geht, besteht in einem
43 Vgl.: »Mir scheint, dass wir der bewusstlosen, aber katastrophalen Dialektik von
Naturalismus und Spiritualismus nur durch eine theologische Annahme entgehen,
nämlich die Annahme, dass der Naturprozess der Evolution von der gleichen Instanz
initiiert und regiert ist, die es auf die Erzeugung geistbegabter Wesen abgesehen hat.
Wer diese extrem plausible Annahme nicht machen will, der kann vernünftigerweise
nur beim Dualismus bleiben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit
(2009), 164.
885
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
44
Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 260.
45 Vgl. Ebd. 266.
46
Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 687–689.
886
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.
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung
man diese Annahme ein, lässt sich der Begriff der Begegnung als
ontologischer Grundbegriff in dem von Spaemann mit dem Begriff
der Nähe angedeuteten systematischen Rahmen ausweisen.
Nähe ist, wie oben gesehen wurde, 47 wesentlich ein relationaler
Begriff. Von Nähe kann nur die Rede sein, wenn von einer Pluralität
von Entitäten gesprochen wird, die zueinander in einem Verhältnis
stehen. Nähe als Ent-Fernung ist zudem ein relativer Begriff. Es gibt
Grade der Nähe. Wenn Nähe ontologisch als Sein verstanden wird, ist
offenbar ein erreichbares Maximum an Nähe gemeint, wobei wieder-
um die Rede sein muss von einer maximalen Nähe einer Pluralität
von Entitäten. Der Begriff der Begegnung scheint mir daher geeignet,
den Fluchtpunkt zu bezeichnen, auf den der relative Begriff der Nähe
selbst ausgerichtet ist. Zudem scheint mir die Semantik von Begeg-
nung eher als die von Nähe die wesentliche Pluralität der Entitäten,
von denen in ihr die Rede ist, zu vergegenwärtigen. Nun ist die Rede
von der Begegnung – ebenso wie die von der Nähe – unvermeidbar
durch einen Anthropomorphismus gekennzeichnet, da der in beiden
Begriffen implizierte relationale Gedanke nur von selbstbewussten
Lebewesen, genau genommen nur von Personen, die über die Indexi-
kalität ihres Soseins hinaus sind, gedacht werden kann. In Bezug auf
außermenschliches Leben von Einzelwesen bzw. distinkten Entitäten
zu sprechen ist im Grunde nicht angemessen, da so bereits ein Per-
spektivensynkretismus stattgefunden hat: Als diskrete Entität ist das
Lebewesen nicht sich, sondern nur uns gegeben. Die scheinbare Not-
wendigkeit, im Denken des Begegnungsgeschehens von distinkten
Einzelwesen auszugehen, verdeckt daher die eigentlichen Zusam-
menhänge. So wenig, wie wir uns in ein nicht vom Subjekt ausgehen-
des Denken hineinversetzen können, so wenig auch in eine bloße
natürliche Zentralität. Über beide können wir überhaupt nur an-
gemessen durch die begleitende Reflexion auf die Unangemessenheit
unserer Begriffe für die Objekte unserer Rede sprechen. Solche Aus-
sagen würden sinnlos, wenn es nicht dennoch plausibel wäre, etwa die
Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹ auch auf andere Lebewesen anzuwen-
den, 48 auch wenn wir niemals wissen werden, wie es ist, ein solches
wesentlich nicht ›von außen‹ wissen. Aber da wir imstande sind, unsere eigene Inner-
lichkeit, unser eigenes Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter
dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolgedessen auch mit
887
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel machen. Die Worte ›Schmerz‹
und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen, sind nicht pure Äquivokationen. Be-
stimmte Verhaltensweisen dieser Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe
verständlicher als auf jede andere Weise.« – Spaemann, Personen (1996), 135.
888
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.
12.2 Abschließende Überlegungen zum
›Urphänomen‹ der Begegnung
889
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
890
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.
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
5
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 196.
891
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt
von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzertrenn-
lich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist. Und genau dieser
Gedanke ist, wie Nietzsche meinte, ein fundamentaler Anthropomor-
phismus. 6
Die vermeintlichen Entitäten wären also etwas aus einer Mannigfal-
tigkeit Zusammengesetztes, dessen Elemente sich im Austausch mit
der Umwelt befinden, wobei nur wir dieses Zusammengesetzte zu
einer Einheit synthetisieren. Was für die Existenz diskreter Entitäten
gilt, gilt a fortiori für die Vorstellung einer Bewegung dieser Entitä-
ten in Raum und Zeit: »Wirkliche Bewegung kann nur verstanden
werden, wenn wir ihr einen conatus, ein Streben zugrunde legen.
Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbst-
erfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, dringen wir nicht
bis zur Wirklichkeit der Bewegung vor.« 7 Zieht man von der Be-
wegung unseren aus der Selbsterfahrung gewonnenen Begriff des
Strebens ab, bleibt eine mechanische Sukzession von Raum-Zeit-
stellen, die, wie Spaemann bemerkt, dem wissenschaftlichen Begriff
der Bewegung entspricht:
Der neuzeitlichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der In-
finitesimalrechnung zu vergegenständlichen […], indem sie die Bewe-
gung in eine unendliche Zahl eng beieinander liegender Ruhezustände
zerlegt. Was Bewegung ist, ist damit allerdings nicht verstanden. Die
Bewegung wird zwar berechenbar, sie wird zu einem Gegenstand ma-
thematischer Naturwissenschaft, aber nur um den Preis, dass das Phä-
nomen der Bewegung als solches eliminiert wird. Leibniz, einer der
beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat das genau gewusst:
Die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung hat nur ein
Konstrukt zum Gegenstand. 8
Von einer Grundkonstellation diskreter Entitäten und ihrer Bewe-
gung in Raum und Zeit zu sprechen bedeutet somit schon, von der
anthropomorphistischen Voraussetzung auszugehen, dass unsere
Perspektive auf die Welt wahrheitsfähig ist und also nicht nur etwas
über uns selbst, sondern etwas über die Welt auszusagen vermag. Die
damit vorausgesetzte Ähnlichkeit zwischen uns und der betrachteten
Welt aber wird in den neuzeitlichen Naturwissenschaften prinzipiell
6
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204.
7 Ebd. 203.
8
Ebd.
892
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
893
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
9 Vgl. die Ausführungen zu dem Satz aus »Personen«: »Es handelt sich bei einem
solchen Ausgang vom ›Subjekt‹ um die Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tat-
sächlich der Subjektivität immer schon vorausliegt.« – S. Abschnitt 12.1.1, Retrospek-
tive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873.
894
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
10
Vgl. den Rückblick auf die kritische Auseinandersetzung Spaemanns mit dem sub-
jektphilosophischen Ansatz in Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte
und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873–875.
895
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
11
Vgl.: »Aussein-auf, Trieb ist die Grundstruktur des Erlebens. Durch den Trieb aber
wird eine doppelte Differenz konstruiert, die Innen-Außen-Differenz einerseits, also
eine Differenz, die die Raumwahrnehmung begründet, und eine andere, die die Zeit-
wahrnehmung begründet, die Differenz zwischen Schon und Noch-nicht, zwischen
Antizipation und dem in der Antizipation Antizipierten.« – Spaemann, Personen
(1996), 51.
12 Vgl.: »Solange das Leben im Triebhang befangen ist, solange es in der Stellung der
›Zentralität‹ bleibt, wird ihm die Welt nicht wirklich. Das Andere erscheint ihm nicht
als es selbst. Es erscheint ihm nur als Umwelt, als Triebobjekt.« – Spaemann, Glück
und Wohlwollen (1989), 119.
896
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.
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
θεωρία gab. Diese erscheint bei Aristoteles als eine äußerste Grenze
des Spielraums menschlicher Tätigkeit jenseits von ποίησις und πρᾶ-
ξις: »Mit der Theorie, mit der denkenden Vergegenwärtigung des
Immerseienden tritt der Mensch aus dem natürlichen Lebenszusam-
menhang heraus. In diesem Heraustreten realisiert er nach Aristote-
les seine höchste Möglichkeit.« 13 Die kontemplative Einstellung wird
hier als eine dem Menschen gegebene Möglichkeit der Betätigung
gefasst, die aber noch nicht zu einer instrumentellen Verfügbarkeit
der θεωρία führt: »Indem aber Vernunft feiernd aus dem mensch-
lichen Lebenszusammenhang heraustritt, um zu vergegenwärtigen,
›was in Wahrheit ist‹ (Hegel), ist sie nicht eigentlich menschlich, son-
dern göttlich.« 14 Nach Aristoteles ragt die Vernunft von außen –
θύραθεν – in den Menschen hinein. Sie ist wesentlich Gabe. Der
Akt der Betrachtung selbst wird noch nicht reflexiv gewendet, θεω-
ρία wird noch nicht als mögliches Mittel zu einem Zweck verstanden:
Zu fragen, wozu das gut sein solle, das heißt in moderner Sprache,
worin die Praxisrelevanz philosophischer Theorie bestehe, ist für Aris-
toteles absurd: in der philosophischen Theorie vergegenwärtigen wir
uns das Ewige, setzen wir uns in Bezug zu dem, was schlechthin Sinn
hat. Jede mögliche Antwort auf die Frage nach der Praxisrelevanz der
theoria könnte nur verweisen auf etwas, das weniger Sinn hat als die
theoria selbst. 15
Erst in der Neuzeit vollzieht sich die »Emanzipation der reinen Theo-
rie in praktischer Absicht« 16, vor allem im Dienste des Interesses an
Naturbeherrschung. Wenn somit prinzipiell die Möglichkeit einer
kontemplativen Einstellung vor der reflexiven Wendung des Denkens
auf sich selbst angenommen wird, knüpft das Gedankenexperiment
an dieser Stelle an die Überlegungen aus dem vorangegangenen Ab-
schnitt an, wonach die Fähigkeit zur Seinswahrnehmung auch Men-
schen vor der Entdeckung der Person und Lebewesen ohne Selbst-
bewusstsein zugestanden wird. 17 Auch wenn die Seinswahrnehmung
für diese sich mit biologischen Funktionen verbindet, enthält sie
einen nicht funktionalistisch interpretierbaren Überschuss, der als
16
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 82.
17 Vgl. Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung,
884–886.
897
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
18
Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung, 886.
898
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.
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
19
Dies wäre das Hervortreten des ›bewandtnislosen Umwillen‹, das den Übergang in
die personale Perspektive bezeichnet. – Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen
(1989), 124, u. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 468–469.
899
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
23 Stallmach, Dynamis und Energeia, 67. – Direkt im Anschluss an die zitierte Text-
stelle bemerkt Stallmach: »Vollends unfaßbar aber scheint es ohne die aristotelische
Voraussetzung, die sich an anderer Stelle uns noch deutlicher zeigen wird, daß Wer-
den nicht um seiner selbst willen, sondern um des (vollkommenen) Seins willen und
darum als solches immer nur Übergangssein ist.« – Ebd. – Gegenüber der so angedeu-
teten Alternative von invertierter Teleologie und Teilhabestreben soll es im hier ver-
folgten Gedankengang im Weiteren um einen dritten Weg gehen.
900
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
24 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
25 Spaemann, Personen (1996), 79.
26
Ebd. 79–80.
901
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.
12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
heit, sein ›Haben einer Natur‹, realisiert. Das Bewusstsein der Kon-
tingenz ist das Bewusstsein der Nicht-Identität des eigenen Daseins-
vollzugs und der Gesamtheit an Bestimmungen, die aus der Innen-
und der Außenperspektive in das eigene Sosein eingehen. Für das
Kontingenzbewusstsein gilt: »Das ›forma dat esse‹ wird sozusagen
noch einmal in Klammern gesetzt.« 27 Es entsteht die Möglichkeit,
sich zur teleologischen Bestimmung der Form noch einmal zu ver-
halten. Ein wesentlicher Grundgedanke der im zweiten Teil entfalte-
ten Ontologie der Person besteht darin, dass diese ontologische Dif-
ferenz nicht als mit der Person entstanden gedacht werden kann,
sondern dass jeder Lebensvollzug – bzw. in erkenntnistheoretischer
Zuspitzung sogar jeder Seinsvollzug – eine analoge ontologische Dif-
ferenz voraussetzt. Lebewesen ohne Selbstbewusstsein bzw. Men-
schen vor der Entdeckung der Person verfügen danach ebenfalls über
die ontologische Differenz, auch wenn sie in einem solchen Maß »in
ihre ›Weise zu sein‹ versenkt« 28 sind, dass sie die Freiheit von ihrer
Natur nicht bewusst realisieren können. In Abschnitt 8.3.3 wurde
dargelegt, dass es dennoch von fundamentaler Bedeutung ist, dass da
etwas in seine Weise zu sein versenkt ist und dass das Leben nicht mit
der von seinem Vollzug ablösbaren Weise zu sein gleichgesetzt wer-
den kann. 29 Daraus ergibt sich bemerkenswerterweise, dass die Trans-
formation der aristotelischen Metaphysik sich nicht allein auf die
Aristoteles unbekannte Person in ihrer ontologischen Differenz be-
zieht, sondern dass diese Differenz, die Aristoteles nicht gegeben war,
da er über keinen Standpunkt gegenüber der Natur verfügte, zurück-
bezogen werden muss auf alles Lebendige bzw. auf alles Seiende über-
haupt, also auch gerade auf die Naturdinge, die Thema der aristo-
telischen Substanzontologie sind. Im Hinblick auf nichtpersonale
Lebewesen handelt es sich dabei um eine Korrektur der aristote-
lischen Sicht, die praktisch nur marginale Auswirkungen hat, theo-
retisch aber um so bedeutender ist. Das Verständnis des Ausseins-auf
auch nichtpersonaler Lebewesen als ontologische Differenz von Es-
senz und Existenz, also die Verknüpfung ihrer Essenz mit einem
Moment erlebter Kontingenz, bedeutet theoretisch, dass in die aris-
totelische Formursache ein Moment der Offenheit hineingenommen
lität, 590–591.
902
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
wird, dass die »Form, die lebend sich entwickelt« 30, nicht vollständig
geprägt sein kann. Wenn das teleologische Aussein-auf in diesem
Sinn als Präformation der im personalen Daseinsvollzug bewusst
werdenden ontologischen Differenz gefasst wird, die die Person als
›Haben einer Natur‹ erlebt, ergibt sich eine abgestufte Offenheit te-
leologisch verfasster Wesen, zu deren zu verwirklichender Form es
gehört, eine Offenheit für Begegnendes zu haben. Die ontologische
Bedeutung der Begegnung besteht dann unabhängig von den Stufun-
gen der Offenheit prinzipiell darin, dass sich durch sie kontingente
Räume der Selbstkomposition des Seins eröffnen. Dabei ist mit dieser
Transformation der aristotelischen Teleologie keineswegs ein Schritt
in Richtung universalteleologischer Vorstellungen getan. Der onto-
logische Gedanke der Begegnung beinhaltet vielmehr eine Einschrän-
kung der individualteleologischen Vorstellung des Aristoteles, aber
keine Anleihe beim Gedanken der Welt als ökologisches System. 31
Dagegen ist mit diesem Gedanken sehr wohl eine Modifikation des
aristotelischen Teilhabestrebens verbunden, denn der finis cuius ist –
in Abstufungen – innerweltlich auf Begegnendes bezogen. Das Unbe-
dingte ist nicht ausschließlich ein transzendentes Prinzip – der unbe-
wegte Beweger –, sondern erscheint innerweltlich in der Weise des
Bildes. An dieser Stelle nun werden die Gedanken eingeholt, die oben
zur Erklärung des Sachverhalts vorangeschickt werden mussten, dass
in der Grundkonstellation der Betrachtung sich begegnender diskre-
ter Entitäten vom Nebeneinander der Standpunkte des Interesses und
der Kontemplation und ihrer wechselseitigen Durchdringung aus-
gegangen werden muss. Im Sinne der Fundierung der kontemplativen
Einstellung in der von außen kommenden Vernunft ergab sich bei
Aristoteles eine strikte Trennung zwischen dem ζῷον λόγον ἔχον
und allen übrigen Lebewesen; während diese durch ihre immanente
Formursache geprägt werden, sind jene zur reinen Schau der Prinzi-
pien und Ursachen des Seins in der Lage. Für die Begegnung, die, wie
gesehen, als eine Vermittlung der Haltungen des Interesses und der
Kontemplation gedacht werden muss, war in dieser Lehre kein Platz.
Durch die Transformation der aristotelischen Metaphysik im Sinne
30 Vgl. »Urworte, orphisch. ΔΑΙΜΩΝ, Dämon«, in: Goethe, Werke (HA), Bd. 1,
359.
31 Von dieser Transformation der aristotelischen Teleologie ausgehend ließe sich auch
der von Aristoteles vertretene Gedanke der Ewigkeit der Arten korrigieren, so dass
eine Annäherung des teleologischen Denkens an Erkenntnisse der Biologie möglich
würde.
903
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
32Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und
Glaube, 722.
904
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
906
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
36
Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 603–613.
37
Spaemann, Personen (1996), 29.
907
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
908
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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung
das Subjekt sich der Begegnung, verliert es sich selbst, bleibt das Sub-
jekt gegen seine Natur in seiner Natur. 38 Lässt es aber in der Begeg-
nung das Überschreiten zu, überschreitet die Natur das Bewusstsein
auf ein Diesseits seiner selbst. 39 Für bewusstes Leben ist es somit un-
vermeidbar, dass das zu Bewusstsein kommende Aussein-auf um sei-
ne Unvordenklichkeit gebracht wird. Lebensregungen können uns
grundsätzlich nur als schon bewusste gegeben sein. Zum Leben selbst
haben wir nur Zugang nach der Formel: Leben ist »bewusstes Leben
abzüglich des Bewusstseins« 40. Die Bedeutung der Erinnerung, die
wesentlich die Differenz zwischen der subjektphilosophischen Positi-
on und der Philosophie der Begegnung ausmacht, besteht in der Re-
flexion auf das in allen personalen Vollzügen präsente Unvordenk-
liche des natürlichen Ausseins-auf. Diese Reflexion aber wird für
Personen nur konkret, wenn sie auf den für sie immer schon er-
öffneten apriorischen Beziehungsraum bezogen wird. Die Natur wird
für die Person, die zum autonomen Rückzug in die Reflexionsposition
in der Lage ist, erst durch die Begegnung in Erinnerung gebracht, in
der sich das Zum-Sein-Kommen durch die Wahrnehmung von Sein
ereignet. An dieser Stelle kann nun auf die eingangs gestellte Frage
eingegangen werden, inwiefern es ›geistige‹ Bewegungen gibt, die für
Personen an die Stelle der physischen treten, und was unter diesen
genau zu verstehen ist. Gegenüber der Verankerung der Bewegung
im individualteleologisch verstandenen Verhältnis von δύναμις und
ἐνέργεια in der aristotelischen Metaphysik geht es der Philosophie
der Begegnung um die Bewegung diskreter Entitäten als Bedingung
ihres Zum-Sein-Kommens. Aus dem Gang der Gedanken wurde
deutlich, dass der Rückzug in die Autonomie der Reflexionsposition
für Personen die Verweigerung der Bewegung bedeutet, die zur Be-
gegnung führen kann. Dementsprechend kann die Öffnung des ›sub-
38
Vgl.: »Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst sich
nur, wenn wir den Begriff der ›Natur‹ teleologisch fassen und den Menschen als von
Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen verstehen.« – Spaemann, Natur
(1973), 32–33.
39 Vgl.: »Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust,
Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn
charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jen-
seits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer
schon in einer teleologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die
uns mit allem Lebendigen verbindet.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito
Sum (1987), 138.
40
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 200.
909
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
910
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12.3 Offene Fragen und Ausblick
Für eine philosophische Konzeption wie die der Philosophie der Be-
gegnung, die in einem so hohen Maß als Naturphilosophie bezeich-
net werden kann, sollte der interdisziplinäre Dialog mit den Natur-
1 Die Grundlage für eine solche Unterscheidung sind nur die bisher publizierten
Schriften Spaemanns.
911
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
6
Löw, Philosophie des Lebendigen, 274.
912
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12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften
336, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 686. – Adolf Portmann
wendete sich etwa in »Aufbruch der Lebensforschung« (1965) gegen mechanistische
Erklärungsversuche des Organismus.
10 Vgl. Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 263, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als
Apriori der Evolution, 688. – Cramer und Kaempfer vertreten in »Die Natur der
Schönheit« (1992) angelehnt an Erkenntnisse u. a. der nichtlinearen Mathematik,
der Untersuchung dissipativer Strukturen in der Chemie und der sogenannten Chaos-
forschung die These, dass Schönheit in Natur und Kunst sich im Übergang vom Chaos
zur Ordnung und der Ordnung zum Chaos zeigt und dass sich somit im Phänomen
der Schönheit ein Urprinzip natürlicher Entstehungsprozesse zu erkennen gibt.
913
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
Richtung andeuten, in die eine auf den Ergebnissen dieser Arbeit auf-
bauende Bemühung um die Intensivierung des interdisziplinären
Dialogs der Philosophie der Begegnung mit den Naturwissenschaften
gehen könnte. Der russisch-belgische Physikochemiker Ilya Prigogi-
ne (1917–2003), der im Jahre 1977 den Nobelpreis für Chemie für
seinen Beitrag zur irreversiblen Thermodynamik erhielt, entdeckte
die sogenannten dissipativen Strukturen bzw. das Phänomen der dis-
sipativen Selbstorganisation. Es geht dabei um thermodynamische
Systeme, die in einem »vom thermodynamischen Gleichgewicht
›weit entfernten‹ Zustand existieren, der sich aus einem ursprünglich
instabilen Zustand entwickelt hat« 11. Dissipative Strukturen entste-
hen also, vereinfacht ausgedrückt, durch Selbstorganisation im Über-
gang vom Chaos zur Ordnung. Dissipativ heißen sie, »wenn das Sys-
tem für den Austausch von Energie mit der Umwelt offen ist, sich
durch diesen Austausch aufrechterhält und ständig erneuert« 12. Ein
einfaches Beispiel einer dissipativen Struktur ist »die Flamme, die bei
ständiger Zu- und Abführung von Materie und Energie selbst zeitlich
unverändert bleibt« 13. Charakteristisch für dissipative Strukturen ist,
dass sie nie völlig stabil sind und an den sogenannten Bifurkations-
punkten ihr Verhalten auf nicht vorhersehbare Weise ändern. 14
M. Heidelberger bemerkt zur philosophischen Bedeutung dieser Ent-
deckung Prigogines:
Prigogine sieht in seiner Theorie einen neuen Ansatz für eine Physik
und Philosophie des Werdens und der Zeit. Die klassische Physik, aber
auch die Physik Einsteins und der Quantenmechanik sind statisch, da
sie die Reversibilität aller Vorgänge annehmen und so keine privile-
gierte Zeitrichtung akzeptieren. Es gibt aber genuin irreversible Pro-
zesse, mit denen die Zeit auf eine substantielle Weise wieder ins Spiel
kommt. Eine Weltsicht, die die Gerichtetheit der Zeit als eine fun-
damentale Eigenschaft akzeptiert, schafft Raum für die menschliche
Freiheit und Kreativität. Im statischen Weltbild hingegen erscheint
14
Vgl. Heidelberger, Selbstorganisation, in: HWPh IX, col. 512.
914
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12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften
das Universum als Automat, der die Freiheit des Menschen und seine
Geschichtlichkeit ausschließt. 15
Die philosophisch relevante Bedeutung der Entdeckung Prigogines
besteht also darin, dass die Irreversibilität der Zeit, die für personales
Leben eine nicht hintergehbare Bedingung seines Selbstverständnis-
ses ist, – statt aus der Sicht des Physikalismus als idiosynkratischer
Zug des menschlichen Bewusstseins eliminiert zu werden – auf die
physikalische Welt selbst bezogen wird. Wenn die Vorgänge der
Wirklichkeit, die die Physik untersucht, nur durch Abstraktion als
lineare betrachtet werden können, eigentlich aber nichtlinearer Art
sind, für sie also dieselbe Irreversibilität der Zeit gilt wie für den
Menschen in seinem Daseinsvollzug, ist die aus unserer Selbsterfah-
rung sich unvermeidbar ergebende Weltsicht nicht länger ein An-
thropomorphismus. Zugleich impliziert die Entdeckung Prigogines
ein Unbestimmtheitsprinzip in dem Sinne, dass ein universaler kau-
saler Determinismus nicht am Fehlen einer ausreichenden Rechen-
kapazität scheitert, sondern dadurch prinzipiell ausgeschlossen ist,
dass nichtlineare Systeme in ihrer Entwicklung den Bifurkationsweg
ins Chaos einschlagen können. Mit Bezug auf diesen naturwissen-
schaftlichen Ansatz, den Prigogine selbst in Zusammenarbeit mit
der belgischen Philosophin Isabelle Stengers versuchte auf seine phi-
losophische Bedeutung hin zu durchdenken, 16 wäre ein interdiszipli-
närer Dialog ausgehend von der Philosophie der Begegnung durchaus
denkbar. Es wäre dabei zu untersuchen, inwiefern Prigogines Unbe-
stimmtheitsprinzip mit der Annahme eines teleologischen Ausseins-
auf in der Natur vereinbar ist und inwiefern Personalität in Analogie
zu dissipativen Strukturen bzw. Ereignisse der Begegnung als Bi-
furkationspunkte verstanden werden können. Prigogine kann damit
als Beispiel einer Ausprägung der Naturwissenschaft betrachtet wer-
den, die durch indeterministische Implikationen den Dialog auch mit
einer an die aristotelische Teleologie anknüpfenden Philosophie mög-
lich machen würde, ganz im Sinne des Wortes aus der »Nikoma-
15 Ebd. col. 512–513. – In der Anmerkung zum Zitat verweist der Autor auf folgende
Quellen: I. Prigogine: From being to becoming – Time and complexity in phys. sci.
(San Francisco 1980), dtsch. (1979, 61992); I. Prigogine/I. Stengers: La nouv. alliance.
Métamorph. de la sci. (Paris 1979), dtsch. (1980). – Ebd. col. 514.
16
Siehe: I. Prigogine, I. Stengers, La Nouvelle Alliance (1979), deutsch: Dialog mit
der Natur (1981), und I. Prigogine, I. Stengers, Entre le temps et l’éternité (1988),
deutsch: Das Paradox der Zeit (1993).
915
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
»Jahrhundertelang mag man dies als eine negative Aussage verstanden haben, als
einen Aufruf zur Resignation. Heute können wir die positive Bedeutung dieses Satzes
erfassen, wie es der von uns beschriebene Wandel des Chaosbegriffs belegt. Solange
wir gefordert haben, daß alle dynamischen Systeme den gleichen Gesetzen gehorchen
müßten, war das Chaos ein Hindernis. In der geschlossenen Welt der klassischen Ra-
tionalität konnte das Streben nach Erkenntnis leicht zu geistiger Überheblichkeit füh-
ren. In der offenen Welt, die wir jetzt zu beschreiben lernen, bedingen Erkenntnis und
praktische Weisheit sich gegenseitig.« – Prigogine/Stengers, Das Paradox der Zeit,
322.
18
Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 601.
916
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12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition
19
Spaemann, Personen (1996), 82.
917
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
918
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12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition
20
Es geht dabei um die Begegnungen der Hauptfiguren Jurij Živago und Larisa Anti-
pova, insbesondere um die, von denen am Ende des zweiten Teils und im 13. Teil
erzählt wird.
919
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
21
Vgl. Teilkapitel 1.1, Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs,
19–27.
22
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 330.
920
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.
12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs
23
Buber, Werke I, 85.
24 Ebd. – In diesem Zusammenhang ist auch ein vergleichender Seitenblick auf E. Le-
vinas lohnend, der sich in »Totalität und Unendlichkeit« explizit von Buber abhebt,
wenn er mit Bezug auf dessen Grundwort Ich-Du schreibt: »Man kann sich indes
fragen, ob das Du nicht den Anderen in eine Beziehung der Gegenseitigkeit bringt
und ob diese Gegenseitigkeit einen ursprünglichen Sachverhalt trifft. Andererseits
bewahrt die Ich-Du-Beziehung bei Buber einen formalen Charakter: Sie kann ebenso
Menschen mit den Dingen vereinen wie den Menschen mit dem Menschen. Der For-
malismus des Ich-Du bestimmt keinerlei konkrete Struktur. Das Ich-Du ist Ge-
schehen, Stoß, Verstehen – aber es erklärt nur die Freundschaft und keine andere
Lebensform: etwa die Ökonomie, die Suche nach dem Glück, den Vorstellungsbezug
zu den Dingen. Letztere bleiben in einer Art verächtlichen Spiritualismus’ un-
erforscht und unerklärt. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den lächerlichen An-
spruch, Buber in diesen Punkten zu ›korrigieren‹. Indem sie von der Idee des Unend-
lichen ausgeht, steht sie in einer anderen Perspektive.« – E. Levinas, Totalität und
Unendlichkeit, 92. – Obwohl Levinas von einer absoluten Passivität im Verhältnis
zum Anderen ausgeht und sich insofern von Bubers hier zitierter Darstellung unter-
scheidet, ergibt sich doch bei ihm eine ähnlich wie bei Buber paradoxe Situation im
Sagen des Ereignisses der Begegnung. Vgl.: »Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert
worden, doch gleichzeitig auch der ›Urheber‹ (auteur) des Sagens des Ereignisses.
Das Zeugnis der Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas
ander[e]s als mich und doch nur mich. […] Levinas spricht diesbezüglich von der
›Ambiguität der Inspiration‹ […].« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Em-
manuel Levinas, Jean-Luc Marion, 303. – Um die Buber und Levinas gemeinsame
Affinität zu paradoxen Denkfiguren philosophisch fruchtbar machen zu können, be-
dürfte es einer Konzeption, die das logische Prädizieren als Paradoxie selbst von einer
grundsätzlicheren Position aus relativieren könnte.
25
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 317.
921
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
922
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.
12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs
30
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 501.
31 Ebd. 491.
32
Ebd. 490.
923
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
924
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.
12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes
sophie immer schon transzendiert« 37 haben. Für beide Denker hat die
kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen ›cogito sum‹ zen-
trale Bedeutung. 38 Der für Spaemanns metaphysisch-analoges Den-
ken grundlegende Schritt vom ›cogito‹ – gegen seine Hypostasierung
zur unabhängigen Entität bei Descartes – zurück auf das lebendige
Subjekt ist auch das zentrale Anliegen Merleau-Pontys in seinem
Hauptwerk, das er durch eine Theorie der Leiblichkeit zu verwirk-
lichen sucht. Obwohl sich bei Merleau-Ponty keine explizite Aus-
einandersetzung mit dem teleologischen Denken finden lässt, liegt
seiner Deutung menschlicher Subjektivität offensichtlich das zu-
grunde, was bei Spaemann als Aussein-auf bezeichnet wird:
Allen Bedeutungen des Wortes »Sinn« zugrunde liegend finden wir
den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht
selber ist, orientiert oder polarisiert ist, und alles verweist uns so auf
den Gedanken des Subjekts als Ek-stase und auf ein aktives Transzen-
denzverhältnis zwischen Subjekt und Welt. 39
Im Unterschied zur Philosophie Spaemanns spielt dieser Gedanke des
Ausseins-auf bei Merleau-Ponty jenseits der Betrachtung mensch-
licher Selbsttranszendenz keine Rolle. Dennoch ist es gerade die we-
sentliche Gelenkstelle zwischen der Teleologie und der Personalität in
Spaemanns Denken, an der sich der Ansatz Merleau-Pontys systema-
tisch verorten lässt. Im Abschnitt 8.4.1 der vorliegenden Arbeit wur-
de erläutert, dass eine wesentliche Schwierigkeit, das Verhältnis der
Personen im apriorischen Beziehungsraum zu denken, in der Ver-
mittlung von Subjektivität und Intersubjektivität besteht. Es wurde
gezeigt, dass nach Spaemann durch die dialektische Gegenüberstel-
lung von Subjektivität und Intersubjektivität bereits der Blick auf
den eigentlichen Zusammenhang verstellt ist, 40 von dem aus eine Lö-
sung entwickelt werden kann, dass nämlich »Leben und Bewußtsein
ein Kontinuum bilden« 41. Die Idee eines solchen Kontinuums von
Leben und Bewusstsein bildete zumindest seit den Essays der 80er
Jahre einen Leitgedanken Spaemanns, ohne dass er ihn allerdings im
37 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«, 46.
38 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Kapitel »Das cogito«,
421–465.
39 Ebd. 488–489.
40
Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 604–606.
41
Spaemann, Personen (1996), 169.
925
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
45 Ebd. 6.
46
Ebd. 283.
47 Ebd. 229.
48
Ebd. 346.
926
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12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes
52 Vgl. Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85, u. Abschnitt 8.2.3, Metaphysi-
54
Ebd. 6.
55 Ebd. 430.
56
Ebd., 437.
927
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
wähnt, vgl. z. B. Spaemann, Perspektive und view from nowhere (2005), 273, Ders.,
Was heißt »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 342, Ders., Antinomien der
Liebe (2007), 22, Ders., Über Gott und die Welt (2012), 267.
65 Titel im Original: »Смысл идеализма«. – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 68–144. –
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
блемы.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 83. – Deutsch: »Das Problem der Univer-
salien ist der Gipfel des Grundroblems der Philosophie und man muss nichts von
Philosophie verstehen, um dieses Problem nicht zu sehen.« (Übersetzung: MM)
67
Vgl. Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 79–83.
68 Vgl.: »[…] метафизический и гносеологический эгоизм«, ebd. 83.
69
Vgl.: »[…] движения реалистические порождаются ощущением срод-
ственности бытия«, ebd. 84.
70 Im Original: »возрожденская цивилизация« – vgl. z. B. »Итоги«, deutsch:
930
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
die Wahl der Selbsttranszendenz kann das Gesetz der Identität über-
wunden werden, wodurch sich die von Zen’kovskij erwähnte philo-
sophische Einbindung des Erkenntnisakts in unsere Handlungsvoll-
züge ergibt. Der paradigmatische Fall dieses Erkenntnisakts ist für
Florenskij die Wahrnehmung der ›Person‹ (ličnost’): »Die Erkenntnis
ist also kein Ergreifen des toten Objekts durch das raubgierige gno-
seologische Subjekt, sondern eine lebendige sittliche Gemeinschaft
der Personen, von denen jede jeder als Subjekt und als Objekt dient.
Im eigentlichen Sinne erkennbar ist nur die Person und nur durch
die Person.« 73 Ebenso wie für Spaemann ist die Person für Florenskij
kein »qualitativer Bestand« 74, geht ihr ›esse‹ nicht in ihrem ›percipi‹
auf: 75
[…] die menschliche Person, die nicht sinnlich gegeben ist, die überall
im Sinnlichen durchscheint, immer im Sinnlichen schimmert ähnlich
einem sich hinter einem Zaun Verbergenden, gerade sie ist das ens
realior im Vergleich zu der sinnlichen Hülle, in der sie wahrgenom-
men wird; die Person ist eine Realität mit einer höheren Dichte im
Vergleich zu der mageren Realität der Sinnlichkeit. 76
Wie bei Spaemann ist die Person bei Florenskij paradigmatisch für die
ontologische Differenz, die erst von ihr bewusst wahrgenommen wer-
den kann, das Sein aber insgesamt durchwirkt: »Nichts Äußerliches
für sich genommen kann mit dem Universale gleichgesetzt werden;
andererseits aber ist alles in der einen oder anderen Weise von ihm
durchleuchtet.« 77 An dieser Stelle klingt die für die russische Philoso-
phie typische Gedankenfigur der ›Ungetrenntheit‹ und ›Unvermisch-
75
Vgl. ebd. 191.
76 Im Original: »[…] личность человеческая, не данная нам чувственно, по-
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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung
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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens
81Vgl. den »philosophischen Nekrolog« von Vladimir Mironov und Dagmar Miro-
nova auf Robert Spaemann »Философ и общественная позиция. Роберт Шпе-
ман (1927–2018)«, [Deutsch: »Philosoph und gesellschaftliche Position. Robert Spae-
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Schlusswort
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Schlusswort
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tion genannt, wenn dieses von dem der im Rahmen dieser Arbeit benutzten
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Personenregister
Adorno, Theodor W. 98 f., 308, 911 Buchheim, Thomas 79 f., 352, 517,
Albertus Magnus (Albert der Große) 557, 558–560, 685, 705–707, 716–
204, 235, 240, 359, 374 723
Anaxagoras 220 f.
Aristoteles 45 f., 52, 54, 59, 85, 119, Campanella, Tommaso 122, 141, 246
122, 174–177, 220, 222, 225–233, Comte, Auguste 124, 167, 363
235–239, 241 f., 274, 287, 290, 306, Cramer, Friedrich 688, 913
308, 312–314, 323, 324–330, 333, Cusanus, Nikolaus 693
335 f., 338 f., 341–343, 346, 348, Darwin, Charles 248–250, 252–254,
359, 362, 368 f., 373 f., 378, 386, 687
396, 398, 424, 431, 439–446, 452,
468, 485, 489, 500, 506 f., 533 f., Descartes, René 47–50, 60, 103, 107,
536, 540 f., 543, 573, 578, 580, 582, 119–121, 153–158, 178, 181, 245,
614, 638, 654, 684, 692 f., 734, 770, 309–313, 323 f., 335, 340, 341–351,
791 f., 804 f., 869–874, 876, 878, 360 f., 363, 373, 376–380, 387, 391,
882, 885 f., 897, 900–903, 912 399, 405 f., 460, 512, 522, 525–529,
Augustinus 78, 103, 204, 354, 359, 531, 533–539, 542, 548–552, 558,
483, 505, 569, 630, 793 f., 803 f., 562 f., 573, 594, 606 f., 639, 643 f.,
875 676, 709, 711 f., 714, 727, 731, 741,
Averroes 235, 237, 244 765, 781 f., 800, 815 f., 830, 832,
Avicenna 235, 237, 338, 526, 581 873–875, 912, 925
Duns Scotus 235, 274, 534
Bacon, Francis 139, 217, 246, 377, Duplá, Leonardo Rodriguez 472 f.,
730 478
Bexten, Raphael E. 534, 579
Bloch, Jochanan 23, 25 f., 57, 920, Ebeling, Hans 142 f., 878
923 f. Empedokles 229
Blumenberg, Hans 142, 878 Epikur 140, 159, 234, 445 f.
Boethius 579, 792, 804
Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de Fénelon, François 103, 113, 133–184,
102–125, 133, 135 f., 138, 167, 180, 187, 190, 204, 212, 219, 240 f., 246,
186 f., 246 f., 300, 319, 342, 350, 294, 320 f., 337, 350, 434, 450 f.,
363, 444, 735, 761 480, 562, 602, 613, 694 f., 747
Breitsameter, Christof 200, 205, 869 Fichte, Johann Gottlieb 21, 183, 868
Buber, Martin 19–21, 23–26, 28, 58, Florenskij, Pavel Aleksandrovič 890,
184, 851, 920–924 928–933, 935 f.
959
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Personenregister
Foot, Philippa 673 363, 369, 393, 399 f., 415 f., 421 f.,
Foucault, Michel 389–391, 652 425 f., 451–454, 460, 465, 476,
Frankfurt, Harry G. 510, 602, 628, 480 f., 484, 495–497, 499 f., 505 f.,
732, 801, 840, 852, 911 523, 537 f., 543, 553 f., 570, 615,
620 f., 682 f., 695, 704, 741 f., 749,
Goethe, Johann Wolfgang von 28–32, 787, 795, 798, 802, 805, 823, 827,
412, 482, 518, 656, 903, 918 f. 832, 835
Grimm, Jacob und Wilhelm 22, 662, Kleist, Heinrich von 172–174, 621,
890 695
Kobusch, Theo 628, 786–788, 789–
Habermas, Jürgen 100, 491, 871 807, 809 f., 818, 828, 832, 861–863
Hartmann, Nicolai 98, 768 Kruse-Ebeling, Ute 379 f., 471, 684 f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, Kuciński, Andrzej 281, 286, 520, 757,
52 f., 57, 68, 99, 102, 111, 114, 176, 759, 775–784, 861
258, 268, 271, 297, 299, 308, 316, Kuhn, Thomas S. 253,
330, 345, 398, 444, 560, 572, 584,
726, 793, 796, 868, 897 Langthaler, Rudolf 553, 620
Heidegger, Martin 48, 98, 323–325, Larmore, Charles 608
327, 330, 340 f., 373, 400, 465, La Rochefoucauld, François de 146 f.,
468 f., 614, 768, 926 190
Henrich, Dieter 63 f., 142 Leibniz, Gottfried Wilhelm 50, 103,
Hobbes, Thomas 49, 111–113, 115, 113, 158–161, 180, 321, 324, 351–
203, 245, 278 f. 361, 363, 385, 562, 694 f., 732, 748,
Hoerster, Norbert 515 f. 810, 818, 821, 832, 842, 892
Homer 436, 564 f. Lessing, Gotthold Ephraim 748
Horkheimer, Max 98 f., 308, 911 Levinas, Emmanuel 21, 419, 827,
Hume, David 49 f., 103, 512, 525, 921
529, 531–533, 535 f., 587, 703, Lewis, Clive Staples 460
832 Locke, John 49, 103, 512, 525, 529–
Husserl, Edmund 23, 47, 346, 538, 533, 535 f., 587, 787, 810, 818–823,
551 f., 670, 674, 760 831 f., 840–843
Lorenz, Konrad 251, 257, 260
Isak, Rainer 280–286, 291, 867–869, Löw, Reinhard 185, 215–291, 320,
912 f. 723, 777, 780, 867 f., 870–872, 900,
912
James, William 634
Jantschek, Thorsten 519 f. Madigan, Arthur 757 f.
Jaspers, Karl 268, 707–715, 768 Marcel, Gabriel 21, 923
Jean Paul 146, 180, 183 f. Meisert, Stefan 624, 757
Jonas, Hans 266, 284, 871, 913 Meister Eckhart 297 f.
Merleau-Ponty, Maurice 924–927
Kaempfer, Wolfgang 688, 913 Musil, Robert 35, 537
Kallikles 305, 387–389
Kant, Immanuel 42, 44, 50–52, 54, Nagel, Thomas 548, 657, 813, 815,
56 f., 66, 68, 74, 77–80, 109 f., 141, 828, 911
168–171, 183, 197, 243, 250 f., 255, Nietzsche, Friedrich 74, 187, 261 f.,
261–267, 308 f., 311, 325, 340, 361– 268–272, 395, 453–455, 460, 477,
960
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Personenregister
668, 723 f., 726, 750, 792, 796, 798, Schönberger, Rolf 47, 273, 336, 338,
805, 891 f. 346, 582, 705, 724, 758, 768–774,
Nusser, Karl-Heinz 382, 560 861
Schopenhauer, Arthur 169 f., 174,
Origenes 576, 799 268, 291, 453 f., 465, 470, 796, 808
Ortega y Gasset, José 750–753 Schramm, Matthias 218 f., 250, 254,
263
Pareto, Vilfredo 304 Schweidler, Walter 33, 60, 670, 683,
Parfit, Derek 515, 533, 786 737 f., 739
Pascal, Blaise 183, 335, 413, 704 Singer, Peter 515–517, 533
Paulus 199, 567 f., 706, 710 Sokrates 22, 191, 220, 326, 388 f., 436,
Philon von Alexandreia 78 530, 650, 709, 795
Pietrowski, Damian 89, 520, 757 Spinoza, Baruch de 53, 68, 112, 122 f.,
Platon 22, 59, 174, 176 f., 191, 207, 138–141, 200, 247 f., 270, 362, 751
219, 220–225, 226 f., 231, 233, 235, Strauss, Leo 210, 242, 871
246, 258, 262, 292, 294, 305, 308, Struve, Wolfgang 55–59, 76
327, 329, 353 f., 375, 384, 386–396, Sturma, Dieter 785–788, 808–836,
398, 422, 424, 431, 435–440, 444 f., 862 f.
452, 489, 500, 506 f., 536, 554, 564– Suarez, Francisco 175, 360, 795, 798
566, 580, 633, 650, 653 f., 663, 682,
691 f., 707, 709–713, 790, 880, 929 Taylor, Charles 800
Plessner, Helmuth 61, 69, 75, 392, Telesio, Benardino 122, 141, 246
447, 458, 798 Tetens, Holm 67, 545
Plotin 59, 297, 575 f. Theunissen, Michael 19 f., 23–25,
Portmann, Adolf 686 f., 884, 913 57 f., 750, 920–923
Putnam, Hilary 512, 753 f., 889 Thomas von Aquin 52, 112, 126–131,
139, 150, 161–166, 174, 178 f.,
Quante, Michael 785, 787 f., 837–859, 199 f., 219, 234–241, 246, 274,
862 f. 286 f., 321, 326, 332–336, 339,
Quine, Willard van Orman 326, 341, 353 f., 357, 359, 361, 374, 448 f.,
363, 365, 374, 656 452, 471, 536, 580–582, 587, 680,
719, 730, 780, 804, 807, 869, 871–
Ricœur, Paul 528, 800 875, 877, 882, 901
Ritter, Joachim 85, 98–100, 102, 105,
124 f., 136, 211, 313–315, 911 Wald, Berthold 807
Rousseau, Jean-Jacques 108 f., 112 f., Wetz, Franz Josef 73–75
115, 180, 185 f., 187–214, 241, 285, Whitehead, Alfred North 361–371,
296 f., 316, 321, 446, 465 f., 469, 562, 735, 768, 911
639 f., 795 Wittgenstein, Ludwig 88, 345, 403,
407, 816
Scheler, Max 510, 630, 666, 668–679,
683, 688, 714 Zaborowski, Holger 33–35, 121 f.,
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 125, 294, 520, 561, 754, 757–759,
557, 561, 762, 767, 824, 832 f. 760–767, 861
Schiller, Friedrich 453, 872 Zwierlein, Eduard 246, 375, 597, 704
961
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.
Sachregister
Absolute, das 125, 136, 186, 240, 246, Analogie, analog (s. auch metaphy-
258, 292–294, 299 f., 302 f., 309, sisch-analoges Denken) 42, 51, 76,
318, 354, 379, 382, 396, 398, 406, 197, 259, 267, 278, 329 f., 335,
409–411, 413, 418, 447, 466, 472, 342 f., 369, 374 f., 377, 383, 389,
481, 503, 508, 514, 576, 593–595, 406, 420, 460, 462, 478, 513, 536,
601, 643, 645 f., 648 f., 667, 677, 552, 558–561, 573, 586–588, 595 f.,
703, 708, 712 f., 719, 737, 802, 866, 599, 646 f., 658–661, 677 f., 684 f.,
904, 935 696, 770, 782 f., 883, 886, 906
Agnostizismus, agnostisch 32, 73, Andere, der/das 21, 37, 43, 54, 56,
265, 591, 697, 819, 882 80 f., 165, 183, 198, 223, 296, 298,
Ähnlichkeit 230, 342, 381, 479, 652– 307, 350 f., 370, 392, 417–419, 427,
666, 673, 677, 680, 684, 726, 742, 448 f., 458 f., 468, 472–476, 483,
883 f., 892 f. 485, 487 f., 494 f., 498, 502, 504,
Aktualisierung, Aktualisierbarkeit 546, 555 f., 568 f., 571, 573, 576,
28, 41 f., 54 f., 65, 68, 86, 286, 328, 607–609, 620, 640, 662, 683, 695 f.,
332, 360, 370, 374, 384, 390 f., 713, 725, 731 f., 773, 776, 807,
393 f., 396–399, 408, 410, 416, 421– 822 f., 827, 834–846, 854, 862 f.,
423, 445, 455 f., 475, 489, 500, 506, 876, 880, 889, 907, 918, 921, 923,
512, 525, 541, 543, 548 f., 551, 935
554 f., 557, 560, 562 f., 572 f., 597, Anerkennung 76, 86, 284, 287, 289,
599, 638, 682 f., 713 f., 722, 736 f., 291, 302, 304, 315, 317 f., 321,
753, 765, 804, 864, 869–871, 874, 326 f., 340, 370, 372, 392–395, 399–
876 f., 881 f., 885 f., 910 401, 406 f., 411, 418, 420, 443, 471,
Akzidens, Akzidentien 46–50, 346, 475, 483, 487 f., 495, 500, 503, 518,
348, 378, 510, 533, 789, 793 523, 542, 549, 553, 556 f., 592,
amor (s. auch ordo amoris) 144, 148, 597 f., 607 f., 616, 631, 660 f., 674 f.,
162, 165, 436, 463, 507, 555, 568– 689, 715, 722, 732–735, 738, 740–
570, 630 742, 753, 771, 773, 781 f., 799, 826,
– amor benevolentiae 394, 396, 411, 828 f., 834–836, 852, 854, 856 f.,
413, 420, 456, 468, 473, 478, 480, 881 f., 884, 889, 906, 929, 931
487, 555, 598, 732, 778 animal rationale, ζῷον λόγον ἔχον
– amor concupiscentiae 178, 394, 119, 444, 587, 618, 862, 903
468, 473, 598 An-sich 331, 448 f., 527, 554, 641
Anachronismus, anachronistisch 54, Anthropologie, anthropologisch (s.
75, 86, 165, 176 f., 325, 328, 737, auch anthropologischer Dualis-
792, 804 mus) 32, 68, 103, 130, 160, 164,
963
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
207, 300 f., 331, 334–337, 339 f., 39, 44 f., 52–58, 67 f., 80–82, 85 f.,
392, 399, 416, 451, 453, 456, 458, 90, 182, 219, 280, 285, 351, 396,
464, 467, 481, 509 f., 512 f., 525, 408 f., 420, 456, 467, 472 f., 475,
537, 549, 555, 564, 571 f., 575, 482, 488, 514, 555 f., 593, 596, 598,
578 f., 583, 618, 644, 736, 742, 766, 602–606, 609–613, 615, 621–623,
777 f., 797, 801, 893 625, 631–633, 636, 648 f., 652 f.,
Anthropomorphismus, anthropo- 659, 665, 675, 680, 725, 732, 737 f.,
morph 29 f., 217, 228, 239, 244, 747, 752–757, 774, 786, 790, 803,
260, 278 f., 282, 288, 342, 364, 381, 805, 808, 811, 832, 835, 839, 861–
478, 657, 661, 737–740, 883, 887, 867, 877, 879–884, 886–891, 894 f.,
891–893, 906, 915 898, 900 f., 903–911, 914 f., 917–
Antinomie 187 f., 211, 287, 422, 439, 920, 922, 935 f.
441, 444, 447–452, 457, 475, 481, Bewandtnis, Bewandtniszusammen-
500, 573, 632 hang 468–472, 554, 569, 588, 771,
Aporie, aporetisch 32, 43, 57, 135, 773, 876 f., 879
206, 213, 421 f., 450, 457, 462, 464, Bewegung 80 f., 85, 221–223, 226–
505, 508, 536, 811, 873 229, 266, 276, 329, 536, 769, 840,
Apperzeption, transzendentale 52, 890–893, 899–901, 904, 906, 909 f.
54, 56 f., 66, 68, 537 Beweislast 218, 276 f., 381, 475, 543,
Apriori, apriorisch 55 f., 66 f., 250, 687, 689, 845, 893, 907
255, 267, 315, 399, 465, 513, 554, Beziehungsraum 598, 601–603, 606,
598, 601–603, 616 f., 625, 630, 644, 610, 612, 644, 651, 680, 774, 856,
651, 666, 676, 681, 687–690, 774, 889, 891, 907–909, 916, 925, 927,
856, 880, 886, 889, 891, 904 f., 907– 932
909, 916, 925, 927, 932 Bild 31, 55, 81 f., 135, 395, 406, 471 f.,
Aufklärung 114, 116 f., 167 f., 191, 474 f., 479, 481 f., 501, 503 f., 507,
202 f., 214, 297–299, 301, 307, 491, 569, 573, 593, 604, 617, 631, 684,
517, 636 694, 699–701, 712, 748, 753, 773,
Aussein-auf 80, 376, 382, 447, 486, 877 f., 880, 886, 899, 903 f., 916
539, 542, 546 f., 549, 585, 587–590, Biologie 248 f., 251–254, 259, 396,
593, 595, 597, 599, 601, 610, 646 f., 686, 692, 912
652, 656, 658, 664, 677 f., 683, 703, Blick von nirgendwo, view from
713, 724 f., 727, 741–743, 872, 874, nowhere 548, 553, 588, 594, 596 f.,
876 f., 882, 885 f., 888, 898 f., 901, 601, 618 f., 663, 677, 731, 874, 917
903, 905, 909, 925, 936
Autonomie 42, 76–79, 154 f., 167, Christentum, christlich 104, 135, 144,
201, 317, 339, 383, 425, 442, 454, 148, 150, 152, 158, 167, 174, 192 f.,
473, 503, 564–566, 631–633, 635, 199 f., 205, 207 f., 219, 234 f., 238,
691, 798, 802, 823, 832, 835, 841, 240, 272, 295–297, 302, 315, 333,
852 f., 908 f. 336–338, 348, 353 f., 395, 399, 403–
Autopoiesis, autopoietisch 538 f., 542, 407, 424, 446–448, 454, 468, 506 f.,
552, 560, 588 509 f., 513, 540 f., 564, 568, 571,
Axiom 138 f., 175 f., 204, 237, 239, 574–580, 583, 626, 668, 692 f., 706,
274, 295, 336, 398, 912 709 f., 726, 732, 762, 765, 778, 786,
794 f., 797, 799, 803–806, 871
Báñezianismus 357, 360 Codierung, doppelte 703 f., 725, 727,
Begegnung 19–22, 24–28, 30–33, 35– 744, 935
964
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
cogito, cogitatio 44, 47 f., 98, 120 f., Diskurs, diskursiv 45, 53, 130, 184,
153 f., 178, 324, 341–351, 372 f., 289, 292 f., 376, 390 f., 393, 413,
376–379, 406, 460, 526 f., 532–535, 419, 421, 495–499, 754 f., 791,
539, 548, 551 f., 573, 586, 600, 606, 806 f., 861 f., 935
642–644, 647, 672, 676, 678, 712, Dualismus, anthropologischer 323,
733, 752, 754, 781 f., 830, 833, 873, 332–334, 339 f., 348, 350, 365, 377,
906, 925, 927 385, 396, 405, 447, 539–542, 642,
cognitio certa 153, 155, 165, 526, 542, 874
598 f., 639, 688, 708, 710 f., 713 dynamis/energeia, δύναμις/ἐνέρ-
conditio humana 317, 328, 333, 340, γεια 225, 368, 884, 900, 905, 909
411, 439–442, 456, 464, 466, 487 f.,
504, 612, 623, 638, 734, 737, 754, Einheitspunkt (von Ethik und Onto-
806, 832, 862 f., 895 logie/Metaphysik) 417, 419, 421 f.,
476–479, 504, 508, 512 f., 561, 564,
Darwinismus 248 f., 252–254, 269 569, 598
delectatio 159–161, 178, 694 f., 732 Emanzipation 189, 195, 197 f., 205 f.,
Determinismus 79, 357, 360 f., 626 f., 243, 279, 309, 649, 737, 743, 897
811 f., 915 Empirismus 49 f., 529, 533, 535, 767
Dialektik, dialektisch 20, 25, 57 f., 60, Entdeckung der Person 508, 513,
98 f., 106, 114–117, 122, 129, 177, 563–565, 571–574, 581, 583–585,
197 f., 200, 202, 214, 223, 269, 297, 588, 592, 596, 598 f., 602, 606, 613,
307, 313, 324, 345, 351, 364 f., 373, 615, 618, 627, 636, 638, 656, 663 f.,
377 f., 398 f., 541 f., 551–554, 566, 697 f., 704, 713 f., 740, 767, 786,
600, 604 f., 642 f., 657, 670, 699 f., 803, 856, 896 f., 902, 907 f., 924
710–712, 728, 731, 737, 740 f., 744, Entelechie, ἐντελέχεια 122, 198, 204,
750, 752–754, 760 f., 765, 777, 782, 213, 227 f., 539, 884, 900
863, 874, 882, 905, 910, 922 f., 925 Entfremdung (Selbstentfremdung)
Dialog, dialogisch 19–25, 38, 183, 81, 99, 135, 147, 152, 176, 187, 190,
797, 920, 922–924 192, 194, 205, 207–209, 562, 639
Dialogik, Dialogphilosophie 20 f., 23, Entität 71, 74, 521 f., 527, 529, 534 f.,
25–28, 42, 53, 57, 184, 798, 920, 922 538 f., 548 f., 551, 553, 571, 586,
Diastase 58, 710, 767 595, 600, 606, 626, 651, 654, 657,
Differenz 32, 42, 62 f., 68–71, 82, 88, 659, 661, 676 f., 733, 738, 740, 743,
127–129, 338, 346, 527, 546, 572, 752, 754, 786, 807, 819, 822, 827,
577–579, 581, 589, 596, 602, 618 f., 833, 837 f., 840, 844, 846, 850, 858,
622, 625, 653, 700, 715, 726, 731, 873, 875, 881 f., 887, 890–896, 898–
747, 899 901, 903–906, 909, 917, 925, 936
– Innen-Außen-Differenz 523, Entropie (s. auch Negentropie) 602,
539 f., 546 f., 552 f., 587 f., 595, 874, 604, 609, 611, 613, 622, 648, 688,
882, 895 f., 898 f. 718, 879
–, innere 59, 128, 130, 339, 349, 578, Entscheidung 21, 303, 306, 463 f.,
580, 585, 617, 620, 624 f., 783, 901 476, 503, 506, 540, 566, 569–571,
–, ontologische 73, 76, 150, 224, 231, 574 f., 588, 591, 594, 619, 629 f.,
585, 588, 596, 599, 651 f., 663, 632 f., 713, 715, 725 f., 777, 780,
665 f., 677 f., 685, 689 f., 712, 715, 875, 930
738, 773 f., 784, 870, 874, 888, 899, Entteleologisierung 123, 198, 207,
901–905, 931 f. 218 f., 242, 245, 248, 285–287, 331,
965
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
342, 355, 360, 373, 377, 541, 548, essentia 150, 339, 341, 348, 350,
711, 729, 733, 744, 805, 870, 882, 360 f., 405, 488, 534, 874
922 Essenz 127 f., 130, 597, 901 f., 904 f.
Entzweiung 99, 102, 135 f., 148 f., Ethik 109, 136, 138, 140 f., 145, 159,
152, 157, 176, 187, 190–193, 205, 167–169, 180, 247, 249, 260, 304,
211, 294, 296–299, 314 f., 640, 306, 308 f., 311, 387, 397, 402, 407,
735 409, 411, 413, 416–423, 425, 428,
epekeina tes ousias, ἐπέκεινα τῆς 435 f., 446, 448, 476, 485, 490–500,
οὐσίας 392, 581, 654 502, 554, 683, 695, 698, 738, 775,
Epistemologie, epistemologisch (s. 785
auch Spur, epistemologische) 68 f., – Pflichtethik 309, 422, 451–455,
81, 276, 589, 592, 599, 602, 651, 460, 484, 506
656, 697 f., 705, 713, 740, 762, 810, Eudämonismus, Eudämonie, εὐδαι-
812, 814, 817, 844 μονία 111, 140 f., 145 f., 167–169,
Ereignis 20–22, 24–26, 30–33, 42, 78, 176, 180, 308, 311, 315, 416, 421–
80 f., 86, 365, 367–369, 396, 458 f., 425, 428 f., 430–438, 440 f., 443–
467, 470, 472, 508, 555, 563, 569, 447, 448, 450–457, 460, 467, 475 f.,
574, 593, 597–604, 606, 609, 613, 485, 489, 506, 554, 562, 573, 638,
623, 625, 649, 664, 688, 713 f., 741, 802, 832
767, 835, 866, 889–891, 898, 904 f., Evolution 248–261, 270, 281–285,
907 f., 910, 915, 917–922, 936 364, 385 f., 666, 681, 686–688, 700,
Erinnerung 28, 31, 88, 317, 364, 383, 719
457, 530, 532, 607, 609 f., 653, 741, Existenz 73, 127 f., 130, 325, 337–339,
743, 765, 823, 908 f. 349, 354, 393, 405, 417, 502, 559 f.,
Erkenntnistheorie, erkenntnistheo- 581, 586, 593, 597, 708–710, 715,
retisch 41, 44, 48 f., 56, 107, 244, 721 f., 784, 809, 814 f., 817–820,
250, 255, 675, 690, 698, 723, 888, 822 f., 825–827, 833, 836, 892,
893, 902 901 f., 904 f.
Erscheinung 51 f., 265, 418, 475, 499, Existenzphilosophie, existenzphiloso-
503, 557, 590 f., 666, 686, 688 f., phisch 188, 196, 212, 294 f., 297
691, 697, 796 extensional/intensional 70 f., 343,
– des Seins 475, 593, 596, 776 515
Erwachen, Erwachtheit, Erwachtsein Exzentrizität, exzentrisch (s. auch
394, 459, 462–464, 467, 469 f., 473– Positionalität) 42, 61 f., 69–71, 73,
475, 477, 479–481, 484, 494, 500, 80, 392 f., 397, 447, 458
505, 507, 554 f., 569, 588, 591, 604,
610, 617, 619, 633, 866 fieri aliud inquantum aliud 296, 392,
– ursprüngliches Erwachtsein 463 f., 449, 458, 732, 740
466, 481, 555, 570, 605 finis cuius/finis quo (finis cui) 231–
Es-ist-zu-sein-Zustände 657, 659, 233, 237, 239, 244, 277, 288, 290,
813, 829, 835, 840 376, 431, 468 f., 474, 630, 870, 876,
Essayistik, Essayismus 34 f., 88, 172, 903
808, 837 Freiheit 42, 56, 76–81, 106, 115, 158,
esse 150, 338 f., 341, 343, 348 f., 350, 168, 189, 197, 204, 282, 284, 315,
360 f., 374, 405, 488, 533 f., 581, 317, 352–358, 360 f., 400, 404,
596, 598, 660, 700, 731, 794 f., 798, 425 f., 430, 451, 461, 463–466, 473,
800, 874, 902, 931 497, 503, 514, 556, 565–567, 576,
966
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.
Sachregister
581 f., 594, 598, 602, 622 f., 625– 806 f., 870 f., 873, 875 f., 878, 886,
635, 638, 641, 645–647, 677, 708, 897 f., 904
733, 741, 760–762, 785 f., 789 f., – Gottesbeweis 302, 648, 667, 704,
793–807, 809, 811 f., 828, 831, 879– 714 f., 723 f., 744
881, 883, 902, 914 f., 917 Grammatik 44, 509, 578, 723, 792,
Funktionalismus (Funktionalisie- 816
rung), funktionalistisch 120 f., Gute, das 59, 207, 223–225, 229, 290,
124–126, 136, 139, 300 f., 307, 313, 292, 304–306, 320, 387–389, 392,
403, 425, 431, 444, 685 f., 743, 886, 395, 408, 411, 436–440, 445, 451,
888, 897, 904 507, 554, 566, 571, 587, 654, 669,
Für-sich 331, 366, 394, 448 f., 726 675, 680, 682 f., 691, 708–710
futurum exactum 648, 703–705, 707,
714–716, 718, 721, 744, 772, 856 Hermeneutik, hermeneutisch 85 f.,
89, 100, 117, 136, 295, 306, 308,
Gabe 203, 443 f., 464, 468, 473, 475, 314, 331, 340, 424, 439, 441, 513,
505, 897 563 f., 570, 573 f., 583, 741, 803,
Geltung 221 f., 259, 325, 385 f., 396, 839, 851, 918, 924
411, 417, 420, 471, 477, 672, 743 Herrschaft 61, 114, 195, 217, 245,
genius malignus, Täuschegeist 155, 277–279, 298, 317, 496 f., 528 f.,
344, 347 f., 781 535, 549, 565, 570, 607, 646, 726,
Gewissen 210 f., 310 f., 409–411, 415, 742–744
418, 454, 514, 614, 618–621, 635, Herz 183 f., 513, 564, 570 f., 574 f.,
641, 917 580, 589, 591, 602, 627, 630 f., 705,
Glaube 57 f., 124 f., 134, 136, 167 f., 803 f.
177 f., 181, 272, 282, 295–297, 301, Horizont 32, 41 f., 44, 55 f., 58 f., 61–
337, 363, 402, 404 f., 437, 452, 571, 63, 65, 69–71, 81, 86, 97, 130, 272,
575, 704–715, 723–727, 738, 741, 289 f., 292 f., 344–348, 363, 392 f.,
744, 792, 805, 882 418, 429 f., 432, 442, 445, 447,
Gleichnis 31, 88, 144, 173, 363, 424, 458 f., 466, 479, 487, 550, 562 f.,
433 f. 566, 570, 573, 613, 621, 718, 874
Gnade, gratia 140, 150, 199–201, 207, hypokeimenon, ὑποκείμενον 45 f.,
235, 240, 355, 357, 359 f., 468, 540, 82, 226, 368
777, 793, 797 f., 806 f., 921 Hypostasierung, hypostasieren 74,
Gott, göttlich 29 f., 56, 59, 103–105, 410, 527, 534 f., 537, 539, 548 f.,
110 f., 124, 126–130, 134 f., 144, 553, 586, 595, 600, 606, 651, 677,
147–151, 156–159, 162–164, 167, 733, 738, 740, 743, 752, 754, 807,
170, 172, 174–176, 181 f., 199–201, 833, 873, 875, 881 f., 906, 917,
207, 223, 231–234, 236–240, 244, 925
246, 269, 272, 274, 283, 287, 290,
295, 298, 300–303, 333–337, 347– Ich-Du/Ich-Es 19 f., 24 f., 57 f., 851,
349, 352–361, 394 f., 399, 404 f., 921–924
407, 431, 440, 443 f., 447, 449 f., Identität 80, 126–129, 148, 150, 152,
464–466, 468, 481 f., 492, 509 f., 159 f., 175, 177, 207, 211 f., 224,
540, 568, 570, 575–582, 595, 610, 257, 271, 297, 301, 305, 367 f., 371,
613, 638, 643, 645–648, 678, 693 f., 382, 421, 437, 482, 513, 522 f., 527,
703–708, 710–712, 722–724, 726 f., 529–531, 536, 555, 571, 606, 610,
777 f., 782, 792, 797–799, 802, 615, 622, 633, 637, 639 f., 649, 653,
967
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
662, 678, 682 f., 709, 783 f., 823, Interpersonalität, interpersonal 81,
827, 833, 838, 843, 847, 849, 851, 456, 472 f., 475, 488, 502, 507,
854, 857, 873, 881, 888, 890–892, 555 f., 593, 596, 604 f., 612, 621 f.,
899 f., 902, 922, 930–932, 936 631, 649, 652, 659 f., 665, 675, 680,
–, numerische 527, 534, 555, 593, 838 738, 752 f., 822, 832, 835 f., 862,
–, personale 50, 514, 529–533, 587, 866, 877, 879, 883 f., 886, 888
600, 607, 613, 623, 786, 818–822, Intersubjektivität, intersubjektiv 20,
831, 837, 840, 844, 881 80, 367, 370, 420, 467, 527 f., 532,
Idiosynkrasie 55, 70, 108, 111, 155, 602, 604–606, 608 f., 612 f., 616,
345, 379, 551, 594 f., 661, 674, 697, 622 f., 625, 793, 796, 798 f., 803,
715, 738, 740, 885, 889, 915 845, 855, 876, 879, 908, 922,
Imperativ 397, 475–477, 481, 494, 925
570 Intuition, intuitiv 33, 35, 44, 53, 55,
–, kategorischer 77, 169, 308, 415, 76, 154, 319, 410, 413, 416, 421,
452, 454, 495, 499, 823, 863 439, 457, 492, 494, 615, 626, 764,
Impersonalität, impersonaler Stand- 804, 845, 851
punkt 823, 832, 835, 863 Iteration 272, 293, 463, 601, 618 f.,
Indexikalität 662 f., 665, 822 f., 831, 676
880, 887
Inkommensurabilität, inkommensu- Kausalität, kausal 78, 161, 168, 181,
rabel 213, 377, 430, 471, 479, 514 f., 216 f., 231, 234, 242, 246, 248, 252,
615, 659 254–256, 259, 261, 264–266, 274,
Instantaneität, instantan 50, 527 f., 276–278, 287, 289 f., 298, 355 f.,
530–533, 535, 600, 606 f., 609, 622, 379, 459, 486, 539, 543, 647 f., 673,
672, 779, 833 689, 743, 769, 811 f., 839, 844, 846,
Intellektualismus 424, 435, 437 f., 851, 854, 872, 906, 912, 915
443, 566 koinon, κοινόν 149, 171, 181, 292,
Intention, Intentionalität 19 f., 42, 296 f., 308, 388, 390
56–59, 62 f., 65, 68 f., 81, 115, 188, Kompromiss 388, 424, 444–446, 482,
216, 218, 224, 288, 302, 349, 376, 485, 489, 638
401, 411, 435, 438, 442, 538, 542– Kontemplation, kontemplative Hal-
551, 554–556, 604, 635, 641, 643, tung 63, 107, 133 f., 440, 480 f.,
647–649, 672, 674–676, 678, 683, 689, 719, 884, 886, 896–899, 903,
688 f., 801, 816, 819, 871, 874, 921 919
– intentio obliqua 433, 438, 607, 775 Kontext
– intentio recta 89 f., 225, 433 f., 438 –, apriorischer 602, 616 f., 625, 880
Interesse 48, 55, 63, 65, 68, 70, 81, –, universaler 614, 617, 625, 652, 659,
106, 111, 117, 134, 141, 146–148, 661, 663, 880
159, 163, 176–178, 182, 245, 266, Kontextunabhängigkeit 514, 602,
276–279, 293, 298, 305, 318, 379, 614–617, 619, 636, 652, 659, 663
386–389, 409, 412, 437, 446, 467, Kontingenz, Kontingenzbewusstsein
474 f., 482, 484, 495 f., 498, 573, 42, 72–76, 86, 127, 129 f., 149, 270,
607 f., 613, 617 f., 632, 635, 638, 338 f., 341, 348 f., 354–358, 363,
664, 685, 694, 696, 728, 741–743, 405 f., 410 f., 442 f., 464 f., 482–488,
827 f., 835, 877, 897–899, 903 492, 503, 561, 563, 573–577, 581,
– interesseloses Wohlgefallen 63, 584 f., 593 f., 599–601, 638, 655,
161, 682 f., 685, 687, 695 686, 704, 712–715, 719, 735, 767,
968
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.
Sachregister
799, 804, 825 f., 828, 832–834, 847, 831, 835, 889, 901–903, 906, 909,
868, 874, 901–903, 905 f., 908, 917, 930
919 f. – metaphysisch-analoges Denken
Kontinuum 80, 555 f., 604–606, 612, 373, 375–381, 384, 391, 397, 400,
616, 626, 629 f., 632, 652, 655, 659, 406, 411, 460, 462, 467, 533, 549,
661, 664, 753, 881, 922, 924 f. 552 f., 555, 559, 587, 590, 644 f.,
Korrelation, korrelativ 20, 391, 584, 647, 657, 661, 676, 712, 714, 733,
676 f., 904 765, 782, 830 f., 874, 925
Krise 97, 100 f., 126, 221, 234, 278 f., methexis, μέθεξις (s. auch Teilhabe)
294, 312 f., 317, 453, 525, 536, 232, 290, 336, 431, 447, 777, 870 f.,
760 f., 766, 797, 800, 832 878, 886
Moderne, modern 97–99, 103, 106 f.,
liberum arbitrium 567, 627 122, 124 f., 135, 148, 189, 206, 210,
Liebe 31, 109, 156, 159 f., 163–165, 214, 314, 316, 321, 328 f., 332, 384,
169, 174, 178, 182–184, 301 f., 389, 399, 465, 491, 639 f., 760–762,
319 f., 410, 451 f., 468, 474, 555 f., 765 f., 800
567 f., 571, 604, 630–632, 641, 649, Möglichkeit, möglich (s. auch poten-
668, 732, 923 tia, dynamis) 72–75, 108, 225–228,
– Eigenliebe, amour propre 138, 325, 352–354, 356, 398 f., 439, 443,
145–148, 152, 160, 162–164, 175 f., 467, 584, 586, 590, 593, 693, 715,
182, 190, 208, 450 738, 767, 897, 899–902
–, reine, amour pur, amore puro 133– Molinismus 355, 357, 360
135, 138, 140, 143–146, 148, 150– Monismus, monistisch 200, 249 f.,
153, 158, 160 f., 163, 165, 167–170, 281, 284 f., 543 f., 642, 814, 824
172, 175, 177 f., 181, 350, 480, 562, Mystik, mystisch 128, 133, 136, 143,
613, 682, 694 f., 935 145, 149–151, 153, 156–158, 170,
– Selbstliebe, amour de soi 109, 162– 182, 184, 251, 297–299, 388, 410,
164, 169, 171, 177 f., 184, 190, 207– 929
209, 234, 473, 568 Mythos 193, 353, 464–466, 468, 481,
505, 508, 570, 605 f., 766 f.
metabasis, μετάβασις 598 f.
metanoia, μετάνοια 168 f., 458, Nähe 484, 502, 652 f., 655 f., 659,
466 f., 469 f., 499, 573, 741 662–665, 667, 680, 703, 867, 883 f.,
Metaphysik, metaphysisch (s. auch 887
Realismus, metaphysischer) 23, Natur (s. auch physis)
28, 46, 56, 58, 66, 68, 73–75, 98– – Haben einer Natur 69, 71, 82, 512,
101, 103–105, 111 f., 116, 122, 124– 517, 561, 592, 599–602, 607, 612 f.,
126, 130, 138, 141, 156–159, 160, 623–625, 637, 642, 649, 651–653,
171, 178 f., 254, 256, 258, 261, 269, 659, 661, 677, 718, 780, 784, 801–
272, 281, 291, 295, 324, 326, 336, 803, 831, 833, 853, 866, 880, 891,
356, 360, 362, 372, 394, 396, 402– 902 f., 917
404, 406 f., 410 f., 417–420, 422 f., – natura pura 201–205, 208, 335,
444, 456, 462, 471, 476–479, 500, 359 f., 465
502–504, 513, 523, 533, 537 f., 542, – Naturbeherrschung 245, 274, 277–
580–583, 585, 588, 609, 673, 675, 279, 298, 317, 638, 897
678, 703, 713, 715, 725 f., 738–740, – Naturphilosophie 32, 240, 252,
776–778, 781, 789–807, 812, 815, 262, 361 f., 524, 541, 690, 911
969
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.
Sachregister
970
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.
Sachregister
677, 696–700, 743, 752 f., 880 f., – philosophia prima, Erste Philo-
899, 920, 922 f., 936 sophie 100, 105, 116, 124, 180, 399,
perceptio, clara et distincta 153, 340, 401, 403, 762
343, 374, 420, 460, 542, 550, 557 –, positive 557, 561, 599–601, 650,
Person, Personalität 31 f., 49, 69–76, 762, 767, 916
130, 297, 378 f., 393, 399 f., 463 f., physis, φύσις (s. auch Natur) 59, 196,
474, 484, 501–504, 507 f., 509–650, 323, 343, 374, 378, 401, 408, 411,
651–653, 659–666, 675–678, 681, 533, 567, 579, 684, 701, 734 f., 737,
683, 696–698, 731–734, 761–767, 743, 802, 891, 898
771–776, 778–784, 785–859, 867, – physei onta, ϕύσει ὄντα 59, 226,
879–881, 883–888, 891, 902, 907– 696
910, 915, 931 f. Platonismus 107, 234, 930
– personaler Ort 533 f., 589, 594– poiesis, ποίησις 426, 656, 680, 684,
596, 599, 601, 678, 719, 831, 881, 691, 883, 897
884 f., Polis 191 f., 306–308, 311, 335, 424,
– personaler Standpunkt 42, 69–76, 441–447, 485, 638
560, 565, 574, 581, 603, 613 f., Positionalität, exzentrische (s. auch
651 f., 677, 682, 712, 738, 740, 802, Exzentrizität) 42, 61, 70 f., 73, 80
810, 824, 827, 880, 935 potentia (s. auch Möglichkeit, dyna-
Perspektive, perspektivisch 73, 128– mis) 225
130, 172 f., 327 f., 350, 354, 375, – oboedentialis 201, 205
378, 394, 417, 421, 434, 439, 441, Potenz-Akt-Schema, Potenz-Akt-
449, 469 f., 478 f., 483 f., 517, 520, Lehre 139 f., 179, 581
522 f., 561, 567, 569 f., 573, 577, Präreflexive, das, präreflexiv 64, 287,
592, 600, 603, 611, 651 f., 662–666, 289, 376, 379, 457, 756, 825, 862,
680, 682–684, 690, 699, 706, 747– 877, 899, 905, 926 f.
756, 861, 864, 893–895, 899, 902, praxis, πρᾶξις 151, 199, 235, 312 f.,
904, 906 f., 935 f. 426 f., 440, 442, 845, 855, 859,
– perspectiva artificialis/pingendi 897
749, 864, 894
– perspectiva communis/naturalis Realdistinktion/Realunterscheidung
749, 753, 864, 894–896, 898–901, 127, 130, 150, 339, 341, 348–350,
904, 906 f., 910 360 f., 405, 533
–, umgekehrte (Umkehr der Perspek- Realismus, metaphysischer 512 f.,
tive) 42, 81, 394, 666, 747, 752 f., 525, 556 f., 563 f., 583, 599 f., 714,
864, 895, 907 f., 910, 936 723, 738, 741, 753 f., 760, 778, 781,
petitio principii (s. auch Zirkel) 98, 864, 889, 929
254, 308, 382, 585, 714 recurvatio 240, 555, 875
Phänomenologie, phänomenologisch reductio ad absurdum 313, 550, 626 f.,
23 f., 299, 331, 456, 467, 551 f., 653, 723, 881, 893
659, 666 f., 668, 670, 674, 678, 683, Reduktionismus, reduktionistisch
760, 797, 802, 924, 926 37 f., 73, 122, 280, 282, 284 f., 290,
Philosophie 25 f., 32, 34, 38, 85, 97, 331, 368, 370, 382, 394, 480, 545–
100, 103–107, 138, 151, 292–300, 547, 549, 589–591, 626, 647, 657,
303, 307, 362–366, 384, 398–401, 686 f., 689, 787, 797, 808, 810, 812–
403, 418, 439, 650, 703, 711, 713, 816, 818, 828 f., 912 f., 922
741, 744, 917 f., 935 Referenz, numerische 521 f.
971
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.
Sachregister
Reflexion 33, 74 f., 119, 130, 134, 138, 560, 570, 579, 586, 588, 606, 647–
141, 144–149, 153–156, 159–161, 650, 709 f., 778, 785, 815, 928, 932
173 f., 176 f., 204, 289, 292 f., 328, Sein 324–330
449–451, 480, 613 f., 617 f., 620 f., – Dasein 56, 70, 72 f., 75 f., 82, 104,
641–644, 908 f., 926 111 f., 119, 123, 127–129, 140, 146,
– Reflexionsphilosophie 107 f., 168, 174, 195, 205, 209, 221, 229, 248 f.,
175 260, 278, 307, 314, 325 f., 338, 379,
– reflexive Wendung 63, 65, 73, 80, 416, 427, 442, 448, 468, 539, 542,
336 f., 348–350, 365, 370, 378, 391, 581, 585, 588, 593, 596, 615 f., 624,
399 f., 405 f., 447, 568, 571, 573, 651, 658, 668, 672–678, 683, 685,
584, 588 f., 596, 601, 651 f., 664, 690, 708, 712 f., 715, 717, 738, 825,
677, 740, 742, 749 f., 826, 829, 863, 888, 899, 902 f., 905, 915
876 f., 879 f., 883, 888, 896 f., 905, – Mitsein (Mit-Sein) 42, 76, 181,
907 f. 245, 367, 391, 393, 400, 557, 726,
Relationalität 69, 71, 510, 673 774
Religion, religiöses Denken, Religi- – Seinlassen 168, 317 f., 370, 391,
onsphilosophie 42, 57, 73, 99, 400, 494, 556
104 f., 125, 131, 167, 192 f., 250, – Seinsakt, Akt des Seins 349, 534,
296, 299 f., 310, 338, 402–407, 413, 564, 581, 584, 590, 592, 697
446, 505, 637, 643–647, 706, 763, – Selbstsein 32 f., 41 f., 44, 53–55, 82,
777 f., 780, 797 221, 259, 261, 289, 291, 302, 329,
Repräsentation, repraesentatio 233, 366, 371, 391, 394, 413, 417–419,
238, 290, 302, 322, 358, 372, 395 f., 421, 471, 473, 476 f., 479, 483, 485,
406 f., 411, 418, 420, 471, 479, 494, 488, 494 f., 499, 502, 507, 512, 525,
499, 501, 503 f., 604, 608 f., 680, 555 f., 569, 579, 583, 598, 604, 607,
690, 701, 866, 870, 878, 886 614 f., 631 f., 674, 688 f., 695–699,
res cogitans 48, 245, 324, 340, 342 f., 708, 712, 725, 730, 733–735, 743,
345 f., 348 f., 377 f., 405, 522, 531– 753, 761–764, 769, 771 f., 884–886,
535, 537, 539, 541 f., 548, 731, 777, 889, 906 f., 923
782, 815, 830 – Sosein 72 f., 76, 122, 129, 175,
222 f., 231, 325 f., 338 f., 349, 405,
Schein 33, 116, 148, 189, 191–193, 488, 508, 528 f., 534 f., 555 f., 558,
197, 205, 209, 291, 426, 433, 554, 571, 577 f., 581, 584 f., 588, 590,
565, 639 f., 643, 691 f., 698–700, 593 f., 596, 614, 618, 627, 651, 661,
775, 910 663–665, 674, 677, 685, 690, 697,
Schöne, das 386, 436 f., 666, 680–702, 712, 715, 717–719, 722, 738, 779,
885 f. 783 f., 881, 887 f., 899, 902, 905
Schöpfung 29 f., 126–129, 157, 234, Selbstdarstellung 395, 666, 686 f.,
238, 240, 265, 267, 283 f., 336–338, 689 f., 884, 886, 888, 904 f.
348, 353 f., 356, 404–406, 540, 575– Selbsterhaltung 105, 112 f., 118, 120,
577, 580, 645–647, 692–695, 727, 123 f., 139–143, 164 f., 198, 204,
764, 767, 771, 861, 871, 874, 901 225, 231–233, 246–248, 268, 270,
Schwebe 303, 555, 594 f., 601, 644– 290 f., 330, 445, 448, 469 f., 494,
646, 649, 677, 712 f., 715, 719 648 f., 665, 671, 690, 870, 876, 878,
Seele 51, 56, 134, 149 f., 170, 184, 886, 888, 908
223, 333, 360, 441, 512, 525, 532, Selbstverständliche, das 276, 292 f.,
533 f., 537–543, 548 f., 552 f., 556, 302, 362, 407, 410, 760, 912
972
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
Selbstzentriertheit 465 f., 552 f., 556, Substanz 46–54, 346, 348–350, 378,
629, 766, 874 471 f., 533 f., 592
Sinnenwelt/Verstandeswelt, κόσμος – Substanz/Akzidens-Schema 47 f.,
αἰσθητός/ κόσμος νοητός 78, 80, 346, 378, 533
499 – Substanzontologie, substanzonto-
Solipsismus, solipsistisch 23 f., 108, logisch 41, 47–50, 53, 57, 178, 184,
331, 343, 347, 421, 469, 532, 574, 323, 350, 370, 399, 531, 562, 789,
591 f., 599, 605, 713, 715, 725, 738, 791, 796, 804 f., 902
740, 781, 835, 876, 930 – Substanz-Subjekt 41 f., 54 f., 68,
Sortale, sortaler Ausdruck/Term 368, 82
515, 518 f., 521, 524, 837, 846, 848, Sündenfall 148 f., 173, 201 f., 205,
853, 858 f., 862 207 f., 211, 465, 468, 505, 570,
So-und-So, das 348, 519, 521 f., 524, 605 f., 766
659, 681, 696, 884 Symbol (Symbolisierung), sym-
Spekulation, spekulativ 42, 104, 130, bolisch 124, 291, 302 f., 433, 456,
143, 157 f., 177 f., 181, 202, 348, 481 f., 608, 638, 680, 686, 698–700,
350 f., 360, 363, 373, 377 f., 380, 894, 910
391, 393, 405 f., 512, 548, 551–553, Szientismus 331, 371, 381, 691, 700
557, 573, 578, 644, 658, 669, 678,
690, 712, 716, 719, 767, 815, 874, Teilhabe (s. auch methexis) 59, 110,
885, 904 116, 129, 224 f., 232 f., 238, 246,
Spiel 432–434, 638, 640 290, 302, 336, 438 f., 445, 447, 540,
Spiritualismus, spiritualistisch 103 f., 577, 580, 638, 678, 777, 870 f., 873,
285, 360 f., 642, 657, 710, 728, 731, 876, 886, 903, 929
740 f., 744, 765, 814, 828, 882, 922 Teleologie (Naturteleologie) 31 f.,
Spontaneität 62, 68, 70, 76, 146 f., 179, 213, 215–291, 330, 338, 359,
149, 151, 161, 170, 174, 181, 184, 370, 374, 381, 385 f., 389 f., 393 f.,
204, 357, 451, 464, 481, 602, 604 f., 396, 400, 406, 411, 416, 420, 427,
613, 656, 680, 730, 751, 872, 875, 461, 466, 477, 482, 523, 536, 554 f.,
883 567, 585, 588 f., 593, 595 f., 639,
Sprung 64, 147 f., 155, 260, 396 f., 645, 690, 730, 733, 736, 739, 744,
411, 413, 418, 420 f., 456, 458 f., 758, 762–765, 769, 772–780, 802,
475–478, 512, 523, 552, 561, 564, 861, 863, 867–878, 882 f., 901–904,
573 f., 583, 598–600, 714, 778, 827, 912, 915 f., 923–925, 936
834, 905 – der Selbsterhaltung 117 f., 123,
Spur, epistemologische 592, 599, 651, 268, 272, 291
656, 697 f., 713, 740 –, immanente 30, 200, 231
Stoa, Stoiker 234, 265, 446, 564, 566, –, invertierte 139, 186, 198, 225, 246–
568 248, 290, 339, 448, 450, 694
Subjekt, Subjektivität 19 f., 24, 44– – Universalteleologie 234, 242 f.,
54, 105–110, 153–156, 341, 346 f., 262, 265, 267, 287, 366, 896
349 f., 399–401, 527–529, 531–533 Teleomatie 252, 257 f.
– Subjektphilosophie 66, 141, 180, Teleonomie 229, 234, 249, 252, 258,
287, 295, 366, 399, 403, 749–751, 291
873 f., 882, 906–908 telos, τέλος 59, 178, 198, 200, 204,
– Subjekt-Wechsel 41, 50, 54, 56, 60, 228, 229–231, 233, 236, 238–241,
346, 531, 592 246, 270, 431, 445, 777, 870, 882
973
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
Theologie 24, 57, 74, 100, 135, 157, 722, 724, 732, 737, 740, 743, 752,
167, 201, 238, 241, 247, 280, 282– 773 f., 801, 822, 835, 855, 863, 874–
284, 291, 295, 300, 355, 359, 396, 876, 879 f., 884–886, 889, 899,
399, 406, 513, 564, 574 f. 579, 904 f., 908, 917, 925, 931
581 f., 584, 586, 590, 597, 803, 806,
871, 920 Überdetermination 685, 691
Theologisierung (der Ontologie) 24, Umwelt 61, 72, 249, 275 f., 366, 370,
348, 351, 360, 377, 379, 405, 460, 392, 457 f., 484, 486, 539, 542, 552,
548 f., 552, 595, 643 f., 650, 676, 587, 629, 632, 640, 663, 673 f., 734,
733, 741, 779 f., 782, 784, 802, 806, 742, 770, 874, 892, 896, 898 f.,
830, 871 f., 874 f., 877 914
theoria, θεωρία 125, 130, 233, 312, Umwillen, das 337, 391, 395, 400,
440 f., 443 f., 478, 540, 567, 599, 416, 427 f., 431 f., 435, 439, 468–
874, 897 470, 472, 474, 554, 569, 588, 630,
thyrathen, θύραθεν 333, 396 f., 478 773, 876, 879
Totalität 31, 124, 158, 192, 202, 213, Unbedingte, das 287, 289–291, 395 f.,
264, 266, 314, 367, 397, 449, 503, 403, 406 f., 418, 421, 439 f., 444,
572, 574, 596, 615 f., 621 459, 471, 479, 482, 494, 501, 503 f.,
Trias, Trichotomie (Sein – Leben – 604, 631, 712, 773, 777, 779, 792,
Denken/Person) 375, 536, 560, 876 f., 903, 916
730 f., 778, 782 Unbestimmtheit, bestimmte 521–
Trieb 62, 198, 207, 224, 278, 375, 395, 523, 534
452–454, 459, 461, 468–470, 473, Uneinholbare, das 20, 37, 71, 75 f.
475 f., 484, 507, 540, 546, 626, 656, Unmittelbarkeit, das Unmittelbare
660, 673, 685, 690, 772, 895 f., 144, 146, 159, 170, 174, 181, 289,
898 f., 904 292, 306, 346, 449 f., 480, 514, 542,
– Triebhang 470, 474, 555, 569, 612, 556, 602, 614, 616, 618, 621 f., 664,
633, 747, 752 666, 818
Transzendentalphilosophie, Transzen- Unvordenkliche, das, unvordenklich
dentalismus 19, 23 f., 42, 51, 56–58, 294, 309, 320, 462, 502, 527, 585 f.,
68, 76, 255, 298–300, 364, 369, 372, 643, 645, 650, 726, 729 f., 767, 873,
399 f., 551, 750, 752, 776, 924 877
Transzendenz (Transzendieren) 55– Urphänomen 864, 889–891, 895,
67, 135 f., 140 f., 145, 149, 153, 160, 906 f., 910
169, 171, 180–184 Ursachen (des Seins)
–, absolute/graduelle 56, 65 – Formursache, causa formalis 175,
– Selbsttranszendenz 62, 70, 73, 76 f., 538, 654, 898, 901–903
81, 86, 90, 107 f., 110, 116, 135, – Wirkursache, causa efficiens, Kau-
140 f., 149, 180–183, 200 f., 240, salität 234, 237 f., 242, 274, 871
246, 278, 290, 299, 321, 335–339, – Zweckursache, causa finalis, Finali-
348–350, 359 f., 370, 372 f., 378, tät 160, 228, 231, 234, 237 f., 242,
391 f., 394 f., 400, 405 f., 409, 411, 274, 538, 542, 871
442, 447–449, 466, 474, 476, 487 f.,
507, 522 f., 532, 548, 553, 568, 571, Vernunft 61–71, 80 f., 107–111, 115–
573 f., 589, 591, 596, 601, 603, 617, 121, 155–158, 223 f., 334 f., 389–
623, 642, 646 f., 649, 651, 664, 677, 391, 439–444, 457–466, 469 f., 474–
683, 688, 694, 696, 698, 702, 712 f., 478, 482–489, 566–574, 621, 897 f.
974
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
–, autonome 42, 66, 69–71, 74 f., 308, 590, 592 f., 632, 643, 728, 733–735,
376, 573, 600 738–740, 751 f., 873, 889, 900 f., 932
–, natürliche 42, 60, 70 f. Wohlwollen (s. auch amor bene-
–, personale 564, 573 f., 614 volentiae) 410, 421–424, 456, 463,
Vernünftige, das (s. auch das Natür- 468, 472–477, 479–487, 496, 498,
liche) 42, 61–63, 68 f., 80 f., 307 f., 500–502, 506–508, 555, 569, 573,
389, 391 638, 732, 832
Versprechen, ontologisches 489, 602, Wollen, primäres (secondary voli-
614, 621–625, 641, 917 tions) 628 f., 635, 840, 852
Verzeihung, ontologische 456, 487,
489, 501, 504, 624 Zeigen (Hinzeigen), das 20, 25, 301 f.,
329, 433, 474 f., 481, 507, 552, 592,
Wahl 156, 224, 413, 418, 465, 501, 680, 685, 753, 894
529, 546, 567, 569, 619, 627, 629 f., Zeit 250, 299, 383, 450, 514, 522, 529,
632 f., 641, 931 533, 547, 602, 604, 607–612, 622 f.,
Wahrnehmung 42, 44, 54 f., 76, 81 f., 625, 648 f., 660, 662, 665, 717–722,
221, 275, 382 f., 472–479, 505, 523, 811, 819, 821 f., 824–828, 834, 838,
590–593, 596–599, 680 f., 683 f., 840 f., 844, 846, 848, 879–881, 891–
688 f., 696–698, 752–754, 863 f., 893, 896, 906, 914 f., 917
876 f., 883–886, 905, 936 – Zeitgestalt 81, 514, 604, 611 f., 623,
– Wahrnehmungsevidenz 417, 420 f., 633, 635, 648, 718 f., 834, 883 f.,
467, 476 f., 501, 508, 556, 561, 564, 917, 920
569 f., 773, 829 zen/eu zen, ζῆν/εὖ ζῆν 59, 122, 138,
Wert 109, 145, 221, 270, 314, 341, 268, 737
364, 408–411, 492, 619, 668–673, Zentralität, Zentriertheit 61 f., 69–71,
680, 683, 714, 737, 795, 799, 802 73, 378, 457, 469, 484, 487 f., 507,
Wesen (s. auch essentia, Essenz) 45, 548, 553, 555, 598, 601, 610–612,
59, 73, 119 f., 126–130, 139 f., 150, 614, 624, 649, 664 f., 682, 712, 729,
175, 225, 325, 338, 358, 488, 502, 734, 740, 752, 772 f., 831, 866, 874–
504, 522, 570, 572, 578–582, 590, 877, 880, 882, 884 f., 887, 896,
592–594, 601, 677 f., 712, 719, 784, 898 f., 908, 918
791, 833 Zentrum der Bedeutsamkeit 42, 71,
Wille 56, 77 f., 106, 108, 111, 116, 81, 569, 598, 601, 666, 683, 689,
118, 126–129, 141, 147, 151, 157 f., 697, 712, 771
161, 167 f., 170, 178, 183, 234, 268– Ziel 80 f., 139, 164, 182, 200, 207,
272, 277, 298, 308, 311, 334, 354– 223 f., 228, 232, 236–239, 244,
357, 383, 437, 451–454, 459, 480, 275 f., 287–290, 336, 359, 376, 426–
494, 507, 568, 579, 668, 695, 708, 438, 445, 469 f., 646, 870 f., 873,
732, 791, 796 f., 888, 912
– Willensfreiheit 625–635, 917 Zirkel, Zirkularität, zirkulär 63, 65,
Wirklichkeit 20, 25, 35, 55, 85, 100, 147, 253, 259 f., 305, 308, 492, 588,
108–110, 116, 119, 122, 138 f., 165, 686, 812, 820 f., 842 f., 846
178, 227 f., 239, 269, 297, 325, 338, zoon politikon, ζῷον πολιτικόν 388,
341, 347, 394, 399, 408–412, 417 f., 738,
426 f., 443, 449, 463, 467, 469–471, Zweck 65, 70, 77, 224, 228–231,
473 f., 476 f., 484–487, 502, 507, 238 f., 242–245, 249, 252, 262–267,
527 f., 534, 546 f., 554 f., 557, 573 f., 271, 274, 278, 288–290, 304–306,
975
https://doi.org/10.5771/9783495825488
.
Sachregister
308, 314, 365, 395, 397, 426 f., 429– Zwischen, das 24 f., 57 f., 81, 605, 900,
434, 436, 438, 492, 500, 546, 567, 820, 922
627, 684 f., 689, 798, 870, 897
Zweifel 70, 106 f., 153–156, 265, 301,
310, 343–345, 347, 380, 387, 417,
477 f., 497, 526, 551, 727, 738–740
– Zweifelsbeweis 47, 342, 460, 528,
549, 815, 829 f.
976
https://doi.org/10.5771/9783495825488