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EICHSTÄTTER
philosophische
Studien
5
Michael Maier

Philosophie der
Begegnung
Studien über
Robert Spaemann

VERLAG KARL ALBER


https://doi.org/10.5771/9783495825488
B
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Michael Maier
Philosophie der Begegnung
Studien über Robert Spaemann

VERLAG KARL ALBER A


https://doi.org/10.5771/9783495825488

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P
EICHSTÄTTER
philosophische
Studien
5
Herausgegeben von
Walter Schweidler und
Markus Riedenauer

https://doi.org/10.5771/9783495825488

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Michael Maier

Philosophie
der
Begegnung
Studien über
Robert Spaemann

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495825488

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Michael Maier
Philosophy of encounter
Studies about Robert Spaemann

The focus of these studies is an analysis of the philosophical notion of


encounter which itself is rooted in the experience that one’s own self-
being is dependent on external occurrences. Even one hundred years
after Buber’s delineating conception of dialogism in »I and Thou«,
›encounter‹ has remained an unadopted term in philosophy. This
book proffers a principally novel approach by means of a comprehen-
sive account of Robert Spaemann’s philosophy. By evincing the as of
yet scarcely undetected coherence underlying the entirety of the emi-
nent 20th and 21st century philosopher’s multifaceted body of works,
the author reveals a genuine philosophical perspective of the occur-
rence of encounter.

The author:
Michael Maier studied German philology, Slavic philology and philo-
sophy at the Free University of Berlin and Sankt Petersburg State
University. He teaches at a grammar school and a practical school
seminar in Berlin and completed his doctorate at the Catholic Univer-
sity of Eichstätt-Ingolstadt in 2020 with the present thesis.

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Michael Maier
Philosophie der Begegnung
Studien über Robert Spaemann

Im Mittelpunkt dieser Studien steht der philosophische Begriff der


Begegnung, der auf die Erfahrung zurückgeht, dass sich das eigene
Selbstsein einem Beitrag von außen verdankt. Auch hundert Jahre
nach der mit Bubers »Ich und Du« zu markierenden Entstehung der
Dialogik ist ›Begegnung‹ ein in der Philosophie unverarbeiteter Be-
griff geblieben. In diesem Buch wird ein prinzipieller Neuansatz
durch eine Gesamtschau der Philosophie Robert Spaemanns versucht.
Indem die noch kaum freigelegte Kohärenz des vielschichtigen Werks
dieses bedeutenden Denkers des 20. und 21. Jahrhunderts entfaltet
wird, tritt eine philosophische Beschreibungsebene des Ereignisses
der Begegnung zutage.

Der Autor:
Michael Maier studierte Germanistik, Slawistik und Philosophie an
der Freien Universität Berlin und der Staatlichen Universität Sankt
Petersburg. Er unterrichtet an einem Gymnasium und einem Schul-
praktischen Seminar in Berlin und hat mit der vorliegenden Arbeit
2020 an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt promo-
viert.

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Zugl.: Dissertation, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt 2019

Originalausgabe

© VERLAG KARL ALBER


in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021
Alle Rechte vorbehalten
www.verlag-alber.de

Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg


Herstellung: CPI books GmbH, Leck

Printed in Germany

ISBN (Print) 978-3-495-49229-1


ISBN E-Book (PDF) 978-3-495-82548-8

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Danksagung

Dem Andenken an Hans Schwender

Ein Buch, das von seinem Autor selbst als Antwort verstanden wird,
verlangt geradezu nach einer Vorrede, in der nach ihrem Ursprung
gefragt wird. Wie viel mehr noch muss das gelten, wenn sich dieses
Buch die Begegnung und unser Hervorgehen aus ihr zum zentralen
Thema macht. Die Suche nach dem Ursprung führt jedoch zwangs-
läufig zu dem Paradox, dass der Anfang weder im Anderen noch in
uns selbst gefunden werden kann, sondern sich entzieht und uns im-
mer wieder auf die Frage selbst zurückwirft.
In dieser Lage bleibt zumindest in der Vorrede nur die Möglich-
keit, die Frage einfacher anzugehen und im Rückblick der Menschen
zu gedenken, die das Werden dieses Buches ermöglicht und befördert
haben.
Von den ersten konkreten Vorüberlegungen bis zur Verteidi-
gung der als Promotionsschrift an der Katholischen Universität Eich-
stätt-Ingolstadt im November 2019 eingereichten Arbeit vergingen
vier Jahre, in denen es mir meine Familie mit viel Verständnis ermög-
lichte, neben einer vollen Berufstätigkeit in der zur Verfügung ste-
henden freien Zeit konzentriert zu arbeiten. Allen voran meiner Frau
gilt daher mein erster Dank. Meinen drei Kindern danke ich für die
von ihnen aufgebrachte Geduld.
Meinem Doktorvater Professor Walter Schweidler danke ich für
seine Offenheit mir gegenüber, die stets treffsicheren und hilfreichen
Hinweise zum Fortgang meiner Arbeit und die inspirierte Atmo-
sphäre in seinen Kolloquien. Professor René Torkler danke ich für
die Übernahme des Korreferats und seine freundliche Beratung. Bei-
den bin ich zusammen mit den Professoren Bernd Birgmeier und
Markus Riedenauer dankbar für die Durchführung meiner Disputa-
tion als Präsenzveranstaltung in der Corona-Zeit.
Dass dieses Buch zustande gekommen ist, verdanke ich auch der
Hartnäckigkeit meiner langjährigen Gesprächspartnerin Dr. Irene
Dehmel. Dafür, dass es neben meinen beruflichen Verpflichtungen

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ungestört gedeihen konnte, bin ich meinen Kolleginnen Maria Appel
und Oksana Bieleke zu Dank verpflichtet.
Für die gemeinsamen Gespräche und die schriftliche Korrespon-
denz, die mir halfen, offene Fragen zu klären, danke ich Dr. Lasma
Pirktina, für die Unterstützung in allen organisatorischen Fragen Dr.
Tobias Holischka und für die Hilfe beim Korrekturlesen Dr. Heike
Wapenhans.
Diese Aufzählung ist nicht nur nicht vollständig, sondern krankt
an dem zu Anfang benannten Problem, dass der Wille dankzusagen
uns in eine Denkbewegung verstrickt, die die Möglichkeiten einer
Vorrede überschreitet. Eine Fortsetzung könnte dieser Gedankengang
daher erst nach dem Ende dieses Buches finden.

Schöneiche bei Berlin im August 2020 Michael Maier

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Inhaltsverzeichnis

Erster Teil
Explikation des philosophischen Problems der
Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

1 Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des
Dialogs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19
1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung . . . . . . . . 28

2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung . . 41


2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der
Substanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44
2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung
seiner Negativität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im
Ereignis der Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . 68

Zweiter Teil
Die Philosophie der Begegnung
im Werk Robert Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . . 83

3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines


Gegenentwurfs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte . . . . 97
3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de
Bonalds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt . . 105

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Inhaltsverzeichnis

3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und


der Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108
3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit . . . . . . 111
3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der
Selbsterhaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114
3.2.5 Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die
Selbstaufhebung der Vernunft . . . . . . . . . . . 118
3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens . 121
3.3 Das Absolute an sich und quoad nos . . . . . . . . . . . 126

4 Studien über Fénelon:


Das Denken der Selbsttranszendenz . . . . . . . . . . . 133
4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie . . . 138
4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹ . 143
4.3 Philosophiegeschichtliche Verortungen . . . . . . . . . 153
4.3.1 Fénelon und Descartes: Radikalisierung und
Überwindung des Rationalismus . . . . . . . . . 153
4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und
Malebranche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund
gerückte Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken . . . . . . . . 167
4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik:
Die geschichtsphilosophische Perspektive . . . . . . . . 172
4.6 Versuch einer Zusammenfassung:
Größe und Grenzen Fénelons . . . . . . . . . . . . . . 180

5 Die Spur des Absoluten in der Natur . . . . . . . . . . 185


5.1 Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive 187
5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation . 189
5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal . . . . . . 191
5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im
18. Jahrhundert« . . . . . . . . . . . . . . . . . 196
5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungskonzept . . . . 206
5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer
verlorenen Idee . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Inhaltsverzeichnis

5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive . 215


5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς 220
5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in
terminologischer Präzision . . . . . . . . . . . . 225
5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur
hineinkam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der
Entteleologisierung . . . . . . . . . . . . . . . . 242
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des
Evolutionsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . 252
5.2.6 Die Auseinandersetzung mit dem
Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche . . . . 261
5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken . . . . . . 273
5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks . . . . . . . . . . . . . 280
5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung . . . . . . . . . . 286
5.3 Zugänge zum Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer
Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294
5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive . . . . . . . 304
5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des
Absoluten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

6 »Das Natürliche und das Vernünftige«:


Grundzüge einer Philosophie . . . . . . . . . . . . . . 319
6.1 Das philosophiehistorische Projekt einer Erneuerung der
antiken Substanzontologie . . . . . . . . . . . . . . . . 323
6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption . . . . . . . . 324
6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine
Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ . 341
6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei . . . . . . . . . 351
6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur
und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
6.2 Die Konturen einer eigenständigen metaphysischen
Konzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372
6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken . . . . . . . . 373

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Inhaltsverzeichnis

6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbst-


transzendenz: Repräsentation und Anerkennung . 384
6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie in
einer Philosophie der Person . . . . . . . . . . . 398
6.3 Der metaphysische Hintergrund der Religionsphilosophie
und der philosophischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . 402
6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit der
metaphysischen Konzeption . . . . . . . . . . . . 403
6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des
Platonismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der


eudämonistischen Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . 415
7.1 Eudämonismus und Pflichtethik . . . . . . . . . . . . . 424
7.1.1 Εὐδαιμονία . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 425
7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer
Kompromiss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435
7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und
Pflichtethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445
7.2 Metaphysik und Gelingen des Lebens . . . . . . . . . . 456
7.2.1 Conditio humana . . . . . . . . . . . . . . . . . 457
7.2.2 Amor benevolentiae . . . . . . . . . . . . . . . . 467
7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung . . . . 479
7.3 Wohlwollen: Ethische Bedeutung und ontologische
Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490
7.3.1 »Glück und Wohlwollen« als Beitrag zum ethischen
Diskurs der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . 491
7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven . . . . . . 501

8 Ontologie der Person . . . . . . . . . . . . . . . . . . 509


8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes . . . . . 515
8.2 Historische Voraussetzungen und ›negative‹ Philosophie . 525
8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs . 526
8.2.2 Genauigkeit und Seele . . . . . . . . . . . . . . 537
8.2.3 Metaphysischer Realismus . . . . . . . . . . . . 548

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Inhaltsverzeichnis

8.3 Die Entdeckung der Person . . . . . . . . . . . . . . . 562


8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als
›grundloser Grund‹ . . . . . . . . . . . . . . . . 565
8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen
Theologie: Der Akt des Seins . . . . . . . . . . . 574
8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und
Personalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583
8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung . . . . . . . 600
8.4.1 Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der
Möglichkeit von Begegnung . . . . . . . . . . . . 603
8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungs-
geschehens: Gewissen und Versprechen . . . . . . 613
8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der
Begegnung: Die Spontaneität des Herzens . . . . 625
8.5 Grenzen einer Philosophie der Personen . . . . . . . . . 636
8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und
Transzendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637
8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur
Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 643

9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:


Nähe als Ent-Fernung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 651
9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen
Differenz im Wertbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 668
9.2 Die Wahrnehmung des Seins im Schönen . . . . . . . . 680
9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution . . . . . . . . 681
9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein . . . . 691
9.3 Das Absolute als eine Weise der Nähe . . . . . . . . . . 703
9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum:
Wissen und Glaube . . . . . . . . . . . . . . . . 704
9.3.2 ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im
Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 727

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Inhaltsverzeichnis

Dritter Teil
Perspektiven der Philosophie der Begegnung . . . . . . 745

10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk . 757


10.1 Holger Zaborowski: »Robert Spaemann’s Philosophy of
the Human Person« . . . . . . . . . . . . . . . . . . 760
10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne . . . . 760
10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis . . . . . 763
10.2 Rolf Schönberger: »Das Sein des Sinnes« . . . . . . . . 768
10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug
zum Ganzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 768
10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers . . . . 772
10.3 Andrzej Kuciński: »Naturrecht in der Gegenwart« . . . 775
10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός . . . . . . . 775
10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis . . . . . . 779

11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs


der Gegenwart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 785
11.1 Theo Kobusch: »Die Entdeckung der Person« . . . . . . 789
11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der
Metaphysik der Freiheit . . . . . . . . . . . . 790
11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit . . . 794
11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik
der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 797
11.1.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien
Kobuschs und Spaemanns . . . . . . . . . . . 800
11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs . . . . . . 805
11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person« . . . . . . . . 808
11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein . . 811
11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person . . . . . 818
11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung . 824
11.2.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien
Sturmas und Spaemanns . . . . . . . . . . . . 828
11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas . . . . . . . 834
11.3 Michael Quante: »Person« . . . . . . . . . . . . . . . 837
11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage
personaler Identität . . . . . . . . . . . . . . . 839

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Inhaltsverzeichnis

11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz:


Persönlichkeit als Lebensform . . . . . . . . . 847
11.3.3 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien
Quantes und Spaemanns . . . . . . . . . . . . 853
11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes . . . . . . . 858

12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der


Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 861
12.1 Der Begriff der Begegnung als Organisationsprinzip der
Philosophie Spaemanns . . . . . . . . . . . . . . . . 866
12.1.1 Retrospektive auf die ›Geschichte und
Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹ . 867
12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der
Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 879
12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der
Begegnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 889
12.3 Offene Fragen und Ausblicke . . . . . . . . . . . . . . 911
12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog der Philosophie der
Begegnung mit den Naturwissenschaften . . . . 911
12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbst-
komposition und ihre literarische Verarbeitung . 916
12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs . 920
12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des
Leibes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 924
12.3.5 Pavel Florenskij und die Fundierung der
Personenphilosophie im Begriff des Lebens . . . 928

Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 935

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 937

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 959

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 963

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Erster Teil

Explikation des philosophischen


Problems der Begegnung

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1 Einführung

1.1 Der Begriff der Begegnung und


die Philosophie des Dialogs

Der Begriff der Begegnung kann bislang nicht als ein in der Philo-
sophie etablierter Begriff angesehen werden. Das Historische Wörter-
buch der Philosophie verweist im Begriffsregister 1 vom Stichwort
›Begegnung‹ allein auf den von Michael Theunissen verfassten Arti-
kel über das »Ich-Du-Verhältnis« 2, in dem zunächst festgestellt wird,
dass »[g]enauso landläufig wie der Begriff ›Ich-Du-Verhältnis‹ […]
mittlerweile die mit ihm verknüpften Begriffe ›Begegnung‹ und ›Dia-
log‹ (›dialogisch‹) geworden« 3 seien. Eigens thematisiert wird der Be-
griff hier lediglich im Zusammenhang mit Martin Bubers Hauptwerk
»Ich und Du« 4: »Beherrschend […] ist in ›Ich und Du‹ der Begriff der
Begegnung: was das Grundwort ›Ich-Du‹ meint, wird da abstrakt als
Beziehung und konkret, letztgültig als Begegnung ausgelegt. Bubers
entschiedene Hinwendung zum dialogischen Denken ist eins mit sei-
ner Entdeckung des Begegnungsbegriffs« 5. Martin Buber, der »dem
dialogischen Denken die zugänglichste und auch die phänomenal
reichste Ausgestaltung gegeben« 6 hat, geht in seinem frühen Haupt-
werk »Ich und Du« aus dem Jahre 1923 von einem dualistischen
Schema aus, insofern er zwei Haltungen zur Welt unterscheidet, die
er durch die Grundworte ›Ich-Du‹ und ›Ich-Es‹ bezeichnet. Dem In-
tentionalitätsschema der Transzendentalphilosophie entspricht dabei
das Grundwort ›Ich-Es‹, in Abstoßung von dem Buber das Grundwort
›Ich-Du‹ entfaltet. Während im Grundwort ›Ich-Es‹ ein Subjekt sich
eine gegenständliche Welt erschließt, deren mögliche Gegenstände
als Gegenstände immer schon in einem mittelbaren Verhältnis zum
Subjekt stehen, bezeichnet das Grundwort ›Ich-Du‹ einen Welt-

1 Vgl. HWPh XIII, col. 203.


2 Theunissen, Ich-Du-Verhältnis, in: HWPh IV, col. 19–21.
3 Ebd. col. 20.
4
Buber, Werke I, 77–170.
5 Theunissen, Ich-Du-Verhältnis, in: HWPh IV, col. 21.
6
Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228.

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1 Einführung

zugang, der nicht auf Konstitution aus der Subjektivität zielt, sondern
aus der Korrelation mit einem Gegenüber hervorgeht. Das ›Du‹ ist
folglich nicht intentionaler Gegenstand, sondern eine jedem Denken
vorausgehende, unmittelbar begegnende Wirklichkeit. Nicht in der
Haltung des ›Ich-Es‹, sondern erst im Beziehungsgeschehen zwischen
einem ›Ich‹ und seinem ›Du‹ ereignet sich Wirklichkeit, kommt das
›Ich‹ überhaupt erst zu sich selbst: »Ich werde am Du; Ich werdend
spreche ich Du. Alles wirkliche Leben ist Begegnung.« 7 »Der Mensch
wird am Du zum Ich.« 8 Da Buber die beiden Grundworte gegenüber-
stellt, scheint sich die Bedeutung des ›Ich-Du‹ negativ aus der des
›Ich-Es‹ ableiten zu lassen. Für das Verständnis von Bubers Ansatz
ist es jedoch entscheidend zu sehen, dass das Grundwort ›Ich-Du‹ sich
keineswegs als dialektische Antithese zum Grundwort ›Ich-Es‹ ver-
stehen lässt. Das sprachliche Nebeneinander der Grundworte ›Ich-
Du‹ und ›Ich-Es‹ verdeckt nur auf den ersten Blick die klare Hierar-
chisierung, insofern Bubers Dialogik die intentionale Haltung des
›Ich-Es‹ für einen »aus der dialogischen Beziehung abgeleiteten Mo-
dus des Fremdverstehens und des Seinsverständnisses überhaupt er-
klärt« 9. Das dualistische Haltungsschema macht zwar deutlich, dass
der Zugang zum ›Ich-Du‹ eine Abstoßung vom ›Ich-Es‹ zur Voraus-
setzung hat; mit dieser Abstoßung ist der Zugang jedoch noch nicht
geleistet. Vielmehr bedarf es dazu noch eines weiteren Schrittes, der
im Hinzeigen auf ein konkretes Erleben besteht, das an die Grenze
der Sprache bzw. bei Buber zum Versuch einer poetisierenden Ver-
gegenwärtigung des Uneinholbaren führt. Damit ist zugleich ein
Hinweis darauf gegeben, warum Buber im Allgemeinen als »religiö-
ser Existentialist« 10 aufgefasst und in der akademischen Philosophie
marginalisiert wird. Sein Ausgang vom Erleben eines dialogischen
Begegnungsereignisses, das sich der begrifflichen Erfassung entzieht
und nur durch ein Zeigen vergegenwärtigt werden kann, scheint sein
Denken prinzipiell aus dem Bereich intersubjektiver philosophischer
Verständigung auszugrenzen.
Der Buber-Biograph Gerhard Wehr spricht im Hinblick auf die
Entstehungszeit von Bubers frühem Hauptwerk von den im Zeitgeist
sich öffnenden »Dimensionen der Sprache, des Anredens, des An-

7 Buber, Werke I, 85.


8
Ebd. 97.
9 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 486.

10
Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 675.

20

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.
1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs

geredetwerdens«: »Entdeckt – oder vielmehr: wiederentdeckt wird


das Feld der Begegnung zwischen Ich und Du. Den Boden dafür haben
andere bereitet: J. G. Hamann und Wilhelm von Humboldt, J. G.
Fichte und Ludwig Feuerbach gehören im 18. und 19. Jahrhundert
zu den geistigen Pionieren dieser Neuerschließung.« 11 Auffällig ist
das synchrone Auftreten des neuen Gedankens in der Zeit der Epo-
chenwende um 1918:
Die neue Sicht des Du kommt im 20. Jh. erstmals zum vollen Durch-
bruch mit H. Cohens »Religion der Vernunft aus den Quellen des Ju-
dentums« (1919). Wenig später erscheinen, unabhängig voneinander
und doch in erstaunlicher Übereinstimmung bei allen charakteristi-
schen Unterschieden, die Schriften der eigentlichen »Dialogiker«:
F. Ebners »pneumatologische Fragmente« unter dem Titel »Das Wort
und die geistigen Realitäten« (1921), F. Rosenzweigs »Der Stern der
Erlösung« (1921) und M. Bubers »Ich und Du« (1923). 12
Ausgehend von der mit diesen Namen umrissenen Bewegung, die als
Philosophie des Dialogs zu einem Entwicklungszweig im Denken des
20. Jahrhunderts wurde, begann der Begriff der Begegnung eine
gewisse Bedeutung im philosophischen Diskurs zu entwickeln. Na-
mentlich sind hier französische Denker, etwa Gabriel Marcel 13 oder
Emmanuel Levinas, 14 zu erwähnen. In einem Wörterbuch der phi-
losophischen Begriffe aus dem Jahr 1955 wird ›Begegnung‹ folgender-
maßen erläutert:
ein in der Philosophie und Theologie der jüngsten Zeit hervortreten-
der Begriff; er bezeichnet, im Gegensatz zu allen bloß äußerlichen
Berührungen und sinnleeren Durchkreuzungen von Ereignisreihen,
das Zusammentreffen mit einem Anderen, das dem Menschen durch
seine Eigenbedeutung eine verantwortliche Entscheidung abfordert

11 Wehr, Martin Buber. Leben – Werk – Wirkung, 122.


12
Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228.
13 Vgl.: »Wir sind in allem Denken immer verwickelt in die Wirklichkeit. Die gegen-

ständliche Abstraktion konstruiert die illusorische Wirklichkeit einer reinen Begriffs-


welt. Doch unser Beisein bei allem Wirklichen ist die ständige Gegenwart, in der das
Sein zu uns steht und wir zum Sein. Die Präsenz des Seins in der echten Begegnung
als einziger Zugang zum Sein tritt an die Stelle abstrakter, erst denkvermittelter Ge-
genständlichkeit, in der das Sein selbst nicht präsent ist.« – Gabriel, Zur Seinsphi-
losophie Gabriel Marcels, in: Marcel, Geheimnis des Seins, 517.
14 Vgl.: »Die Philosophie Levinas’ versucht, das alles in sich versammelnde Subjekt,

das Sein dieses Subjekts zu überwinden und den Weg zur Begegnung mit dem Ande-
ren zu öffnen.« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Emmanuel Levinas, Jean-
Luc Marion, 74.

21

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.
1 Einführung

oder es [sic] anderweitig in seinem eigenen Werden bestimmt. In Be-


gegnungen großen Stils sowohl zwischen Einzelmenschen als auch
zwischen Gemeinschaften verwirklicht sich die Geschichte. 15
Dass das dem Begriff zugrunde liegende philosophische Phänomen
entgegen dem so erweckten Anschein keineswegs als Entdeckung
der Philosophie des 20. Jahrhunderts gewertet werden sollte, betonen
Clara Vasseur und Johannes Bündgens in ihrer Studie »Spiritualität
der Wahrnehmung«:
In der Frühphase der abendländischen Philosophie spielten Begegnun-
gen eine zentrale Rolle. Von Begegnung zu Begegnung pflegte Sokra-
tes in Athen jene tiefsinnigen Gespräche zu führen, die sein Schüler
Platon in kunstvolle Dialoge umsetzte und der Nachwelt schriftlich
überlieferte. Was aber eine Begegnung eigentlich ist, schien unmittel-
bar verständlich zu sein, so dass dem Begriff selbst kaum Beachtung
geschenkt wurde. 16
Begegnung erscheint so als ursprünglicher und ursprünglich kaum
reflektierter Begriff, dessen terminologische Erfassung und explizite
Reflexion erst in der Philosophie des 20. Jahrhunderts ihren Anfang
nahm. Dabei fällt auf, dass der Begriff in dem Maße philosophisch
thematisiert zu werden scheint, in dem seine ursprüngliche Semantik
von existentiellen Konnotationen überlagert wird. Im Deutschen
Wörterbuch der Gebrüder Grimm wird das Verbum ›begegnen‹ 17 zu-
nächst lateinisch mit ›obviam venire‹ erklärt und danach die Grund-
bedeutung des leiblichen Begegnens von abstrakten Bedeutungen im
Sinne etwa von ›widerfahren‹ oder ›in den Ansichten zusammentref-
fen‹ unterschieden. 18 In den neueren philosophischen Verwendungen
des Wortes tritt die primäre Bedeutung leiblichen Begegnens zuguns-
ten der existentiellen in den Hintergrund. So bemerken Vasseur und
Bündgens zum Ereignischarakter der Begegnung: »Jeder echten Be-

15 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Ham-


burg 1955, s. v. Begegnung. – Es ist bemerkenswert, dass in der auf dem zitierten
Wörterbuch Hoffmeisters aufbauenden Neubearbeitung des »Wörterbuchs der phi-
losophischen Begriffe« von Arnim Regenbogen und Uwe Meyer (erste Auflage 1998)
der Artikel zum Lemma ›Begegnung‹ entfallen ist.
16 Vasseur/Bündgens, Spiritualität der Wahrnehmung, 265.

17 Dem Substantiv ›Begegnung‹ wird demgegenüber im Grimm’schen Wörterbuch

kaum Beachtung geschenkt.


18
S. Grimm, Deutsches Wörterbuch I, col. 1283–1284. – Darüber hinaus vermerken
die Gebrüder Grimm noch eine dritte Bedeutung ›geschehen, sich zutragen, ereignen‹
und eine vierte ›Gegenwehr, Widerstand leisten, entgegentreten, zuvorkommen‹.

22

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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs

gegnung liegt eine Unmittelbarkeit zugrunde, die in sich das Potential


birgt, die ganze eigene Existenz auf den Kopf zu stellen und ihr einen
neuen Impuls zu geben.« 19 Gerade diese existentiellen Konnotationen
zentraler Begriffe der dialogischen Philosophie aber erschwerten er-
heblich ihre Verankerung im philosophischen Diskurs. Johannes
Heinrichs spricht in diesem Zusammenhang von einer den »Dialogi-
kern gesetzte[n] Grenze«,
die wohl notwendig damit gegeben ist, daß sie sich in scharfem Gegen-
satz zur systematischen Philosophie, vor allem zur Transzendentalphi-
losophie und zum Denken Hegels, verstehen. Ihre Phänomenologie
geht daher allzu leicht in die Bezeugung von existentiellen und gläu-
bigen Gewißheiten über, die sie denkerisch nicht einzuholen ver-
mögen. 20
Die Auseinandersetzung mit der Dialogik hat in der akademischen
Philosophie ein beachtliches Niveau erreicht, 21 ohne doch bislang zu
einem intensiven »Gespräch des dialogischen Denkens mit der syste-
matischen Philosophie« 22 geführt zu haben. Den bedeutendsten Ver-
such einer Vermittlung zwischen der Dialogik und der akademischen
Philosophie stellt Michael Theunissens Habilitationsschrift »Der An-
dere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart« aus dem Jahr 1964
dar. Die Studien Theunissens lassen schon in der ihren Aufbau be-
stimmenden Gegenüberstellung eines dem »transzendentalphilo-
sophische[n] Entwurf der Sozialontologie« vor allem Husserls gewid-
meten ersten und eines der Philosophie des Dialogs vor allem Bubers
gewidmeten zweiten Teils die leitende These erkennen, wonach die
moderne Transzendentalphilosophie mit ihrem »geschichtlichen An-
spruch […] die Metaphysik zu vollenden« 23 an der Aufgabe der Kon-
stitution des Fremd-Ich scheitere und »transzendentaler Solipsis-

19 Vasseur/Bündgens, Spiritualität der Wahrnehmung, 266.


20
Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 228.
21 Verwiesen sei hier in erster Linie auf: Theunissen, Michael, Der Andere. Studien

zur Sozialontologie der Gegenwart (erste Auflage 1965, zweite, um eine Vorrede ver-
mehrte Auflage 1977) und auf die in Auseinandersetzung mit Theunissens Arbeit
entstandene Studie: Bloch, Jochanan, Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik
Martin Bubers (1977). Darüber hinaus sehr aufschlussreich sind Vorträge und Dis-
kussionen im Rahmen des Kongresses zum 100. Geburtstag Bubers 1978, veröffent-
licht in: Bloch/Gordon (Hrsg.), Martin Buber. Bilanz seines Denkens (1983).
22 Heinrichs, Dialog, dialogisch, in: HWPh II, col. 229.

23
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 467.

23

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1 Einführung

mus« 24 bleibe; den idealtypischen Gegenentwurf zu ihr sieht er in der


Philosophie des Dialogs, die sich mit der Begegnung »um ein wirk-
liches Phänomen« kümmert, »das im Rahmen der Transzendental-
philosophie, auch wenn sie Phänomenologie ist, nicht in angemesse-
ner Weise thematisiert werden kann« 25. Theunissen deutet Bubers
dualistisches Haltungsschema so, dass das Grundwort ›Ich-Es‹ für
das weltkonstituierende Subjekt der Transzendentalphilosophie steht,
wohingegen das Grundwort ›Ich-Du‹ als Gegenentwurf zu diesem
gleichwohl in Abhängigkeit von der Transzendentalphilosophie steht,
woraus sich als zentrales Problem die »Negativität […], welche der
Ontologie der dialogischen Wirklichkeit anhaftet,« 26 ergibt. Die dia-
logische Wirklichkeit steht zunächst neben der transzendental kon-
stituierten Welt und ihre Ontologie kann sich, so Theunissens Ver-
mutung, von der damit verbundenen Negativität nur befreien, wenn
»die Explikation des dialogischen Lebens« 27 die Grundlegung einer
»Ontologie des Zwischen« 28 leisten kann. Ihr Ziel wäre nach Theu-
nissen der Beweis der Kernthese, dass »das Ereignis der Begegnung,
das ›Zwischen‹, […] früher als die Sich-begegnenden« 29 ist. In aus-
führlichen Detailuntersuchungen arbeitet Theunissen für das Den-
ken Bubers konstitutive Paradoxien heraus, in denen er ein Über-
schreiten der Grenzen der Philosophie erkennt, und kommt zu dem
negativen Fazit, dass Bubers Denken kaum eine positive kategoriale
Erhellung des Ich-Du-Verhältnisses 30 leiste und stattdessen bei einer
»›Theologie‹ des Zwischen« ankomme: Das »positive Ziel, an das die
Philosophie als negative Ontologie heranführt, kann in seiner Positi-
vität nur noch ›theologisch‹ entfaltet werden« 31.
Während Buber selbst also nicht über ein philosophisches Be-
griffsinstrumentarium verfügt, das einer argumentativen Präzisie-
rung seines Begegnungsgedankens dienen könnte, gelangt Theunis-
sen im versuchten Nachvollzug des Buber’schen Ansatzes in einer
philosophisch adäquaten Begrifflichkeit zu einer Theologisierung
der Ontologie. Dies muss noch nicht bedeuten, dass eine solche Theo-

24 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 154.


25 Ebd. 484.
26 Ebd. 252.
27 Ebd. 258.
28 Ebd. 243.
29
Ebd. 487.
30 Vgl. ebd. 277.
31
Ebd. 330.

24

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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs

logisierung die notwendige Konsequenz des Versuchs einer genuin


philosophischen Aneignung des dialogischen Grundgedankens ist.
Die von Theunissen beklagte Negativität der Ontologie des Zwischen
könnte ebenso gut als Spiegelung einer dezidierten Absicht Bubers im
Koordinatensystem eines Buber nicht adäquaten Deutungsversuchs
aufgefasst werden. 32 Durch die Idealisierung der Buber’schen Refle-
xionsposition mit dem Ziel einer Ontologie des Zwischen versteht
Theunissen das dualistische Haltungsschema von ›Ich-Du‹ und ›Ich-
Es‹ dialektisch, während es Buber doch in seinem Hinzeigen auf ein
konkretes Erleben offensichtlich um eine Position geht, die über die-
ser Dialektik steht: »Ich habe keine Lehre. Ich zeige nur etwas. Ich
zeige Wirklichkeit, ich zeige etwas an der Wirklichkeit, was nicht oder
zu wenig gesehen worden ist. Ich nehme ihn, der mir zuhört, an der
Hand und führe ihn zum Fenster. Ich stoße das Fenster auf und zeige
hinaus. Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.« 33 Der hier
zum Ausdruck kommende dezidiert grenzorientierte Begriff von Phi-
losophie scheint die Möglichkeit einer fruchtbaren diskursiven Aus-
einandersetzung mit der Dialogik jedoch grundsätzlich in Frage zu
stellen. Martin Buber fragt in seinem Hauptwerk »Ich und Du«: »Was
weiß man also vom Du?«, und antwortet: »Nur alles. Denn man weiß
von ihm nichts Einzelnes mehr.« 34 Außerhalb des Erlebens der Be-
gegnung scheint das sich in ihr Ereignende nicht erreicht werden zu
können: »Die Beziehung zum Du ist unmittelbar. Zwischen Ich und
Du steht keine Begrifflichkeit […]. Alles Mittel ist Hindernis. Nur wo
alles Mittel zerfallen ist, geschieht die Begegnung.« 35 Jochanan Bloch
stellt in seiner Studie »Die Aporie des Du. Probleme der Dialogik
Martin Bubers« (1977) die Möglichkeit einer Erschließung des Be-
gegnungsereignisses mit den Mitteln des philosophischen Denkens
grundsätzlich in Frage und erblickt darin eine Grenze der Philo-
sophie:

32 Am Ende dieser Arbeit werden im Rahmen abschließender Überlegungen zu den


Perspektiven der in ihr zu entfaltenden Philosophie der Begegnung in Anknüpfung an
die hier skizzierte Buber-Deutung Theunissens knappe Überlegungen zu den Poten-
tialen einer vergleichenden Betrachtung der im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ste-
henden Philosophie Robert Spaemanns mit dem Denken Martin Bubers angestellt. –
Vgl. Abschnitt 12.3.3, Martin Buber und die Philosophie des Dialogs, 920–924.
33
Buber, Aus einer philosophischen Rechenschaft (1961), in: Ders., Werke I, 1114.
34 Buber, Werke I, 84.

35
Ebd. 85.

25

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.
1 Einführung

Die Universitätsphilosophie mag sich noch so erhaben über die in der


Tat zum Schwärmen neigende, da begrifflich »undeutliche« Dialogik
dünken: Sie wird dem Schicksal des Denkens nicht entgehen, am Ende
sein Versagen denken zu müssen. Sie kommt nicht um den in das
objektiv Sagbare einbrechenden Befund herum, daß auch wenn wir
alles Seiende, schlechthin Alles in der dritten Person bezeichnet und
erfaßt haben würden, immer noch die Zuwendung in der zweiten be-
steht, die in der Bezeichnung nicht eingeholt werden kann. Die Phi-
losophie kommt nicht um jene Abgabelung des Sprechens zum Du
von der Rede über Er, Sie und Es herum, durch die wir zum Unverfüg-
baren ausgehen. Natürlich mag sie auch von anderen Hinweisen und
anderen Worten geführt werden: irgendwann wird sie von der Not-
wendigkeit eingeholt, den Widerspruch von Gegenwart und Erkennt-
nis zu bedenken und sich vorstellbar zu machen, daß das wirkliche
Sein des Seins, das wir hier »Gegenwart« nennen – jenseits des Den-
kens liegt. 36
Im Schlusskapitel seiner Studie spricht Bloch daher unter der Über-
schrift »Das Ende der Worte« angesichts einer Wirklichkeit, der un-
sere Begriffe nicht adäquat sind, von der »Unangemessenheit des
Denkens« 37 schlechthin, wenn es darum geht, dem Ereignis der Be-
gegnung gerecht werden zu wollen.
Der hier unternommene Versuch einer ersten philosophischen
Annäherung an den Begriff der Begegnung endet somit in einer Sack-
gasse. ›Begegnung‹ bleibt ein in der Philosophie unverarbeiteter Be-
griff. Dabei konnte durch den knappen Rückblick auf die Geschichte
der Auseinandersetzung mit ihm in den vergangenen hundert Jahren,
der hier zur Klärung seines Vorverständnisses gegeben wurde, doch
auch gezeigt werden, dass mit der Begegnung eine in ihrer Bedeutung
nicht zu bestreitende Problemstellung in den Aufgabenbereich der
Philosophie aufgenommen wurde, deren eigentliche philosophische

36
Bloch, Die Aporie des Du, 316.
37 Ebd. 285. – Vgl. zum ersten Satz aus Bubers »Ich und Du« – »Die Welt ist dem
Menschen zwiefältig nach seiner zwiefältigen Haltung.« (Buber, Werke I, 79) – fol-
gende Bemerkung Blochs: »Tatsächlich hat sich Buber schon im ersten Satz von ›Ich
und Du‹ verrannt. Aber man muß seine Legitimation sehen: denn die Erfahrung, für
die er zeugt, ist wirklich ›erprobt‹. Er muß auf sie hinzeigen. Und er muß, da er spricht
und ein Buch schreibt, in Begriffsformulierungen auf sie hinzeigen – und damit hat er
sich schon an ihr vergangen. Nur wenn man seine Erfahrung ganz ernst nimmt und
man eben darum seine Begriffe nicht ganz ernst nimmt, kann man dem Zeigen folgen.
Die Aporie des von ihm Vorgetragenen ist notwendig, da die Wirklichkeit, die er zeigt,
aporetisch ist; und sie kann sprachlich gar nicht anders als in der Aporie gezeigt wer-
den.« – Bloch, Die Aporie des Du, 285.

26

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1.1 Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs

Verarbeitung jedoch weiterhin als Desiderat zu betrachten ist. Ein


neuer Versuch einer solchen Verarbeitung müsste das Thema der
Dialogik aufgreifen, ohne die durch ihren Zugang zu diesem Thema
gesetzte Unvermittelbarkeit im philosophischen Diskurs zu wieder-
holen. Es bedürfte dazu also eines prinzipiellen Neuansatzes im Den-
ken der Begegnung.

27

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

In der vorliegenden Arbeit wird ein neuer Zugang zur Begegnung


gesucht, der prima facie mit Martin Buber und der Dialogik nichts
zu tun hat. Während der von Buber wesentlich geprägte dialogphi-
losophische Gegenentwurf zum idealistischen Systemdenken in letz-
ter Konsequenz zur Negation des begrifflichen Denkens überhaupt
geführt hat, soll es im Rahmen dieser Arbeit um eine durchaus me-
taphysikfreundliche Position gehen, die von einer Erreichbarkeit des
Phänomens der Begegnung mit begrifflichen Mitteln ausgeht. Diese
wird, wenn sie sich nicht wie die Dialogphilosophie in eine fun-
damentale Opposition zur Geschichte des philosophischen Denkens
begeben will, an Vergangenes anknüpfen und Erinnerung bestimmter
Traditionen im Sinne ihrer Aktualisierung sein müssen. Insofern die-
se Position jedoch ihrerseits quer zu den vorherrschenden Strömun-
gen der Gegenwartsphilosophie steht, kann eine erste Annäherung an
sie am leichtesten auf dem Umweg über einen literarischen Text, ein
Gedicht Johann Wolfgang von Goethes aus dem »West-östlichen Di-
van« 1, erfolgen. Im Rahmen des sechsstrophigen Gedichts »Wieder-
finden« nimmt Goethe Bezug auf den Schöpfungsbericht aus Genesis
1,1–1,4 und deutet diesen um. Es seien zunächst die zweite und dritte
Strophe zitiert:
Als die Welt im tiefsten Grunde
Lag an Gottes ew’ger Brust,
Ordnet’ er die erste Stunde
Mit erhabner Schöpfungslust,
Und er sprach das Wort ›Es werde!‹
Da erklang ein schmerzlich Ach!
Als das All mit Machtgebärde
In die Wirklichkeiten brach.

Auf tat sich das Licht! So trennte


Scheu sich Finsternis von ihm,
Und sogleich die Elemente
Scheidend auseinander fliehn.

1
Es handelt sich um das Gedicht »Wiederfinden« aus dem »Buch Suleika« des
»Divan«, entstanden am 24. September 1815. – Vgl. Böhler, Poeta Absconditus. Zu
Goethes Gedicht Wiederfinden – von Hofmannsthal her gelesen, 4.

28

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

Rasch, in wilden, wüsten Träumen


Jedes nach der Weite rang,
Starr, in ungemeßnen Räumen,
Ohne Sehnsucht, ohne Klang. 2
Vor dem Hintergrund des biblischen Berichts heben diese beiden
Strophen sich durch das anthropomorphe Gottesbild und vor allem
die Betonung des durch die Schöpfung verursachten Leidens ab. Trotz
der Erschaffung des Lichts 3 herrscht ein Trieb zur Ausdehnung, der
nur zu einer allgemeinen Zerstreuung führt. Die erschaffene Welt
erscheint als bedürftig, wenn nicht gar unerlöst, da die individuelle
Tätigkeit der Geschöpfe sich zu keinerlei übergreifender Harmonie
zusammenschließt. Die eigentliche Umdeutung des Schöpfungs-
berichts der Genesis durch Goethe findet sich aber erst in den beiden
darauffolgenden Strophen vier und fünf:
Stumm war alles, still und öde,
Einsam Gott zum erstenmal!
Da erschuf er Morgenröte,
Die erbarmte sich der Qual;
Sie entwickelte dem Trüben
Ein erklingend Farbenspiel,
Und nun konnte wieder lieben
Was erst auseinander fiel.

Und mit eiligem Bestreben


Sucht sich, was sich angehört,
Und zu ungemeßnem Leben
Ist Gefühl und Blick gekehrt.
Sei’s Ergreifen, sei es Raffen,
Wenn es nur sich faßt und hält!
Allah braucht nicht mehr zu schaffen,
Wir erschaffen seine Welt. 4

2
Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83.
3 Michael Böhler weist auf den Unterschied zwischen der Kosmogonie in »Wieder-
finden« und in Goethes Schöpfungsmythos im achten Buch von »Dichtung und
Wahrheit« hin: »Denn dort wird die Expansionsbewegung des Auseinanderstrebens
im Zeichen des Lichts als der Schöpfung ›bessere Hälfte‹ bezeichnet und zur [sic]
›einseitigen Richtung Luzifers‹ in der ›Konzentration‹ auf sich selbst ausschließlich
positiv bewertet – dies in auffallendem Gegensatz zur schmerzvoll vereinsamenden
Wirkung des Auseinanderfliehens der Elemente in der ersten Weltschöpfungsphase
in Wiederfinden.« – Böhler, Poeta Absconditus, 13–14.
4
Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83–84.

29

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1 Einführung

In Anknüpfung an das trostlose Bild der erschaffenen Welt aus der


vorangegangenen Strophe wird das anthropomorphe Bild Gottes
durch die Betonung seiner Empathie mit der Schöpfung in ihrer Be-
dürftigkeit weiter verstärkt. In einem zweiten Schöpfungsakt, von
dem die vierte Strophe nun berichtet, bringt Gott in der Welt die
Schönheit hervor, durch die der zuvor blinde Drang seiner Geschöpfe
eine Zielrichtung erhält. Das allgemeine Streben der erschaffenen
Natur erscheint als lebendige Ausrichtung auf das Schöne, der Schöp-
fung ist damit eine immanente Teleologie eingestiftet. 5 Es sind Ereig-
nisse der Begegnung, die aus dem zweiten Akt der Schöpfung hervor-
gehen und Gott selbst als teilnehmendem Betrachter gegeben sind.
Am Ende der fünften Strophe werden durch das Personalpronomen
›wir‹ zum ersten Mal die Geschöpfe als Subjekt des in seine zweite
Phase getretenen Prozesses der Schöpfung genannt, der als offen auf
die Zukunft hin und zugleich als sein Ziel antizipierend aufgefasst
wird.
Die entscheidende Wendung enthält dieses Gedicht jedoch durch
die Anfangs- und die Schlussstrophe, die die Kosmogonie der Binnen-
strophen einrahmen und scheinbar mit dem Schöpfungsbericht
nichts zu tun haben:
Ist es möglich! Stern der Sterne,
Drück’ ich wieder dich ans Herz!
Ach, was ist die Nacht der Ferne
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!
Ja, du bist es! meiner Freuden
Süßer, lieber Widerpart;
Eingedenk vergangner Leiden,
Schaudr’ ich vor der Gegenwart.
[…]
So, mit morgenroten Flügeln,
Riß es mich an deinen Mund,
Und die Nacht mit tausend Siegeln
Kräftigt sternenhell den Bund.

5 Die in diesen Strophen dargestellte teleologische Verfassung der Natur ist einerseits
in den einzelnen Wesen fundiert und insofern als immanente Teleologie zu bezeich-
nen. Andererseits enthält der zweite Vers der fünften Strophe – »Sucht sich, was sich
angehört,« – doch auch den Anklang an das universalteleologische Bild der Welt als
ökologisches System, so dass eine eindeutige Qualifizierung der teleologischen Vor-
stellung in dem Gedicht nicht möglich ist.

30

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

Beide sind wir auf der Erde


Musterhaft in Freud’ und Qual,
Und ein zweites Wort: Es werde!
Trennt uns nicht zum zweitenmal. 6
Das Unerhörte dieses Gedichts besteht darin, dass es die Begegnung
der Liebenden ist, in deren Zusammenhang die Kosmogonie der Bin-
nenstrophen integriert wird. Im Hinblick auf die Gefühlslagen ist die
Parallele zwischen Mikro- und Makrokosmos deutlich zu erkennen.
Wie im Schöpfungsbericht werden auch in der Begegnung der Lie-
benden Leid und Freude einander gegenübergestellt. Ungewöhnlich
ist nicht der Vergleich, sondern, wie M. Böhler bemerkt, die »Rich-
tung der Gleichnisfunktion« 7. Die kosmogonischen Vorgänge werden
nicht durch den Vergleich mit dem Ereignis zwischenmenschlicher
Begegnung erhellt, »vielmehr dient […] der Weltwerdungsprozeß
zur gleichnishaften Artikulation des subjektiven Geschehens persön-
licher Liebeserfahrung im Zeichen von Trennungsschmerz, Vereini-
gungsfreude und Trennungsbefürchtung« 8. Durch diese Richtung der
Verbindung von Binnen- und Rahmenstrophen erscheinen die sich
begegnenden Personen als Totalitäten, in denen das Bild der Welt
zugleich mit der Erinnerung an ihre Vergangenheit erscheint. Der in
der Kosmogonie vergegenwärtigte Weltzusammenhang wird zualler-
erst erfahrbar in der personalen Begegnung. Dabei erscheint der Be-
zug der Kosmogonie auf die personale Begegnung nicht als eine hy-
bride Selbstüberhebung des Menschen; vielmehr ist die Person in
ihrer ›Musterhaftigkeit‹ Bild der Welt, das sich dem Menschen in
der Begegnung zeigt, ohne dadurch im mindesten zu einem Besitz
zu werden. Personalität setzt so einerseits die Trennung, um die es
im ersten Teil der Kosmogonie geht, voraus und erscheint anderer-
seits als die vollgültige Einlösung der Umkehr im Schöpfungsprozess,
von der ihr zweiter Teil in den Strophen vier und fünf berichtet.
Die hier vorgenommene Deutung von »Wiederfinden« hat somit
als Schlüsselbegriffe Teleologie und Personalität ermittelt, deren Zu-
sammenhang im Ereignis der Begegnung fassbar wird. Das Gedicht
vergegenwärtigt dieses Ereignis durch eine Verengung in zwei Hin-

6 Goethe, Werke (HA), Bd. 2, 83–84.


7 Böhler, Poeta Absconditus, 11.
8
Ebd. – Der Deutung Böhlers, dass dies »in beinahe hybrider – oder verzweifelter –
Vertauschung« geschieht, kann ich mich allerdings, wie im Folgenden erläutert wird,
nicht anschließen.

31

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1 Einführung

sichten. Zum einen enthält es eine schöpfungstheologische Aussage,


deren Annahme eine Glaubensentscheidung ist. Zum anderen ist die
Begegnung in den erotischen Kontext einer Liebesbeziehung gestellt.
Im Sinne einer philosophischen Ausdeutung des Textes, die auf den
zentralen Zusammenhang von Teleologie und Personalität ausgerich-
tet ist, kann von diesen beiden Verengungen abstrahiert werden. Die
Annahme einer immanenten Teleologie der Natur ist auch mit einer
agnostischen Weltsicht vereinbar. Die Begegnung von Personen ist
als existentielles Ereignis auch vorstellbar ohne die erotischen Kon-
notationen der letzten Strophe. Was in einer solchen abstrahierenden
Lesart des Divan-Gedichts bleibt und auf die hier verfolgte Konzepti-
on einer Philosophie der Begegnung vorausweist, ist die Reflexion
auf den Zusammenhang einer teleologischen Naturphilosophie und
einer personalen Anthropologie. Personalität steht in einer inneren
Beziehung zum teleologischen Ausgerichtetsein und zugleich in einer
Differenz zu ihm. Dabei erscheint dieser Zusammenhang nicht als ein
deduzierbarer Gedanke, sondern ganz wesentlich als Ereignis der Be-
gegnung. Mit diesem Fazit soll die philosophische Exegese dieses
lyrischen Textes abgeschlossen sein. Festzuhalten ist, dass in der Aus-
einandersetzung mit Goethes Gedicht somit erste Orientierungs-
punkte für die Richtung gewonnen wurden, in der hier nach einer
Philosophie der Begegnung zu suchen sein wird.
Die Idee einer möglichen Philosophie der Begegnung entstammt
jener Dimension der Welt der Erfahrung, die sich in dem Bewusstsein
davon äußert, dass das eigene Selbstsein sich einem Beitrag von au-
ßen verdankt, der sich der Verfügung innerhalb des eigenen Bewusst-
seinshorizontes entzieht. Insofern Philosophie in ihrem Bemühen um
eine angemessene begriffliche Fassung der Stellung des Menschen im
Ganzen der Welt sich im Horizont des Bewusstseins bewegt, selbst
wenn sie dabei auf ein Jenseits desselben reflektiert, beinhaltet bereits
die Begriffsbildung ›Philosophie der Begegnung‹ eine innere Span-
nung, die für den hier verfolgten Neuansatz konstitutiv sein wird.
Der Philosophie der Begegnung geht es schon ihrem Begriff nach
um etwas, was sich dem Zugriff der Philosophie scheinbar entziehen
muss. Angesichts dieser aporetischen Ausgangslage liegen zwei Hal-
tungen ihr gegenüber nahe. Die Widerständigkeit ihres Gegenstandes
lässt sich als Indiz für eine falsche Fragestellung verstehen oder aber
die aus der Erfahrungswelt stammende Überzeugung von der Rele-
vanz der Fragestellung ist so groß, dass ihre Widerständigkeit zwar
als ein Problem begriffen wird, dieses aber gerade zum Ansporn wird

32

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

zu beweisen, dass ihr Gegenstand sich eben nur scheinbar entzieht,


dass es also eine Frage des philosophischen Instrumentariums ist, ihr
gerecht werden zu können. Im Bereich dieser Vorentscheidung kann
die Strahlkraft erfahrener Begegnungsereignisse das wesentliche Mo-
tiv sein, an der Idee einer Philosophie der Begegnung festzuhalten.
Ihr Grundmotiv besteht in der Intuition anderen Selbstseins, das ers-
tens in der subjektiven Gegenstandswahrnehmung nicht aufgeht und
das zweitens auf zunächst ungeklärte Weise verbunden ist mit der
Entstehung eigenen Selbstseins. In den Mittelpunkt der Aufmerk-
samkeit rückt damit die Frage, inwiefern der Gegenstand einer Phi-
losophie der Begegnung sich der philosophischen Reflexion scheinbar
entzieht. Genau besehen wird damit ein ganzes Spektrum von Fragen
aufgefächert: Welcher Art philosophischer Reflexion entzieht dieser
Gegenstand sich zwangsläufig? Durch welche Denkbewegung lässt
sich der Schein des Sich-Entziehens auflösen? Welchen besonderen
Status muss der von diesem Schein befreite Gegenstand innerhalb
der philosophischen Reflexion haben? Wie modifiziert sich das
Selbstverständnis philosophischer Reflexion durch diese Erweiterung
ihres Gegenstandsbereichs?
Die den Zusammenhang der vorliegenden Arbeit stiftende These
besteht darin, dass eine Philosophie der Begegnung in dem hier sich
andeutenden Sinn im umfangreichen Werk eines Denkers des 20. und
21. Jahrhunderts gefunden werden kann, das ungeachtet einer Viel-
zahl ihm gewidmeter Detailuntersuchungen und einiger weniger
Versuche einer Gesamtschau bis heute als wenig erforscht gelten
muss. Die Rede ist vom philosophischen Werk Robert Spaemanns
(1927–2018), dem die folgenden Untersuchungen gewidmet sein wer-
den. Formal zeichnen sich seine Texte durch ihre stilistische Brillanz
und die Klarheit der Gedankenführung aus. Auf das Gesamtwerk hin
betrachtet beeindruckt die enorme Breite des thematischen Horizonts
und die erstaunliche Kohärenz seines Denkens über viele Jahrzehnte
hinweg. Seine in 14 Sprachen übersetzten Werke haben eine große
Wirkung entfaltet. 9 Als bisher unbeantwortet muss in der Forschung
die Frage gelten, in welchem Verhältnis die Teile zum Ganzen, die
Argumentationen Spaemanns im Einzelnen zur Philosophie Spae-
manns in ihrem Zusammenhang stehen. Wie Holger Zaborowski in
seiner Spaemann-Monographie bemerkte, ist eine Gesamtdeutung

9 Vgl. Schweidler/Fritz, Zum Tod des Philosophen Robert Spaemann. Ein katho-
lischer Intellektueller mit ungeheurer Wirkung.

33

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1 Einführung

der Philosophie Spaemanns noch immer ein Desiderat und der Ver-
such einer solchen stünde vor einer schwierigen Aufgabe:
A full-scale analysis of the outlook and the implications of his thought
is still awaited. This kind of overview is particularly important because
it is impossible to understand one feature of Spaemann’s thought thor-
oughly except in the context of the whole. […] It should be said,
though, that the coherence and complexity of Spaemann’s thought
make it a difficult challenge to provide a comprehensive and systema-
tic account. There is always the danger of losing sight either of the
overall context or of the details and subtle nuances of his philosophy. 10
Spaemann selbst hat kaum Versuche einer Selbstdeutung der Zusam-
menhänge seines Denkens unternommen, das Zaborowski mit einem
Hologramm vergleicht, in dem die Teile und das Ganze einander äh-
neln. 11 Charakteristisch für Spaemanns Philosophieren ist der Essay-
ismus der Form. Nicht nur besteht der weit überwiegende Teil seines
Gesamtwerks aus Essays und Reden, sondern auch seine Hauptwerke
»Glück und Wohlwollen« und »Personen« sind jeweils in relativ selb-
ständige »Versuche« 12 unterteilt. Der Essay, so konstatiert Lothar
Černý, »macht Schluß mit der Philosophie als Schule und Wissen-
schaft und kehrt zurück zu ihrem Eigentlichen, das ihr Name aus-
drückt: zur Liebe der Weisheit nämlich, zur Weisheit, die der Lebens-
erfahrung entspringt und nicht der Gelehrtenstube« 13. Und weiter
bemerkt Černý:
In dieser Wendung zur Erfahrung liegt die Kritik an der abstrakten
Vernunft aus weltoffener Skepsis heraus. Aber im Verzicht auf die
abstrakte Vernunft liegt zugleich die List der Vernunft. Der Verzicht
auf strenge Logik läuft parallel zu einer Haltung, die man fast »epoché«
nennen möchte. Alles wird beobachtet, aber nichts für selbstverständ-

10
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 10–11.
11 Vgl.: »Spaemann’s thought can be compared to a hologram in which the parts
resemble the whole and one another: the components of Spaemann’s philosophy elu-
cidate one another.« – Ebd. 11. – Vgl. auch: »Spaemann’s philosophy is systematic in
that it explores the coherence of different features and areas of reality. However, it is
not systematic in the sense that it develops a closed systematization of reality subject
to a priori principles of, say, subjectivity, of a special political ideology, or the metho-
dology of scientific reasoning.« – Ebd. 12.
12 »Glück und Wohlwollen« (1989) trägt den Untertitel »Versuch über Ethik«, »Per-

sonen« (1996) den Untertitel »Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und
›jemand‹«.
13
Černý, Essay, in: HWPh II, col. 748.

34

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

lich und vom Bewußtsein unabhängig erachtet. Erkenntnis dieser Art


ist mosaikartig. Die Logik des Ganzen ergibt sich aus der Gesamtheit
des Zusammengesetzten. Solches Verfahren gewährleistet breitere Er-
fassung von Wirklichkeit und steht damit im Gegensatz zur Linearität
und Eindimensionalität logischen Vorgehens. Die Intuition nimmt da-
bei eine hervorragende Rolle ein. 14
Neben der Ablösung der abstrakten Vernunft durch die Intuition ist
für die Form des Essays jedoch auch, wie Robert Musil im »Mann
ohne Eigenschaften« betont, eine spezifische Ausprägung von Ge-
nauigkeit charakteristisch:
[…] ein Essay ist die einmalige und unabänderliche Gestalt, die das
innere Leben eines Menschen in einem entscheidenden Gedanken an-
nimmt. Nichts ist dem fremder als die Unverantwortlichkeit und
Halbfertigkeit der Einfälle, die man Subjektivität nennt, aber auch
wahr und falsch, klug und unklug sind keine Begriffe, die sich auf
solche Gedanken anwenden lassen, die dennoch Gesetzen unterstehen,
die nicht weniger streng sind, als sie zart und unaussprechlich er-
scheinen. 15
Der Essay ist demnach eine Form der Exaktheit, in der eine Reduzie-
rung der Gegenstände auf einfache Begriffszusammenhänge vermie-
den wird, woraus sich die prinzipielle Frage nach der möglichen Aus-
legung der Essayisten ergibt, in der Musil eine skeptische Position
vertritt: »Die Lehre der Ergriffenen zerfällt in der Vernunft der Un-
ergriffenen zu Staub, Widerspruch und Unsinn« 16. Eine Auslegung
des Denkens eines Essayisten verfiele demnach nur dann nicht
diesem Verdikt, wenn das Moment der Ergriffenheit dadurch in der
Auslegung bewahrt werden kann, dass das Organisationsprinzip der
Essayistik selbst – die Ähnlichkeit der Teile und des Ganzen im
Hologramm, von der Zaborowski, bzw. die Gesetze, von denen Musil
spricht, – benannt und beschrieben werden kann.
In der vorliegenden Arbeit wird die These vertreten, dass das
Organisationsprinzip der Essayistik Spaemanns mit dem Begriff der
Begegnung benannt und dieses aus ihm heraus expliziert werden
kann. Der Begriff der Begegnung gewinnt im Zuge der Entfaltung
seines Denkens über viele Jahrzehnte hinweg allmählich an Bedeu-

14 Černý, Essay, in: HWPh II, col. 748.


15
S. Kapitel 62. »Auch die Erde, namentlich aber Ulrich, huldigt der Utopie des
Essayismus«, in: Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 253.
16
Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, 254.

35

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1 Einführung

tung und tritt in seinen späten Hauptwerken »Glück und Wohlwol-


len« und »Personen« an zentralen Stellen auf, ohne allerdings explizit
als Schlüsselbegriff seiner Philosophie ausgewiesen zu werden. Bevor
im Rahmen dieser Arbeit die Untersuchung von Spaemanns Werk
beginnen kann, muss vorab der Horizont geklärt werden, in dem sei-
ne Erschließung sich bewegen wird. Da ›Begegnung‹, wie die ein-
leitenden Überlegungen gezeigt haben, nicht als in der Philosophie
etablierter Begriff bezeichnet werden kann, bedarf es zunächst zur
weiteren Explikation des hier verfolgten philosophischen Problems
im zweiten Kapitel einer Erläuterung der Denkbewegung einer Phi-
losophie der Begegnung. Es geht dabei um eine Verortung des
Begriffs in konkreten philosophischen Kontexten, durch die die pro-
grammatische Voraussetzung für den zentralen zweiten Teil der
Arbeit geschaffen und ein vorläufiges Verständnis des Begegnungs-
begriffs entwickelt wird, indem Orientierungspunkte in ein Ko-
ordinatensystem eingetragen werden, das der diachronen Unter-
suchung des Spaemann’schen Werks im zweiten Teil zugrunde liegt.
Die wesentlichen Orientierungspunkte in diesem Koordinatensys-
tem, durch die eine Annäherung an den philosophischen Begriff der
Begegnung möglich wird, können mit den Begriffen ›Subjekt‹,
›Transzendenz‹, das ›Negative‹, ›Kontingenz‹ und ›Freiheit‹ be-
zeichnet werden. Die Auseinandersetzung mit diesen fünf Begriffen
bringt die Denkbewegung hervor, die dann in die Betrachtung von
Spaemanns Werk hineingenommen werden soll.
Der zweite, der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Be-
gegnung im Werk Robert Spaemanns gewidmete Teil der vorliegen-
den Arbeit ist aufgrund des zu rekonstruierenden weiten Entwick-
lungsweges dieses Denkers mit Abstand der umfangreichste. In
sieben Kapiteln einer diachronen Werkuntersuchung wird hier der
geistige Werdegang Spaemanns von den 1950er Jahren bis in sein
letztes Lebensjahrzehnt nachvollzogen. Der Begriff der Begegnung
wird in der Betrachtung der Schriften Spaemanns allmählich eine
explizite Rolle zu spielen beginnen und zunehmend in den Mittel-
punkt der hier versuchten Auslegung treten. Im Rahmen dieser dia-
chronen Untersuchung der Werke Spaemanns werden Ergebnisse der
Forschungsliteratur dann einbezogen, wenn die Auseinandersetzung
mit ihnen im Kontext der Entfaltung einer Philosophie der Begeg-
nung ergiebig ist. Auf die konkreten Inhalte des zweiten Teils soll an
dieser Stelle nicht vorgegriffen werden. Stattdessen soll die Art der
Auseinandersetzung mit dem Denken Spaemanns vorgängig kom-

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

mentiert werden. Dem Leser des zweiten Teils dieser Arbeit wird eine
gewisse affirmative Grundhaltung ihres Autors gegenüber dem Den-
ken Spaemanns nicht entgehen, die sich konkret darin zeigt, dass im
diachronen Nachvollzug seiner philosophischen Intentionen weniger
die kritische Auseinandersetzung mit Einzelpositionen als die Suche
nach dem Organisationsprinzip dieses Denkens im Mittelpunkt steht.
Dass sich in dieser Herangehensweise keine unkritische Übernahme
der genannten philosophischen Intentionen verbirgt, soll durch den
expliziten Hinweis auf eine empfundene Übereinstimmung zwischen
dem Autor dieser Arbeit und Robert Spaemann als dem in ihrem
Mittelpunkt stehenden Denker gezeigt werden, wobei anschließend
nach der Bedeutung dieser Übereinstimmung für die Auslegung sei-
nes Werks zu fragen sein wird. Es geht bei dieser Übereinstimmung –
denkbar global – um eine Grundhaltung zur Welt, die als eine be-
stimmte Haltung gegenüber dem Phänomen ›Leben‹ konkretisiert
werden kann. Diese Haltung gewinnt zwar in der Philosophie Bedeu-
tung, geht ihr aber vorauf und kann daher selbst nicht philosophisch
genannt werden. In Frage steht dabei, ob das begegnende Andere –
gemeint ist nicht nur die andere Person, sondern allgemeiner das an-
dere Lebewesen, vielleicht in letzter Verallgemeinerung das Andere
der Begegnung schlechthin – in seiner Gegebenheit für das Subjekt
der Erkenntnis aufgeht oder ob dieses Andere aufgefasst wird als et-
was, das sich immer auch zum Teil verbirgt und das durch das Subjekt
der Erkenntnis nur anerkannt werden kann. Eine etwas vereinfachte
Formulierung der Frage wäre, ob Lebensphänomene prinzipiell der
wissenschaftlichen Erklärbarkeit unterliegen oder ob sie etwas Un-
einholbares sind. In diesen Fragen vertritt Spaemann in seinen Wer-
ken – und es dürfte kaum einen Text von ihm geben, in dem diese
prinzipielle Vorentscheidung nicht zumindest implizit eine Rolle
spielt – eine dezidiert antireduktionistische Haltung, indem er das
Moment des Uneinholbaren im Begegnenden betont. Nun ist diese
Vorentscheidung keineswegs trivial. Spaemann ist in den öffentlichen
Diskursen über Jahrzehnte hinweg vor allen Dingen durch seine nicht
selten polemischen Einlassungen zu ethischen Fragestellungen – zur
Abtreibung, zur Sterbehilfe, zur Nutzung der Kernenergie usw. –
wahrgenommen worden, in denen er sich als überaus streitbarer
Denker gezeigt hat. In ihrem Nachruf in der »Zeit« schrieb Ijoma
Mangold: »Robert Spaemann war ein erbarmungsloser Polemiker,
seine schärfste Waffe war die blitzende Klarheit seiner Argumente.
Manchmal konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Schaum

37

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1 Einführung

vor dem Mund seiner Gegner, deren Wut er provoziert hatte, ihn
befriedigte.« 17 Die Stoßrichtung seiner polemischen Haltung ergab
sich dabei sehr oft aus der Ablehnung des Reduktionismus und aus
seinem zentralen Anliegen der »Rettung des Lebendigen« 18. Wenn
man dieses Anliegen mit Spaemann teilt, zeigt sich, dass er genau
genommen nur darin dogmatisch auftritt, dass er Dogmen ablehnt,
und dies in dem exakten Sinn, dass die ständige Inspirationsquelle
seines Denkens und der Ausgangspunkt seines Philosophierens die
Ehrfurcht vor dem Leben ist. Unter diesem entscheidenden Vorzei-
chen seines Denkens vertritt Spaemann eine am ehesten sokratisch zu
nennende Geisteshaltung, in der er aus dem Dialog mit anderen
Positionen seine Gedanken argumentativ entwickelt, ohne diese sei-
nen Gesprächspartnern aufzudrängen. Dabei entstand im Laufe der
Zeit kein Lehrgebäude und kein Spaemann’sches System, sondern
ein äußerst komplexes Gefüge sich wechselseitig stützender Argu-
mente, die im Einzelnen immer dem Widerspruch gegenüber offen
sind. Aus diesem Charakteristikum seines Denkens ergibt sich, dass
man – im Falle der Übereinstimmung mit der benannten Grundüber-
zeugung – in seinen weit verzweigten Gedankenräumen mit Spae-
mann in einen Dialog treten kann, in dem er nicht Lehrmeister,
sondern Geburtshelfer ist, weswegen eine gewisse affirmative
Grundhaltung, die ihm im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ent-
gegengebracht wird, kein Zeichen einer unkritischen Haltung, son-
dern eine Voraussetzung des philosophischen Dialogs ist, die an den
Ursprüngen dessen ansetzt, was als Philosophie verstanden wird.
Nachdem im zweiten Teil das Denken Spaemanns als Philoso-
phie der Begegnung dargestellt wurde, widmet sich der abschließende
dritte Teil auf verschiedenen Ebenen den Perspektiven, die diese Phi-
losophie der Begegnung eröffnet. Zunächst geht es dabei um alter-
native Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk, die erst an dieser
Stelle als Gesamtdeutungen der Spaemann’schen Philosophie be-
trachtet und mit der hier vorgelegten Interpretation verglichen wer-
den. In einem zweiten Schritt geht es um alternative Beiträge zur
Philosophie der Person als dem Thema, durch das Spaemanns Denken
im philosophischen Diskurs der Gegenwart am stärksten verankert
ist. Die personenphilosophischen Konzeptionen anderer Denker wer-

17
Mangold, Freigeist und Polemiker. Zum Tod des großen Philosophen Robert Spae-
mann.
18
Ebd.

38

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1.2 Der Neuansatz im Denken der Begegnung

den hier kritisch geprüft und – ähnlich wie im ersten Schritt – in einer
rückläufigen Betrachtung auf die Ergebnisse des zweiten Teils dieser
Arbeit bezogen. In einem dritten Schritt wird schließlich das Fazit
gezogen und ausgehend von der Betrachtung des ›Urphänomens‹ der
Begegnung im Rahmen eines Gedankenexperiments eine letztgültige
Fassung des zentralen Begriffs der Begegnung versucht. Die Arbeit
wird abgeschlossen durch Ausblicke auf mögliche Weiterführungen
des hier entwickelten Ansatzes einer Philosophie der Begegnung.

39

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2 Die Denkbewegung einer
Philosophie der Begegnung

Der folgende Gedankengang zur näheren Explikation des philosophi-


schen Problems der Begegnung beschreibt eine Bewegung, die man
mit dem Lauf einer Wendeltreppe vergleichen kann. Die Reflexions-
bewegung besteht in einer stufenweisen Steigung, durch die am Ende
des Umlaufs der Punkt erreicht wird, an dem einerseits auf den An-
fang Bezug genommen wird, an dem andererseits gegenüber diesem
eine neue Position gewonnen ist. Ausgangspunkt des Gedankengangs
ist das Subjekt, das Ziel der Begriff des Selbstseins, das in einer zu
bestimmenden Beziehung zum Subjektbegriff steht. Zwischen dem
Anfangs- und dem Endpunkt der Gedankenbewegung geht es um
das Transzendieren des Subjekts, um das Worauf der Transzendenz
und um den Blick von diesem zurück auf die Verwandlung des Trans-
zendierenden. Im Bild der Wendeltreppe, mit der der Gedankengang
verglichen wird, ist hervorzuheben, dass ihr Grundriss kreisförmig
ist, wohingegen sie in der perspektivischen Betrachtung von oben als
eine Spirale erscheint. Die Kreisbewegung einerseits und die als Aus-
bruch aus dem Kreis perspektivisch wahrnehmbare Steigung stehen
in einem Spannungsverhältnis, das nach einem kurzen Überblick
über die gedanklichen Schritte bedacht werden soll.
Der Gedankengang geht im ersten Teilkapitel von der Reflexion
auf den Begriff des Subjekts aus, der auf seinen Ursprung hin befragt
wird, um in einer kursorischen philosophiehistorischen Betrachtung
den neuzeitlichen Subjekt-Wechsel darzustellen, in dem die substanz-
ontologische Bedeutung des Subjektbegriffs durch ein erkenntnis-
theoretisches Verständnis ersetzt wurde, nicht ohne allerdings eine
wesentliche regulative Funktion des überwundenen Substanz-Sub-
jekts zu bewahren. Der erste Schritt des Gedankengangs führt damit
zur Frage nach der Aktualisierbarkeit des Substanz-Subjekts in der
Idee des Selbstseins (2.1). – Ausgangspunkt des zweiten Teilkapitels
ist die Frage nach der Möglichkeit, den subjektiven Horizont auf ein
Selbstsein hin zu transzendieren. Angesichts des Ausschlusses trans-

41

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

zendenter Erkenntnis in der Transzendentalphilosophie einerseits,


der Tendenz der Dialogik zur religiösen Spekulation andererseits wird
ein neuer Zugang zum Negativen aus dem antiken Naturverständnis
entwickelt und dessen Aktualisierbarkeit geprüft. Mit Bezug auf das
Konzept der exzentrischen Positionalität soll eine Deutung des Ver-
hältnisses des Natürlichen und des Vernünftigen vorgenommen wer-
den, die eine Differenzierung zwischen einer natürlichen und einer
autonomen Vernunft erlaubt. Der Gedankengang führt zu dem Er-
gebnis, dass eine Erkenntnis des Transzendenten in der natürlichen
Vernunft als Übersteigen des Horizonts subjektiver Intentionalität
denkbar ist (2.2). – Die ontologische Frage nach dem Wesen, das zu
der zuvor erörterten Wahrnehmung fähig ist, führt im dritten Teil-
kapitel zum heuristischen Begriff der Person, der durch negative Be-
stimmungen eingegrenzt wird. Durch einen Vergleich des personalen
Standpunkts mit der autonomen Vernunft als verschiedene Interpre-
tationen der exzentrischen Positionalität wird die Orientierung an
einem anderen Zentrum der Bedeutsamkeit als wesentliches Kenn-
zeichen der Personalität dargelegt und das Verhältnis der Person zur
Welt ausgehend vom Modell ihres Selbstverhältnisses als Kontin-
genzbewusstsein und analoge Wahrnehmung von Mitsein beschrie-
ben. Das personale Verständnis der Freiheit erweist sich vor dem Hin-
tergrund des traditionellen Vorverständnisses der Freiheit im Sinne
von Autonomie (Kant) als eine in der Natur fundierte Freiheit, die
ihren eigentlichen Ort im Ereignis der Begegnung hat. Aus diesem
geht der Gedanke einer Umkehr der Perspektive hervor, in der sich
das Selbstsein als die gesuchte Aktualisierung des verlorenen Sub-
stanz-Subjekts zu erkennen gibt (2.3).
Der Gedankengang dieser Explikation bewegt sich im Kreis, in-
sofern der Reflexionsposition des ›ich denke‹ nicht zu entkommen ist.
Auch das Transzendente als Jenseits des in subjektiver Intentionalität
Gegebenen bleibt ein Gedanke, wenn von ihm gesprochen wird. Jedes
Transzendieren des Subjekts geht in den subjektiven Horizont ein,
sobald die Reflexion diesen Akt erfasst. Wie ist dann aber der Abstand
des Endpunkts der Bewegung von seinem Anfangspunkt vor Augen
zu führen? Hier geht es wesentlich um eine Differenz, – die Differenz
zwischen dem Denkbaren und dem, was das Denken als seine eigene
Bedingung anerkennen kann. Hier gibt es keine zwingende Evidenz,
sondern nur die in der Erfahrung gründende Überzeugung, dass das
evident Gegebene nicht alles ist. Der folgende Gedankengang stellt
keine zwingende Deduktion dar, sondern geht einerseits aus von den

42

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

Aporien eines reinen Denkens, andererseits von Erfahrungen, zu de-


nen das Denken sich als zu dem Anderen seiner selbst in eine Bezie-
hung setzen kann. Mit Bezug auf das eingangs erwähnte Bild der
Wendeltreppe ist darauf hinzuweisen, dass der perspektivisch von
oben wahrnehmbare Ausbruch aus dem Kreis nur zustande kommt
unter der Bedingung, dass die Gedankenbewegung, zu der hier zu
überreden versucht wird, nachvollzogen wird. Solange dies nicht der
Fall ist, bleibt es unweigerlich bei einer Kreisbewegung, die nichts
Neues hervorbringt. Der angestrebte Ausbruch aus dem Kreis wie-
derum stellt aber diejenige Gedankenbewegung dar, die der diachro-
nen Erschließung der Schriften Robert Spaemanns im zweiten Teil
dieser Arbeit zugrunde liegen wird. Die folgende Explikation des Pro-
blems einer Philosophie der Begegnung verfolgt das Ziel, auf die Aus-
einandersetzung mit dem im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden
Werk Robert Spaemanns vorzubereiten. An der Frage, ob sich der
Leser im Folgenden im Kreis bewegen oder ob er einen Ausbruch
aus dem Kreis wahrnehmen wird, dürfte sich auch entscheiden, wie
gewinnbringend die nachfolgende Untersuchung der Philosophie
Spaemanns für ihn wird sein können.

43

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und
der verlorene Begriff der Substanz

Das Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung be-


steht, wie eingangs bemerkt wurde, in der Intuition anderen Selbst-
seins, das erstens in der subjektiven Gegenstandswahrnehmung nicht
aufgeht und das zweitens auf zunächst ungeklärte Weise verbunden
ist mit der Genese eigenen Selbstseins. Der Begriff der Begegnung
zielt also, wenn mit ihm etwas philosophisch Bedeutsames gemeint
sein soll, auf eine Wahrnehmung von Sein, das selbst jenseits objek-
tiver Gegebenheit für ein Subjekt zu verorten ist. Mit dieser Fest-
stellung ist bereits die Kritik des neuzeitlichen Subjektbegriffs als
Ausgangspunkt der Explikation des philosophischen Problems der
Begegnung benannt. Wenn die Tätigkeit des Philosophierens carte-
sisch auf das ›cogito‹ bzw. kantisch auf das ›ich denke‹ zurückgeführt
wird, ergibt sich – zumindest grammatikalisch – ein prinzipieller
Ausschluss des in der Philosophie der Begegnung angezielten Be-
reichs des Seins bzw. Selbstseins, insofern alles Denkbare Objekt die-
ses Prädikats ist. Unter dem grammatischen Gesichtspunkt lässt sich
der prinzipielle Ausschluss allenfalls durch die Erwägung relativie-
ren, dass die Stelle des Subjekts im ›ich denke‹ von beliebigen Indivi-
duen eingenommen werden kann, deren Horizonte nicht zusammen-
fallen müssen, so dass ein Jenseits des individuellen Horizontes
denkbar wird. Da diese Horizonte aber der Möglichkeit nach zumin-
dest näherungsweise zur Kongruenz gebracht werden können, ist von
dieser Erwägung nicht zu einem prinzipiellen Jenseits objektiver Ge-
gebenheit zu gelangen. Den Gegenstand der Philosophie der Begeg-
nung gäbe es demnach nicht. Auch wenn es hierbei prima facie nur
um eine die Grammatik betreffende Schlussfolgerung geht, spiegelt
sich in ihr doch im Allgemeinen das erkenntnistheoretische Ver-
ständnis des neuzeitlichen Subjektbegriffs wider, wie es etwa in
einem aktuellen Wörterbuch der philosophischen Begriffe erläutert
wird: Der Begriff Subjekt bezeichnet demnach »das erkennende Ich
als Inbegriff der Erkenntnisfunktionen und Erkenntnisformen im
Gegensatz zu den Objekten, den zu erkennenden Gegenständen, bei
I. Kant das von den Besonderheiten der Einzel-Iche frei gedachte Be-
wußtsein überhaupt« 1. Vor diesem Hintergrund scheint sich die
bloße Idee einer Philosophie der Begegnung durch ihr Grundmotiv

44

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz

in einen so radikalen Gegensatz zum philosophischen Diskurs und


den Bedingungen des Denkens überhaupt zu stellen, dass eine Ver-
mittlung unmöglich ist. Dass der neuzeitliche Subjektbegriff jedoch
keineswegs so monolithisch abgeschlossen ist, wie es scheint, und
eine Vermittlung mit der Idee einer Philosophie der Begegnung
durchaus denkbar ist, kann zunächst durch eine historische Betrach-
tung des philosophischen Subjektbegriffs gezeigt werden. Dabei soll
auf den Ursprung dieses Begriffs zurückgegangen und der Wandel
seiner Bedeutung bis zur Neuzeit knapp betrachtet werden.
Der lateinische Begriff subiectum – wörtlich das »Darunter-
geworfene« 2 – ist die Übersetzung des griechischen ὑποκείμενον –
wörtlich das »darunter Liegende« 3 –, das bei Aristoteles seine wesent-
liche terminologische Entfaltung gefunden hat. Der Begriff kommt
bei ihm »in verschiedenen Kontexten vor, zum einen logisch-onto-
logisch in der Lehre von den Kategorien und Prädikabilien, zum an-
deren naturphilosophisch (als Synonym für ὕλη in der Theorie des
Werdens und der Veränderung)« 4. Im hier interessierenden Zusam-
menhang ist die logisch-ontologische Verwendung von Bedeutung.
Im Buch Ζ (VII) der Metaphysik bestimmt Aristoteles den Begriff
ὑποκείμενον als Hauptbedeutung von οὐσία (Wesen): »Das Zu-
grundeliegende aber ist dasjenige, von dem das übrige ausgesagt
wird, das selbst aber nicht wieder von einem anderen ausgesagt wird.
Darum müssen wir zuerst über dieses Bestimmungen treffen, da das
erste Zugrundeliegende (Subjekt) am meisten Wesen zu sein
scheint.« 5 Das ὑποκείμενον ist somit Subjekt jeder Satzaussage, wo-
bei seine Bedeutung sich nicht in dieser logischen Verwendung er-
schöpft: »Die ousia qua hypokeimenon ist indes nicht nur als gram-
matische Kategorie aufgefaßt. Das grammatische Verhältnis der
Aussage ist zugleich die Widerspiegelung eines ontologischen Ver-
hältnisses.« 6 Im ontologischen Sinn ist das Subjekt für Aristoteles

1
Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt.
2 Ebd.

3 Ebd.

4 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 373.

5 Aristoteles, Metaphysik [1028 b 36–1029 a 2], 9. – Griechischer Text: »τὸ δ᾽ ὑπο-

κείμενόν ἐστι καθ᾽ οὗ τὰ ἄλλα λέγεται, ἐκεῖνο δ᾽ αὐτὸ μηκέτι κατ᾽ ἄλλου. διὸ
πρῶτον περὶ τούτου διοριστέον· μάλιστα γὰρ δοκεῖ εἶναι οὐσία τὸ ὑποκείμενον
πρῶτον.« – Ebd. 8.
6
Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39–40.

45

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

eine unveränderliche Substanz als Träger von Eigenschaften (Akzi-


denzien):
Die ousia ist das in allen Bestimmungen, in denen ein – wie auch
immer geartetes – Sein gefaßt wird, zum Vorschein Kommende bezie-
hungsweise sich selbst zum Vorschein Bringende. Qualität und Quan-
tität, räumliches und zeitliches Sein sind jeweils Sein an der ousia,
setzen sie als zugrundeliegend voraus. Die ousia ist der bestimmende
Grund aller jener Bestimmungen, die von ihr ausgesagt werden kön-
nen, das heißt der übrigen Kategorien. Sie ist die erste Kategorie, und
diese Erstlichkeit heißt nichts anderes, als daß sie das Zugrundeliegen-
de ist für alles Aussagen (kategorein). 7
Der antike Subjekt-Begriff vereint damit in seiner für die aristote-
lische Metaphysik charakteristischen logisch-ontologischen Doppel-
deutigkeit zentraler Begriffe einerseits die aus unserer Perspektive
leicht nachvollziehbare logische Bedeutung des letzten Aussagen-
gegenstands mit der uns gänzlich fremden ontologischen Bedeutung
des vom Erkenntnisprozess unabhängig Seienden, das allen wahr-
nehmbaren Eigenschaften zugrunde liegt.
Während der Begriff Subjekt in seiner logischen bzw. grammati-
schen Bedeutung seit der klassischen Antike kaum eine nennenswer-
te Veränderung erfahren hat, wurde das in seiner ontologischen Be-
deutung von ihm Bezeichnete seit dem ersten nachchristlichen
Jahrhundert zunehmend mit dem Kunstwort substantia benannt. 8
Daher wird in der auf Aristoteles zurückgehenden Kategorienlehre
die οὐσία als erste Kategorie und somit als ὑποκείμενον (Subjekt),
das den übrigen Kategorien – den συμβεβηκότα (Akzidenzien) – zu-
grunde liegt 9, traditionell mit dem Begriff Substanz gefasst. Will man
sich also die Geschichte des Subjekt-Begriffs von der Antike bis zur
Neuzeit vergegenwärtigen, kommt man nicht umhin, die Betrach-
tung auf das interdependente Begriffspaar Subjekt/Substanz aus-
zudehnen. Trotz wesentlicher Modifikationen insbesondere in der

7 Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 41.


8 Vgl.: »Das Kunstwort ›substantia‹ dient seit seinem ersten Auftreten bei Seneca als
lat. Äquivalent des griech. ὑπόστασις, seit Quintilian daneben auch als Äquivalent
für οὐσία. Bei Marius Victorinus ist ›substantia‹ als Übersetzung für οὐσία speziell in
der Bedeutung der ersten aristotelischen Kategorie belegt, während οὐσία vorher
durch das dem Griechischen nachgebildete ›essentia‹ übersetzt wurde. Bereits Ter-
tullian setzt den Gegensatz von ›substantia‹ und ›accidens‹ als selbstverständlich vo-
raus«. – Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 495.
9
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch Δ, 1025 a 14–34.

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz

Scholastik blieb das aristotelische Substanz/Akzidens-Schema von


der Antike bis in die frühe Neuzeit im philosophischen Denken maß-
gebend und der Begriff Substanz für das »Selbständige, Fürsich-
bestehende im Unterschied zu dem Unselbständigen, nur an anderem
Bestehenden« 10 erhalten. Insofern Descartes als »Vater« 11 bzw. »Be-
gründer der neuzeitlichen Philosophie« 12 bezeichnet wird, könnte
man vermuten, dass der Bruch mit der aristotelischen Substanzonto-
logie in jenem fundamentum inconcussum zu suchen ist, als das jener
seinen Zweifelsbeweis verstand. Doch verwendet Descartes den Be-
griff des Subjekts »gerade nicht im neuzeitlichen Sinn von ›Ich‹ oder
›Handlungs-Subjekt‹, sondern im herkömmlichen, vormodernen
Sinn. Der Geist wird insofern ›Subjekt‹ genannt, als er Träger der
›cogitationes‹ ist« 13. Es wurde ihm später zum Vorwurf gemacht, dass
er mit seinem Ausgang vom Ich die Tür in eine neue Dimension der
Philosophie aufgestoßen, diese aber sogleich wieder verschlossen ha-
be, indem er das Ich als »kleines Endchen der Welt« 14, als etwas, das in

10 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Substanz.
11 Störig, Kleine Weltgeschichte der Philosophie, 362.

12 Weischedel, Die philosophische Hintertreppe, 114.

13 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 379. – Vgl.: »Wenn also selbst Descartes unter

ontologischem Aspekt nicht als der Begründer neuzeitlichen Philosophierens gelten


kann, dann muß wohl die Frage nach der Abkehr von der ontologischen Denkform
bzw. nach der Genese der neuzeitlichen Ontologie und dem sie bestimmenden Seins-
begriff auf das Mittelalter rekurrieren.« – Schönberger, Die Transformation des
klassischen Seinsverständnisses, 10. – Der von Schönberger geäußerten Vermutung
folgte Spaemann in seiner Untersuchung der Genese der neuzeitlichen Ontologie.
S. dazu besonders Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Ge-
schichte, 331–341.
14 Husserl, Cartesische Meditationen, 63. – Vgl.: »Leider geht es so bei Descartes, mit

der unscheinbaren, aber verhängnisvollen Wendung, die das Ego zur substantia cogi-
tans, zur abgetrennten menschlichen mens sive animus macht und zum Ausgangs-
glied für Schlüsse nach dem Kausalprinzip, kurzum der Wendung, durch die er zum
Vater des (wie hier noch nicht sichtlich werden kann) widersinnigen transzendentalen
Realismus geworden ist. All das bleibt uns fern, wenn wir dem Radikalismus der
Selbstbesinnung und somit dem Prinzip reiner Intuition oder Evidenz treu bleiben,
also hier nichts gelten lassen, als was wir auf dem uns durch die ἐποχή eröffneten
Felde des ego cogito wirklich und zunächst ganz unmittelbar gegeben haben, also
nichts zur Aussage bringen, was wir nicht selbst ›sehen‹. Darin hat Descartes gefehlt,
und so kommt es, daß er vor der größten aller Entdeckungen steht, sie in gewisser
Weise schon gemacht hat, und doch ihren eigentlichen Sinn nicht erfaßt, also den
Sinn der transzendentalen Subjektivität, und so das Eingangstor nicht überschreitet,
das in die echte Transzendentalphilosophie hineinleitet.« – Ebd. 63–64.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

der Welt vorkommt, begriffen und somit am überkommenen Sub-


stanz/Akzidens-Schema im Verhältnis der res cogitans zu den cogita-
tiones festgehalten habe. Descartes nimmt also, genau besehen, eine
eigenartige Mittelstellung zwischen der antik-mittelalterlichen und
der neuzeitlichen Philosophie ein:
Bei Descartes kommt zwar schon das substantivierte »Moy« vor […],
aber er beschreibt es als »res (cogitans)«, als »substantia«. In den
»more geometrico« geordneten Beweisgängen der »Zweiten Antwor-
ten« verwendet Descartes »Subjekt« in der Definition für Substanz:
»Jede Sache, welcher unmittelbar, als in einem Subjekt, etwas inhäriert
oder durch die etwas existiert, was wir an ihr wahrnehmen, d. h. irgend-
eine Eigenschaft oder Beschaffenheit oder irgendein Attribut, deren
reale Idee in uns ist, wird Substanz genannt« 15. Substanzen sind die
Substrate der Attribute, und insofern ist der Geist als ein Ding, das
Subjekt des Denkens ist, eine Substanz 16. 17
Descartes stellt an der Schwelle zur neuzeitlichen Philosophie einen
Übergang dar, insofern er einerseits an substanzontologischen Denk-
formen festhält, andererseits in ihnen aber ein völlig neues, der An-
tike unbekanntes Erkenntnisinteresse verfolgt, durch das er seine
eigentliche Wirkung auf das Denken der Neuzeit entfaltete:
Die notwendige Selbstvergewisserung des menschlichen Erkennens
wird als Aufgabe in klassischer Weise von R. Descartes formuliert,
auf den sich alle folgende Erkenntnistheorie mehr oder minder aus-
drücklich bezieht: Weil nur noch die menschliche Gewißheit als In-
stanz aller Erkenntnis akzeptiert werden kann, wird das Ich-Denke 18
die Grundlage (das ausgezeichnete »Subjectum« 19) als »fundamentum
inconcussum« 20 alles wissenschaftlichen Wissens. 21

15 Lateinisches Original des Zitats und Verweis durch Anmerkung [52] auf die Quelle:
»Omnis res cui inest immediate, ut in subjecto, sive per quam existit aliquid quod
percipimus, hoc est aliqua proprietas, sive qualitas, sive attributum, cujus realis idea
in nobis est, vocatur Substantia«. – Medit. de prima philos. (1641), Rationes Dei exis-
tentiam & animae a corpore distinctionem probantes, more geometrico dispositae,
Def. V, a.O. 7, 161.
16 Verweis durch Anmerkung [53] auf: Entretien avec Burman (1648), lat./dtsch. hg.

H. W. Arndt (1982) 36.


17 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 379.

18 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Descartes, Meditationes II, 3; Discours IV, 1

u. a.
19
Verweis durch Anmerkung [4]: Vgl. M. Heidegger: Die Frage nach dem Ding
(1967) bes. 76 ff.
20
Verweis durch Anmerkung [5] auf: Descartes, Meditationes II, 1.

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz

Der konsequente Übergang zur Erkenntnistheorie vollzieht sich un-


ter Loslösung vom substanzontologischen Subjektbegriff erst im eng-
lischen Empirismus, so zunächst bei Hobbes, für den »Körper als
Träger von Eigenschaften Subjekte« 22 sind: »Für den neuzeitlichen
Sprachgebrauch wegweisend ist die Bezeichnung des Körpers bzw.
der Sinnesorgane als Träger und Subjekte der Empfindungen 23. Sub-
jekt der Sinneswahrnehmung ist der Wahrnehmende selbst, d. h. das
Lebewesen 24.« 25 Während für Locke »der Begriff der Substanz eine
der Verstandestätigkeit unseres Geistes entstammende komplexe
Idee« 26 ist, die sich »auf einen uns unbekannten Träger (›support‹) 27
bezieht« 28, und er sich somit »noch nicht ganz von der Konzeption der
Substanz als einem existierenden Inhärenzsubjekt löste, weist G. Ber-
keley die Annahme eines existierenden Substrates für die wahr-
nehmbaren Eigenschaften der Dinge gänzlich zurück« 29. Die ange-
deutete Loslösung vom substanzontologischen Subjektbegriff
vollendet sich schließlich bei Hume:
D. Hume erklärt die Subjekt-Akzidens-Dichotomie der aristotelischen
Tradition zu einer Träumerei der alten Philosophie. Sie erdichtet etwas
Unsichtbares und Unbekanntes, das sich in allen Veränderungen
gleichbleibt, und als Gegenstück dazu Akzidenzien: Sie erfordern »a
subject of inhesion to sustain and support them«. Akzidenzien sind
aber nichts als Eindrücke des Geistes 30. Ebenso unauffindbar ist für
Hume ein im Erfahrungsstrom für die Kontinuität der Person garan-
tierendes Ich-Subjekt. Nur von Perzeptionen haben wir eine vollkom-
mene Vorstellung: Sie brauchen keinen Träger 31. 32

21 Gethmann, Erkenntnistheorie, Erkenntnislehre, Erkenntniskritik. II, in: HWPh II,


col. 683–684.
22 Ebd. 380.

23 Verweis durch Anmerkung [65] auf: Th. Hobbes: Leviathan 3, c. 34 (1651/1668).

Op. philos. lat., hg. W. Molesworth (London 1839 ff., ND 1966) 3, 280.
24
Lateinisches Textzitat in Klammern und Verweis durch Anmerkung [66] auf die
Quelle: »subiectum sensionis ipsum est sentiens, nimirum animal«. – Elementorum
philos. sectio prima De corpore IV, 25, 3 (1655), a.O. 319.
25 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380.

26 Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 526.

27 Verweis durch Anmerkung [60] auf: J. Locke: An essay conc. human underst. II, 23,

§ 2 (1690), hg. P. H. Nidditch (Oxford 1975) 295.


28 Halfwassen, Substanz; Substanz/Akzidens. I. Antike, in: HWPh X, col. 526.

29 Ebd.

30
Verweis durch Anmerkung [70] auf: D. Hume: A treat. of human nature I, 4, 3
(1739–40). Philos. works, hg. T. H. Green/T. H. Grose (London 1882 ff., ND 1964) 1,
508.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

Der sich ab dem 17. Jahrhundert vollziehende »Subjekt-Wechsel« 33


entfaltete eine für die Philosophie höchst problematische Dynamik.
Wenn es keine Substanz, sondern nur noch wechselnde Akzidenzien
gibt, muss sich das denkende Subjekt selbst als von der Auflösung
bedrohte Kombination wechselnder Perzeptionen und Vorstellungen
erfahren, so dass Subjektivität auf ein instantanes Bewusstseins-
moment reduziert wird. Von einem solchen führt aber kein möglicher
Weg zu personaler Identität. Die »Umänderung der Denkart« 34, von
der Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen
Vernunft« spricht, bezeichnet gegenüber dieser im Empirismus be-
triebenen Depotenzierung des Subjekts den transzendentalphiloso-
phischen Neuansatz, in dem die Untersuchung der »Beschaffenheit
unseres Anschauungsvermögens« 35 zum Ausgangspunkt des Den-
kens gemacht wird. Subjekt ist nun das denkende, erkennende, urtei-
lende Ich, das Konstituierende jeder sinnlichen Erfahrung: »Die Ein-
heit des Subjekts begründet die Einheit der Erfahrung und ist Grund
empirischer Erkenntnis«. 36
Kant vollzieht also gegenüber dem Empirismus insofern einen
Schritt zurück in Richtung der Substanzontologie, als er »die ur-
sprünglich-synthetische Einheit des Ich-denke« zum »alles bestim-

31 Verweis durch Anmerkung [71] auf: I, 4, 6, a.O. 534.


32 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380. – Vgl.: »Da jede Eigenschaft ein von jeder
anderen unterschiedenes Etwas ist, so kann sie als für sich existierend vorgestellt
werden und [demnach tatsächlich] für sich oder ohne anderes existieren; nicht allein
ohne eine andere Eigenschaft, sondern auch ohne jene unfaßbare Chimäre, die man
als Substanz bezeichnet.« – Hume, Über den Verstand (I, 4, 3), 292.
33 Ebd. – Vgl.: »Die Bedeutung der Begriffe ›Subjekt‹ und ›Objekt‹ hat sich, wie seit

dem Ende des 19. Jh. allgemein bekannt, in der Zeit zwischen Descartes und Leibniz,
vielleicht im Zusammenhang mit dem Wechsel vom Lateinischen zu den jeweiligen
Landessprachen, umgekehrt«. – Ebd. col. 373. – Vgl. auch folgende Erläuterung des
Begriffs Subjekt: »im Mittelalter bis zum 18. Jh. gebräuchlich für den vom Erkennen
und Vorstellen unabhängigen Gegenstand, d. h. für das, was jetzt Objekt heißt«. –
Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Subjekt. – Vgl. außerdem: »Sub-iectum (auch substratum)
war in der ganzen Scholastik bis hin zu Descartes die Übersetzung für hypokeimenon
und bezeichnete somit den ›Gegenstand‹, die Substanz. Erst nach Descartes – wiewohl
maßgeblich bereits durch ihn bestimmt – vollzieht sich der Wandel des Subjekt-
begriffs zum Subjektiven, zum Ich als dem alleinigen Subjekt – ein Wandel, der sich,
abgesehen von der grammatisch-logischen Terminologie, im Deutschen restlos durch-
gesetzt hat.« – Marx, Einführung in Aristoteles’ Theorie vom Seienden, 39, Fn. 18.
34
Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXII, Fn.
35 Ebd. B XVII.

36
Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 381.

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz

menden Ausgangspunkt« 37 der Transzendentalphilosophie macht.


Das Verhältnis dieses Ausgangspunkts zur aristotelischen Substan-
tialität reflektiert Kant in den »Paralogismen der reinen Vernunft« 38,
in denen sich die Gleichsetzung von Subjekt und Substanz zu ergeben
scheint:
Was nicht anders als Subjekt gedacht werden kann, existiert auch nicht
anders als Subjekt, und ist also Substanz.
Nun kann ein denkendes Wesen, bloß als ein solches betrachtet,
nicht anders als Subjekt gedacht werden.
Also existiert es auch nur als ein solches, d. i. als Substanz. 39
Dass sich diese Schlussfolgerung aus einem Trugschluss ergibt, er-
läutert Kant durch den Hinweis auf die verschiedenen Bedeutungen
von Denken, die in den beiden Prämissen vermischt werden: Im
Obersatz geht es um die Beziehung »auf ein Objekt überhaupt«, im
Untersatz dagegen um »die Beziehung auf sich, als Subjekt (als die
Form des Denkens)« 40. Durch die Schlussfolgerung wird daher das
auf die Erscheinung gehende Denken mit der Reflexivität des Selbst-
bewusstseins gleichgesetzt und daher eine analoge Erkennbarkeit der
Subjektivität durch sich selbst behauptet. Mit Bezug auf Kants Auf-
lösung des Paralogismus der Substantialität bemerkt Brigitte Kible:
Wir müssen zwar ein solches transzendentales Subjekt annehmen,
dem wir alle Vorstellungen des inneren Sinnes zuschreiben können,
von der Idee eines absoluten Subjekts der Erkenntnis kann aber nur
regulativer Gebrauch gemacht werden; damit wird nichts über die
Existenz einer Seelensubstanz gesagt. Es wird von einem Beharrlichen
gesprochen, welches nur zu denken ist unter der Voraussetzung der
einfachen Vorstellung ›ich denke‹, die bezogen ist auf ein Mannig-
faltiges der Vorstellungen. Es besteht zwar die logische Notwendig-
keit, ein letztes Subjekt, das Substanz ist, zu denken 41. Die Seele als
absolutes Subjekt ist uns wie die anderen Vernunftideen nicht als Ge-
genstand in der Erfahrung gegeben, wohl aber als »Gegenstand in der
Idee« 42. Das denkende Ich, die Seele, das Subjekt ist Gegenstand des
inneren Sinnes. In dieser inneren Anschauung erkennen wir »unser

37 Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.


38 Vgl. Kant, KrV, B 397–432 bzw. A 349–405.
39 Kant, KrV, B 410–411.
40
Ebd. Fn. zu B 411.
41 Verweis durch Anmerkung [79] auf: Refl. zur Met. 4052, Akad.-A. 17, 398 f.
42
Verweis durch Anmerkung [80] auf: KrV A 670/B 698.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aber nach dem, was es an
sich selbst ist 43«. 44
Der Ausgang des Denkens bei Kant von der transzendentalen Apper-
zeption steht also durchaus in einem ambivalenten Verhältnis zur
aristotelischen Substantialität, deren Annahme einerseits als Über-
schreitung der Grenzen des Erkennbaren zurückgewiesen wird, deren
regulative Funktion andererseits aber für die Vernunft unverzichtbar
ist. Der Dualismus von Ding an sich und Erscheinung ist somit im
Ausgang der kantischen Philosophie von der synthetischen Einheit
der Apperzeption bereits enthalten.
Zum Abschluss dieses die weitere Explikation des Problems der
Begegnung einleitenden Gedankengangs soll ein erstes Zwischenfazit
gezogen und der Ausgangspunkt für die Fortführung des Gedankens
bezeichnet werden. Zuvor jedoch ist zu erläutern, warum der knappe
philosophiehistorische Abriss zur Entwicklung des Begriffspaars Sub-
jekt/Substanz nicht über Kant hinaus weitergeführt wird. Im zweiten
Teil der vorliegenden Arbeit wird sich im Rahmen der Untersuchung
der sukzessiven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im
Werk Robert Spaemanns zeigen, dass die wesentlichen Referenz-
punkte, auf die im Zusammenhang mit der Problematisierung des
Subjektbegriffs Bezug zu nehmen sein wird, in dem skizzierten phi-
losophiehistorischen Spektrum zwischen Aristoteles und Kant zu ver-
orten sind. Als Lücke in der bis hierhin durchgeführten Betrachtung
wäre an dieser Stelle am ehesten auf die mittelalterliche Philosophie,
insbesondere Thomas von Aquin als Vermittler zwischen Aristoteles
und der Neuzeit, hinzuweisen. Da Spaemanns Bezugnahmen auf die
nachkantische Philosophie entweder kritischer Art sind oder aber auf
Voraussetzungen aufbauen, die erst im zweiten Teil entwickelt wer-
den, würde eine Betrachtung der Entwicklung des Begriffspaars Sub-
jekt/Substanz im 19. und 20. Jahrhundert für das Anliegen der Expli-
kation des Problems der Begegnung kaum Fortschritte bringen. 45

43 Verweis durch Anmerkung [81] auf: B 156.


44 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 381.
45 Dies gilt auch für die Reflexion dieses Begriffspaars bei Hegel, auf die hier am

Rande ein Blick geworfen werden soll, da Spaemann selbst im Rahmen der Entfaltung
von Grundzügen seiner Philosophie in den Essays der 80er Jahre auf sie Bezug nimmt.
In der Vorrede zur »Phänomenologie des Geistes« (1807) knüpft Hegel in kritischer
Distanzierung an Spinozas Metaphysik der einen Substanz an und kündigt deren
Übersteigung hin zu einer Metaphysik der Subjektivität an: »Es kömmt nach meiner
Einsicht, welche sich durch die Darstellung des Systems selbst rechtfertigen muß,

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2.1 Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz

Philosophisch ist, wie in der Einführung bemerkt wurde, der Begriff


der Begegnung in der Dialogphilosophie beheimatet, die abseits der
dominierenden philosophischen Diskurse steht und deren wesent-
liche Vertreter, wie gezeigt wurde, über einen ausgesprochen grenz-
orientierten Begriff von Philosophie verfügen. Aus diesem Grund
wäre eine Bezugnahme auf die Philosophie des Dialoges im Rahmen
der Betrachtung des Begriffspaars Subjekt/Substanz ebenfalls nicht
erhellend.
Die als Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung
bezeichnete Intuition anderen Selbstseins, das nicht in der subjekti-
ven Gegenstandswahrnehmung aufgeht und mit der Genese eigenen
Selbstseins verbunden ist, führt, so das erste Zwischenfazit aus dem
einleitenden Gedankengang, zu der Frage nach der Erneuerbarkeit
des substanzontologischen Subjektbegriffs. Von der Begegnung mit
anderem Selbstsein kann nur die Rede sein, wenn das Subjekt des
Anderen als Substanz gedacht wird. Es ist nicht zu sehen, wie im
Zeichen des zur transzendentalen Apperzeption bei Kant führenden

alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt auf-
zufassen und auszudrücken.« – Hegel, Phänomenologie des Geistes, 13–14. – Das
Subjekt kann nach diesem Plan die Explikation dessen leisten, was die Substanz an
sich bereits war. Dies ist möglich, weil der Geist im Sinne der spekulativen Grundfigur
des Hegel’schen Denkens als Identität von Identität und Nicht-Identität drei Aspekte
umfasst: »Das Ansich oder die Substanz, das Fürsich oder das Subjekt und schließlich
die Bewegung, die Verwandlung von jenem in dieses«. – Trappe, Substanz; Substanz/
Akzidens. IV. 19. und 20. Jh., in: HWPh X, col. 536. – Die Fundierung des Subjekts in
der Substanz ist allerdings in Hegels Denken nur möglich durch einen »Holismus des
Bewußtseins«, die systemtragende Prämisse also, »daß in Wahrheit alles immer schon
im Bewußtsein ist, daß nichts Neues in es hineinkommt und daß es in der Phäno-
menologie des Geistes nur darauf ankommt, das ganz ›für es‹ zu explizieren, was ›an
sich‹ in ihm schon enthalten ist.« – Schnädelbach, G. W. F. Hegel zur Einführung,
157. – Nachdem die Philosophie bereits im 19. Jahrhundertaus diesem »intellektuelle[n]
Traum« – ebd. 166 – erwacht war, wäre eine Anknüpfung an das Hegel’sche Pro-
gramm nur im Zeichen einer völlig anders gearteten Prämisse denkbar. Eine solche
kann in der Überzeugung Spaemanns gesehen werden, wonach das teleologische Na-
turverständnis der Antike unter modernen Denkbedingungen erneuert werden kann.
In der Umsetzung des aus ihr hervorgehenden, sein Denken insgesamt charakterisie-
renden Projekts knüpft Spaemann in gewissem Sinn an Hegel an. Die Aufgabe der
von ihm verfolgten Philosophie wird, wie er mit Bezug auf den zitierten Satz aus der
Vorrede der »Phänomenologie des Geistes« schreibt, »in Abwandlung eines bekann-
ten Hegelwortes wohl so formuliert werden müssen: ›Es kommt darauf an, Subjekte
als Substanzen zu denken.‹« – Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 72–73, vgl.
Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330. – Das Programm der Ge-
dankenentwicklung im zweiten Teil dieser Arbeit ist mit dieser Formulierung bereits
angedeutet.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

Subjekt-Wechsels in der neuzeitlichen Philosophie Selbstsein als


prinzipielles Jenseits möglicher Gegenständlichkeit überzeugend ge-
dacht werden könnte. Wenn im Rahmen der hier durchgeführten phi-
losophiehistorischen Betrachtung das Grundmotiv einer möglichen
Philosophie der Begegnung somit auf das aristotelische Substanz-
Subjekt zurückzuweisen scheint, kann es in der Fortführung des Ge-
dankens nicht um eine anachronistische Bezugnahme auf das antike
Denken, sondern allein um die Frage seiner Aktualisierbarkeit gehen.
Die Überlegung ging bis hierhin nicht über die bloße Konstatierung
einer gewissen Parallele hinaus: Wie Aristoteles mit dem Substanz-
Subjekt ein von der Erkenntnis unabhängig Seiendes kennt, so pos-
tuliert eine mögliche Philosophie der Begegnung ein anderes Selbst-
sein, das nicht in einer gegenständlichen Wahrnehmung aufgeht. Die
Frage, die sich aufgrund dieser Parallele stellt, besteht darin, in-
wiefern unter den neuzeitlichen Denkbedingungen eine Möglichkeit
der Anverwandlung des antiken Substanz-Subjekts entstanden ist,
welche die Antike nicht gekannt hat und die neuzeitliche Philosophie
nicht ergreifen konnte. In den beiden folgenden Teilkapiteln soll
schrittweise die These entfaltet werden, dass es namentlich die Idee
des Selbstseins, das von der antiken Philosophie noch nicht gedacht
wurde, ist, die als Aktualisierung des antiken Substanz-Subjekts ver-
standen werden kann. Dazu muss die Reflexionsposition des neuzeit-
lichen Subjekts untersucht und danach mit dem in ihr überwundenen
antiken Substanz-Subjekt in eine Beziehung gesetzt werden, um aus
diesem Verhältnis ein Verständnis von Selbstsein im Sinne der ge-
nannten Aktualisierung entwickeln zu können. Zunächst aber stellt
sich die prinzipielle Frage nach der bloßen Denkbarkeit von Selbstsein
unter der neuzeitlichen Bedingung des Ausgangs des Denkens vom
Subjekt und damit die Frage nach der Denkbarkeit von Transzendenz.

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2.2 Das Denken der Transzendenz und
die Überwindung seiner Negativität

Nachdem im Zuge der einführenden philosophiehistorischen Be-


trachtung des Begriffspaars Subjekt/Substanz die Ambivalenz des
neuzeitlichen Subjektbegriffs dargelegt und im Horizont der Frage
nach der Aktualisierbarkeit des Substanz-Subjekts die kritische Un-
tersuchung der Reflexionsposition des Subjekts angekündigt wurde,
kann ein neuer Ansatz des Gedankengangs im Ausgang vom lateini-
schen Verb transcendere – hinüberschreiten – gefunden werden. Das
Grundmotiv einer möglichen Philosophie der Begegnung – die Intui-
tion anderen Selbstseins – ist aufs engste verknüpft mit dem Begriff
Transzendenz, 1 insofern Selbstsein nicht objektiv gegeben, sondern
jenseits des jeweiligen subjektiven Horizonts zu verorten ist. Dabei
handelt es sich nach dem Grundgedanken der Philosophie der Begeg-
nung nicht um ein belangloses Jenseits des Horizonts, sondern um
ein solches, das seinerseits für das Selbstsein des Gegenübers von
existentieller Bedeutung ist. Die Frage nach der Transzendenz geht
damit aus dem Interesse an einer Wirklichkeit hervor, die nach der
leitenden These durch das methodische Apriori der Bewusstseinsphi-
losophie verfehlt wird. Die subjektiv gegebene Wirklichkeit ist, so der
mit dem Begriff der Idiosynkrasie zu bezeichnende Verdacht, nicht
die Wirklichkeit selbst, sondern nur ein Bild der Wirklichkeit, das
über die eigentliche Wirklichkeit täuschen kann. Insofern der Begriff
der Begegnung auf eine Wahrnehmung von Sein jenseits der objekti-
ven Gegebenheit für ein Subjekt und somit auf die Beziehung zu

1 Die folgenden Überlegungen zum Begriff der Transzendenz beziehen sich an meh-
reren Stellen auf Wolfgang Struves auf Vorlesungen aus dem Wintersemester 1960/
61 und dem Sommersemester 1966 zurückgehende Buchveröffentlichung »Philo-
sophie und Transzendenz« (1969). – Zur Etymologie und Bedeutung des Begriffs der
Transzendenz bemerkt er: »Transzendenz ist von dem mittellateinischen Substantiv
transcendentia gebildet. Dieses kommt von dem Verbum transcendere, das zusam-
mengefügt ist aus trans und scandere, wobei aber die Bedeutungsmomente der Prä-
position und des Verbums in dem Ausdruck nicht gleichgültig und zufällig neben-
einanderliegen, sondern sich gegenseitig fordern und ergänzen, eine innere Einheit
und Ganzheit bilden. Die Grundbedeutung von trans ist jenseits, über, über-hin(weg),
über-hinaus (französisch: très); die von scandere steigen. Transcendentia heißt also
wörtlich: das Übersteigen, die Übersteigung, der Überstieg.« – Struve, Philosophie
und Transzendenz, 37.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

einem dem subjektiven Horizont Transzendenten zielt, ist eine Phi-


losophie der Begegnung nur als Denken der Transzendenz möglich.
Die im hier verfolgten Gedankengang relevante spezifische Bedeu-
tung erhält der Begriff der Transzendenz somit erst durch den zuvor
erörterten neuzeitlichen Subjekt-Wechsel. Unter der Bedingung des
Ausgangs des Denkens vom erkenntnistheoretisch verstandenen
Subjekt kann der als Jenseits des subjektiven Horizonts verstandene
Andere nur noch Transzendentes sein, das sich einer Denkbarkeit im
strengen Sinn prinzipiell entziehen muss.
Die Bedeutung der Transzendenz für eine Philosophie der Be-
gegnung kann durch die Unterscheidung zwischen einer ›graduellen‹
und einer ›absoluten‹ Transzendenz erläutert werden. 2 Graduelle
Transzendenz bezeichnet eine Horizonterweiterung durch intentio-
nale Akte »im Sinne des Hinausschreitens über das Bewußtsein,
vom Ich oder Subjekt hinüber zu dem außer dem Ich liegenden Ge-
genstand oder Objekt« 3. Durch eine solche ist jedoch nie ein Über-
schreiten der Intentionalität selbst zum Anderen hin möglich. Die
absolute Transzendenz hingegen im Sinne der »Aufgabe, alles über-
haupt zu übersteigen« 4, sprengt prinzipiell den mit dem neuzeitlichen
Subjekt-Wechsel bestimmten Raum eines jeden möglichen Denkens:
»Die metaphysische Setzung, die aller neueren Reflexion auf das Er-
kennen zugrunde- und vorausliegt, ist die Auslegung des Erkennen-
den als Subjekt und des Erkannten als Objekt.« 5 Erkenntnismetaphy-
sik bleibt diese Reflexion, wie oben gesehen, auch dann, wenn sie
allein von der transzendentalen Apperzeption, dem ›ich denke‹, ihren
Ausgang nimmt. Das methodische Apriori der Transzendentalphi-
losophie schließt das Transzendente als möglichen Gegenstand unse-
rer Erkenntnis aus. In den »drei transzendenten Vernunftbegriffe[n]
bzw. Ideen der Freiheit des Willens, des Daseins Gottes und der Un-
sterblichkeit der Seele« kehrt das Transzendente bei Kant zwar zu-

2
Vgl.: »Transzendenz und Transzendieren können also sowohl die graduelle Trans-
zendenz (ὑφειμένη ὑπεροχή) […] des je höheren Seins über die je untergeordneten
Seinsstufen, und speziell die der höchsten Stufe innerhalb einer kontinuierlichen Stu-
fenfolge des Seins, als auch die absolute Transzendenz (ἐξῃρημένη ὑπεροχή, ὑπερ-
βολή) […] über das Sein schlechthin und im ganzen und das Übersteigen der Totalität
des Seins bedeuten.« – Halfwassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittel-
alter, in: HWPh X, col. 1443.
3
Struve, Philosophie und Transzendenz, 57.
4 Ebd. 23.

5
Ebd. 58.

56

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.
2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

rück, aber eben nur als »regulative Erkenntnisprinzipien und vor


allem als Postulate der reinen praktischen Vernunft« 6. Unter dem
Vorzeichen von Kants Absicht, »das Wissen auf[zu]heben, um zum
Glauben Platz zu bekommen« 7, verliert das Transzendente seine
Erkennbarkeit im engeren Sinne und führt der Versuch, an ihm fest-
zuhalten, in der Konsequenz zu einem religiösen Denken. 8 Das
Projekt einer Philosophie der Begegnung stünde, solange diese Rah-
menbedingungen akzeptiert werden, vor der prinzipiell unlösbaren
Aufgabe, nicht nur die Objekte der Erkenntnis und den »Subjekt-Ob-
jekt-Bezug« 9 selbst zu übersteigen, sondern auch die aus der Substanz-
ontologie ererbte regulative Funktion der transzendentalen Apper-
zeption und damit »die rationale Auslegung des Denkens« 10. Damit
ist die Problemstellung gekennzeichnet, die eingangs mit Bezug auf
die Dialogik als die in die Aporie führende Alternative des Intentio-
nalitätsschemas der Transzendentalphilosophie einerseits und des
scheinbar nur als dialektische Alternative zu diesem begrifflich re-
konstruierbaren Schemas der Ich-Du-Beziehung andererseits dar-
gestellt wurde. Der Versuch der gedanklichen Bewältigung der Be-
gegnung führte entweder in die »›Theologie‹ des Zwischen« 11 oder
zur »Unangemessenheit des Denkens« 12 selbst. Aus dem Zusammen-
hang der bisherigen Überlegungen dieser Explikation des philosophi-
schen Problems der Begegnung geht hervor, dass ein Denken der
Transzendenz überhaupt nur möglich werden kann, wenn die neu-
zeitliche Verengung des Transzendenzbegriffs als »Gegensatz zu

6 Enders, Transzendenz; Transzendieren. II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1447.


7 Kant, KrV, Vorrede zur zweiten Auflage, B XXX.
8 Vgl.: »S. Kierkegaard verwendet ›Transzendenz‹ als kritischen Gegenbegriff zu dem

von ihm als Immanenzphilosophie heftig kritisierten Denken Hegels, das die Bewußt-
seinsimmanenz alles Wirklichen behaupte und daher das Transzendente leugne […].
Mit ›Transzendenz‹ bezeichnet er die von der Immanenz bzw. der wissenschaftlichen
Totalität qualitativ radikal verschiedene Sphäre des Religiösen, die nur durch die
transzendierende Kraft des Paradoxes und des qualitativen Sprungs des Glaubens (als
Existenzkategorien) erreicht werden kann«. – Enders, Transzendenz; Transzendieren.
II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1448.
9 Struve, Philosophie und Transzendenz, 58. – Struve weist hier darauf hin, dass es

im Denken der Transzendenz nicht um die »Aufhebung der Subjekt-Objekt-Spal-


tung« im Sinne der Einswerdung mit dem Objekt geht, sondern um die Überwindung
dieses Bezugs selbst.
10
Ebd. 73.
11 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 330.

12
Bloch, Die Aporie des Du, 285.

57

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.
2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

›Immanenz‹« 13 selbst unterlaufen wird. Wolfgang Struve wendet sich


gegen dieses seit dem 19. Jahrhundert aufgekommene Verständnis
der Transzendenz, denn der Gegensatz zu ›immanent‹ sei nicht
›transzendent‹, sondern ›transeunt‹ :
Transzendieren ist […] mehr als das Überschreiten einer Grenze etwa
zwischen zwei gleichen Bereichen. Transzendent meint nicht dasselbe
wie transeunt, von dem es nicht immer scharf genug geschieden
wird […]. Transzendieren ist nicht nur ein Hinübergehen, sondern
ein Hinübersteigen, das heißt das, zu dem transzendiert wird, wird
als anderer Art und höheren Ranges gedacht als das, aus dem trans-
zendiert wird, wobei meistens dieses als von jenem abhängig und in
ihm fundiert gedacht wird. 14
Aus einer solchen Hierarchisierung folgt, dass für das im Hinüber-
steigen Erreichte andere Denkbedingungen gelten müssen als für
das Überstiegene. Mit Bezug auf Theunissens Buber-Deutung wurde
oben erwogen, dass die Ich-Du-Begegnung möglicherweise nur als
Position verstanden werden kann, in der die Dialektik von Transzen-
dentalphilosophie und einer Ontologie des Zwischen als ihrer Nega-
tion überstiegen wird. Im Folgenden soll versucht werden, eine solche
Position durch den Rückbezug auf das antike Verständnis von Trans-
zendenz in den Blick zu bekommen.
Das Transzendente erscheint in der Perspektive neuzeitlicher Er-
kenntnismetaphysik als ein Negatives, als bloßes Jenseits des Erkenn-
baren, zu dem nur ein Glaubensakt führen kann. 15 Im Sinne der Idee
einer Philosophie der Begegnung ist zu fragen, wie diese Diastase von
Wissen und Glauben überwunden werden kann. Das Transzendente
kann nur erkannt werden, wenn ein aus transzendentaler Perspektive
Negatives eine Erkennbarkeit erhält, wenn also ein bestimmter Be-
reich des scheinbar Negativen ausgewiesen werden kann, dessen Er-
kenntnis zwar nicht Ergebnis eines intentionalen Aktes ist, der aber
als ein Jenseits der Intentionalität dennoch ein evident Gegebenes
darstellt. Da dieser Bereich, wenn er ausgewiesen werden kann, somit
doch wieder in den transzendentalen Horizont einbezogen werden
kann, muss die Differenzierung, um die es hier geht, auch von der
anderen Seite her gezeigt werden. Demnach kann das Transzendente

13 Enders, Transzendenz; Transzendieren. II. Neuzeit, in: HWPh X, col. 1447.


14
Struve, Philosophie und Transzendenz, 39.
15 Vgl. zum engen Zusammenhang der Begriffe Transzendenz und Metaphysik:

Halfwassen, Metaphysik und Transzendenz, 13.

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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

erkannt werden, wenn einem Bereich innerhalb des transzendentalen


Horizonts eine Negativität zugesprochen werden kann, durch die er
aus dem Horizont transzendentaler Intentionalität zugleich heraus-
fällt. Zur Annäherung an diesen Bereich soll nun entsprechend der
am Ende des ersten Teilkapitels angekündigten Programmatik auf die
antike Philosophie zurückgegangen und nach deren Verständnis von
Transzendenz gefragt werden. Dabei ist zunächst zu bedenken, dass
das griechische Äquivalent des mittellateinischen Begriffs erst bei
Plotin erscheint und die klassische griechische Philosophie Transzen-
denz eigentlich noch gar nicht kennt. 16 Struve bemerkt zu diesem
Sachverhalt: »Daß die frühe und klassische griechische Philosophie
nicht die Transzendenz selbst denkt und zu denken sucht, könnte ge-
rade ein Zeichen ihrer Transzendenznähe sein.« 17 Worin besteht diese
Transzendenznähe avant la lettre? Sowohl bei Platon als auch bei
Aristoteles streben die endlich Seienden nach der Teilhabe am Schö-
nen, Einen und Guten bzw. am Göttlichen. Dieses teleologische
Streben bringt die innere Differenz des antiken Begriffes der φύσις
zum Ausdruck, »nämlich einerseits die Bedeutung ›Beschaffenheit,
Wesen‹ […] und andererseits die Bedeutung ›Werden, Wachstum,
Wuchs‹«. 18 Natur ist für die klassische Antike ein Begriff, der die
Differenz zwischen bloßem Leben und gutem Leben – ζῆν und εὖ
ζῆν – enthält. Auch wenn nach Aristoteles die τέλη in den ϕύσει
ὄντα nicht an ein Bewusstsein gebunden sind, drückt sich in ihnen
eine Tendenz in Richtung eines naturgemäßen Zustandes aus, durch
den sie sich von anderen natürlichen Wesen unterscheiden. Die Er-
setzung des damit bezeichneten »Distinktionskonzept[s] der Natur«

16 Vgl.: »Das lateinische Verb ›transcendere‹ bzw. das Partizip ›transcendens‹ dienen
bei Augustinus als Äquivalent für Plotins Termini ἀναχθῆναι, ἀναβαίνειν und ἀνα-
βεβηκός […], womit Augustin wahrscheinlich der (verlorenen) Plotin-Übersetzung
des Marius Victorinus folgt […]; seit Johannes Scotus Eriugenas Übersetzung der
Schriften des PS.-Dionysius Areopagita dienen sie dann auch zur Übersetzung von
μεταβαίνειν […], διαβαίνειν […], μεταταχθῆναι […] und παρατραπῆναι […],
seit Ambrosius Traversari auch zur Übersetzung von ὑπέρ und Zusammensetzungen
damit […], bes. ὑπερέχειν […], ὑπερβαίνειν […], ὑπερβεβηκός […], ὑπερβάλ-
λειν […], ὑπερκείμενος […], ferner von ἐξῃρημένος […] und ἐπέκεινα […], seit
M. Ficino ferner zur Übersetzung von ὑπεριδρύεσθαι […] und seit B. Cordier auch
zur Übersetzung von ἐκβεβηκός […], ἐπιβεβηκός […] und κρεῖττον […].« – Half-
wassen, Transzendenz; Transzendieren. I. Antike; Mittelalter, in: HWPh X, col. 1442–
1443.
17 Struve, Philosophie und Transzendenz, 13.

18
Hager, Natur. I. Antike, in: HWPh VI, col. 421.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

an der Schwelle zur Neuzeit durch ein »Reduktionskonzept« 19 muss


in engem Zusammenhang mit dem beschriebenen Subjekt-Wechsel
gesehen werden, der durch die unvermittelte Gegenüberstellung von
transzendentalem Subjekt und Welt zur spezifisch neuzeitlichen Dia-
lektik führt:
Der Mensch ist dann entweder, so der Materialismus, Funktionsglied
eines allgemeinen, ihn genauso wie jedes andere Wesen prägenden
Wirkzusammenhangs, oder er muss, so der Dualismus von Descartes
bis Popper, als ein der Natur gegenüberstehendes total durch das Be-
wusstsein seiner selbst definiertes »denkendes Ding« begriffen wer-
den. 20
Der Sinn des Rückgangs auf die Antike kann hier nur darin bestehen,
den mit dem Reduktionskonzept bezeichneten neuzeitlichen Bruch
auf seine Notwendigkeit hin zu befragen: Ist der Verlust des teleolo-
gischen Naturverständnisses die notwendige Folge des den Subjekt-
Wechsel ermöglichenden Ausgangs des Denkens vom Subjekt? Für
Spaemanns Denken wird, wie im zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt
werden soll, eine Alternative zu dieser Folgerung systematische Be-
deutung erlangen. Es geht dabei um die Vorstellung einer natürlichen
Vernunft, die das Distinktionskonzept der Natur mit dem Ausgang
des Denkens vom Subjekt verknüpft. 21 In einem ersten Ausblick auf
diesen zentralen Argumentationskomplex soll hier die Reflexions-
position des neuzeitlichen Subjekts unter der einzuräumenden Prä-
misse untersucht werden, dass diese Position nur im Rückgang auf
ihre Fundierung in einer Natur, der es immer schon um etwas geht,
in vollem Maß verstanden werden kann.

19 Vgl.: »›Natur‹ im ursprünglichen Sinne ist nicht Reduktions-, sondern umgekehrt


Distinktionsprinzip; das heißt die Natur ist nicht primär ein Bereich von allgemeinen
Gesetzen unterliegenden Objekten, die es gibt, sondern Natur ist, was ein Wesen hat.
Die natürlichen Arten bilden ein Geflecht von Differenzen und sind nicht noch einmal
Unterfälle einer ihnen etwa auf genetischer Ebene unterliegenden Kausalkraft. Die
Natur eines Wesens zeigt sich, indem dieses sich seiner Art gemäß von Wesen unter-
scheidet, die anderer Art sind. Und dieser Unterschied kann sich nur über eine be-
stimmte Spanne Zeit hinweg zeigen; er ist eben nicht punktuell in jedem Augenblick
als kausale Implikation eines fertigen ›Programms‹ gegeben.« – Schweidler, Das
Uneinholbare, 290.
20
Schweidler, Über Menschenwürde, 37–38.
21 S. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Reprä-

sentation und Anerkennung, 384–397.

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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

Zunächst soll das Verhältnis des Natürlichen und des Vernünfti-


gen im Menschen durch ein Schema unterschiedlicher Horizonte im
Sinne der exzentrischen Positionalität Helmuth Plessners verdeut-
licht werden. Den Menschen verbindet danach mit den Tieren die
»positionale Mitte eines Lebendigen« 22. Lebewesen bilden ein »Zen-
trum der Positionalität« 23, wobei dem Tier zwar eine Umwelt gegeben
ist, es aber kein Verhältnis zu sich selbst hat: »Das Tier lebt aus seiner
Mitte heraus, in seine Mitte hinein, aber es lebt nicht als Mitte. Es
erlebt Inhalte im Umfeld, Fremdes und Eigenes, es vermag auch über
den eigenen Leib Herrschaft zu gewinnen, es bildet ein auf es selber
rückbezügliches System, ein Sich, aber es erlebt nicht – sich.« 24 Der
Mensch unterscheidet sich vom Tier dadurch, dass ihm »die Zentrali-
tät seiner Existenz bewußt geworden« 25 ist:
Der Mensch als das lebendige Ding, das in die Mitte seiner Existenz
gestellt ist, weiß diese Mitte, erlebt sie und ist darum über sie hinaus.
Er erlebt die Bindung im absoluten Hier–Jetzt, die Totalkonvergenz
des Umfeldes und des eigenen Leibes gegen das Zentrum seiner Posi-
tion und ist darum nicht mehr von ihr gebunden. 26
Wesentlich für Plessners Gedanken ist, dass der Mensch, indem er die
primäre Positionalität übersteigt, zugleich an sie gebunden bleibt: »Ist
das Leben des Tieres zentrisch, so ist das Leben des Menschen, ohne
die Zentrierung durchbrechen zu können, zugleich aus ihr heraus,
exzentrisch.« 27 Dieses Plessner’sche Schema soll nun im Sinne des
hier verfolgten Gedankengangs ausgedeutet werden. Der aus dem
antiken Distinktionskonzept der Natur hervorgehende Grundgedan-
ke dieser Deutung besteht darin, dass das menschliche Transzendie-
ren der lebendigen Zentriertheit, das sich durch Reflexionsakte reali-
siert, aus derselben natürlichen Tendenz hervorgeht, die schon in der
lebendigen Zentriertheit wirksam ist. Die zentrale These lautet damit,
dass das Vernünftige zunächst das Natürliche in einer verwandelten
Form ist. Anders formuliert: dass das Überschreiten der Natur im
Menschen durch die Vernunft selbst natürlich ist. Das zur Verdeut-
lichung gewählte Schema ist eine Abstraktion, durch die versucht

22 Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch, 361.


23 Ebd.
24 Ebd. 360.
25
Ebd. 363.
26 Ebd. 364.
27
Ebd.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

wird, in seine Bestandteile zu zerlegen, was in Wirklichkeit eine nicht


analysierbare Einheit ist. Dennoch kann dieses Schema helfen, die
schwierigen Zusammenhänge, um die es hier geht, zu verdeutlichen.
Allerdings wird sich die Darstellung auf Sachverhalte einlassen müs-
sen, die nur als Paradoxa zur Sprache gebracht werden können. Als
erstes Paradoxon wurde schon genannt, dass die transzendierende
Vernunft als Natur begriffen werden muss. Das zweite besteht darin,
dass die transzendierte Natur selbst Vernunft ist, da die eigene Zen-
tralität für ein bewusstes Lebewesen nur als bereits begriffene gege-
ben ist. Der als menschliches Leben zu bezeichnende Austausch zwi-
schen einer lebendigen Zentralität und der aus der Transzendenz
derselben hervorgehenden Exzentrik bedeutet somit eine wechsel-
seitige Durchdringung der nur abstrakt trennbaren Seiten des Natür-
lichen und des Vernünftigen. Anhand dieses Schemas kann nun der
Bereich, von dem oben die Rede war, bestimmt werden, in dem das
Transzendente erkannt werden kann. Wenn das Vernünftige als eine
Form des Natürlichen sich in Akten der Selbsttranszendenz realisiert,
durch die sich Horizonterweiterungen ergeben, so muss eine Diffe-
renz angenommen werden zwischen dem Horizont des Vernünftigen
und dem Bereich der Intentionalität innerhalb dieses Horizontes. Die
Differenz besteht darin, dass im natürlichen Transzendieren als einer
unwillkürlichen Spontaneität durch die Vernunft ein Bereich er-
schlossen wird, auf den die transzendentale Intentionalität immer
erst nachträglich ausgedehnt werden kann. Dass insofern die Natur
in uns durch die Vernunft uns selbst immer schon voraus ist, wird im
zweiten Teil dieser Arbeit mit Spaemann so ausgedrückt werden: 28
Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz,
Lust, Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch
einen vektoriellen Sinn charakterisiert sind. Sie transzendieren das
Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits
des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer schon in einer te-
leologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die
uns mit allem Lebendigen verbindet. 29
Das Schema kann also die Vorhandenheit eines Bereichs im Bewusst-
sein verdeutlichen, der jenseits der subjektiven Intentionalität liegt,
da die menschliche Natur als eine solche, die auf etwas aus ist, durch

28 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 375.


29
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.

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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

die Vernunft jeden bewusst gewordenen intentionalen Horizont wie-


der überschreitet, wodurch sich jener Bereich öffnet, der paradoxer-
weise dadurch für uns von Interesse ist, dass er nicht durch unser
Interesse definiert ist. Es geht um den Bereich eines interesselosen
Wohlgefallens bzw. einer kontemplativen Haltung. Dieser Bereich,
der darum freilich nicht als festliegend verstanden werden darf, liegt
prinzipiell außerhalb des Horizonts subjektiver Intentionalität, auch
wenn er nachträglich von dieser immer eingeholt werden kann, wo-
durch sich dann aber der Bereich, um den es geht, zwangsläufig ver-
schoben hat. Das Transzendente, so die erste Schlussfolgerung, ist
dem Menschen also in dem Sinn erkennbar, dass es, obwohl es ein
Jenseits subjektiver Intentionalität ist, durch das natürliche Transzen-
dieren der Vernunft gegeben ist.
Nach der ersten Verdeutlichung der zentralen Zusammenhänge
anhand der schematischen Betrachtung des Verhältnisses von Natür-
lichem und Vernünftigem soll nun der Frage nachgegangen werden,
wie das Ineinandergreifen der beiden Horizonte, in dem das Trans-
zendente erkennbar wird, in der Selbsterfahrung eines menschlichen
Wesens gegeben ist. Es soll also im Sinne einer Gegenprobe danach
gefragt werden, wie die an dem Schema explizierte Differenz in der
Bewusstseinsperspektive eines Subjekts gegeben sein kann. Wenn die
Vernunft als Ausdruck der Transzendenz der menschlichen Natur
verstanden wird, kann die Vernunft sich als natürliche nur so zu den-
ken versuchen, dass sie ein Naturwesen vorstellt, das denkt, wobei
dieses Naturwesen jedoch nur indirekt gegeben ist als dasjenige, was
jedem Bewusstsein schon zugrunde liegt, von dem es aber immer nur
eine Vorstellung im Denken geben kann. Der Versuch der reflexiven
Wendung des Bewusstseins auf sich selbst mit dem Ziel, seine eigene
Fundierung zu denken, führt somit in einen Zirkel, in dem das Fun-
dierende selbst nie erreicht werden kann. 30 Diesem Zirkel der Refle-

30 Vgl.: »Man kann nicht dadurch, daß man auf etwas reflektiert, den reflektierten
Sachverhalt überhaupt erst zu Bewußtsein bringen. Reflexion ist zumindest eine ge-
zielte Aktivität. Das, was durch sie zum ausdrücklichen Bewußtsein gebracht werden
soll, muß wenigstens implizit bereits gegenwärtig sein, so daß es einen Akt der Re-
flexion auslösen kann, der im Blick auf es erfolgt. Reflexion ist nicht nur ein zufälliges
Auftreten konzentrierten Bewußtseins auf irgendeinen Sachverhalt. Sie setzt voraus,
daß dieser Sachverhalt auffällig geworden ist und Spannungen erzeugt hat, welche die
Konzentration des Bewußtseins auf ihn veranlassen oder erzwingen. Für die Refle-
xionstheorie des Selbstbewußtseins muß dieser Sachverhalt natürlich das Subjekt des
Selbstbewußtseins sein. Somit ist in der Reflexion ein Bewußtsein des Subjekts vo-
rausgesetzt. Die Reflexionstheorie kann also allenfalls explizite Selbsterfahrung,

63

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

xionstheorie ist vorläufig 31 nur durch den Sprung in eine andere Be-
trachtungsweise zu entgehen, der praktisch möglich ist, da die Ver-
nunft, insofern sie Transzendieren der Natur ist, selbst natürlich ist,
da die Natur also, wie aus dem Schema hervorgeht, ihrerseits auf das
Transzendieren ihrer selbst angelegt ist und sich der Vernunft als
ihres Organs bedient. Unser Verhältnis zur eigenen Natur zwingt
also aus der Subjektperspektive zur Annahme eines für unser
Selbstverständnis konstitutiven Präreflexiven, zu dem wir nur einen
indirekten Zugang haben, insofern wir von jeder Vorstellung, die
wir uns davon bilden, hypothetisch ihr Gedachtsein abziehen müss-
ten, um das ihr Zugrundeliegende denken zu können. Im Hinblick
auf unser Selbstverständnis ergibt sich somit ein prinzipieller Vor-
behalt, dass wir uns selbst nur adäquat verstehen könnten, wenn wir
in der Selbstverständigung reflektieren auf das sich uns in uns Ent-
ziehende. 32 Während aus der theoretischen Perspektive des Subjekts

nicht aber Selbstbewußtsein als solches erklären, ob sie nun Reflexion als Akt des Ich
auffaßt oder nicht.« – Henrich, Selbstbewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theo-
rie, 265–266.
31 Der vorliegende Gedankengang ist auf dem Weg zum Ereignis der Begegnung und

muss im Sinne einer sukzessiven begrifflichen Rekonstruktion zunächst davon abs-


trahieren, dass der Bereich, von dem hier die Rede ist, in dem das Transzendente
erkennbar wird, ursprünglich aus einer intersubjektiven Vermittlung hervorgegan-
gen ist. Dass das Ereignis der Begegnung der Sache nach immer schon impliziert ist,
wird vorläufig ausgeblendet, da die Wahrnehmung, um die es geht, zunächst von der
transzendentalen abgehoben werden soll, bevor dann im nächsten Teilkapitel aus-
gehend vom Selbstverhältnis des Wesens, das zu einer solchen Wahrnehmung fähig
ist, zum zugrunde liegenden Ereignis der Begegnung zu kommen sein wird.
32 Dies entspricht prinzipiell dem Befund, zu dem Dieter Henrich gelangt (vgl.

Fn. 30), wenn er schreibt: »Um zu einer Identifikation mit sich selber zu kommen,
muß das Subjekt nämlich schon wissen, unter welchen Bedingungen es etwas, dem
es begegnet oder mit dem es vertraut ist, sich selber zuschreiben kann. Diese Erkennt-
nis kann es niemals durch Selbstbeziehung allererst gewinnen. Sie muß als Wissens-
bestand jeder Reflexion einer Tätigkeit auf sich vorausgehen.« – Henrich, Selbst-
bewußtsein. Kritische Einleitung in eine Theorie, 267. – Henrich unterscheidet
Bewusstsein und Selbstbewusstsein bzw. Reflexivität – vgl.: »der Gedanke vom Be-
wußtsein als ichlosem Grund des Selbstbewußtseins«, ebd. 282 – in einer Art und
Weise, die durchaus in einer Nähe zur hier vorgenommenen Differenzierung zwi-
schen dem Horizont des Vernünftigen und dem Bereich der Intentionalität steht, vgl.:
»Läßt man die Hilfe einer Metapher zu, so ist man versucht zu sagen, daß das Be-
wußtsein eher von sich einen Zugang zu uns hat, als daß es ein Verfahren geben
könnte, mittels dessen wir es uns zugänglich machen können.« – Ebd. 271. – Vgl.
ebenso: »Bewußtsein ist ein Sachverhalt, der allen zielgerichteten Leistungen voran-
gehen muß und der deshalb auch dem selbstbewußten Ich vorausliegt.« – Ebd. 275.

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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

nur eine unendliche zirkuläre Annäherung an die fundierende Natur


denkbar ist, schlägt der Gedankengang praktisch in ein Überstiegen-
werden des Subjekts durch die Natur um, das in der Vernunft statt-
findet und dem Subjekt somit direkt gegeben ist, auch wenn sein
bewusster Rückbezug auf die fundierende Natur erneut in die un-
endliche Annäherung führen muss. Dem Zirkel der Reflexionstheo-
rie lässt sich daher vorläufig entgehen durch die Differenzierung
zwischen einem Transzendieren der Natur durch die Vernunft, das
selbst natürlich ist, und der reflexiven Bezugnahme auf dieses Trans-
zendieren in der sich als autonom verstehenden Subjektivität. Der
Gedanke des natürlichen Transzendierens der Natur durch die Ver-
nunft impliziert eine Harmonie zwischen Vernunft und zugrunde
liegender Natur, insofern jene in ihrem Wirken diese erinnert. Das,
was dabei erinnert wird, ist das Über-sich-hinaus-Streben der Natur.
Die Vernunft kann dieses erinnern, indem sie als Organ eines Lebe-
wesens seinen Horizont, innerhalb dessen alles Gegebene auf sein
Interesse bezogen ist, überschreitet. Vor diesem Hintergrund wird
nun auch deutlich, in welchem Sinn die nicht-graduelle Transzen-
denz, die aus der Aktualisierung des antiken Naturverständnisses
gewonnen werden kann, absolut ist. Es geht in ihr nicht um eine
Horizonterweiterung der Intentionalität, sondern darum, dass der
intentionale Horizont selbst überstiegen wird, innerhalb dessen alles
Gegebene mögliches Mittel zu einem im Subjekt vorgefundenen
oder gesetzten Zweck ist. Das zuvor negative Transzendente wird
erkennbar als das zunächst nicht als Mittel zu einem möglichen
Zweck für das Subjekt Gegebene. Der Blick der Vernunft auf dieses
eröffnet sich, wenn in dem natürlichen Transzendieren, das sich der
Vernunft als Mittel bedient, der Horizont des Interesses des natür-
lichen Lebewesens überschritten wird, das selbst somit eines nicht
von seinem Interesse bestimmten Jenseits seines Horizonts ansichtig
wird. Dieses Jenseits kann sich die Vernunft sogleich wieder einver-
leiben. Obgleich die Vernunft als Organ begriffen wird, durch das die
Natur ihre Ausrichtung auf die Transzendenz verwirklicht, kann die
in der reflexiven Wendung zu sich selbst gekommene Vernunft ihren
eigenen Ursprung verdrängen, indem sie in Erkenntnisakten den ihr
sich öffnenden, die eigene Intentionalität transzendierenden Hori-
zont auf das in ihm überwundene Interesse des Subjekts zurück-
bezieht. Das im Horizont der Vernunft erscheinende Negative wird
so durch den Rückbezug auf das subjektive Erkenntnisinteresse po-
sitiv gefasst, in das Reich möglicher Mittel für ein natürliches Wesen

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

einbezogen, wodurch die Vernunft sich selbst als autonom verstehen


kann 33.
Die Beziehung des denkenden Subjekts zu seiner es fundieren-
den Natur entspricht formal dem im ersten Teilkapitel im Zusam-
menhang von Kants ›Paralogismen der reinen Vernunft‹ referierten
Verhältnis der transzendentalen Apperzeption zum transzendentalen
Subjekt als Substanz. Der Gedanke der Fundierung der Vernunft in
der menschlichen Natur geht aber über den nur regulativen Gebrauch
der Substanzidee bei Kant dadurch hinaus, dass eine Abhängigkeit der
Vernunft von ihrer natürlichen Grundlage konstatiert und Bedingun-
gen für ein adäquates Selbstverständnis der Vernunft daraus abgelei-
tet werden. In der hier durchgeführten Überlegung ging es allein um
die Frage, welche Folgerungen sich aus der Annahme einer Fundie-
rung der menschlichen Vernunft in der teleologisch verstandenen
Natur für das Verständnis des Menschen ergeben. Diese Überlegun-
gen werden der anschließenden Fortführung des Gedankengangs zu-
grunde liegen. Viel grundsätzlicher noch könnte aber gefragt werden,
ob die Behauptung der Fundierung der Vernunft in der Natur triftig
ist. In dieser Frage sieht man sich dem Selbstverständnis der Subjekt-
philosophie gegenüber, der die Vernunft – ungeachtet einer schwer zu
leugnenden physischen Bedingtheit – als von der Natur emanzipiert
und im Idealfall absolut autonom gilt. Es handelt sich hier um einen
Gegensatz prinzipieller Art. Der Ausgang im Denken sowohl von
einer autonomen Vernunft wie auch der von einer in der Natur fun-
dierten Vernunft stellen verschiedene methodische Apriori dar, die als
metaphysische Grundsätze des Denkens nicht widerlegbar sein kön-
nen und somit auch nicht beweisbar sind. 34 Hier wurde im Sinne des

33 Der hier beschriebene Zusammenhang wird im siebten Kapitel der vorliegenden


Arbeit mit Bezug auf das Kapitel »Wohlwollen« aus Spaemanns »Glück und Wohl-
wollen« genauer erläutert werden. Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–
479.
34
Geht man von der Autonomie der Vernunft aus und begreift jedes Denken im
Ausgang von ihr, wird jegliche natürliche Bedingtheit zu einem bloßen Sachverhalt
der äußeren Welt, auf den die Vernunft sich bezieht als Material ihrer Selbstbestim-
mung. Geht man umgekehrt von einer Fundierung der menschlichen Vernunft in der
Natur aus, liegt jeder Vernunfttätigkeit ursprünglich eine natürliche Spontaneität zu-
grunde, zu der die Vernunft sich zwar möglicherweise frei verhalten kann, die sie aber
nicht durch eine eigene Spontaneität der Vernunft ersetzen kann. – Vgl.: »Wir ge-
winnen bestimmte relevante Erkenntnisse über uns nur, indem wir unsere Erfahrun-
gen im Lichte der metaphysischen Kernbehauptung ›Alle realen Gegenstände sind
von einer der Arten A1 bis An oder lassen sich auf eine bestimmte Weise auf sie

66

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2.2 Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität

von einer möglichen Philosophie der Begegnung vorausgesetzten


Denkens der Transzendenz zunächst ein methodisches Apriori ge-
wählt. Wenn für die Idee der natürlichen Fundierung der Vernunft
kein Beweis erbracht werden kann, bleibt nur die Möglichkeit, ein
komplexes Gefüge sich wechselseitig stützender Argumente zu ent-
wickeln, das gute Gründe für die Annahme dieser Fundierung liefern
kann. Die Entwicklung dieses Gefüges und die argumentative Stüt-
zung des hier gewählten Ausgangspunkts wird erst nachträglich im
zweiten Teil dieser Arbeit anhand der Untersuchung des philosophi-
schen Werks Robert Spaemanns geleistet. 35 Im Sinne der Explikation
des philosophischen Problems der Begegnung wird hier der Gedanke
der Fundierung der Vernunft in der teleologisch verstandenen Natur
als methodisches Apriori weiter auf seine Bedeutung hin zu befragen
sein.

zurückführen‹ interpretieren und sie gerade angesichts scheinbar widerstreitender


Erfahrungen nicht fallenlassen. So betrachtet spielen metaphysische Kernbehauptun-
gen die Rolle von Rahmenannahmen, die bestimmte Erfahrungen allererst ermög-
lichen und deshalb durch Erfahrung nicht zu widerlegen sind.« – Tetens, Gott denken,
20–21.
35 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen

Ethik, 415–508.

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und
die Freiheit im Ereignis der Begegnung

Bisher ging es in dem Versuch, den verengten neuzeitlichen Subjekt-


begriff durch eine Aktualisierung des aristotelischen Substanz-Sub-
jekts zu überwinden, um eine epistemologische Überlegung. Im Mit-
telpunkt stand das Denken der Transzendenz bzw. die Frage, wie das
Transzendente erkannt werden kann. Damit waren die vorangegan-
genen Überlegungen geprägt durch den Versuch eines Abstoßes von
der Transzendentalphilosophie. Das Ergebnis dieses Versuchs besteht
in der aus der Reflexion auf das Verhältnis des Natürlichen und des
Vernünftigen im Menschen hervorgehenden Freilegung des Bereichs
einer Differenz zur transzendentalen Intentionalität. Die Erkenntnis
des Transzendenten ist möglich, so das zentrale Ergebnis der bisheri-
gen Überlegungen, weil die Natur in uns durch die Vernunft uns
selbst immer schon voraus ist. Die Weiterführung des Gedanken-
gangs im Folgenden wird von der Frage nach der philosophischen Be-
stimmung desjenigen Wesens ausgehen, das zu der zuvor beschriebe-
nen Wahrnehmung fähig ist. An die Stelle der epistemologischen
Fragestellung tritt also eine anthropologische bzw. ontologische. Zu-
nächst soll das Subjekt der Erkenntnis des Transzendenten auf einen
heuristischen Begriff gebracht werden, um diesen anschließend durch
negative Bestimmungen – omnis determinatio est negatio 1 – ein-
zukreisen. Die Denkbewegung wird schließlich zum Begriff der Be-
gegnung führen, die sich im Rückblick als das stets anwesende Orga-
nisationsprinzip der vorliegenden Überlegungen zu erkennen geben
wird.
Die neuzeitliche Erkenntnismetaphysik, die in ihrer kantischen
Form die transzendentale Apperzeption zum »alles bestimmenden
Ausgangspunkt« 2 des Denkens macht, wurde in den vorangegange-
nen Überlegungen als Rückzug aus einer ursprünglich gegebenen
Offenheit gewertet, durch den die unwillkürliche Spontaneität der
Natur ausgeblendet und alles Gegebene auf das Erkenntnisinteresse

1 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 165. – Hegel zi-

tiert hier frei Spinoza und verweist als Quelle auf: Spinoza, Epistola 50, wo dieser
Satz sich aber nicht im Wortlaut findet.
2
Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.

68

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

eines Subjekts zurückbezogen wird, dessen Vernunft sich als auto-


nom versteht. Dieses Subjekt war der Ausgangspunkt der Überlegun-
gen in diesem Kapitel. Hier geht es nun darum, das anders gefasste
Subjekt, das erst aus seiner Fundierung in der menschlichen Natur
verstanden werden kann und das zur Erkenntnis des Transzendenten
fähig ist, auf einen zunächst heuristischen Begriff zu bringen. Der
Schlüsselbegriff der Spaemann’schen Philosophie, der diese Aufgabe
übernimmt, ist ›Person‹. An dieser Stelle kann nicht die Frage nach
der Herkunft dieses Begriffs und der besonderen Begriffsart, die
durch ihn in den Gedankengang eingeführt wird, gestellt werden.
Ihr werden im zweiten Teil ausführliche Untersuchungen gewidmet. 3
Hier wird der Begriff Person zunächst gegenüber dem auf das Gegen-
ständliche bezogenen Subjekt der autonomen Vernunft eingeführt als
dasjenige Subjekt, das eine Rezeptivität aufweist für das Transzen-
dente im Sinne des Jenseits subjektiver Intentionalität. Als heuristi-
scher Begriff soll ›Person‹ damit die ontologische Ausdeutung des
epistemologischen Befundes aus den vorangegangenen Überlegun-
gen ermöglichen. Die epistemologisch fundierte Ausgangsbestim-
mung des Begriffs besteht darin, dass mit dem Begriff Person der
Standpunkt bezeichnet wird, dem die Differenz gegeben ist zwischen
subjektiver Intentionalität und einem Vernünftigen, das bestimmt ist
als deren natürliches Überschreiten. Der erste Hinweis, der sich aus
dieser Ausgangsbestimmung für eine weitere Eingrenzung des Be-
griffs der Person ableiten lässt, besteht darin, dass die Relationalität,
das In-einer-Differenz-Stehen oder, wie Spaemann sagen wird, das
›Haben einer Natur‹ von grundlegender Bedeutung sein werden. Im
Folgenden soll versucht werden, den heuristischen Begriff durch wei-
tere Bestimmungen inhaltlich zu füllen, wobei die Überlegungen zu-
nächst an das dargelegte Plessner’sche Schema anknüpfen werden.
Wenn die autonome Vernunft gegenüber dem personalen Stand-
punkt als Rückzug aus einer ursprünglich gegebenen Offenheit ver-
standen wird, kann das nicht bedeuten, dass im Sinne des Pless-
ner’schen Schemas der unterschiedlichen Horizonte die menschliche
Exzentrizität in ihr zurückgenommen würde. Die Vernunft – auch die
autonome – verdankt sich ursprünglich der Exzentrizität und ist prin-
zipiell über die natürliche Zentralität hinaus. Oben wurde betont,
dass jede Wahrnehmung des Transzendenten nachträglich in den Ho-
rizont subjektiver Intentionalität integriert werden kann. Auch wenn

3
Vgl. Kapitel 8, Die Ontologie der Person, 509–650.

69

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

es die durch die unwillkürliche Spontaneität der Natur eröffnete Dif-


ferenz gibt, tendieren die Standpunkte der Person und der autonomen
Vernunft stets zu einer extensionalen Kongruenz. Dies gibt einen
ersten Hinweis auf die unvermeidbare Labilität der begrifflichen Dis-
tinktion zwischen Person und autonomem Subjekt. Während Per-
sonalität die aus der eigenen Natur hervorgehende, sich der Vernunft
als ihres Organs bedienende Selbsttranszendenz eines Lebewesens
auf ein Jenseits seines Interessenhorizonts bezeichnet, kann die refle-
xive Bezugnahme auf dieses Transzendieren zu der sich als autonom
verstehenden Subjektivität führen, der alles Gegebene mögliches
Mittel zu in sich selbst gefundenen bzw. gesetzten Zwecken wird.
Personalität und Subjektivität sind dabei als einander überlagernde
Begriffe zu verstehen, was sich praktisch darin ausdrückt, dass diese
Standpunkte im Daseinsvollzug ineinander übergehen. Wie der per-
sonale Standpunkt jederzeit in die autonome Subjektivität hinüber-
gleiten kann, so eröffnet in dieser der Zweifel – also der Verdacht der
Idiosynkrasie – die Möglichkeit einer umgekehrten Bewegung in
Richtung der natürlichen Selbsttranszendenz. Dennoch muss für eine
ontologische Bestimmung des Personbegriffs die spezifische Diffe-
renz zur autonomen Vernunft benannt werden können. Es ist ja of-
fensichtlich so, dass die exzentrische Positionalität in der autonomen
Vernunft anders interpretiert wird als vom personalen Standpunkt
aus. 4 In der autonomen Vernunft wird die Abhängigkeit der exzen-
trischen Positionalität von der zugrunde liegenden Natur, die über
sich hinausstrebt und die Exzentrizität erst hervorbringt, ausgeblen-
det und das transzendentale Bewusstsein zum absoluten Ausgangs-
punkt gemacht. Der Richtungssinn der natürlichen Vernunft, die
über sich hinausstrebt, wird damit invertiert und auf die autonom
verstandene Vernunft zurückbezogen. Damit erfolgt insofern ein
Rückzug in die natürliche Zentralität, als das Eingeschlossensein in
einen Horizont, das Kennzeichen der zentrischen Positionalität war,
nun durch das abstrakte Konstrukt eines transzendentalen Bewusst-
seins, das nichts außerhalb seiner selbst zulässt, wiederholt wird. Die-
se Selbstgenügsamkeit erlangt die autonome Vernunft aber nur da-

4 Diese beiden unterschiedlichen Interpretationen werden bei Spaemann als Alterna-


tive einer spekulativ-dialektischen und einer metaphysisch-analogen Interpretation
des cartesischen Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ wiederbegegnen. Vgl. die Ab-
schnitte 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. 6.2.1,
Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.

70

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

durch, dass sie sich als absolute Vernunft und das Selbst als ihre In-
stantiierung begreift. Unter der Prämisse der Fundierung der Ver-
nunft in der teleologisch verstandenen Natur ist diese autonome Ver-
nunft ein Selbstmissverständnis, das immer in dem Widerspruch lebt,
den natürlichen Richtungssinn, aus dem sie hervorgegangen ist, in
sich selbst zurückzubiegen. Die andere Interpretation der Exzentrizi-
tät, die hier als personaler Standpunkt bezeichnet wird, reflektiert auf
den Ursprung des Richtungssinns der natürlichen Vernunft in der
menschlichen Natur. Die exzentrische Positionalität wird somit als
›Haben einer Natur‹ verstanden, durch das sowohl ausgedrückt wird,
dass sie über die Zentralität des natürlichen Lebewesens hinaus ist, als
auch, dass sie nur aus dem Richtungssinn dieses natürlichen Wesens
hervorgeht. Die erste wesentliche Differenz zum Standpunkt der au-
tonomen Vernunft besteht also darin, dass die Personalität sich nicht
als Anfang und Ausgangspunkt verstehen kann, sondern sich selbst
aus ihrer Relationalität zu ihrer Natur versteht. Das personale Über-
die-Natur-hinaus-Sein füllt sich inhaltlich aber erst durch Akte der
Erkenntnis des Transzendenten. Wenngleich die Standpunkte der au-
tonomen Vernunft und der Personalität also zu extensionaler Kon-
gruenz tendieren, ist der wesentliche Unterschied zwischen ihnen
ein intensionaler, 5 insofern der Richtungssinn der Vernunft dort auf
die abstrakte Entität eines Selbst zurückgelenkt wird, während er hier
auf ein Zentrum der Bedeutsamkeit außerhalb des eigenen Horizonts
verweist.
Was den personalen Standpunkt von der autonomen Vernunft
vor allen Dingen unterscheidet, ist sein Weltverhältnis. Streng ge-
nommen kann in Bezug auf die autonome Vernunft von einem Welt-
verhältnis gar nicht die Rede sein, da es für diese keine Welt jenseits
des transzendentalen Bewusstseins des Subjekts gibt. Vom persona-
len Standpunkt aus geht es nicht um eine im transzendentalen Be-
wusstsein konstituierte Welt, sondern ganz wesentlich um das Ver-
hältnis zu einem Transzendenten. Das erste Transzendente ist vom
personalen Standpunkt aus die eigene Natur. Insofern diese als eine
solche begriffen wird, die durch die Vernunft uns in uns immer schon
voraus ist, ist sie wesentlich ein Uneinholbares. Das Verhältnis zur
eigenen Natur steht modellhaft für das personale Weltverhältnis

5
Vgl.: »Unter der Extension eines Begriffes versteht man den Begriffsumfang im
Unterschied zur Intension als dem Begriffsinhalt.« – Kauppi, Extension/Intension,
in: HWPh II, col. 878.

71

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

überhaupt. Von großer Bedeutung für den weiteren Gedankengang


ist es daher, sich am Modell des personalen Verhältnisses zur eigenen
Natur zu verdeutlichen, in welcher Weise das Transzendente im per-
sonalen Daseinsvollzug gegeben sein kann. Vom personalen Stand-
punkt aus kommt zum Bewusstsein, dass das natürliche Lebewesen,
als das die Person sich wahrnimmt, nicht notwendig so ist, wie es ist,
sondern dass es auch anders sein könnte. Das heißt, die eigene Natur
ist vom personalen Standpunkt aus als kontingent gegeben. Sie er-
scheint als durch eine Vielzahl von Faktoren – zufällige genetische
Prädispositionen, zufällige Einflüsse der sozialen Umwelt – bedingt,
darüber hinaus begreift die Person sich im biographischen Kontext als
Resultat kontingenter Entscheidungen. Kontingent ist alles an der
Person, was eine qualitative Bestimmtheit, ein Sosein, aufweist und
damit auch anders sein könnte. Insofern die eigene Natur in ihrer
Bedingtheit durch die Welt gesehen wird, erscheint diese selbst vom
personalen Standpunkt aus als kontingent. Der Begriff Kontingenz –
»griech. ἐνδεχόμενον, lat. contingentia« 6 – bzw. das Adjektiv kontin-
gent – »zu lat. contingere ›zuteil werden‹, ›widerfahren‹ (bzw. zur
impersonalen Form contingit ›es ereignet sich‹, ›es geschieht‹)« 7 –
bezeichnet »das unvollständig Bestimmte und somit das, was auch
anders möglich ist« 8. Obwohl die Geschichte dieses Begriffs »vielfach
verschlungen und nicht leicht zu entwirren« 9 ist, kann ein Blick auf
die geschichtlichen Zusammenhänge im Gedankengang hilfreich

6 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in:

HWPh IV, col. 1027.


7 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe

Meyer, Hamburg 1998, s. v. kontingent.


8 Makropoulos, Kontingenz und Handlungsraum, 23. – Vgl. auch: »Kontingent ist,

was auch anders möglich ist. Und es ist auch anders möglich, weil es im Sinne klassi-
scher Ontologie keinen notwendigen Existenzgrund hat.« – Makropoulos, Moderni-
tät als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, 59. – Vgl. auch: »Strenggenom-
men ist ›Kontingenz‹ eine zweifach bestimmte Modalkategorie und bezeichnet das,
›was weder notwendig noch unmöglich ist‹. So E. Scheibe, ›Die Zunahme des Kontin-
genten in der Wissenschaft‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25 (1985), S. 5. Und im
Unterschied von ›Möglichkeit‹ im Sinne von dynamis, bezeichnet ›Kontingenz‹ die
›zweiseitige Möglichkeit‹, sofern die einseitige Möglichkeit durchaus notwendig sein
kann. Dazu vgl. D. Frede, Aristoteles und die ›Seeschlacht‹, Göttingen 1970, S. 53 ff.,
sowie G. Striker, ›Notwendigkeit mit Lücken‹, in Neue Hefte für Philosophie 24/25
(1985), S. 148.« – Ebd. Fn. 18.
9 Brugger S. J., Kontingenz. I. Der Begriff der Kontingenz in der Philosophie, in:

HWPh IV, col. 1028.

72

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

sein. 10 Ein Denken, das von natürlichen Substanzen ausgeht, ohne


diese zu objektivieren, kann Kontingenz nicht denken: »Den antiken
Griechen war grundsätzlich der Gedanke fremd, daß die Welt im gan-
zen nicht oder anders sein könnte.« 11 Die in den kosmogonischen Vor-
stellungen begründete antike Überzeugung von der »Notwendigkeit
der Welt« 12 spiegelt sich philosophisch im »Vorrang der Frage nach
dem Wesen vor dem Existenzbegriff« 13 in der klassischen Metaphysik
wider. Die Entstehung des Kontingenzbewusstseins ist verknüpft mit
der Fähigkeit, die exzentrische Positionalität des Menschen ausdrück-
lich zu reflektieren. Der so in die Welt kommende personale Stand-
punkt nimmt die eigene Natur in ihrer lebendigen Zentralität als
kontingentes Sosein wahr. Die Perspektive aber, von der aus das Kon-
tingente als eine realisierte Möglichkeit neben anderen nicht reali-
sierten erscheint, kann selbst nicht Teil der kontingenten Welt sein.
Das Kontingenzbewusstsein kann entweder eine Täuschung sein in
dem Sinn, dass die vorhandenen Bedingungsfaktoren des als kontin-
gent Wahrgenommenen nicht im ausreichenden Maß erkannt wer-
den, oder es setzt voraus, dass es einen notwendigen Standpunkt gibt.
Dieser Standpunkt geht in der personalen Interpretation der mensch-
lichen Exzentrizität aus der als uneinholbar verstandenen Natur
durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszendenz hervor. Er
ist selbst nicht Teil der kontingenten Welt und hat keine qualitative
Bestimmung, kein Sosein. Mit dem personalen Standpunkt ist daher
eine ontologische Differenz zwischen kontingentem, qualitativ be-
stimmtem Sosein und bestimmungslosem Dasein, das sich als not-
wendig begreift, eingeführt. An dieser Stelle ist hervorzuheben, dass
mit der aus dem Kontingenzbewusstsein abgeleiteten Notwendigkeit
ein Prädikat in die ontologische Bestimmung der Personalität auf-
genommen wird, das, auch wenn es nicht zwangsläufig in die Dimen-
sion religiösen Denkens führt, so doch zumindest im Sinne eines
Agnostizismus als antireduktionistisch bezeichnet werden muss. 14

10 Im Folgenden wird Bezug genommen auf Franz Josef Wetz’ Aufsatz »Kontingenz
der Welt – ein Anachronismus?«, dessen programmatischer Titel bereits auf die vom
Autor intendierte Überwindung des Kontingenzbewusstseins als einer historischen
Täuschung hinweist.
11 Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 82.

12 Ebd.

13
Ebd.
14 Historisch wurde die mit dem personalen Standpunkt gegebene Daseinserfahrung

zunächst mit Hilfe der Offenbarungstheologie verarbeitet. Kontingenz wurde denk-

73

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

Damit scheint diese Interpretation auf eine metaphysische Theorie


hinauszulaufen. Für die Personalität ist jedoch wesentlich der Ver-
zicht auf eine distanzierende Reflexion, die den personalen Stand-
punkt noch einmal zu einer Entität zu hypostasieren versucht. Ein
solcher Versuch läge vor in jeder theologischen und metaphysischen
Interpretation, die nicht vom personalen Standpunkt aus, sondern
scheinbar weltlos in seinem Namen argumentiert. Ein solcher Ver-
such führt notwendig zum Verlust des personalen Standpunkts und
zu dem oben erwähnten Hinübergleiten in die Vorstellung einer au-
tonomen Vernunft, die in sich selbst ihren Anfang hat. 15 Die meta-

bar im Zusammenhang mit dem biblischen Gedanken der Erschaffung der Welt aus
dem Nichts: »Daß etwas ist und nicht nichts ist, und daß ausgerechnet alles so ist, wie
es ist, fällt gewissermaßen erst in dem Augenblick auf, an dem sich die Möglichkeit
des Überhauptnichtseinmüssens zu erkennen gibt. Diese zeigt sich jedoch erst, als die
Welt das Werk eines freien Willens genannt wurde, eben das Werk der schöpferischen
Macht Gottes.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachronismus?, 84. – Schöp-
fungstheologische Vorstellungen ermöglichen ein Bewusstsein der Kontingenz der
Welt, insofern der göttliche Welturheber als Grund des Auch-anders-sein-Könnens
der Welt erscheint.
15
Die philosophische Verarbeitung des Kontingenzbewusstseins ging gerade diesen
Weg und zeigt, dass die neuzeitliche Philosophie keine Philosophie der Person ist,
sondern die eines absoluten, weltlosen Subjekts. Diese aber läuft auf eine Eliminie-
rung der metaphysischen Kontingenz hinaus. F. J. Wetz bezeichnet die in der Schöp-
fungstheologie fundierte Weltsicht als die erste von vier Entwicklungsstufen des me-
taphysischen Verständnisses der Kontingenz. »Es war vor allem Kant, der, Kontingenz
vermutlich erstmals als Zufälligkeit übersetzend, dieses alte Verständnis von Kontin-
genz der Welt aufs tiefste erschütterte.« – Wetz, Kontingenz der Welt – ein Anachro-
nismus?, 89. – Mit dem »Aufkommen von Zweifeln an der Schöpfungsphilosophie«
wurde der mit der Idee eines göttlichen Urhebers aufs engste verbundene Gedanke der
Kontingenz der Welt zu einer »nicht mehr ohne weiteres zu beseitigende[n] Leerstelle
im System möglicher Weltdeutungen« – Ebd. 92. – Die spezifisch nachchristliche
»Frage, warum überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts« – ebd. 98 –, musste,
wenn sie nicht offen gelassen wurde, die Vernunft überfordern und zu einer »Meta-
physik des göttlichen Absoluten« – ebd. 92 – führen. Der nächste Schritt in der Ent-
wicklung war – angetrieben von den modernen Naturwissenschaften – die philo-
sophische Einsicht in die »absolute Grund- und Zwecklosigkeit des Ganzen« – ebd.
93 –, womit bereits als letztes Stadium des metaphysischen Verständnisses der Kon-
tingenz die nihilistische Konsequenz vorbereitet war, die im 19. Jahrhundert vor allem
von Nietzsche gezogen wurde: »An die Stelle der ursprünglichen Bedeutung von Kon-
tingenz der Welt ist deren absolutes Gegenteil getreten. Einst erschien das Ganze als
kontingentes Faktum und war gerade als solches gerechtfertigt, da es Gottes Erwäh-
lung und Bejahung sicher sein konnte. Jetzt erscheint es als ungerechtfertigt, weil es
keinen letzten Grund und Zweck mehr besitzt. Daß alles ganz anders sein könnte und
überhaupt nicht zu sein bräuchte, beweist nur noch, daß es besser wäre, wenn es
überhaupt nicht existierte.« – Ebd. 95. – Die Entwicklung ist damit allerdings nicht

74

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

physische Kontingenz der Welt ist ausschließlich im personalen Da-


seinsvollzug gegeben und jedes Bemühen, ihren Ursprung begrifflich
fassen zu wollen, hat den personalen Standpunkt in einer distanzie-
renden Reflexion bereits zugunsten der autonomen Vernunft auf-
gegeben. Stattdessen eröffnet Personalität aber eine andere Möglich-
keit der Reflexion. Da die Person ihr Weltverhältnis am Modell des
Verhältnisses zu ihrer eigenen Natur ausbildet und die eigene Natur
vom personalen Standpunkt aus stets ein Uneinholbares ist, enthält

abgeschlossen, da sich nunmehr nach Wetz die Möglichkeit bot, die »Erwartung eines
obersten Grundes und letzten Zweckes der Welt« – ebd. 95 – selbst aufzugeben und
»das grund- oder zwecklose All […] als sich selbst genügend« – ebd. 100 – vorzustel-
len: »Der Schluß ist unvermeidlich: Die Formel Kontingenz der Welt ist heute ein
Anachronismus, der etwas bezeichnet, das es wahrscheinlich gar nicht gibt.« – Ebd.
101. – In der postmetaphysischen Philosophie – Wetz führt als Beispiel R. Rorty an –
wird der Begriff Kontingenz »nicht mehr auf die Welt selbst […], sondern nur noch
auf deren Deutungen und dazu auf unsere Selbsterfahrung und Gesellschaft« – ebd.
101–102 – bezogen. Die naturalistische, Kontingenz ausschließende Weltsicht führt
so ohne jeden inneren Widerspruch zu einer postmetaphysischen Kontingenzphiloso-
phie: »Nach dem Tode Gottes und der Trauerarbeit darüber schwindet die metaphy-
sische Kontingenz der Welt in jeder erwähnten Hinsicht; zurück bleibt eine selbst-
genügsame Natur, die auch den Menschen einschließt, der jetzt keiner besonderen
Wertung unterliegt. Aber gerade in dieser, von keiner metaphysischen Kontingenz
mehr durchsetzten und überlagerten Natur wird die Menschenwelt schließlich Ort
metaphysisch neutraler Kontingenz – und das nicht, obwohl der Mensch nur ein
wesenloses Stück Natur ist, sondern gerade weil er bloß ein solches ist.« – Ebd. 104
(kursiv im Original). – In dieser postmetaphysischen Kontingenzphilosophie bleibt
»als Rest unvermittelbarer Kontingenz« – ebd. – der Mensch mit seinen existentiellen
Fragen, auf die er in diesem Weltbild keine Antworten findet. Hier empfiehlt Wetz
den »existentielle[n] Realismus, die Unvermeidlichkeiten von Sorge, Mühe und Not
anzuerkennen und das Unabänderliche so zu nehmen, wie es kommt und es sich
trifft«. – Ebd. 106. – Die der von Wetz vorgetragenen naturalistischen Argumentation
zugrunde liegende Reflexionsposition ist die einer autonomen, weltlosen Vernunft.
Im Rahmen der vom Plessner’schen Schema ausgehenden Überlegungen zur exzen-
trischen Positionalität wurde dargelegt, dass die Reflexionsposition der autonomen
Vernunft durch den Gedanken eines absoluten Bewusstseins, dessen Instantiierung
sie ist, möglich wird. Die Objektivierung des Ursprungs der Kontingenz – Gott bzw.
das Absolute – geht also aus demselben Schritt hervor wie die Reflexionsposition des
transzendentalen Subjekts, das außerhalb der Welt steht. Wetz legt in seiner Darstel-
lung der Geschichte des Kontingenzbewusstseins dar, wie – seiner Meinung nach
folgerichtig – der Gedanke metaphysischer Kontingenz in mehreren Stufen überwun-
den wird und zur postmetaphysischen Kontingenzphilosophie führt, argumentiert
dabei aber durchgängig eben aus derjenigen Reflexionsposition, die genealogisch der-
selben Interpretation der menschlichen Exzentrizität entspringt wie der Ursprung der
nach Wetz zu liquidierenden metaphysischen Kontingenz. Wetz’ Naturalismus
schlägt damit dialektisch um in eine Spielart des Spiritualismus.

75

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

die Wahrnehmung zumindest anderer Lebewesen ein analoges Ver-


hältnis, das auf ein im Erscheinen sich Verbergendes verweist. Es
widerspräche der intuitiven Wahrnehmung, andere Lebewesen als
kontingentes Seiendes zu betrachten ohne ein analoges, für sie kon-
stitutives Uneinholbares. Diese analoge Wahrnehmung ist die An-
erkennung anderer Wesen als Mitsein. Anerkennung bedeutet, dass
die im Daseinsvollzug erlebte Distanz zur eigenen Kontingenz analog
auch anderen Wesen zugestanden wird. Somit erlaubt der personale
Standpunkt zwar keine Instrumentalisierung der Distanz zur eigenen
Natur, aber eine analoge Wahrnehmung ähnlicher Verhältnisse in
anderen Wesen.
Die aus dem personalen Selbst- und Weltverhältnis abgeleitete
ontologische Differenz von Sosein und Dasein bleibt ein abstrakter
Gedanke, solange nicht ihre konkrete Bedeutung für die Personalität
expliziert wird. Diese besteht darin, dass die Person durch die Distanz
zu ihrer teleologisch verstandenen Natur frei wird, frei von ihrer
Natur und frei für die Welt. Der Begriff von Freiheit, der hier ins
Spiel kommt, ist einerseits nicht ablösbar von der unwillkürlichen
Spontaneität der menschlichen Natur, die durch ihre Selbsttranszen-
denz den personalen Standpunkt hervorbringt; andererseits ist diese
Freiheit aber auch ein Transzendieren der Natur selbst, das sich einem
von außen Entgegenkommenden verdankt. Der Gedanke der Freiheit
führt somit in eine Paradoxie, die sich nur auflösen lässt, wenn die
Alternative der Bewegungen von innen und von außen als abstrakte
Trennung eines ursprünglich Zusammenhängenden begriffen wird.
Für die zur Freiheit führende Bewegung der Selbsttranszendenz gilt:
»Übersteigen ist ein Überstiegenwerden« 16. Grammatisch gesprochen
ist die Diathese des Verbs transzendieren weder aktivisch noch passi-
visch, sondern als Medium zu verstehen. Das personale Verständnis
von Freiheit erfordert noch einmal eine Verdeutlichung der vollzoge-
nen Abstoßung vom Paradigma der Transzendentalphilosophie, da
mit Freiheit hier offenbar etwas anderes gemeint ist als das, was die
transzendentalphilosophische Tradition darunter versteht. Freiheit
im personalen Verständnis ist abzuheben vom Begriff der Auto-
nomie, durch den – als Antonym zu Heteronomie – die »Möglichkeit
der Selbstbestimmung des Menschen im Gegensatz zur Abhängigkeit

16
Struve, Philosophie und Transzendenz, 154.

76

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

von der Macht und dem Zwang anderer« 17 und somit im philosophi-
schen Sprachgebrauch Freiheit im engeren Sinn bezeichnet wird. 18
An dieser Stelle soll in einem kurzen Exkurs auf das Denken Kants
Bezug genommen werden, mit dem die transzendentale Wende in der
Philosophie vollzogen wurde. »Autonomie – i[…]m Sinne einer
Selbstgesetzgebung durch Vernunft – kann als Strukturprinzip der
gesamten Kantischen Philosophie verstanden werden: ›Alle Philo-
sophie … ist Autonomie‹ 19.« 20 Kants Begriff der Autonomie enthält
negativ den Ausschluss aller Einflüsse auf das Subjekt, die zum Ur-
sprung einer Heteronomie werden könnten, und positiv die selbst
gewählte Bindung des guten Willens an das Sittengesetz in Form des
kategorischen Imperativs: »Das Prinzip der Autonomie ist also: nicht
anders zu wählen, als so, daß die Maximen seiner Wahl in demselben
Wollen zugleich als allgemeines Gesetz mit begriffen seien.« 21 Dieses
Prinzip der Autonomie bildet gleichzeitig den positiven Freiheits-
begriff, der mit dem Befolgen des Sittengesetzes zusammenfällt:
Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an,
um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu den-
ken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen,
weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben, denn Freiheit
und eigene Gesetzgebung des Willens sind beides Autonomie, mithin
Wechselbegriffe […]. 22
Freiheit im kantischen Sinn hat nichts mit Selbsttranszendenz zu tun
und ist erst recht nicht verbunden mit einer unwillkürlichen Sponta-

17 Wörterbuch der philosophischen Begriffe, hrsg. von Arnim Regenbogen und Uwe
Meyer, Hamburg 1998, s. v. Freiheit.
18 Vgl.: »Die Frage, ob der menschliche Wille sich selbst bestimmen könne, also auto-

nom sei, oder ob er von fremden Mächten bestimmt werde, also unfrei, heteronom
sei, hat die Philosophie zu allen Zeiten beschäftigt und hat im allgemeinen drei ver-
schiedene Antworten hervorgerufen: Entweder haben Philosophen den Willen für
autonom erklärt und diese Autonomie als den Gegensatz zur Ursächlichkeit, als die
Aufhebung des Kausalitätsgesetzes für den Willen angesehen. Oder sie haben den
Willen für heteronom und alles Handeln lediglich für verursacht erklärt, wie die Vor-
gänge in der Natur es sind. Oder sie haben die Selbstbestimmung des Willens nicht
geleugnet, aber die Freiheit des Willens nicht für den Gegensatz zur Ursächlichkeit,
sondern für eine bestimmte Form der Verursachung genommen.« – Ebd.
19 Verweis durch Anmerkung [3] auf: Kant, Opus postumum. Akad.-A. 21, 106.

20 Pohlmann, Autonomie. 2. Der Autonomie-Begriff in der Philosophie, in: HWPh I,

col. 707.
21 Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 74–75.

22
Ebd. 85–86.

77

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

neität der menschlichen Natur. Seinem Verständnis der Freiheit als


Autonomie liegt eine dualistische Vorstellung vom Menschen zu-
grunde. Die auf Philon von Alexandreia zurückgehende Unterschei-
dung eines κόσμος αἰσθητός und eines κόσμος νοητός, die sich bei
Augustinus als Unterscheidung eines mundus sensibilis und eines
mundus intelligibilis findet, erscheint in Kants »Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten« als Unterscheidung von Sinnen- und Ver-
standeswelt: 23
Dabei erfährt sich der Mensch als ›Bürger zweier Welten‹, der seine
Handlungen aus zwei verschiedenen Standpunkten beurteilen muß 24.
Als zur Sinnenwelt gehörig bemerkt er all »seine Handlungen als be-
stimmt durch andere Erscheinungen, nämlich Begierden und Neigun-
gen«, und also durch Heteronomie 25. Aber als ein »zur intelligibelen
Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Causalität seines eigenen
Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn
Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt …
ist Freiheit. Mit der Idee der Freiheit ist nun der Begriff der Auto-
nomie … verbunden, mit diesem aber das allgemeine Princip der Sitt-
lichkeit, welches in der Idee allen Handlungen vernünftiger Wesen …
zum Grunde liegt« 26. 27
Kant nahm somit in seine Konzeption die unter dem Einfluss der neu-
zeitlichen Naturwissenschaft seit dem 17. Jahrhundert in der Philoso-
phie Verbreitung findende Annahme einer universalen kausalen Vor-
hersagbarkeit aller Ereignisse der physikalischen Welt auf. 28 Dem

23 Vgl. Probst, Sinnenwelt/Verstandeswelt, in: HWPh IX, col. 869.


24 Verweis durch Anmerkung [54] auf: G. Antonopoulos, Der Mensch als Bürger
zweier Welten (1958).
25 Verweis durch Anmerkung [55] auf: Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

(1785), Akad.-A. 4, 453.


26 Verweis durch Anmerkung [56] auf: Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten

(1785), Akad.-A. 4, 452 f.


27 Probst, Sinnenwelt/Verstandeswelt, in: HWPh IX, col. 874.

28
Vgl.: »Das Neue in der Einstellung der Philosophie des 17. Jh. zur Determinismus-
Problematik besteht darin, daß man den menschlichen Willen nicht mehr allein durch
Gott und das von ihm abhängige moralisch Gute, sondern durch die Naturgesetze
bestimmt sieht.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeterminis-
mus. I, in: HWPh II, col. 151. – Vgl. auch: »Von der Voraussetzung her, daß alle
Naturgesetze mechanischer Art seien und die Welt eine große ›Weltmaschine‹ dar-
stelle [Verweis durch Anmerkung [2] auf: H. Dingler, Der Glaube an die Weltmaschi-
ne und seine Überwindung (1932)], ergab sich der Gedanke einer vollständigen De-
terminiertheit der Welt. Laplace hat dies durch die Vorstellung einer übermensch-
lichen Intelligenz illustriert: ›Ein Geist, der für einen Augenblick alle Kräfte kennen

78

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

Menschen »als mit innerer Freiheit begabte[m] Wesen (homo nou-


menon)« stellt Kant den Menschen als »Naturwesen (homo phaeno-
menon)« 29 gegenüber. 30 Das Naturwesen ist für ihn Teil derjenigen
Welt, in der »alles nach einem allgemeinen, notwendigen Gesetz ge-
schehen müsse, welches die Möglichkeit bietet, Künftiges vorherzu-
sagen« 31. Die Vorstellung einer in der Natur gründenden Freiheit
kann daher nur als prinzipieller Gegenentwurf zu Kants Verständnis
von Freiheit als Autonomie gesehen werden, der eine Zurückweisung
des physikalischen Determinismus zur Voraussetzung hat. 32 Durch

würde, welche die Natur beleben, und die gegenseitige Lage aller Wesenheiten, aus
denen die Welt besteht, müßte, wenn er umfassend genug wäre, um alle diese Daten
der mathematischen Analyse unterwerfen zu können, in derselben Formel die Be-
wegung der größten Himmelskörper und der leichtesten Atome begreifen, nichts
wäre ungewiß für ihn, und Zukunft und Vergangenheit läge seinem Auge offen da‹
[Verweis durch Anmerkung [3] auf: P. S. de Laplace, Essai philos. sur les probabilités
(Paris 1814)].« – Frey, Determinismus/Indeterminismus. II, in: HWPh II, col. 155.
29 Kant, Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 7, 550.

30
Der deterministische Gedanke erstreckt sich genau genommen bei Kant über den
Bereich des homo phaenomenon hinaus auch auf den des homo noumenon. – Vgl.
dazu: »Kant löst das Determinismus/Indeterminismus-Problem theoretisch dadurch,
daß es kein Widerspruch sei, Freiheit und Kausalität zu denken. Im Bereich der prak-
tischen Vernunft ist Freiheit und Determinismus kein Gegensatz. Da ›Determinism‹
›die Bestimmung der Willkür durch innere hinreichende Gründe‹ ist, kann Freiheit
nicht als ›Indeterminism‹, sondern nur als Determination durch das moralische Ge-
setz verstanden werden.« – Kuhlen/Seidel/Tsouyopoulos, Determinismus/Indeter-
minismus. I, in: HWPh II, col. 152.
31
Kaulbach, Natur. V. Neuzeit, in: HWPh VI, col. 470.
32 In eine Diskussion des physikalischen Determinismus kann an dieser Stelle nicht

eingetreten werden. – Vgl. dazu: »Der gesamte Streit um die Frage, ob der Determi-
nismus nun die Freiheit ausschließt oder nicht, erbringt keinerlei Erkenntnisgewinn
über die Freiheit (wie immer man in diesem Streit optieren mag). Er ist insofern ein
höchst verwirrendes Ablenkungsmanöver von einer philosophisch recht wichtigen
und interessanten Frage.« – Buchheim, Unser Verlangen nach Freiheit, 116. – Buch-
heim konstatiert die prinzipielle Denkmöglichkeit einer »innerphysisch basierte[n]
Freiheit« – ebd. 171 – auf der Grundlage einer ontologischen Differenzierung von
physischen Ereignissen und Lebensäußerungen: »Wenn nun im Falle organischen
Lebens zugleich in allen Körperteilen physiologische Ereignisse und Prozesse der di-
versesten Arten ablaufen und diese nur zusammen das Lebendigsein eines indivi-
duellen Organismus integrieren, dann ist klar, daß die Lebensäußerungen organi-
schen Lebens eine Doppelnatur besitzen: Sie sind einerseits Cluster physiologischer
Prozesse mit sehr unterschiedlichen Körperregionen als ihren ›Subjekten‹, an oder in
denen sie sich vollziehen […]. Sie sind andererseits Regungen oder Tätigkeiten des
gesamten Individuums, sofern es lebendig ist und in ihnen sein Leben fortsetzt […].«
– Ebd. 40–41. – Dieses Nebeneinander von »Lebensäußerungen und organischen Pro-
zessen« fasst Buchheim als »horizontalen Dualismus« – ebd. 41 – gegenüber den in

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

diesen Gegenentwurf wird dem dualistischen Modell Kants die Vor-


stellung eines Kontinuums des Natürlichen und des Vernünftigen
gegenübergestellt, aus dem heraus das personale Verständnis der
Freiheit erst möglich wird.
Freiheit im personalen Verständnis kann, wie dieser Exkurs ge-
zeigt hat, nur gegen die kantische Zwei-Welten-Theorie entfaltet
werden, weswegen die für eine Philosophie der Begegnung grund-
legende Verbindung des κόσμος αἰσθητός und des κόσμος νοητός
hervorgehoben werden muss. In Bezug auf die Sinnenwelt ist eine
wesentliche Voraussetzung dieser Verbindung das teleologische Na-
turverständnis, die Überzeugung also, dass die natürlichen Wesen
von sich aus auf etwas aus sind, weswegen jede Betrachtung nach
dem Subjekt-Objekt-Modell sie bereits verfehlt hat. Natürliche We-
sen sind nur zu verstehen aus der ursprünglichen Einheit der Bewe-
gung, die mit ihrem Aussein-auf gesetzt ist. Die Verbindung der Sin-
nenwelt mit der Verstandeswelt ergibt sich aus der Paradoxie, dass es
die Natur in ihrer teleologischen Nicht-Identität mit sich selbst ist,
die sich in der Vernunft übersteigt, die paradoxerweise als Vernunft
Natur bleibt und sich doch in das Andere der Natur verwandelt.
Durch die reflexive Wendung – die Eröffnung der exzentrischen Po-
sitionalität – wird ein Transzendentes als Ziel des transformierten
natürlichen Ausseins-auf in die natürliche Bewegung aufgenommen,
so dass die ursprüngliche Einheit von Sinnen- und Verstandeswelt in
dem Ereignis dieser Wendung fundiert ist. Diese Einheit kann erst
sekundär auseinandertreten, indem von einer weltlosen Reflexions-
position das Wesen, in dem die Natur sich transzendiert hat, objekti-
viert und einer gegebenen Sinnenwelt eingegliedert wird. Der Schritt
zu dieser Reflexionsposition kann nur als Täuschung erkannt werden,
wenn die reflexive Wendung als Voraussetzung seiner Möglichkeit
gedacht wird. Da diese Wendung immer schon intersubjektiv vermit-

der philosophischen Diskussion des Leib-Seele-Problems geläufigen vertikalen Dua-


lismen wie der Supervenienz- oder der Emergenzthese, die entweder eine monistische
Auflösung provozieren oder offen einen substantiellen Dualismus im Sinne Des-
cartes’ vertreten – vgl. ebd. 41–42. – Den Vorzug seines Ansatzes fasst Buchheim
wie folgt zusammen: »Der stattdessen vorgeschlagene horizontale Dualismus be-
hauptet dagegen nicht, daß sämtliche organische Lebensäußerungen – von der flucht-
bereiten Witterung einer Antilope bis zu den mathematischen Höchstleistungen eines
Gödel – nicht rein körperlicher Natur und in einen Zusammenhang mit allen anderen
physischen Begebenheiten der Welt eingebettet seien. Vielmehr behauptet er nur, daß
Lebensäußerungen notwendiger Weise ein radikal anderes Subjekt haben müssen als
Ereignisse körperlicher Art, nämlich ein Subjekt, das lebt.« – Ebd. 42.

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2.3 Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis der Begegnung

telt ist, ist der Gedankengang nun beim Ereignis der Begegnung an-
gelangt und kann das der Sache nach ›Frühere‹ – πρότερον τῇ φύ-
σει –, in der Reflexionsbewegung aber ›Spätere‹ – ὕστερον πρὸς
ἡμᾶς – nun als der gesuchte Ausgangspunkt begriffen werden. Jede
Wahrnehmung des Transzendenten ist ein Begegnungsereignis. Da-
mit ist nicht präjudiziert, dass Begegnung nur als interpersonale
denkbar ist, wenngleich für Personen eine Begegnung, die ihrem We-
sen vollständig gerecht wird, nur in einer solchen möglich sein mag.
Allgemein lautet aber eine zentrale These der Philosophie der Begeg-
nung, dass natürliche Wesen durch ihre auf Überschreitung ihrer
selbst angelegte Natur das Ziel ihrer natürlichen Bewegung nur in
der Begegnung erreichen. Jedes Abstrahieren vom Ereignis der Be-
gegnung, in dem von einem Subjekt aus die Selbsttranszendenz oder
von einem Zwischen aus das Hervorgehen der Individuen gedacht
werden soll, führt letztlich in die Paradoxie. Die Idee der Begegnung
ist der Gedanke, dass alles Natürliche erst zu sich selbst kommt in der
Überwindung seiner selbst, deren spezifisch personale Form das Ver-
nünftige ist. Die Person entgeht der Selbstentfremdung nur durch das
Erinnern der Natur in der Vernunft, das sich in der Begegnung er-
eignet. In dieser einführenden Explikation des philosophischen Pro-
blems der Begegnung war dieser Gedanke seit den epistemologischen
Überlegungen zur Transzendenz bereits als implizites Organisations-
prinzip anwesend. So wie dort die Transzendenz der subjektiven In-
tentionalität letztlich erst durch den Gedanken der Begegnung mit
konkretem Inhalt gefüllt werden kann, so ist auch die ontologische
Reflexion auf das personale Verhältnis zur eigenen Natur ein abs-
trakter Gedanke, solange er nicht durch das Ereignis der Begegnung,
in dem die Freiheit von der Natur sich in ›Zeitgestalten‹ 33 verwirk-
licht, lebendig wird.
Für die spezifisch interpersonale Begegnung gilt, dass im Über-
stieg über den subjektiven Interessenhorizont ein transzendenter An-
derer erreicht wird, wodurch sich eine Umkehr der Perspektive ereig-
net. Aus dieser Umkehr entspringt das – zugleich mit eigenen und
mit anderen Augen gesehene – Bild der Welt, das ein von jeder inten-
tionalen Spannung befreiter Horizont ist, der auf ein anderes Zen-
trum der Bedeutsamkeit verweist, das nicht durch das eigene Interes-
se definiert ist. Zu einem Ganzen wird die Welt zuallererst in diesem

33 Vgl. Spaemann, Personen, 121, u. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis


als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 611–613.

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2 Die Denkbewegung einer Philosophie der Begegnung

Bild, das zugleich ein Anschauen und ein Sehen ist, in dem die Diffe-
renz von Subjekt und Objekt aufgehoben ist. Aus der Wahrnehmung
des Bildes geht das Selbstsein der Begegnenden hervor. Selbstsein ist
als ›Haben einer Natur‹ ontologische Substanz. Die Gedankenbewe-
gung dieser Explikation des philosophischen Problems der Begeg-
nung, die vom aristotelischen ὑποκείμενον als Substanz-Subjekt
ausging, ist damit an ihrem Ziel angekommen, ein nicht in seiner
gegenständlichen Wahrnehmung aufgehendes Selbstsein zu denken.
Gedacht werden kann dieses aufgrund der im personalen Daseinsvoll-
zug gegebenen ontologischen Differenz, durch die das Denken seinen
eigenen Erkenntnisanspruch so relativieren kann, dass ihm aufgeht,
was es selbst nicht hervorbringen kann.

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Zweiter Teil

Die Philosophie der Begegnung


im Werk Robert Spaemanns

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

Die Explikation des philosophischen Problems der Begegnung im ers-


ten Teil verfolgte das Ziel, eine Denkbewegung zu vergegenwärtigen.
Von dieser Bewegung werden die dem Werk Robert Spaemanns ge-
widmeten Untersuchungen des zweiten Teils bestimmt sein, in denen
ausgehend vom Menschen die »Frage nach der arche, nach dem An-
fang, dem Grund und dem Ganzen« 1 gestellt werden wird, denn:
»Das Selbstverständnis des Menschen im Ganzen der Wirklichkeit
heißt Philosophie.« 2 Die Metapher der Denkbewegung hat hier den
präzisen Sinn, dass der Mensch als lebendiges Wesen nur zum Ge-
genstand einer Philosophie werden kann, deren Denken auf lebendi-
ge, durch natürliche Bewegung charakterisierte Prozesse ausgerichtet
ist, die ihrerseits nur aus der Selbsterfahrung lebendiger Wesen ver-
standen werden können. Da ein solches Denken nicht deduziert wer-
den kann, ist es wesentlich ein hermeneutisches Auslegen der Natur. 3
Dieses nahm seinen Anfang vor zweieinhalbtausend Jahren im anti-
ken Griechenland, so dass eine Philosophie der Begegnung nur beides
sein kann: Hermeneutik der Natur und Hermeneutik der philosophi-
schen Bemühungen der Vergangenheit, die auf jene gerichtet waren. 4
Eine solche philosophiegeschichtliche Reflexion ist selbst bereits ein

1 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81.


2 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (zuerst 1981 unter dem Titel »Die Frage
›Wozu‹ ?«), 20.
3 Spaemanns Münsteraner Lehrer Joachim Ritter schreibt in »Das bürgerliche Leben.

Zur aristotelischen Lehre des Glücks«: »Nicht von der Zielhaftigkeit der menschlichen
Handlungen geht Aristoteles aus, sondern von dem allgemeinen Prinzip seiner Phi-
losophie, daß die Betätigung alles Lebendigen die Aktualisierung naturgegebener
Möglichkeiten ist, und daß so die Natur in ihrer Betätigung zugleich als Zweck zu
dem Ende hindrängt, das ihnen Verwirklichung und Erfüllung gibt. Was für alles
Lebendige gilt, das muß auch für den Menschen gelten; auch ihn treibt seine Natur
als Zweck in der Macht seiner naturgegebenen Anlagen und seines Seinkönnens, aber
sie tut es nicht so, daß sie wie bei den übrigen Lebewesen sein Handeln unmittelbar
führt, sondern so, daß sie verborgen und hintergründig in den gewollten und gesetz-
ten Zielen treibt; dem Wollenden und Handelnden eigentümlich fremd, drängt sie im
Spiel seiner Ziele; die Natur, die ihn nicht unmittelbar bestimmt, zieht ihn als das in
seinen Möglichkeiten und Anlagen vorgezeichnete Gute und als Zweck in den Vor-
stellungen, in denen er sich selbst sein Ziel und das Bild des höchsten Guts entwirft,
dem er nachjagt: ›Alle tun alles wegen eines Guten, das ihnen das höchste Gut vor-
stellt‹ (Pol. I, 1. 1252 a 2–3). Weil der Mensch in diesen Zielvorstellungen lebt, darum
kann er das ihm durch seine Natur vorgezeichnete Beste nicht ohne die Hilfe einer
Einsicht erkennen, die ihn hierauf hinweist.« – Ritter, Metaphysik und Politik, 62–
63.
4 In Bezug auf Letztere spricht Ritter von der »hermeneutischen Hypolepsis«. – Ebd.

66.

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

Begegnungsgeschehen, das dem Anachronismus nur entgehen kann


durch die Anerkennung von Disparatem, das sich dem eigenen Hori-
zont nicht einfügen lässt. Eine mögliche Philosophie der Begegnung
muss daher den Charakter eines Gesprächs über kontingente histori-
sche Ausprägungen des Denkens haben, in dem nach der Aktualisier-
barkeit von Positionen im eigenen Horizont gefragt wird. Im ersten
Teil dieser Arbeit wurde der Versuch unternommen, den unvermeid-
bar hermeneutischen Charakter eines solchen Denkens auf ein Min-
destmaß zu reduzieren und die notwendigen Grundbegriffe in ihrer
philosophiegeschichtlichen Dimension in größtmöglicher Systematik
darzulegen. Dabei ergab sich im Ausgang vom Subjekt des Denkens
über den Akt der Selbsttranszendenz der Bezug auf ein Negatives, das
durch den Gedanken der Fundierung der Vernunft in der Natur denk-
bar wird. Der Person als Subjekt dieses Denkens wurde mit ihrer
Fähigkeit zur Kontingenzwahrnehmung eine Freiheit von ihrer
Natur zugesprochen, die in Ereignissen der Begegnung Gestalt an-
nehmen kann. Mit der in philosophiehistorischer Perspektive voll-
zogenen Entfaltung der Begriffe Subjekt, Transzendenz, das Nega-
tive, Kontingenz und Freiheit und ihrer spezifischen Verknüpfung
zum Orientierungsrahmen einer möglichen Philosophie der Begeg-
nung ist die Grundlage bereitet für die Untersuchung des Werks
Robert Spaemanns im zweiten Teil. Aus der Entscheidung für die
Konzentration auf sein Lebenswerk folgt wiederum die konkrete
Auswahl großer Denker der Vergangenheit – Platon, Aristoteles,
Thomas von Aquin, Descartes, Fénelon, Leibniz, Rousseau, Kant, de
Bonald, Nietzsche, Scheler, Whitehead, um nur die wichtigsten zu
nennen –, die im Rahmen der folgenden Untersuchungen von Bedeu-
tung sein werden. In der Auseinandersetzung mit bestimmten his-
torischen Ausprägungen des philosophischen Denkens soll im Fol-
genden versucht werden, den dargelegten Orientierungsrahmen
einer Philosophie der Begegnung mit konkreten Argumentationen
zu füllen, deren Tenor die Überredung zu jener Bewegung ist, die
dieses Denken am stärksten charakterisiert.
Ziel des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit ist es, von den
ersten Veröffentlichungen Spaemanns Anfang der 1950er Jahre bis
hin zu seiner 2012 erschienenen Autobiographie die allmähliche Ent-
faltung seines Denkens unter einem bestimmten Gesichtspunkt zu
untersuchen. Der gewählte Ansatz zielt also darauf, die Gedanken-
welt eines Philosophen auf ihre Genese hin zu betrachten. Es könnte
näherliegend erscheinen, stattdessen die Aufmerksamkeit von vorn-

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

herein auf bestimmte Hauptwerke zu konzentrieren, aus denen diese


Gedankenwelt entwickelt werden kann. Die reifste Darstellung seiner
Philosophie findet sich wohl in seinem 1996 erschienenen Buch »Per-
sonen. Versuche über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹«.
Auf die Frage, ob »man das ›Personen‹-Buch als Summe oder als Kon-
vergenzpunkt« 5 seiner Philosophie verstehen könne, antwortete
Spaemann 2007 in einem Interview:
Das Personen-Buch setzt etwas voraus, was ich in ihm selbst nicht
entfalte: den Naturbegriff. Im Personen-Buch ist klar, welche Rolle
Natur spielt, daß »Person sein« bedeutet, eine Natur zu haben, und
nicht, diese Natur zu sein. Nur gibt es gewisse Voraussetzungen, die
meiner Meinung nach im Buch über Teleologie begründet und in Per-
sonen einfach vorausgesetzt werden. Wenn man das mitbedenkt, kann
man vielleicht sagen, daß meine Überlegungen im Personen-Buch
gipfeln.
Ich würde es allerdings eher neben das Buch Die Frage Wozu?
stellen. Und ich würde vielleicht auch noch Glück und Wohlwollen
hinzunehmen. Man kann nicht sagen, daß alles zusammenfließt im
Personen-Buch. Es ist eher eine Trilogie. Sie hängen natürlich zusam-
men – wie überhaupt auch hier wieder das Philosophische darin liegt,
den Zusammenhang zu verstehen. 6
Da das Buch »Die Frage Wozu?« auf einer im Wintersemester
1976/77 gehaltenen Vorlesung über die Geschichte und Wiederent-
deckung des teleologischen Denkens beruht, umfasst schon diese Tri-
logie einen Zeitraum von etwa 20 Jahren. Die Problemstellung des
Buches über die Teleologie wurde ihrerseits vorbereitet in den phi-
losophiehistorischen Arbeiten Spaemanns über de Bonald, Fénelon
und Rousseau, durch die der in Betracht kommende Zeitraum noch
einmal um etwa 25 Jahre ausgedehnt wird. Auch nach dem »Per-
sonen«-Buch sind zahlreiche Essays entstanden, durch die neue Ge-
sichtspunkte – etwa in Fragen der Ästhetik – erschlossen und in knap-
per Form ›Summen‹ der Überlegungen aus mehreren Jahrzehnten
gezogen werden 7, so dass die Aufgabe einer genealogischen Betrach-

5 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),

131.
6 Ebd. 131–132.

7 Zu nennen wären beispielsweise die Essays »Wirklichkeit als Anthropomorphis-

mus« aus dem Jahre 2000 und »Die zwei Interessen der Vernunft« aus dem Jahre
2012. Vgl. Abschnitt 7.3.2, ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich,
724–744.

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

tung seines Werks unvermeidbar erscheint. Dennoch kann die Ge-


genfrage gestellt werden: Wenn es doch solche ›Summen‹ seines
Werks gibt, welchen Erkenntnisgewinn verspricht dann die diachrone
Untersuchung seiner Gedankenwelt? Die Antwort auf diese Frage er-
gibt sich aus der für Spaemanns Essayistik charakteristischen Dar-
stellungsweise. Die in jüngeren Essays wie »Wirklichkeit als Anthro-
pomorphismus« entwickelten Argumentationszusammenhänge sind
extrem verknappt und voraussetzungsreich. Sie können durchaus für
sich stehen, setzen aber entweder eine gründliche Vertrautheit mit
der Gedankenwelt Spaemanns voraus oder werfen in entsprechendem
Umfang Fragen von Seiten des Lesers auf. Auf sie trifft als Beispiele
seines Spätwerks zu, was Spaemann in einem Vortrag aus dem Jahre
1967 in Form eines Gleichnisses erläuterte:
Ein Maler reduziert ein nach der Natur gemaltes Bild in der Absicht
größerer Abstraktion fortschreitend bis zu dem Punkt, wo er wieder
eine weiße Leinwand vor sich hat. Gibt es einen Unterschied der Lein-
wand vor und nach dem Prozeß? Nicht für den Betrachter, der nur das
Resultat sieht. Aber für den Maler. Vorausgesetzt er erinnert sich an
den Prozeß der Entstehung dieser weißen Leinwand. […] Und es ist
demgegenüber ein Mangel an Reflexion, wenn Wittgenstein im letz-
ten Satz des »Tractatus« schreibt, wer die Sätze des »Tractatus« ver-
standen habe, werde sie zugleich als unsinnig durchschauen und die
Leiter wegwerfen, nachdem er hinaufgestiegen sei. 8 Das heißt, das
Wesen des Denkens als Erinnerung nicht denken. So als ob es hier
ein Oben gäbe, das vom Unten durch etwas anderes als durch die Lei-
ter unterschieden sei, die hinaufführte. 9
Die hier anklingende Metapher Wittgensteins zitierte und kritisierte
Spaemann an mehreren Orten, 10 um auf das hier hervorgehobene
»Wesen des Denkens als Erinnerung« 11 aufmerksam zu machen, zu-
letzt in seiner »Autobiographie in Gesprächen«:
Dieser Satz verkennt, dass dort, wo es um nicht-räumliches Oben und
Unten geht, die Differenz zwischen Oben und Unten verschwindet,
wenn die Leiter verschwindet – die Erinnerung. Philosophiegeschichte
hat für mich die Bedeutung dieser Erinnerung. Sie ist nicht Historis-
mus, sondern das Erfassen des Gewordenseins von philosophischen

8 Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 6.54, 114.


9 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 49.
10
S. bspw. Spaemann, Personen (1996), 155, Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines phi-
losophischen Glaubens (2008), 223.
11
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 49.

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

Gedanken. Wer sich davon freimacht, kann die Sache selbst nicht
mehr verstehen, um die es ihm geht. Er ist dazu verurteilt, immer
wieder von vorn beginnen zu müssen. 12
Diese Sätze beinhalten einerseits das Programm der Spaemann’schen
Philosophie, der es wesentlich um das erinnernde Gegenwärtighalten
der Natur 13 geht, sie geben andererseits aber nach meiner Überzeu-
gung eine Anleitung zur Erschließung der komplexen Gedankenwelt
Spaemanns selbst. Das »Erfassen des Gewordenseins« 14 dieser Ge-
dankenwelt ist hier notwendige Voraussetzung für eine philosophi-
sche Hermeneutik seines Werks. In dem oben bereits zitierten Inter-
view aus dem Jahre 2007 sagt Spaemann zur Eigenart seiner
Gedankenentwicklung:
Im Allgemeinen muß ich sagen, daß bei meinen eigenen Beiträgen die
Tendenz und die Abfolge sehr ungeplant sind. Es gibt Philosophen, die
deduktiv arbeiten. Sie haben einen Grundgedanken und entfalten
dann logisch daraus eine Abfolge von Schriften. Bei mir ist es so, daß
mir der innere Zusammenhang der Dinge, die ich geschrieben habe,
immer erst nachträglich deutlich wird. Manchmal wird er überhaupt
erst von anderen entdeckt. Denn ich neige dazu, philosophische Fragen
in intentio directa anzugehen. Wie mein Denken im Zusammenhang
mit dem steht, was ich früher gedacht habe, kann ich nachträglich
reflektieren. Es ist aber nicht leitend bei [der] Arbeit. Es ist eher wie
ein Puzzle […], das hinterher zusammengesetzt plötzlich ein Bild er-
gibt. 15
Das Erfassen des Gewordenseins der Gedankenwelt ist also notwen-
dige, nicht jedoch hinreichende Voraussetzung für ein Verstehen,
denn für dieses bedarf es auch der Entdeckung des inneren Zusam-
menhangs dieser Gedankenwelt. 16

12
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164. – Vgl.: »Spaemann befragt die
Philosophiegeschichte wie kaum ein Zweiter. Aber er tut dies nie aus bloß histori-
schem Interesse.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 13. – Vgl. ebenso:
»Robert Spaemann treibt Philosophiegeschichte um der Philosophie willen und ent-
wickelt umgekehrt seine zentralen Thesen gerne anhand philosophiegeschichtlicher
Untersuchungen.« – Schöndorf, Der Philosoph Robert Spaemann, 315.
13 Vgl. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 78.

14 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164.

15 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),

132.
16 Vgl. die Bemerkungen in der Einführung zur Charakterisierung von Spaemanns

Werk als Hologramm durch H. Zaborowski bzw. zu seiner charakteristischen Essay-

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

Im Rahmen der Untersuchung der Werke Spaemanns wird sich


zeigen, dass die im ersten Teil explizierte Gedankenbewegung, die
vom Subjekt ausgehend die Selbsttranszendenz thematisiert, weiter
die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz unter dem Begriff
des Negativen verfolgt, schließlich die Befreiung dieses Woraufs von
seiner Negativität im Zusammenhang der Philosophie der Person be-
denkt, in Spaemanns Werk selbst nachgewiesen werden kann, wobei
in verschiedenen Schaffensphasen verschiedene Sequenzen dieser Be-
wegung vorherrschend sind. Den Zusammenhang der folgenden dia-
chronen Untersuchung seines Werks stiftet somit die These, dass das
Organisationsprinzip von Spaemanns Denken in der Idee der Begeg-
nung gefunden werden kann. Um diese These zu begründen, werden
die Detailuntersuchungen zu den einzelnen Schaffensphasen Spae-
manns jeweils Sequenzen der im ersten Teil erläuterten Denk-
bewegung nachweisen und dabei allmählich den in ihr verfolgten Zu-
sammenhang einer Philosophie der Begegnung hervortreten lassen.
Es soll gezeigt werden, dass der in der Explikation dargelegte Orien-
tierungsrahmen einer Philosophie der Begegnung zu den von Spae-
mann hervorgehobenen leitenden ›intentiones directae‹ seines Den-
kens in keinem Widerspruch steht, sondern dass er geeignet ist, eine
nicht systematisch zu verstehende Kohärenz seines Denkens sinn-
fällig zu machen.
Die Unterteilung des kontinuierlichen Entfaltungsprozesses von
Spaemanns Werk in Abschnitte bzw. die Ziehung von zeitlichen
Grenzen ist motiviert durch das Bemühen, Entfaltungsschritte sicht-
bar zu machen, kann aber gleichwohl nicht die Willkür einer solchen
Grenzziehung verbergen. Gedanken, die an späterer Stelle ihre ei-
gentliche Bedeutung gewinnen, sind an früherer schon angedeutet; 17
andere Gedanken erleben in der weiteren Entwicklung eine Neuinter-
pretation, so dass ihre isolierte Betrachtung in der Rückschau künst-
lich wirkt. 18 In solchen Fällen werden in den folgenden Untersuchun-
gen durch Querverweise im Text oder in Fußnoten Hinweise auf

istik und den spezifischen Eigenschaften des Essays. – Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz
im Denken der Begegnung, 34–35.
17 Als Beispiel zu nennen wäre etwa die besondere Bedeutung Rousseaus für Spae-

mann, die im Rahmen dieser Untersuchung erst in Kapitel 5 thematisch in den Mit-
telpunkt tritt, wiewohl sich bereits in der Dissertation über Bonald Hinweise auf
Rousseau in diesem Sinn finden.
18 Erhaltung als Ziel der Gesellschaft ist ein wesentlicher Ertrag der Analyse von

Bonalds Philosophie in Spaemanns Dissertation. Ab der Studie über Fénelon wird

90

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

übergreifende Zusammenhänge gegeben. Spaemanns Schaffenspro-


zess wird hier in sieben Abschnitte unterteilt, auf die im Folgenden
ein knapper Ausblick gegeben werden soll.
Im Mittelpunkt des dritten Kapitels stehen drei frühe Texte aus
den 1950er Jahren. Ausgangspunkt ist Spaemanns in einem Vortrag
gestellte Diagnose einer Krise der Gegenwartsphilosophie und das
daraus abgeleitete Programm, angesichts einer »antagonistische[n]
Wirklichkeit« die »Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Be-
wusstsein zu heben« 19. In dieser Absicht wendet sich Spaemann zu-
nächst philosophiehistorischen Themen zu, innerhalb deren er jedoch
genuin philosophische Interessen verfolgt. Am Anfang steht dabei die
Auseinandersetzung mit dem Revolutionsgegner und Theoretiker
der Restauration de Bonald, in dessen Denken er eine Überwindung
des Ausgangspunkts neuzeitlicher Subjektphilosophie erkennt, dabei
aber die Form dieser Überwindung als funktionalistische Relativie-
rung der Metaphysik kritisiert. In Absetzung von de Bonald hält
Spaemann an der aus seiner Sicht notwendigen Orientierung des phi-
losophischen Denkens am Absoluten fest, – ein Standpunkt, der in
einem weiteren frühen Text über Thomas von Aquin in einer für die
weitere Entwicklung von Spaemanns Denken aufschlussreichen
Weise dargelegt ist.
Das vierte Kapitel ist ausschließlich Spaemanns Habilitations-
schrift aus dem Jahre 1963 gewidmet, den unter dem Titel »Reflexion
und Spontaneität« erschienenen Studien über Fénelon, in deren Mit-
telpunkt dessen wichtigster Gedanke steht, nämlich der der »reinen
Liebe« 20. Mit diesem geht es um die Frage nach der Möglichkeit rei-
ner Selbsttranszendenz, womit im Orientierungsrahmen der Explika-
tion des philosophischen Problems der Begegnung nach der Proble-
matisierung der Subjektivität im Zusammenhang mit de Bonald nun
der zweite Schlüsselbegriff der dortigen Ausführungen den Leitfaden
bildet. Ausgehend von Fénelon setzt sich Spaemann mit der so ge-
nannten bürgerlichen Ontologie kritisch auseinander und deutet die
Lehre Fénelons als faktische Erneuerung des antiken substanzonto-
logischen Denkens. Entscheidend für die genuin philosophische Be-
deutung dieser Untersuchung Fénelons ist gemäß der hier auszu-

der Erhaltungsgedanke als »Inversion der Teleologie« neu interpretiert und gewinnt
infolgedessen eine zentrale Bedeutung in Spaemanns Denken.
19 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110–111.

20
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.

91

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

führenden These die geschichtsphilosophische Perspektivierung der


Zusammenhänge, durch die künftige Entwicklungslinien von Spae-
manns Denken bereits maßgeblich vorbereitet werden.
Das fünfte Kapitel umfasst einen längeren Zeitraum bis zum
Ende der 1970er Jahre, in dem zunächst anhand der existenzphiloso-
phischen Interpretation des an inneren Widersprüchen reichen
Werks Rousseaus Spaemanns philosophiehistorische Rekonstruktion
des neuzeitlichen Naturbegriffs betrachtet wird, die er auf die ver-
lorene Idee der Naturteleologie zurückführt. In Konzentration auf
sein zusammen mit Reinhard Löw verfasstes Hauptwerk »Die Frage
Wozu?« bzw. »Natürliche Ziele« wird zweitens die Geschichte sowohl
des teleologischen Denkens von der Antike über das Mittelalter zur
Neuzeit als auch des Antiteleologismus bis zu seiner Vollendung im
modernen wissenschaftlichen Denken untersucht, vor deren Hinter-
grund dann Überlegungen Spaemanns und Löws zur Frage einer
möglichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens referiert wer-
den. Im Rahmen des hier verfolgten Gedankengangs ist das Thema
Naturteleologie vor allem mit dem Begriff des Negativen verknüpft,
wobei den Überlegungen zum teleologischen Denken zugleich die
Bedeutung zukommt, ein ausgezeichnetes Negatives – das natürliche
›Aussein-auf‹ – durch ›hermeneutische Hypolepsis‹ 21 zu erschließen
und damit seine Negativität zu relativieren. In der philosophischen
Bemühung um die Natur, die somit das fünfte Kapitel durchzieht,
drückt sich die bereits im dritten Kapitel freigelegte Orientierung
Spaemanns an einem absoluten Maßstab aus, die hier schließlich in
einer geschichtsphilosophischen Betrachtung des Verhältnisses der
Philosophie zum Absoluten sowie zur Bedeutung eines absoluten Be-
zugs im Rahmen ethischer Fragestellungen thematisiert wird.
Die ersten drei Kapitel des zweiten Teils bilden insofern eine
Einheit, als in ihnen wesentliche Grundlagen in Form philosophie-
geschichtlicher, metaphysischer und anthropologischer Reflexionen
gelegt werden, die erst in den folgenden Kapiteln allmählich zu einem
Bild zusammengefügt werden. Im Rahmen der ersten drei Kapitel
stehen heterogene und auf den ersten Blick disparate Entwicklungs-
linien in Spaemanns Denken noch schwach vermittelt nebeneinander.
Die Schwerpunktsetzungen der Darstellung in diesen Kapiteln er-
folgen somit in wesentlichen Aspekten aus der Antizipation von Syn-
thesen, denen die Aufmerksamkeit der folgenden Kapitel gilt.

21
Vgl. Fn. 4.

92

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

Das sechste Kapitel verfolgt vor dem Hintergrund der philoso-


phiehistorischen Betrachtungen Spaemanns in den 80er Jahren, die
um die Frage der Aktualisierbarkeit wesentlicher Aspekte des sub-
stanzontologischen Denkens der antiken Philosophie aus neuzeit-
licher Perspektive kreisen, die Entwicklung der eigenständigen meta-
physischen Konzeption Spaemanns, in der durch ein metaphysisch-
analoges Denken der Grundgedanke der Naturteleologie mit dem
Verständnis menschlicher Vernunft als Fähigkeit zur Selbsttranszen-
denz zusammengedacht wird. Kerngedanken der sich abzeichnenden
metaphysischen Konzeption sind der aus dem Verzicht auf Vergegen-
ständlichung hervorgehende Akt der Anerkennung und die dadurch
ermöglichte Repräsentation des Unbedingten als Korrelat dieses Ak-
tes. Zu der systematischen Bündelung der aus den vorangegangenen
Kapiteln bekannten Gedankenlinien tritt hier ein anthropologischer
Gesichtspunkt hinzu, insofern die im fünften Kapitel freigelegte Ori-
entierung an einem absoluten Maßstab als Worauf der Selbsttrans-
zendenz einerseits genuin philosophisch verankert wird und durch
diese Verankerung andererseits der Begriff der Kontingenz zu einem
wesentlichen Interpretament der menschlichen Selbsterfahrung wird.
Die in Grundzügen erfolgende Darstellung der metaphysischen Kon-
zeption Spaemanns wird ergänzt durch die Bezugnahme auf in den
80er Jahren weitergeführte Gedanken zur Religionsphilosophie und
zur philosophischen Ethik, die sich ihrerseits nun als in der metaphy-
sischen Konzeption fundiert zu erkennen geben.
Nachdem am Ende des sechsten Kapitels die Problematik stand,
dass zu der in den 80er Jahren entwickelten metaphysischen Konzep-
tion nur ein ›Sprung‹ führt, widmet sich das siebte Kapitel dem neuen
Ansatz in Spaemanns Denkens, den er in seinem »Hauptwerk in Sa-
chen praktischer Philosophie« 22, dem 1989 erschienenen Buch »Glück
und Wohlwollen«, entfaltet. Als Schlüssel zum Verständnis dieses
Textes wird die Perspektive seiner Untersuchung herausgearbeitet,
die auf die Wahrnehmungsevidenz als Einheitspunkt von Ethik und
Ontologie ausgerichtet ist. Zum einen werden im Nachvollzug der
philosophiehistorischen Betrachtungen mit Konzentration auf Pla-
ton, Aristoteles und Kant Grundzüge, Erscheinungsformen und das
Antinomisch-Werden des Eudämonismus sowie der Paradigmen-
wechsel zur neuzeitlichen Pflichtethik dargestellt; zum anderen wird
gezeigt, wie Spaemann in der spezifischen Perspektivierung des Ge-

22
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 275.

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

genstandes seines »Versuchs über Ethik« seine naturteleologisch fun-


dierte metaphysische Konzeption als Instrument der Vermittlung
zwischen Eudämonismus und Pflichtethik weiterentwickeln und aus-
gehend vom Gedanken des Wohlwollens eine neuzeitliche Aktualisie-
rung der eudämonistischen Ethik entfalten kann. Als Pointe der Un-
tersuchung ergibt sich dabei, dass der gewählte Ausgangspunkt einer
praktischen Philosophie durch die perspektivische Ausrichtung auf
den Einheitspunkt von Ethik und Ontologie zugleich als Keimzelle
einer Argumentation der theoretischen Philosophie erscheint, die
auf das anschließende achte Kapitel vorausweist.
Die in »Glück und Wohlwollen« fehlende ontologische Fundie-
rung jenes Einheitspunktes von Ethik und Ontologie leistet Spae-
mann in seinem wohl wichtigsten und schwierigsten Werk, den 1996
in erster Auflage unter dem Titel »Personen« erschienenen »Ver-
suchen über den Unterschied von ›etwas‹ und ›jemand‹«. Diese setzen
erstens seine kritische Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen
Philosophie fort, bringen zweitens seine seit den 80er Jahren Gestalt
annehmende metaphysische Konzeption auf einen klaren, wenn-
gleich vielschichtigen Begriff und rekonstruieren drittens und vor
allem ausgehend vom Gedanken der ›Entdeckung der Person‹ jenes
ontologische Bezugssystem, durch das wesentliche Intuitionen seines
Denkens, die bis dahin unvermittelt erscheinen mussten, in Bezie-
hung zueinander gesetzt werden. Unter dem Titel »Ontologie der
Person« wird sich das achte Kapitel fast ausschließlich mit »Per-
sonen« beschäftigen, wobei die Bemühung um den sich entziehenden
Begriff der Person selbst das Hauptthema der Untersuchung sein
wird. Im Sinne Schellings wird eine negative Annäherung an den
Begriff der Person von einer positiven Entfaltung seiner Bedeutung
unterschieden, wobei der Übergang vom einen zum anderen durch
eine hermeneutische Untersuchung des Ereignisses der Entdeckung
der Person und seiner Verarbeitung geleistet wird, die von Spaemann
durch verstreute Hinweise in den für das Verständnis seiner Philo-
sophie zentralen Zusammenhang mit der Teleologie und ›Leben‹ als
Schlüsselbegriff seines Denkens gebracht wird. Die philosophische
Bedeutung der ›Entdeckung‹ wird darin zu suchen sein, dass mit ihr
eine Freiheit von der Natur in der Begegnung von Personen in die
Welt kommt, die den Schlussstein bildet, durch den Spaemanns me-
taphysische Konzeption selbsttragend wird.
In den späten Essays zwischen 1996 und 2012 verfolgt Spae-
mann – so die These des den zweiten Teil der vorliegenden Arbeit

94

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Die Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spaemanns

abschließenden neunten Kapitels – in einem durch die Begriffe ›Ähn-


lichkeit‹ und ›Nähe‹ abgesteckten programmatischen Rahmen ver-
schiedene Wege einer Verallgemeinerung der Ontologie der Person.
Nachdem das achte Kapitel die Aufmerksamkeit auf den Zusammen-
hang von Teleologie und Personalität gelenkt hat, kann der Ausgang
vom Personbegriff als selbst noch anthropozentrisch begriffen und
ein neuer Ausgangspunkt von dem Zusammenhang gesucht werden,
in dem die Person überhaupt erst denkbar wurde. Der Gedanke der
Ähnlichkeit als ›fundamentales Medium unseres In-der-Welt-Seins‹
führt dabei zum ontologischen Begriff der Nähe, dessen Erschließung
den ›personalen Ort‹ zur Voraussetzung hat und eine Deutung der
Ähnlichkeit als qualitative Nähe ermöglicht. Die Konkretisierung
dieser Begriffe erfolgt anhand der kritischen Auseinandersetzung
Spaemanns mit der Scheler’schen Wertphilosophie und der Themati-
sierung des Schönen, dem in Spaemanns Denken für die Möglichkeit
einer Seinserfahrung zentrale Bedeutung zukommt. Der in dieser
Verallgemeinerung der Ontologie der Person vorausgesetzte Begriff
philosophischen Wissens und seine theologischen Implikationen füh-
ren zu einer abschließenden Problematisierung des Verhältnisses von
Wissen und Glauben, zu dem Versuch, das Absolute als Weise der
Nähe zu begreifen, und zum Gedanken einer doppelten Codierung
von Spaemanns Denken, deren genuin philosophischer Seite das letz-
te Wort gebührt.

95

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3 Die Krise der Philosophie und
Ansätze eines Gegenentwurfs
3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte

Im Frühjahr 1957 hielt Robert Spaemann vor der Groupe d’études


allemandes in Paris einen Vortrag, 1 in dem er seine »Vorstellungen
von der philosophischen Situation Deutschlands zu einem plausiblen
Bild zu ordnen« 2 versuchte. Spaemann verleiht hier zunächst seinem
emphatischen Philosophieverständnis »als Frage nach der arche« 3
Ausdruck, um sogleich eine skeptische Diagnose zu präsentieren:
»Dieses Selbstbewusstsein der Philosophie ist nun allerdings seit
Langem in eine Krise geraten, und es ist noch nicht auszumachen,
ob die Philosophie diese Krise überleben wird.« 4 Diese Krise tritt in
Erscheinung in der »modernen Wissenschaft und ihrem Anspruch,
Erbe der Philosophie zu sein«, bzw. dem »historische[n] Bewusstsein,
das Philosophie in einen umgreifenderen Horizont stellen zu können
glaubt als den, der durch Philosophie selbst eröffnet ist« 5. Vor dem
Hintergrund einer somit drohenden »positivistische[n] Selbstliqui-
dierung« 6 der Philosophie gibt Spaemann in dem Vortrag einen Über-
blick über diejenigen Strömungen im gegenwärtigen Deutschland,
»in denen die Philosophie diese Krise bedenkt« 7.

1 Zunächst publiziert unter dem Titel: Courants philosophiques dans l’Allemagne


d’aujourd’hui, in: Archives de philosophie 21 (1958), 274–297. Deutsche Überset-
zung: Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, Philosophische Strömungen
im heutigen Deutschland, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie 1 (1959),
290–313. Wieder publiziert in: Spaemann, Schritte über uns hinaus I, 81–113.
2
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 119.
3 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81.

4 Ebd. 81–82.

5 Ebd. 82.

6 Ebd. 85.

7 Ebd. 82. – Für Spaemanns weitere Entwicklung als Denker sind freilich gerade die in

einem kurzen Exkurs eingefügten Ausführungen über die zeitgenössische thomisti-


sche Philosophie von Interesse, die jedoch aufgrund des fehlenden Bezugs auf das
Thema der Krise der Gegenwartsphilosophie hier nicht im Mittelpunkt stehen. – Vgl.
ebd. 83–85.

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

Spaemann stellt zunächst Nicolai Hartmann und Martin Hei-


degger – »die markantesten Antipoden der deutschen Philosophie« 8
– gegenüber, bevor er in einer kursorischen Betrachtung eine Reihe
weiterer Denker thematisiert. Während Hartmanns Philosophie als
»Metaphysik des Positivismus« bzw. »Krönung der Antimetaphy-
sik« 9 offene Ablehnung seitens des Autors erfährt, bringt er Heideg-
gers Ansatz einer Destruktion der abendländischen Metaphysik in
bezeichnender Weise Sympathie entgegen: »Die Subjektivität des
Subjekts, das Sum im cogito ergo sum sollte ausdrücklich untersucht
werden, um von dorther allererst die Möglichkeit zu gewinnen, die
Seinsfrage ursprünglicher zu stellen, als sie bisher immer gestellt
worden war.« 10 Spaemann teilt offenbar mit Heidegger die Ab-
lehnung der Verwandlung der »Wahrheit als Unverborgenheit des
Seins in die subjektive Richtigkeit des Wahrnehmens und Aus-
sagens« 11. In der aus diesem Ansatz entwickelten Philosophie Hei-
deggers sieht er jedoch eine »freiwillige Sezession aus der durch Wis-
senschaft geprägten modernen Welt« 12 und kommt zum Fazit der
Gegenüberstellung, dass Heideggers Denken »letzten Endes zu einer
ähnlichen Kapitulation der Philosophie vor den facta bruta« 13 führt
wie das Denken Hartmanns.
Von den darüber hinaus betrachteten philosophischen Strömun-
gen sind für Spaemanns weitere Entwicklung vor allen Dingen zwei
von Bedeutung: die dialektische Philosophie Adornos und Hork-
heimers sowie das Denken Joachim Ritters. Die dialektische Philo-
sophie, die »nicht zuletzt dank der ungewöhnlich scharfsinnigen und
geistvollen Schriftstellerkunst Adornos zu einer Potenz im geistigen
Leben Deutschlands geworden« 14 ist, deutet Spaemann als ein prinzi-
pielles Andenken gegen die Unwahrheit durch bestimmte Negation,
ohne dass allerdings eine anfängliche Wahrheit angenommen würde.
Die hierin verborgene petitio principii führt Spaemann in seiner Ana-
lyse auf eine »eschatologische Vorstellung von einem Reich vollende-
ter Humanität« zurück, die keinen »geschichtlich realisierbaren Zu-

8 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 87.


9 Ebd. 88.
10 Ebd. 92.

11 Ebd. 93.

12
Ebd. 96.
13 Ebd. 97.

14
Ebd. 108.

98

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3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte

stand zum Inhalt hat« 15, sondern religiösen Ursprungs ist. An die
Stelle einer theologischen Begründung trete jedoch bei Adorno und
Horkheimer ein »psychoanalytische[r] Rousseauismus […], für den
die Selbstentfremdung des Menschen tatsächlich mit seinem
Menschsein beginnt« 16. Spaemann vergleicht diesen Rousseauismus
mit der scholastischen Vorstellung einer »materia prima, deren Na-
tur es ist, sich in bestimmte Gestalten zu entfremden«, von der aus-
gehend die »Negation des Bestehenden […] kein Ziel« finden kann
und »manische Züge« 17 bekommt. Den Ansatz seines Münsteraner
Lehrers Joachim Ritter hält Spaemann der dialektischen Philosophie
gegenüber für überlegen, da Ritter »nicht nur methodisch, sondern
der Sache nach das Problem der bürgerlichen Gesellschaft und den
Entfremdungscharakter der modernen Welt von Hegel her zu beden-
ken« 18 versuchte. Er versteht »die ungeschichtlich-abstrakte Bedürf-
nisnatur des Menschen«, die für Adorno und Horkheimer der Aus-
gangspunkt ist, »von dem aus diese das Wesen der Entfremdung zu
bestimmen versuchen«, bereits als »Produkt der Entfremdung« 19:
»Ritter interpretiert mit Hegel die Entfremdung als Entfremdung
der bürgerlichen, durch rationale Bedürfnisbefriedigung definierten
Gesellschaft von ihrer eigenen geschichtlich-metaphysischen Her-
kunft.« 20 Die »Entzweiung« zwischen der Gesellschaft in ihrer Abs-
traktheit als »System der Bedürfnisse« 21 und dem geschichtlichen
Menschen mit seiner das Religiöse, Sittliche, Ästhetische usw. um-
fassenden Herkunft sieht Ritter nicht als Entfremdung, sondern als
etwas Positives, das die »welthistorische Gestalt« der Subjektivität
erst hervorbringt. 22 Angesichts einer »antagonistische[n] Wirklich-

15 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 109.


16 Ebd.
17 Ebd.

18
Ebd.
19 Ebd. 109–110.

20
Ebd. 110.
21 Ebd.

22 Vgl. die Aufsätze »Hegel und die französische Revolution« (1956), in: Ritter:

Metaphysik und Politik, 183–255, u. »Subjektivität und industrielle Gesellschaft. Zu


Hegels Theorie der Subjektivität« (1961), in: Ebd. 357–376, bes. 370–374, zur »welt-
historischen Gestalt« der Subjektivität siehe 367 u. 371. – Vgl. auch: »Freiheit im
Modus der Entzweiung kann gegen diese Gefahr einer totalen Vergesellschaftung
nur gesichert werden, wenn die entwerteten Mächte der Tradition ›als Mächte des
persönlichen Lebens, der Subjektivität und der Herkunft‹ gleichwohl die Kraft be-
halten, um die notwendigen Abstraktionen der bürgerlichen Gesellschaft zu kompen-

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

keit« 23 versteht er es als Aufgabe der Philosophie, »die Zusammen-


gehörigkeit des Entzweiten ins Bewusstsein zu heben« 24.
Mit der zuletzt zitierten Formulierung der Aufgabe der Philoso-
phie ist das Programm umrissen, das Spaemann selbst zunächst in
den 1950er Jahren bei Joachim Ritter in Münster verfolgte, und es
wird Aufgabe der vorliegenden Untersuchungen zu Spaemanns Werk
sein zu zeigen, dass es auch weit darüber hinaus seine denkerische
Entwicklung charakterisiert. Zum Abschluss seines Vortrags weist
Spaemann auf ein ungelöstes Problem des Ritter’schen Ansatzes hin,
das hier Erwähnung verdient. Die Bewahrung der »geschichtliche[n]
Herkunftswelt« 25, um die es Ritter geht, muss auch die Bewahrung
der Theologie und Metaphysik einschließen: »Metaphysik aber ver-
steht sich als philosophia prima. Diese philosophia prima kann als sie
selbst nicht durch eine Hermeneutik der geschichtlichen Wirklichkeit
bewahrt werden, sondern nur durch sich selbst, durch den Vollzug
metaphysischer Einsichten.« 26 Es besteht also ein Widerspruch zwi-
schen dem mit der Metaphysik als philosophia prima gesetzten An-
spruch und der hermeneutischen Methode Ritters. Einerseits fällt ein
metaphysisches Denken »ohne Reflexion auf die geschichtliche Krise
der Metaphysik […] hinter den Begriff von Philosophie zurück« 27,
andererseits negiert die Metaphysik als Frage nach »dem, was immer
ist« 28, ihrem Wesen nach eine geschichtliche Relativierung. Seinen
Vortrag schließt Spaemann mit einem Satz, der seine denkerischen
Bemühungen der folgenden Jahrzehnte antizipiert und auf den in
verschiedenen Zusammenhängen zurückzukommen sein wird: »Bis
Metaphysik ihr Verhältnis zur Theologie einerseits und zur Ge-
schichte andererseits von Grund auf neu durchdacht hat, ohne darü-
ber zur Theologie oder zur Geschichtsphilosophie zu werden, ist viel-
leicht ihr Anliegen in einer Geschichtsphilosophie, die ihr Verhältnis

sieren. Die gesellschaftliche Moderne bedarf also zu ihrer Stabilisierung der Ver-
gegenwärtigung der eigenen historischen Substanz, mit anderen Worten: der ver-
zweifelten, weil paradoxen Leistung eines historistisch aufgeklärten Traditionalis-
mus.« – Habermas, Die Kulturkritik der Neokonservativen in den USA und in der
Bundesrepublik (1983), in: Ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 88.
23 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 111.

24 Ebd. 110.

25 Ebd. 111.

26
Ebd.
27 Ebd.

28
Ebd.

100

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3.1 Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte

zur Metaphysik bedenkt, besser aufgehoben.« 29 Mit de Bonald 30,


Fénelon 31 und Rousseau 32 wählte Spaemann gerade am Anfang seiner
Laufbahn philosophiehistorische Themen, in der Auseinanderset-
zung mit denen er nach Gründen der geschichtlichen Krise der Meta-
physik suchte und dadurch an der genuin metaphysischen Frage nach
der ἀρχή festhielt.

29 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 112.


30 Vgl. Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bo-
nalds, 102–125.
31 Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–

184.
32 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive,

187–214.

101

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3.2 Das Ende der Metaphysik in der
Gesellschaftstheorie de Bonalds

Louis-Gabriel-Ambroise Vicomte de Bonald (1754–1840) verteidigte


als Staatstheoretiker und Philosoph Monarchie und Katholizismus
gegen die Französische Revolution und ihre Folgen, er gilt als Be-
gründer des Traditionalismus 1 und Theoretiker der Restauration.
Bonald bekleidete als Landadliger verschiedene Ämter, bevor er als
Reaktion auf die Revolutionsereignisse 1791 nach Heidelberg emi-
grierte. Dort begann er seine schriftstellerische Tätigkeit, die er nach
seiner Rückkehr nach Frankreich im Jahr 1797 fortsetzte. Unter der
Herrschaft Napoleons und nach der Rückkehr der Bourbonen stellte
er sich durch Übernahme verschiedener Ämter in den Dienst der Res-
tauration. Nach dem Ausbruch der Julirevolution von 1830 legte er
alle Ämter nieder und zog sich auf seinen Landsitz zurück. 2
Spaemann übernahm von Joachim Ritter das Interesse an der
Französischen Revolution, in der er mit seinem Lehrer den »Kristal-
lisationspunkt des neuzeitlichen Denkens« 3 sah: »Hegel hat es als das
Unerhörte dieser Revolution bezeichnet, daß hier der Mensch sich
zum ersten Mal ›auf den Gedanken gestellt und die Wirklichkeit nach
diesem erbaut hat‹.« 4 Die oben im Zusammenhang mit Ritter ange-
deutete Thematik der Entzweiung von Herkunft – Tradition – und
Zukunft – Gesellschaft als »System der Bedürfnisse« – wurde durch
die Französische Revolution gesellschaftliche Realität. Das Denken
Bonalds, durch den Spaemann »auf eine neue Deutung und Kritik

1 Gemeint ist »eine philosophisch-theologische Richtung besonders der 1. Hälfte des


19. Jahrhunderts in Frankreich […], nach der die metaphysischen und religiös-sitt-
lichen Grundwahrheiten nur durch eine letztlich auf die göttliche Offenbarung zu-
rückgehende Tradition glaubend […] empfangen werden könnten; die individuelle
Vernunft sei zu ihrer Erkenntnis unfähig.« – Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage,
s. v. Traditionalismus.
2 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration

(1959), 13–19.
3 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 104.

4 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 21.

– Spaemann verweist auf folgende Quelle des eingefügten Zitats: G. W. F. Hegel, Vor-
lesungen über die Philosophie der Geschichte. Sämtliche Werke XI., ed. Glockner,
Stuttgart 1949, S. 557. – Ebd.

102

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3.2 Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bonalds

der Französischen Revolution […] gestoßen« 5 war, schlug er selbst als


Dissertationsthema seinem Professor vor, wobei sein Interesse an die-
sem philosophiehistorischen Thema durchaus im eigentlichen Sinne
philosophisch war: »Daß in der Revolution nicht irgendein philo-
sophisches Problem zur Sprache kommt, sondern die Philosophie
selbst zum ersten Mal seit der Patristik zum Problem wird, dies in
aller Schärfe erkannt zu haben, macht die Relevanz der konterrevo-
lutionären Antithesen des Vicomte de Bonald aus.« 6 Die Philosophie
selbst wird in der Revolution insofern zum Problem, als ihre »Zwei-
deutigkeit« 7 zutage kommt; Bonald spricht von zwei Arten der Phi-
losophie, einer »wahren« und einer »modernen«. Hier eine knappe
Charakteristik zunächst der »wahren«, dann der »modernen« Philo-
sophie in zwei kontrastierenden Zitaten aus der Dissertation über
Bonald:
Die Geschichte der wahren Philosophie ist die Geschichte der Lehre
von den eingeborenen Ideen, wie sie sich in den Namen Plato, Augus-
tin, Descartes, Malebranche, Bossuet, Fénelon, Leibniz verkörpert
(III 24). Die wahre Philosophie ist »spiritualistisch und religiös« (I 15).
Sie steht im Gegensatz zu den Systemen der Reduktion: der Reduk-
tion Gottes auf die Natur, der Autorität auf die Regierten, des Denkens
auf die Empfindung. 8
»La philosophie moderne« – das ist jene Philosophie, die in ihrem An-
satz darauf geht, die Einheit des Universums in Natur, Mensch und
Gesellschaft nicht als ursprüngliche, übergeordnete, göttliche Einheit
zu begreifen, sondern sie von unten, von den Elementen her allererst
sich konstituieren zu lassen und zu legitimieren. […] Materialistische
Anthropologie, sensualistische Erkenntnislehre, demokratische Politik
und atheistische Metaphysik erscheinen in einer grandiosen Paralleli-
tät. »Philosophie moderne« – das sind Locke, Hume, Voltaire und La-
mettrie, Condillac vor allem und die Enzyklopädisten sowie die Theo-
retiker der Revolution, St.-Lambert, Concordet und andere. 9
In dieser Gegenüberstellung sind die Wahrheitsansprüche denkbar
klar verteilt, so dass die eigentliche Frage für Bonald darin besteht,
warum die »wahre Philosophie« sich überhaupt als bestimmte Mei-

5 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 106.


6 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 21–
22.
7
Ebd. 26.
8 Ebd. 35.

9
Ebd. 31.

103

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

nung einem Konkurrenzverhältnis zu einer anderen Philosophie aus-


gesetzt sehen muss. Von einem Standpunkt aus, von dem die Wahr-
heitsfrage im Vorhinein entschieden ist, stellt sich das Problem so dar,
dass nach den Gründen der unzureichenden gesellschaftlichen Wirk-
samkeit der wahren Philosophie gefragt wird: »Was ist es nun, woran
die bisherige ›wahre‹, theistische, spiritualistische Philosophie ge-
scheitert ist? Warum spielt sie, wo immer sie auftrat, nur die Rolle
einer ›Meinung‹ neben anderen? Warum tritt die inhaltlich wahre
›Meinung‹ nicht in einer Form auf, die sie von den anderen unter-
scheidet?« 10 Bonald sieht seine Aufgabe also nicht darin, inhaltlich
etwas Neues denken zu müssen, sondern vielmehr darin, eine jahr-
tausendealte Denktradition durch eine neue Art der Darstellung wie-
der in ihre ursprünglichen Rechte einzusetzen.
Bonalds philosophischer Neuansatz, in dem für Spaemann seine
besondere Bedeutung als Denker begründet ist, ist daher in erster
Linie eine neue »Form […], die sie von den anderen unterscheidet«.
Die Philosophie, um die es ihm geht, kann sich von der »wahren«
Philosophie nicht hinsichtlich der in ihr enthaltenen Wahrheit unter-
scheiden, sondern nur in der Form, in der diese Wahrheit auftritt:
Denn die absolute Form der Wahrheit ist für Bonald überhaupt nicht
ihr bloßes Gewußtsein, ihre Anwesenheit in der »Meinung« von Indi-
viduen, sondern die äußere geschichtlich-gesellschaftliche Realisie-
rung des menschlichen Daseins in Staat und Religion, näherhin in
der christlichen Religion. Philosophie aber hat ihre absolute Form erst
dann erreicht, wenn sie heraustritt aus der abstrakten Spekulation und
diesen Zusammenhang von Wahrheit und Gesellschaft oder, was das-
selbe ist, von Gott und Geschichte in seiner Vernunftnotwendigkeit
aufweist. 11
Es genügt also nicht, was Wahrheit ist, abstrakt zu beweisen, sondern
die Wahrheit muss in ihrer Wirksamkeit in der Realität konkret
erfasst werden: »Die Realität aber ist die Gesellschaft und die Ge-
schichte.« 12 Erst als »metaphysische Soziologie« 13, d. h. als eine Lehre,
die die gesellschaftliche und geschichtliche Wirksamkeit metaphysi-
schen Denkens reflektiert, wird die Metaphysik konkret. Es liegt hier
ein Paradigmenwechsel vor, insofern der Ausgang nicht mehr vom

10 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 37.
11
Ebd. 37–38.
12 Ebd. 38.
13
Ebd.

104

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3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt

Denken eines Individuums genommen wird, sondern von der gesell-


schaftlichen Verwirklichung des Denkens. Philosophie muss die
Wahrheit denken als Lehre von der vollkommenen Gesellschaft und
ihrer Geschichte: »Die wahre Philosophie in ihrer absoluten Form ist
also Metaphysik der Gesellschaft und Philosophie der Geschichte« 14.
Von dieser Aussage her wird deutlich, wie die Untersuchung der Phi-
losophie de Bonalds sich einfügt in Spaemanns am Ende seines Pariser
Vortrags von 1957 angedeutetes Programm der kritischen Fortset-
zung des Denkens seines Lehrers Joachim Ritter. Ganz im Sinne
Ritters kann es als Bonalds Anliegen verstanden werden, mit der Her-
kunftswelt des Ancien Régime auf der einen und der Revolutions-
bewegung auf der anderen Seite »die Zusammengehörigkeit des Ent-
zweiten ins Bewusstsein zu heben« 15. In diesem Bemühen deutet
Bonald den Begriff der Metaphysik in einer Art und Weise um, die
zu einer ähnlichen Infragestellung der Metaphysik als philosophia
prima führen muss, wie Spaemann sie in Ritters Ansatz erkennt. In
seiner Theorie begreift Bonald
Religion als Präsenz Gottes in der Gesellschaft und Metaphysik als
geistige Macht, in der sich die Gesellschaft ihrer eigenen Wahrheit
vergewissert. […] Die Erste Philosophie muss deshalb eine Art Meta-
Metaphysik sein, das heißt also eine Theorie, die die gesellschaftliche
Wirklichkeit der Metaphysik als Funktion gesellschaftlicher Selbst-
erhaltung reflektiert. 16
In der Auseinandersetzung Spaemanns mit Bonald wird also auch die
indirekte kritische Auseinandersetzung mit Ritters Ansatz nach-
zuvollziehen sein. Im Folgenden sollen nun anhand von Spaemanns
Studie die für den Gedankengang der vorliegenden Arbeit wesent-
lichen Aspekte des Bonald’schen Denkens herausgearbeitet werden.

3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt

Wenn Bonald gegen den Geist der Revolution aufbegehrt, so genügt


es ihm nicht, deren Parolen zu widerlegen und ihnen Antithesen ent-
gegenzustellen. Vielmehr ist es sein Anspruch, auf einer höheren
Ebene deren innere Haltlosigkeit nachzuweisen. Statt Antithesen zu

14
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 38.
15 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110.
16
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.

105

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

formulieren zu Thesen der Revolution, begreift er diese vielmehr


selbst schon als antithetisch und versucht im Aufweis des Zusam-
menhangs der Revolution mit dem, was sie bekämpft, einen Stand-
punkt oberhalb dieser Dialektik einzunehmen:
Wir werden dies immer als Struktur der Argumentation Bonalds ent-
decken: Er überläßt der Revolution keine ihrer Parolen, sondern seine
Absicht geht dahin zu zeigen, daß alle Inhalte, deren Verwirklichung
die Revolution zum Programm macht, immer schon realisiert sind und
daß es vielmehr gerade die Revolution ist, die diese Inhalte durch
ihren abstrakten Universalismus auflöst. 17
Proklamiert die Revolution also die Menschenrechte als politische
Forderung, so verweist Bonald auf die geschichtliche Verwirklichung
von Menschenrechten – im Ancien Régime – und deren konkrete
Gefährdung durch eine abstrakte, von dem sie ermöglichenden ge-
sellschaftlichen Zusammenhang absehende Verabsolutierung des In-
dividuums – in der Revolution. Es geht nach Bonald in der Revolution
um einen Aufstand des Menschen gegen das Ganze der Gesellschaft,
der von der »modernen« Philosophie vorbereitet wurde:
In der modernen Philosophie hat sich dieser Aufstand des »Men-
schen« theoretisch, in der Revolution praktisch vollzogen. Allen Mei-
nungen dieser Philosophie liegt ein Interesse zugrunde (I 623), das
Interesse des Menschen an der Befriedigung seiner ungeordneten Nei-
gungen, seines Willens zur Macht, den er mit Freiheit verwechselt. 18
Die Art der Verwendung von »Interesse« und »Freiheit« an dieser
Stelle gibt einen ersten Einblick in Bonalds spezifische Problematisie-
rung von Begriffen. Das als Freiheit missverstandene Interesse ist
bereits Resultat eines Prozesses der Subjektivierung, der die Freiheit
aufhebt, so dass der volle Begriff der Freiheit nur zurückgewonnen
werden kann durch eine Reflexion, die diese Dialektik aufhebt. Das
zentrale Problem der modernen Philosophie ist für Bonald somit ihr
Ausgang vom denkenden Subjekt, durch den sie ihre eigenen Entfal-
tungsmöglichkeiten abschneidet: »Die Philosophie vermag über ihren
individualistischen Ansatz nicht hinauszukommen; der einzige In-
halt, der ihr geblieben ist, ist die Dogmatisierung jenes universalen
Zweifels, von dem sie einstmals ihren Ausgang genommen hat.« 19

17
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 64.
18 Ebd. 32
19
Ebd. 34

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3.2.1 Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt

Eindeutig spielt Spaemann hier auf Descartes als den Stammvater der
modernen Philosophie an, der gleichwohl oben 20 in der Reihe der Ver-
treter der »wahren Philosophie« genannt worden ist: »Einerseits hat er
mit seiner Lehre von den eingeborenen Ideen den Platonismus erneu-
ert und gehört so in die Ahnenreihe der wahren Philosophie. Anderer-
seits aber erscheint sein Ausgangspunkt des universalen Zweifels als
Angelpunkt der gesamten von Bonald angegriffenen modernen
Philosophie.« 21 Die Auseinandersetzung mit Descartes, die sich wie
ein roter Faden durch das Werk Spaemanns und dementsprechend
durch den zweiten Teil dieser Arbeit ziehen wird, beginnt in der Studie
über Bonald und gelangt in ihr bereits zu weit über sie hinausreichen-
den Aussagen, auf die gegen Ende der Thematisierung der Studie ein-
zugehen sein wird. An dieser Stelle sei zunächst der »Grundgedanke in
Bonalds Kritik des cartesischen Ansatzes« genannt:
Philosophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Ver-
such, »in uns selbst den Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns
erheben wollen« (III 34), führt nicht über den Ausgangspunkt selbst
hinaus. Die Philosophie mit »Ideologie« (Lehre von der Entstehung
der Ideen) und Erkenntnistheorie anzufangen heißt überdies, »den
Geist von seiner eigentlichen Funktion, der Erkenntnis des gesamten
physisch-moralischen Universums, ablenken zur sterilen Kontempla-
tion seiner selbst« (III 35). 22
Die gesamte moderne Reflexionsphilosophie erscheint somit als ein
fataler Irrweg und das erste Zwischenfazit im Nachvollzug der
Bonald’schen Grundgedanken kann also lauten, dass nur im Über-
schreiten des Subjekts ein Anfang der Philosophie gefunden werden
kann: »Die Vernunft kann als individuelle nicht den Vernunftzustand
herstellen, weil sie wesentlich ihre Substanz, durch die sie sich kon-
stituiert, außerhalb ihrer hat.« 23 Die im ersten Teil dieser Arbeit
dargelegte Problematisierung des Subjektbegriffs und die daraus
abgeleitete Notwendigkeit der Selbsttranszendenz bildet somit den
Grundzug von Spaemanns Thematisierung der Bonald’schen Philo-
sophie.

20 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 35, u. Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesell-
schaftstheorie de Bonalds, 103.
21
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 36.
22 Ebd. 44–45.

23
Ebd. 129.

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft

Bonald entwirft ein dualistisches Bild des Menschen durch die neben-
einander bestehenden Dispositionen der »Neigung« und der »Ver-
nunft« ; Neigung bedeutet dabei Wille zur Macht, Vernunft eine
Selbsttranszendenz, die der Mensch sich nicht selbst verdanken kann:
Der Mensch als Vernunft ist ja wesentlich durch Überschreitung sei-
ner selbst gekennzeichnet. Der Mensch als bloßer Mensch ist der
Mensch in der Subjektivität seiner Neigungen; die stärkste Neigung
aber ist diejenige, die Gesellschaft als Ganze neu zu integrieren in die
Subjektivität der eigenen Neigungen, das heißt, »sich eine neue Ge-
sellschaft zu machen, deren Gesetzgeber und Machthaber man selbst
ist« (III 134). 24
Das Verhältnis von Neigung und Vernunft klärt folgender Schlüssel-
satz Bonalds, den Spaemann gleich zu Anfang seiner Studie zitiert:
»›Die Vernunft des Menschen ist nichts anderes als die gebändigte
Leidenschaft, deshalb genügt die Vernunft allein nicht, um die Lei-
denschaft zu bändigen‹ (III 406)«; Spaemann kommentiert ihn direkt
im Anschluss folgendermaßen: »In einem solchen Satz liegt der An-
satz einer Überwindung bloßer Verstandes- und Reflexionsphiloso-
phie beschlossen.« 25 Der Satz Bonalds und Spaemanns Kommentie-
rung sollen hier näher erläutert werden.
Zunächst stellt sich die Frage, was die Leidenschaft im Menschen
bändigen kann, wenn die Vernunft erst das Produkt dieser Bändigung
ist. Da die Leidenschaft sich nicht selbst bändigen kann, muss ihr
etwas von außen zur Hilfe kommen. Die Frage kann also dahin-
gehend umformuliert werden, wodurch eine Verbindung zwischen
dem Individuum und der ihm äußerlichen Wirklichkeit hergestellt
wird. Das Denken scheidet aus, denn: »Das individuelle Denken ist
notwendig abstrakt in dem präzisen Sinne, daß es nur auf mögliche
Gegenstände geht« 26, d. h. es bewegt sich zunächst in seiner eigenen
Welt, die ständig dem Verdacht ausgesetzt ist, nur Idiosynkrasie zu
sein, mit der Wirklichkeit selbst nicht übereinzustimmen. Das Indi-
viduum ist demnach solipsistisch verfasst, solange ihm nicht die
Wirklichkeit als solche gegeben wird: »Die Weise der Gegebenheit
des Wirklichen nennt Bonald – offenbar im Anschluss an Rousseau

24
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 95.
25 Ebd. 23.
26
Ebd. 132.

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3.2.2 Die Vermittlung zwischen dem Einzelnen und der Vernunft

– ›sentiment‹. ›Die Menschen können nur fühlen, was existiert‹


(I 458).« 27 Die Antwort auf die Frage, was die Leidenschaft des Men-
schen bändigen kann, liegt in dem Verweis auf das Vermittelnde,
durch das für das Subjekt der echte Wirklichkeitsbezug gestiftet wird.
»Das Individuum partizipiert also an der Universalvernunft nicht pri-
mär im reinen Denken, sondern eben in der noch näher zu bestim-
menden Weise, die Bonald ›sentiment‹ nennt und die wir am ehesten
mit ›Gemüt‹ wiedergeben können.« 28 Die von Bonald verwendete Be-
grifflichkeit legt eine psychologische Deutung etwa im Sinne des
Dualismus von ›denken‹ vs. ›fühlen‹ nahe, was jedoch, wie Spaemann
betont, verfehlt wäre:
Das Gemüt, das Moral und Zivilisation begründet, muß […] eher im
Gegensatz zum »bloßen Gefühl« gesehen werden. »Sentiment« ist
überhaupt nicht – wie für Rousseau – ein eigenes Organ neben der
Vernunft, sondern es ist jenes die Vernunft begründende Wissen, das
nicht selbst wieder durch Denken erworben wird. 29
Spaemann legt dar, dass Bonald im Laufe der Zeit seine Theorie des
sentiment modifiziert hat. Während er sentiment anfangs mit »Liebe
und Furcht« gleichsetzt, erscheinen diese ihm später »noch zu sehr als
bloß menschliche Gefühle« 30: »Das eigentlich moralische Gefühl
nennt Bonald von da ab ›Achtung‹ (respect), und er bestimmt sie als
eine untrennbare Verbindung höherer Art von Liebe und Furcht.« 31
Spaemann weist auf die Nähe dieses respect zu »dem die Moral be-
gründenden Gefühl der Achtung bei Kant« 32 hin:
[…] zum Verständnis dessen, was das sentiment als Grundantrieb der
Sittlichkeit im Unterschied zu einer Gefühlsethik bedeuten kann und
bei Bonald bedeutet, kann nichts so klärend sein wie Kants Bestim-
mung des Gefühls der Achtung. »Wenn Achtung gleich ein Gefühl ist,
so ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen
Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl und daher von allen Gefühlen
der ersteren Art, die sich auf Neigung oder Furcht bringen lassen,
spezifisch unterschieden … Eigentlich ist Achtung die Vorstellung
von einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut. Also ist es

27 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
132
28 Ebd. 132–133.

29 Ebd. 134.

30
Ebd. 136.
31 Ebd.

32
Ebd.

109

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

etwas, was weder als Gegenstand der Neigung, noch der Furcht be-
trachtet wird, obgleich es mit beiden etwas Analogisches hat« 33. 34
Das Individuum bzw. das Subjekt überwindet also seine Grenzen und
realisiert Selbsttranszendenz durch das sentiment bzw. den respect,
insofern es durch diese teilhat an der allgemeinen Wirklichkeit: »Sen-
timent ist daher wiederum die vermittelnde und darum eigentlich den
konkreten, moralisch-physischen Menschen konstituierende Funk-
tion. Es ist die Mitte, wo der Mensch in seiner individuellen sinn-
lichen Wirklichkeit im Allgemeinen, in der universalen Vernunft ver-
wurzelt ist.« 35 Damit ist einerseits die immense Bedeutung des
sentiment im Denken Bonalds geklärt; andererseits wird von diesen
Gedanken aus deutlich, dass das sentiment als Mittler zwingend an-
gewiesen ist auf ein Außen, in dem die Vernunft bereits verwirklicht
ist. In Anlehnung an den Gedankengang der Explikation stellt sich
hier also die Frage nach dem Worauf der Selbsttranszendenz.
Man würde permanent gegen bessere Einsicht den stärkeren Neigun-
gen folgen, wenn nicht eine vom bloßen Denken verschiedene Macht
in uns als Antrieb lebendig wäre, die uns bestimmte, das zu tun, was
wir sollen. Dieser Impuls heißt »sentiment«. Das sentiment erhält
aber seinen Inhalt in der Bildung durch die Gesellschaft. Zu fragen,
ob ein Wilder außerhalb der Gesellschaft ein Gefühl von Gott hat, ist
ebenso sinnlos wie die Frage, ob ein Kind seine Eltern kennt, wenn es
sie nie gesehen hat. 36
Die Antwort Bonalds auf die Frage nach dem Worauf der Selbsttrans-
zendenz liegt in der Thematisierung der Gesellschaft. Insofern nach
Bonald dem Individuum durch das sentiment die Teilhabe an der Ver-
nunft vermittelt wird, ist die Verwirklichung der universalen Ver-
nunft in der Gesellschaft bei Bonald bereits vorausgesetzt. Diese
These ruft eine Reihe von Fragen hervor, um die es im Folgenden
gehen muss: Mit welchen philosophischen Mitteln begründet Bonald
diese Vorstellung einer idealen Gesellschaft? An welchem Kriterium
ist erkennbar, inwiefern ein geschichtlicher Zustand der Gesellschaft

33 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Immanuel Kant, Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten. Gesammelte Schriften, Akademieausgabe, Berlin 1941, Bd. IV,
S. 401. – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 137.
34
Ebd.
35 Ebd. 137–138.

36
Ebd. 139.

110

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3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit

dem der Verwirklichung der universalen Vernunft entspricht? Was


folgt für die Gesellschaft wie den Einzelnen aus der Voraussetzung
Bonalds, wonach die Verwirklichung der universalen Vernunft bereits
ein Ereignis der Vergangenheit ist? Um auf diese Fragen zu antwor-
ten, muss die menschliche Gesellschaft, zu der das sentiment für das
Individuum die Vermittlung herstellt, auf ihre Eigengesetzlichkeit,
wie Bonald sie versteht, betrachtet und die Bonald’sche Theorie der
Gesellschaft in ihren Grundzügen nachvollzogen werden.

3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit

Die »›société civile‹, bürgerliche Gesellschaft« 37 ist für Bonald das


»Allgemeine, in dem das Individuum selbst gründet und Dasein
hat« 38, nicht als erreichter Ausgleich widerstrebender Partikularinte-
ressen, sondern als gottgewollter Zustand: »Gott ist konstitutiv für
die Gesellschaft.« 39 Obwohl Bonald, wie gesehen, einerseits die indi-
viduelle Vernunft skeptisch bewertet, da ihr Denken sich jederzeit als
reine Idiosynkrasie erweisen kann, ermöglicht ihre Verwurzelung in
der universalen Vernunft andererseits metaphysische Aussagen über
das gesellschaftlich verwirklichte Allgemeine. Bonald hält, darin
Hegel ähnlich, an der »ontologischen Priorität eines Allgemeinen
fest, das nicht eine bloße Funktion individueller Tendenzen ist und
also niemals aus einem eudämonistisch-naturalistischen Begriff von
Glück abgeleitet werden kann« 40. So wie Hegel den »Staat als ›selbst-
bewußte sittliche Substanz‹ […], als ›das an und für sich Allgemeine,
das Vernünftige des Willens‹ 41« 42 begreift, versteht Bonald die bür-
gerliche Gesellschaft als Verwirklichung des Allgemeinen, als »Ge-
sellschaft zwischen Gott und Mensch, ›Anwesenheit Gottes‹« 43. Die-
ses Allgemeine, einmal verwirklicht, folgt einem einfachen Gesetz:
Das Wesen dieser »bürgerlichen Gesellschaft« wird bei Bonald als »ab-
solute Erhaltung« bestimmt. Bonald steht hier im Gefolge jener neu-

37 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66.
38 Ebd.
39 Ebd. 118.

40 Ebd. 66.

41 Spaemann verweist als Quelle der Zitate auf: Hegel, System der Philosophie, Sämt-

liche Werke X, ed. Glockner, Stuttgart 1949, S. 409 u. S. 410. – Ebd. 21 u. 65.
42 Ebd. 65.

43
Ebd. 66–67.

111

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

zeitlichen Staatstheorien, die, wie Hobbes, den Staat nicht, wie die
aristotelische Philosophie, aus dem Streben der Menschen nach Er-
füllung, nach Glück, nach dem »guten Leben«, sondern aus dem Be-
dürfnis nach Selbsterhaltung ableiten. Diese Staatsauffassung gründet
in einer neuen, nichtteleologischen Metaphysik, die ihren klassischen
Ausdruck bei Spinoza gefunden hat: »Conatus, quo unaqua[e]que res
in suo esse perseverare conatur, nihil est praeter essentiam rerum.« 44
Die Gesetze der Erhaltung eines Wesens sind zugleich die Gesetze
seines Daseinsvollzuges, denn dieser Vollzug ist nichts als Selbsterhal-
tung. »Der Mensch ist nur auf Erden, um die Mittel seiner physischen
und moralischen Erhaltung zu vervollkommnen« (I 607). Gilt für
Thomas von Aquin noch die Notwendigkeit, erst etwas über das »bene
vivere« des Menschen auszumachen, um das Wesen des Staates zu
bestimmen, so läßt sich nun das Wesen des Menschen umgekehrt
nur von dem her bestimmen, was zu seiner Erhaltung notwendig ist,
das heißt aber von der Gesellschaft. Die Gesellschaft ist die Form der
»absoluten Erhaltung«. 45
Die Einordnung der Gesellschaftstheorie Bonalds in die Tradition
neuzeitlicher nichtteleologischer Metaphysik führt zu der Frage, wie
der Mensch als natürliches Wesen überhaupt in den gesellschaftli-
chen Zustand gelangen konnte oder, mit anderen Worten, welche
treibende Kraft die Gesellschaft konstituiert.
Im Folgenden wird sich zeigen, dass in Bonalds nichtteleologi-
scher Metaphysik gleichwohl eine verborgene Teleologie wirkt. Zu-
nächst ist es wichtig zu sehen, dass für Bonald der gesellschaftliche
Zustand nicht eine Überwindung des Naturzustands ist, sondern im
Gegenteil seine eigentliche Verwirklichung. Spaemann zitiert Bo-
nalds Forderung:
»Die Natur muß die einzige gesetzgebende Gewalt der Gesellschaft
sein« (I 392). Denn was ist die Natur? Die Natur der Dinge ist »die
Gesamtheit der allgemeinen Gesetze ihrer Erhaltung, Gesetze, die
nichts anderes sind als die Beziehungen, die aus ihrer je besonderen
Art des Daseins folgen« (III 449). Diese Definition ist im Grunde die
gleiche, die Hobbes im Leviathan gegeben hatte (Leviathan, II.

44 Spaemann zitiert hier frei nach der »Ethik« Spinozas. Im Original lautet der Satz in
der Propositio VII des dritten Teils: »Conatus, quo unaquaeque res in suo esse per-
severare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem essentiam.« – Deutsch: »Das
Streben, mit dem jedes Ding in seinem Sein zu verharren strebt, ist nichts anderes
als die wirkliche Essenz ebendieses Dinges.« – Vgl. Spinoza, Ethik in geometrischer
Ordnung dargestellt, 238–239.
45
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66.

112

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3.2.3 Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit

Kap. 14). Aber der fundamentale Irrtum Rousseaus und Hobbes’ war
es, den Naturzustand als den vorgesellschaftlichen Anfangszustand zu
bezeichnen. […] Nach Bonald ist der Naturzustand gerade nicht der
Anfangs-, sondern der Endzustand beziehungsweise der Zustand der
Vollkommenheit eines Wesens. 46
Im Unterschied zu Hobbes und Rousseau versteht Bonald also den
Naturzustand nicht als Gegensatz zu Kultur bzw. Zivilisation, viel-
mehr war es in seiner Sicht gerade der Naturzustand, der sich in
Frankreich im Ancien Régime 47 als einer gefestigten Zivilisation ver-
wirklicht hatte: »›Die zivilisierte Gesellschaft ist deshalb die natür-
lichste Gesellschaft, wie der vollkommenste Mensch der natürlichste
Mensch. Ein Irokese oder ein Karibe sind ursprüngliche Menschen;
Bossuet, Fénelon und Leibniz sind natürliche Menschen‹ (III 451).« 48
Diese Vorstellung der idealen Gesellschaft muss freilich wieder die
Frage aufwerfen, wie der ursprüngliche Mensch überhaupt zum na-
türlichen Menschen werden konnte. Zwar partizipiert im gesell-
schaftlichen Zustand der Einzelne durch das sentiment an der gesell-
schaftlich verwirklichten Vernunft; die Frage bleibt aber, wie es
überhaupt zu ihrer gesellschaftlichen Verwirklichung kommt, durch
die die Überwindung der individuellen Partikularität erst möglich
wird. Um diesen Übergang zu erklären bedarf Bonald »einer Art von
Teleologie innerhalb eines durch Selbsterhaltung definierten Natur-
begriffs« 49: »So ist Natur nicht das anfänglich Vorhandene, sondern
der ›Plan‹, nach dem jedes Wesen angelegt ist und der das Prinzip
seiner Entwicklung enthält.« 50 Bonalds Begriff der Natur ist somit
zweideutig, insofern er einerseits, wie oben gesehen, durch Selbst-
erhaltung definiert ist, andererseits aber auf die Entfaltung einer
Anlage ausgerichtet ist. Im Rückblick bemerkte Spaemann: »Bonald
versucht, der Zweideutigkeit des neuzeitlichen Naturbegriffs zu ent-
gehen, indem er den ›homme natif‹ vom ›homme naturel‹ unterschei-
det.« 51 Da diese Zweideutigkeit des Naturbegriffs jedoch ungeachtet

46 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 68.
47 Spaemann weist darauf hin, dass dies nur galt bis zur Verletzung der Konstitution
durch Ludwig XVI. im Mai 1789 im Zusammenhang mit der Einberufung der Ge-
neralstände. – Vgl. ebd. 157. – Vgl. auch Spaemann, Über Gott und die Welt (2012),
105.
48 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70.

49
Ebd. 68.
50 Ebd. 69.

51
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 137.

113

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

seiner Begriffsdistinktionen fortbesteht, soll im Folgenden die Beson-


derheit der Bonald’schen Begriffe und die in ihnen enthaltene spezi-
fische Teleologie näher betrachtet werden.

3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung

Spaemann betont in seiner Studie mehrfach, dass bei dem »Versuch,


philosophisch zu begreifen, was bei Bonald geschieht, die Parallele zu
Hegel sich immer wieder aufdrängt« 52. Bonald wird nach Spaemann
verkannt, wenn man bei ihm »einfache Antithesen zur Philosophie
des 18. Jahrhunderts« 53 zu finden glaubt. Die Eigenart und der Rang
seines Denkens werden vielmehr überhaupt erst verständlich, wenn
sein methodisches Prinzip erkannt wird:
Bonalds Denken hat sein Gewicht gerade darin, daß er die Postulate
der Revolution, die Begriffe »Vernunftherrschaft«, »Aufklärung«,
»Fortschritt« und »Rückkehr zur Natur« nicht skeptisch oder unter
Berufung auf die Erfahrung verwirft, sondern sie aufnimmt und ihre
unvermeidliche Dialektik sichtbar werden lässt: als abstrakte Postulate
bringen sie unmittelbar ihr Gegenteil hervor. Die Restauration ist für
Bonald nicht bloße Antithese, sondern konkrete Erfüllung dessen, was
in der Revolution bloß Willkür und subjektives Meinen war. 54
Den Vergleich mit Hegel leicht relativierend weist Spaemann darauf
hin, dass bei der Untersuchung des Bonald’schen Denkens eine in
bestimmtem Sinne aktive Rezeption notwendig ist, um den implizi-
ten Qualitäten seines Denkens gerecht werden zu können:
Bonald hat die Bewegung des »Aufhebens«, die sein ganzes Denken
ausmacht, nie systematisch reflektiert. Diese Reflexion muß eine heu-
tige Darstellung seines Denkens begleiten, und einer solchen Refle-
xion erst wird sich der Rang jener Deutung der Revolution erschlie-
ßen, die Bonald schon im Angesicht der Revolution zu geben
begonnen hat. 55
Ausgehend vom Begriff der Natur soll die Denkbewegung Bonalds
und die sie begleitende Reflexion, von der Spaemann hier spricht,

52 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
211.
53
Ebd.
54 Ebd. 212.

55
Ebd.

114

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3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung

verdeutlicht werden, um auf diesem Weg die eigentümliche Form


Bonald’scher Teleologie näher bestimmen zu können.
Die Denkbewegung, um die es geht, besteht im Wesentlichen in
einer Aufhebung bzw. Ausdifferenzierung abstrakter Begriffe, wie
zunächst am Beispiel des Naturbegriffs gezeigt werden soll. »Der Be-
griff der Natur bei Bonald ist, wie alle entscheidenden Begriffe seines
Denkens, konkret und daher dialektisch.« 56 Dem abstrakten Begriff
der Natur als eines hypothetischen Anfangszustandes z. B. bei Hobbes
und Rousseau setzt Bonald einen konkreten Begriff entgegen:
Natur ist für ihn nicht ein Zustand, über den hinausgegangen werden
kann und soll. Man kann nur auf ihn zu- oder hinter ihn zurückgehen
auf einen Urzustand. Freiheit ist darum nicht im Gegensatz zur Natur
zu definieren, sondern sie ist »die Fähigkeit eines Wesens, (aus sich
selbst) zu seinem Naturzustand zu gelangen« (III 451). Natur als sol-
che existiert gar nicht, »sie ist eine Abstraktion, ein Gedankending, das
weder Stimme noch Organ hat« (II 214). Ihre Wirklichkeit ist die In-
tention des Schöpfers der Dinge. 57
Der konkrete Begriff der Natur übergreift in sich die Spannung zwi-
schen ursprünglichen natürlichen Anlagen und ihrer vollkommenen
Verwirklichung. Dialektisch sind diese Begriffe also, weil sie eine Ent-
wicklung einschließen und daher nicht ohne Verlust auf einen abs-
trakten Begriff reduziert werden können. »Natur ist nicht ›bloße Na-
tur‹, bloße Natur ist vielmehr wider die Natur des Menschen.« 58
Umgekehrt gilt für die abstrakten Begriffe, dass sie durch eine innere
Bindung an ihr Gegenteil charakterisiert sind, die in der Geschichte
des Denkens wirksam wird und zu einem Umschlagen führt. So führt
in den Augen Bonalds die revolutionäre Forderung nach einer Rück-
kehr zur Natur als Kampf gegen ihrerseits natürliche geschichtliche
Manifestationen der menschlichen Entwicklung zu einer Denaturie-
rung des Menschen: Der abstrakte revolutionäre Naturbegriff schlägt
in sein Gegenteil um.
Eine analoge Gedankenbewegung entfaltet sich in Bonalds Be-
griff der Vernunft, die er von ihrer abstrakten Reduktion auf Ideo-
logie unterscheidet. Wie beim Naturbegriff der Bezug zur »Intention
des Schöpfers der Dinge« 59 ist beim Vernunftbegriff der Bezug auf die

56 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 70.
57
Ebd. 69.
58 Ebd. 70.
59
Ebd. 69.

115

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

Wahrheit bzw. das Allgemeine im Sinne einer absoluten Orientie-


rung wesentlich. Der Mensch kommt für Bonald, wie Spaemann dar-
legt,
nur zu seiner Naturbestimmung, indem sein Denken vernünftig, das
heißt wahr ist. Wahrheit aber ist nur im Element der Allgemeinheit.
Es gibt nun auch eine falsche, leere, abstrakte Allgemeinheit, sie ist
das, was wir heute als Ideologie bezeichnen. Sie tritt immer dann in
Erscheinung, wenn das Individuum seine Subjektivität an die Stelle
der allgemeinen Substanz setzt. Es bleibt dann nur die bloße Form,
der bloße Schein des Allgemeinen, hinter dem sich in Wirklichkeit
reale Interessen verbergen.
Da der Mensch wesentlich seine Substanz im Allgemeinen hat,
kann er es nie bei der bloßen Partikularität seiner Besonderheit be-
wenden lassen, sondern er muß, wenn er gegen diese Substanz rebel-
liert, versuchen, seine Besonderheit selbst zur Form eines Allgemei-
nen zu machen. 60
Die partikulare Vernunft als abstrakte Allgemeinheit tritt in einen
Widerspruch mit sich selbst und schlägt in ihr irrationales Gegenteil
– den Willen zur Macht – um. Der konkrete Begriff der Vernunft
übergreift dagegen den Zusammenhang zwischen der individuellen
Perspektive und der Substanz, die sich in der Gesellschaft realisiert:
»Die Vernunft kann als individuelle nicht den Vernunftzustand her-
stellen, weil sie wesentlich ihre Substanz, durch die sie sich konstitu-
iert, außerhalb ihrer hat.« 61 Erst durch Selbsttranszendenz und die im
sentiment vermittelte Teilhabe an der allgemeinen Wirklichkeit und
damit der universalen Vernunft wird die individuelle Vernunft zur
Vernunft im vollen Wortsinn.
Von besonderem Interesse im Hinblick auf Bonalds Projekt einer
»metaphysische[n] Soziologie« 62 als neuer prima philosophia ins-
gesamt ist schließlich die analoge Ausdifferenzierung des Aufklä-
rungsbegriffs, durch die sein prinzipieller Neuansatz im Denken noch
einmal umrissen wird.
Bonald verwirft nicht den Begriff der Aufklärung, sondern denkt ihn
in seiner Dialektik zu Ende. Ein Mensch ist für ihn nicht dann auf-
geklärt – »éclairé« –, wenn er über die abstrakte Richtigkeit oder

60 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
128.
61 Ebd. 129.

62
Ebd. 38 u. 201.

116

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3.2.4 Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung

Falschheit einer auf sentiment gegründeten Meinung Bescheid weiß,


sondern wenn er ihre Wahrheit oder Falschheit im Hinblick auf die
Gesellschaft erkennt, das heißt, wenn er die universale gesellschaft-
liche Vernunft in dem zu sehen vermag, was die »Aufklärung« naiv
als Irrtum und Vorurteil bezeichnet, weil sie in denen, die diese Vor-
urteile überliefern, nur Menschen sieht und nicht bemerkt, daß in
dieser Überlieferung die Menschen nicht abstrakt als Menschen han-
deln, sondern daß die Gesellschaft, die Natur hier am Werk ist. 63
Aufklärung versteht sich für Bonald also falsch, wenn sie sich anti-
thetisch gegen eine zu überwindende geschichtliche Vergangenheit
stellt; Aufklärung in diesem Sinne schlägt um in die Manifestation
eines antagonistischen partikularen Interesses. Der konkrete Begriff
der Aufklärung dagegen bezeichnet eine Reflexion, die die gesell-
schaftlich-geschichtliche Wirksamkeit von Meinungen erfasst und
damit abermals den Bezug voraussetzt auf die universale Vernunft,
die ihrerseits kein Resultat der Aufklärung ist, sondern in ihrer ge-
schichtlichen Verwirklichung zugänglich ist.
Die hier kurz betrachteten konkreten bzw. dialektischen Begriffe
der Natur, der Vernunft und der Aufklärung eint, dass in ihnen je-
weils ein Prozess der Entfaltung einer Anlage zu ihrer vollen Wirk-
lichkeit gedacht wird und sie somit eine teleologische Struktur auf-
weisen. Das teleologische Moment der Tendenz zur Entfaltung einer
Anlage findet jedoch bei Bonald sein Ende mit der gesellschaftlichen
Verwirklichung der universalen Vernunft, die nach seiner Überzeu-
gung im Ancien Régime bereits stattgefunden hat. Für Bonald hat die
Natur im absolutistischen Frankreich der Bourbonen ihr Ziel durch
eine konkrete gesellschaftliche Verwirklichung der universalen Ver-
nunft erreicht. Eine Forderung nach zusätzlichen Beweisen für diese
These müsste Bonald als Ausdruck einer nur partikularen Vernunft,
die sich, gerade indem sie diese in Frage stellt, von ihrer Substanz zu
lösen versucht, zurückweisen. Die geschichtliche Verwirklichung der
universalen Vernunft steht nach den Voraussetzungen seines Den-
kens über jedem individuellen Meinen. Unter der Voraussetzung der
geschichtlichen Verwirklichung kann es zur universalen Vernunft
nur noch einen hermeneutischen Zugang geben. Für die untersuchte
charakteristische Gedankenbewegung Bonalds bedeutet dieses Ende
der Geschichte, dass mit ihm die teleologische Entfaltung übergeht

63Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
138–139.

117

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

in absolute Erhaltung. Der Natur, der Vernunft und der Aufklärung


geht es somit um nichts mehr als um die reine Erhaltung dessen, was
bereits verwirklicht ist. Diese Selbsterhaltungsteleologie muss im
Folgenden auf ihre Implikationen und Konsequenzen für den Men-
schen hin betrachtet werden.

3.2.5 Der Verlust der natürlichen Wurzeln und


die Selbstaufhebung der Vernunft

Da die Natur im Verständnis Bonalds letztlich immer nur von der


gesellschaftlichen Wirklichkeit her gedacht wird und das Denken
selbst seine individuelle Beschränktheit nur in dem Bezug auf die
wiederum in der Gesellschaft verwirklichte Vernunft überwindet,
bleibt nach wie vor die Frage offen, in welchem Begründungsverhält-
nis die gesellschaftlich verwirklichte Natur zur Natur an sich steht.
Dieses zentrale Problem der Gesellschaftstheorie Bonalds kann noch
einmal vergegenwärtigt werden durch die Gegenüberstellung zweier
Zitate aus Spaemanns Studie:
Die vollkommenste Gesellschaft ist […] diejenige, in der man die Na-
tur allein wirken lässt, das heißt, wo sich die Gesetze und Institutionen
fast unmerklich aus den geschichtlichen Notwendigkeiten ergeben. 64
Die tiefste Neigung des Menschen ist sein Wille zur Macht, die Nei-
gung, anderen seinen Willen aufzuzwingen oder, wie Bonald einmal
sagt, eine Gesellschaft zu gründen, deren Gesetzgeber er selbst ist. 65
Beide Zitate scheinen in einem direkten Widerspruch zueinander zu
stehen, insofern die vollkommenste Gesellschaft dem reinen Wirken
der Natur entspringen soll, der natürliche Wille zur Macht des Ein-
zelnen eine vollkommene Gesellschaft aber gerade ausschließt. Dieser
Widerspruch lässt sich nur auflösen, wenn der gesellschaftlich ver-
mittelte Naturbegriff als reine Negation des Begriffs einer nur indi-
viduellen Natur verstanden wird. Wenn somit das Verhältnis von ge-
sellschaftlich verwirklichter und individueller Natur exakt jenes von
Vernunft und Neigung abbildet, das oben als dualistisches Menschen-
bild Bonalds beschrieben wurde, stellt sich die Frage, ob es überhaupt

64
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
145.
65
Ebd. 72.

118

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3.2.5 Die Selbstaufhebung der Vernunft

einen Begründungszusammenhang zwischen gesellschaftlicher Na-


tur und Natur an sich gibt bzw. mit welchem Recht überhaupt von
einer gesellschaftlich verwirklichten Natur die Rede sein kann. Dieser
Frage soll nun anhand des spezifischen Menschenbilds Bonalds nach-
gegangen werden.
Bonalds Idee der Gesellschaftsordnung – »eine von Ministern
bediente Macht« 66 – ist abgeleitet aus seiner Definition des Menschen
– »ein von Organen bedienter Verstand« 67 –, die er der aristotelischen
Definition als animal rationale entgegensetzt. Der entscheidende Un-
terschied dieser Definition von der Bonald’schen besteht darin, dass
Aristoteles »das animal zum Subjekt und die Vernunft zum Prädi-
kat« 68 macht und damit die Vernunft in der menschlichen Natur ver-
wurzelt sein lässt. Die Substanz ist bei Aristoteles das sinnlich kon-
krete Einzelwesen, wohingegen Bonald »von Descartes her Vernunft
als Wesen und Substanz des Menschen« 69 versteht, was folgerichtig
»zum Verschwinden der individuellen sinnlich-geistigen Person als
des Ortes des Daseins der Vernunft« 70 führt. Die Betrachtung des
Bonald’schen Menschenbildes führt so unmittelbar auf seine Gesell-
schaftstheorie zurück, da die Vernunft als Substanz des Menschen
nur in der Gesellschaft verwirklicht ist, der es ihrerseits nur um die
eigene Erhaltung geht. Die oben konstatierte reine Negation der in-
dividuellen Natur ist also im Grunde eine prinzipielle Negation der
Natur, in der die negierende Vernunft lediglich einen abstrakten Be-
griff der Natur übriglässt und diesen für sich beansprucht. Es voll-
zieht sich somit ein »Entleerungsprozeß« 71, der nach Spaemann seine
Ursache in der Trennung der Vernunft von ihren natürlichen Wur-
zeln hat und der folgerichtig zur Selbstaufhebung der aufgeklärten
Vernunft führen muss: »Das reine Funktionieren des gesellschaft-
lichen Mechanismus wird damit zum Ergebnis der Selbstaufhebung
der aufgeklärten Vernunft, die das Moment der Reflexion auf ihre
natürliche Wurzel verloren hat.« 72 Durch die prinzipielle Negation
der Natur bleibt als Wesen der Wirklichkeit allein ein Mechanismus

66 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
205.
67 Ebd. 203.

68 Ebd. 204.

69 Ebd. 204.

70
Ebd. 205.
71 Ebd. 206.

72
Ebd. 207.

119

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

reiner Selbstreproduktion, die Perpetuierung eines geschichtlich ver-


wirklichten Zustandes. Wie die Gesellschaft unter dieser Prämisse auf
reine Bewahrung ausgerichtet ist, so geht aus der Perspektive des
Einzelnen jede Offenheit einer Sinnperspektive verloren:
Der »Totalitarismus« Bonalds ist nichts anderes als die Unterordnung
aller Wesen unter die Bedingungen ihrer Erhaltung. Wenn der
Mensch sein Wesen im Betrieb der Selbsterhaltung hat, dann ist die
durch Erhaltung definierte Gesellschaft notwendig total. Gerade weil
ihr Wesen die Erhaltung des Menschen ist, ist es absurd, wenn der
Mensch ihr gegenüber private Rechte geltend machen will. »In der
Gesellschaft gibt es keine Rechte, es gibt nur Pflichten« (I 725). 73
Bonalds Überwindung des Ausgangs vom Subjekt führt also nicht zu
einer Integration desselben in einen übergreifenden Zusammenhang,
sondern nur zu seiner totalitären Aufhebung.
Die abschließende These der Studie über Bonald, wonach das
»reine Funktionieren des gesellschaftlichen Mechanismus […] zum
Ergebnis der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft« 74 wird,
stellt Spaemann in einen Zusammenhang mit der kritischen Arbeit
Bonalds am Cartesianismus: »Der Traditionalismus Bonalds hat die
Abstraktheit des individuellen Cogito überwunden, aber doch nur da-
durch, daß er, im Grunde selbst auf dem Boden ›reiner‹, von Natur
getrennter Vernunft stehend, die paradoxen Konsequenzen des Car-
tesianismus sichtbar gemacht hat.« 75 Zu diesen paradoxen Kon-
sequenzen zählt Spaemann offensichtlich die Selbstaufhebung der
Vernunft und die Funktionalisierung des Denkens. Da Spaemann der
Überwindung des individualistischen ›cogito‹ durch Bonald offenbar
Sympathie entgegenbringt, ist an dieser Stelle genau zu beachten, wie
er seine Kritik an der Bonald’schen Descartes-Interpretation kon-
kretisiert:
Gerade durch seinen absoluten Gegensatz zu dem individualistischen
Cogito erweist Bonald sich als noch unter der gleichen Voraussetzung
stehend. Das Ergebnis ist paradox: Gerade weil er die in diesem Ansatz
verborgene Wahrheit nicht wahrzunehmen vermochte, wurde er zu
einem Glied in dem geschichtlichen Prozess der Vollstreckung seiner
Unwahrheit. 76

73 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 96.
74
Ebd. 207.
75 Ebd.
76
Ebd.

120

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3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens

Einen absoluten Gegensatz zu Descartes bildet Bonalds Position


durch den Ausgang von der Gesellschaft statt vom individuellen
›cogito‹ ; die gleiche Voraussetzung ist, wie oben erwähnt, die von
der Natur getrennte Vernunft. Mit Bezug auf Descartes hat Bonald
offensichtlich seine eigene Maxime, die Position, die er bekämpft,
nicht antithetisch zu widerlegen, sondern durch einen Rückgriff zu
zeigen, dass er ihre tiefere Wahrheit erkennt, nicht befolgt, sondern
ist hier gerade in einen bloß antithetischen Gegensatz verfallen.
Rätselhaft aus dem Zusammenhang der Bonald-Studie ist aber die
Anspielung auf die »in diesem Ansatz verborgene Wahrheit« 77, die
mit einer anderen Art der Vermittlung zwischen Subjekt und Welt
zu tun haben muss. Ohne Vorgriff auf spätere Stadien der Entwick-
lung von Spaemanns Denken und seiner Auseinandersetzung mit
Descartes im Besonderen könnte an dieser Stelle darüber nur speku-
liert werden. Im sechsten Kapitel wird auf diese »Wahrheit« zurück-
zukommen sein. 78

3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens

In seiner »Autobiographie in Gesprächen« kommentiert Spaemann


die Entstehung und Thematik der Bonald-Studie und verweist dabei
auf seine »von tiefer Sympathie getragene […] Kritik am funktio-
nalistischen Traditionalismus de Bonalds« 79. Es ist dabei nicht ganz
einfach, wie Zaborowski in seiner Spaemann-Monographie bemerkt,
aus dem Bonald-Buch Spaemanns eigenen Standpunkt herauszu-
lesen: »[…] we need to examine his presentation of Bonald’s thought
very carefully. Spaemann’s own standpoint is frequently hidden be-
hind that of other critics […]. It is important to read between the lines
and to analyse meticulously the point of view from which Spaemann
undertakes his own interpretative enterprise.« 80 Abschließend sei
hier der Versuch unternommen zu zeigen, welchen Aspekten des
Bonald’schen Denkens Spaemann zustimmt, welchen er dagegen kri-
tisch gegenübersteht.

77 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
207.
78
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 350.
79 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 106.

80
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 138.

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

Es ist unverkennbar, dass Spaemann die Bonald’sche Ablehnung


von Materialismus, Subjektivismus, Reduktionismus und sein damit
verbundenes Festhalten an den metaphysischen Fragestellungen der
klassischen Philosophie teilt. Die Kritik der Moderne, die sich in
Bonalds Unterscheidung einer »wahren Philosophie« von einer »mo-
dernen« 81 äußert, wird von der Bonald-Studie an ein Hauptthema des
Spaemann’schen Philosophierens. 82 Der Ausgang der Philosophie
vom isolierten Subjekt erscheint ihm ebenso als ein Irrweg wie
Bonald. Im Zusammenhang mit dieser Vorentscheidung steht als
weiterer Grundzug des Bonald’schen Denkens, der Spaemann über-
aus naheliegt, seine Transzendenzfreundlichkeit. Überwindung des
subjektiven Standpunkts bedeutet für Bonald die Öffnung für eine
substantielle Wirklichkeit außerhalb der Grenzen des eigenen Be-
wusstseins, die in Spaemanns weiterer Entwicklung als Philosoph
von der größten Bedeutung sein wird. Darüber hinaus sei auch noch
einmal auf die spezifische Denkbewegung Bonalds hingewiesen, in
der Spaemann das eigentliche Verdienst Bonalds sieht und die, wie
oben gezeigt 83, in der Verwendung konkreter dialektischer Begriffe
mit ihrer spezifischen teleologischen Struktur besteht.
Die Wurzel von Spaemanns Kritik an Bonald liegt in dessen
Ausblendung der aristotelischen »Unterscheidung von ζῆν und εὖ
ζῆν« 84, von ›Leben‹ und ›gutem Leben‹. Diese Unterscheidung zielt
auf die Spannung, die in einem Lebewesen besteht zwischen seinem
Sosein und seiner Entelechie, um deren Verwirklichung es ihm nach
Aristoteles geht, und somit auf den teleologischen Naturbegriff, der
am Beginn der Neuzeit aufgegeben wird. An seine Stelle trat die
Gleichsetzung von beidem, wie sie von Telesio und Campanella voll-
zogen wurde und bei Spinoza den für die neuzeitliche bürgerliche
Philosophie paradigmatischen Ausdruck fand: »Per realitatem et per-

81
Vgl. die Einleitung zu Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesell-
schaftstheorie de Bonalds, 103.
82 Vgl.: »Spaemann’s study on the ›maitre de la contrerévolution‹ is, not at least be-

cause of the paradigmatic character of Bonald’s philosophy, a nucleus out of which his
later thought, particularly his criticism of modernity, develops.« – Zaborowski,
Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 141.
83 Vgl. Abschnitt 3.2.4, Dialektische Begriffe und die Teleologie der Selbsterhaltung,

114–118.
84 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

203.

122

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3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens

fectionem idem intelligo.« 85 Spaemanns Kritik an der Entteleologisie-


rung, die zu einem Leitmotiv seines Denkens werden wird, findet in
der Dissertation über Bonald einen ersten Ausdruck. 86 Auch wenn
Bonald, wie oben dargelegt wurde, insofern einen teleologischen Na-
turbegriff beibehält, als Natur für ihn in der Entfaltung einer Anlage
besteht, ist Natur für ihn ihrem Wesen nach durch Selbsterhaltung
definiert: Sobald die Natur ihre Anlage entfaltet hat, geht es ihr nur
noch um die eigene Erhaltung.
Bei Bonald hat die Unterordnung des gesamten Daseins unter die Be-
dingungen seiner Erhaltung eine bereits klassische Formulierung ge-
funden: »Der Mensch, der nur hienieden ist, um die Mittel seiner
physischen und moralischen Erhaltung zu vervollkommnen …«
(I 607)
Der nihilistische Charakter dieser Formel ist Bonald selbst nicht
bewußt geworden. 87
Diese spezifisch neuzeitliche Form von Teleologie wird als wesentli-
cher Bezugspunkt seiner Kritik in der weiteren Entwicklung von
Spaemanns Denken an Bedeutung gewinnen. 88
Aufgrund des nihilistischen Charakters des Selbsterhaltungs-
gedankens, 89 der die Möglichkeit bot, die religiöse Komponente dieses
Denkens einfach zu streichen, wurde Bonald gegen seine Intentionen

85 Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 100. – Deutsch: »Unter Rea-


lität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.« – Ebd. 101.
86 Vgl. folgende Aussage Spaemanns in einem Gespräch mit Hans-Georg Nissing:

»Das Thema der Teleologie ist eigentlich der rote Faden durch alles, was ich seit dem
Buch über de Bonald geschrieben habe. Dies ist mir mehr und mehr deutlich gewor-
den. Schon bei de Bonald findet sich als Definition der menschlichen Existenz, der
Mensch sei auf Erden, um die Mittel seiner physischen und psychischen Erhaltung
zu perfektionieren. Das ist die ›Unterordnung des Daseins unter die Bedingungen
seiner Erhaltung‹. Es ist das, was ich später als ›Inversion der Teleologie‹ bezeichnet
habe. Es gibt aber etwas, das über die Erhaltung hinausgeht.« – Spaemann/Nissing,
Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 126.
87 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

203.
88 In den Studien über Fénelon »Reflexion und Spontaneität« wird Spaemann von

einer »Inversion der Teleologie« in der neuzeitlichen Ontologie sprechen, die in der
weiteren Entwicklung seines Denkens zum Ausgangspunkt seines Gegenentwurfs
wird. – Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität, 61–62, u. Teilkapitel 4.1, Bürger-
liche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142.
89 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration

(1959), 203.

123

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

zum Begründer der Soziologie. 90 »Die gesellschaftliche Funktionali-


sierung der Gottesidee ist der Angelpunkt der Ablösung der Meta-
physik als philosophia prima durch die Theorie der Gesellschaft.« 91
Die Metaphysik hört somit auf, Frage nach der ἀρχή zu sein, und
wird in ihrer gesellschaftlichen Wirklichkeit »als Funktion gesell-
schaftlicher Selbsterhaltung« 92 betrachtet: »Die endgültige Form der
Metaphysik ist so zugleich ihr Ende«. 93 Die neue Lehre ist eine »Me-
ta-Metaphysik« 94, in der Bonalds Gedanken zu Ende gedacht werden.
Die positivistische Soziologie Auguste Comtes entwirft einerseits
ganz im Sinne Bonalds eine »Mathematik der Gesetze der Gesell-
schaft« 95, um deren Stabilisierung es geht; da für das Funktionieren
der Gesellschaft die Gottesidee aber gefährlich ist, musste anderer-
seits das Wort ›Gott‹ ausgewechselt und ersetzt werden »durch den
Kult des ›Großen Wesens‹, das heißt die Symbolisierung der als To-
talität vorgestellten Menschheit« 96. Diese positivistische Soziologie
tritt auf mit dem Anspruch der prima philosophia, die die Metaphysik
abgelöst hat. Bonalds Lehre ist daher zutiefst ambivalent, da sie einer-
seits der Motivation entspringt, metaphysisch-religiösen Gedanken
zu ihrem Recht zu verhelfen, andererseits aber durch die Funktiona-
lisierung der Gottesidee zur Ermöglichung jenes »Modernismus« ge-
worden ist, »der nach dem Wort Péguys nicht glaubt, was er glaubt,
sondern für den der Glaube zur Funktion der Selbsterhaltung der
Gesellschaft geworden ist« 97.
Spaemanns Kritik zielt also auf den funktionalistischen Charak-
ter der Bonald’schen Philosophie, worin sich zugleich seine Kritik an
Joachim Ritter äußert, wie er in einem Interview selbst bemerkte:

90 Vgl.: »Bonald hat – darin liegt seine geschichtliche Bedeutung – zum ersten Mal die
Theorie der Gesellschaft als umgreifende prima philosophia an die Stelle der Meta-
physik gesetzt. Hier liegt der Ursprung der Soziologie, als deren Begründer Léon
Brunschvicg und Jean Lacroix den Vicomte de Bonald mit Recht bezeichnet haben.«
– Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
210.
91 Ebd. 184.

92 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.

93 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

211.
94 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 107.

95 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

184.
96 Ebd. 185.

97
Ebd. 192.

124

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3.2.6 Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens

Mein De Bonald-Buch ist nun ein Buch, das zwar mit viel Sympathie
für de Bonald geschrieben ist. Am Schluß aber enthält es eine Kritik an
de Bonald – und zwar am Funktionalismus: De Bonald befrage Reli-
gion, Philosophie u. a. auf ihre gesellschaftliche Funktion hin. So ist
das Buch eigentlich eine kritische Auseinandersetzung mit meinem
Lehrer. 98
Die Gemeinsamkeit zwischen Bonald und Ritter besteht darin, dass
beide von einem gesellschaftlichen Bezugssystem ausgehen, relativ
zu dem das metaphysische Denken eine Funktion zu erfüllen hat.
Eine solche Sicht widerspricht Spaemanns Philosophieverständnis,
wie Zaborowski in Bezug auf das Bonald-Buch zutreffend bemerkt:
»Spaemann criticizes this functionalistic interpretation of philosophy
because it contradicts his understanding of philosophy – as theoria
that cannot be functionalized but, rather, critically examines functio-
nal relations and rationally reflects upon what precedes any function;
that is, substantial reality.« 99 Spaemann hält fest an einem Meta-
physikverständnis, das jede funktionalistische Relativierung ablehnt
und den Bezug auf das Absolute wahrt, und sieht gerade in ihm den
Weg, um die Moderne vor sich selbst zu schützen: »Nur wenn der
absolute Inhalt des Glaubens in seiner alle geschichtliche Realisie-
rung transzendierenden Gestalt als er selbst gegenwärtig ist, vermag
sich die geschichtliche Dynamik zu entfalten, die Europa kennzeich-
net, ohne daß der Zusammenhang mit der überkommenen Substanz
verlorengehen müßte.« 100 Im funktionalistischen Denken Bonalds ist
für die Gegenwärtigkeit eines absoluten Inhaltes kein Platz. Die Ori-
entierung an diesem Inhalt wird gleichwohl Leitlinie in der weiteren
Entwicklung von Spaemanns Denken sein.

98 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
122.
99
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 161.
100 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

192–193.

125

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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos

Zum Abschluss dieses Kapitels wird ein dritter Text Spaemanns aus
den 50er Jahren thematisiert: »Zur Frage der Notwendigkeit des
Schöpferwillens Gottes« 1. Obwohl dieser Text chronologisch der erste
der drei in diesem Kapitel behandelten ist, eignet er sich als Abschluss
desselben, da er Ausblicke zu geben vermag, in welche Richtung
Spaemann in seiner philosophischen Entwicklung bereits in den 50er
Jahren zielte. Während Spaemann in seinem Vortrag aus dem Jahre
1957 das Fazit zog, dass die in die Krise geratene Metaphysik am
besten in einer Geschichtsphilosophie aufgehoben sei, die ihre Bezie-
hung zur Metaphysik bedenkt, und er in seiner Dissertation am Bei-
spiel Bonalds den funktionalistischen Charakter des modernen Den-
kens als nihilistisch wertete, bietet der frühe theologische Aufsatz
durchaus philosophische Perspektiven für ein Denken, dem es, wie
gesehen, um die unmittelbare Gegenwart des Absoluten geht.
Thema des Aufsatzes ist ein »Theologisches Paradoxon«, näm-
lich die »Unvereinbarkeit der Lehre von der Identität des Willens
Gottes […] und seines notwendigen Wesens mit der Lehre von der
Nichtnotwendigkeit der Weltschöpfung« 2. Hintergrund dieses Para-
doxons ist die Einsicht, dass die Welt schon allein deshalb nicht als
notwendige Schöpfung betrachtet werden kann, weil Gott sonst als
Schöpfer nicht frei gehandelt hätte. Wenn aber andererseits von der
Prämisse ausgegangen wird, dass Wesen und Willen Gottes identisch
sind, müsste sein Wille, die Welt zu erschaffen, Ausdruck seines We-
sens und somit notwendig sein. Das Paradoxon besteht also darin,
dass sowohl die Notwendigkeit als auch die Nichtnotwendigkeit der
Schöpfung als theologische Postulate vertreten werden können. Spae-
mann diskutiert in diesem Aufsatz die aktuelle Stellungnahme eines
Theologen zu diesem Problem, um deren Unzulänglichkeit zu zeigen
und darauf zu verweisen, dass bereits Thomas von Aquin sich mit
diesem Problem an mehreren Stellen beschäftigt hat. Der Rückbezug
auf Thomas erfolgt dabei mit dem offensichtlichen Anspruch, in Ver-
gessenheit geratene Denkweisen in Erinnerung zu rufen und ihre
unverminderte Aktualität zu betonen. Den Schlüssel zur Lösung des

1 Zuerst erschienen in: Philosophisches Jahrbuch 60 (1950), 88–92.


2
Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 236.

126

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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos

Problems bei Thomas sieht Spaemann in der Spezifik seiner Begriff-


lichkeit, die nun knapp erläutert werden soll.
Im Mittelpunkt steht der Begriff der Notwendigkeit – necessa-
rium – als Gegensatz zu Zufälligkeit bzw. Kontingenz. Der Begriff
Notwendigkeit bezeichnet zum einen in der Logik das aus dem Satz
des Widerspruchs herleitbare analytische »Verhältnis zweier Begriffe,
also etwa in dem Satz: ›Das Ganze ist größer als ein Teil desselben.‹« 3
Von anderer Art sind Aussagen, die sich auf »Konkret-Wirkliches«
beziehen:
Dann bedeutet Notwendigkeit ontologisch Übereinstimmung einer
Sache mit ihrem allgemeinen Wesen, welche Übereinstimmung inso-
fern notwendig ist, als sonst die Sache ihre Identität mit sich selbst
verlöre, also aufhörte, eine solche Sache zu sein. Der Begriff der »Not-
wendigkeit« ist hier anschaulicher als der des necessarium. Die Not
nämlich besteht in dem Hiatus von allgemeiner Essenz und indivi-
dueller Existenz im endlichen Seienden; die Überbrückung dieses Hia-
tus ist »notwendig«, um ein Seiendes zum Sein und damit zur Identität
mit sich selbst zu bringen. Alles, was dazu gehört, das »Wesentliche«
im partikularen Dasein zu realisieren, ist »notwendig«. 4
Der Begriff der Notwendigkeit wird somit verankert in der spezi-
fischen Daseinserfahrung des Menschen, für die die bewusst erlebte
Differenz zwischen Essenz und Existenz, also die Nichtidentität der
natürlichen Anlagen in ihrer gegenwärtigen Verwirklichung und des
diese transzendierenden Bewusstseins kennzeichnend ist. Nun geht
es in diesem Aufsatz ja um die Notwendigkeit des Schöpferwillens
Gottes, so dass sich die Frage erhebt, ob es überhaupt angemessen
sein kann, in Bezug auf Gott den Begriff der Notwendigkeit zu be-
mühen:
Wenn wir in Gott von Notwendigkeit reden, so setzen wir bereits je-
nen Hiatus zwischen Wesen und faktischer Existenz voraus, und un-
sere Frage geht darauf, wissen zu wollen, ob es einen Bereich von
Bestimmungen in Gott gebe, die nur seiner faktischen Existenz zu-
kämen, ohne doch aus seinem Wesen zu resultieren. Hier aber liegt
das proton pseudos der Fragestellung.
Vorausgesetzt nämlich, dass es nicht zulässig ist, in Gott diese
Realunterscheidung von Essenz und Existenz zu machen, wird zu-
nächst der strenge Begriff von Notwendigkeit hinfällig, insofern er

3 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 241.
4
Ebd. 242.

127

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.
3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

etwas mit einer zu wendenden Not zu tun hat, nämlich der zu über-
windenden Nichtidentität von Dasein und Wesen. 5
Es wäre nun aber zu einfach, die im Raum stehende Frage schlichtweg
als falsch gestellt zurückzuweisen. Denn auch wenn die Rede von
Notwendigkeit Gott nicht gerecht wird, bleibt die aus der mensch-
lichen Daseinserfahrung resultierende Perspektive, durch die die
Differenz von Essenz und Existenz in die Gegenstände des Denkens
projiziert wird. Ein Wesen, das in sich selbst die Spannung zwischen
Essenz und Existenz erlebt, kann Gegenstände seines Denkens nicht
anders denken als mit einer analogen inneren Differenz. Daher gilt,
dass Gott für uns eine entsprechende innere Differenz aufweist:
»quoad nos gibt es auch in Gott einen Unterschied zwischen ›erster
und zweiter Substanz‹, zwischen abstraktem und konkretem Be-
griff« 6:
Der abstrakte Begriff Gottes ist der des ipsum esse subsistens, wel-
chem zugleich die transzendentalen Bestimmungen des Seins zu-
kommen. Wenn nun Thomas sagt, der Schöpfungswille sei nicht not-
wendig – absolute dictum –, so besagt dies: Absolut, also losgelöst von
der Faktizität des Seins der Welt, enthält der abstrakte Begriff Gottes
nichts, das über die bloße Identität mit sich selbst, den Willen zu sich
selbst, die Erkenntnis seiner selbst hinausführte. 7
Ein konkreter Begriff Gottes dagegen kann nur aus der Schöpfung
hervorgehen, da nur durch sie – und sei es auf dem Weg der Negation
wie in der Mystik – ein konkreter Zugang des Menschen zu Gott
möglich ist. Insofern die Faktizität des Seins der Welt nicht notwen-
dig sein kann, sieht man sich bei Thomas also »in das Paradoxon zu-
rückversetzt«, da eine »Auflösung nach der Seite der Notwendigkeit
[…] nicht möglich« 8 scheint.
Die Lösung des Widerspruchs, die Thomas »mehr andeutet als
ausführlich expliziert«, besteht in »einer Distinktion im Begriffe des
Notwendigen« 9, in der Einführung des Begriffes eines »necessarium
ex suppositione«, eines »bedingt Notwendigen« 10: »Er sagt nämlich:

5 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 244.
6 Ebd.
7 Ebd. 244–245.

8
Ebd. 240.
9 Ebd. 241.

10
Ebd.

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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos

Sed facta suppositione quod Deus illud (sc. Petrum salvari) velit vel
voluerit, impossibile est eum non voluisse vel non velle … (De ver.
XXIII. 4.), d. h. unter der Voraussetzung, dass Gott tatsächlich etwas
will, ist es unmöglich, dass er dieses nicht will.« 11 ›Bedingte Notwen-
digkeit‹ bedeutet somit nicht, dass die kontingente Faktizität des Da-
seins aus menschlicher Perspektive aufgehoben würde und in ein not-
wendiges Wesen verwandelt würde; ›bedingte Notwendigkeit‹
bedeutet, dass die aus unserer Sicht – quoad nos – kontingente Fak-
tizität nicht aus Gottes Sicht nicht gewollt sein kann:
Wie nun schon nur Gott vom endlichen Individuum eine Idee besitzt,
so hat erst recht nur Gott selbst von sich eine konkrete Idee, welche
freilich mit seinem »Wesen« identisch ist. Die Dialektik dieser Idee
wird uns jedoch nur ex suppositione sichtbar, nämlich unter der Vo-
raussetzung der Faktizität des kontingenten Daseins, welches wir nun
seinerseits hinwiederum ex suppositione als ein necessarium bezeich-
nen müssen, wobei ich es vorziehen möchte, necessarium wörtlich mit
»unausweichlich« anstatt mit notwendig zu übersetzen. 12
Das ›necessarium ex suppositione‹, das ›bedingt Notwendige‹, ist also
eine Formel, mit der die aufgrund unserer spezifischen Daseinserfah-
rung – quoad nos – im eigentlichen Sinne notwendige Paradoxie der
Identität von Natur und Wille Gottes und der Nichtnotwendigkeit
der Schöpfung überwunden werden kann. Dabei weist das ›ex sup-
positione‹ auf die Differenz zwischen menschlicher und göttlicher
Perspektive hin. Das ›ex suppositione‹ drückt eine Teilhabe an der
göttlichen Perspektive seitens eines Wesens aus, das sich selbst als
kontingentes Sosein erlebt. In der menschlichen Perspektive auf sich
selbst, auf die Welt und durch diese auf Gott ist eine unaufhebbare
Paradoxie enthalten. Die Überwindung des Widerspruchs, von dem
der Gedankengang in dem Essay ausging, ist überhaupt nicht argu-
mentativ leistbar, sondern nur durch den Verweis auf die Faktizität
des Seins der Welt:
Wenn die Frage nach der Notwendigkeit des Schöpfungswillens nach
dem Enthaltensein dieses Willens in unserem Begriff des Wesens Got-
tes, mit anderen Worten nach der Deduzierbarkeit fragt, so muss sie
strikte verneint werden. Ist jedoch nach dem »wirklichen«, d. h. kon-
kreten Wesen Gottes als des Schöpfers gefragt, so ist die Frage inso-

11 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 243.
12
Ebd. 245.

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3 Die Krise der Philosophie und Ansätze eines Gegenentwurfs

fern sinnlos, als dieses faktische Wesen Gottes ja eben dadurch mit
definiert ist, dass er der Schöpfer ist. 13
Abschließend weist Spaemann darauf hin, dass »das innere Verhält-
nis von abstraktem und konkretem Wesen Gottes« 14, das trotz der
Aufhebung des Widerspruchs ex suppositone noch ungeklärt ist, nur
durch eine Spekulation über die Trinität zu thematisieren ist, 15 was
hier nicht weiterverfolgt werden kann.
Inwiefern haben nun die theologischen Überlegungen dieses
frühen Aufsatzes Spaemanns eine Aussagekraft in Bezug auf philoso-
phische Fragestellungen, denen sich Spaemann in der Entfaltung sei-
nes Denkens in den folgenden Jahrzehnten widmete? Die Bedeutung
dieses Aufsatzes ist nach meiner Einschätzung darin zu sehen, dass in
ihm zum einen Begriffsdistinktionen durchdacht werden, die später
im Rahmen von Spaemanns Personendenken von Bedeutung sein
werden, dass zum anderen sich eine strukturelle Eigenart seines
künftigen metaphysischen Denkens zeigt. Die »Realunterscheidung
von Essenz und Existenz« 16, von der Spaemann hier spricht, wird eine
zentrale Rolle spielen in seinen anthropologischen Überlegungen, für
die die Anknüpfung an Thomas von Aquin von bleibender Bedeutung
sein wird. Auch von der Person gibt es keine θεωρία und die Person
kann ihre innere Differenz – ihre Distanz zu einem kontingenten
Wesen – nur in der Paradoxie eines necessarium ex suppositione den-
ken, in der das ›ex suppositione‹ sich aus dem Übersteigen der eigenen
Perspektive ergibt. Philosophisch eingeholt wird dieser Gedanke erst
in den Schriften Spaemanns der 80er und 90er Jahre. 17 Zum anderen
lässt die Argumentationsstruktur dieses Aufsatzes, in dem es darum
geht, die Auflösung des genannten Paradoxons zu vermeiden und
vielmehr nach einem Horizont zu suchen, vor dem dieses Paradoxon
als notwendig erscheint, eine Eigenart von Spaemanns Denken her-
vortreten. Durch eine Reflexion auf die Grenzen rationaler Argu-
mentation gelangt er zu einem – vielleicht mit dem Begriff ›existen-
tiell‹ am besten bezeichneten – Denken, für das die Einbeziehung des
sich dem Begriff Entziehenden in den vernünftigen Diskurs konstitu-

13 Spaemann, Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpferwillens Gottes (1950), 245.
14 Ebd.
15 S. ebd. 246–247.

16
Ebd. 244.
17 S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen

Ethik, 415–508, u. Kapitel 6, Ontologie der Person, 509–650.

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3.3 Das Absolute an sich und quoad nos

tiv wird. Diese bei Spaemann offenbar im Religiösen wurzelnde Be-


sonderheit seines Denkens wird sich in seiner weiteren Entwicklung
in dezidiert philosophischen Positionen immer wieder zeigen.

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4 Studien über Fénelon:
Das Denken der Selbsttranszendenz

Im Mittelpunkt des vierten Kapitels stehen ausschließlich die unter


dem Titel »Reflexion und Spontaneität« im Jahre 1963 1 veröffent-
lichten Studien über Fénelon, mit denen Spaemann sich 1962 habili-
tierte. François de Salignac de la Mothe-Fénelon (1651–1715) stu-
dierte Theologie am Pariser Priesterseminar St. Sulpice, war ab 1689
Erzieher des Enkels Ludwigs XIV. und ab 1695 Erzbischof von Cam-
brai im Norden Frankreichs. Er verfasste im Rahmen seiner pädago-
gischen Tätigkeit unter anderem den Abenteuer- und Bildungsroman
»Les aventures de Télémaque« und ist darüber hinaus Autor theologi-
scher Werke. Von Bonald wurde Fénelon – ebenso wie dessen För-
derer und späterer Gegner Bossuet – zu den Vertretern der »wahren«
Philosophie gezählt 2 und als »natürlicher«, d. h. vollkommener
Mensch verehrt. 3 Spaemanns Interesse an ihm konzentriert sich auf
die »querelle«, die Kontroverse zwischen Fénelon und dem Bischof
von Meaux Bossuet (1627–1704) um den »amour pur«, den »letzten
theologischen Streit, der im gebildeten Europa allgemein Anteil-
nahme« 4 fand.
Hintergrund des Streits ist die in der zweiten Hälfte des 17. Jahr-
hunderts aufgekommene Bewegung des Quietismus, die mystisches
Gedankengut in adeligen Kreisen verbreitete:
Zum einen wurde hier die höchste Stufe mystischer Kontemplation
sozusagen in Schnellkursen für jedermann angeboten, was in Titeln
wie »Pratique facile pour élever l’âme à la contemplation en forme de
dialogue« (F. Malaval, Paris 1664) oder »Moyen court et très facile
pour l’oraison« (Mme de Guyon, Grenoble 1685) anklingt. Zum ande-

1 Zweite erweiterte Auflage 1990.


2 Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration
(1959), 35.
3 Vgl. ebd. 70.

4
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 16.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

ren sollte diese privilegierte Form der Gottesnähe erreicht werden


durch den Verzicht auf jede Anstrengung. In der »orazione di quiete«,
auch »orazione passiva« genannt, sollte die Seele sich aller Akte der
Meditation und diskursiven Kontemplation enthalten, um dem Wir-
ken Gottes in ihr nicht durch menschliche Eigeninitiative zuvor-
zukommen. 5
In der kontroversen öffentlichen Diskussion um den Quietismus trat
Fénelon mit seiner »Explication des Maximes des Saints sur la vie
intérieure« (1697) als Verteidiger der Quietistin Mme de Guyon auf
und zog sich damit die Feindschaft Bossuets zu, der ihn öffentlich
angriff und die Verurteilung seiner Verteidigungsschrift durch Rom
betrieb. Äußerlich endete der Streit mit der Niederlage Fénelons in
der Verurteilung seiner »Maximes des Saints« durch Papst Inno-
zenz XII. im Jahre 1699. Mit diesem Urteil war jedoch das Problem,
das in dem Streit zutage trat, keineswegs gelöst und daher geht es
Spaemann in seinen Studien um zweierlei: um die philosophie-
geschichtliche und um die philosophische Bedeutung dieses Streits
und der Lehre Fénelons. An dieser Stelle soll ein erster Ausblick auf
diese beiden Seiten seines Interesses gegeben werden.
Der Zentralbegriff der Kontroverse zwischen Fénelon und Bos-
suet ist der »amour pur« und für das Verständnis sowohl der philoso-
phiegeschichtlichen wie der philosophischen Bedeutung des Problems
ist es grundlegend zu sehen, wie die reine Liebe zum Gegenstand
eines theologischen Streits werden konnte.
Im Streit um den »amour pur« geht es um die Möglichkeit einer rei-
nen, d. h. einer von jedem Eigeninteresse freien Gottesliebe. Während
für Bossuet die Liebe zu Gott untrennbar mit der Hoffnung auf die
ewige Seligkeit verbunden war, schien Fénelon die Gottesliebe solange
unvollkommen, solange sie sich von der Reflexion auf das durch sie zu
erlangende Heil nicht gelöst hat. 6
Im Kern geht es also um die Frage, ob das individuelle Heilsverlangen
des Menschen in einen Gegensatz tritt zum Gottesglauben als einer
die Grenzen des Individuellen überschreitenden Orientierung oder ob
beides miteinander vereinbar ist. Noch grundsätzlicher aufgefasst
geht es auf der einen Seite um eine mit den Begriffen Reflexion und
Interesse verbundene Befangenheit in den Grenzen des Subjekts und

5 Nickl, Quietismus, in: HWPh VII, col. 1835.


6
Ebd.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

auf der anderen Seite um eine mit dem Begriff Liebe verbundene
absolute Selbsttranszendenz. In dem Streit ging es somit um die Fra-
ge, ob eine absolute Selbsttranszendenz in der reinen Liebe möglich
ist oder ob jede menschliche Liebe, auch die zu Gott, in den Grenzen
des Subjekts verbleiben muss, weil das, was geliebt wird, nie die Sache
selbst ist, sondern immer nur ein subjektives Bild derselben bleibt.
Zunächst soll nun der philosophiegeschichtliche Aspekt dieser
Fragestellung kurz beleuchtet werden. Die Studien über Fénelon kön-
nen als eine Fortsetzung der in der Dissertation über Bonald begon-
nenen Arbeit gelesen werden. In der Französischen Revolution wurde
eine Entzweiung gesellschaftliche Realität, deren Wurzeln weiter in
die Vergangenheit zurückreichen. Fénelons Bedeutung besteht in den
Augen Spaemanns darin, dass »er vielleicht als erster Theologe […]
die Frage nach der Möglichkeit christlicher Existenz unter den Bedin-
gungen der Entfremdung gestellt hat« 7, dass er »das Problem christ-
licher Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Ent-
zweiung gestellt hat« 8. Konkret stellt sich also die Frage, inwiefern im
Streit um den amour pur jene Entzweiung vielleicht zum ersten Mal
klar zutage tritt, die später in der Französischen Revolution gesell-
schaftliche Realität wurde.
Wenn die Lehre von der Caritas, die in der katholischen Schultheolo-
gie bereits eine außerordentlich differenzierte Ausbildung seit Jahr-
hunderten besaß, plötzlich zum Anlaß eines Europa bewegenden
Streits wurde, so kann der Grund dafür nur gefunden werden, wenn
man fragt, inwiefern das allgemeine philosophische Denken der Zeit
und ihr Lebensgefühl Wandlungen erfahren hat, in Anbetracht deren
bestimmte alte Antworten nicht mehr als Antworten auf die eigenen
Fragen erscheinen. 9
Bossuet und Fénelon teilen Denkvoraussetzungen, durch die ein in
der mittelalterlichen Theologie argumentativ auflösbares Problem in
eine Aporie führen kann, deren Ausblendung auf der Seite Bossuets
erhebliche theologische und kirchengeschichtliche Konsequenzen ha-
ben sollte, deren Annahme auf der Seite Fénelons dagegen zur In-
fragestellung des menschlichen Denkens selbst führte. Das philo-
sophiehistorische Interesse Spaemanns in den Studien über Fénelon
besteht darin, diese Denkvoraussetzungen des 17. Jahrhunderts als

7
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 21.
8 Ebd. 23.
9
Ebd.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Ursprung der fortwirkenden Entzweiung zu erforschen und damit


gegenüber der Studie über Bonald das dort bereits zutage getretene
Problem fundamental an seinen historischen Wurzeln anzupacken.
So wie aber auch schon die Studie über Bonald mit der Kritik
Spaemanns an dessen Funktionalismus zu einer impliziten Kritik an
der hermeneutischen Methode Ritters wurde, so liegt den Studien
über Fénelon über das philosophiehistorische Interesse hinaus ein ge-
nuin philosophisches am »absolute[n] Inhalt des Glaubens in seiner
alle geschichtliche Realisierung transzendierenden Gestalt« 10 zu-
grunde. Während die philosophiehistorisch ermittelbaren Denk-
voraussetzungen von Fénelon und Bossuet geteilt werden, entsteht
der Streit zwischen beiden eigentlich erst dadurch, dass Fénelon im
Unterschied zu Bossuet an tradierten Glaubensüberzeugungen fest-
hält, die mit den erwähnten Denkvoraussetzungen nicht vereinbar
sind und ihn zu radikalen Konsequenzen zwingen. Gerade diese pa-
radoxe Verbindung von Denkvoraussetzungen, die ihn als Kind sei-
ner Zeit erscheinen lassen, mit der bewahrten Orientierung am Ab-
soluten, die als das »Schimärische« 11 seiner Lehre bezeichnet wurde,
liegen dem eigentlich philosophischen Interesse Spaemanns an Féne-
lon zugrunde.
Fénelons Lehre ist in ihrem gedanklichen Kern ebenso einfach
wie in ihren Implikationen und Auswirkungen verschlungen. Mit
folgenden gedanklichen Schritten wird in diesem Kapitel versucht,
das Fénelon’sche Denken zu umkreisen und seine Eigenart hervortre-
ten zu lassen: Um die erwähnten geistigen Voraussetzungen sowohl
der Fénelon’schen Lehre als auch des Streits mit Bossuet zu verste-
hen, sollen zunächst die bürgerliche Ethik und nichtteleologische
Ontologie des 17. Jahrhunderts skizziert werden (4.1), vor deren
Hintergrund dann Fénelons in mystischer Tradition stehende Lehre
als ›kleine Mystik‹ in ihrem Grundzug und in ihren wesentlichen
theoretischen Leistungen dargestellt werden kann (4.2). Um seine
Lehre stärker diskursiv zu umreißen, folgen anschließend im Hin-
blick auf Descartes, auf Leibniz und Malebranche sowie auf Thomas
von Aquin Ausführungen zur philosophiegeschichtlichen Verortung

10 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
192.
11 Dieses Schlagwort geht zurück auf die Jansenisten, die von den »schimärischen

Prinzipien« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 17 – in Bezug auf Féne-


lons Lehre sprachen. Spaemann verweist dazu in einer Anmerkung – ebd. 309 – auf
eine Schrift des jansenistischen Theologen und Philosophen P. Nicole (1625–1695).

136

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

seiner Lehre (4.3). Im nächsten Schritt wird der Blick gelenkt auf die
Folgen der Niederlage Fénelons im Streit mit Bossuet für die katho-
lische Kirche und auf den Sieg des Fénelonismus in der Philosophie
Kants und anderer (4.4). Aufbauend auf dieser Untersuchung der
weit reichenden philosophiegeschichtlichen Vernetzung Fénelons soll
auf einer Metaebene die Perspektivik von Spaemanns Studie und da-
mit ihre wissenschaftliche Methode betrachtet werden, um die ge-
schichtsphilosophische Bedeutung dieser Studien über Fénelon he-
rauszuarbeiten (4.5). Abschließend wird Spaemanns Gesamtdeutung
des Phänomens Fénelon nachgezeichnet, wobei sowohl die Größe als
auch die Grenzen Fénelons beleuchtet werden (4.6).

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4.1 Bürgerliche Ethik und
nichtteleologische Ontologie

Das zweite Kapitel der Studien über Fénelon widmet sich unter dem
Titel »Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische
Ontologie« den oben erwähnten Denkvoraussetzungen der beiden
Kontrahenten im Streit um den amour pur. Ausgangspunkt ist hier
die Frage »nach dem sachlichen Hintergrund jenes Zerwürfnis-
ses […], das über einer Frage entstand, über die schließlich bereits
eine jahrhundertealte hochdifferenzierte und von Fénelon ebenso
wie von Bossuet anerkannte Lehrtradition vorlag.« 1 Den im 17. Jahr-
hundert zutage tretenden Wandel des Bewusstseins, durch den die
»schroffe[ ] Entgegensetzung von amour propre und amour pur de
Dieu« 2, Eigenliebe und reiner Gottesliebe, möglich wurde, fasst Spae-
mann unter folgenden beiden Aspekten: »1. das nichtteleologische
Verständnis der Natur und des Menschen als Naturwesen, 2. die
Selbstreflexion des Subjekts als Ausgangspunkt der Metaphysik wie
der Ethik und – damit zusammenhängend – die Umschmelzung der
Philosophie in die Form des Systems.« 3 Im Folgenden sollen beide
Aspekte knapp erläutert und ihre Bedeutung im amour-pur-Streit
dargelegt werden.
Die nichtteleologische Ontologie fand ihren paradigmatischen
Ausdruck in dem oben im Zusammenhang mit Bonald 4 bereits zitier-
ten Satz Spinozas: »Per realitatem et perfectionem idem intelligo.« 5
Ebenso wie in der Bonald-Studie stellt Spaemann in den Studien über
Fénelon diesem Satz die aristotelische Unterscheidung von Sein und
Vollkommenheit bzw. Leben und gutem Leben (ζῆν und εὖ ζῆν) ge-
genüber. Die Vollkommenheit erscheint dem Sein gegenüber als
»zweite Wirklichkeit«:
Diese zweite Wirklichkeit aber hat ihrerseits wiederum teleologische
Struktur, denn sie wird als »Tätigkeit« bestimmt. Drei Axiome des

1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 58.


2 Ebd. 59.
3 Ebd. 59–60.

4
Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 122–123.
5 Spinoza, Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt, 100. – Deutsch: »Unter Rea-

lität und Vollkommenheit verstehe ich dasselbe.« – Ebd. 101.

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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie

mittelalterlichen Aristotelismus genügen, um diese Struktur schema-


tisch zu kennzeichnen. Das erste Axiom lautet: »Alles Seiende ist um
seiner ihm eigenen Tätigkeit willen.« 6 Das zweite Axiom lautet: »Die
Tätigkeit ist die höchste Vollkommenheit eines Dinges« 7, das dritte:
»Alles wirkt um eines Zieles willen.« 8 Das, was ist, hat sein Worum-
willen in einer ihm entsprechenden, durch sein Sein vorgezeichneten
Tätigkeit. Diese Tätigkeit ist gegenüber dem bloßen Vorhandensein
des tätigen Subjekts eine zweite, potenzierte Wirklichkeit. Die Tätig-
keit ihrerseits geschieht um eines Zieles willen, in dessen tätiger Er-
reichung sich das Wesen dessen, was ist, erfüllt. 9
Der Unterscheidung liegt also das Potenz-Akt-Schema zugrunde, wo-
durch das Einzelding nicht einfach mit sich identisch, sondern auf
eine Entfaltung seiner Anlagen ausgerichtet ist. Diese teleologische
Interpretation der Natur und des Menschen wurde zu Beginn der
Neuzeit »geopfert […] als gottgeweihte Jungfrau, die nichts ge-
biert« 10. An die Stelle dieser teleologischen Interpretation der Natur
tritt in der Neuzeit ein funktionalistisch auf Selbsterhaltung aus-
gerichteter Naturbegriff, der bereits in der Bonald-Studie themati-
siert wurde 11 und nun von Spaemann auf den Begriff »Inversion der
Teleologie« gebracht wird:
An die Stelle der dynamisch-teleologischen Struktur, kraft deren alles,
was ist, auf eine ihm gemäße Tätigkeit, diese Tätigkeit aber ihrerseits
auf die Realisierung eines spezifischen bonum ausgerichtet ist, tritt
nun eine Inversion der Teleologie: Das Sein steigert sich nicht zum
Tätigsein, sondern die Tätigkeit ihrerseits hat zum alleinigen Ziel die
Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist. Es ist wiederum Spinoza, der
dieser Ontologie den klassischen Ausdruck verliehen hat, wenn er das

6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Sum. theol. III,
qu. 9, art. 1. Vgl. Aristoteles, De caelo II, 3. 286a. Vgl. auch Sum. theol. I, qu. 105,
art. 3: »Die Form, die die erste Wirklichkeit ist, ist um ihrer Tätigkeit willen, welche
die zweite Wirklichkeit ist.« – Ebd. 317.
7 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 73, art. 1, und I, II,

qu. 3, art. 2. – Ebd. 317.


8 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 44, art. 4. – Ebd. 317.

9 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 60–61.

10 Ebd. 61. – Spaemann zitiert hier frei Francis Bacon, ein Zitat, das in seinen späteren

Schriften leitmotivisch zur Kennzeichnung der antiteleologischen Philosophie wie-


derkehrt. Als Quelle des Zitats verweist er auf: De augmentis scientiarum, lib. III,
cap. 5, in: The Works of Lord Bacon II, London 1841, S. 340: »Denn die Untersuchung
von Zweckursachen ist unfruchtbar, und sie gebiert, wie eine gottgeweihte Jungfrau,
nicht.« – Ebd. 317.
11
Vgl. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 111–114.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Seiende schlechterdings durch diese Inversion, d. h. durch Erhaltung


seiner selbst definiert: »Das Bestreben, wodurch jedes Ding in seinem
Sein zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen der Dinges
selbst.« 12
Spaemann betont, dass sowohl Bossuet als auch Fénelon »mehr oder
weniger unausdrücklich auf dem Boden der neuen Philosophie« ste-
hen und Fénelon »die klassische Potenz-Akt-Theorie« 13 ablehnt. Für
die Kontroverse um den amour pur folgt daraus zunächst, dass eine
reine Selbsttranszendenz angesichts der vollständigen »Unterord-
nung des Daseins unter die Bedingungen seiner Erhaltung« 14 aus der
menschlichen Natur nicht hervorgehen kann und nur von außen
kommend, d. h. als Gnadengeschehen denkbar ist.
Wie dem teleologischen Naturverständnis eine Ethik korrespon-
diert, die eine Reflexion über das ›bloße Leben‹ hinaus auf das ›gute
Leben‹ voraussetzt, so ist die praktische Konsequenz einer Ontologie
der Selbsterhaltung »die bürgerliche Ethik des 16. und 17. Jahrhun-
derts, die sowohl in ihrer stoischen wie in ihrer epikuräischen Vari-
ante eine individualistisch-egozentrische Ethik ist und das Sittliche
aus dem Streben nach Selbsterhaltung oder nach Lustgewinn her-
leitet.« 15 Bei dieser die »Philautie« 16 legitimierenden Ethik handelt
es sich um eine eudämonistische Ethik, die sich dennoch grundlegend
unterscheidet von eudämonistischen Ethiken der Antike oder des
Mittelalters. Als eudämonistische Ethiken bezeichnet man allgemein
solche, die in der Glückseligkeit das Ziel des menschlichen Handelns
bzw. im Streben nach Glückseligkeit den Grund der Sittlichkeit sehen.
Im Rahmen der antiken und mittelalterlichen Philosophie wurde
diese Orientierung an der menschlichen Glückseligkeit nicht zum
Problem. 17 Dies ändert sich im neuzeitlichen Denken, wenn der Eu-
dämonismus in den Verdacht gerät, Ausdruck einer egozentrischen

12 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 61. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Spinoza, Ethica III, Prop. VII. Opera II. S. 146. – Ebd. 317. – Vgl.
Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959), 66,
u. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 112.
13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 63.

14 Ebd. 62.

15 Ebd. 30.

16 Ebd. 65.

17
Vgl. die Ausführungen zu Spaemanns Stuttgarter Antrittsvorlesung unter dem
Titel »Die zwei Grundbegriffe der Moral« in Abschnitt 5.3.2, Das Absolute in ethi-
scher Perspektive, 304–313.

140

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4.1 Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie

Haltung zu sein, die nur überwunden werden kann durch das Ab-
sehen vom eigenen Interesse und somit durch einen guten Willen,
den Kant in seiner Pflichtethik in den Mittelpunkt stellt. Das 16. und
17. Jahrhundert stellt in dieser Entwicklung einen Übergang dar mit
einer »bürgerlichen Philosophie […], die in ihren großen systemati-
schen Vertretern die Ethik gerade im Ausgang vom Interesse neu zu
begründen bestrebt ist« 18. Es liegt auf der Hand, dass Selbsttranszen-
denz bzw. die Möglichkeit einer reinen Gottesliebe mit einer in die-
sem Sinne eudämonistischen Ethik kaum vereinbar sein dürften.
Dass die »Selbstreflexion des Subjekts« 19 Ausgangspunkt des
Denkens sowohl in der Metaphysik als auch in der Ethik ist, zeigt sich
also dort am Selbsterhaltungsparadigma, hier am Prinzip der Phil-
autie. Darüber hinaus dringt, wie Spaemann zeigt, mit dem Ausgang
von der Selbstreflexion des Subjekts der aus neuzeitlicher Sicht
selbstverständlich erscheinende Begriff des Systems erst im 17. Jahr-
hundert »aus der Astronomie und Musik in die philosophische und
theologische Terminologie« 20 ein: »Die Entstehung dieses Begriffs,
der gewöhnlich von zeitgenössischen Autoren durch die Kohärenz
von Aussagen untereinander und ihre Ableitung von einem gemein-
samen ›Prinzip‹ definiert wird, zeigt eine tiefgreifende Wandlung des
Denkens, die keineswegs ohne Bedeutung für dessen Inhalt ist.« 21
Indem in der beginnenden Neuzeit bei Telesio und Campanella die
Selbsterhaltung zum höchsten Gut wird, ergibt sich die Möglichkeit
einer »systematische[n] Ableitung aller Tugenden aus einer Wurzel«,
womit »zum erstenmal ein ›System‹ der Ethik« 22 entsteht. Damit ist
eine Verwandlung des philosophischen Denkens im Allgemeinen zu
einer Subjektphilosophie eingeleitet: »Die Interpretation aller phi-
losophischen Aussagen zu einem homogenen Ganzen ist die Folge
einer Vermittlung aller dieser Aussagen durch die Reflexion des Sub-
jekts.« 23 Auch in diesem Zusammenhang dürfte deutlich sein, dass die
»theozentrische Einheit« 24, um die es beim Gedanken einer reinen,

18 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 81. – Spaemann nennt an anderer


Stelle als solche großen systematischen Vertreter Telesio, Campanella und Spinoza. –
Vgl. ebd. 46.
19 Ebd. 59.

20 Ebd. 68.

21 Ebd.

22
Ebd. 67.
23 Ebd. 68.

24
Ebd. 45.

141

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

von Selbstsucht freien Gottesliebe gehen muss, zu dieser Subjektzen-


trierung in einem direkten Gegensatz steht. 25

25 Das Kapitel »Voraussetzungen: Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontolo-


gie« aus »Reflexion und Spontaneität« wurde 1976 in dem von Hans Ebeling heraus-
gegebenen Band »Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Mo-
derne« neben anderen Beiträgen zu diesem Thema unter anderem von Dieter
Henrich, Hans Blumenberg und Günther Buck wieder abgedruckt und kritisch erör-
tert. So schreibt Hans Ebeling in der »Einleitung: Das neuere Prinzip der Selbsterhal-
tung und seine Bedeutung für die Theorie der Subjektivität«, Spaemann wecke mit
seinem Beitrag zu diesem Thema »den Sinn für das mögliche neue und tatsächlich
ganz veränderte Selbstverständnis von ›Selbsterhaltung‹ in der frühen Neuzeit«
»durch eine These, die zunächst plausibel erscheint: die Lehre vom Ziel wird umge-
dreht, und eben dadurch Selbsterhaltung als Ziel zugänglich. Damit ist ein Neues
anerkannt. Doch es wird darauf reduziert, die bloße Umdrehung eines Alten zu sein.
Das Neue ist bestenfalls Schwundstufe, ein herabgekommenes Altes, das aus Mangel
an Perspektive auf das starrt, was vorher nur von untergeordneter Bedeutung war,
und aus diesem Mangel heraus das Leben als Überleben zum einzigen Interesse er-
hebt. Die Inversion der Teleologie, die Spaemann aufdecken will und deren konstitu-
tive Bedeutung für das neuzeitliche Verständnis der Selbsterhaltung er betont, er-
schließt positiv, daß ›Selbsterhaltung‹ im Prozeß der Ablösung von Denkschemata
primär der christlichen Theologie aufhört, eine untergeordnete Rolle zu spielen. Aber
die These bestimmt die neue Rolle der Selbsterhaltung nicht ihrerseits positiv.« –
Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 21. – Hans Blumenberg bemerkt in dem-
selben Band: »R. Spaemann hat […] den Begriff der Selbsterhaltung als Inversion der
Teleologie darzustellen gesucht. Diese Inversion erweist sich aber als bloße Reduktion
der aus der aristotelisch-scholastischen Metaphysik stammenden Unterscheidung von
actus primus und actus secundus. […] Die Begriffsgeschichte von ›Selbsterhaltung‹
ist weder aus der stoischen Rezeption noch aus der Reduktion aristotelisch-scholasti-
scher Teleologie und Actus-Lehre zureichend darzustellen.« – Blumenberg, Selbst-
erhaltung und Beharrung, in: Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 144–145. –
Günther Buck schließlich schreibt: »R. Spaemann hat diesen Prozeß [den der Ent-
teleologisierung], um zu betonen, daß durch ihn die Kategorie des Telos nicht einfach
eliminiert wird, treffend als ›Inversion der Teleologie‹ charakterisiert: Für die mittel-
alterliche teleologische Ontologie wie für den nicht weniger teleologisch denkenden
nachmittelalterlichen Platonismus erfüllt sich das Sein eines jeden Seienden in einer
ihm gemäßen Tätigkeit, die auf die Realisierung eines bestimmten Zieles aus ist. […]
Die neuzeitliche Inversion der Teleologie ließe sich demnach so bestimmen: Das
menschliche Sein ›steigert sich nicht zum Tätigsein, sondern die Tätigkeit ihrerseits
hat zum alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin schon ist‹. Diese Bestim-
mung des neuzeitlichen Prinzips der Selbsterhaltung scheint mir indessen das Wesen
dieser Inversion, ihre implizite Dialektik, nicht recht zu treffen. […] Die ›Inversion
der Teleologie‹ kann, ausdrücklich oder unausdrücklich, kaum den Sinn gehabt haben,
das Denken und Handeln des Menschen auf die Stufe einer Kategorie zu reduzieren,
die sich für das Verständnis gerade des außermenschlichen (tierischen) Lebendigen
immer schon aufgedrängt hatte. Die teleologische – und d. h.: theologische – Ontolo-

142

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4.2 Reflexion und Spontaneität in
Fénelons ›kleiner Mystik‹

Ausgangspunkt des Streits mit Bossuet war, wie erwähnt, Fénelons


Verteidigung der quietistischen Mystikerin Mme Guyon in den »Ma-
ximen der Heiligen«, mit denen er versuchte, »den wahren Sinn der
Aussagen der Mystiker von den quietistischen Mißdeutungen zu un-
terscheiden und sie durch eine orthodoxe Interpretation zu ›retten‹« 1.
Als »Theoretiker der Mystik« entwickelte er so eine »kleine Mystik«,
in der es in erster Linie um konkrete praktische Umsetzbarkeit und
»ein konsequentes Ausscheiden alles theoretischen und spekulativen
Inhalts aus der Mystik« 2 ging. Nach der Verurteilung seiner »Ma-
ximes des Saints« durch Papst Innozenz XII. im Jahre 1699 war Féne-
lon viel daran gelegen, den Eindruck zu vermeiden, dass Bossuet in
der Sache gewonnen hätte und seine Lehre von der reinen Liebe als
Irrlehre überführt wäre. Zwar akzeptierte Fénelon unumwunden die
Verurteilung durch den Papst, blieb dabei jedoch davon überzeugt,
»die Kirche habe die ›reine Liebe‹ nie verurteilt, sondern deren un-
zulängliche Darstellung in den ›Maximen der Heiligen‹« 3. Mit Bezug
auf eine von Bossuet in kirchlichem Auftrag verfasste Schrift, die eine
Art offiziellen Abschluss der Affäre darstellen sollte 4, stellte Fénelon
mit Entschlossenheit und ungemindertem Kampfesgeist fest: »Actum
esset de illo purissimo igne, quem dominus Jesus voluit vehementer

gie wird nicht biologisch destruiert.« – Buck, Selbsterhaltung und Historizität, in:
Ebeling, Subjektivität und Selbsterhaltung, 216–217. – Eine Entgegnung auf die hier
von verschiedenen Seiten vorgetragene Kritik an Spaemanns Konzeption der Inver-
sion der Teleologie ist nur möglich auf der Grundlage der positiven Ausdeutung der
Subjektivität im neuzeitlichen Verständnis durch Spaemann. Nach der hier vorgeleg-
ten Interpretation gewinnt diese ihre endgültige Gestalt aber erst mit der Ontologie
der Person, die Gegenstand des achten Kapitels sein wird. Insofern Teilkapitel 12.1 im
Sinne einer retrospektiven Illumination Spaemanns Auseinandersetzung mit dem
Teleologie-Problem noch einmal vom Standpunkt seiner hier vor allem in den Kapi-
teln sechs bis neun zu entwickelnden Ontologie beleuchten wird, soll dort noch ein-
mal Bezug genommen werden auf die hier zitierte Kritik seiner Konzeption. – Vgl.
Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleo-
logischen Denkens‹, 878–879, Fn. 32.
1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 28.

2
Ebd. 29.
3 Ebd. 35.

4
Vgl. ebd. 37.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

accendi, et quem extinctum Meldensis vellet.« 5 Aus Fénelons Sicht


stand in diesem Streit nicht sein eigenes Ansehen auf dem Spiel, son-
dern »die Substanz des Christlichen« 6. Daher griff er nach der Ver-
urteilung wieder zur Feder, um den »sensus autoris« 7, also den von
ihm eigentlich intendierten Sinn der Maximen, der von der kirch-
lichen Interpretation nicht erkannt worden war, deutlich zu machen.
Dieses Vorhaben realisierte er in seiner »Dissertatio de amore puro«,
die Spaemann als »reifste Darstellung« 8 seiner Lehre bezeichnet und
zum Ausgangspunkt ihrer Darlegung macht.
Fénelon ist der »Lehrer der reinen Liebe, der nur diese Lehre als
›mein System‹ bezeichnet« 9. Sein gesamtes Denken geht hervor aus
»diesem Gedanken, dem einzigen Fénelons« 10, weshalb es zunächst
von zentraler Bedeutung ist, diesen sowohl in seiner Einfachheit als
auch in seiner Komplexität zu verstehen. »Amour pur, das bedeutete:
Aufhebung jeder naturhaften Unmittelbarkeit, aber auch der Refle-
xion, die in der Zerstörung der ersten Unmittelbarkeit selbst noch
ihren Inhalt aus dieser empfängt.« 11 Diese Bestimmung des amour
pur deutet einen Dreischritt an: Es gibt erstens eine naturhafte Un-
mittelbarkeit, zweitens deren Zerstörung durch die Reflexion und
drittens die Überwindung der Reflexion, die dann den Namen der
reinen Liebe trägt. Dieser Dreischritt stellt also ein Entwicklungs-
modell dar, das sowohl geschichtsphilosophisch als auch pädagogisch
verstanden werden kann. Im pädagogischen Verständnis stellt der
»Geist der Kindheit« 12 die Stufe der naturhaften Unmittelbarkeit dar,
wohingegen die geistige Disposition eines normal entwickelten Er-
wachsenen die Stufe der Reflexion darstellt. Die Komplexität des ein-
fachen Gedankens von der reinen Liebe bei Fénelon ergibt sich aus der
Frage, wie die Stufe der Reflexion überwunden und eine reine Liebe
nach dem Vorbild der Liebe Gottes realisiert werden kann. In Féne-
lons Worten: »Nach seinem Bild und Gleichnis gemacht, müssen wir

5 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 39. – Deutsch: »Es wäre um jenes

reine Feuer geschehen, das der Herr Jesus vehement anfachen wollte und das der
Bischof von Meaux ausgelöscht wünscht.« III, 547. – Ebd. 312.
6 Ebd. 39.

7 Ebd. 35.

8 Ebd. 36.

9 Ebd. 237.

10 Ebd. 303.

11
Ebd. 36.
12 Das siebente Kapitel der »Studien über Fénelon« trägt den Titel: »Der ›Geist der

Kindheit‹ und die Entdeckung des Kindes«. – Ebd. 148–169.

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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹

so wollen und lieben, wie er selbst will und liebt, d. h. umsonst und
ohne das Motiv einer zu erreichenden Seligkeit« 13. Näher an das Ver-
ständnis der reinen Liebe heran führt daher die Problematisierung
der Reflexion.
In seiner Thematisierung der Reflexion sieht Spaemann Féne-
lons wesentliches philosophisches Verdienst: »Die Weise, wie Fénelon
die Reflexion als zentrales Problem thematisiert, verleiht ihm mehr
als alles seinen Rang in der Geschichte des neuzeitlichen Bewußt-
seins.« 14 Die Reflexion ist das zentrale Problem in Fénelons Lehre
von der reinen Liebe, denn sie »macht gerade das unmöglich, wonach
sie auf der Suche ist, […] die Transzendenz« 15. Worin besteht nun im
Kern das Problem der Reflexion? Die Reflexion zerreißt den direkten
Zusammenhang zwischen einem Subjekt und seinen Objekten, denn
in jedem reflexiven Bezug auf ein Objekt ist nicht das Objekt selbst
vorhanden, sondern nur eine subjektive Vorstellung, seine Relevanz
für das Subjekt. Von zentraler Bedeutung ist daher für Fénelon die
»Unterscheidung von Objekt und Motiv« 16 oder, mit anderen Wor-
ten, die »Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz
des Objekts« 17. Durch die Reflexion wird jedes Objekt auf das Ich
und die Eigenliebe bezogen und erscheint so nur noch in seinem
Nutzwert für das Subjekt:
Diese Reflexion ist es, die, indem sie erst die »Zueigenheit«, die »pro-
priété« stiftet, für Fénelon wie für die gesamte Mystik zur eigentli-
chen Ursünde wird. Aber hinter diese Reflexion kann nun nicht zu-
rückgegangen werden auf eine ursprüngliche ungebrochene Einheit
von Subjekt und Objekt, sondern sie kann nur aufgehoben werden in
jenem »abandon total«, jener vollkommenen Hingabe des Subjekts,
die für Fénelon das Wesen der reinen Liebe ausmacht. 18
Den Versuch eines solchen Zurückgehens hinter die Reflexion auf
eine ungebrochene Einheit von Subjekt und Objekt erkennt Fénelon
in der eudämonistischen Ethik seines Zeitalters, die er leidenschaft-
lich bekämpft: »Der individualistische Motivbegriff dient Fénelon nur

13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 43. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Œuvres complètes de Fénelon, archévêque de Cambrai (Edition de
Saint-Suplice), 10 Bände, Paris, Lille, Besancon, 1848–1852, III, 424. – Ebd. 313 u. 351.
14 Ebd. 127.

15 Ebd. 131.

16
Ebd. 42.
17 Ebd. 46.

18
Ebd.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

dazu, die individualistisch-eudämonistische Moral aus den Angeln


und die Unmittelbarkeit des natürlichen Interesses aufzuheben.« 19
Um im Gedankengang weiterzukommen, muss im nächsten Schritt
geklärt werden, wie die »vollkommene Hingabe des Subjekts«, von
der Fénelon spricht, vorzustellen ist.
Die Besonderheit der Position Fénelons lässt sich am besten he-
rausarbeiten, wenn man ihn mit einem anderen Kritiker der bürger-
lichen Moral und Vertreter eines »aristokratische[n] Ideal[s] von
Uneigennützigkeit« 20, nämlich La Rochefoucauld (1613–1680), ver-
gleicht, dessen »Maximen und Reflexionen« nach Spaemann »mit
wenigen Ausnahmen Variationen und Exemplifikationen« sind des
Satzes: »Wir können nichts lieben, es sei denn in Beziehung auf
uns« 21. Wie Spaemann darlegt, hat »seine Suche nach dem amour
propre noch in den sublimsten Regungen der Liebe und der Freund-
schaft […] ganz eindeutig den Sinn einer skeptischen Entlarvung« 22.
In diesem Sinne besteht eine offensichtliche Nähe zwischen La
Rochefoucauld und Fénelon, die aber nicht über den entscheidenden
Unterschied zwischen beiden Positionen hinwegtäuschen darf:
Die psychologische Reflexion, die sich auf die innere, die Motivation
der Handlung bedingende Grundverfassung des Daseins richtet, kann
die Liebe als Quelle der Spontaneität nicht erreichen, weil sie selbst die
Manifestation jenes »Interesses« ist, das in der Liebe überwunden
wird. Spontaneität und Reflexion schließen einander aus. 23
Selbst die auf die Spitze getriebene skeptische Selbstentlarvung eines
La Rochefoucauld ist demnach noch Ausdruck der Eigenliebe und er-
reicht noch nicht die Spontaneität der reinen Liebe und es stellt sich
die Frage, welche Steigerung noch möglich sein soll, um aus der
»Kühlanstalt« 24 des Selbst entfliehen zu können. Die Antwort besteht
in einem spezifischen Prozess der Entleerung: »Die Selbstaufhebung
der Reflexion, um die es Fénelon geht, kann, da sie nicht direkt ge-
wollt werden kann, nur so geschehen, daß die Reflexion selbst das

19 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 80.


20 Ebd. 117.
21 Ebd.

22 Ebd.

23
Ebd. 136.
24 Ebd. 280. – Spaemann zitiert hier Jean Paul und verweist auf folgende Quelle des

Zitats: Levana, Sämtl. Werke Abt. I, Bd. 12, S. 336. – Ebd. 346–347.

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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹

Interesse zerstört, welches ihr zugrunde liegt.« 25 Erst wenn die Re-
flexion »sich selbst und die Befriedigung des Hochmuts als Triebfeder
der eigenen Moralität offenbart«, kehrt sie sich gegen sich selbst,
wird die »moralische Skepsis des aristokratischen Weltmannes La Ro-
chefoucauld […] zur Verzweiflung bei dem aristokratischen Kirchen-
mann Fénelon« 26. Was übrig bleibt, ist ein »Zustand innerer Leere
und Öde, in dem die Reflexion nichts mehr findet, worauf sie ihr
Interesse richten könnte als sich selbst und ihre eigene Nichtigkeit.
In diesem Zustand gelangt der Mensch zu einer ›reflektierten Über-
zeugung von der eigenen Verdammnis‹.« 27 Dieser Zustand ist »der
Untergang der Reflexion, die sich nun als identisch mit jenem amour
propre erweist, den sie beständig zu enthüllen schien« 28, zugleich ist
dies der »Zustand der äußersten Gottesferne« 29, der paradoxerweise
das letzte aus eigener Kraft erreichbare Ziel darstellt: »Denn diese
äußerste Gottesferne ist die Bedingung der Befreiung des Menschen
zu Gott, die äußerste Entfremdung der Anfang der Versöhnung, die
erbarmungslos zu Ende geführte Reflexion die Bedingung für die
Entbindung neuer, ungebrochener Spontaneität.« 30 Aus dem Zirkel
der Reflexion kann nur die Aufgabe jeglichen Eigeninteresses heraus-
führen, die zugleich Annahme der eigenen Verdammnis ist und in
verzweifelter Gottesferne paradoxerweise den höchsten Akt des Ge-
horsams gegenüber Gott darstellt:
Gehorsam ist für Fénelon die letzte Antwort auf das Problem der un-
endlichen Reflexion. Solange der Sprung aus der Selbstisolierung he-
raus selbst nur in der Reflexion geschieht, bleibt er nichtig. Erst in der
realen Übergabe des eigenen Willens an den eines andern geschieht die
reale Befreiung, die Befreiung von der Gefangenschaft des Ich in sich
selbst. 31
Die vollkommene Hingabe des Subjekts wird somit erreicht »durch
den Tod jener um sich selbst kreisenden Natur« 32. Diese Radikalität

25
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 140.
26 Ebd. 141.
27 Ebd. 142.

28 Ebd.

29 Ebd.

30 Ebd. 142–143. – Vgl.: »Vielleicht könnte man Fénelons Standpunkt zugespitzt mit

dem Satz: ›Wer nicht suchet, der findet‹ ausdrücken.« – Kreuzer, Die wahre Defini-
tion der Caritas, 159, Fn. 4.
31 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 192.

32
Ebd. 57.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

seiner Position und ihr geradezu masochistisches Selbstverhältnis


mussten Widerspruch hervorrufen und so war die Forderung eines
»bedingten Verzicht[s] auf die Glückseligkeit […] der am erbitterts-
ten umkämpfte Punkt im Streit um den amour pur« 33. Im Folgenden
soll dargelegt werden, wie Fénelon in seiner »Dissertatio de amore
puro« die Kritik an der Radikalität seiner Position zu widerlegen ver-
suchte.
Wie eingangs erwähnt wurde, erblickt Spaemann Fénelons Be-
deutung darin, dass er als erster Theologe »das Problem christlicher
Existenz auf dem Boden der Moderne, auf dem Boden der Entzwei-
ung gestellt hat« 34. Die volle Bedeutung dieser Aussage kann nun an
dieser Stelle deutlich gemacht werden. Vom bürgerlichen Denken, in
dem stets das subjektive Interesse auffindbar ist, führt nur ein Sprung
zur reinen Liebe und zu Gott, da, wie gesehen, erst die Überwindung
der Reflexion selbst von der Befangenheit im amour propre befreit.
Nur wenn der allenthalben wirksame amour propre als solcher er-
kannt wird, kommt die Entzweiung zum Bewusstsein, die Antrieb
für den umrissenen Entleerungsprozess ist und zur Befreiung des
Menschen zu Gott führt: »Die theozentrische Einheit ist für ihn an
die Bedingung geknüpft, daß diese Entzweiung zur Darstellung
kommt, daß der Schein einer fiktiven Identität von Allgemeinem
und Privatem, die es diesen erlaubt, sich für das Allgemeine auszu-
geben, zerstört wird.« 35 Wenn aber dieses Zur-Darstellung-Kommen
der Entzweiung letztlich zur Selbstaufhebung der Reflexion führt, so
muss, soll der Gedanke einer theozentrischen Einheit nicht seiner-
seits als Ausdruck des Interesses verworfen werden, eine gewisse
Doppelsichtigkeit konstatiert werden. Diese Doppelsichtigkeit äußert
sich in der deutlichen Trennung einer »konkret-psychologische[n]«
und einer »abstrakt ontologische[n] Redeweise«, in deren Ver-
mischung Fénelon »den einzigen Fehler der Maximen gesehen« 36 hat:
Ist psychologisch gesprochen, d. h. von der existentiellen religiösen
oder moralischen Erfahrung her gesehen – und darüber hinaus für
Fénelon unter der geschichtlichen Voraussetzung des Sündenfalls –
das Selbstopfer die Verneinung des eigenen Ich zugunsten des bonum
universale – des Vaterlandes oder Gottes, so ist eben jenes Transzen-

33 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 57.


34
Ebd. 23.
35 Ebd. 45.
36
Ebd. 54.

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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹

dieren des eigenen Selbst ontologisch die Erfüllung der menschlichen


Natur, zu der dieses Sich-selbst-Transzendieren gehört. 37
Das Geschehen der Selbsttranszendenz, das als Folge der Aufhebung
der Reflexion gedacht wird, kann seinerseits also doch in abstrakt
ontologischer Redeweise begrifflich gefasst werden. Dass dies mög-
lich ist, erklärt Fénelon nun damit, dass die zu überwindende Natur
selbst ein »Produkt des Sündenfalls« ist: »Die Sünde, das ist jene die
reine Spontaneität der Gottesliebe erstickende Reflexion des Men-
schen auf seine ›Eigenheit‹, auf sein bonum privatum, insofern dieses
vom κοινόν, vom Gemeinsamen gerade unterschieden ist oder aber
dieses auf eine Funktion des ›Privatwohles‹ reduziert wird.« 38 In der
abstrakt ontologischen Redeweise ergibt sich also die Möglichkeit,
über den Menschen unter Absehung von der historischen Kontin-
genz des Sündenfalls zu sprechen. Somit ist der Sinn des Verzichts
auf die Glückseligkeit, den Fénelon in der Dissertatio zu verteidigen
versuchte, »ein psychologischer: die Befreiung von der ichbezogenen
Reflexion. Er besagt nichts über das tatsächliche Heil des Menschen,
ja man könnte sogar paradox formulieren, daß für Fénelon nur jene
das Heil erlangen, die bereit sind, um Gottes willen auf ihr Heil zu
verzichten.« 39 Das »Auseinandertreten von Psychologie und Ontolo-
gie« 40, in dem sich nach Spaemann methodologisch die Entzweiung
im Denken Fénelons zeigt, kann demnach so verstanden werden, dass
die psychologischen Theoreme Fénelons jeweils einen ontologischen
Sinn haben. Im Weiteren soll nun ein wesentliches psychologisches
Theorem Fénelons und seine ontologische Bedeutung etwas näher
betrachtet werden.
Von wesentlicher Bedeutung im mystischen Denken war die
Lehre vom Seelengrund, der »den von den Seelenkräften unterschie-
denen Ort der Gotteseinung« 41 bezeichnet. 42 In der Mystik wurden
für Seelengrund weitgehend bedeutungsgleich auch andere Begriffe
wie Seelenspitze oder Seelenfünklein verwendet. 43 Spaemann weist

37 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 54.


38 Ebd. 56.
39 Ebd. 57.

40 Ebd. 23.

41 Heidrich, Seelengrund, in: HWPh IX, col. 93.

42 Vgl. Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 45–46.

43
Vgl. Heidrich, Seelengrund, in: HWPh IX, col. 93–94, Ders., Fünklein, Seelen-
fünklein, in: HWPh II, col. 1137–1138, u. Ders. Seelenspitze, in: HWPh IX,
col. 110–111.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

darauf hin, dass die mystische Lehre vom Seelengrund im Zusam-


menhang steht mit dem in der scholastischen Philosophie des
13. Jahrhunderts erörterten »Problem der Realdistinktion der Seele
von ihrem Vermögen« 44, die ihrerseits wiederum ein spezieller Fall
der Realdistinktion von Wesen (essentia) und Sein (esse) darstellt.
Im Zusammenhang mit der Lehre von der Gottesliebe nahm diese
Realdistinktion bei Thomas von Aquin die Form der Unterscheidung
von »gratia sanctificans und caritas« an:
Die caritas, die Gottesliebe, das formale Prinzip aller christlichen Tu-
gend, ist für Thomas zwar notwendige Folge des Gnadenstandes, aber
nicht dessen konstitutiver Grund. Die gratia creata selbst ist eine dem
Seelengrunde unmittelbar verbundene, die Gemeinschaft mit Gott be-
gründende Qualität, die in der Liebe ihren Ausdruck findet, aber nicht
mir dieser identisch ist. 45
Im Hinblick auf das 17. Jahrhundert spricht Spaemann nun von
einem »Wegfall der Lehre vom Seelengrund« 46. In »der Aufhebung
der ›ontologischen Differenz‹ von Seele und Vermögen, von Gnade
und Liebe« 47 sieht Spaemann einen entscheidenden Schritt zum bür-
gerlichen Denken der Neuzeit, dem die Kontrahenten im Streit um
den amour pur selbst zuzurechnen sind: »Die Cartesianer Bossuet
und Fénelon stehen beide auf dem Boden der Realidentität von Seele
und Vermögen.« 48 Im Unterschied zu Bossuet ging es Fénelon vor
dem Hintergrund einer von beiden geteilten rationalistischen Onto-
logie jedoch »darum, bestimmten Erfahrungen, die das Schema dieser
Ontologie sprengen und in den Bereich des ›Schimärischen‹ verwie-
sen zu werden drohen, ihren Realitätsanspruch theoretisch zu si-
chern« 49. Dabei formte Fénelon mystisches Gedankengut »zu einer
psychologisch fundierten Lebenslehre« 50 um, die »der christlichen
Existenz in einer entzweiten Welt zur Verwirklichung zu helfen ge-
eignet war« 51. Als eine »der wesentlichen Leistungen Fénelons« be-
zeichnet Spaemann in diesem Zusammenhang die Umformung der
Lehre vom Seelengrund bzw. der Seelenspitze »in eine Psychologie

44 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 73.


45 Ebd.
46 Ebd.
47 Ebd.
48 Ebd. 74.
49
Ebd. 72.
50 Ebd. 75.
51
Ebd.

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4.2 Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹

der Spontaneität, für die die Unterscheidung von direkten und reflek-
tierten Akten grundlegend ist« 52. Da »der Zustand der Gottverlassen-
heit […] nach der Lehre Fénelons nicht durch reflektierte sittliche
Anstrengung zu überwinden ist« 53, bleiben nur als direkte Akte »die
›indifférence‹ […] und die Einwilligung in die ›supposition impossi-
ble‹, die unmögliche Annahme der eigenen Reprobation 54 im Gehor-
sam gegen den Willen Gottes« 55. In dieser Lehre von den direkten
Akten sieht Spaemann die »eigentliche Leistung Fénelons«, da er
durch sie, »ohne Rückgriff auf die scholastische Ontologie der Sub-
stanz, doch deren praktischen Sinn erneuerte« 56.
Der auf diesen Seiten unternommene Versuch einer knappen
Skizzierung der »kleinen Mystik« Fénelons hatte sich mit der
Schwierigkeit auseinanderzusetzen, dass jener ›einzige Gedanke‹
Fénelons von der reinen Liebe 57 sich stets entzieht und nur durch sein
wiederholtes Umkreisen an Kontur gewinnt. Dies liegt wesentlich
daran, dass hier mit der Spontaneität der reinen Liebe ein Negatives
thematisiert wird, insofern sie »sich zwar im Vollzug ihrer selbst be-
wußt ist, aber sich jeder Vergegenständlichung durch Introspektion
entzieht« 58. Nur indirekt konnte es überhaupt gelingen, durch Ana-
lyse der ontologischen Bedeutung psychologischer Erfahrung über-
haupt einen gewissen Begriff von ihr zu gewinnen. Man kann inso-
fern von einem grenzorientierten Philosophiebegriff Fénelons spre-
chen, der auf die Lebenspraxis als sein eigentliches Ziel verweist:
Wo das Denken als »reflektierendes Raisonnieren« und dieses als Ak-
tivität einer um sich selbst kreisenden Natur gefaßt wird, da wird die
entschiedene Wendung zum Praktischen, ja Pragmatischen zur Kon-
sequenz eines Weges, dessen Ziel ursprünglich in Begriffen wie Passi-
vität, Ruhe usw. formuliert wurde. »Man darf keine Wahrheit in Be-
tracht ziehen«, so schreibt Fénelon, »es sei denn mit Bezug auf die
Praxis«. 59

52 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.


53 Ebd.
54 Unter Reprobation ist die Verwerfung der Seele, ihr Ausschluss aus der ewigen

Seligkeit zu verstehen.
55 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 75.

56 Ebd. 76.

57
Vgl. ebd. 303.
58 Ebd. 137.

59
Ebd. 147.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Nicht von ungefähr trägt daher das letzte Kapitel der Studien zu
Fénelon den Titel »Die Lehre von der reinen Liebe als pädagogische
Theorie« 60, denn der Sinn des Fénelon’schen Werks, so Spaemann,
»enthüllt sich, wo es als pädagogisches gesehen wird. Das will sagen,
daß Fénelon als den eigentlichen und einzigen Ort der Versöhnung
die Subjektivität begreift, die die Entfremdung auf sich zu nehmen
und als heilbringendes Kreuz zu tragen bereit ist.« 61 Das »Problem
christlicher Existenz […] auf dem Boden der Entzweiung gestellt« 62
zu haben, bedeutet mit Blick auf Fénelon also die Konversion aller
philosophischen Bemühungen in einer pädagogischen Theorie, der
es mit der Überwindung des amour propre um ein »›Verschwinden
[…]‹ im bürgerlichen Leben« geht, in dem die »Nichtidentität des
Subjekts mit seiner ›Welt‹« 63 erst voll zutage tritt.

60 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 237–269. – Es folgen danach noch


zwei Anhänge »Fénelon und Jean Paul« und »Schopenhauer und der Quietismus«.
61
Ebd. 241.
62 Ebd. 23.

63
Ebd. 257.

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4.3 Philosophiegeschichtliche Verortungen

4.3.1 Fénelon und Descartes:


Radikalisierung und Überwindung des Rationalismus

Die Bedeutung Descartes’ für das Verständnis der Lehre Fénelons und
den Streit um den amour pur betont Spaemann wiederholt: »Fénelon
und Bossuet sind Cartesianer, und ihre theologische Kontroverse
kann nur auf dem Hintergrund dieser Tatsache verstanden werden.« 1
Allerdings ist Fénelon, so Spaemann, ein Cartesianer, dessen Grund-
gedanke »dem Geist des Cartesianismus durchaus fremd« 2 ist. Daher
soll zunächst dargelegt werden, inwiefern Fénelon als Cartesianer den
Cartesianismus selbst überwindet, bevor auf die Bedeutung der carte-
sischen Lehre von der Erschaffung der ewigen Wahrheiten für die
Mystik und Fénelon eingegangen wird.
Als Cartesianer kann Fénelon zunächst bezeichnet werden auf-
grund seines Ausgangs im Denken vom Subjekt und seinem, wie
Spaemann bemerkt, »beinahe krankhaften Grad der Selbstreflexi-
on« 3. Er orientiert sich an der philosophischen Methode Descartes’,
wenn er versucht, »eine orthodoxe Interpretation der Mystik auf dem
Boden der clara et distincta perceptio zu geben« 4, und ein »formales
Ideal […] der Gewißheit, der certa cognitio« 5 verfolgt. Allerdings
kann Fénelon im Sinne seines Leitgedankens der reinen Liebe nicht
auf der Grundlage des cartesischen Cogito stehen bleiben. »Denn in
der ›reinen Liebe‹ wird ja nun eben doch das Cogito, der Ring der
Reflexion gesprengt. Die Möglichkeit eines solchen Transzendierens
liegt nicht im Bereich jener Philosophie, die auch die Fénelons ist. Um
ihretwillen muß vielmehr der Vernunft und der Philosophie abgesagt
werden.« 6 Diese Überwindung realisiert Fénelon durch eine Steige-
rung des cartesischen »Zweifel[s] zur Verzweiflung« 7. Sein Wider-

1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 107.


2 Ebd. 109.
3 Ebd. 131.
4 Ebd. 74.
5
Ebd. 109.
6 Ebd.
7
Ebd. 114.

153

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

spruch gegen Descartes beginnt konkret bei der scheinbaren Evidenz


des ›cogito ergo sum‹ :
Fénelon billigt nun aber gerade diesem Satz keine unmittelbare Evi-
denz zu. Die Selbstgewißheit des denkenden Subjekts ist keine unmit-
telbare. Sie betrifft nur eine Tatsachenwahrheit. Um den Satz in die
zwingende logische Form eines Schlusses zu bringen, bedarf es der
Prämisse einer allgemeinen Vernunftwahrheit. Diese besagt, daß das
Nichts nicht denken kann. Die »Klarheit« dieses Satzes folgt aus der
Klarheit und Distinktheit meiner Ideen vom Nichts und vom Denken,
die einander ausschließen. Denn Denken ist seiner Idee nach eine
»Weise des Seins«, Sein und Nichts aber sind einander ausschließende
Ideen. Die »Evidenz« des Cogito ergo sum folgt also letztlich aus der
logischen »Klarheit« des Widerspruchsprinzips. Fénelon vollendet den
Rationalismus und hebt ihn damit zugleich auf, indem er dem Logi-
schen jede Verwurzelung in einem empirischen Bewußtsein versagt. 8
Spaemann spricht mit Bezug auf diese Argumentation von einer
»tiefgreifenden Umformung der cartesische[n] Gewißheitsbegrün-
dung« 9. Während für Descartes die Einsicht ›Ich denke, also bin ich‹
zusammen mit dem Widerspruchsprinzip »durch eine einfache Intui-
tion des Geistes« 10 unmittelbare Gewissheit ist, insistiert Fénelon auf
dem Widerspruchsprinzip als logischer Voraussetzung der Evidenz
des Cogito, wodurch diese zum Syllogismus wird. Die Bedeutung
dieser Umformung besteht darin, dass Gewissheit so nicht mehr in
einem autonomen Subjekt verortet ist wie bei Descartes, sondern dass
dieses Subjekt heteronom von klaren Ideen, die Gewissheit beanspru-
chen, gezwungen wird. Es gibt demnach keine unmittelbare Gewiss-
heit des Cogito, sondern »[k]lare Ideen« – hier die Ideen vom Nichts
und vom Denken sowie das Widerspruchsprinzip – »zwingen die Ver-
nunft durch ihre Evidenz« 11. Nun bleibt gegenüber der Konstatierung
einer solchen Heteronomie freilich die Möglichkeit eines Insistierens
auf der Autonomie des Subjekts: »Fénelon geht davon aus, daß der
sich dem Sinn verweigernde ›Rückzug in den universalen und abso-
luten Zweifel‹ möglich bleibt.« 12 Dieser Rückzug bedeutet dann den
Eintritt in eine unabschließbare Reflexion, in der jeder Bewusstseins-

8 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 111.


9 Ebd. Fn.
10
Ebd. Fn.
11 Ebd. 111.

12
Ebd. 114.

154

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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus

inhalt als Idiosynkrasie, als Täuschung, gewertet und so durch den


Zweifel wieder aufgehoben werden kann: »Die Evidenz kann Idiosyn-
krasie sein.« 13 Auch der »genius malignus« 14, ein unterstellter Täu-
schegeist, kann nie diesen in der Möglichkeit des Zweifelns bestehen-
den letzten Rest der Autonomie des Subjekts beseitigen. Wenn
Fénelon gleichwohl den Zweifel an der Evidenz des Widerspruchs-
prinzips als »universalen Schiffbruch der menschlichen Vernunft« 15
bezeichnet, so liegt das daran, dass die scheinbar theoretische »Alter-
native von Zweifel oder Zustimmung zur Evidenz des Widerspruchs-
prinzips« 16 in Wahrheit ein moralisches Problem ist:
Das Festhalten an der Möglichkeit auch eines sinnlosen Zweifels […]
führt und dient dazu, das Problem der philosophischen Gewißheit von
einem theoretischen zu einem moralischen zu machen. Nachdem Fé-
nelon dem theoretischen Verstand seine natürliche Wurzel vollends
abgeschnitten hat, kann Gewißheit nicht anderen als sittlichen Ur-
sprungs sein. Ja, so allein ist überhaupt dem Gewißheitsideal zu ent-
sprechen, denn der natürlichen Vernunft korrespondiert immer nur
die wahrscheinliche Erkenntnis. Erst das Postulat der certa cognitio
führt zu der Alternative: Fortsetzung der Reflexion ins Leere oder
Sprung in den Sinn, in die bis zuletzt ungewisse Gewißheit der klaren
Idee. 17
Die Alternative ist deshalb ein moralisches Problem, weil auf der
einen Seite ein isoliertes Bewusstsein in seiner unabschießbaren Re-
flexionsbewegung steht, dessen im Zweifel vollzogene logische »Sus-
pension des Urteils« 18 in seiner »existentielle[n] Realität« 19 dennoch
ein »praktisch-moralisches« 20 Urteil ist, das Fénelon in die Worte
fasst: »Zweifeln, das heißt urteilen, daß man nichts glauben darf.« 21
Da dieses Urteil wiederum bezweifelt werden kann, verliert das iso-
lierte Bewusstsein seinen letzten Halt in sich: »es bleibt mir nicht
einmal der traurige Trost, dem Irrtum zu entgehen, indem ich mich

13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 112.


14 Ebd.
15 Ebd. 111.
16 Ebd. 115.
17 Ebd. 113.
18 Ebd. 114.
19
Ebd.
20 Ebd.
21
Ebd.

155

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

in den Zweifel zurückziehe« 22. Daher gilt, dass auch der Zweifel be-
reits eine vollzogene Wahl ist, die aber aus dem zweifelnden Bewusst-
sein heraus nicht begründet werden kann. Auf der anderen Seite der
Alternative kommt dagegen Gott ins Spiel, der allerdings im
»Medium der neuen [Metaphysik] nur in der Form der Möglichkeit
erscheinen kann« 23. Aber allein seine Möglichkeit entscheidet, wie
Fénelon unterstreicht, welche Wahl angesichts dieser Alternative zu
treffen ist:
Wenn ein allmächtiges, unendlich gutes und wahrhaftes Wesen mich
gemacht hat, damit ich die Wahrheit erkenne durch die rechte Ver-
nunft, die es mir gegeben hat, dann bin ich unentschuldbar, wenn ich
mich selbst durch einen willkürlichen Zustand verblende, und mein
universaler Zweifel ist ein Monstrum. Wenn dagegen meine Vernunft
falsch ist, bleibe ich entschuldbar, wenn ich ihr folge. Denn was kann
ich Besseres tun, als mich treulich alles dessen bedienen, was in mir ist,
um zu versuchen, gerade auf die Wahrheit zuzugehen. 24
Aus der Radikalisierung des cartesischen Rationalismus durch Féne-
lon ergibt sich also auch streng argumentativ die Überwindung der
Reflexion, insofern die »Forderung unbezweifelbarer Gewißheit im
Ausgang vom denkenden Subjekt […] zum Primat der praktischen
Vernunft« führt und die Liebe zur »Bedingung der Möglichkeit […]
aller Erkenntnis überhaupt« 25 wird.
Abschließend soll noch ein weiterer Aspekt des Cartesianismus
erwähnt werden, der im Zusammenhang mit Fénelons Denken von
Bedeutung ist. Spaemann bemerkt, dass die »Geringschätzung der
geistlichen Bedeutung einer methodischen Meditation innerhalb der
quietistischen Mystik […] eine eigenartige Parallele zur cartesischen
Lehre von der Erschaffung der sog. ewigen Wahrheiten« 26 darstellt.
Diese Lehre besagt, dass z. B. der Satz 2 + 2 = 4 nicht deshalb ewig
wahr ist, weil er unabhängig von den materiellen Gegenständen be-
steht und mit dem göttlichen Verstand identisch ist, sondern deshalb,
weil Gott diesen Satz, wie er ist, geschaffen hat. Gott hätte an seiner
Stelle ebenso einen anderen Satz schaffen können.

22 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 114. – Spaemann verweist als Quel-

le der beiden Zitate auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. – Ebd. 327.
23 Ebd. 115.

24 Ebd. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] I, 51. –

Ebd. 327.
25 Ebd. 116.

26
Ebd. 232.

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4.3.1 Fénelon und Descartes: Überwindung des Rationalismus

Diese Lehre hatte gleichzeitig die Bedeutung, die moderne Wissen-


schaft von der theologischen Metaphysik unabhängig zu machen, da
ihre Gesetze nun eben nicht mehr Widerspiegelung ewiger göttlicher
Ideen waren, sondern in der Unableitbarkeit eines göttlichen Willens-
aktes ihren Ursprung hatten. Andererseits aber wurde auch die Theo-
logie vom Zugriff eben dieser rationalen Wissenschaft befreit. 27
Spaemann spricht von der »geschichtliche[n] und theologische[n] Be-
deutung«, die dieser Lehre »als einer Theorie der Entzweiung im
Raum der Mystik zukam« 28. Die Parallele zur spekulativen Mystik
besteht darin, dass diese »versucht in der gläubigen Versenkung eine
Ebene des Denkens zu erreichen, auf der die sogenannten ›ewigen
Wahrheiten‹ der rationalistischen Philosophie nur als Moment inner-
halb eines umgreifenden heilsgeschichtlichen Prozesses erschei-
nen.« 29 Spaemann weist darauf hin, dass dieser »spekulative Zug«
mystischen Denkens der quietistischen Mystik, »in deren Tradition
Fénelon steht« 30, gänzlich fremd ist und dass Fénelon die ewigen
Wahrheiten bzw. Ideen nicht als »Willkürschöpfungen« 31 ansehe. Er
erläutert die Stellung Fénelons in diesem Zusammenhang wie folgt:
Fénelon nimmt in dieser Diskussion um die Natur der Ideen eine ei-
gentümliche Zwischenstellung ein, die in Wirklichkeit ein Zurück-
greifen auf neuplatonische Auffassungen darstellt. Für ihn sind die
ewigen Wahrheiten nicht Schöpfungen Gottes, sondern mit ihm iden-
tisch, aber so, daß sie als diese, d. h. als partikulare, inhaltlich bestimm-
te, endliche Wahrheiten keine absolute Realität besitzen, sondern eben
diese Endlichkeit nur die Weise ist, wie die geschaffene Vernunft die
eine ewige Wahrheit, das unendliche Sein auffaßt, indem es dieses
zugleich vervielfältigt und verendlicht. Die Erkenntnis dieser Wahr-
heiten ist also einerseits nicht einfachhin Erkenntnis des Außergött-
lichen, profan, und von dem unum necessarium her gesehen belang-
los. Andererseits ist sie nicht selbst schon Gotteserkenntnis, sondern
wird erst zur Gotteserkenntnis per viam negationis, durch Entschrän-
kung, durch Aufhebung. 32
Nicht die »Betrachtung der Ideen in ihrer endlichen Besonder-
heit […], sondern nur das Fallenlassen dieser Besonderheit in der

27 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 232.


28 Ebd.
29 Ebd. 234.
30
Ebd.
31 Ebd.
32
Ebd. 265–266.

157

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Aufhebung in das einfache Sein des Ursprungs« 33 führen zum Ziel


der reinen Liebe. Insofern Fénelon also in der Entfaltung seiner Lehre
konsequent die spekulativen Elemente der Mystik fallen und als ein-
ziges verbleibendes Motiv die reine Liebe gelten lässt, folgt er schließ-
lich doch der »cartesischen Auffassung, daß nur die Freiheit das
Organ des Unendlichen, der Totalität« 34 bzw. nur der Wille »das Ver-
mögen des Unendlichen« 35 ist.

4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche:


Leibniz und Malebranche

Im Unterschied zu Descartes, der, wie gesehen, als Lehrer für Fénelon


größte Bedeutung hatte, sind Leibniz (1646–1716) und Malebranche
(1638–1715) Zeitgenossen Fénelons, die hier nur betrachtet werden,
um im Kontrast die Eigenart des Fénelon’schen Denkens weiter her-
vortreten zu lassen. Beide werden von Spaemann meist im Zusam-
menhang erwähnt – er nennt Malebranche den »französische[n]
Leibniz« 36 – und sollen daher hier gemeinsam behandelt werden.
Was Leibniz mit Malebranche verbindet und beide gleicher-
maßen von Fénelon trennt, ist ihre »Mathematisierung der Meta-
physik«, d. h. ihre Orientierung an einem »mathematische[n] Voll-
kommenheitsideal […], das Descartes aus ihr ferngehalten hatte« 37.
Für Leibniz sind »moderne Naturerkenntnis und Gotteserkenntnis
fast dasselbe« 38, Malebranche geht es um die »Integration der Ele-
mente der christlichen Existenz zu einem Reflexionsganzen« 39. Beide
sind »optimistische Philosophen […], für die die ewigen Wahrheiten
Momente der göttlichen Vernunft sind« 40. Wiederholt betont Spae-
mann die »eigentümliche Mittelstellung«, die Leibniz »zwischen der
›klassischen‹ und der ›modernen‹ Philosophie« 41 einnimmt. Worin

33
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 234.
34 Ebd. 226.
35 Ebd. 234.

36 Ebd. 237.

37 Ebd. 225.

38 Ebd. 231.

39 Ebd. 70.

40
Ebd. 265.
41 Ebd. 319. – Vgl. ebd. 217–218. – An diesem Gedanken wird Spaemann in der wei-

teren Entfaltung seines Denkens festhalten, so dass Leibniz für ihn neben Descartes

158

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4.3.2 Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Malebranche

diese Mittelstellung besteht, kann am besten ausgehend von Fénelons


Grundproblem der Reflexion erklärt werden. Für Fénelon hat die Re-
flexion, wie gesehen wurde, vor allem die Bedeutung, dass sie die
Verbindung zwischen dem Subjekt und seinen Objekten zerreißt
und ein isoliertes Bewusstsein hervorbringt. Im Unterschied zur
bürgerlichen Philosophie, die, wie im Teilkapitel 4.1 gezeigt, die Zen-
tralstellung des Subjekts rechtfertigt und »die Ethik gerade im Aus-
gang vom Interesse neu zu begründen bestrebt ist« 42, versucht »die
Philosophie Leibniz’ mit dem ›epikuräischen‹ Begriff der delectatio
auf ein Unmittelbares zu rekurrieren […], das jenseits des Refle-
xionsbegriffs ›Interesse‹ stünde und eine ursprüngliche Einheit von
Mensch und Welt bzw. Mensch und Gott ermöglichte.« 43 Die delecta-
tio, also der Genuss oder auch die Lust, ist für Fénelon Ausdruck des
egoistischen Interesses; nach Leibniz dagegen soll gerade sie eine Ver-
bindung zwischen Subjekt und Objekt herstellen, die durch die Re-
flexion nicht zerrissen wird. In den Kategorien Fénelon’schen Den-
kens ist diese Idee im Grunde schnell abgetan:
Der Rekurs auf die delectatio als unmittelbare Identität von Subjekt
und Objekt besteht nicht vor der Auflösung durch die Reflexion. […]
Durch die Reflexion auf sie tritt sie auf die Seite der Subjektivität, sie
wird zum Egoismus, zur Aufhebung der wahren Sittlichkeit. […] Das
Désintéressement besteht deshalb wesentlich in der Aufhebung der
Reflexion auf die »delectatio«. 44
Trotz dieser klaren Gegenposition Fénelons soll hier der Frage nach-
gegangen werden, wieso Leibniz, der in den Streit zwischen Fénelon
und Bossuet eingreifen wollte, davon überzeugt war, »eine Formel zu
besitzen, die das Problem mit einem Schlage lösen könnte« 45. Diese
Formel besteht in einem Begriff der Liebe, der gerade durch »Un-
eigennützigkeit« 46 definiert ist: »Lieben heißt, von solcher Sinnesart
sein, daß man im Glück des anderen seine Freude findet.« 47 Die Lust
(voluptas) bleibt also bei diesem Liebesbegriff durchaus die allge-
meine Antriebskraft menschlichen Handelns, sie folgt aber »un-

und Kant zu den wichtigsten Referenzpunkten der modernen Philosophie gehören


dürfte.
42 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 81.

43 Ebd.

44 Ebd. 82.

45
Ebd. 212.
46 Ebd. 215.

47
Ebd. 216.

159

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

mittelbar aus der Betrachtung des Glücks (›felicitas‹) des Gelieb-


ten« 48. Was Leibniz vorschlägt, ist eine Art altruistisch ausgerichteter
Hedonismus. Diese Lösung des Problems »bedarf als notwendiger
Voraussetzung einer unreflektierten und begrifflosen Einheit von
voluptas mit ihrem objektiven Grunde« 49, die verhindert, dass durch
die Reflexion als Ausdruck von Eigenliebe die »unmittelbare Identität
von Liebe und Geliebtem« 50, um die es Leibniz geht, aufgelöst wird.
Eine solche Verbindung der Lust mit ihren möglichen Objekten wird
durch ein spezifisches Theorem der Leibniz’schen Metaphysik her-
gestellt:
das System der praestabilierten Harmonie […] macht eine solche Zu-
sammenstimmung möglich, in der das Glück des andern, bzw. das
bonum universale zum integrierenden Bestandteil der subjektiven vo-
luptas des Einzelnen werden kann, ohne daß dieser Einzelne deshalb
seinerseits wesentlich seine Einzelheit müßte transzendieren können.
Die praestabilierte Harmonie ist letzten Endes der Ausweg, der es ihm
möglich macht, der Alternative, die sich auf Grund der Anthropologie
des 17. Jahrhunderts stellen mußte, zu entgehen. 51
Statt der Entscheidung zwischen amour propre und amour pur kon-
zipiert Leibniz also die Vorstellung einer natürlichen selbstlosen
Liebe (delectatio). 52 Spaemann zufolge hätte dieser Begriff der Liebe
und Leibniz’ »Harmonisierungsversuch« 53 zur Beilegung der querelle
keinen Erfolg haben können, da für Fénelon Gegenstand der delecta-
tio prinzipiell nicht das in der Liebe »Intendierte und Gewollte«, son-
dern nur das subjektive »Motiv« 54 sein kann. 55 Er streitet nicht die
mögliche Beimischung von Lust bei der Liebe ab, unterscheidet aber
streng zwischen Wirk- und Zweckursache:

48 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 216.


49
Ebd. 217.
50 Ebd. 223.

51
Ebd. 218.
52 Vgl. die Wiederaufnahme dieses Gedankens in Abschnitt 9.2.2, Das Kunstschöne

als simuliertes Selbstsein, 694–695.


53 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 222. – Ein solcher Vermittlungs-

versuch kam trotz dreier seitens Leibniz’ unternommener Versuche aus verschie-
denen Gründen nie zustande. – Vgl. ebd. 222–235.
54 Ebd. 222.

55
Vgl. Fénelons Unterscheidung von »Objekt und Motiv« – ebd. 42 – bzw. die
»Unterscheidung zwischen Objekt des Besitzes und Besitz des Objekts« – ebd. 46, u.
Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 145–146.

160

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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität

Die kausale und die finale Determination, »Triebfeder« und »Be-


wegungsgründe« gehören für Fénelon verschiedenen Ordnungen an.
Die Reflexion wird immer nur auf die Triebfeder, also auf das Lust-
prinzip stoßen, aber die reine Liebe besteht gerade in der Überwin-
dung dieser Reflexion, und wenn auch für sie noch der Begriff der
delectatio zutreffen soll, so kann es sich nur um eine »délectation in-
délibérée« handeln, d. h. um ein Wohlgefallen, das nur ein anderer
Ausdruck für die Spontaneität des guten Willens ist. 56
Letztlich trifft sich die Antwort, die Fénelon auf einen Vermittlungs-
versuch Leibniz’ hätte geben können, mit seiner Radikalisierung und
Überwindung des Cartesianismus: »An der Stelle einer Lehre von der
praestabilierten Harmonie in der besten aller möglichen Welten steht
für Fénelon die Preisgabe der rationalen Philosophie und die prakti-
sche Lehre des Sich-selbst-Sterbens.« 57

4.3.3 Thomas von Aquin:


Die in den Hintergrund gerückte Autorität

Der folgende Versuch, die Eigenart des Fénelon’schen Denkens durch


einen Bezug auf Thomas von Aquin klären zu wollen, ist weder in
einem Schüler-Lehrer-Verhältnis wie das Fénelons zu Descartes –
Thomas ist für Fénelon nicht »Inspirator« 58 – noch in einem eviden-
ten Kontrast der Denkweisen wie im Hinblick auf Leibniz und Male-
branche begründet. Vielmehr gehören Thomas und Fénelon schein-
bar verschiedenen Welten an und was hier zu ihrem Verhältnis zu
sagen ist, ist ein erster Vorgriff auf eine prinzipielle Thematisierung
der in diesem Verhältnis verborgenen Problematik in einem späteren
Teilkapitel, 59 das sich mit der Perspektivik der Studien Spaemanns
befassen wird. Hier soll es zunächst darum gehen zu zeigen, warum
Fénelon und Bossuet sich beide auf Thomas berufen konnten, d. h.
warum die Lehre des Aquinaten im 17. Jahrhundert zweideutig ge-
worden war und von den Kontrahenten im Streit um die reine Liebe
nicht mehr verstanden wurde.

56 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 222–223.


57 Ebd. 224.
58
Ebd. 88.
59 S. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische

Perspektive, 172–179.

161

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den
amor perfectus« geht Spaemann insbesondere auf eine Stelle zur tho-
mistischen caritas-Lehre aus der Summa theologica ein, »die zu zitie-
ren Bossuet nicht müde wird«: »Dato enim per impossibile quod Deus
non esset hominis bonum, non esset ei ratio diligendi.« 60 Für Bossuet
stellt dieser Satz einen schlagenden Beweis dar, dass jede Liebe – also
auch die Gottesliebe – ein amour propre sei. Fénelon dagegen unter-
scheidet zwischen dem Verhältnis von Gott als Schöpfer zum Men-
schen als seinem Geschöpf und der Motivation des Menschen zur
Liebe Gottes. Der Satz bezieht sich nach seiner Lesart auf den ersten
Zusammenhang, nicht auf den zweiten. Um nun die Bedeutung des
Satzes aus der Sicht Thomas’ zu verstehen, muss sein Kontext in der
betreffenden quaestio beachtet werden. Der Satz ist in der quaestio
der Summa theologica die Antwort auf den Einwand, dass »in der
(ewigen) Heimat« der irdische ordo amoris, demgemäß der Mensch
nach Gott sich selbst am meisten liebt, aufgehoben und »der Gott
Näherstehende mehr als das eigene Selbst geliebt« 61 werden müsse.
Vereinfacht gesagt, stellt dieser Einwand also die Berechtigung der
Selbstliebe grundsätzlich in Frage. Dem zitierten Satz folgt in der
quaestio untermittelbar die conclusio: »Et ideo in ordine dilectionis
oportet quod post Deum homo maxime diligat seipsum« 62. Der Sinn
der Antwort ist dann nach Spaemann folgender:
Dort wo Gott das totale Gut des Menschen ist, bedarf es, um der Un-
terordnung unter die Gottesliebe willen, nicht einer besonderen Be-
vorzugung der Gott Näherstehenden. Denn alle Liebe ist hier Gottes-
liebe und nichts als dies, so daß der ordo amoris, in dem die Selbstliebe
den ersten Platz hat, durchaus erhalten bleiben kann, ohne daß der
Gottesliebe Abbruch geschieht. 63
Entscheidend für das Verständnis des Satzes im konkreten Kontext
der quaestio ist der Liebesbegriff Thomas’, nach dem die Selbstliebe
des Menschen gleichgesetzt wird mit der Zuwendung zu Gott als dem
höchsten Gut und frei ist von jeder Konnotation einer egozentrischen

60 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 89. – Deutsche Übersetzung und


Quellenangabe in der Anmerkung: »Gesetzt die unmögliche Annahme, daß Gott
nicht des Menschen Gut sei, gäbe es für den Menschen überhaupt keinen Grund zur
Liebe.« Sum. theol. II, II, qu. 26. art. 13, ad 3. – Ebd. 323.
61 Ebd. 91.

62
Ebd. – Deutsch: »Daher ziemt es sich in der Ordnung der Liebe, daß der Mensch
nächst Gott sich selbst am meisten liebt.« – Ebd.
63
Ebd.

162

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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität

Eigenliebe. Insofern die Selbstliebe nichts anderes als Zuwendung des


eigenen Geistes zu Gott ist, muss der Mensch sich zwingend mehr
lieben als andere, wenn er Gott über alles liebt. Erst danach ergibt
sich, dass der Mensch unter den anderen den Besseren mehr lieben
wird. Im amour-pur-Streit wird der Satz nun in einen völlig neuen
Kontext gestellt:
Bossuet interpretiert diese Stelle so, daß der Mensch Gott nur insofern
zu lieben befähigt sei, als dieser für ihn die Erfüllung seiner Bedürftig-
keit sei, nicht aber losgelöst von dieser. Fénelon hingegen versteht die
Stelle so, daß dieses Erfüllungsverhältnis von Gott zu Mensch zwar
eine conditio sine qua non der Gottesliebe sei, durch welche der
Mensch allererst Gottes ansichtig werde, nicht aber das »Motiv« der
Liebe. 64
Beide reflektieren also im Unterschied zu Thomas auf das Motiv der
Liebe, wobei Bossuet im Sinne der bürgerlichen Ontologie das Motiv
der Erlangung der eigenen Seligkeit rechtfertigt. Fénelon gibt da-
gegen eine »subtilere Interpretation«, »in der psychologischer und
ontologischer Gesichtspunkt deutlich voneinander geschieden wer-
den« 65. Für Fénelons Lesart ist charakteristisch, dass »Motivations-
zusammenhang und ontologischer Bedingungszusammenhang« 66
auseinandertreten. Er unterscheidet eine »formale Seligkeit (›beati-
tudo formalis‹)« 67 – die Erlangung der Seligkeit – und eine »objektive
Seligkeit (›beatitudo objectiva‹)« 68 – den Gegenstand der Seligkeit –,
eine Unterscheidung, die sich – »der Sache, nicht dem Terminus
nach« 69 – auch schon bei Thomas findet, ohne dass er dabei psycho-
logisch auf das Interesse reflektieren würde. 70 Formale und objektive
Seligkeit können für Fénelon nur zusammenfallen, wenn die Refle-
xion auf das Motiv der Erlangung der Seligkeit überwunden wird.
Umgekehrt gilt für ihn, dass die Rechtfertigung dieses Motivs bei
Bossuet die Erlangung der Seligkeit prinzipiell unmöglich machen
muss.

64 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 89.


65 Ebd. 40.
66 Ebd.
67 Ebd. 44.
68
Ebd.
69 Ebd. 56.
70
Ebd. 45–46.

163

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Der Grund, warum Fénelon und Bossuet sich mit ganz konträren
Intentionen auf Thomas beziehen können, liegt vor allen Dingen in
Thomas’ Begriff der Natur, der sich in seiner Weite vom Naturbegriff
des 17. Jahrhunderts unterscheidet. Thomas sagt sowohl: »Die Natur
ist auf sich selbst zurückgebeugt« 71, womit die Selbstliebe als Teil der
Natur bezeichnet ist, als auch, dass »von Natur jedes Wesen Gott
mehr liebt als sich selbst« 72, womit die reine Gottesliebe ebenso zu
einem Teil der Natur wird. Diese beiden Sätze stehen in einem
scheinbaren Widerspruch, der sich auflösen lässt durch Thomas’ Be-
griff der natürlichen Neigung, durch den das Verhältnis von Selbst-
und Gottesliebe in Analogie zu seinem oben erörterten Liebesbegriff
erklärt wird. In diesem Zusammenhang führt Spaemann zwei Zitate
Thomas’ an:
»Die Natur ist auf sich selbst zurückgebeugt, nicht nur in bezug auf
das, was sie Besonderes hat, sondern vielmehr in bezug auf das, was
gemeinsam ist. Denn ein jedes Ding ist dazu geneigt, nicht nur sich als
Individuum, sondern auch seine Art zu erhalten. Und um so mehr hat
ein jedes Ding eine natürliche Neigung zu dem, was das allgemeine
Gut schlechthin ist.« 73 […]
»Ein jedes natürliche Ding, welches in dem, was es selbst ist, einem
anderen zugehört, neigt sich fundamentaler und intensiver zu dem
hin, welchem es zugehört, als zu sich selbst.« 74
Der »ekstatische Charakter dieser Anthropologie« des Thomas – »Der
ganze Mensch ist um eines äußeren Zieles willen da, nämlich daß er
Gott genieße« 75 – ist im 17. Jahrhundert verloren gegangen und der
Naturbegriff auf das Streben nach Selbsterhaltung bzw. Eigenliebe
reduziert. Unter diesen Bedingungen »wäre die natürliche Liebe per-

71
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 95. – Spaemann verweist als Quelle
des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5, obj. 3. – Ebd. 324.
72
Ebd. 95. – In der Anmerkung zu diesem Thomas-Zitat verweist Spaemann auf
folgendes Zitat: »Gott über alles und mehr als sich selbst zu lieben ist nicht nur einem
Engel und dem Menschen naturgemäß, sondern überhaupt jeglichem Geschöpf.«
Quaest. quodl. I, 8. – Ebd. 324.
73 Ebd. 95. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60, art. 5,

ad 3. – Ebd. 324.
74 Ebd. 95–96. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 60,

art. 5. – Ebd. 324.


75 Ebd. 61. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Sum. theol. I, qu. 65, art. 2.

– Ebd. 317.

164

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4.3.3 Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität

vers und könnte durch die übernatürliche Tugend der caritas nicht
vollendet, sondern nur destruiert werden« 76.
Abschließend soll nun »nach den Gründen […] für die Wand-
lungen in der philosophischen Deutung der Liebe im Übergang zur
Neuzeit«, die sich in der Bezugnahme auf Thomas im amour-pur-
Streit widerspiegeln, gefragt werden. Spaemann sieht »zwei wesent-
liche Gesichtspunkte« 77, die oben im Zuge der Darstellung der bür-
gerlichen Ethik und nichtteleologischen Ontologie bereits erwähnt
wurden 78:
Der eine betrifft die Ersetzung des teleologischen Dynamismus in der
Ontologie durch eine Ontologie, in deren Mittelpunkt der Begriff der
Selbsterhaltung, und eine Psychologie, in deren Mittelpunkt das Mo-
tiv der Lust steht. Damit wird der thomistische Begriff des amor natu-
ralis hinfällig. Der zweite Gesichtspunkt betrifft die Theorie des amor
intellectualis […] [, die] zur notwendigen Voraussetzung die realisti-
sche Vernunfttheorie hat, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist
als sie selbst anwesend ist; auf Grund dieser im ekstatischen Wesen der
Vernunft gründenden Anwesenheit ist eine vernünftige Liebe denk-
bar, die das Andere als es selbst – nicht bloß in seiner Beziehung auf
die eigene »Natur« – zu ihrem Gegenstand macht. 79
Fénelon und Bossuet stehen beide auf dem Boden der als Selbsterhal-
tungsontologie gekennzeichneten neuzeitlichen Philosophie, – Bos-
suet in einer affirmativen, Fénelon in einer die Skepsis radikalisieren-
den ablehnenden Haltung. Beide sind dem cartesischen Ideal einer
distanzierenden »certa cognitio« 80 verpflichtet. Bossuets Bezugnahme
auf Thomas kann man als anachronistisch bezeichnen, er beruft sich
auf den Begriff hominis bonum (des Menschen Gut) bei Thomas, dem
er jedoch eine ganz andere Bedeutung beimisst als Thomas; für Féne-
lon stellt allein die reine Liebe eine Brücke zum Kern der thomasi-
schen Lehre dar. Die Fremdheit Thomas von Aquins aus der Sicht der
Kontrahenten im amour-pur-Streit konnte hier nur indirekt dazu bei-
tragen, die Lehre Fénelons weiter zu konturieren. An späterer Stelle 81
wird Thomas’ Denken im Zuge der Betrachtung der wissenschaft-

76 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 96.


77 Ebd. 102.
78 Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142.

79 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 102.

80
Ebd. 109.
81 S. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische

Perspektive, 172–179.

165

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

lichen Methodik der Studien Spaemanns einen direkten Beitrag leis-


ten, der seine ausführliche Thematisierung an dieser Stelle zusätzlich
rechtfertigen wird.

166

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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken

»Aus dem Streit mit Bossuet«, bemerkt Spaemann in der Einleitung


seiner Studien, »geht Fénelon politisch als Verlierer, moralisch aber
als unbestrittener Sieger hervor« 1. Als Folge der Verurteilung der
»Maximen der Heiligen« durch Papst Innozenz XII. war »die Wir-
kung der praktischen Theologie Fénelons für die katholische Welt
und darüber hinaus auf etwa hundert Jahre blockiert« 2. Spaemann
spricht dabei von einem »Pyrrhussieg[…] Bossuets«, durch den »für
die katholische Welt […] die Entwicklung einer modernen christ-
lichen Grundlegung der Ethik abgeschnitten schien« 3. »Die Öffent-
lichkeit mußte den Eindruck gewinnen, daß Bossuets religiöser Eu-
dämonismus gesiegt habe über eine christliche Ethik, die imstande
gewesen wäre, die Aufklärung von innen heraus zu überwinden.« 4
An Textstellen wie diesen wird deutlich, wie groß die Sympathie ist,
die Spaemann Fénelon entgegenbringt, und wie groß die Potentiale,
die er seiner Lehre für die Entwicklung einer modernen christlichen
Ethik zutraut. Mit der Ablehnung des amour pur habe der »Kirchen-
glaube« 5 sich »zu einer ›religion clause‹ gemacht und desjenigen Ele-
ments beraubt […], von dem er allein die Forderung des Offen-
barungsgehorsams mit dem Postulat der Autonomie des reinen guten
Willens versöhnbar geworden wäre« 6. Spaemann sieht eine direkte
Linie, die vom Sieg Bossuets zu Comtes »Programm einer Religion
ohne Gott« und Maurras’ »Katholizismus ohne Christentum« 7 führt. 8

1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 16.


2 Ebd. 17.
3 Ebd. 59.

4
Ebd. 208.
5 Kant unterschied in »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft«

einen »reinen Religionsglauben« und einen »Kirchenglauben«, vgl. Spaemann, Re-


flexion und Spontaneität (1963), 38, Fn. 2, u. ebd. 312, Anm. 16.
6 Ebd. 38.

7 Ebd. 19.

8 Auf dieser Linie liegt auch der Vicomte de Bonald, dessen funktionalistisches Den-

ken, wie oben – s. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens,
123–124 – gesehen, die mögliche Eliminierung Gottes aus seinem Gesellschaftsmodell
nahelegte. – Vgl. das Kapitel »Das Dilemma des Traditionalismus: Saint-Simon –
Comte – Maurras« in: Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der
Restauration (1959), 183–193.

167

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

Will man das Fortwirken Fénelons verfolgen, muss der theologi-


sche Kontext verlassen und die Aufmerksamkeit auf die Philosophie
gerichtet werden, vor allen Dingen auf Kant, dessen praktische Phi-
losophie man nach Spaemann »mit aller gebotenen Einschränkung
einen Sieg des ›Fénelonismus‹ nennen kann« 9. Fénelon und Kant ver-
bindet zunächst die Unterscheidung von »Formalobjekt« und »Mo-
tiv« 10 einer Handlung und damit die Konzentration auf den Willen,
der sich in der Handlung zeigt. Fénelons »Lehre vom amour pur ist
[…] eine Ethik des ›reinen guten Willens‹, wie sie später von Kant im
Gegensatz zum Eudämonismus der Aufklärung und der Orthodoxie
entwickelt wurde« 11. Spaemann deutet grundlegende Parallelen zwi-
schen Fénelon und Kant an, die in Fénelons Grundgedanken vom
Sterben der Natur bzw. in Kants Überwindung des universalen De-
terminationszusammenhangs in einer Kausalität durch Freiheit 12 be-
stehen und die philosophischen Programme beider annähern:
Wo das Wissen der ratio, zu Reflexionsphilosophie geworden, Freiheit
als Freiheit von sich selbst und als »uninteressiertes« Seinlassenkön-
nen nicht mehr als menschliche Möglichkeit fassen kann, erhebt sich
die Notwendigkeit, »das Wissen einzuschränken, um zum Glauben
Platz zu bekommen« 13, und, statt wie die Antike vom Können aus-
zugehen, vom Sollen auf das Können zu schließen. 14
Der Unterschied zwischen beiden liegt allerdings nach Spaemann da-
rin, dass für Kant die »Selbstbestimmung zur Tugendhaftigkeit […]
als einmaliger Bekehrungsakt […], als metanoia« 15 gedacht wird. Da-

9 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 59.


10 Ebd. 79.
11 Ebd. 30.

12 Vgl. Kant, KpV, A 82, »Von der Deduktion der Grundsätze der reinen praktischen

Vernunft«: »Das moralische Gesetz ist in der Tat ein Gesetz der Kausalität durch
Freiheit, und also der Möglichkeit einer übersinnlichen Natur, so wie das metaphysi-
sche Gesetz der Begebenheiten in der Sinnenwelt ein Gesetz der Kausalität der sinn-
lichen Natur war, und jenes bestimmt also das, was spekulative Philosophie unbe-
stimmt lassen mußte, nämlich das Gesetz für eine Kausalität, deren Begriff in der
letzteren nur negativ war, und verschafft diesem also zuerst objektive Realität.«–
Kant, Werke, Bd. 6, 162.
13 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Vorrede zur 2. Auflage der

Kritik der reinen Vernunft. – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 322.
14
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 87. – Vgl. Abschnitt 5.3.2, Das Ab-
solute in ethischer Perspektive, 304–313.
15
Ebd. 242.

168

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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken

gegen hat für »Fénelons Konzeption der Liebe […] diese in der Tat
keine andere Realität als die des Prozesses, in der sie erstrebt wird« 16:
Hier ist nun wohl die entscheidende Differenz zwischen jenen beiden
Konzeptionen des Ethischen zu sehen, die so überraschend viele Züge
und vor allem den antieudämonistischen gemeinsam haben. Jene Me-
tanoia, die die Befolgung eines für alle geltenden Gesetzes aus reiner
Achtung für dasselbe zur ausschließlichen Maxime des eigenen Han-
delns erhebt, steht bei Fénelon nicht in der erhabenen Isolierung, in
der sie sich bei Kant befindet, sondern ist selbst nur Moment in einem
Prozeß stufenweiser Läuterung zu immer größerer »Reinheit« der
Liebe, sie ist Stadium auf einem Wege, der weit unterhalb der kantisch
begriffenen Moralität beginnt – in seinen Anfängen trägt er ganz of-
fen und unbekümmert eudämonistische Züge –, einem Weg, der aber
in seinem Fortgang die Kantische Moralität hinter sich läßt und in den
Bereich jenes »Edlen« führt, das nach Kant »auf leere Wünsche und
Sehnsüchte nach unersteiglicher Vollkommenheit hinausläuft« 17, wo-
mit Kant den alten, von den Jansenisten erhobenen Vorwurf des
»Schimärischen« wiederaufnimmt. 18
Den Grund für diese Differenz erkennt Spaemann in der »abstrakten
Entgegensetzung von Sinnlichkeit und Vernunft« bei Kant, die bei
Fénelon durch die »Antithese von Liebe und Selbstsucht« 19 ersetzt ist,
wodurch er das sittliche Problem in ein pädagogisches verwandelt.
Abschließend sei noch kurz auf Schopenhauer, der sich selbst als
»Thronfolger Kants« 20 bezeichnete, und seine ausdrückliche Bezug-
nahme auf Fénelon hingewiesen. 21 Schopenhauer, der mit Bezug auf
Fénelon »die ›reine Liebe‹ als Mitleid bestimmt« 22, teilt die anti-
eudämonistische Orientierung der kantischen Ethik, kritisiert aber
ihre Form, wonach Sittlichkeit nur »durch Reflexion auf eine die
Selbstliebe transzendierende Maxime« 23, den kategorischen Impera-
tiv, erreicht werden soll. Demgegenüber ist für Schopenhauer die

16
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 243.
17 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: I. Kant, Kritik der praktischen Ver-
nunft, S. 155. – Ebd. 344.
18 Ebd. 244.

19 Ebd. 246.

20 Vgl. den Brief Schopenhauers an Julius Frauenstädt vom 26. 09. 1851. – Schopen-

hauer, Gesammelte Briefe, 266.


21
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 295–307.
22 Ebd. 299.

23
Ebd. 304.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

»Unmittelbarkeit […] des Sittlichen […] als Mitleid« 24 entscheidend:


»Insofern Schopenhauer gegenüber Kant auf der Unmittelbarkeit des
Sittlichen besteht, greift er ein wesentliches Motiv Fénelons auf und
kann sich mit Recht auf ihn berufen.« 25 Während es Schopenhauer
aber im Mitleid um die »Aufhebung der Individuation«, um die »Un-
mittelbarkeit der Einsfühlung« 26 geht, ist für Fénelons Konzeption
der reinen Liebe, wie in Teilkapitel 4.2 gezeigt wurde, die psycho-
logisch-ontologische Doppeldeutigkeit der sogenannten »direkten
Akte« entscheidend: »Die ›direkten Akte‹ im Gegensatz zu den ›re-
flektierten Akten‹ sind die psychologische Entsprechung zur mysti-
schen ›Seelenspitze‹, deren Unbewußtheit nicht als Unter-, sondern
als Überbewußtsein interpretiert wurde.« 27 Bei Fénelon geht es also
nicht wie bei Schopenhauer um eine »bloße Unmittelbarkeit« 28 – das
Nichtsein als Ziel des sittlichen Weges; seine Auseinandersetzung mit
dem Problem der Reflexion ist ja gerade eine unablässige Zerstörung
von Unmittelbarkeit.
Tatsächlich kann man bei Fénelon von einer Mediatisierung der ge-
samten Moral – ähnlich wie bei Kant – sprechen. Nur daß das Zentrum
der Vermittlung nicht im reflektierenden Subjekt liegt, sondern im
absoluten »Willen Gottes«, der in der Geschichte als dem Gang dessen,
was geschieht, sich als Kreuzigung des Eigenwillens enthüllt und zu-
gleich verbirgt. Von Spontaneität des Sittlichen muß daher bei Féne-
lon in einem paradoxen Sinn die Rede sein: Der einzige Akt reiner
Spontaneität ist für ihn jener Akt, der alle naturhafte Unmittelbarkeit
aufhebt, der des Gehorsams. 29
Schopenhauers Bezugnahme auf Fénelon verkürzt dessen Gedanken
also in einem entscheidenden Sinn, insofern nur seine psychologische
Redeweise, nicht aber ihr ontologischer Gehalt darin erhalten bleibt.
Wo Fénelon existentiell oder paränetisch spricht, kann es so scheinen,
als ob »Vernichtung« tatsächlich gleichbedeutend sei mit Aufhebung
der individuellen Existenz und damit des Seins überhaupt. Aber es
besteht kein Grund, diese Redeweise Fénelons von der theoretischen
Deutung zu isolieren, die er ihr selbst gegeben hat. In dieser Deutung

24 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 304.


25 Ebd. 305.
26 Ebd. 304.
27
Ebd. 305.
28 Ebd. 306.
29
Ebd.

170

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4.4 Fénelons Niederlage und sein Fortwirken

aber erscheint die Forderung des geistigen »Sterbens« nicht als ein
metaphysisches Postulat, sondern als die Folge der Sünde. Im Hin-
durchgang durch diesen »Tod« aber stellt sich der ordo amoris so wie-
der her, daß alles Endliche und auch die natürliche Selbstliebe darin
»aufgehoben« ist. Nicht das Nichts, sondern das Koinón ist das Wo-
raufhin der menschlichen Transzendenz bei Fénelon. 30
Im Rahmen dieser Ausführungen zur Fortwirkung Fénelons müsste
noch eine weitere Linie Erwähnung finden, die von Fénelon über
Kant bis ins 19. Jahrhundert führt und – wiederum gegen Kant –
den Fénelon’schen Begriff der Liebe akzentuiert. Auf diese wird aber
erst im abschließenden Teilkapitel 4.6 eingegangen werden.

30
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 306.

171

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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik:
Die geschichtsphilosophische Perspektive

Spaemanns Studien über Fénelon zeichnen sich durch eine auch für
seine späteren Hauptwerke 1 charakteristische essayistische Heran-
gehensweise aus. In den einzelnen Kapiteln werden als Schwerpunkte
entweder die Beziehung Fénelons zu bestimmten anderen Denkern
oder bedeutende inhaltliche Aspekte, unter denen seine Lehre be-
trachtet wird, ausgewählt. Dabei wiederholen sich wesentliche Ge-
danken leitmotivisch und es ergibt sich ein feingliedriges Netz an
intertextuellen Bezügen zwischen den einzelnen Kapiteln. Schwierig
scheint mir die Frage zu beantworten, worin das organisierende Prin-
zip dieser einzelnen Essays besteht, das sie, abgesehen von der mit
dem Untertitel »Studien über Fénelon« gesetzten inhaltlichen Klam-
mer, zu einer Einheit verbindet. Meine These, die ich im Folgenden
ausführen möchte, besteht darin, dass dieses organisierende Prinzip
der Studien in einer bestimmten Art der Perspektivierung der Lehre
Fénelons und der geistigen Strömungen und Denker, die zu ihm in
Beziehung gesetzt werden, besteht, die ihrerseits Ausdruck eines oft
latenten geschichtsphilosophischen Horizonts des Autors ist. Offen
gelegt wird dieser geschichtsphilosophische Horizont beispielsweise
durch einen literarischen Vergleich am Ende der Einleitung, womit
der Autor zugleich so etwas wie eine ›Leseanleitung‹ der Studien gibt.
Er bringt dort das Grundthema der Fénelon’schen Lehre – die Selbst-
aufhebung der Reflexion als Durchgangsstadium zur reinen Liebe –
mit Kleists »Marionettentheater« in Verbindung: »Wie in diesem
sind in ihr 2 das pädagogische und das geschichtsphilosophische Motiv
noch nicht voneinander geschieden, sondern zusammengehalten von
der theologischen Perspektive, wie sie Kleist in der Alternative von
›Gliedermann‹ oder dem Gott aufscheinen läßt.« 3 Wenn im letzten
Satz von Kleists Aufsatz – »das ist das letzte Kapitel von der Ge-

1 Dies gilt insbesondere für »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik« (1989) und
»Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹« (1996).
2 Die Bezüge in diesem Satz sind etwas undurchsichtig. Mir scheint am überzeu-

gendsten die Lesart, dass mit »diesem« auf das Thema der Fénelon’schen Lehre, mit
»ihr« auf das »Marionettentheater« – zu substituieren ist dann: »die Erzählung« –
Bezug genommen wird.
3
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 32.

172

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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive

schichte der Welt« 4 – »das ›psychologische‹ Problem der Reflexion in


einen geschichtsphilosophischen Horizont gerückt wird« 5, bedeutet
dies die Ausweitung der Perspektive auf einen die Entstehung der
Reflexion umgreifenden Zusammenhang und die Deutung des Pro-
blems der Reflexion vor dem Hintergrund dieses Umgreifenden. In
Kleists »Marionettentheater« wird der Bezug zum dritten Kapitel der
Genesis – der Geschichte vom Sündenfall – hergestellt und somit die
Geschichte der Menschheit, die Thema der Erzählung ist, in eine
theologische Perspektive gerückt. Im Hinblick auf Spaemanns Stu-
dien ist somit zu fragen, inwiefern es sich dabei noch um eine phi-
losophische Themenstellung handeln kann.
Dass ein junger Philosoph seine Habilitationsschrift über einen
Theologen verfasst, könnte an sich schon als merkwürdig empfunden
werden; dass der thematisierte Theologe aber in seinen philosophi-
schen Auseinandersetzungen mit dem Denken seiner Zeit, die, wie
gesehen, durchaus auf der Höhe derselben sind, bei der Aufhebung
der Reflexion und dem »universalen Schiffbruch der menschlichen
Vernunft« 6 anlangt 7, müsste für einen extrem grenzorientierten Phi-
losophiebegriff des Autors sprechen, wenn sich in dieser Betrachtung
des die Reflexion negierenden Theologen nicht doch noch ein genuin
philosophisches Interesse verbergen würde. Genau zu diesem genuin
philosophischen Interesse kann die im Hinweis auf das »Mario-
nettentheater« enthaltene Leseanleitung der Studien führen, wobei
allerdings – im Sinne einer direkten Umkehrung der Zusammen-
hänge – nicht wie bei Kleist das psychologische Problem in einen
theologischen Kontext, sondern das religiös motivierte Aufbegehren
Fénelons gegen die Reflexion in einen umfassenden philosophischen
Kontext gestellt wird.
Es ist hier also zu differenzieren zwischen dem, was Spaemann
in seiner Methodik aus dem Gleichnis des Marionettentheaters direkt
entnimmt, und der anders gearteten Richtung der Gedankenbewe-
gung bei Kleist. Sowohl bei Kleist als auch bei Fénelon geht es um
eine Dreistufigkeit der Entwicklung. Es geht erstens um das Stadium

4 Kleist, Sämtliche Werke, Bd. 2, 345.


5 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 311.
6 Ebd. 111.

7
Vgl.: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja nicht der Hoffnung, einen
höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist gleichbedeutend mit Absage
an Philosophie überhaupt.« – Ebd. 303.

173

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

der ›Unschuld‹, der »naturhaften Unmittelbarkeit« 8, zweitens um das


Stadium der Reflexion und drittens um eine Überwindung dieses
zweiten Stadiums. Diese Überwindung hat bei Kleist die Gestalt der
Utopie – »das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt« –, bei Féne-
lon die der in der Liebe möglichen »reinen Spontaneität« 9. Bei Kleist
ist diese Dreistufigkeit nicht nur ein »pädagogische[s]«, sondern auch
ein »geschichtsphilosophische[s] Motiv« 10, insofern die drei Schritte
– Unschuld, Reflexion, unendliches Bewusstsein – Stadien sowohl der
Entwicklung eines Individuums als auch der heilsgeschichtlichen Ent-
wicklung der Menschheit bezeichnen. Ein solches geschichtsphiloso-
phisches Motiv ist im Fénelon’schen Denken nicht expliziert, lässt
sich jedoch nach meiner Überzeugung sehr wohl in der spezifischen
Perspektivierung seines Denkens durch Spaemann finden. Diese Per-
spektivierung folgt nun aber einer anderen Richtung der Gedanken-
bewegung als bei Kleist, da es Spaemann nicht um ein theologisches,
sondern um ein philosophisches Bezugssystem geht. In seinen »Stu-
dien über Fénelon« setzt Spaemann zahlreiche Referenzpunkte, die
weit über das im Mittelpunkt des Interesses stehende 17. Jahrhundert
hinausgehen. Für das 18. Jahrhundert wurde hier Kant, für das 19.
Schopenhauer thematisiert. Im Blick zurück erscheinen Thomas von
Aquin als Vertreter der Hochscholastik sowie Platon und Aristoteles
als Vertreter der klassischen Philosophie als die wichtigsten Referenz-
punkte. In diesem annähernd 2500 Jahre umfassenden Spektrum
bewegen sich die Untersuchungen und es soll nun am Beispiel des
Begriffs der Glückseligkeit als eines zentralen Streitpunktes in der
Kontroverse zwischen Fénelon und Bossuet ihre spezifische Metho-
dik erläutert werden, die nach meiner Überzeugung wesentlich die
philosophische Bedeutung der Studien über Fénelon begründet.
Die Glückseligkeit wird nach christlicher Vorstellung erreicht
nach dem Tode in der Gottesschau (visio intuitiva) und die entschei-
dende Frage im Streit zwischen Fénelon und Bossuet ist, ob im ir-
dischen Dasein die Hoffnung auf sie zulässig ist oder nicht. Es seien
noch einmal kurz die Positionen der Kontrahenten in dieser Frage in
Erinnerung gerufen. Für Bossuet kann die Liebe zu Gott nicht von der
Hoffnung auf die ewige Seligkeit getrennt werden, so dass die Glück-
seligkeit ein zulässiges Motiv der Gottesliebe ist. Für Fénelon dagegen

8
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 138.
9 Ebd. 280.
10
Ebd. 32.

174

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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive

darf die Liebe zu Gott mit keinem anderen Motiv vermischt werden,
so dass die Hoffnung auf das zu erlangende Heil die reine Liebe zer-
stören würde. Fénelon beruft sich dabei auf Suarez 11 und unterschei-
det formale Seligkeit (»beatitudo formalis«) und objektive Seligkeit
(»beatitudo objectiva«) 12. Die eigentliche Seligkeit besteht demnach
nur in der Übereinstimmung von formaler und objektiver Seligkeit.
Der Sinn der Unterscheidung für Fénelon ist aber die Möglichkeit des
Auseinandertretens beider, wenn der subjektive Gesichtspunkt des
amour propre ins Spiel kommt, der dann die eigentliche Glückselig-
keit unmöglich macht. Für Bossuet dagegen kann die Hoffnung auf
Glückseligkeit nicht von der eigentlichen, zu erwartenden Glück-
seligkeit getrennt werden und er »insistiert auf der existentiellen Ein-
heit der Glückseligkeit im Vollzug unter Berufung auf das aristote-
lisch-thomistische Axiom, daß Erkenntnis und Erkanntes im Vollzug
des Erkennens identisch werden« 13. Es geht also um die Identität der
als Motiv der Gottesliebe im Denken vorhandenen Glückseligkeit
und ihrer Wirklichkeit in der Gottesschau. Das klassische Axiom der
Identität von Denken und Sein bei Aristoteles besagt, dass das Wesen
einer Sache, ihr Sosein, identisch ist mit dem Begriff von dieser
Sache, was sich bei Aristoteles sprachlich schon in der Doppeldeutig-
keit von εἶδος als einerseits die das Wesen der Sache bestimmende
Formursache, als andererseits der ihr Wesen bezeichnende Art-
Begriff 14 ausdrückt. Zu Bossuets Berufung auf dieses Axiom bemerkt
Spaemann: »Das klassische Axiom der Identität von Denken und
Sein, auf die Ebene der Reflexionsphilosophie transportiert, definiert
diese Identität aber nun nicht mehr vom intelligiblen Sein, sondern

11 Spaemann verweist in einer Anmerkung auf folgendes Zitat Suarez’ (1548–1617):


»Vgl. Suarez, De ultimo fine hominis, Disp. IV, sect. I, Opera omnia ed. André. IV
Paris 1856, S. 40: ›Eines ist die Sache, durch die wir selig werden, ein anderes ist die
Erlangung dieser Sache; jene heißt Gegenstand der Seligkeit oder objektive Seligkeit;
diese wird formale Seligkeit genannt, oder Erlangung der Seligkeit. Beide zusammen
aber machen die eine Seligkeit aus, weil eine ohne die andere nicht selig machen kann;
es ist vielmehr notwendig, daß beide in ihrer jeweiligen Eigenart zusammenkom-
men.‹« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 313.
12 Vgl. Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Auto-

rität, 163.
13 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 44–45.

14 Diese Ausdrucksweise ist allerdings nicht ganz exakt, da die Formursache logisch

»nur durch ein Gefüge definitorischer Begriffe umgrenzt« wird, was demnach die
exakte logische Bedeutung von εἶδος wäre. – Vgl. Horst Seidl, Einleitung zur Meta-
physik des Aristoteles, in: Aristoteles, Metaphysik. Erster Halbband, XXIX.

175

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

vom Subjekt und seinem Glücksverlangen aus, ohne die Entfrem-


dung, die sich eben darin vollzieht, zu reflektieren.« 15 Fénelon er-
kennt in der Position Bossuets das eudämonistische, vom amour pro-
pre beherrschte Denken, das nach seiner religiösen Überzeugung mit
der Gottesliebe nicht vereinbar ist. Daher beharrt er gegen das er-
wähnte Axiom auf der Unterscheidung der beiden Glückseligkeiten
und weist den Gedanken Bossuets zurück: Glückseligkeit als Motiv
der Gottesliebe kann nicht identisch sein mit der eigentlichen Glück-
seligkeit, weil es den Menschen in seinem Interesse isoliert und von
Gott abtrennt. Diese Haltung Fénelons kommentiert Spaemann wie-
derum wie folgt: »So reflektiert Fénelon die Entzweiung, die in der
Reflexion des ›privaten‹ Individuums auf sein Glück liegt, und seine
Distinktionen sind Darstellung dieser Reflexion.« 16 Das eigentlich
Bemerkenswerte an diesen Ausführungen zur Auseinandersetzung
um den Begriff der Glückseligkeit ist weniger in den aus der querelle
bekannten Streitpositionen zu suchen als in ihrer konkreten Perspek-
tivierung. Spaemanns Kommentar zur Position Bossuets entlarvt
diese als Anachronismus, also als eine die spezifischen Denkbedin-
gungen der Antike verkennende unkritische Übertragung eines klas-
sischen Axioms in die Gegenwart des 17. Jahrhunderts. Dahinter
steht Spaemanns Überzeugung, dass das klassische Denken eines Pla-
ton und Aristoteles unter prinzipiell von den unseren verschiedenen
Denkbedingungen steht und dass eine Bezugnahme auf dieses nur in
der simultanen Reflexion auf diese Denkbedingungen möglich ist,
wenn sie nicht zu einem Anachronismus führen soll. An anderer
Stelle der Studien bezieht sich Spaemann bei der Thematisierung
dieser Denkbedingungen auf Hegel:
Von der Philosophie des Plato und Aristoteles sagt Hegel, sie sei Sys-
tem, aber nicht in der Form des Systems gewesen. Das gleiche gilt für
das Problem der Reflexion. Man wird nicht sagen dürfen, die alte Phi-
losophie sei unreflektiert gewesen. Aber für ihre Art der Reflexion ist
die scholastische Unterscheidung einer Reflexion im vollzogenen Akt
und im ausdrücklich gesetzten Akt – in actu exercito und in actu sig-
nato – kennzeichnend. Alle Erkenntnis ist insofern reflektiert, als ich
mich in ihr immer auch unausdrücklich selbst als Erkennenden weiß.
Ebenso nimmt, wer dem sozialen Ganzen seinen Dienst leistet, zu-

15 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 45.


16
Ebd. – Vgl. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mys-
tik‹, 148. Dort wurde im Kontext des Begriffs der Entzweiung bereits die unmittelbare
Fortsetzung dieses Zitats angeführt.

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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive

gleich sein Interesse wahr. Aber durch diese Reflexion des endlichen
Bewußtseins sind Erkenntnis und Handeln nicht definiert. 17
Die klassische Philosophie wird missverstanden, wenn ihre prinzi-
pielle Fremdheit, die von Spaemann im Rahmen der Studien wieder-
holt betont wird, nicht aktiv reflektiert wird. Um die Bedeutung die-
ser Fremdheit in seinem geschichtsphilosophischen Horizont
nachzuvollziehen, muss jedoch zunächst die Perspektivierung der
Auseinandersetzung Fénelons und Bossuets um die Glückseligkeit
weiterverfolgt werden. Nachdem Bossuets Position als Anachronis-
mus entlarvt wurde, betrachtet er die Position Fénelons, deren eigent-
liche Bedeutung in dieser Perspektivierung jedoch nicht in der Op-
position gegenüber Bossuet besteht, sondern vielmehr darin, dass er
in seiner festgehaltenen Orientierung an der »theozentrischen Ein-
heit« Bossuets Position dialektisch aufhebt und damit indirekt den
Sinn der alten Philosophie erneuert. Indem Fénelon in diesem kon-
kreten Zusammenhang die Identität von Denken und Sein bestreitet,
bedeutet seine Berufung auf die reine Liebe nichts anderes als das
Offenhalten der Möglichkeit der Identität von Denken und Sein, die
ihm aber nur im reinen Glauben zugänglich ist. Durch die spezifische
Sicht Spaemanns auf diese Zusammenhänge erhält das Thema des
reinen Glaubens erst seine genuin philosophische Bedeutung. Diese
die innere Verbindung zwischen der alten Philosophie und der Posi-
tion Fénelons hervorhebende Perspektivierung rechtfertigt Spae-
mann im übrigen auch durch eine Aussage Fénelons selbst über Pla-
ton und Aristoteles, die diese in die Nähe des Gedankens der reinen
Liebe bringt:
»Diese Heiden, die in der Eitelkeit der Sinne wandelten und so sehr
sich selbst vergötterten, haben doch immer noch spekulativ von einer
Schönheit, einer Ordnung, einer Tugend, einer Gerechtigkeit gewußt,
die besser war als sie, und von einer Liebe zu dieser Schönheit, die,
weit davon entfernt, auf die Selbstliebe gegründet zu sein, vielmehr
Fundament und Regel für die Selbstliebe jedes einzelnen sein muß.«18
Wenn Fénelon sich gegen Bossuet oder auch gegen andere Vertreter
der neuen bürgerlichen Philosophie wendet, so gewinnen seine Dis-
tinktionen in dem Maße an philosophischer Bedeutung, wie sie nicht

17
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69.
18 Ebd. 83. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] III, 358.
– Ebd. 322.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

allein als explizite Absage an die Reflexion bzw. die Philosophie über-
haupt gelesen werden können, sondern von Spaemann zumindest
implizit immer auch als indirekte Erneuerung des antiken substanz-
ontologischen Denkens gelesen werden, das bei allen Modifikationen,
die an dieser Stelle noch nicht erläutert werden können, auch in der
mittelalterlichen Philosophie, hier vor allen Dingen bei Thomas von
Aquin, fortlebt. Eine weitere Textstelle soll die Perspektivik von Spae-
manns Untersuchungen und ihren geschichtsphilosophischen Hori-
zont verdeutlichen. Im Zusammenhang mit der im Übergang vom
Mittelalter zur Neuzeit vollzogenen Aufhebung der »realistische[n]
Vernunfttheorie, nach welcher die Wirklichkeit für den Geist als sie
selbst anwesend ist« 19, bemerkt er:
Wo Erkenntnis, wie in der Spätscholastik und dann bei Descartes, zu
einer Erfassung immanenter Begriffe wird, wird der Liebe nun die
ganze Last einer Realität aufgebürdet, von deren Erreichung die spe-
kulative Vernunft ausgeschlossen ist. Für Descartes ist allein der Wille
empfänglich für das Unendliche. Bei Fénelon wird sogar das cartesi-
sche Cogito auf einen vorausgehenden Akt der Liebe und des Gehor-
sams gegründet. Die Reinheit der Liebe aber erweist sich gerade im
Mut zum Ausharren in der »Dunkelheit des reinen Glaubens«. Mit
seiner Theorie des amour désintéressé, die nun wesentlich negativ,
von der Negation der Selbstliebe her verstanden aber doch in ihrer
»Objektivität« gerettet wird, steht Fénelon jedoch der Auffassung des
heiligen Thomas näher als die meisten Theorien der Liebe in der Neu-
zeit, die die »Objektivität« der Liebe überhaupt preisgeben, indem sie
sie auf das reduzieren, was bei Thomas amor concupiscentiae heißt,
oder doch, um die Subjektimmanenz nicht sprengen zu müssen, die
»delectatio« zum eigentlichen telos der Freundschaftsliebe machen –
was bei Thomas nur für den nicht zur Realität vordringenden amor
sensitivus gilt. 20
Dieses Zitat verdeutlicht zum einen, dass Fénelons reine Liebe für
Spaemann eine Art Brückenprinzip ist, durch das im Rahmen des
neuzeitlichen Denkens – wenn auch keine Erneuerung substanzonto-
logischen Denkens stattfindet – doch zumindest sein Platz durch eine
negative Theorie freigehalten wird. Zum anderen verdeutlicht dieses
Zitat, dass Fénelon selbst sich nur teilweise der metaphysischen Kon-
stante, die in seiner Lehre von der reinen Liebe ihren Ausdruck fin-
det, bewusst war. Seine Unterscheidung in der Dissertatio zwischen
19 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 102.
20
Ebd. 102–103.

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4.5 Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive

einer konkret psychologischen und einer abstrakt ontologischen Re-


deweise 21 zeigt, dass er diese metaphysische Konstante durchaus zum
Teil gesehen hat; dennoch steht Fénelon nach Spaemanns Darstellung
so sehr auf dem Boden der cartesianischen Philosophie – »Die Potenz-
Akt-Lehre ist ihm eine überholte Schultheorie« 22 –, dass die Zusam-
menhänge, die Spaemann im Verlauf seiner gesamten Studien her-
stellt, offensichtlich jenseits des Gesichtskreises Fénelon’schen Den-
kens liegen.
Durch diese spezifische Perspektivierung mit ihrem geschichts-
philosophischen Horizont gewinnen Spaemanns Studien erst ihre
genuin philosophische Bedeutung, die die Lehre Fénelons selbst zu-
nächst in Frage zu stellen scheint. In diesem Sinne stellen die »Studi-
en über Fénelon« eine neue Entwicklungsstufe der ihr Verhältnis zur
Metaphysik bedenkenden Geschichtsphilosophie dar, von der oben
die Rede war. 23 Dabei ergibt sich als ein wesentlicher Ertrag der Stu-
dien, dass aus der Bezugnahme auf Thomas von Aquin in der neu-
zeitlichen Philosophie aufgegebene Möglichkeiten des Denkens zur
Sprache kommen, deren Erneuerbarkeit hier zwar noch nicht zum
Thema wird, deren Betrachtung aber als implizite Sondierungen ge-
lesen werden kann, von denen aus die weitere Entwicklung des
Philosophen Robert Spaemann verständlich wird. Das im nächsten
Kapitel im Mittelpunkt stehende Thema der Naturteleologie ist eine
solche bei Thomas ausgeprägte und in der Neuzeit aufgegebene
Denkmöglichkeit, um deren Erneuerbarkeit es Spaemann im wei-
teren Verlauf seiner Entwicklung als Denker maßgeblich gehen wird.

21 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 54–55.


22 Ebd. 56. – Spaemann fügt diesem Satz in einer Anmerkung folgendes Zitat Féne-
lons bei: »Vgl. I, 126: ›Die Philosophen der Schule sprechen vom Akt wie von einer
von der Potenz und von der Handlung unterschiedenen Entität, die das Ziel der Hand-
lung darstellt. In diesem Sinn ist das Ziel die Erfüllung, die die Potenz vollendet. Kein
Cartesianer kann im Ernst so reden.‹« – Ebd. 316.
23
Vgl. Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, 100–101.

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4.6 Versuch einer Zusammenfassung:
Größe und Grenzen Fénelons

Die in den »Studien über Fénelon« spürbare Grundhaltung ihres Au-


tors gegenüber dem Gegenstand seiner Untersuchungen ist eine tiefe
Sympathie, die sich in einer minutiösen Rekonstruktion der Sicht-
weisen Fénelons aus einer Vielzahl von Quellen, in der offensicht-
lichen Bewunderung seiner Geradlinigkeit und Glaubensstärke und
auch in einer – soweit das über eine Distanz von gut 250 Jahren zu
sagen möglich ist – tief empfundenen menschlichen Nähe zu ihm
zeigt. Spaemann wird auch nicht müde, immer wieder die Verehrung
Fénelons zum Ausdruck bringende Aussagen vieler seiner ihrerseits
bedeutsamen Leser zu zitieren, es seien als Beispiele hier nur Leibniz,
Rousseau und Jean Paul genannt. Abschließend soll nun versucht
werden, einerseits das Gesamtphänomen Fénelon in dieser Perspek-
tivierung durch Spaemann dahingehend zu deuten, dass die Züge, die
für ihn seine Größe ausmachen, umrissen werden; andererseits soll
auf die Grenzen Fénelons in dem Sinne eingegangen werden, dass die
aus Spaemanns Sicht wohl bedeutendste Schwäche seiner Lehre, die
sich aus den oben erörterten problematischen Denkvoraussetzungen
Fénelons ergibt, bezeichnet wird. Im Hinblick auf diesen Aspekt wird
darüber hinaus, wie oben angekündigt, eine weitere Traditionslinie,
die von Fénelon ins 19. Jahrhundert führt, erwähnt.
Sieht man die »Studien über Fénelon« als Fortsetzung der in der
Bonald-Studie begonnenen philosophischen Arbeit, so erfährt ins-
besondere die Problematisierung des Ausgangs der neuzeitlichen
Philosophie vom Subjekt, der, wie gesehen, bereits dort ein Haupt-
gesichtspunkt der Betrachtung war, eine wesentliche Vertiefung.
Durch die prinzipielle Auseinandersetzung mit neuzeitlichen eudä-
monistischen Ethiken und die kritische Arbeit am cartesischen Ratio-
nalismus wird in den »Studien über Fénelon« erstens der Anspruch
der Subjektphilosophie als philosophia prima grundsätzlich in Frage
gestellt. Als ein weiteres zentrales Thema der Studien kann zweitens
das Problem der Selbsttranszendenz bezeichnet werden, das im Sinne
der ins Extreme gesteigerten Kritik an der Reflexion durch Fénelon in
ihrem Rahmen in schwer zu überbietender Subtilität durchdacht
wird. Dabei ist Selbsttranszendenz, wie der Begriff schon sagt, we-
sentlich ein Übergang, durch den die Frage nach ihrem Worauf in

180

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4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons

den Mittelpunkt rückt. Das Problem des Negativen als Worauf der
Selbsttranszendenz findet drittens in den Studien eine Erörterung,
die durch ihren charakteristischen geschichtsphilosophischen Hori-
zont erste Hinweise liefert, wie jenes »koinón« 1, das am Ende der
Studien als »Woraufhin der menschliche[n] Transzendenz« 2 bezeich-
net wird, denkbar wird und damit aus der reinen Negativität des Sich-
Entziehenden herausrückt. In dieser Sache leisten die Studien, wie
erwähnt, aber erst Sondierungen, durch die sich spätere Schritte der
gedanklichen Entfaltung bei Spaemann allenfalls andeuten; bei Féne-
lon nämlich bleibt es im Wesentlichen bei der »Dunkelheit des reinen
Glaubens«, der letzte Satz der Studien über Fénelon lautet: »Aus dem
spekulativen Karfreitag gibt es für ihn wesentlich keine spekulative,
sondern nur eine wirkliche Auferstehung.« 3
Eben in dieser Eigenschaft des Fénelon’schen Denkens kann auch
seine größte Schwäche gesehen werden. Das wesentliche Charakteris-
tikum seiner Lehre, um das in ihrer Darstellung durch das Umkreisen
des sich prinzipiell Entziehenden gerungen werden muss, wurde
ebenso zum Problem seiner Wirkungsgeschichte:
Die Fénelonsche Idee einer unvermittelten Unmittelbarkeit, der Wie-
dergewinnung spiritueller Spontaneität durch die totale Aufgabe des
endlichen Ich als Zentrum der Reflexion in der reinen Liebe konnte
sich schwerlich durchsetzen, da sie nur in einer gegenüber der Zeit
und ihrem Denken ohnmächtigen Inhaltslosigkeit auftrat. 4
Diese Inhaltslosigkeit ist nun aber nicht einfach das unabänderliche
Schicksal einer Lehre von der reinen Liebe, sondern die Folge einer
bestimmten Ausdeutung derselben, in der Spaemann eine problema-
tische Vorentscheidung Fénelons erkennt. Auf diesen Punkt soll nun
noch etwas näher eingegangen werden. Als Schüler Descartes’ ist
Fénelon Occasionalist: »Fénelon ist Anhänger der occasionalistischen
Theorie der Kausalität, die alle echte Verknüpfung und Wirkursäch-
lichkeit im Bereich des Endlichen ausschließt bzw. durch Gott vermit-
telt sein läßt. Es gibt kein Mitsein: alles Endliche ist als solches von
allem anderen Sein isoliert.« 5 Dieser Grundsatz hat im Fénelon’schen
Denken entscheidende Bedeutung für die Beurteilung möglicher zwi-

1 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 306.


2 Ebd.
3
Ebd. 307.
4 Ebd. 208.
5
Ebd. 40.

181

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

schenmenschlicher Beziehungen und der Möglichkeit von Begeg-


nung:
[…] für jede irdische Liebe gilt nach Fénelon das unerbittliche Gesetz
der Vermittlung durch die Eigenliebe: »Wir lieben nichts außer uns
selbst, es sei denn in Beziehung auf uns.« 6
Der Grund liegt darin, daß kein endliches Wesen uns so prinzi-
piell überlegen wäre, daß wir uns auf es hin zu transzendieren ver-
möchten. 7
Jede zwischenmenschliche Liebe ist Ausdruck des amour propre,
wenn sie nicht im Zuge einer »mystischen Transfiguration der
Freundschaft« 8 von jedem Eigeninteresse gereinigt und auf Gott be-
zogen wird. Spaemann zitiert Fénelon:
»Nur die Liebe zu Gott hat die Macht, uns aus uns selbst herausgehen
zu lassen. Wenn die mächtige Hand Gottes uns nicht stützte, wüßten
wir nicht, wohin wir den Fuß setzen sollten, um auch nur einen Schritt
aus uns heraus zu tun. Es gibt keinen Mittelweg. Wir müssen alles
entweder auf Gott oder auf uns selbst beziehen.« 9
Diese radikale Entwertung des Diesseits verweist den Menschen also
auf Gott als das alleinige Ziel der Selbsttranszendenz. Spaemann zi-
tiert in diesem Zusammenhang einen zeitgenössischen Fénelon-For-
scher 10, der »mit Recht« bemerkt habe, »bei Fénelon fehle das, was
Claudel ›den Geschmack der Erde zwischen den Zähnen‹ nenne« 11.
Hier liegt auch eine der ganz wenigen Stellen der Studien vor, an
denen Spaemann Fénelon offen kritisiert:
[…] in der Tat haftet dem Werk Fénelons bei aller Konsequenz und
Entschiedenheit immer etwas von der eigentümlichen Blässe an, die
man unwillkürlich mit dem von Fénelon so hochgeehrten Namen
von Saint-Sulpice verbindet. Aber Fénelon selbst, dem Unmittelbar-

6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI, 141. – Spae-

mann, Reflexion und Spontaneität (1963), 328.


7 Ebd. 124. – In einer Anmerkung fügt Spaemann ein Zitat Fénelons hierzu an: »›Der

Grund, warum kein Geschöpf uns aus unserem eigenen Bann lösen kann, liegt darin,
daß eben keines verdient, daß wir es uns selbst vorziehen‹ VI, 141.« – Ebd. 328.
8 Ebd. 121.

9 Ebd. 125. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: [A. a. O., 85, Fn. 13] VI,

140. – Ebd. 328.


10
Siehe ebd. 121, Fn.
11 Ebd. 121. – Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: F. Varillon, Œuvres spiri-

tuelles, Introduction, S. 82. – Ebd. 328.

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4.6 Versuch einer Zusammenfassung: Größe und Grenzen Fénelons

keit immer die normative Kraft eines absoluten Ideals hat, ist der
Überzeugung, daß es sie als natürliche für den Menschen nicht gibt. 12
Als Kontrapunkt zu dieser Blässe soll abschließend, wie angekündigt,
eine zuvor ausgesparte Linie der Fénelon-Rezeption angedeutet wer-
den, die sich mit dem Thema der Liebe gerade als irdischer befasst.
Einen Anhang zu seinen Studien widmet Spaemann dem Dich-
ter Jean Paul (1763–1825), der mit Berufung auf Fénelon »in aus-
drücklicher Abgrenzung gegen Kant« das Sittliche in der »durchaus
als ›metamoralisch‹ verstandenen Liebe« 13 fundiert sein lässt. Für
Kant kam ein solcher Versuch nicht in Frage, weil Liebe als Gefühl
für ihn in den Bereich des ›Pathologischen‹, also auf Lust Gegründe-
ten, gehört und eine solche Fundierung daher eine heteronome wäre.
Wenn Jean Paul im Unterschied zu Kant »nicht primär auf Pflichten
reflektiert, sondern auf jene spontane dialogische Transzendenz, in
der alle Pflichten gründen« 14, so geht es ihm um das, »was wir heute
eine personalistische Begründung der Sittlichkeit nennen würden« 15.
Diese Liebe wird von dem Verdacht, etwas bloß ›Pathologisches‹ zu
sein, dadurch befreit, dass die in ihr zum Ausdruck kommende
Selbsttranszendenz selbst als Grundtrieb der lebendigen mensch-
lichen Natur verstanden wird:
[…] die Öffnung des Ich aber zum schlechthin Anderen, das nicht ein
Fichtesches Nicht-Ich, sondern selbst wieder ein Ich ist, ist nicht Werk
des Willens, sondern der Liebe, und diese als das »Zentralfeuer« der
Existenz wird als »angeborene Kraft und Blutwärme des Herzens« be-
stimmt. Dem Herzen aber wird das körperliche zum Muster gegeben:
»Verletzbar, empfindlich, rege und warm, aber ein derber freifortschla-
gender Muskel hinter dem Knochengitter, und seine zarten Nerven
sind schwer zu finden.« 16 Der Begriff des Herzens 17 hat seit Pascal die
Funktion, dasjenige zu bezeichnen, was an zentral Menschlichem vom
Begriff der Vernunft nicht mehr gefaßt werden kann. Bei Jean Paul

12 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 121.


13
Ebd. 274.
14 Ebd. 278.

15 Ebd.

16 Spaemann verweist in Anmerkungen als Quelle der Zitate auf: Levana, Jean Pauls

Sämtliche Werke, hrsg. v. d. Preuß. Akad. d. Wissenschaften (E. Berend), Abt. 1,


Bd. 12, S. 334 u. S. 123. – Ebd. 346–347.
17 Dieser Begriff des Herzens wird Jahrzehnte später in Spaemanns Personenphilo-

sophie eine entscheidende Bedeutung erlangen. – Vgl. das Kapitel »Warum wir Per-
sonen ›Personen‹ nennen« in: Spaemann, Personen, 25–42, u. Abschnitt 8.3.1, Die
Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574.

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4 Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz

wie bei Jacobi gewinnt es Bestimmungen, die es in engster Nähe zu


jener Seelenspitze bringen, die für die Mystik das Innerste des Men-
schen und der Ort seiner Verbundenheit mit dem Göttlichen war, Be-
stimmungen, die aber darüber hinaus genau der Fénelonschen Deu-
tung der Seelenspitze entsprechen. 18
Es ist unverkennbar, dass Spaemann in Jean Pauls Fénelonismus das
notwendige Korrektiv entdeckt, das die erörterte Schwäche der Féne-
lon’schen Lehre kompensiert. In Jean Pauls Aufsatz »Es gibt weder
eine eigennützige Liebe noch eine Selbstliebe, sondern nur eigen-
nützige Handlungen« 19 findet er, wie er betont, »jene Deutung der
Liebe als ursprünglicher, transzendierender Spontaneität bestätigt,
die wir hier skizziert haben« 20. Dabei gibt die Aussage, dass die Liebe
als ursprüngliche Spontaneität den Menschen »sein eigenes Ich
transzendieren und dadurch erst wahrhaft zu einem Ich werden läßt«,
einen Grundgedanken der Dialogphilosophie wieder. 21 Der in diesem
Zusammenhang auftretende neue Schlüsselbegriff des Herzens, der
in die Nähe des mystischen Begriffs der Seelenspitze gebracht wird,
die ihrerseits einen substanzontologischen Begriff darstellt, wirft al-
lerdings nicht nur die Frage auf, wie diese Gedanken in den allgemei-
nen philosophischen Kontext der »Studien über Fénelon« integriert
werden können, sondern die prinzipielle Frage, wie ein solcher sub-
stanzontologischer Begriff in den philosophischen Diskurs der Ge-
genwart zurückehren könnte. Doch diese Fragen weisen über den
Kontext des vorliegenden Kapitels hinaus.

18 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 279.


19 Es handelt sich um einen Auszug aus Jean Pauls »Leben des Quintus Fixlein«, und
zwar aus dessen letztem Teil »Einige Jus de tablette für Mannspersonen«. – Jean Paul,
Leben des Quintus Fixlein, 245–252.
20 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 281.

21 Vgl. den Grundgedanken Martin Bubers: »Der Mensch wird am Du zum Ich.« –

Buber, Werke I, 97. – Spaemann spricht in diesem Kapitel wörtlich von einem »dia-
logischen Verhältnis«, aus dem heraus der Mensch lebt. – Spaemann, Reflexion und
Spontaneität (1963), 277.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Nach seiner Habilitation im Jahre 1962 wurde Spaemann zunächst


Professor für Philosophie und Pädagogik an der Technischen Hoch-
schule Stuttgart. In den nächsten Jahren folgten – neben Aufenthal-
ten in Brasilien und Salzburg – Lehrstühle in Heidelberg und in
München, wo Spaemann bis zu seiner Emeritierung 1992 blieb. Im
vorliegenden Kapitel werden die zahlreichen Publikationen Spae-
manns aus den 60er und 70er Jahren nach seiner Habilitierung im
Mittelpunkt stehen. Seine Schriften dieser Jahre umfassen ein breites
Themenspektrum. Verschiedene Stränge seines Denkens entwickeln
sich hier parallel zueinander, so dass eine kleinschrittigere Zeiteintei-
lung nicht überzeugend wäre. Betrachtet werden sollen daher in die-
sem Kapitel Spaemanns Veröffentlichungen nach den Studien über
Fénelon bis hin zu dem gemeinsam mit Reinhard Löw 1981 heraus-
gegebenen Buch »Die Frage Wozu?«, das auf einer im Wintersemes-
ter 1976/77 gehaltenen Vorlesung über Geschichte und Wiederent-
deckung des teleologischen Denkens beruht. 1 Bei der Betrachtung
dieses fast 20 Jahre umfassenden Schaffensabschnitts wird eine Aus-
wahl von Texten getroffen und werden diese in drei Gruppen geteilt.
Im Folgenden wird ein kurzer Ausblick auf die Einteilung der aus-
gewählten Texte und damit auf die Gliederung des vorliegenden Ka-
pitels gegeben.
Nach de Bonald und Fénelon ist Jean-Jacques Rousseau der dritte
große Franzose, dessen Denken für Spaemann von zentraler Bedeu-
tung wurde. Zwischen 1962 und 1980 entstanden eine Reihe von
Aufsätzen, die Spaemann dann in dem Band »Rousseau – Bürger
ohne Vaterland« (in der Neuauflage von 2008 unter dem Titel »Rous-

1 Vgl.: »Im Wintersemester 1976/77 habe ich dann den Versuch gemacht, der Frage
nachzugehen, wie es zur Abkehr vom teleologischen Denken im ausgehenden Mittel-
alter kam und wie ein Neuzugang zu ihm – die wesentlich schwierigere Frage – ge-
wonnen werden kann.« – Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 214.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

seau – Mensch oder Bürger«) zusammenfasste. In ihnen geht es vor


allen Dingen um die geschichtsphilosophische Bedeutung des Natur-
begriffs; diese steht im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.1. – Nachdem
die neuzeitliche Inversion der Teleologie, die bereits in der Disserta-
tion über de Bonald erwähnt wurde, ein Hauptthema der Studien
über Fénelon gewesen ist, machte sich Spaemann in den 70er Jahren
an eine gründliche Untersuchung des Teleologieproblems, die vor
allen Dingen im erwähnten Buch »Die Frage Wozu?« (in der Neu-
auflage von 2005 unter dem Titel »Natürliche Ziele« erschienen)
ihren Niederschlag fand. »Die Frage Wozu?« zählte Spaemann im
Rückblick neben »Personen« und »Glück und Wohlwollen« zu seinen
wichtigsten Werken. 2 Hier geht es gegenüber den Aufsätzen über
Rousseau um die metaphysische Bedeutung des Naturbegriffs; sie
steht im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.2. – Darüber hinaus fließen in
den Gedankengang eine Reihe von Essays Spaemanns zu den Themen
Theologie, Ethik und Naturrecht ein. Obwohl dieser Textkorpus recht
heterogen ist, wird er doch zusammengehalten von einer spezifischen
Orientierung am Absoluten, zu dem in diesen Texten auf verschie-
denen Wegen ein meist indirekter Zugang gesucht wird. Diese Zu-
gänge stehen im Mittelpunkt von Teilkapitel 5.3. – Die drei mit dieser
Unterteilung angedeuteten Entwicklungsstränge stehen in der hier
zu betrachtenden Phase des Schaffens Spaemanns schwach vermittelt
nebeneinander. Wesentliche Schritte zu ihrer Vermittlung werden im
folgenden sechsten Kapitel über Spaemanns Denken in den 80er Jah-
ren Thema werden.

2 Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens

(2008), 131.

186

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5.1 Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer
Perspektive

Was die Kontinuität in Spaemanns Philosophieren von der Bonald


gewidmeten Dissertation über die Studien zu Fénelon bis zur Aus-
einandersetzung mit Rousseau stiftet, ist vor allen Dingen das Inte-
resse am Thema der Entzweiung. Während die Entzweiung für
Bonald im Wesentlichen eine Folge der Französischen Revolution
war und daher durch entsprechende Korrekturen als aufhebbar ge-
dacht wurde, begriff Fénelon das Problem der Entzweiung fundamen-
tal als Kennzeichen neuzeitlichen Denkens, weswegen ihre Auf-
hebung für ihn, wie gesehen, nur im ›Tod der Natur‹ vorstellbar
war: Fénelon begreift »als den eigentlichen und einzigen Ort der Ver-
söhnung die Subjektivität […], die die Entfremdung auf sich zu neh-
men und als heilbringendes Kreuz zu tragen bereit ist« 1. Genau diese
zentrale Bedeutung der Subjektivität findet im Werk Rousseaus
einen gesteigerten Ausdruck. In der Einleitung zu seiner Aufsatz-
sammlung über Rousseau »Mensch oder Bürger – Rousseaus Weg
von der Polis zur Natur« schreibt Spaemann mit Blick auf das
18. Jahrhundert:
Wo jeder platonisch-teleologische Wesensbegriff des Menschen preis-
gegeben ist und wo auch die Gestalt des Menschensohnes nicht mehr
als unhinterfragbare Antwort auf die Frage: »Was ist der Mensch?«
akzeptiert ist, da wird Platz für neue Versionen des Ecce homo, so die
Version Rousseaus, so die Version Nietzsches. 2
Rousseau ist für Spaemann »in unvergleichlichem Sinne eine exem-
plarische Existenz« 3, da die Antinomien seines Zeitalters nicht bloß
Gegenstand seines Denkens sind, sondern sich sowohl in den ver-
schiedenen Stadien seiner geistigen Entwicklung als auch in den exis-
tentiellen Widersprüchen seiner Biographie niederschlagen. Dieser
antinomische Charakter seines Denkens müsste, wie Spaemann be-
merkt, die theoretische Bedeutung seines Werks in Frage stellen,

1
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 241.
2 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 15.
3
Ebd. 9.

187

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

es sei denn, dieser Autor sei selbst sein eigener Gegenstand, es gehe
ihm darum, in Umkehrung der primären Intentionalität sein eigenes
Denken als unmittelbares zu beschreiben, eine Art privater Phänome-
nologie des Geistes zu geben, und er beanspruche für diese private
Erfahrung einen exemplarischen Charakter. 4
Den theoretischen Status seines Denkens sichert somit die existenz-
philosophische Interpretation seines Werks, durch die in seinen Wi-
dersprüchen eine subjektive Verarbeitung der Antinomien des eige-
nen Zeitalters erkannt wird. Dies führt zu einer Konkretisierung der
Fragestellung an das Werk Rousseaus:
Inwiefern ist denn Rousseaus geistige Erfahrung exemplarisch, so daß
ihr eine theoretische und das heißt allgemeine Bedeutung zukommen
kann? Dies ist doch wohl nur dann der Fall, wenn die inneren, bewußt
ausgehaltenen Widersprüche einer geistigen Existenz geschichtliche,
das heißt allgemeine Antinomien einer Zeit sind. 5
Seinen eigenen Beitrag zur Rousseau-Forschung versteht Spaemann
als Andeutung der »Richtung einer geschichtlichen Konkretisierung
der existenzphilosophischen Interpretation« 6 Rousseaus. Dies bedeu-
tet, wie zu zeigen sein wird, dass Spaemann die disjecta membra, die
in Rousseaus Denken anzutreffen sind, genealogisch zu betrachten
versucht, um die ihnen zugrunde liegende »Idee zu rekonstruieren« 7,
womit er sich in seiner Betrachtung Rousseaus ausdrücklich über des-
sen eigenen Horizont hinauszubewegen beabsichtigt.
Diese einleitenden Bemerkungen beschließt ein knapper Aus-
blick auf die folgenden Gedankenschritte. Ausgangspunkt ist Rous-
seaus Sicht des geschichtlich-sozialen Zustands des Menschen des
18. Jahrhunderts, des Bourgeois’, dessen Verurteilung durch Rous-
seau analysiert wird (5.1.1). Danach wird zunächst Rousseaus politi-
sches Ideal skizziert, bevor im Zusammenhang mit der Kontroverse
um den ersten »Discours« der Übergang Rousseaus zum natürlichen
Ideal thematisiert wird (5.1.2). Einer eingehenderen Betrachtung be-
darf anschließend der Rousseau’sche Naturbegriff und die »Vor-
geschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« 8 (5.1.3). Auf dieser
Grundlage soll Rousseaus utopisches Erziehungskonzept knapp dar-

4 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 24–25.


5 Ebd. 25–26.
6
Ebd. 25.
7 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18.
8
Vgl. den Titel des Aufsatzes über Rousseau aus dem Jahre 1967 »Zur Vorgeschichte

188

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5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation

gestellt (5.1.4) und abschließend seine ›Lösung‹ problematisiert und


die Idee, deren disjecta membra Spaemann in Rousseaus Werk frei-
legt, thematisiert werden (5.1.5).

5.1.1 Fundamentalkritik der bürgerlichen Zivilisation

Schlagartig berühmt wurde Jean-Jacques Rousseau (1712–1778)


durch seine von der Académie de Dijon mit dem ersten Preis bedachte
Antwort auf die Frage: »Ob die Wiederherstellung der Künste und
Wissenschaften dazu beigetragen hat, die Sitten zu reinigen« 9. Rous-
seau verneinte diese Frage und löste mit seinem ersten »Discours«
eine anhaltende Kontroverse unter Intellektuellen aus. Die von Rous-
seau im ersten »Discours« geübte »Kritik an der europäischen bürger-
lichen Zivilisation« 10 fasst Spaemann in fünf Punkten zusammen, die
hier stark verkürzt wiedergegeben werden:
1. »Die moderne Zivilisation ist auf fortschreitende Bedürfnis-
weckung gegründet«. Da nach Rousseau »eine hedonistische Ge-
sellschaft keine freie Gesellschaft« sein kann, ist Fortschritt in
ihr »fortschreitender Freiheitsverlust«. 11
2. »Die Zivilisation ist gegründet auf das Auseinandertreten von
Sein und Schein«, das zur Unaufrichtigkeit zwingt und das bür-
gerliche Subjekt von seinen Mitmenschen entfremdet. 12
3. Da philosophisches Denken für Rousseau nur aufgrund seiner
sozialen Nützlichkeit zu rechtfertigen ist, sieht er in der »poli-
tisch-sozial nicht engagierten ›reinen Theorie‹« einen Ausdruck
der »destruktiven Emanzipation der Subjektivität«: »Philosophi-
sche Muße ist Zeitvergeudung, Diebstahl am Vaterland.« 13
4. Kennzeichnend für die Intellektuellen seines Zeitalters ist nach
Rousseau ein zwanghafter »Nonkonformismus«, die »Sucht,
sich zu unterscheiden«, die gegenüber der Wahrheit indifferent
ist und deren Antriebe »Eitelkeit« und »Hochmut« sind. 14

des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«, in: Spaemann, Rousseau – Mensch oder Bür-
ger, 85–113.
9 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 47.

10 Ebd. 56.

11 Vgl. ebd. 56–57.

12
Vgl. ebd. 57–58.
13 Vgl. ebd. 58–59.

14
Vgl. ebd. 59–61.

189

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

5. Künste und Wissenschaften betrachtet Rousseau als schädlich, da


sie fördern, »was die Menschen unterscheidet«, und vernachläs-
sigen, »was sie verbindet«. »Was sie verbindet, ist die Tugend, die
keiner besonderen Zurüstung bedarf.« 15
Alle genannten Punkte umkreisen in der einen oder anderen Weise
das Problem der Entzweiung, genauer die Entgegensetzung von Indi-
viduum und Gesellschaft. Das zentrale Problem der menschlichen
Lebensform in der bürgerlichen Zivilisation sieht Rousseau demnach
in dem inneren Widerspruch zwischen »natürlichem Egozentrismus«
des Individuums und dem »Verlust der Selbstgenügsamkeit« 16 bzw.
der Autarkie durch Abhängigkeit von der Gesellschaft: »Der unschul-
dige Egozentrismus, ›amour de soi‹, wird zum Egoismus, zum ›amour
propre‹, der immer der anderen bedarf, um sich zu befriedigen. Dieser
Widerspruch ist die Wurzel der Selbstentfremdung. Er läßt den Men-
schen zu einem schwachen Wesen werden.« 17 Verkörperung dieses
Egoismus und eigentliches Feindbild Rousseaus ist der Bourgeois, der,
»[h]in- und hergerissen zwischen Pflicht und Neigung«, »weder
Mensch noch Bürger« 18 ist. Der Bourgeois führt eine »›gemischte‹
Existenz« 19 in konstitutiver Unaufrichtigkeit:
Die Asozialität und Selbstbezogenheit des Naturmenschen ist es, die
den Bourgeois bestimmt, nur daß diesem natürlichen Egoismus nicht
eine ebensolche natürliche Autarkie entspricht. Dieser Egoismus ist
vielmehr zu seiner Befriedigung ständig auf die Gesellschaft und ihre
öffentliche Meinung angewiesen und darf, um ihren Beifall zu er-
halten, sich gerade nicht als das geben, was er ist, sondern muß in der
Maske der bürgerlichen Tugend gehen. So erst wird der natürlich-un-
schuldige »amour de soi« zum »amour propre« im heuchlerischen Ge-
wande tugendhaften Désintéressements. 20
Diese Darstellung erinnert an Fénelon und die Moralkritik etwa eines
La Rochefoucauld, zu der Rousseau die »genetische Theorie« 21 liefert.
Vor dem Hintergrund dieser Zeitdiagnose sind die verschiedenen

15 Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 61–62.


16 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 121.
17 Ebd.
18 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 35.
19
Ebd. 34.
20 Ebd. 35.
21
Ebd.

190

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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal

Entwürfe Rousseaus zu sehen, die dem Ziel dienen, die Entzweiung


von Sein und Schein zu überwinden.

5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal

Im erwähnten ersten Discours zur Frage: »Ob die Wiederherstellung


der Künste und Wissenschaften dazu beigetragen hat, die Sitten zu
reinigen«, beruft sich Rousseau ebenso wie diejenigen, gegen die er
sich in seinem Text wendet, auf die griechisch-römische Antike. »Pla-
ton, Sokrates und Cato werden angerufen gegen eine Kultur, die sich
ihrerseits als Wiedergeburt des klassischen Zeitalters, als ›Wiederher-
stellung der Künste und Wissenschaften‹ versteht.« 22 Die Antike ist
im 18. Jahrhundert als Maßstab offensichtlich so zweideutig gewor-
den, dass eine solche Berufung auf sie aus gegensätzlichen Interes-
senlagen möglich ist. Rousseau selbst glaubt sich mit Platon in Über-
einstimmung, indem er sich mit sokratischer Ironie – »zu wissen, daß
er nichts wisse« 23 – gegen die Philosophie stellt, Sokrates als »Kritiker
der Aufklärung« 24 deutet und ihn »mit den Zügen des johanneischen
Christus« 25 ausstattet. Rousseaus Verhältnis zu Platon ist nach Spae-
mann entsprechend verschlungen und widersprüchlich: »Rousseau
ist der platonischste aller Autoren des 18. Jahrhunderts. Und doch
sagt er das Gegenteil von Platon. Der Gegensatz wird verständlich,
wenn wir uns folgendes vergegenwärtigen. Platon hatte die Politik
philosophisch betrachtet, Rousseau betrachtet die Philosophie poli-
tisch.« 26 Platonisch ist an Rousseau sein Streben nach Einheit, nach
Überwindung der Entzweiung; hierzu kann für ihn aber gerade die
Philosophie kein Mittel sein, da er in ihr Ausdruck und Mittel zur
Steigerung der Entzweiung sieht: zersetzende Sophistik. Worauf es
ankommt, ist vielmehr eine politische Ordnung, die es dem Men-
schen ermöglicht, in seiner gesellschaftlichen Rolle aufzugehen.
Das politische Ideal im ersten »Discours« ist die griechische Po-
lis. Da die Philosophie – und allgemeiner: die Wissenschaften und
Künste – die Integration des Einzelnen in der Gesellschaft aber gerade

22 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 52.


23 Ebd. 53.
24
Ebd.
25 Ebd. 54.
26
Ebd. 54–55.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

verhindern, erscheint Rousseau als »Idealtypus der Polis« 27 nicht


Athen, sondern Sparta. Am besten sei demnach »diejenige Verfas-
sung […], die den Menschen am vollkommensten ›denaturiere‹, die
ihm seine eigene Existenz nehme und ihn zum Teil einer politischen
Totalität mache« 28. Sparta steht für eine von zwei Möglichkeiten, die
Entzweiung von Sein und Schein aufzuheben, indem hier »der Schein
absolut wird« und somit »in der totalen Denaturierung des Menschen
zum Bürger eine Lösung liege« 29. Sparta als politisches Ideal kann für
Rousseau allerdings kein Modell für die Gegenwart sein, da »diese
Lösung des Entfremdungsproblems […] wesentlich der Vergangen-
heit« 30 angehört. Lediglich für das moderne Polen hält er aufgrund
der Besonderheiten des polnischen Katholizismus »noch eine republi-
kanische Lösung des politischen Problems« 31 für möglich. Ansonsten
aber kann es für Rousseau in der Gegenwart »keine Bürger mehr«
geben, »wo es kein Vaterland mehr gibt«: »Die beiden Worte Vater-
land und Bürger müssen aus den modernen Sprachen getilgt wer-
den.« 32 Die Antwort auf die Frage, warum das so ist, gibt Rousseau
nach Spaemann im letzten Kapitel des »Contrat social«, in dem »jene
Macht beim Namen genannt [wird], die die ›institution publique‹ der
antiken Polis zerstört hatte, und zwar unwiderruflich, nämlich das
Christentum. […] Das Christentum ist keine Bürgerreligion, sondern
die ›religion de l’homme‹, die den Menschen als Menschen freisetzt
und zum Bürger des Universums macht.« 33 Rousseau sieht nach
Spaemann im Christentum also das Ende des politischen Ideals be-
gründet, eine These, die verwundern könnte, wenn man bedenkt, dass
derselbe Rousseau mit dem »Contrat social« ein staatsphilosophi-
sches Grundlagenwerk schuf.
Allgemein gesprochen aber gilt, daß mit dem Christentum die politi-
sche Existenz geschichtlich überholt ist, und ich möchte im »Contrat
social«, entgegen der Geschichte seiner Rezeption, weniger ein Zu-
kunftsprojekt als vielmehr den Abgesang auf eine Wirklichkeit sehen,

27 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 27.


28 Ebd.
29 Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 58.

30 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 122.

31 Ebd. 123.

32 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 28–29. – Spaemann

verweist als Quelle des Zitats auf: Émile ou de l’éducation. Ed. Garnier, Paris 1951,
S. 10. Ebd. 145–146.
33
Ebd. 29.

192

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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal

deren Strukturgesetz erst, wo sie im Zustand der Auflösung ist, klar


erkennbar hervortritt. 34
Wenn die Entzweiung von Sein und Schein in christlicher Zeit also
nicht mehr durch die politisch organisierte Verabsolutierung des
Scheins auflösbar ist, stellt sich die Frage, wie der entgegengesetzte
Weg der Aufhebung des Scheins und Verabsolutierung des Seins
denkbar wird. Auf diesen Weg wurde Rousseau im Rahmen der lang
anhaltenden Kontroverse um seinen ersten »Discours« geführt, in
der er auf Einwände reagierte und sich mit ihnen auseinandersetzte.
Die Gesichtspunkte der Entgegnungen auf Rousseaus ersten
»Discours« fasst Spaemann in drei Punkten zusammen, die hier wie-
der knapp wiedergegeben werden sollen:
1. Rousseaus »Dekadenzthese« wird als »unkritische Erneuerung
des Mythos vom Goldenen Zeitalter« bestritten. Die positiven
Effekte der Prozesse fortschreitender Bedürfnisweckung und
der Verfeinerung der Sitten werden gegen Rousseau akzentu-
iert. 35
2. Rousseau erkläre mit den Wissenschaften und Künsten »das
Heilmittel für das Unglück des Menschen zu dessen Ursache«.
Gegen Rousseau wird eine Apologie des Wissens betrieben, wo-
bei auch das Christentum als »Vermittlungsreligion« herange-
zogen wird. 36
3. Rousseau habe »keine Therapie anzubieten«, mehr noch mache
»seine Diagnose jede Therapie illusorisch«. 37
In dem Argument, wonach Wissenschaft und Kunst dazu beitragen,
den Mensch zu »domestizieren«, sieht Rousseau »das Tiefste, was zur
Verteidigung des Fortschritts gesagt werden kann« 38, ohne dieser Be-
wertung zuzustimmen, denn »gerade in dieser Domestikation sieht
Rousseau das Moment der Dekadenz« 39, die sich in der fortschreiten-
den »Entwicklung von Bedürfnissen« 40 zeigt. Für Rousseau gibt es
»nur einen einzigen objektiven Maßstab für das Bedürfnis: die phy-
sische Notwendigkeit« 41. Dagegen macht die fortschreitende Bedürf-

34 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 30.


35 Vgl. Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 70–72.
36 Vgl. ebd. 72–73.
37 Ebd. 73.
38 Ebd. 74.
39
Ebd.
40 Ebd. 75.
41
Ebd.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

nisvermehrung ihre Befriedigung unmöglich und bringt den Einzel-


nen in eine wachsende Abhängigkeit von anderen Menschen, womit
Rousseau »zum erstenmal auf reflektierte Weise die Apologie des
Tauschprinzips« 42 angreift. »Die Entgegensetzung der Interessen, die
die Menschen in Abhängigkeit voneinander bringt, zwingt sie gleich-
zeitig, ihr wahres Wesen voreinander zu verbergen. Das Tauschprin-
zip ist das Prinzip der Entfremdung.« 43 In Rousseaus Auseinanderset-
zung mit der zweiten Entgegnung, die »die Funktion von Kunst und
Wissenschaft betrifft« 44, zeigt sich nach Spaemann, wie Rousseau ein
»methodische[r] Durchbruch« 45 gelingt, indem er »weg von einer
abstrakten Faktorenanalyse« und »hin zu einer strukturellen Be-
trachtung gesellschaftlicher Phänomene« 46 gelangt. Während er im
ersten »Discours« die »Funktion von Kunst und Wissenschaft iso-
liert« untersuchte und sie als »Ursachen der Desintegration« 47 werte-
te, fasst er sie jetzt als »Symptome« auf und »gibt sogar denjenigen
Recht, die sie als Medikament bezeichnen« 48, sofern von einer Gesell-
schaft die Rede ist, in der die Desintegration bereits stattgefunden
hat. »In einer guten Gesellschaft sind sie schlecht, in einer schlechten
gut.« 49 Rousseau hält also an der Dekadenzthese seines ersten »Dis-
cours« fest, sieht nun jedoch eine veränderte Genealogie: »Ungleich-
heit – Reichtum – Luxus und Müßiggang – Kunst und Wissenschaft.
Und hier steht nun am Anfang der Ungleichheit das Privateigentum
als erste Ursache der Entfremdung des Menschen.« 50 Im Verlauf der
Kontroverse hat sich somit Rousseaus Interessenschwerpunkt ver-
lagert. »Mit dem Thema der Ungleichheit hat Rousseau die Frage-
stellung des zweiten ›Discours‹ erreicht« 51, in dem der Übergang
zum natürlichen Ideal vollzogen wird.
Rousseaus zweiter »Discours«, 1753 entstanden und zwei Jahre
später veröffentlicht, stellt eine Antwort dar auf die Frage: »Welches
ist der Grund der ungleichen Bedingungen unter den Menschen, und

42
Spaemann, Von der Polis zur Natur (1973), 76.
43 Ebd.
44 Ebd. 77.
45 Ebd.
46 Ebd.
47 Ebd.
48 Ebd. 78.
49
Ebd.
50 Ebd. 79.
51
Ebd. 80.

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5.1.2 Vom politischen zum natürlichen Ideal

sind diese durch das Naturrecht gerechtfertigt?« 52 Spaemann weist


darauf hin, dass bereits die Art der Fragestellung bezeichnend ist für
die Perspektive des 18. Jahrhunderts, da die Frage nach der »Legiti-
mation« der Ungleichheit seit dem »Verschwinden des teleologischen
Naturbegriffs« nur noch als »Ursprungsfrage« 53 gestellt werden
kann.
Die Frage nach der naturrechtlichen Legitimation von Herrschaft kann
also nur genetisch gestellt werden, ausgehend von einer ursprünglich
anzusetzenden Gleichheit. Die Frage nach dem Naturrecht wird zur
Frage nach einem vorgesellschaftlichen »status naturae« […]. Natur
ist also das Anfängliche. Dieses wird erschlossen durch Abstraktion
von allem Institutionellen, geschichtlich Gewordenen. 54
Das Gegenbild zum Bürger aus dem ersten »Discours«, das hier auf-
scheint, ist das des homme naturel, der durch »Asozialität« und
»Sprachlosigkeit« gekennzeichnet ist, da »ja auch die Sprache des
Menschen bereits zu seiner geschichtlich-sozialen Existenz gehört« 55.
Es geht also um den Menschen in einem hypothetischen natürlichen
Urzustand, der für Rousseau zum neuen Ideal wird. Spaemann lenkt
die Aufmerksamkeit nun auf den in diesem Ideal enthaltenen Begriff
der Natur und umreißt zunächst zwei Folgen dieses Naturbegriffs:
Erstens bildet er die Voraussetzung einer Geschichtsphilosophie […].
[…] indem aus dem Begriff der Natur des Menschen alles Geschicht-
liche radikal eliminiert wird, [wird] der Mensch in seinem faktischen
Dasein zu einem ebenso radikal und ausschließlich nur geschichtlich
zu begreifenden Wesen. Geschichte selbst aber wird von Rousseau an
als Heraustreten, als Emanzipation aus der Natur verstanden. 56
Da zweitens Geschichte prinzipiell als »Entfernung von der Natur«
gedeutet wird, können geschichtliche Gestalten »nicht an einem be-
stimmten Ideal von Natürlichkeit gemessen und beurteilt werden« 57.
Umgekehrt aber kann unter Berufung auf das natürliche Ideal »jede

52 Vgl. Schütz, Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hom-
mes, in: KLL, XIV, 387.
53 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 100.

54 Ebd. 100–101.

55
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 37.
56 Ebd.

57
Ebd. 38.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

bestimmte Gestalt geschichtlich-politischer Verwirklichung des


Menschseins« 58 von diesem Maßstab aus destruiert werden.
Vor dem Hintergrund dieser Konstruktion erhebt sich aber erst
recht die Frage, was das Ziel dieser so verstandenen Natur ist. Welche
Gültigkeit kann das natürliche Ideal noch beanspruchen, nachdem der
natürliche Urzustand unumkehrbar verlassen worden ist? Wie lässt
sich mit anderen Worten das natürliche Ideal aus dem hypothetischen
Urzustand in die Neuzeit transponieren? Bevor diese Fragen be-
antwortet werden können, bedarf es einer eingehenden Reflexion
des Rousseau’schen Naturbegriffs und seiner geschichtlichen Hinter-
gründe, in der maßgeblich die eingangs erwähnte »geschichtliche[…]
Konkretisierung der existenzphilosophischen Interpretation« 59 Rous-
seaus durch Spaemann zu sehen ist.

5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert« 60

Dass in dem Essay »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahr-


hundert«, den Spaemann in die Aufsatzsammlung über Rousseau
aufnahm, der Name Rousseaus erst in der Mitte des Essays nach
15 Seiten zum ersten Mal auftaucht 61, zeigt, wie weit Spaemann
glaubt ausholen zu müssen, um einen adäquaten Einblick in die
Hintergründe des Rousseau’schen Naturbegriffs skizzieren zu kön-
nen. Im Folgenden wird versucht, zunächst die wesentlichen Ge-
dankenschritte zur kursorischen Rekonstruktion der Vorgeschichte
des Naturbegriffs zu referieren, bevor der konkrete Bezug zu Rous-
seau und damit zum hier verfolgten Gedankengang hergestellt wird.
Der Begriff Natur hatte seit der klassischen antiken Philosophie
seine Bedeutung »aus dem jeweiligen Gegenbegriff gewonnen« 62 wie
etwa in der klassischen Antithese von φύσις und νόμος, wobei der

58
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 38.
59 Ebd. 25.
60 Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich auf den Essay Spaemanns

mit diesem Titel über Rousseau aus dem Jahre 1967 sowie den Essay »Natur« aus
dem Jahre 1973, der teilweise wörtlich mit diesem Rousseau-Essay übereinstimmt.
61 Rousseau findet in dem Essay zum ersten Mal Erwähnung im Zusammenhang mit

den katholisch und protestantisch vorgeprägten Fassungen des neuzeitlichen Natur-


begriffs: »Zwischen beiden steht Rousseau.« – Spaemann, Zur Vorgeschichte des Na-
turbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 99.
62
Ebd. 85.

196

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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«

jeweilige Gegenbegriff variierbar war. Die »Vieldeutigkeit des Natur-


begriffes« wurde jedoch bis zum 17. Jahrhundert nicht als ein Pro-
blem wahrgenommen,
solange das Wort »Natur« in den verschiedenen Gegensatzpaaren je-
weils eine analoge Funktion erfüllt. Die Eindeutigkeit des Natur-
begriffs wird durch die Eindeutigkeit seines Gegensatzes gewährleis-
tet. Immer bezeichnet Natur ein vom nomos, von der techne, von der
Freiheit nicht Gesetztes; immer gleichzeitig aber eine vom mensch-
lichen Lebenszusammenhang vorausgesetzte Bedingung seiner Mög-
lichkeit. Und fast immer ist der Begriff der Natur schon unausdrück-
lich dialektisch in dem Sinne, daß er sein eigenes Gegenteil mit
umgreift, so wie die Wahrheit den Schein. 63
Dass im 17. und 18. Jahrhundert die »Vieldeutigkeit des Natur-
begriffs ausdrücklich zum Problem« 64 wurde, kann also nur durch
veränderte Voraussetzungen des Denkens erklärt werden, die nun
anhand Spaemanns genealogischer Analyse des neuzeitlichen Natur-
begriffs freigelegt werden sollen. Spaemann benennt zwei Sachver-
halte als auffallend: Erstens findet diese Entwicklung gleichzeitig mit
der »einzigartige[n] Wendung zur Natur in der Weise der Naturwis-
senschaften« 65 statt; zweitens wird Natur wie in der Sophistik wieder
zu einem »Emanzipationsbegriff« 66, d. h. man beruft sich auf die Na-
tur im Interesse der Befreiung von etwas. Um die so sich abzeichnen-
de Zweideutigkeit des Naturbegriffs »grob und schematisch« 67 zu be-
stimmen, legt Spaemann die Bedeutungen des Begriffs Natur sowie
die damit korrespondierenden Begriffe der Geschichte und der Eman-
zipation dar. Das Wesentliche dieser Ausführungen 68 sei in folgender
Tabelle wiedergegeben: 69

63
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 86.
64 Ebd.
65
Ebd. 87.
66 Ebd.

67 Ebd. 88.

68 Vgl. ebd. 88–90.

69 Neben den beiden in der Tabelle dargestellten Naturbegriffen nennt Spaemann

noch einen dritten Begriff der Natur als »Totalzusammenhang der Erscheinungen«
und erwähnt außerdem die kantische Unterscheidung von Natur in materieller und
Natur in formaler Bedeutung. Die »Natur in materieller Bedeutung« nähert sich der
in der Tabelle unter »1« genannten, die »Natur in formaler Bedeutung« der unter »2«
genannten Bedeutung. – Vgl. ebd. 89.

197

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

1 2
Bedeutung des »individuelle, durch Selbst- »hypothetischer«, der
Begriffs Natur: erhaltungstrieb primär be- »Geschichte vorauf liegen-
stimmte Vermögensaus- der Anfangszustand des
stattung und Menschen«
Bedürfnisstruktur des
Menschen«
Korrespondierender »natürlich«, »innerhalb »antinatürlich«, »Ent-
Geschichtsbegriff: [der Natur] verbleibend« fernung von der anfäng-
lichen Natur«
Korrespondierender »Heraustreten aus« der »Rückkehr zur Natur« bzw.
Emanzipationsbegriff: Natur bzw. »Befreiung von »Befreiung der Natur«
der Natur«

Die hier dargestellten Bedeutungen werden nach Spaemann im


18. Jahrhundert nicht klar unterschieden: »Das 18. Jahrhundert
steckt in dieser Dialektik des Naturbegriffs und denkt sie infolge-
dessen noch nicht. Der Begriff scheint in eine beziehungslose Zwei-
deutigkeit auseinanderzufallen.« 70 Spaemann nennt nun zwei Grün-
de für das Problematisch-Werden des Naturbegriffs, wobei der zweite
eine Art konkreter Explikation des ersten ist: »Der erste Grund ist die
Abkehr von der teleologischen Naturbetrachtung, von der aristote-
lischen Idee der Entelechie. […] In der Idee der Entelechie war jene
Zweideutigkeit des Naturbegriffs als Anfang und als ein das Andere
seiner selbst als ›telos‹ Umgreifendes aufgehoben.« 71 Im Essay »Na-
tur« nennt Spaemann die in der Tabelle dargestellten Alternativen
ein »Zerfallsprodukt der vormaligen Entelechie« 72. Das Thema der
Entteleologisierung bzw. der Invertierung der Teleologie, das aus den
früheren Schriften Spaemanns bereits bekannt ist, wird nun hier mit
einem zweiten Motiv verbunden, das als Vehikel der Entteleologisie-
rung 73 verstanden werden kann:
Ich nannte einleitend die großen Antithesen, in denen der Natur-
begriff auftaucht und von denen her er seine jeweilige Bedeutung ge-
winnt. Ich habe dabei eine Antithese unerwähnt gelassen, die in der

70 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 90.


71 Ebd.
72 Spaemann, Natur (1973), 29.

73
Ein ähnlich kritischer Blick auf die Rolle des Christentums im Kontext der Ent-
teleologisierung wird geworfen in Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst
in die Natur hineinkam, 234–241.

198

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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«

frühen Neuzeit an Bedeutung alle anderen übertraf, die Antithese


»natura-gratia«, und später »naturale« und »supernaturale«. Diese
Antithese vor allem ist es, die den sozialtheoretischen Naturbegriff
des 18. Jahrhunderts vorbereitet. 74
Durch diese Antithese habe »der Naturbegriff eine tiefgreifende
Wandlung« erfahren, und zwar »in doppelter Weise« 75, wie im Fol-
genden erläutert werden soll.
Der Begriff der Gnade (gratia) in der Bedeutung wohlwollender
Zuwendung ist als theologischer Begriff dem klassischen antiken
Denken fremd. Die Antithese ›natura-gratia‹ kann insofern als Inter-
ferenzerscheinung zwischen dem klassischen philosophischen und
dem christlichen theologischen Denken angesehen werden:
Die Unterscheidung von Natur und Gnade ist der Versuch, das
Schema der klassischen Polarität »Natur – Praxis« auf eine neutesta-
mentliche Lehre abzubilden, nämlich auf die Paulinische und Johan-
neische Lehre, daß der Mensch, wie er faktisch ist, als »Fleisch«, d. h.
»von sich aus« das nicht werden kann, was er seiner Bestimmung nach
ist. Er kann zwar wollen, aber die Grundrichtung seines Wollens liegt
nicht noch einmal in seiner Verfügung. Sich selbst überlassen ist das
Wollen bloße Selbstbehauptung, also böse. Um gut zu sein, bedarf der
Mensch einer besonderen göttlichen, durch Jesus vermittelten Inter-
vention, die wegen ihres ungeschuldeten Charakters auch Gnade ge-
nannt wird.
[…] Wo diese existentialen Bestimmungen nun in Termini des
klassischen ontologischen Natur-Praxis-Schemas gedacht werden, da
tauchen die Fragen auf, die sich die neutestamentlichen Autoren nicht
gestellt hatten und die das Schema selbst sprengen sowie den Natur-
begriff tiefgreifend verändern mußten. Wenn nämlich »Fleisch und
Blut«, die nach Paulus »das Reich Gottes nicht erben können« 76, mit
»Natur« identifiziert werden, dann scheint jene Art von Praxis, die
durch die Gnade definiert ist, nicht mehr in einem Bereich zu liegen,
der im Vorhinein durch »Natur« umschrieben ist. 77
Der Versuch einer Implementierung des klassischen antiken Schemas
in das christliche Denken drängt also dazu, die Natur als völlig auto-
nom und von Gott getrennt aufzufassen. Thomas von Aquin ver-
suchte als Aristoteliker diese Dynamik aufzuhalten, klassisches und

74 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 92.


75
Ebd.
76 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: 1. Kor. 15,50. – Ebd. 38.
77
Spaemann, Natur (1973), 24.

199

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

christliches Denken miteinander zu verbinden, indem er an der


Selbsttranszendenz der natura intellectualis festhielt: »Aufgrund die-
ser ›natura intellectualis‹ hat der Mensch die Eigentümlichkeit, auf
ein Ziel hin zu tendieren, das er doch wegen der ›eminentia‹ dieses
Zieles auf natürliche Weise nicht erreichen kann, sondern ›nur durch
Gnade‹.« 78 Nach Thomas strebt die menschliche Natur also zu Gott,
bleibt aber für die Erreichung ihres Ziels auf göttliche Gnade ange-
wiesen. Wie Spaemann weiter ausführt, wurde in der späteren Scho-
lastik »dieser Gedanke einer immanenten Teleologie, die doch wegen
der Unendlichkeit des Telos nicht selbst imstande sein sollte, dieses
Telos hervorzubringen« 79, verworfen. Die Folge dieser Entwicklung
war ein monistisches Naturverständnis, das sich bewegt »in der Rich-
tung auf die cartesisch-spinozistische Definition der ›Substanz‹ als
das, was begriffen werden kann ohne den Begriff eines anderen« 80.
Natur wird also nicht mehr dialektisch verstanden von ihrem Gegen-
begriff her, sondern als abstrakter, zwischen Pantheismus und Athe-
ismus oszillierender Totalbegriff. Weiter unterstützt wurde diese
Entwicklung durch »das Vordringen juristischer Kategorien in der
Interpretation der Heilsgeschichte« 81, nämlich des Gedankens, dass
eine natürliche Selbsttranszendenz einen »Versorgungsanspruch« 82
begründen würde und die Gnade damit nicht mehr den »Charakter
des freien Geschenkes« 83 hätte. Dass der somit angebahnte Wandel
des Naturbegriffs sich aber, wie erwähnt, »in doppelter Weise« 84 voll-

78 Spaemann, Natur (1973), 25.


79 Ebd. und: Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert
(1967), 94.
80 Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 95. – Vgl.: »Die Teleologie wandert bereits in dieser Konzep-
tion erkennbar aus der Welt hinaus, und der Geist, der den Dingen ihre Richtung und
ihre Bestimmung gibt, ist dann Gott. Zurück bleibt in der Konsequenz dieses Ge-
dankens nur noch eine sich selbst genügende Natur. Diese Vorstellung einer in sich
geschlossenen Natur bereitet auf neuzeitliche Konzeptionen vor, wie wir sie bei Des-
cartes oder Spinoza vorfinden, die von einer Substanz sprechen, die für sich, ohne
Relation auf ein anderes, verständlich ist. Spinozas Formel ›Deus sive natura‹ bringt
diese Entwicklung auf den Punkt.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 178–
179.
81 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders. Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 96.


82
Ebd.
83 Ebd.

84
Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 92.

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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«

zog, ist in der gegenläufigen Verarbeitung dieser Entwicklung durch


die katholische und protestantische Theologie begründet.
Auf katholischer Seite entstand »die folgenreiche Konstruktion
einer ›natura pura‹« 85, eine Vorstellung von der – nicht zuletzt
menschlichen – Natur als vollkommen sich selbst genügender, der
der Bezug auf Gott ganz äußerlich ist:
Die Heilsbestimmung ist hinsichtlich der menschlichen Natur bloß
akzidentell. Die Hinordnung der Natur auf diese Bestimmung besteht
nur in einer sogenannten »potentia oboedientialis«, einer passiven Fä-
higkeit, durch die göttliche Allmacht in eine solche neue Bestimmung
hineingenommen zu werden. […] Um der Gratuität der Gnade willen
wird von den Theologen die Autonomie der Natur zu einem Postulat
gemacht, der gegenüber die Gnade nur den Charakter eines »super-
additum« hat. 86
Im Essay »Natur« bemerkt Spaemann dazu 87: »Mit dem System der
natura pura verliert das Reich der Gnade jede innere Notwendig-
keit« 88. Wenn die Natur nicht mehr als auf Selbsttranszendenz ange-
legt vorgestellt wird, löst sich die jenseitige Welt völlig von ›dieser
Welt‹ ab, in der eine naturwissenschaftliche Welterklärung unter
Ausklammerung aller transzendenten Bezüge möglich wird. Die Re-
formatoren übernehmen ebenfalls diesen Naturbegriff, kehren die
Deutung aber um. Hier ist die menschliche Natur zunächst nicht au-
tonom und Gottes Gnade gegenübergestellt, sondern voll und ganz
auf Gott ausgerichtet; allerdings gilt das nur für die »paradiesische
Verfassung des Menschen« 89. Voraussetzung des Begriffs einer trans-
zendenzlosen Natur in ›dieser Welt‹ ist dann die »Idee der totalen
Verderbtheit der menschlichen Natur durch den Sündenfall« 90, durch
die sich schließlich eine gewisse Spiegelbildlichkeit von protestanti-
schem und katholischem Naturbegriff ergibt. Für die »Theoretiker

85 Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 95.


86 Spaemann, Natur (1973), 26–27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 95–96.


87 Diese Folgerung fehlte in dem sechs Jahre zuvor entstandenen Essay über Rous-

seau noch.
88 Spaemann, Natur (1973), 28.

89 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 96.


90 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 97.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

der ›natura pura‹« ist der Sündenfall nicht der Sturz in die »totale
Verderbtheit«, sondern lediglich der »Verlust eben jener akzidentel-
len übernatürlichen Bestimmung« 91, so dass der Unterschied zwi-
schen den Konfessionen mehr in dieser Deutung des Falls als in dem
Naturbegriff beider zu suchen ist. Die autonome Natur des Men-
schen ist im Protestantismus die gefallene, im Katholizismus die reine
Natur.
Zum Abschluss dieser Rekonstruktion der Vorgeschichte des
Naturbegriffs im 18. Jahrhundert seien die beiden von Spaemann
hervorgehobenen Konsequenzen der beiden Konzeptionen (der ka-
tholischen und der protestantischen) zusammengefasst. Auf der
einen Seite – der »protestantischen« – wird die Natur »in einen heils-
ökonomischen Zusammenhang« eingefügt und der »Naturbegriff
selbst zu einem Moment der Geschichtstheorie« 92, da sich Natur
nicht empirisch zeigt und umgekehrt alles, was sich zeigt, bereits ge-
schichtlich »aus einer Entfernung von der Natur resultiert« 93. Natur
wird zu einem geschichtsphilosophischen utopischen Begriff. Auf der
anderen Seite – der »katholischen« – bleibt als einziges Bestim-
mungsmerkmal dieses Naturbegriffs der »Gegensatz zum Übernatür-
lichen«, so dass er, »wo die Idee des Übernatürlichen dem kritischen
Verdikt der Aufklärung verfällt, zum Begriff für die Totalität des
Seins wird, da er nun überhaupt kein Gegenüber mehr hat« 94. Dieser
Allbegriff bezahlt seine Ausweitung mit innerer Zweideutigkeit, er
wird »in sich selbst dialektisch, wie es mit jedem spekulativen Begriff
geschieht, der den Bezug auf sein Gegenüber verloren hat« 95.
Wie oben angekündigt soll nun diese Rekonstruktion des Natur-
begriffs im 18. Jahrhundert in Beziehung zu Rousseaus Denken ge-
setzt werden. Spaemanns These ist, dass die skizzierten »konfessio-
nellen Gegensätze in der Fassung des Naturbegriffs [sich] innerhalb
der philosophischen Naturtheorien durchhalten« 96:
Die aufklärerische Durchführung eines geschlossenen Systems der
»natura pura« geschieht im katholischen Frankreich. Die geschichts-
philosophischen Varianten der Sündenfalltheorie, die Vorstellung

91 Spaemann, Natur (1973), 27, u. Ders., Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im

18. Jahrhundert (1967), 97.


92 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 98.

93 Ebd.

94
Ebd.
95 Ebd. 98–99.

96
Ebd. 99.

202

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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«

vom notwendigen Verlassen des Zustandes einer radikal bösen oder


aber böse gewordenen Natur finden sich im protestantischen Idealis-
mus, aber zuvor schon bei Thomas Hobbes mit seinem kategorischen
Postulat: »Wir glauben, … daß man aus dem Naturzustand heraus-
gehen muß.« 97 Zwischen beiden steht Rousseau. Er, der zweimalige
Konvertit, bildet den Übergang von einer Konzeption zur anderen. Er
hat den Naturbegriff der Aufklärung radikal zu Ende gedacht und
eben deshalb das »système de la nature« 98 verlassen. 99
In Rousseaus Position können also, heillos durchmischt, Versatz-
stücke der katholischen und der protestantischen Konzeption der
Natur gefunden werden. Wie oben im Zusammenhang mit dem zwei-
ten »Discours« dargelegt, wurde die Frage nach der Legitimität der
Ungleichheit unter den Menschen dort als Ursprungsfrage gestellt,
womit die »Frage nach dem Naturrecht […] zur Frage nach einem
vorgesellschaftlichen ›status naturae‹« 100 wird. Die Verlagerung des
Naturzustandes in einen vorgeschichtlichen Urzustand ist dabei ein
protestantisches Motiv, die konkrete Fassung des Naturzustandes als
status naturae purae hingegen steht in katholischer Tradition.
Der »status naturalis« wird zu einem nicht mehr faktisch-histori-
schen, sondern rein hypothetischen Zustand, der aus methodischen
Gründen angenommen werden muß. Und in eben diesem Zusammen-
hang bezieht sich Rousseau auf den »status naturae purae« der Theo-
logen. »Lassen wir also zuerst einmal alle Tatsachen beiseite«, heißt es,
und »freilich haben sich die Menschen nie im reinen Naturzustand
(pur état de nature) befunden«. 101 Dieser Naturzustand wird konstru-
iert, »indem dieses Wesen aller übernatürlicher Gaben, die es hat emp-
fangen können, und aller künstlichen Fähigkeiten entkleidet wird«. 102

97 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »e tali statu (sc. naturali) exeundum
… putemus.« Thomas Hobbes: De cive, Opera latina II, p. 166. – Ebd. 150.
98 Mit dem »système de la nature« spielt Spaemann an auf den französischen Auf-

klärungsphilosophen Paul-Henri Thiry d’Holbach (1723–1789), der in seinem »Sys-


tème de la Nature ou Des Lois du Monde Physique et du Monde Moral« ein grund-
legendes Werk des philosophischen Materialismus schuf.
99 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 99.

100 Ebd. 101.

101 Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »Com-

mençons donc par écarter tous les faits; il faut nier que … les hommes se soient
trouvés dans le pur état de nature.« J.-J. Rousseau: Discours sur l’inégalité. Ed. Gar-
nier, Paris 1960, S. 40. – Ebd. 150.
102
Spaemann verweist auf das französische Original und die Quelle des Zitats: »… en
dépouillant cet être de tous les dons surnaturels, qu’il a pu recevoir et de toutes les
facultés artificielles.« A. a. O., S. 41. – Ebd. 150.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Die Methode, mit deren Hilfe die Natur in ihrem positiven Gehalt
ermittelt wird, ist die der Reflexion auf die eigene, noch nicht sprach-
lich vermittelte Spontaneität, eine »méditation sur les premières et
plus simples opérations de l’âme humaine« 103. 104
Spaemann weist an dieser Stelle auf die Parallele zu Fénelon hin, des-
sen Problem, wie »die Reflexion imstande sein soll, eine Spontaneität
zu entdecken, die durch eben diese Reflexion gerade aufgehoben
wird« 105, Rousseau allerdings umgangen habe. Stattdessen setzt er
den Urzustand des homme naturel als den der reinen Spontaneität,
der wiederum – ganz im Gegensatz zu Fénelon – als transzendenz-
loser Zustand aufgefasst wird: »Der ›status naturae purae‹ ist nach
Rousseau der der vollkommenen Selbstgenügsamkeit des einsamen
Individuums. Er drängt deshalb von sich selbst her nicht über sich
hinaus.« 106 Der Gedanke der »totale[n] Selbstbezüglichkeit des Indi-
viduums« 107 im Naturzustand folgt dem »aus der augustinischen Tra-
dition stammende[n] Axiom« 108, wonach die Natur »stets auf sich
selbst zurückgekrümmt« 109 ist. Menschliches Handeln ist bestimmt
»von dem invertierten Streben nach Selbsterhaltung« 110. Dass der
homme naturel diesen Naturzustand überhaupt verlässt, ist begrün-
det in »einer spezifischen Eigenart des natürlichen Menschen: der
Freiheit als einer gewissen Unabhängigkeit vom Instinkt und der da-
raus folgenden Perfektibilität« 111. Dieser Begriff habe bei Rousseau
keinerlei teleologische Implikationen, die »Perfektibilität ist keine
Entelechie, die nach Verwirklichung eines Telos drängt, sondern eine
bloß passive Disposition zur Entwicklung sozialer Eigenschaften« 112,

103 Spaemann verweist auf die Übersetzung und die Quelle des Zitats: »Meditation

über die ersten und einfachsten Operationen der menschlichen Seele«. A. a. O., S. 37.
– Ebd. 150.
104 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 102.

105
Ebd.
106 Ebd. 103.

107 Ebd. 104.

108 Ebd.

109 Ebd. – Spaemann verweist auf das lateinische Original und die Quelle des Zitats:

»Natura semper recurva in seipsa«, z. B. Albertus Magnus: Summa theol. II; tract. IV,
qu. 14, art. 2. – Ebd. 150.
110
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 28.
111 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 103.

112
Ebd.

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5.1.3 »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«

womit sie sich als genaues Analogon zur erwähnten potentia oboe-
dientialis im System der natura pura erweist. 113
Das »Heraustreten aus dem Naturzustand« bleibt für Rousseau
»immer zweideutig«, »Berufung des Menschen in eine übernatürli-
che Ordnung« und »Sündenfall« 114 zugleich. In jedem Fall ist dieses
Heraustreten verknüpft mit der Entzweiung: »Das Dasein außerhalb
des ›status naturae purae‹ ist und bleibt entfremdetes Dasein. Der
spätere Begriff der Entfremdung ist unzertrennlich verknüpft mit
dem rousseauschen Naturbegriff.« 115 Die Entzweiung von Sein und
Schein kann in zwei Richtungen aufgelöst werden, durch Überwin-
dung des Seins oder des Scheins. »Rousseaus politisches Ideal ist es,
den Schein so total werden zu lassen, daß das Sein, die Natur ver-
schwindet.« 116 Diese Möglichkeit ist, wie oben gesehen, durch das
Christentum aufgehoben worden. Es bleibt also nur die umgekehrte
Richtung:
Was deshalb geschehen kann, ist nicht die Wiederherstellung der po-
litischen Einheit, die auf Denaturierung gegründet war. Auch der
»Contrat social« ist kein Zukunftsentwurf, sondern ein Abgesang.
Was geschehen muß, ist die Vollendung der Emanzipation des »hom-
me naturel« durch eine »éducation naturelle«, die der bourgeoisen
Zwittererziehung entgegengesetzt ist. 117

113
Dieser Einschätzung der Vergleichbarkeit der Perfektibilität mit der potentia oboe-
dientialis im Rousseau-Essay aus dem Jahre 1967 widerspricht Spaemann später,
wenn er 1985 in dem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« die christ-
liche Idee der potentia oboedientialis implizit doch in die Nähe teleologischer Vorstel-
lungen bringt: »Rousseau spricht von der ›perfectibilité‹ als der entscheidenden Mög-
lichkeitsbedingung [für das Heraustreten aus der Natur]. Entgegen dem Wortsinn
bedeutet aber perfectibilité nicht irgend etwas Teleologisches. Es meint nicht so etwas
wie eine potentia oboedientialis, nicht ein Angelegtsein des Menschen auf einen be-
stimmten Zustand der Vollkommenheit. Es meint nichts anderes als das, was spätere
Anthropologie als ›Instinktoffenheit‹ charakterisiert hat.« – Spaemann, Über den Be-
griff einer Natur des Menschen (1985), 25. – Vgl.: »Perfektibilität garantiert nicht
eine schließlich erreichte Perfektion, sie ist weder Keimkraft einer Entwicklung noch
eine Mitursache der Vollendung. Sie ist nur der euphemistische Ausdruck dafür, dass
unsicher ist, ob denn der Mensch im Stand der Zivilisation zu sich findet oder sich
selbst verliert.« – Breitsameter, Individualisierte Perfektion, 185.
114 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 104.

115
Ebd. 107.
116 Ebd. 108.

117
Ebd. 109.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Auf der Grundlage der hier dargelegten »theologischen Genealogie


des neuzeitlichen Naturbegriffs bei Rousseau« 118 ist es nun möglich,
mit seiner Erziehungslehre Rousseaus ›Lösung‹ für das Dilemma der
Moderne im Folgenden zu betrachten.

5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt

Angesichts der aporetischen Lage des aus dem Naturzustand heraus-


getretenen Menschen errichtet Rousseau »einen neuen, einen kon-
sequent subjektiven Maßstab, der Epoche machen sollte. Dieser Maß-
stab lautet: Übereinstimmung – nicht mit einer objektiven Norm,
sondern mit sich selbst« 119. Spaemann zitiert aus Rousseaus Frag-
ment »Sur le bonheur public« von 1762:
Was das Unglück des Menschen ausmacht, ist der Widerspruch zwi-
schen unserem Zustand und unseren Wünschen, zwischen unseren
Pflichten und unseren Neigungen, zwischen der Natur und den gesell-
schaftlichen Einrichtungen, zwischen dem Menschen und dem Staats-
bürger. Macht den Menschen mit sich einig, und ihr werdet ihn glück-
lich machen, wie er sein kann. Gebt ihn ganz dem Staat oder überlaßt
ihn ganz sich selbst. 120
Nach dem Ende des politischen Ideals kann die Übereinstimmung mit
sich selbst nicht mehr durch den Staat hergestellt werden und die
Lösung für Rousseau nur noch darin bestehen, »den zur Hälfte ge-
gangenen Weg der Emanzipation der Natur, dem nicht mehr Einhalt
geboten werden kann, radikal zu Ende zu gehen« 121. Spaemann unter-
streicht, dass dieses Programm nichts mit der Parole ›Zurück zur Na-
tur‹ zu tun hat: »›Avançons vers la nature‹, so müßte man das Wort,
das Rousseau fälschlich zugeschrieben wird, abwandeln. Natürliche
Erziehung, das ist nicht die Rückkehr zu einer früheren Erziehungs-
weise, denn eine natürliche Erziehung hat es noch nie gegeben.« 122
Wenn die natürliche Erziehung nicht zurück zur Natur kann, so liegt

118 Vgl.: »Stolz war ich zum Beispiel über den Aufweis der theologischen Genealogie

des neuzeitlichen Naturbegriffs bei Rousseau.« – Spaemann, Über Gott und die Welt
(2012), 234.
119 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 32.

120
Ebd. 33.
121 Ebd. 36.

122
Ebd.

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5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt

der Umkehrschluss nahe, dass sie einen Entwicklungssinn der Natur


aufnehmen muss. In Rousseaus nicht-teleologischer Vorstellung gibt
es aber kein Ziel der Natur. Das einzig verbleibende Kriterium für
Natürlichkeit ist so das »Ideal absoluter Identität mit sich selbst« 123,
aus dem das Erziehungsideal abgeleitet wird:
Menschsein ohne inneren Widerspruch, das ist das Erziehungsziel des
»Émile«. Um dieses Ziel zu erreichen, muß die Natur des herrschen-
den Widerspruchs und müssen dessen Ursachen begriffen sein. Um
dieses Begreifen geht es im »Émile«, und darum nennt Rousseau ihn
ein Buch über den Ursprung des Bösen. 124
Um den Hintergrund von Rousseaus Deutung der Natur des Wider-
spruchs oder, wie man modern sagen würde, der Natur der Selbstent-
fremdung zu verstehen, verweist Spaemann auf ihre bis ins 18. Jahr-
hundert wirksamen Deutungen Platons und des Christentums. Die
platonische Deutung geht aus von einem Optimalzustand des Men-
schen, in dem die Partialtriebe harmonisch durch die Vernunft ver-
mittelt sind. Der Widerspruch entsteht, wenn einzelne Triebe sich
emanzipieren und die Harmonie zerstören. 125 Die christliche Deutung
sieht hingegen eine Ambivalenz der Vernunft selbst, die entweder auf
Gott als das unbedingte Gute gerichtet sein oder sich selbst zum Zen-
trum erklären kann. Da nach dem Sündenfall die »ungeordnete […]
Selbstliebe« aber der »Normalzustand« ist, bedarf es einer Umkehr,
die der Mensch nicht sich selbst verdanken kann. 126 Wie Spaemann
bemerkt, hat Rousseau »erstmals aus den ›disjecta membra‹« 127 der
platonischen und christlichen Deutung »eine neue Deutung konstru-
iert, eine neue geschichtliche Anthropologie entworfen« 128. An dieser
Stelle knüpft der Gedankengang an die oben ausgeführte theologi-
sche Genealogie des Naturbegriffs bei Rousseau an.
Seine Vorstellung vom sprachlosen und asozialen homme na-
turel in einem hypothetischen Urzustand ist, wie gesehen wurde, ein
aus den konfessionellen Varianten des Naturbegriffs als Produkt der
durch die natura-gratia-Antithese dynamisierten Entteleologisierung
entstandenes Hybridgebilde. Kennzeichen des homme naturel in sei-

123 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 33.


124 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 117.
125 Vgl. ebd. 117–118.
126
Vgl. ebd. 118–119.
127 Ebd. 119.
128
Ebd.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

nem fiktiven status naturae purae sind zum einen die totale Selbst-
bezüglichkeit, zum anderen die Instinktoffenheit, die erst seinen
möglichen Übergang in den geschichtlich-sozialen Zustand möglich
machen. 129 Mit diesem Übergang nun gerät der Mensch
in einen inneren Widerspruch […], den Widerspruch zwischen seinem
fortdauernden natürlichen Egozentrismus und dem Verlust der Selbst-
genügsamkeit. Der unschuldige Egozentrismus, »amour de soi«, wird
zum Egoismus, zum »amour propre«, der immer der anderen bedarf,
um sich zu befriedigen. Dieser Widerspruch ist die Wurzel der Selbst-
entfremdung. Er läßt den Menschen zu einem schwachen Wesen wer-
den. Schwäche aber ist, wie es im »Émile« heißt, der Ursprung alles
Bösen. 130
Aus dem Zustand der Schwäche heraus können zwei Wege führen.
Der erste ist die vollständige Denaturierung im totalen Staat, die
durch das Christentum der Vergangenheit angehört. 131 Der zweite
Weg ist Rousseaus utopisches Erziehungsprojekt, das auf seiner Vor-
stellung vom Naturzustand aufbaut: »Entsprechend der Asozialität
des Naturmenschen ist das Kind für Rousseau von Natur ein asoziales
Wesen.« 132 Die Frage, um die es in der Erziehung geht, fasst Spae-
mann wie folgt zusammen:
Wie kann ein Mensch seine Kräfte, seine Fähigkeiten und seine Sensi-
bilität voll entfalten und sich das kulturelle Niveau des eigenen Zeit-
alters aneignen, ohne der Entfremdung anheimzufallen, das heißt
ohne den Schwerpunkt in sich selbst zu verlieren, den der Natur-
mensch besaß? Mit anderen Worten, wie kann die Reproduktion des
Sündenfalls verhindert werden, wie kann der »Mensch der Natur« zur
Entfaltung seines Potentials gelangen, ohne dabei zum »Menschen des
Menschen« zu werden? 133
Es gehört nun abermals zu den Paradoxien Rousseaus, dass er im
Rahmen dieses utopischen Projekts konkrete Erziehungsprinzipien
entwickelt, von denen Spaemann sagt, dass sie »unter allen denk-
baren sozialen Umständen Bedingungen eines glücklichen und freien
Lebens« 134 sind. Wenn die Schwäche der Ursprung des Bösen ist, so

129 Vgl. Spaemann, Rousseaus »Emile« (1978), 121.


130 Ebd. 121.
131 Vgl. ebd. 122–123.
132
Ebd. 132.
133 Ebd. 125.
134
Ebd. 144.

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5.1.4 »Émile«: Das utopische Erziehungsprojekt

muss es in der Erziehung darum gehen, Phasen der Schwäche ent-


weder zu vermeiden oder sie erzieherisch aufzufangen. Nach Rous-
seau gibt es nur zwei natürliche Phasen der Schwäche in der mensch-
lichen Entwicklung: das »Säuglingsalter« und die »Pubertät« 135, in
denen diese durch den Erzieher kompensiert werden muss. In allen
anderen Fällen »sind Schwäche und Entfremdung in der üblichen Er-
ziehung von außen induziert« 136, entweder durch zu frühe Bedürfnis-
weckung oder wenn dem Kind »ein Welt- und Selbstverständnis ver-
mittelt wird, das es aus sich selbst nicht mit authentischer Erfahrung
füllen kann« 137.
Was bleibt, ist eine Pädagogik, die ihr Augenmerk unausgesetzt auf die
Erhaltung des Gleichgewichts beziehungsweise auf gewisse Überbrü-
ckungshilfen bei seiner Störung richtet, eine Pädagogik, die die Bedin-
gungen der Autarkie in jedem Entwicklungsstadium aufrecht erhält
und fördert: minimale Bedürfniserweckung, maximale Kraftentfal-
tung. 138
Als Vermeidung oder Kompensation von Schwäche bzw. als Regula-
tor für das Gleichgewicht des Kindes ist diese Erziehung vorwiegend
negativ bestimmt: Der einzige Partner des Kindes, »der die Erziehung
leiten darf«, ist die »Notwendigkeit« 139; eine positive Bestimmung
ergibt sich nur aus der direkt von der Vorstellung des homme naturel
übernommenen Selbstbezüglichkeit:
Émile wird ausschließlich für sich selbst erzogen. Der bourgeoise
Schein von Sozialität und Kulturverantwortung wird zerstört, die ur-
sprüngliche Unschuld der privaten Existenz dadurch wiederher-
gestellt, daß der Selbstliebe eine ebensolche Selbstgenügsamkeit ent-
spricht. Was sich gegenüber der herkömmlichen Erziehung wandelt,
ist nicht in erster Linie der Bildungsinhalt, sondern Ziel und Sinn der
Aneignung: das Bildungsgut wird nun zum bloßen Bildungsmittel,
wodurch sich dann allerdings auch ein neues Selektionsprinzip des
»Lernstoffs« ergibt. Der geschichtlich entfaltete Reichtum an Sinn-
gehalt wird zurückgenommen und bezogen auf jene fundamentale
Neubestimmung des Daseins, als welche Rousseau das bloße Daseins-
gefühl, das Existenzgefühl sieht. »Leben ist der Beruf, den ich ihn
lehren will«, heißt es programmatisch im »Émile«. Am meisten gelebt

135 Spaemann, Rousseaus »Emile« (1978), 127.


136 Ebd. 128.
137
Ebd.
138 Ebd. 126.
139
Ebd. 132.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

aber hat der, der das Leben am meisten gefühlt hat, »qui a le plus senti
la vie« 140. 141
Die positive Bestimmung dieser Pädagogik besteht also in der Steige-
rung dieses »›sentiment de l’existence‹ […] zur höchsten Intensität«,
die »höchste Intensität aber ist das Gewissen« 142:
Im Gewissen gewinnt der moderne Mensch seine Autarkie, seinen
absoluten Schwerpunkt in sich zurück. Er wird auf der Höhe des zivi-
lisatorischen Niveaus wieder zum »natürlichen Menschen«, zum
»Wilden in den Städten«. Im Patriotismus hatte der denaturierte
Mensch seinen Existenzgrund in ein partikulares Kollektiv-Ich ver-
lagert. Im Gewissen weitet sich der Raum der Identifikation ins Uni-
versale, ins Menschheitliche und Kosmische. Aber Menschheit und
Kosmos sind, so betont Rousseau, keine realen Kollektive, die das In-
dividuum integrieren könnten. Es sind Abstraktionen, die ihre Wirk-
lichkeit nur im subjektiven Gewissen gewinnen. In ihm kehrt das Sub-
jekt ganz in die Selbstgenügsamkeit zurück. 143
Bemerkenswert ist, dass dieses Konzept einer éducation naturelle pa-
radoxerweise ein Spätprodukt ist, das erst im état civil denkbar ist:
»erst die bürgerliche Gesellschaft setzt sie als Subjektivität frei« 144.
Daher betrachtet Émile den Staat zwar nicht als Vaterland, aber doch
als Heimat, der er bereit ist, »seine Dienste zur Verfügung zu stel-
len« 145. In drei der vier Essays des Bandes »Rousseau – Mensch oder
Bürger« zitiert Spaemann einen Satz von Leo Strauss 146: »Die höchste
Rechtfertigung der bürgerlichen Gesellschaft ist somit die Tatsache,
daß diese Gesellschaft einem bestimmten Typ von Einzelperson er-
laubt, das höchste Glücksgefühl durch den Rückzug aus dieser Gesell-
schaft, d. h. durch ein Leben an ihrem Rande, zu genießen.« 147 Dieser
Gedanke der »Rechtfertigung einer Gesellschaft durch das, was sie

140
Spaemann verweist als Quelle der beiden Zitate auf: Émile, S. 12. – Ebd. 146.
141 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 39.
142 Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), 111.

143 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 129–130.

144 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 40.

145 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 131.

146 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz, 40, Ders., Zur Vor-

geschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert, 111, u. Ders., Rousseaus »Émile«,


136.
147
Strauss, Naturrecht und Geschichte, 305.

210

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5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee

aus sich entlässt, ohne es wieder integrieren zu können« 148, leitet über
zu einer abschließenden Problematisierung der in Rousseaus uto-
pischem Erziehungskonzept vorgeschlagenen ›Lösung‹ des Dilemmas
der Moderne.

5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee

Dass die im »Émile« gefundene ›Lösung‹ des Problems, bei der ein
Erzieher für einen Zögling verbraucht wird, um einen gesellschaftlich
nicht integrierbaren natürlichen Menschen hervorzubringen, nur
eine Scheinlösung ist, war Rousseau selbst bewusst, wie unter ande-
rem das Fortsetzungsfragment des Romans zeigt. 149 »Was Rousseau
darstellt, ist der Weg des elitären Einzelnen unter der Voraussetzung
der Ungelöstheit des Problems. Eine Lösung im Sinne Rousseaus
könnte nur in der vollkommenen und allgemeinen Aufhebung der
Entzweiung bestehen.« 150 Da eine solche Aufhebung vom politischen
Ideal her Rousseau unmöglich erscheint und er die Utopie der plato-
nischen πολιτεία für unwiderruflich vergangen hält, handelt es sich
bei diesem Erziehungsprojekt um den utopischen Versuch, »den Weg
der Phylogenese in einer neuen Ontogenese zu korrigieren, den Sün-
denfall zu vermeiden und die Einheit des natürlichen Menschen mit
sich selbst vom kindlichen Hominiden zum erwachsenen Gewissens-
subjekt durchzuhalten.« 151 In Spaemanns Rousseau-Essays klingt der
Einwand an, dass das πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen Denkens in
seinem kontrafaktischen Ideal der absoluten Identität bestehen könn-
te: »Es wäre zu fragen, ob nicht das Ideal absoluter Identität die Span-
nung natürlicher und politischer Existenz erst zu einer Antinomie
werden läßt und eine so exklusive Option notwendig macht, wie
Rousseau sie fordert.« 152 Hinter dieser Frage steht die positive Bewer-
tung der Entzweiung zwischen Individuum und Gesellschaft, die
Spaemann von seinem Lehrer Joachim Ritter übernommen hat und
die zu einer Leitlinie seiner eigenen philosophischen Forschung ge-
worden ist. Dieser Einwand könnte dazu dienen, den theoretischen

148 Ritter, Unser ungewollter Geburtshelfer. Rezension: R. Spaemann, Rousseau –

Mensch oder Bürger.


149 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 44.

150
Ebd.
151 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 132.

152
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 33–34.

211

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Erklärungswert der Entwürfe Rousseaus in Frage zu stellen. Wie ein-


gangs erwähnt, geht es Spaemann aber vielmehr darum, eine exis-
tenzphilosophische Rousseau-Interpretation voranzutreiben. Diese
muss sich zunächst auf Rousseaus ideellen Radikalismus einlassen.
Einer solchen Betrachtungsweise erschließt sich dann freilich, dass
das Identitätsideal Rousseaus zwar in einzelnen homogenisierenden
Argumentationszusammenhängen wirkt, dass die dieses Ideal unter-
grabenden Widersprüche in seiner Existenz und in seinem Werk aber
fortbestehen. Dies wurde sichtbar in der vorliegenden Darstellung
des Bruches zwischen dem politischen Ideal und dem natürlichen Ide-
al. Es wird sichtbar an der Eigendynamik der aus der »Vision vom
unentzweiten Naturmenschen« 153 hervorgehenden Entdeckung des
Kindes. Es wird ebenso sichtbar an dem gegen seine Intentionen am
Ende neu hervorgebrachten Gegensatz zwischen dem natürlichen
Menschen und einer Gesellschaft, die ihn nicht integrieren kann.
Wenn also zum Abschluss dieser Überlegungen zu Spaemanns Rous-
seau-Essays nach der Intention seiner Auseinandersetzung mit der
»Paradoxie Rousseaus« 154 gefragt werden soll, muss die konstitutive
Widersprüchlichkeit Rousseaus ernst genommen und nach einem au-
ßerhalb seines eigenen Gesichtskreises liegenden Maßstab gefragt
werden, der seine Widersprüche in ein Verhältnis zueinander setzt.
Ausdrücklich geht es Spaemann nicht um eine theoretische Ho-
mogenisierung Rousseaus – »Aller Streit um den ›wahren Rousseau‹
ist vergeblich« 155 –, sondern um die geschichtsphilosophische Refle-
xion seiner Widersprüchlichkeit. Hierin zeigt sich eine Parallele zwi-
schen den Rousseau-Essays und den Studien über Fénelon, da in
beiden Fällen eine spezifisch geschichtsphilosophische Perspektive
den Untersuchungen erst ihre philosophische Bedeutung verleiht.
Die »geschichtliche[…] Konkretisierung der existenzphilosophischen
Interpretation« 156 Rousseaus, um die es Spaemann geht, fragt nach
den problematischen Denkvoraussetzungen dieses Werks und kon-
zentriert sich dabei auf den Begriff der Natur. Rousseau begreift das
»Verhältnis von Mensch und Natur als eines des ›Widerstreits‹« 157.
Sobald der Naturzustand verlassen ist, gilt: »Natur und Geschichte

153 Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 141.


154 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18.
155
Ebd. 17.
156 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 25.
157
Spaemann, Natur (1973), 30–31.

212

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5.1.5 Rousseaus ›Lösung‹: Disjecta membra einer verlorenen Idee

werden inkommensurabel.« 158 Die abstrakte Gegenüberstellung ver-


schleiert aber nur, dass Natur wie Geschichte somit zu Begriffen für
die Totalität des Seins werden, dass ihnen der Begriff einer auf sich
selbst zurückgekrümmten, transzendenzlosen Natur zugrunde liegt.
Aus der Aporie dieses Denkens kann nur ein fundamentaler Neu-
ansatz herausführen, wie er von Spaemann in seinem Essay »Natur«
angedeutet wird: »Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist,
diese Paradoxie löst sich nur, wenn wir den Begriff der ›Natur‹ teleo-
logisch fassen und den Menschen als von Natur auf Überschreiten der
Natur angelegtes Wesen verstehen.« 159 Spaemanns Rousseau-Inter-
pretationen konvergieren also in einer auf die Idee der Teleologie ge-
richteten Thematisierung des Naturbegriffs, durch die Natur und
Transzendenz zusammengedacht werden können. Die Idee, »deren
disjecta membra sich in Rousseaus Werk spiegeln« 160 und auf deren
Verlust Spaemann die Brüche und Widersprüche in Rousseaus Werk
zurückführt, ist die der Naturteleologie. Wie gesehen wurde, inter-
pretiert Spaemann das politische und das natürliche Ideal Rousseaus
ebenso als Zerfallsprodukte der Entelechie wie die dargelegten Vari-
anten des Naturbegriffs der individuellen Vermögensausstattung
oder des hypothetischen Anfangszustands. 161 Die Betrachtung der
Rousseau’schen Entwürfe vor dem Hintergrund der Idee der Teleo-
logie bietet einerseits die Möglichkeit, ihrer verwickelten Genealogie
auf die Spur zu kommen, wie am Naturbegriff gezeigt wurde; ande-
rerseits liefert sie einen Deutungsrahmen, in dem die Widersprüche
Rousseaus aufgrund seiner Denkvoraussetzungen als notwendig be-
griffen werden.
Der exemplarische Charakter der Existenz Rousseaus rührt daher, daß
er die Paradoxien des neuzeitlichen, nichtteleologischen Naturbegriffs
erstmals in seinem Werk und in sich selbst zur Darstellung gebracht
hat. Eine nichtteleologische Natur, das ist ein Anfang, in dem kein
Ende vorgezeichnet ist. Einen solchen Anfang zum Maßstab machen
heißt entweder permanente Revolution, totale Anarchie entfesseln,
denn jede Institution ist Repression einer solchen Natur. Oder aber es
heißt, die anarchische Natur ihren institutionellen Erhaltungsbedin-
gungen konsequent und radikal unterwerfen. 162

158 Spaemann, Natur (1973), 31.


159 Ebd. 32–33.
160
Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18.
161 Vgl. Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 29.
162
Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 16–17.

213

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Rousseau, so betont Spaemann, »war der erste, der das Problem einer
›Dialektik der Aufklärung‹ gesehen hat« 163, der die selbstgefährden-
den Tendenzen der Moderne erfasst, ihre Widersprüche durchdacht
und selbst verkörpert hat. Aufgrund seiner Denkvoraussetzungen
konnte er keine anderen als utopische Lösungen finden. Um dem Di-
lemma der Moderne entgehen zu können – das ist das Fazit, das somit
aus den Rousseau-Essays Spaemanns gezogen werden kann –, be-
dürfte es der Erneuerung eines teleologischen Naturbegriffs. Mit der
Frage nach der Möglichkeit einer solchen Erneuerung wird sich das
folgende Teilkapitel beschäftigen.

163
Spaemann, Rousseaus »Émile« (1978), 138

214

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5.2 »Natürliche Ziele«:
Natur in metaphysischer Perspektive

Das Thema der Teleologie zieht sich wie ein roter Faden durch das
gesamte philosophische Werk Robert Spaemanns. Am gründlichsten
durchdacht wurde es von ihm in dem 1981 zusammen mit Reinhard
Löw veröffentlichten Buch »Die Frage Wozu? Geschichte und Wie-
derentdeckung des teleologischen Denkens« 1. Die Wiedergabe einer
Reihe zentraler Einsichten aus diesem Buch ist als Grundlage für das
Verständnis der weiteren Entfaltung des Spaemann’schen Denkens
unerlässlich. An dieser Stelle soll zunächst dargelegt werden, was
mit der Frage ›Wozu?‹ eigentlich gemeint ist. Danach soll eine erste
Andeutung erfolgen, warum diese Frage in Vergessenheit geraten ist.
Schließlich wird ein Ausblick gegeben auf die konkreten Schritte, in
denen die für den vorliegenden Zusammenhang wesentlichen Aspek-
te dieses Werks wiedergegeben werden.
Die Frage ›Wozu?‹ ist eine Variante bzw. eine Konkretisierung
der Frage ›Warum?‹. Die Warum-Frage hat zwei Voraussetzungen,
erstens einen Zustand der Vertrautheit, zweitens eine Störung dieses
Zustands:
Die Frage entsteht immer dann, wenn ein normaler Ablauf unterbro-
chen wird. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung des normalen Ganges.
Ohne den Begriff der Normalität läßt sich gar nicht verstehen, wann
und warum man »warum« fragt. Es kommt ja keinem in den Sinn, in
bezug auf Alles und Jedes »warum« zu fragen. Wir fragen genau dann
»warum«, wenn etwas geschieht, was wir nicht als normal betrachten,
bzw. was wir nicht erwartet haben. 2
Antworten auf Warum-Fragen können in zwei verschiedenen Rich-
tungen das Neue mit dem Vertrauten verbinden, entweder durch eine
»Konstruktion des ›Um … zu‹« oder durch Angabe von »Antecedens-
bedingungen und Gesetze[n]« 3. Diese beiden Antworttypen sind

1 1991 erschien eine um den Beitrag »Teleologie und Teleonomie« erweiterte Neu-
ausgabe. Wiederabdruck mit neuem Vorwort unter dem Titel: Natürliche Ziele. Ge-
schichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens, Stuttgart 2005.
2
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (2005, zuerst 1981 unter dem Titel »Die Frage
›Wozu‹ ?«), 13.
3
Ebd. 14.

215

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

grundverschieden. Beim finalen bzw. teleologischen ›Um … zu‹ geht


es um den »Nachvollzug einer intentionalen Struktur« 4, also um Ver-
stehen, bei der kausalen Angabe vorhergehender Ereignisse geht es
um die »Angabe einer Gesetzmäßigkeit« 5, also um Erklären. Der we-
sentliche Unterschied zwischen den Antworttypen liegt in der Offen-
heit des Erklärens und der Geschlossenheit des Verstehens: »Die in-
tentionale Antwort auf die Warum-Frage schließt dann, wenn man
die intentionale Struktur nachvollziehen kann, die Frage nach dem
Ereignis ab. Die kausale Erklärung schließt sie nicht ab, sondern sie
verschiebt die Frage im Grunde nur, da sie angibt, worauf etwas folg-
te.« 6 Während eine verstandene intentionale Antwort also Vertraut-
heit wiederherstellt, eine οἰκείωσις 7 ermöglicht, setzt das Erklären
einen tendenziell unendlichen Erkenntnisprozess in Gang, der Be-
herrschung der Wirklichkeit ermöglichen soll. Da alles, was auf etwas
folgt, somit als prinzipiell erklärbar gelten muss, stellt sich die Frage,
was demgegenüber verstehbar ist; anders ausgedrückt stellt sich die
Frage, in Bezug auf welche Phänomene die Frage ›Wozu?‹ als Konkre-
tisierung der Warum-Frage – neben der anderen Konkretisierung
›Woher?‹ – zulässig ist:
Wenn wir einmal von der durchschnittlichen Ansicht ausgehen, daß
die teleologische Perspektive bei menschlichen Handlungen, die kau-
sale bzw. die Gesetzesperspektive bei physikalischen Prozessen an-
gemessen ist, so bleibt der Bereich der lebendigen Natur als eigentli-
ches Problemfeld des teleologischen Denkens. 8

4 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 15.


5 Ebd. 17.
6 Ebd. 18.

7 Der Begriff der Stoiker bezeichnet das »Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der

Welt«. – Ebd. 14. – Vgl.: »Der Begriff steht in der Philosophie der Stoa für eine
biologische, psychologische und moralphilosophische Konzeption, nach der die Ten-
denz zur Selbsterhaltung […] den primären natürlichen Impuls jedes Lebewesens
bildet. Speziell beim Menschen schließt sich als zweite Stufe eine rationale Selbst-
affirmation sowie eine vernünftige Akzeptanz aller anderen Menschen an. Der Aus-
druck οἰκείωσις ist eine Ableitung aus οἰκεῖος (eigen) bzw. οἰκειοῦν (sich aneignen).
Wörtlich bezeichnet er den Umstand, daß sich ein Lebewesen mit sich selbst prozeß-
förmig bekannt macht und sich selbst in Besitz nimmt. Ciceros Übersetzung der me-
dialen Verbform οἰκειοῦσθαι lautet ›sich mit sich selbst versöhnen und vertraut ma-
chen‹ (›ipsum sibi conciliari et commendari‹) [Cicero: De fin. bonorum et malorum II,
11, 35; III, 5, 16.]. Das begriffliche Gegenteil, die Selbstentfremdung, heißt in der
antiken Diskussion ἀλλοίωσις oder ἀλλοτρίωσις: Jemand entfernt sich von sich
selbst.« – Horn, Zueignung (Oikeiosis), in: HWPh XII, col. 1403.
8
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 19.

216

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5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive

Die lebendige Natur teleologisch zu interpretieren – das heißt auf die


Frage: »Warum läuft der Hund zum Freßnapf?« zu antworten: »Weil
er Hunger hat.« 9 –, bedeutet sie nach dem Vorbild unserer Selbst-
erfahrung, also anthropomorph zu sehen. Sie rein kausal – also als
»eine Summe von chemisch-physiologischen Gesetzmäßigkeiten
und vorliegenden Randbedingungen« 10 – zu interpretieren, hat zur
Folge, dass wir selbst, insofern wir natürliche Wesen sind, uns zwar
prinzipiell erklärbar, aber nicht mehr verstehbar sind. Wenn jede
Naturerklärung nach dem Muster unserer Selbsterfahrung als An-
thropomorphismus bezeichnet wird, wird der Mensch als natürliches
Wesen sich selbst zum Anthropomorphismus. 11
Um etwas zu beherrschen, muss man es nicht verstehen. Im Ge-
genteil gefährdet Verstehen potentiell den Herrschaftsanspruch, weil
es ja immer auf ein gewisses Eigenrecht einer Sache hinweist, das mit
dem Herrschaftsanspruch in Konflikt geraten kann. In diesem Kon-
text ist der Ausspruch Francis Bacons vom Anfang des 17. Jahr-
hunderts zu sehen: »Die Betrachtung natürlicher Prozesse unter
dem Aspekt ihrer Zielgerichtetheit ist steril, und wie eine gott-
geweihte Jungfrau gebiert sie nichts« 12. Spaemann und Löw kom-
mentieren den in diesen Worten zum Ausdruck kommenden Wandel
des Denkens:
Die These, die am Vorabend der neuzeitlichen Wissenschaft steht, be-
sagt, daß solches Reden in bezug auf die Natur nutzlos, empirisch un-
ausweisbar und sinnlos ist. Diese These beendete die fast zwei Jahr-
tausende währende Vorherrschaft der aristotelischen Ansicht, daß
wir die Natur nur erkennen können, wenn wir sie aus sich selbst he-
raus zu verstehen versuchen. 13
Tatsächlich wurde im neuzeitlichen Denken die Frage ›Wozu?‹ und
damit die teleologische Sichtweise zunehmend aus der Wissenschaft

9 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 19.


10
Ebd.
11 Vgl. ebd. 216. – Diese Einsicht findet sich bei Spaemann zum ersten Mal in dem

Essay »Naturteleologie und Handlung« aus dem Jahre 1977 und wird von hier an zu
einem Leitmotiv seines Denkens, das in zahlreichen späteren Texten auftaucht. – Vgl.
Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1977), 57.
12 Ebd. 11. – In den Anmerkungen führen Spaemann/Löw die Quelle des Zitats und

das lateinische Original an: F. Bacon: De dignitate et augmentis scientiarum 111,5; in:
The Works of Lord Bacon, Bd. II (London 1841, S. 340): nam causarum finalium
inquisitio sterilis est, et, tamquam virgo Deo consecrata, nihil parit. – Ebd. 259.
13
Ebd. 13.

217

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

verdrängt; allein im Hinblick auf eine schwer überwindbare Intentio-


nalität des Menschen gestattet man sich die Inkonsequenz, an dieser
Sichtweise zumindest vorläufig noch festzuhalten. Als weitgehender
wissenschaftlicher Konsens gilt: »Die teleologische Betrachtung an-
derer Prozesse als menschlicher Handlungen sei aus naturwissen-
schaftlichen, logischen und sprachanalytischen Gründen unzulässig,
weil prinzipiell teleologische in nicht-teleologische Theorien, teleo-
logische in nicht-teleologische Sprechweisen überführbar seien.« 14
Gegen diese Ansicht richtet sich das Buch von Spaemann und Löw,
wobei man drei Ebenen der Argumentation unterscheiden kann. Ers-
tens handelt es sich um eine philosophiegeschichtliche Studie, in der
die Entstehung des teleologischen Denkens, seine Wandlungen im
Verlauf von zwei Jahrtausenden sowie das Aufkommen und die Ent-
wicklung des Antiteleologismus untersucht werden. Das vorrangige
Ziel der Studie auf dieser Ebene ist die Unterscheidung verschiedener
Begriffe von Teleologie, um zum einen die partielle Berechtigung des
Antiteleologismus hervorzuheben, vor allem aber um einen adäqua-
ten Begriff von Teleologie freizulegen, der von den antiteleologischen
Einwänden nicht getroffen wird. Zweitens handelt es sich um eine
theoretische Auseinandersetzung mit dem in den modernen Natur-
wissenschaften vertretenen Antiteleologismus. Hier geht es um die
kritische Befragung naturwissenschaftlicher Argumentationen und
den Aufweis innerer Widersprüche in denselben. Drittens handelt es
sich auch um einen Beitrag zur praktischen Philosophie, insofern, wie
oben bereits angedeutet, das Selbstverständnis des Menschen bei
einer konsequent ateleologischen Naturbetrachtung problematisch
wird. »Die Existenz gottgeweihter Jungfrauen, die nicht gebären, ist
eben keineswegs folgenlos.« 15 Hier geht es um die philosophischen
Konsequenzen der Entteleologisierung ausgehend von der Selbst-
erfahrung des Menschen als lebendigen Wesens. Auf dieser Ebene
wird eine Rolle spielen, dass bei fehlender argumentativer Entscheid-
barkeit des Streites zwischen einer teleologischen und einer ateleo-
logischen Naturdeutung die Beweislastfrage angesichts ökologischer
Entwicklungen der Gegenwart neu gestellt werden muss. 16

14 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 11.


15 Ebd. 20.
16 Das der Studie Spaemanns und Löws als ihr eigentliches Movens zugrunde liegen-

de teleologische Phänomen und die Einsicht in die Bedeutung seiner Verdrängung


bringt Matthias Schramm in seiner Untersuchung der Geschichte des teleologischen
Denkens treffend zum Ausdruck: »[…] wir haben verlernt, das unbegreifliche Wun-

218

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5.2 »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive

Die Frage ›Wozu?‹ und das Problem der Teleologie erweisen sich
somit als ein philosophisches Schlüsselproblem. Das Thema könnte
also kaum prinzipiellerer Natur sein: »Von Anfang an stand das Te-
leologieproblem im Mittelpunkt philosophischen Nachdenkens. Die
›Riesenschlacht um das Sein‹, von der Platon spricht (Soph 246 a),
kann ebenso als Riesenschlacht um das ›Um … willen‹ 17 interpretiert
werden.« 18 Für die »Erfassung des Gewordenseins« 19 eines Denkens,
das auf die Herausbildung einer Philosophie der Begegnung zielt, ist
die Teleologie-Problematik, wie gezeigt werden soll, von zentraler
Bedeutung. Dabei muss allerdings aus der großen Fülle der von Spae-
mann und Löw untersuchten Detailaspekte eine Auswahl im Hinblick
auf die hier verfolgte übergreifende Problemstellung getroffen wer-
den, die nun in einem knappen Ausblick auf die folgenden neun Ab-
schnitte der Darstellung erläutert wird. Der Ausgangspunkt des
teleologischen Denkens ist die klassische antike Philosophie. Von
bleibender Bedeutung für jede Anknüpfung an die Frage ›Wozu?‹ sind
die ursprünglichen Konzeptionen Platons (5.2.1) und Aristoteles’
(5.2.2), mit denen die Darstellung beginnt. Die Rezeption antiken
Denkens aus christlicher Perspektive machte eine Transformation
desselben unvermeidlich. Auch im Hinblick auf die Teleologie nimmt
Thomas von Aquin eine exponierte Stellung als Vermittler zwischen
Antike und Neuzeit ein. Seiner Umformung der aristotelischen Kon-
zeption wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet (5.2.3). Der Pro-
zess der Entteleologisierung beginnt mit der von Spaemann bereits in
den Studien über Fénelon so bezeichneten ›bürgerlichen Ontologie‹
und wird zu Ende geführt in den Naturwissenschaften des 19. und

der zu würdigen, das uns die Natur mit den von ihr hervorgebrachten Organismen
unablässig vor Augen stellt. Als Naturzwecke geben sie in ihrer Unerklärbarkeit An-
laß, stets wieder über sich hinausweisende Zusammenhänge zu erwägen. Diesen An-
laß zu übersehen und solche Erwägungen zu verbannen, rächt sich. Was vorsichtig
und mit der nötigen Disziplin auf einer im buchstäblichen Sinn naturgegebenen
Grundlage geschehen könnte, geschieht nun wild und kritiklos am unpassenden Ort.
Das Reich des Lebendigen sollte uns Mahnung sein, über einen Zusammenhang der
Natur mit dem Reich der Zwecke nachzudenken.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das
Ende des teleologischen Weltbildes, 188.
17 In der Anmerkung zu dieser Textstelle geben Spaemann/Löw folgende Erläute-

rung: »›Um … willen‹ steht hier und im folgenden für den Typus der Zweck-Antwort
auf die Warum-Frage.« – Ebd. 260.
18
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 20.
19 Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164, u. Einleitung zum zweiten

Teil, 88–89.

219

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

20. Jahrhunderts, die hier in ihrem Zusammenhang betrachtet wer-


den (5.2.4). Argumente für eine Wiederbelebung der Teleologie las-
sen sich einerseits aus Schwächen der Argumentation des Antiteleo-
logismus entwickeln (5.2.5); als wesentliche Voraussetzungen einer
möglichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens aus gegen-
wärtiger Perspektive können andererseits auf sehr unterschiedliche
Weise Kant und Nietzsche gedeutet werden (5.2.6). Aufbauend da-
rauf wird Spaemanns und Löws Plädoyer für das teleologische Den-
ken zusammengefasst (5.2.7) und der von Rainer Isak in seiner Studie
»Evolution ohne Ziel?« vorgebrachte Einwand gegen Spaemann und
Löw kritisch eingeordnet (5.2.8), um abschließend eine Schlussfolge-
rung aus dieser Untersuchung von »Natürliche Ziele« zu ziehen
(5.2.9).

5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς

Die Philosophie der Vorsokratiker war mit einer Ausnahme – »Ana-


xagoras war der erste Nüchterne unter Irreredenden« 20, wie Aristote-
les später bemerkte – ateleologisch und zeigte die Wirklichkeit als
»radikal unvertraut und fremd« 21.
Philosophische Teleologie, wie sie erstmals bei Anaxagoras, dann aber
vor allem bei Platon und Aristoteles auftritt, ist demgegenüber etwas
Zweites. Sie ist Reflexion auf das, was in diesem anfänglichen »wis-
senschaftlichen« Denken verlorenging, und der Versuch, den entstan-
denen »Phänomenverlust« 22 philosophisch wieder einzuholen. 23
Da Anaxagoras in dem Versuch, »die Ordnung der Welt unmittelbar
durch den nous zu begreifen« 24, im Konkreten aber immer materia-
listisch argumentiere und die Vernunft beiseite lasse 25, will Sokrates
in Platons »Phaidon« das »Problem durch die zweitbeste Möglichkeit,

20
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23. – In der Anmerkung verweisen
Spaemann/Löw auf folgende Quelle des Zitats: Met A III, 984 b 17; vgl. Platon: Phai-
don 97 b. – Ebd. 261.
21 Ebd.

22 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Mit dem Anspruch, die ›Phänomene zu

retten‹, trat Aristoteles in der Naturphilosophie auf; vgl. dazu Owens (1961).« – Ebd.
260.
23
Ebd. 21.
24 Ebd. 23.

25
Vgl. ebd. 56.

220

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5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς

den deuteros plous, die ›zweite Fahrt‹, lösen« 26, die im Folgenden
knapp dargestellt wird.
Platon führt im »Phaidon« die »wesentliche Unterscheidung
zwischen Ursache und notwendiger Bedingung ein, zwischen causa
und conditio sine qua non« 27. Diese Unterscheidung leuchtet unmit-
telbar ein, wenn es um das menschliche Handeln geht. Um ihre Be-
rechtigung aber im Bereich der Natur aufzuzeigen, referieren Spae-
mann und Löw Grundlagen der Ideenlehre, um auf diesem Weg das
Phänomen des Werdens bzw. der gerichteten Bewegung in der Natur
erfassen zu können. »Weder das Woraus der Ionier noch der univer-
salteleogische nous des Anaxagoras, sondern das Wesentliche einer
Sache ist hier Thema, das eidos, die Idee. […] Die Ideenlehre enthält
Platons Antwort auf das bis heute aktuelle Problem des Zusammen-
hangs von Genesis und Geltung.« 28 Der Begriff der Geltung, der seine
»zentrale terminologische Bedeutung […] erst in der Wertphiloso-
phie des 19. Jahrhunderts« als »Reaktion auf die Nihilismuskrise« 29
erlangt hat, gehört zur »normativen Sprache« 30 und bezeichnet nur in
der Wahrnehmung gegebene – daseinsrelative – und gleichwohl von
jeder subjektiven Wahrnehmung unabhängige – absolute – Werte. 31
Die moderne Naturwissenschaft geht davon aus, dass das, was etwas
ist, vollständig ableitbar ist aus dem Prozess seiner Entstehung.
Menschliches Selbstsein kann somit, insofern es sich von seinen Ent-
stehungsbedingungen emanzipiert, nicht Gegenstand der Wissen-
schaft sein. Bei der Frage der Naturteleologie geht es darum, in-
wiefern man außermenschlichem Leben ein Selbstsein zugestehen
kann, das sich der Wissenschaft im modernen Verständnis entzieht,
inwiefern es also von der Genesis unabhängige Geltung gibt. Platons
Ideenlehre ist der Versuch, dieses zu denken 32:

26
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 23.
27 Ebd. 24.
28
Ebd.
29 Hülsmann, Gelten, Geltung, in: HWPh III, col. 232.

30 Ebd.

31 Vgl. Teilkapitel 9.1, Die Ausdifferenzierung des analogen Weltzusammenhangs im

Wertbegriff, 672–673.
32 Vgl.: »Dem Gelten und der Geltung kommt […] kein ontischer Charakter zu, wohl

aber sind die in den Dingen und Ereignissen wirksamen Gesetze von solcher Struktur,
daß sie notwendig und immer so und nicht anders gelten. Das unveränderliche Reich
des Geltens erweckt platonische Reminiszenzen.« – Hülsmann, Gelten, Geltung, in:
HWPh III, col. 232–233.

221

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Die faktische Entstehung eines Phänomens erklärt weder sein Sosein


noch seine Geltung. Es ist umgekehrt: die Entstehungsbedingungen
lassen Gegenstände einrücken in schon bereitstehende Formen. Nicht
Formen werden hervorgebracht, sondern Dinge. Etwas entsteht, in-
dem es ein solches oder ein solches wird. Das Sosein, in das die Dinge
einrücken, ist nicht selbst Resultat der Entstehungsprozesse. 33
Aristoteles wendete gegen die platonische Ideenlehre ein, dass so kei-
ne Wissenschaft von der Natur möglich sei, sondern nur von den
ewigen Formen, in die die Dinge einrücken. Die eigentliche Frage für
eine Wissenschaft von der Natur sei dagegen die »nach der Idealität,
der ›Kunstmäßigkeit‹ von Prozessen« 34, also von Bewegung. Spae-
mann und Löw weisen darauf hin, dass dieser Einwand nur den frü-
hen Platon trifft, da dieser in seinen Spätdialogen durchaus eine
Lehre von der Bewegung entwickelt hat. Allerdings ist diese nicht
im selben Sinn Wissenschaft wie die Ideenlehre. Die Rede über die
Bewegung
ist deshalb in jenem Zwischenbereich zwischen Wissen und Nichtwis-
sen angesiedelt, den Platon Meinen, doxa, nennt. Rede in diesem Me-
dium ist nicht wissenschaftlicher Beweis, sondern Unterredung durch
Plausibilitätsargumente unter Zuhilfenahme von Begriffen, die nicht
scharf definiert sein können. […] Der Gegenstand der Rede, die Be-
wegung und das Bewegte, ist nicht in der Weise »bestimmt«, daß auf
eine bestimmte Weise davon gesprochen werden könnte. 35
Platons Lehre von der Bewegung und dem Bewegten und die beson-
deren Denkbedingungen, unter denen eine Lehre dieser Art steht,
müssen kurz beleuchtet werden.
Spaemann und Löw entwickeln Platons Lehre von der Bewegung
aus den »nicht mehr aufeinander reduzierbaren Konstitutionsprinzi-
pien der Wirklichkeit«: »Einheit und Vielheit« 36. Die Idee als Form, in
die Dinge einrücken, steht für das Prinzip der Einheit. Dem Reich der
Ideen »schlechthin entgegengesetzt« ist die »ungerichtete Bewegt-
heit« 37, die als »Substrat« der Wirklichkeit vorausgesetzt werden
muss und für das Prinzip der Vielheit steht. Gerichtete Bewegtheit
bzw. Werden kommt in der Natur nun zustande durch »eine Vereini-

33 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 24–25.


34 Ebd. 25.
35
Ebd. 27–28.
36 Ebd. 28.
37
Ebd.

222

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5.2.1 Platon: Die Überredung der ἀνάγκη durch den νοῦς

gung der beiden Prinzipien […], die von sich selbst her einander ent-
gegengesetzt sind« 38. Es ist die »Einheit von Einheit und Vielheit« 39,
insofern Werden eine Bewegung ist, durch die im Substrat – d. h. in
der Vielheit – eine Idee – d. h. die Einheit – wirksam wird. Als nächs-
tes stellt sich die Frage nach dem Grund dieser Bewegung, der nicht in
der Idee selbst liegen kann. Platon beantwortet sie mit der Idee des
Guten: »Die Idee des Guten ist für Platon konstitutiver Grund dafür,
daß die Ideen Konkretes strukturieren. […] Die Idee des Guten reprä-
sentiert die universelle Struktur alles Wirklichen in seinem Gerich-
tetsein. Das universale Ziel der endlichen Wesen ist Sein, Dauer, Ein-
heit in einem bestimmten Sosein.« 40 Das Gute ist somit nicht eine
konkrete Idee, sondern als regulatives Prinzip eine Meta-Idee. Das
Streben nach dem Guten als gerichtete Bewegung setzt »ein aktives
Prinzip voraus, kraft welchem die Richtung auf das Eine und Gute
genommen und gehalten wird. Dieses Prinzip nennt er Seele, psy-
che« 41. »Die Seele als das Prinzip der Selbstbewegung ist der Grund
aller gerichteten Bewegung. […] Die Seele ist mit Vernunft, nous,
ausgestattet, und mit ihr lenkt sie gleichsam wie mit einem Kompaß
die Bewegung in die Richtung auf das Gute hin.« 42 Im »Timaios« wird
die »Verfertigung 43 der Welt dargestellt als das Werk eines Gottes, des
Demiurgen«, der, »indem er auf die Ideen schaut, der Welt eine schö-
ne Gestalt gibt« 44. Das Gute allerdings bzw. die auf es ausgerichtete
Vernunft ist nicht allmächtig, ihnen entgegengesetzt ist »die ananke,
die blinde Notwendigkeit und der Zufall«, womit die »ontologische
Dialektik von Einem und Vielem […] ihre unmittelbare Darstellung
in der Natur« 45 findet. Werden findet in der Natur in dem Maße statt,

38 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 29.


39 Ebd. 28.
40 Ebd. 30.

41
Ebd. 31.
42 Ebd.

43
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Technesis als Verfertigung, Herstellung
trifft die Intention Platons besser als ›Schöpfung‹, welche in der christlichen Tradition
eine creatio ex nihilo, eine Schöpfung aus dem Nichts, meint. Hier ist ursprünglich
dem Einen nichts entgegengesetzt; das Viele wird selbst gedacht als das Werk des
Einen, was aber als Voraussetzung ein differenziertes Eines hat, somit die christliche
Trinitätslehre erfordert. Diese stellt eine Bestimmung des Prinzips des Einen dar, in
welchem dieses Eine als ein in sich bestimmtes Differentes gedacht wird. Nur so kann
aus dem Einen überhaupt etwas Anderes hervorgehen.« – Ebd. 262.
44 Ebd.

45
Ebd. 33.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

wie es der Vernunft, dem νοῦς, gelingt, sich gegen die Notwendigkeit,
die ἀνάγκη, durchzusetzen. Für diese Einwirkung auf die ἀνάγκη
wählt Platon »eine tiefsinnige Metapher: es geschieht durch Über-
redung« 46.
Überredung durch den nous ist die Weise, wie die an sich ungerichte-
ten Prozesse eine bestimmte Richtung erhalten; sie repräsentiert ein
quasi energiefreies Gerichtetwerden. Auf die Frage, was denn eigent-
lich nun »Überredung« in der Natur sein solle, müßten wir platonisch
antworten: es geht hier um Bewegtes; die Sprechweise ist also not-
wendig metaphorisch. Es gibt gar keine uns zur Verfügung stehende
Begrifflichkeit, mit der solche Verhältnisse exakt bestimmt werden
könnten. 47
Für die menschliche Intentionalität gilt, dass durch die Überredung
der ἀνάγκη durch den νοῦς der ἔρως, also die »Grunderfahrung, die
wir Trieb nennen« 48, seine konkrete Gerichtetheit erhält. Dabei ist
noch einmal zu unterscheiden zwischen diesem »unmittelbaren
Zweck der Begierde« und dem »objektiven Zweck« 49. Der unmittel-
bare Zweck zielt jeweils auf »einen Zustand des Subjekts, den dieses
noch nicht besitzt«, der objektive Zweck dagegen auf
die Dauer im Schönen, Einen, Guten. Das Schöne, Eine und Gute ist
aber unabhängig vom Subjekt schon da. Das Subjekt kann an ihm nur
»teilhaben«.
Aus der Nichtidentität von endlichen Dingen mit dem Guten,
durch das allein sie sind, folgt eine ontologische Differenz innerhalb
der teleologischen Verfaßtheit der Dinge, die sich in der menschlichen
Intentionalität als Differenz zwischen objektivem und subjektivem
Ziel, oder auch zwischen Zweck und Motiv darstellt. 50
Der νοῦς kann dabei nur zum Guten überreden; er ist frei in der Wahl
der Mittel, die zur Teilhabe an ihm führen, nicht darin, an ihm teil-
haben zu wollen oder nicht. Weiter unten wird gezeigt, wie Aristote-
les diese Unterscheidung terminologisch weiterentwickelt hat. 51

46 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 33.


47 Ebd. 34.
48 Ebd. 35.

49 Ebd.

50
Ebd.
51 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-

sion, 231–232.

224

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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision

Zum Abschluss dieser knappen Darstellung von Platons Konzept


der Teleologie sei noch auf ihre ethischen Implikationen hingewiesen.
Gegen den Einwand der Sophisten, der Mensch tue alles, was er tut,
allein um des eigenen Lustgewinns willen, zeigt Platon, dass die »Fra-
ge nach dem richtigen Leben des Einzelnen […] nicht abzukoppeln
[ist] von der Frage nach dem richtig verfassten Staat« 52. Der Einwand
der Sophisten bedeutet eine Inversion der Teleologie durch Rück-
beziehung auf rein subjektive Motive. Demgegenüber geht es Platon
(ebenso wie Aristoteles) darum zu zeigen, dass selbst das Streben
nach Selbsterhaltung nicht auf »eine Zuständlichkeit des Sub-
jekts […], sondern die ›Teilhabe am Guten selbst‹« 53 zielt, womit Pla-
ton »die intentio recta der Teleologie im natürlichen wie sittlichen
Bereich gegenüber ihrer sophistischen Inversion« wiederherstellt,
»ohne dabei die Reflexionsdimension wieder preiszugeben« 54.

5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie


in terminologischer Präzision

Aristoteles – der »erste Antiplatoniker der Philosophiegeschichte«


und, im »Ganzen der Geschichte der Philosophie gesehen«, zugleich
»der größte Platoniker« 55 – vertiefte die Gedanken seines Lehrers
zum Problem der Teleologie, wobei zwei Begriffe in den Mittelpunkt
rückten: »dynamis und ousia, lat. potentia und substantia, dt. Mög-
lichkeit und Wesen bzw. Substanz.« 56
Platon interpretierte die Gegenstände der Wirklichkeit als »ver-
schiedene Zustände der Materie, des ›Zugrundeliegenden‹, kraft de-
ren sie teilhaben an ideellen Strukturen« 57. Aristoteles kritisiert zu-
nächst, dass dazu eine grundlegende Voraussetzung fehle: »es müssen
gewisse sogenannte ›Zustände der Materie‹ als das fundamental
Wirkliche schon ausgezeichnet sein, damit man so sprechen kann.« 58
Es geht Aristoteles dabei um die Unterscheidung von Subjektbegrif-
fen (z. B. »Baum-Sein«) und Prädikatbegriffen (z. B. »Blühendsein des

52 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 37–38.


53 Ebd. 37.
54 Ebd.
55 Ebd. 41.
56
Ebd.
57 Ebd. 42.
58
Ebd.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Baumes« 59). 60 »Die gewissen ›ausgezeichneten‹ Zustände der Materie,


von denen alle anderen Eigenschaften prädiziert werden, sind für
Aristoteles das eigentlich Wirkliche. Somit ist der ontologische
Grundbegriff für Aristoteles nicht eidos, Idee, sondern ousia, Sub-
stanz.« 61 Die den Substanzen zugrunde liegende »pure Materie« ist
für Aristoteles im Unterschied zu Platon nur ein »Abstraktionspro-
dukt« – die »Wirklichkeit verkürzt um die Formbarkeit« –, das ei-
gentliche Zugrundeliegende (ὑποκείμενον) ist für ihn »die Substanz,
die wirkliche Grundlage des Wirklichen« 62. Dabei unterscheidet Aris-
toteles zwischen den natürlichen Dingen – »physei onta« 63 –, die
»den Ursprung der Bewegung in sich selbst« haben, und den künst-
lichen Dingen, »deren Prinzip der Bewegung nicht aus ihrer substan-
tiellen Form folgt« 64.
Der Begriff der Substanz oder substantiellen Form eröffnet den physei
onta einen Spielraum von möglichen Bewegungen, innerhalb dessen
die Substanz als sie selbst erhalten bleibt. Der Korrespondenzbegriff
zur ousia, Substanz, ist der eines begrenzten Spielraums ihrer eigen-
tümlichen und spezifischen Bewegung: der Begriff der Möglichkeit. 65
Dieser Möglichkeitsbegriff besagt, dass ein natürliches Wesen im
Normalfall einen bestimmten Spielraum möglicher Bewegungen hat,
für deren wirkliches Zustandekommen dann gleichwohl noch ge-
eignete Rahmenbedingungen nötig sind. Aristoteles nimmt »für das
Zustandekommen des Wirklichen die platonische Unterscheidung
von causa und conditio sine qua non auf und unterscheidet analog
wesentliche Bedingungen von Randbedingungen des Könnens.« 66
Klavierspielenkönnen beispielsweise wäre wesentliche Bedingung

59 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 43.


60 Vgl. ebd. 21–22.
61
Ebd. 43.
62 Ebd. – Vgl. Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Sub-

stanz, 44–54.
63 Ebd. 44.

64 Ebd.

65 Ebd. 45. – An dieser Stelle wird der Bezug zum Thema Kontingenz erkennbar:

Alles, was über Möglichkeiten verfügt, ist so, wie es ist, nicht notwendig; die Distanz
zu einem kontingenten Bestand ist jenes ›Notwendige‹, um das es im personalen
Standpunkt geht. – Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die
Freiheit im Ereignis der Begegnung, 68–82, u. Teilkapitel 12.2, Abschließende Über-
legungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–904.
66
Ebd. 46.

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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision

der Verwirklichung dieses Könnens, das Vorhandensein eines Kla-


viers im Raum eine Randbedingung; der erste Begriff von Möglich-
keit betrifft den Bewegungsspielraum einer Substanz, der zweite die
Abwesenheit irgendwelcher Hinderungsgründe. »Die aristotelische
Definition der Bewegung ist im Grunde die Vermittlung zwischen
den beiden Möglichkeitsbegriffen: Bewegung ist Realmöglichkeit«. 67
Dieser Bewegungsbegriff soll im Folgenden erläutert werden, um aus
ihm den aristotelischen Begriff von Teleologie im weiteren und im
engeren Sinn zu entwickeln.
Da Aristoteles im Unterschied zu Platon keinen »Bereich reiner,
passiver Vielheit« 68 kennt, ist für ihn »alle wirkliche Bewegung ge-
richtet« 69 und damit »in einem weiteren Sinn teleologisch verfaßt« 70.
In der »Physik« gibt Aristoteles folgende Definition der Bewegung:
»Bewegung ist die Entelechie, die Wirklichkeit des potentiell Seien-
den als solchen, kürzer: Bewegung ist die Wirklichkeit des Möglichen
als des Möglichen.« 71 Geht es also um die Bewegung eines Gegen-
standes von A nach B, so kann von der »Wirklichkeit der Möglich-
keit« bzw. der »Realmöglichkeit« von B gesprochen werden, »wenn
die Möglichkeit dadurch wirkliche Möglichkeit ist, daß Bewegung
stattfindet« 72. »Die Bewegung als Wirklichkeit der Möglichkeit zu
fassen heißt, sie als Möglichkeit eines künftigen Zustandes zu be-
greifen, der zur Definition des Gegenwärtigen gehört, und zwar als
Möglichkeit: denn es ist jedem künftigen Zustand eigentümlich, daß
er nicht mit Sicherheit eintritt.« 73 Wenn nach der Aussaat die Samen
zu keimen beginnen, sind die voll entwickelten Halme bereits Wirk-

67 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 46.


68 Ebd. 44.
69 Ebd. 47.

70 Ebd.

71 Ebd. – Vgl. Anmerkung: »Phys. III 1, 201 a 11, 202 a 8; die im Text gegebene Über-

setzung von R. Spaemann drückt das Wesentliche deutlicher aus als etwa die von
H. Wagner: ›Prozeß heißt die Verwirklichung des Möglichkeitsmoments an einem
Gegenstand‹ (Physikvorlesung, Berlin 1967, S. 59).« – Ebd. 264. – Vgl. auch: »ἡ τοῦ
δυνάμει ὄντος ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνεσίς ἐστιν«. – Physik, 201 a 10, in der
deutschen Übersetzung von Hans Günter Zekl: »Das endliche Zur-Wirklichkeit-
Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches
ist – das ist (entwickelnde) Veränderung«. – Aristoteles, Physik I–IV, 103 (kursiv im
Original). – Auf die Ausführungen zum aristotelischen Bewegungsbegriff an dieser
Stelle wird gegen Ende dieser Arbeit angeknüpft werden. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Ab-
schließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 900–901.
72 Ebd.

73
Ebd. 48.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

lichkeit als Möglichkeit; dass es eventuell zu dieser Wirklichkeit nicht


kommt, wenn die Saat aufgrund beispielsweise von Wassermangel
vertrocknet, stellt den Begriff der Realmöglichkeit nicht in Frage,
denn bei Aufrechterhaltung geeigneter Rahmenbedingungen – bei-
spielsweise regelmäßiger Wässerung – hätte die Wirklichkeit erreicht
werden können. Alle natürlichen Bewegungen bedürfen bei Aristote-
les eines »Anfangsgrundes« und »eines Grundes, bis zu einem be-
stimmten Ende fortgesetzt zu werden« 74, der »selbst ein natürliches
Ziel darstellt« 75: »Das natürliche Ende der natürlichen Bewegung ist
für den Körper dort, wo er sich – anthropomorph gesprochen – wohl
befindet. Wenn ein bestimmter Gleichgewichtszustand erreicht ist,
dann ruht er in bezug auf diese bestimmte Bewegung.« 76 Die theo-
retisch entscheidende Frage besteht nun darin, wie »ein solch anti-
zipiertes telos Prinzip, arche und Ursache, aitia einer Bewegung ge-
nannt werden« 77 kann, womit es um die Frage nach der Teleologie im
engeren Sinn geht.
Spaemann und Löw referieren knapp die aristotelische Ursachen-
lehre und unterstreichen, dass die »causa finalis – Zweckursache,
Endursache« 78 für Aristoteles die »erste aller Ursachen« 79 ist. Bei
den künstlichen Dingen ist dies offensichtlich: »das Sitzenwollen geht
allen Stühlen voraus« 80. »Ein Naturding hingegen ist dadurch cha-
rakterisiert, daß Was und Wozu in ihm selbst in Eins fallen. Der
Zweck ist die Form der Sache selbst, darum auch das Wort entele-
cheia: ich trage das Ziel in mir.« 81 Den Begriff der Entelechie in Bezug
auf natürliche Bewegungen zu verwenden, bedeutet immer, zunächst
von der menschlichen Selbsterfahrung auszugehen. Wie eingangs
dargelegt, zielt die Frage ›Wozu?‹ immer auf Verstehen, »Ausgangs-
punkt solchen Verstehens ist das natürliche Wesen Mensch« 82, das in
sich immer schon eine teleologische Verfasstheit vorfindet. Der Vor-
wurf, das teleologische Denken betrachte die Naturdinge »naiv nach

74 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 48.


75 Ebd.
76 Ebd. 49.
77 Ebd.
78 Ebd. 50.
79 Ebd. 51.
80
Ebd.
81 Ebd. 52.
82
Ebd.

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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision

Analogie der künstlichen Gegenstände« 83, stellt für Aristoteles den


wirklichen Zusammenhang auf den Kopf: Nicht wir sehen »unbe-
rechtigter Weise die Natur durch die Brille der Kunst […], sondern
es ist umgekehrt: die menschliche Kunst – techne – ahmt auf eine
unvollkommene Weise die Natur nach« 84. Das τέλος als der »erste
aller Gründe« 85 hat immer den »Charakter des Guten, Besten 86 für
ein natürliches Wesen« 87, zielt also auf die volle Entfaltung der natür-
lichen Anlagen. Im Folgenden soll es nun um die Frage gehen, in Bezug
auf welche Naturphänomene teleologisches Verstehen zulässig ist.
Bei der Betrachtung beispielsweise des Wasserkreislaufs könnte
der Eindruck entstehen, dass der Regen fällt, damit das Getreide
wachsen kann. Eine solche universalteleologische Vorstellung lehnt
Aristoteles jedoch ab, da das Wachsen des Getreides dem meteoro-
logischen Prozess ganz äußerlich ist.
Nicht alles, was wie ein Produkt sinnvoller Bewegung aussieht, ist
deswegen auch wirklich ein Resultat einer solchen. Es ist – so Aristo-
teles – entweder Produkt eines teleologischen Prozesses oder ein Pro-
dukt des Zufalls. Dem entspricht die heute übliche Unterscheidung
zwischen Teleologie und Teleonomie. Teleonomie ist die Betrachtung
von Gebilden unter dem Gesichtspunkt ihrer wie immer gearteten
Zweckmäßigkeit, wobei aber – im Gegensatz zur Teleologie – die
Zweckmäßigkeit des Gebildes nicht als Erklärungsgrund für sein Da-
sein herangezogen werden kann. 88
Die moderne, im engeren Sinne darwinistische Ansicht, dass »alle
natürlichen Prozesse, die zweckgerichtet erscheinen, lediglich teleo-
nomisch sind, also zweckmäßig ohne Zweck« 89, wurde bereits in der
Antike, so etwa durch Empedokles vertreten; Spaemann und Löw
referieren ausführlich die Widerlegung dieser »ateleologischen
Natursicht« durch Aristoteles. Gegen sie spreche erstens die »Regel-

83
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 52.
84 Ebd. – Vgl. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 321–
347, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen, 680–702.
85 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 54.

86 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Gr. ariston und beltiston; Phaidon 97b.

›Gut‹ heißt immer ›für das Wesen schlechthin gut‹, und das ist aus der Perspektive des
Wesens selbst das Beste.« – Ebd. 265.
87
Ebd. 53.
88 Ebd. 54.

89
Ebd. 55.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

mäßigkeit der Zweckphänomene« 90, zweitens die Ähnlichkeit von


menschlichem Handeln und Naturprozessen 91, drittens das Vorkom-
men von »Fehlern« in der Natur 92. Von besonderer Bedeutung ist das
vierte Argument, das sich gegen die These wendet, »die heute wis-
senschaftlicher common sense ist, Teleologie setze Bewußtsein vo-
raus« 93. Aristoteles verweist hierbei auf den Sachverhalt, dass ein
Mensch, der eine Kunst beherrscht, diese nicht mehr mit Überlegung
ausübt, sondern sie internalisiert hat.
Wenn Teleologie an Bewußtsein gebunden wäre, so ergäbe sich das
Paradox, daß eine Kunst in dem Maße, in dem sie vollkommen wird,
aufhört, teleologisch zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. Wir sind ja
gerade bestrebt, eine Kunst zu erwerben, um das telos möglichst voll-
kommen realisieren zu können. Und am vollkommensten realisieren
wir es – so Aristoteles –, wenn wir dabei nicht mehr überlegen müs-
sen. Dann handeln wir wie die Natur selbst. […] Die fragliche »erste
Natur«, um deren teleologische Gerichtetheit es ja Aristoteles geht, ist
diejenige, an deren Wirkungsweise sich die zweite annähert. Sie wirkt
ohne Überlegung. 94
Für das von Spaemann verfolgte Projekt der Wiederbelebung des te-
leologischen Denkens wird von grundlegender Bedeutung sein, dass
Aristoteles zum einen den Anwendungsbereich teleologischen Ver-
stehens ausdrücklich einschränkt und universalteleologische Deutun-
gen ablehnt, 95 zum anderen ateleologische Positionen reflektiert und

90
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 57.
91 Vgl. ebd. 57–58.
92 Vgl. ebd. 58–59.

93 Ebd. 59.

94 Ebd.

95 Mit Bezug auf universalteleologische Ansätze, »alles Seiende in Zweck-Mittel-Zu-

sammenhängen miteinander« zu verschränken, bemerken Spaemann und Löw an an-


derer Stelle: »Dieser Gedanke war Aristoteles fremd. Für ihn gibt es in einem Lebe-
wesen Zweck-Mittel-Verhältnisse – daß etwa das Wasser für ein bestimmtes Gewebe,
dieses für ein bestimmtes Organ, dieses für eine bestimmte Verrichtung im Ganzen da
ist –, aber mit der Stufe des Lebewesens als Ganzem war, wenn wir von der Planeten-
bewegung absehen, die oberste natürliche Stufe erreicht, bei der sinnvollerweise von
Zweck gesprochen werden konnte. Dieser Selbstzweck des Daseins eines lebendigen
Wesens konnte nicht noch einmal als Mittel für ein anderes natürliches Wesen inter-
pretiert werden. Daß es dennoch zum Mittel genommen (e. g. gefressen) werden
konnte, negierte ja gerade dessen telos zugunsten des eigenen. Wo sich solche Zusam-
menhänge aufdecken lassen, spricht ihnen Aristoteles ein zufälliges Entstehen zu. Der
Mensch macht hier keine Ausnahme; er ist nur insofern herausgehoben, als er alle
natürlichen Gegenstände auf sich beziehen und sich zunutze machen kann. Aber da-

230

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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision

insbesondere im Hinblick auf das unbewusste Wirken der Natur ge-


gen sie argumentiert.
Bevor es abschließend um die Frage geht, worauf die τέλη der
natürlichen Dinge letztlich gerichtet sind, also um die Unterschei-
dung von immanenter und transzendenter Teleologie, seien die zen-
tralen Gedanken mit den Worten Spaemanns und Löws zusammen-
gefasst:
die Zweckursache hat den Primat in der aristotelischen Lehre von den
Ursachen. Sie allein kann die Warum-Frage befriedigend im Sinne des
Verstehens lösen. Zweckursache ist der Aspekt, unter welchem kausal-
mechanische Prozesse organisiert und natürliche Formen hervor-
gebracht werden. Im Substrat der Naturprozesse, der Materie, wieder-
um kann der Grund für das Nicht-erreichen von Zwecken liegen. 96
Innerhalb der Zwecke, die die natürlichen Wesen bewegen, führt
Aristoteles noch einmal eine ontologische Differenz ein, durch die
die Vorstellung vom unbewegten Beweger ins Spiel kommt: »Der
Gott ist als ›erster Beweger‹ Grund des Seins und Soseins aller ir-
dischen Dinge. Sie sind nicht nur immanent teleologisch verfaßt, das
heißt mit Selbsterhaltungsstreben ausgestattet. Das Selbsterhal-
tungsstreben ist vielmehr die subjektive Seite eines objektiven ›Sein-
sollens‹ der Dinge.« 97 Den natürlichen Wesen geht es um Selbsterhal-
tung; was aber ist das τέλος der Selbsterhaltung? Spaemann und Löw
verweisen in diesem Zusammenhang auf die schon bei Platon vor-
handene ontologische »Differenz zwischen objektivem Zweck und
subjektivem Motiv« 98, die erst Aristoteles »terminologisch in aller
Schärfe« 99 entwickelte. Aristoteles unterscheidet »telos hou heneka
tinos: lat. finis cuius (gratia) und telos hou heneka tini: lat. finis cui
(im Mittelalter: finis quo)« 100. Der ›finis cuius‹ bezeichnet die er-

raus folgt nicht, daß diese an sich selbst wesentlich Mittel sind. Der Hinweis auf den
Menschen hat keinen teleologischen Erklärungswert für die Natur.« – Spaemann/
Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 66.
96 Ebd. 60. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles ist ein besonders

kritischer Anhänger der Teleologie; der Zweck kann nicht nur verfehlt werden, son-
dern je mehr die Materie am Zustandekommen eines Gegenstandes beteiligt ist, desto
undeutlicher kann der Zweck für den Naturwissenschaftler sein.« – Ebd. 266.
97 Ebd. 61.

98 Ebd. 62.

99
Ebd.
100 Ebd. – Vgl.: »Allgemein ist τέλος definiert als ›das letzte Worumwillen‹ (τὸ οὗ

ἕνεκα ἔσχατον) [Aristoteles: Met. V, 16, 1021 b 30.]. Aristoteles kann dabei jedoch

231

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

strebte Sache selbst als objektive Realität, der ›finis cui‹ die subjekti-
ve Aneignung dieser Sache. Der ›finis cuius‹ bezeichnet die allgemei-
ne teleologische Verfassung, in der der Mensch sich immer schon
vorfindet und die er mit allen natürlichen Wesen teilt. Der ›finis cui‹
dagegen ist eine subjektive Zielsetzung, die den ›finis cuius‹ noch
einmal als Mittel versteht. Der ›finis cuius‹ der »Sättigung durch
die Speise« kann etwa durch den ›finis cui‹ des Subjekts, »um des-
sentwillen das Ziel erstrebt wird« 101 affirmiert oder auch abgelehnt
werden. Problematisch wird diese Unterscheidung nun, »wenn wir
von der Erhaltung des Seins, nach welchem alles Seiende strebt« 102,
sprechen: »Der finis cuius ist die Selbsterhaltung; aber um wessen
willen wird die Selbsterhaltung erstrebt?« 103 Da die Selbsterhaltung
dem Subjekt nichts hinzufügt, kann es sie nicht um seiner selbst
willen erstreben.
Aristoteles’ Antwort ist, daß das Streben alles Seienden, sich im Sein
zu erhalten, um der methexis, der Teilhabe am Göttlichen willen ge-
schieht. […] Das Streben nach Dauer, sei es als Selbst-, sei es als Ar-

auch zwischen einem primären (οὗ ἕνεκα τινός, dem späteren ›finis cuius‹ oder ›finis
internus‹) und einem sekundären, äußeren Zweck (οὗ ἕνεκα τινί, ›finis quo‹ oder
›finis externus‹ [Vgl. J. Micraelius: Lex. philos. (21662, ND 1966) 512.]) unterscheiden
[Aristoteles: Met. XII, 7, 1072 b 1–3; Phys. II, 2, 194 a 35 f.; De an. II, 4, 415 b 2 f. u. ö.;
vgl. K. Gaiser: Das zweifache Telos bei Aristoteles, in: I. Düring (Hg.): Naturphilos.
bei Arist. und Theophrast (1969) 97–113.].« – Hoffmann, Zweck; Ziel, in: HWPh XII,
col. 1488. – Obwohl dieser Sachverhalt von Spaemann und Löw nicht explizit thema-
tisiert wird, ist zu beachten, dass die Unterscheidung der beiden fines bei Aristoteles
rein terminologischer Art ist. In »Personen« wird Spaemann später schreiben: »Die
Antike kennt keinen Rückgang des Menschen hinter seine Natur, keine Objektivie-
rung der Natur. Natur ist ein Letztes, im faktischen und im normativen Sinn.« –
Spaemann, Personen, 31. – Es geht also bei Aristoteles um einen finis, der auf seine
beiden Aspekte – den objektiven und den subjektiven – hin betrachtet wird. Vgl. dazu
folgende Textstelle aus »Natürliche Ziele«, in der die Unterscheidung von ›finis quo‹
und ›finis cuius‹ bei Aristoteles erklärt wird mit der »Unterscheidung zwischen
›Zweck‹ und ›Um … willen‹ bzw. zwischen ›Zweck‹ und ›Ziel‹. Ziel wäre dann jenes
›Um … willen‹, das wir jeweils schon vorfinden und innerhalb dessen wir uns über-
haupt erst als lebendige Wesen verstehen können. ›Zweck‹ dagegen wäre das bewußt
gesetzte und in konkrete Handlungsorientierung übersetzte Ziel. Zwecke setzend hal-
ten wir zugleich nach Mitteln Ausschau, während das Ziel als Ermöglichungsgrund
des Zweck-Mittel-Dualismus diesem voraufliegt.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele
(1981; 2005), 219. – Vgl. zur Bedeutung der beiden fines außerdem: Ebd. 69, 78, 81 u.
222.
101
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 62.
102 Ebd.

103
Ebd.

232

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5.2.2 Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzision

terhaltungsstreben, interpretiert Aristoteles als konstitutive Tendenz


der endlichen Wesen, am Göttlichen teilzuhaben. 104
Doch ist diese Teilhabe weder »ein erwünschter Zustand des Seien-
den«, denn »die Substantialität der Substanz besteht gerade in der
Teilhabe und ist nichts außer ihr«, noch etwas, was Gott, der unbe-
dürftig ist, zugute käme. »Das ›absolute telos‹ des Endlichen kann
daher nur in einer je spezifischen Weise der ›Repräsentation‹, der
Darstellung des Göttlichen bestehen.« 105 Die nicht-vernünftigen We-
sen streben nach der repraesentatio »durch Selbsterhaltung und Re-
produktion« 106, der Mensch »gleicht ihnen physei darin«, kann je-
doch dieses Streben noch einmal in einen ›finis cui‹ einbinden,
»wenn er theoria treibt« und damit »zum Göttlichen in ein direktes
Verhältnis« 107 tritt. 108

104
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63. – Vgl. die Anmerkung von
Spaemann/Löw: »Ansonsten lehnt Aristoteles den platonischen Begriff der Teilhabe
(vgl. 1. Kapitel) ab; Teilhabe an Ideen verdopple die Welt. Die Ideen haben in den
Dingen selbst Wirklichkeit, nicht in einer eigentlichen Welt der Ideen.« – Ebd. 266. –
Vgl. dazu: »Aristoteles bestreitet, daß es sich bei ›Teilhabe‹ überhaupt um einen phi-
losophischen Begriff handelt. Eine Antwort auf die Frage, was denn Teilhabe sei, habe
Platon nicht geben können […]. Nicht philosophisch sei dieses Wort, weil es leer
bleibe und nichts als eine poetische Metapher sei, auf deren Basis jedoch kein Beweis,
der Kern des Wissens, aufgebaut werden könne […]. Gleichwohl gibt es auch bei
Aristoteles mehrere Felder, auf denen er zwar keinen eigens legitimierten, aber doch
faktischen Gebrauch des Begriffes macht. Ähnlich wie Platon im ›Symposion‹ […]
spricht auch Aristoteles davon, daß es die basale Leistung von Lebewesen ist, ein
Gleichartiges zu erzeugen. Sinn der Zeugung sterblicher Lebewesen ist, ›am Ewigen
und Göttlichen Anteil zu haben‹ (τοῦ ἀεὶ καὶ τοῦ θείου μετέχουσιν) […].« –
Schönberger, Teilhabe, in: HWPh X, col. 961.
105 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 63.

106
Ebd. 64.
107 Ebd.

108 Auf diesen Gedankenkomplex wird in den folgenden Kapiteln mehrfach zurück-

zukommen sein. Zum einen werden im Rahmen des sechsten Kapitels die besonderen
Denkbedingungen reflektiert, durch die die antike Philosophie sich einem direkten
Zugriff entzieht und uns nur im Zuge einer Aktualisierung zugänglich sein kann.
Zum anderen wird im siebten Kapitel der aristotelische ›finis cuius‹ im Sinne des Her-
vortretens eines bewandtnislosen Umwillen zum Bild des Anderen führen und die
Anknüpfung an diesen aristotelischen Gedanken damit einen wesentlichen Schritt
zur Philosophie der Begegnung darstellen.

233

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam

In der Spätantike geriet das teleologische Denken in eine Krise, indem


einerseits von den Epikureern die »Zufallstheorie der Entstehung des
Sinnvollen und Zweckmäßigen in der Natur« – also Ersetzung von
Teleologie durch Teleonomie –, andererseits von den Stoikern eine
»Universalteleologie des ganzen Kosmos« 109 gedacht wurde, wobei
»unter der Voraussetzung einer vollständigen und durchgehenden
Final-Determination […] die Welt auch vollständig kausal deter-
miniert« ist und der »Unterschied zwischen causa finalis und causa
efficiens« wegfällt. Die Folge war ein Bedeutungsverlust des teleo-
logischen Denkens.
In der christlichen Philosophie der Kirchenväter und des frühen Mit-
telalters findet sich bis ins 12. Jahrhundert keine Analyse oder gar
Problematisierung der Teleologie. Diese Philosophie ist in ihren
Grundlagen platonisch. Platonismus verbindet sich mit der biblischen
Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts: alle Dinge sind wie sie sind,
weil Gott sie so will. 110
Für die christliche Philosophie bedeutend ist zudem die »Lehre von
der Sünde«: Aufgrund der »Inversion der natürlichen Finalität«, in
der der Mensch »sich selbst zum letzten ›Um … willen‹ macht«, ist
die »teleologische ›Normalverfassung‹ der Menschen nicht am durch-
schnittlichen Realverhalten ablesbar« 111. Vor das Teleologieproblem
schiebt sich eine dem antiken Denken unbekannte moralische Dicho-
tomie.
Die Wiederherstellung der ursprünglichen Strebensrichtung ge-
schieht unter Bedingungen der Erbsünde nur durch eine »Bekeh-
rung«, in der diese Selbstbezogenheit des Willens ausdrücklich negiert
wird. Während die durchschnittliche Verfassung von Menschen be-
stimmt ist durch »Selbstliebe bis zur Gottesverachtung«, ist die Zu-
gehörigkeit zum Reich Gottes bestimmt durch »Gottesliebe bis zur
Selbstverachtung«. 112

109 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 65.


110 Ebd. 68–69.
111 Ebd. 69.

112 Ebd. – Dieser Gedanke der curvatio in seipsum und einer durch Umkehr, μετά-

νοια, wiederherstellbaren ursprünglichen Strebensrichtung wird später in Spae-


manns »Glück und Wohlwollen« aus dem Jahre 1989 größte Bedeutung haben. – Vgl.
Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik,
415–508.

234

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5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam

Die somit beobachtbare Verlagerung des Interesses, das die Frage der
Naturteleologie in den Hintergrund treten lässt, steht also im Zusam-
menhang mit der oben erörterten christlichen Umformung des klas-
sischen ontologischen Natur-Praxis-Schemas in die neue Unterschei-
dung von Natur und Gnade. 113
Das Problem naturimmanenter, spezifisch teleologischer Prozesse
taucht innerhalb des platonischen ersten Jahrtausends nach Christus
nicht auf, sondern wird erst mit dem durch die Araber – vor allem
Avicenna und Averroes – initiierten und im 13. Jahrhundert in der
christlichen Welt rezipierten Neoaristotelismus 114 erneut thematisch,
für den vor allem die Namen Albert der Große und Thomas von
Aquin, aber auch Johannes Duns Scotus stehen. 115
Spaemann und Löw beschränken sich auf »Bemerkungen über die
Weiterführung und Umformung aristotelischer Gedanken durch den
Heiligen Thomas« 116. Da diese für eine mögliche Anknüpfung an die
Naturteleologie aus moderner Sicht ebenso wichtig sind wie die
Grundlegungen durch Platon und Aristoteles, werden sie im Folgen-
den ausführlich wiedergegeben.
Thomas steht auf aristotelischem Boden, erweitert dessen Teleo-
logiekonzeption jedoch in wichtigen Aspekten. Wie oben erwähnt
wurde, lehnte Aristoteles eine teleologische Interpretation des Was-
serkreislaufs beispielsweise ab: »Das Wachstum des Getreides hat in
bezug auf den Wasserkreislauf, der sich erhält, keinen finalen Er-
klärungswert, denn er zerstört Getreide auch.« 117 Thomas wider-
spricht hier Aristoteles: »Unde licet pluvia non sit propter perditio-
nem, non tamen sequitur quod non sit propter conservationem et
augmentum.« 118 Gegenüber Aristoteles führt Thomas also die Unter-

113
Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,
196–206.
114
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles wurde dem Westen erst seit
Mitte des 12. Jahrhunderts durch die Übersetzungen aus dem Arabischen zugänglich;
die Kommentare zu seinen Schriften versuchten ihn so zu interpretieren, daß er der
hl. Schrift nicht widersprach.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 267.
115 Ebd. 69.

116 Ebd.

117 Ebd. 70.

118
Ebd. – Deutsch: »Von daher erhellt, daß daraus, daß der Regen nicht für das Ver-
derben des Getreides fällt, nicht gefolgert werden kann, daß er auch nicht für das
Wachstum und Erhaltung fällt.« – Ebd. 267.

235

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

scheidung zwischen dem »generellen Zusammenhang von Regen und


Wachstum« und einer »speziellen Wirkung« 119 ein:
Thomas versucht hier, durch die Ausweitung der teleologischen Denk-
weise die Welt als ökologisches System zu interpretieren, in der dann
solche Zuträglichkeiten wie die von Regen und Wachstum wiederum
echt teleologische Verhältnisse bilden, denen gegenüber das Verhält-
nis von Regen und Zerstörung des Gewachsenen zufällig sind. 120
Hinter diesem Versuch steht die »theologische[…] Motivation«, alle
sinnvollen Vorgänge auf der Welt auf Gott zurückführen zu wollen.
In diesem Zusammenhang zitieren Spaemann und Löw nun einen
Satz aus Thomas’ Kommentar der aristotelischen »Physik«, der für
die thomasische Transformation der antiken Teleologievorstellung
von zentraler Bedeutung ist: »Ea enim, quae non cognoscunt finem,
non tendunt in finem nisi ut directa ab aliquo cognoscente, sicut sa-
gitta a sagittante: Unde si natura operetur propter finem, necesse est
quod ab aliquo intelligente ordinetur.« 121 Dieser Satz markiert die
Abkehr von einem wesentlichen Prinzip der aristotelischen Natur-
teleologie, die für die weitere geschichtliche Entwicklung des teleo-
logischen Denkens von größter Bedeutung war. Spaemann und Löw
kommentieren ihn wie folgt:
Dies ist ein folgenreicher Satz. Für Aristoteles war alle Handlungs-
teleologie eingebettet in Naturteleologie, die dem Handeln schon ein
Ziel vorgeben muß. Nun wird reine, nicht in eine Handlungsteleologie
eingebettete Naturteleologie für unmöglich erklärt. Dieser Gedanke
hat erst später, dann aber bis heute seine ganze Wirkung entfaltet:
wenn Teleologie notwendig ein Bewußtsein voraussetzt, das das telos
antizipiert, dann ist sie aus der Natur zu eliminieren; denn wir neh-
men in der Welt keine Vernunft außerhalb der menschlichen wahr,
und auf Gott können wir in der Naturwissenschaft nicht rekur-
rieren. 122
Natürlich zog Thomas selbst diese moderne Schlussfolgerung nicht;
ganz im Gegenteil ist für ihn Naturteleologie »Argument im Gottes-

119 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 70.


120 Ebd.
121 Ebd. – Deutsch: »Diejenigen Dinge, die kein Ziel [von sich selbst her] kennen,

bewegen sich nicht auf ein Ziel zu, außer gelenkt von einem, der das Ziel kennt, wie
der Pfeil vom Schützen: Wenn es also in der Natur teleologisch zugeht, dann ist es
notwendig, daß sie durch einen Wissenden geordnet wird.« – Ebd. 267.
122
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 71.

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5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam

beweis« 123. Die Dynamik, die in dieser Umdeutung der Naturteleo-


logie enthalten ist, zeichnete sich allerdings schon vor Thomas bei
den arabischen Aristotelikern ab. Während Avicenna (980–1037)
den ›finis quo‹ an ein Bewusstsein bindet, worin Thomas ihm wie
gesehen folgt, leitet Averroes (1126–1198) im Unterschied zu Tho-
mas daraus ab, dass »der finis quo gar keine Zweckursache, sondern
die Vorstellung des finis quo […] vielmehr die Wirkursache der
Handlung« 124 sei, womit der Weg zu einer ateleologischen Deutung
scheinbar teleologischer Prozesse gebahnt ist. Das Denken Thomas’
stellt den Versuch dar, diese Dynamik aufzuhalten. Der entscheiden-
de Unterschied zwischen Aristoteles und Thomas besteht gleichwohl
darin, dass jener Teleologie nicht mit Bewusstsein verknüpfte, da »die
Kunst in der Natur so bewußtlos wirke wie im vollkommenen Künst-
ler« 125, dieser hingegen auf einem Ursprung in Gott besteht: »zwar ist
die Kunst bewußtlos in den Dingen, aber wie ist sie hineingekom-
men?« 126 Auf diese Frage wird bei der Einschätzung der allgemeinen
Bedeutung Thomas’ in der Geschichte des teleologischen Denkens
zurückzukommen sein.
Die Intention, die Thomas bei der Fundierung der Naturteleo-
logie im göttlichen Bewusstsein verfolgte, erschließt sich nur, wenn
man seine spezifischen Denkvoraussetzungen, die sich von den neu-
zeitlichen unterscheiden, berücksichtigt. Das »aristotelische Axiom:
Omne ens agit propter finem – alles Wirkende wirkt um eines Zieles
willen« 127 ist für Thomas wahr aufgrund der konstanten Verknüp-
fung von Ursachen und Wirkungen in der Natur. Dieser modern an-
mutende Gedanke ist für ihn jedoch nicht Ausgangspunkt für eine
Aufgabe der Zweckursache, im Gegenteil: Spaemann und Löw legen
dar, dass im mittelalterlichen Denken die »Regelmäßigkeit von Auf-
einanderfolgen nicht zur Definition« 128 des Ursache-Begriffs gehörte,
sondern Indiz war für Vorgänge, die »analog zu einer Handlung« 129

123 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 71.


124
Ebd. 81.
125 Ebd. 71.

126 Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Aristoteles würde antworten:

gar nicht, sie ist gleichursprünglich, und das heißt ewig bereits in ihr drinnen. Hier
hinkt die Analogie mit dem Flötenspieler, der seine Kunst erst erwerben mußte. Den-
noch ist sie natürlich nur in der Natur, weil die Natur von Gott bewegt wird wie das
Liebende durch das Geliebte.« – Ebd. 267.
127
Ebd.
128 Ebd.

129
Ebd. 72.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

interpretiert werden müssen und damit notwendigerweise auf ein τέ-


λος verweisen. »Da für Thomas ein telos aber nur im Wissen wirk-
sam werden kann, so liegt für ihn das telos natürlicher Dinge ebenso
in Gott wie das telos des Pfeiles im Schützen. Als Konsequenz ergibt
sich: wo Teleologie, da auch Theologie.« 130 Auch bei Aristoteles gibt
es, wie gesehen, einen Zusammenhang zwischen Naturteleologie und
Theologie, insofern der »Gott als universales telos eines ebenso uni-
versalen Teilhabestrebens durch sein bloßes Sein die finale Struktur
aller Wirklichkeit begründet« 131. Thomas hält zwar an der »aristo-
telischen, immanent-teleologischen Naturauffassung« 132 fest, denkt
Gott aber als Schöpfer der teleologisch verfassten Naturdinge und
damit als Subjekt eines finalen Handelns:
er stiftete den Dingen ihre Natur ein, aufgrund derer sie nun selbst
Zwecke und Ziele besitzen. Auf der Ebene der natürlichen Dinge hat
sich gegenüber Aristoteles nichts geändert, nur ist Gott nicht mehr
nur causa finalis, an dessen Ewigkeit die Wesen teilzuhaben streben,
sondern Gott ist gleichzeitig causa efficiens, Wirkursache ihres Stre-
bens. 133
Somit verbindet Thomas »den antiken Teilhabe-Gedanken mit dem
christlichen Schöpfungsbegriff« 134. Die Schöpfung ist »Selbst-Dar-
stellung Gottes in der Weise der repraesentatio des Göttlichen im
Endlichen« 135.

130 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 72.


131 Ebd.
132 Ebd.

133 Ebd. 72–73. – Vgl.: »Thomas von Aquin macht den Begriff der Teilhabe zum Zen-

tralbegriff seiner Metaphysik […]. Auch er bezieht, wie schon der Neuplatonismus,
›Teilhabe‹ nicht mehr bloß auf einzelne Formen, sondern auch auf das – jetzt aber
nicht als Form, sondern als Akt verstandene – Sein überhaupt: Die Formen sind selbst
Teilhabende am Sein. Und wie auch spätere Autoren bestimmt Thomas ›participatio‹
etymologisch als ›partem capere‹ […]. […] Daraus ergibt sich die vollständige Dis-
junktion von Gott, der mit seinem Sein identisch ist, und den geschaffenen Dingen,
die am Sein nur teilhaben, d. h. in partizipierender Weise sind […]. Das sachliche Pro-
blem, wie die Einheit des konkreten Seienden angesichts der Nichtidentität der Be-
stimmungen gedacht werden kann, beantwortet Thomas – und dies ist seine eigent-
liche Leistung bei der Konzeption des Teilhabe-Begriffs – damit, daß er das Teilhabende
als Potenz, hingegen das, woran etwas teilhat, als Akt versteht […].« – Schönberger,
Teilhabe, in: HWPh X, col. 964–965.
134 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 73.

135
Ebd.

238

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5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam

Auch was die »Stufungen der Strebensinhalte« 136 der endlichen


Wesen anbelangt, folgt Thomas im Wesentlichen Aristoteles: »Ein
Wesen strebt danach, Gott abzubilden, indem es danach strebt, das
zu sein, was es von Natur ist.« 137 Das bedeutet einerseits, dass die
endlichen Wesen nach Erhaltung ihres Seins streben, andererseits
nach der »Entfaltung irgendeiner spezifischen Wirksamkeit« 138:
»Thomas spricht, Aristoteles folgend, von erster und zweiter Wirk-
lichkeit, actus primus und actus secundus. Die erstere ist stets um-
willen der zweiten, so daß das Axiom gilt: omne ens est propter suam
propriam operationem. Alles Seiende ist um seiner ihm eigenen
Tätigkeit willen.« 139 Entsprechend der unterschiedlichen »Seinshöhe
der Dinge« unterscheidet Thomas verschiedene »Stufen der Teleo-
logie« 140, wobei der Mensch »als Ziel an der Spitze der ganzen Zeu-
gung von Lebendigem« 141 steht. Diesen »unwissenschaftlich und an-
thropomorph« 142 klingenden Gedanken begründet Thomas durch den
Blick auf die Welt im Ganzen als ökologisches System, in dem der
Mensch als Spitze der Pyramide erscheint: »Wenn der Mensch also
überhaupt als Naturzweck verstanden wird, dann muß er als telos
aller übrigen Wesen, einschließlich der Gestirne, die ja wiederum Be-
dingungen der Zeugung sind, verstanden werden.« 143 Für den Men-
schen allein gilt, dass er seine Naturbestimmung erst erfüllt, wenn er
seinen Bezug auf Gott als das »äußerste telos aller Tätigkeit« 144, und
zwar »kognitiv und willentlich« 145 realisiert.
Kontrovers wurde in der Scholastik die Frage diskutiert, warum der
Mensch, das bewußte und vernünftige Wesen, Gott als Ziel seines
Strebens will. Will der Mensch Gott um Gottes willen, oder geht es
dem Menschen in der sittlichen Bestimmung um sein eigenes Glück?
Mit anderen Worten: ist Gott oder das menschliche Wesen finis cuius
des menschlichen Strebens? 146

136 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 73.


137
Ebd.
138 Ebd.
139 Ebd.
140 Ebd. 74.
141 Ebd. 76.
142 Ebd.
143 Ebd. 77.
144
Ebd.
145 Ebd. 73.
146
Ebd. 77–78.

239

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

In dieser später in der querelle zwischen Fénelon und Bossuet wieder-


kehrenden Frage bezieht Thomas gegen Albert den Großen Stellung
für die Möglichkeit der Selbsttranszendenz:
Das Eigentümliche des Geistes besteht gerade darin, daß er in der Er-
kenntnis die recurvatio wesentlich transzendiert. […] Von Natur aus
liebt das endliche Wesen Gott mehr als sich selbst. Die Gnade ist also
dieser Natur nicht entgegengesetzt, sondern sie ist Vervollkommnung
der Natur des Menschen, dessen, was von Natur aus im Menschen und
seinem Geist immer schon angelegt ist. 147
Spaemann und Löw unterstreichen, dass die »Synthese von aristote-
lischer Naturphilosophie und christlichem Schöpfungsgedanken bei
Thomas […] den Höhepunkt des teleologischen Denkens« 148 kenn-
zeichnet: »Das letzte telos der Natur wird über das telos des Men-
schen zur Selbsttranszendenz des Endlichen in das Absolute.« 149
Zugleich kennzeichnet Thomas’ Umformung der antiken Lehre
aber auch die »Peripetie des teleologischen Denkens« 150, wobei dieser
›Umschlag‹ noch einmal besondere Beachtung verdient. Ausgangs-
punkt des Umschlags ist die oben erwähnte Metapher vom göttlichen
Bogenschützen:
Mit der These, daß die Wirksamkeit eines telos Bewußtsein voraus-
setze, in welchem dieses telos antizipiert wird, hat die auf Thomas
folgende philosophische Entwicklung das teleologische Denken aus
der Natur eliminiert. Man könnte deshalb sagen, daß in dieser These
des Thomas der Grundstein zur Aushöhlung der Teleologie gelegt
worden sei […]. 151
Das Ergebnis der Aushöhlung war die Vorstellung der Welt als
»große Maschine« 152, womit die nach Thomas den Naturdingen
durch Gott eingestiftete Naturteleologie aufgegeben wurde. Spae-
mann und Löw wägen den Vorwurf, wonach Thomas »Keim der Aus-

147
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 78. – Vgl. die Anmerkung von
Spaemann/Löw: »Diese Differenz zwischen Albert und Thomas zieht sich theologie-
und philosophiegeschichtlich bis in die Neuzeit hinein; sie gab die Basis für die letzte
große theologische Kontroverse ab, welche die ganze europäische Öffentlichkeit inte-
ressierte, die des Bossuet gegen Fénelon. Vgl. dazu R. Spaemann (1963).« – Ebd. 268.
148 Ebd. 81.

149 Ebd.

150
Ebd. 78.
151 Ebd.

152
Ebd. 79.

240

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5.2.3 Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam

höhlung« 153 der Naturteleologie gewesen sei, kritisch ab. Dem Vor-
wurf ist insofern zuzustimmen, als
bei einer Rückverfolgung aller späteren Transformationen und der
schließlichen Elimination der Teleologie Thomas als ein notwendiges
Zwischenglied erscheint. Aristoteles konnte nicht direkt transformiert
werden, da er gerade geleugnet hat, daß ein telos nur unter der
Voraussetzung eines Bewußtseins wirken kann. 154
Der Vorwurf ist hingegen zurückzuweisen, wenn bedacht wird, dass
die durch Thomas in gewissem Sinn vermittelte Abkehr vom teleo-
logischen Denken nur möglich war, indem ein »fundamentales Theo-
rieelement des Gesamtansatzes einfach preisgegeben [wurde]: der
Gedanke der konstitutionellen Bewegtheit der substantiellen For-
men« 155. Wenn allerdings eine »Rückkehr zur ›naiven‹ Naturteleo-
logie des Aristoteles nicht möglich ist«, nicht zuletzt weil seine »tra-
gende These von der Ewigkeit der Arten« nicht mehr haltbar ist,
Arten also als entstanden gedacht werden müssen, »dann stellt sich
die Frage: ›Wie ist die Kunst in die Natur hineingekommen?‹ eben
doch unabweisbar« 156. Spaemann und Löw geraten hier, im Span-
nungsfeld der Teleologiekonzeptionen von Aristoteles und Thomas,
an eine Grenze ihrer Untersuchung: »Das Teleologieproblem ist mög-
licherweise vom Theologieproblem in letzter Analyse doch nicht ab-
lösbar, und Thomas bleibt eine Herausforderung. Seine Mittelstel-
lung zwischen Antike und Neuzeit enthält die Frage, ob es sich nicht
um jene Mitte handelt, als die Aristoteles das Vernünftige definiert
hat.« 157 Diese Mittelstellung Thomas’ zwischen einem nicht direkt
erneuerbaren antiken und einem neuzeitlichen, einen Bruch mit der
antiken Tradition darstellenden Denken, das bereits in Spaemanns
Auseinandersetzung mit Fénelon und Rousseau eine latente Rolle
spielte, tritt hier zum ersten Mal in voller Deutlichkeit hervor und
wird in der weiteren Entwicklung des Spaemann’schen Denkens wei-
ter an Bedeutung gewinnen. 158

153 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 79.


154 Ebd.
155 Ebd.

156 Ebd.

157 Ebd.

158 Eine Antwort auf die hier aufgeworfene Frage, ob Thomas’ Umformung notwen-

dig war oder ob es eine bessere Alternative gegeben hätte, wird von Spaemann weder
in »Natürliche Ziele« noch in später publizierten Texten explizit gegeben. Im Rahmen
dieser Arbeit wird erst im Schlusskapitel versucht, aus dem Kontext der späteren

241

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

5.2.4 Umbildungen der Teleologie und


der Prozess der Entteleologisierung

Im Zuge der Betrachtung der Geschichte des teleologischen Denkens


arbeiten Spaemann und Löw eine Entwicklungsdynamik heraus,
durch die die Teleologie in problematischer Weise umgebildet wurde.
Da diese Dynamik die Entteleologisierung möglich gemacht hat, ist es
für eine mögliche Wiederbelebung des teleologischen Denkens von
größter Bedeutung, sich den Charakter dieser Umbildungen und die
dahinter stehenden Motive bewusst zu machen, um vor diesem Hin-
tergrund unter Rückgriff vor allen Dingen auf den »›unvergleichlich
nüchternen‹ Denker (L. Strauss)« 159 Aristoteles den eigentlichen Te-
leologiebegriff zu vergegenwärtigen, um den es beim Versuch der
Wiederbelebung nur gehen kann.
Die erste Umbildung – die »naive[…] Teleologisierung des Uni-
versums« 160 – fand bereits in antiker Zeit in der stoischen Schule
statt, die »der Eigendynamik des teleologischen Denkens freien Lauf«
ließ, was »zielstrebig zum Gedanken der Universalteleologie des
ganzen Kosmos« führte, »in welchem alles Seiende in Zweck-Mittel-
Zusammenhängen miteinander verschränkt ist« 161. Aristoteles
grenzte, wie oben dargelegt 162, den Bereich teleologischer Deutung
ein und unterschied nach bestimmten Kriterien Zweckhaftes und Zu-
fälliges. Demgegenüber hatte die Universalisierung für das teleologi-
sche Denken einschneidende Folgen: »unter der Voraussetzung einer
vollständigen und durchgehenden Final-Determination ist die Welt
auch vollständig kausal determiniert, das heißt, der Unterschied
zwischen causa finalis und causa efficiens fällt weg.« 163 Die Aus-
weitung zur Universalteleologie schafft somit die Voraussetzung
einer möglichen Entteleologisierung, da die Welt ebenso als univer-
saler Kausalzusammenhang interpretiert werden kann. Eine univer-
salteleologische Vorstellung prägte – mit einer veränderten religiösen

Hauptwerke Spaemanns eine solche Antwort zu rekonstruieren. – Vgl. Abschnitt


12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen
Denkens‹, 867–878.
159 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 65.

160 Ebd. 225.

161 Ebd. 65.

162
Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 229–230.
163
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 67.

242

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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung

Motivation 164 – ebenso das Mittelalter, wie oben am Beispiel Thomas’


von Aquin gezeigt wurde. 165 »Das Mittelalter […] sah jede Natur-
gesetzlichkeit, jede regelmäßige Aufeinanderfolge eines Ereignisses
b auf ein Ereignis a als Beweis für Teleologie an. Denn a hat ja offen-
bar die ›Tendenz‹ 166, b hervorzubringen.« 167 Im neuzeitlichen Denken
kehren universalteleologische Vorstellungen in einer anderen Form
bei Kant wieder, wenn der Mensch als sittliches Wesen, als νοούμε-
νον, in der »Methodenlehre der teleologischen Urteilskraft« der KU
zum höchsten Naturzweck erklärt wird. Spaemann und Löw kom-
mentieren dies ironisierend:
Wenn der Mensch in seiner Sittlichkeit als unbedingter Zweck ange-
sehen wird, dann kann man sinnvoll von einer zweckmäßigen Anord-
nung von Naturgegenständen in bezug auf den Menschen sprechen.
Unter dieser Voraussetzung sind Golfstrom, Treibholz, Moos und
Rentiere tatsächlich für Eskimos und Lappländer da. 168
Diesem Versuch Kants, durch eine teleologische Interpretation der
Natur auf den Menschen hin der »Rede vom Selbstzweckcharakter
des Menschen einen Sinn zu geben«, haftet, wie Spaemann und Löw
bemerken, »etwas Gewaltsames« 169 an; es bedeutet den für das teleo-
logische Denken selbst verhängnisvollen Umschlag in Universal-
teleologie, die »in ihrer Durchführung gerade zur Emanzipation der
nomologischen von jeder immanent-teleologischen Betrachtungs-
weise führt« 170.
Vor dem Hintergrund dieser bereits in der Spätantike einsetzen-
den Tendenz zur Universalteleologie beschreiben Spaemann und Löw
das Ineinandergreifen zweier gegen das teleologische Denken gerich-

164 Vgl.: »Dem christlichen Gott ist die Welt nicht gleichgültig: ›Kein Haar fällt von

eurem Haupte, ohne daß der himmlische Vater es will.‹« – Spaemann/Löw, Natür-
liche Ziele (1981; 2005), 70.
165 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,

235–237.
166 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Die Tendenz, nicht den Willen! Genau

deswegen ist die Ersetzung von Teleologie durch ›Motivkausalität‹ (Stegmüller) ganz
falsch.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 297.
167 Ebd. 231.

168 Ebd. 110. – Spaemann und Löw spielen hier an auf Ausführungen Kants im § 63

»Von der relativen Zweckmäßigkeit der Natur zum Unterschiede von der innern« der
KU an. – Vgl. Kant, Werke, Bd. 8, 477–480.
169 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 243.

170
Ebd.

243

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

teter Argumentationsstränge, deren erster erkenntnistheoretischer,


deren zweiter praktischer Art ist. Der erkenntnistheoretische Argu-
mentationsstrang lässt sich weiter differenzieren in eine theologische
und eine nominalistische Linie. Die theologische Linie nimmt den
oben zitierten Gedanken des Averroes auf, 171 wonach es keinen ›finis
quo‹ bzw. keine ›inclinatio naturalis‹ endlicher Wesen geben kann,
weil sonst Gott selbst hinter diesen Zielen stehen müsste, was »mit
seiner Vollkommenheit unvereinbar« 172 ist.
Ein final handelnder Gott ist ein Anthropomorphismus, also auch eine
final agierende Natur. Durch Umkehr des Arguments wird die Natur-
teleologie nun sogar als Gottlosigkeit denunziert: von Zwecken in der
Natur sprechen heißt, der Natur Göttlichkeit beimessen. Diese theo-
logisch begründete Verurteilung der Teleologie durchzieht von da an
die Philosophie bis ins 18. Jahrhundert. 173
Die andere Linie geht von dem nominalistischen Grundgedanken aus,
dass »unseren Allgemeinbegriffen in der Wirklichkeit nichts« 174 ent-
spricht und sie »lediglich unsere Ordnungsschemata« 175 sind.
Innerhalb der Allgemeinbegriffe, denen in der Wirklichkeit nichts ent-
spricht, gibt es selbst noch eine Differenz hinsichtlich ihrer Brauch-
barkeit für Klassifikationen. Allgemeinbegriffe, welche Gegenstände
klassifizieren, also eine »Referenz« haben, können uns zur Ordnung
der Natur dienen. Allgemeinbegriffe indes, die etwas bezeichnen, was
gar kein Gegenstand ist, Begriffe ohne »Referenz«, wie etwa der Be-
griff Zweck, sind selbst dafür vollkommen ungeeignet. Unter den
Zweckbegriff läßt sich gar nichts subsumieren. Der Zweckbegriff ist
nichts als ein irreführender Gedanke: er ist »sinnlos«. 176
Während in diesen beiden Linien immerhin noch inhaltlich gegen das
teleologische Denken argumentiert wird, deutet sich in der »nomina-
listischen Preisgabe des Erkenntnisanspruchs unserer Begriffe« 177 der
Übergang zu einer praktischen Argumentation an. Wenn die Theorie
ihren Wahrheitsbezug verliert, wird sie »zu einem Instrument der

171 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,
237.
172 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 82.

173 Ebd.

174 Ebd. 83.

175
Ebd.
176 Ebd.

177
Ebd. 83–84.

244

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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung

Naturbeherrschung« 178. Da von diesem Interesse unabhängige Zwe-


cke der Natur der Naturbeherrschung nur hinderlich sein könnten,
ergibt sich ein alle Theorie hinter sich lassendes praktisches Argu-
ment für die Entteleologisierung, das Thomas Hobbes »paradigma-
tisch formuliert« hat: »eine Sache kennen heißt: ›imagine what we
can do with it when we have it‹« 179. Dieser Übergang von der theo-
retischen zur praktischen Argumentation wird von Spaemann und
Löw als prinzipieller Umschwung im Übergang zum neuzeitlichen
Denken begriffen. Während die »klassische Naturbetrachtung […]
die Natur als Mit-Sein, als einen symbiotischen Zusammenhang na-
türlicher Wesen einschließlich des Menschen« 180 interpretierte, ent-
steht in der Neuzeit eine »Maschinentheorie der Welt« 181, wonach
diese ein beliebig manipulierbarer Mechanismus ohne jedes Eigen-
interesse ist, dem der Mensch »als ihr denkender Beherrscher […]
radikal und unvermittelt« 182 gegenübertritt. Der »Erkenntniswille
des neuzeitlichen Menschen hat zwei Ziele: progressive Naturbeherr-
schung und Gewißheit« 183, wobei die Gewissheit der »Stabilisierung
des Herrschaftssubjektes selbst« 184 dient. Mit Descartes und Hobbes
werden noch einmal »zwei Varianten des Verhältnisses Mensch-Na-
tur« 185 unterschieden. »Bei Descartes tritt der denkende Mensch, das
reine Bewußtsein, res cogitans, der Natur, die nichts als Ausdehnung,
res extensa ist, gegenüber« 186; für Descartes verfolgt der Mensch also
zumindest Zwecke. »Bei Hobbes hingegen ist der Mensch Teil einer
nicht-teleologischen Natur« 187, so dass auch seine Handlungen »nicht
mehr teleologisch interpretiert zu werden« 188 brauchen, was darauf
hinausläuft, »die res cogitans selbst noch einmal, denkend, auf die

178 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 84.


179 Ebd. – Hierbei handelt es sich um ein weiteres Zitat, das fortan leitmotivisch in den
Texten Spaemanns zitiert werden wird. – Spaemann/Löw verweisen auf folgende
Quelle: Th. Hobbes: Leviathan; in: English Works (ed. Molesworth, Bd. III, London
1889, S. 13. – Ebd. 268.
180 Ebd.

181 Ebd.

182 Ebd. 85.

183 Ebd. 86.

184 Ebd. 88.

185 Ebd. 87.

186
Ebd.
187 Ebd.

188
Ebd.

245

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

res extensa« 189 zurückzuführen. Die »kausalmechanische Interpreta-


tion« 190 wird so zu einem universalen Erklärungsmodell, das sich je-
doch nicht ohne Verzögerungen durchsetzen konnte: »Das Programm
der nicht-finalen Naturinterpretation konnte zunächst nur Pro-
gramm bleiben 191; die Teleologie wurde nicht sofort eliminiert, son-
dern verwandelt, ein Vorgang, der uns in Gestalt einer Inversion ent-
gegentritt.« 192 An dieser Stelle nehmen Spaemann und Löw die These
von der Inversion der Teleologie auf, die jener in der Dissertation
über Bonald und in den Studien über Fénelon entwickelt hatte.
Wie die Darstellung teleologischer Grundgedanken von Platon
bis Thomas von Aquin gezeigt hat, verstand die »klassische Teleologie
[…] das Streben alles Endlichen letztlich als ein sich selbst transzen-
dierendes Streben nach Teilhabe am Ewigen, Nicht-Endlichen« 193.
Dabei kam dem Menschen eine besondere Bedeutung zu, da nur er
»sich erkennend auf das Absolute als es selbst beziehen« 194 kann.
[…] das höchste Ziel ist für die natürlichen Wesen die Darstellung der
göttlichen Vollkommenheit, für die Vernünftigen darüber hinaus de-
ren Betrachtung.
Die Inversion der Teleologie besteht darin, daß die Struktur der
Selbsttranszendenz auf die Endlichkeit zurückgebogen wird, wodurch
die Selbsterhaltung gleichzeitig als einzig mögliches telos übrig-
bleibt. 195
Als Begründer dieser Inversion nennen Spaemann und Löw Campa-
nella (1568–1639) und Telesio (1508–1588), bei denen der Gedanke
der Teilhabe so umgebogen wird, dass der Mensch Gott liebt, »weil

189 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 87.


190 Ebd. 88. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Auch kausalmechanische
Betrachtungsweise ist Interpretation, auch wenn dies gerne verschleiert wird […].«
– Ebd. 269.
191
Vgl. die Anmerkung von Spaemann und Löw: »Die Naturwissenschaft befand sich
erst in ihren Anfangsgründen, und Bacons konkrete Interpretationen in der Natur-
philosophie waren so katastrophal, daß die Zeitgenossen davor warnten; vgl. A. C.
Crombie: Von Augustinus bis Galilei (dt. Köln 1964, S. 524 f.).« – Ebd. 269.
192 Ebd.

193 Ebd.

194 Ebd.

195
Ebd. – Eduard Zwierlein spricht in diesem Zusammenhang vom »deifizierte[n]
humane[n] Selbsterhaltungsabsolutum«. – Zwierlein, Das höchste Paradigma des
Seienden, 119.

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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung

dieser die Bedingung seiner Erhaltung ist« 196. Der Gedanke der
Selbsterhaltung wird
zu einem »systematischen« heuristischen Prinzip, das nicht nur nach-
trägliche Interpretation, sondern funktionale Ableitung bzw. Kon-
struktion oder Rekonstruktion gestattet. Solche Rekonstruktion ge-
schieht zunächst nicht in der Naturwissenschaft, die noch nicht weit
genug fortgeschritten ist. […] Die Diskussion entsteht zunächst in
Politik, Theologie und Ethik. 197
In diesem Zusammenhang beziehen Spaemann und Löw sich auf Spi-
noza (1632–1677) und die beiden Schlüsselzitate aus seiner »Ethik«,
auf die hier zum ersten Mal im Kontext der Studie über Bonald hin-
gewiesen wurde: 198
Vollkommenheit bedeutet imstande sein, sich im Sein zu erhalten: Per
realitatem et perfectionem idem intellego.199 Alle Tätigkeit hat zum
alleinigen Ziel die Erhaltung dessen, was ohnehin ist; alles Seiende ist
nur durch diese Tätigkeit definiert: Conatus, quo unaquaeque res in
suo esse perseverare conatur, nihil est praeter ipsius rei actualem es-
sentiam. 200 Das Wesen alles Seienden besteht in nichts außerhalb des
Strebens nach Selbsterhaltung. 201
Die Erhaltungsontologie, die im Denken Spinozas ihren paradigmati-
schen Ausdruck fand, muss als die philosophische Voraussetzung ver-
standen werden für den »Versuch, Teleologie durch teleonomische
Rekonstruktion zu destruieren« 202:
Es zeigt sich nämlich, daß die Form, die die Teleologie seit der frühen
Neuzeit angenommen hat, tatsächlich destruierbar ist, die Form der
»invertierten«, das heißt der auf Selbsterhaltung reduzierten Teleolo-

196 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 89.


197 Ebd.
198
Vgl. Abschnitt 3.2.3, Die Gesellschaft und ihre Gesetzlichkeit, 112, u. Fn. 44, u.
Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 122–123, u.
Fn. 85.
199 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »›Unter Realitität und Vollkommenheit

verstehe ich dasselbe.‹ Ethica II, Def. 6.« – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981;
2005), 269.
200 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »›Das Bestreben, wonach jedes Ding in

seinem Sein zu beharren strebt, ist nichts als das wirkliche Wesen des Dinges selbst.‹
Ethica III, Prop. 7. Beide Übersetzungen von B. Auerbach in der Ausgabe von A. Bu-
chenau (Berlin 1911).« – Ebd. 269.
201 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 91.

202
Ebd. 241.

247

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

gie. Wenn jenes nach seiner Erhaltung strebende Selbst nichts ist als
eben dieses Streben nach seiner Erhaltung, wenn der Satz des Spinoza
gilt: conatus sese conservandi est essentia rerum, dann läßt sich diese
Form von Teleologie in der Tat systemtheoretisch einholen und »te-
leonomisch« rekonstruieren. […] Wenn der Sinn des Daseins nur in
seiner Erhaltung liegt, dann ist das gleichbedeutend mit der These, daß
es einen solchen Sinn nicht gibt. Und wenn das Wesen des Selbst nur
in seinem Selbsterhaltungsstreben liegt, dann ist das gleichbedeutend
mit der These, daß es das Selbst nicht gibt, daß es überhaupt nicht
etwas als »es selbst« gibt. 203
Die Invertierung der Teleologie erscheint so als notwendiges Zwi-
schenstadium, gewissermaßen als Vehikel der Entteleologisierung.
Durch die mit der Invertierung verbundene Kappung aller transzen-
denten Bezüge teleologisch verfasster Wesen eröffnet sich die Mög-
lichkeit ihrer Deutung als geschlossene Systeme. Um von diesem
»programmatischen Antiteleologismus der Frühneuzeit« 204 zur uni-
versalen, auf dem Prinzip der Selbsterhaltung aufbauenden kausal-
mechanischen Naturinterpretation zu gelangen, bedarf es des Sprungs
in das 19. Jahrhundert.
Was der universalen kausalmechanischen Naturerklärung bis ins
19. Jahrhundert im Wege stand, war das Problem der Lebenserschei-
nungen von Organismen, da »jeder Versuch einer a- oder gar an-
titeleologischen Biologie schon nach einer kurzen Argumentations-
strecke in den Bereich des Absurden geraten« 205 war. Erst im
19. Jahrhundert wurde mit der Selektion ein Prinzip gefunden, »nach
welchem generell jede Lebenserscheinung auf nicht-teleologische Ur-
sachen zurückgeführt werden konnte« 206. »Die Anwendung des Se-
lektionsprinzips in der Biologie – es entstammte der englischen Sozi-
alökonomie des auslaufenden 18. Jahrhunderts – ist mit dem Namen
Charles Darwin (1813–1882) untrennbar verbunden.« 207 Es ist nun
zu fragen, welche Bedeutung der Darwinismus für das teleologische
Denken hat bzw. auf welche Weise dieser beansprucht, Teleologie aus
der Naturbetrachtung eliminiert zu haben.
Unter Darwinismus versteht man die »Theorie, durch welche die
Evolution auf natürliche Auslese erblicher Varianten zurückgeführt

203 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 241.


204 Ebd. 90.
205
Ebd. 177.
206 Ebd.
207
Ebd.

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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung

wird« 208, wobei das »die natürliche Auslese beherrschende Prinzip


[…] der ›Kampf ums Dasein‹« 209 darstellt: »Diesen überstehen nur
solche Organismen, die sich in ihren Eigenschaften an die Umwelt-
kräfte angepaßt haben (›survival of the fittest‹).« 210 Die häufig an-
zutreffenden teleologischen Sprechweisen dem Darwinismus zum
Vorwurf zu machen, wäre nicht gerechtfertigt, da es sich hierbei stets
um »Zweckmäßigkeiten ohne Zweck« 211 handelt. Im Selektionspro-
zess hat eben immer nur das Zweckmäßige überlebt: »Wir sehen nur
die wenigen ›Treffer‹ der Evolution, nicht die Nieten.« 212 Aber auch
rein terminologisch wurde hier eine Klärung herbeigeführt: »Um
aber jede Verwechslung auszuschließen, wurde der 1958 von Pitten-
drigh eingeführte Terminus ›Teleonomie‹ für den ganzen Bereich
scheinbar zweckgerichteter Phänomene in der organischen Natur im
darauffolgenden Jahrzehnt allgemein von Biologen akzeptiert.« 213
Dem umgekehrten Argument, dass der Aufweis von etwas Zweck-
losem in der Natur der darwinistischen Theorie widerspreche, ent-
gegnete man mit der »Theorie der intraspezifischen Selektion« 214.
Doch die »Idee der Entwicklung nach darwinschen Prinzipien« 215
setzte sich nicht nur in der Biologie vorbehaltslos durch, sondern
wirkte auch auf »Nationalökonomie, Politik, Ethik, Geschichtswis-
senschaft und Soziologie« 216. Dabei kommt dem Übergang von den
Natur- zu den Humanwissenschaften noch einmal besondere Bedeu-
tung zu: »Mit der Einbeziehung des Menschen in die Naturwissen-
schaft als Produkt der Evolution eröffnete sich nämlich augenblick-
lich und sofort sichtbar die prinzipielle Möglichkeit, die Human- oder
Geisteswissenschaften selbst in exakte Naturwissenschaften (eines
fernen Tages) überzuführen.« 217 Der Zielpunkt dieser Entwicklung
lässt sich mit dem Begriff Monismus fassen, für den vor allen Dingen

208
Rensch, Darwinismus, in: HWPh II, col. 14. – Der Autor verweist in der Anmer-
kung auf: Ch. Darwin: On the origin of species (London 1859); A. R. Wallace: Darwi-
nism (New York 21890). – Ebd. 15.
209 Ebd.

210 Ebd.

211 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 181.

212 Ebd.

213 Ebd. 182.

214 Ebd. 183.

215
Ebd. 184.
216 Ebd.

217
Ebd. 184–185.

249

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Ernst Heinrich Haeckel 218 steht, der mit seinen vier Grundthesen 219
eine materialistische »Vernunftreligion« 220 begründet zu haben
glaubte. 221
Der naturwissenschaftliche Monismus hat sich im 20. Jahrhun-
dert als universales Erklärungsmodell bis hinein in das Alltags-
bewusstsein etabliert:
Das naturwissenschaftliche Bild der Wirklichkeit ist heute von einer
nie zuvor erreichten, großartigen Einheitlichkeit. Die Genetisierung
der Natur, ihre Projektion auf die seit dem Urknall verstrichene Zeit
erfaßt sämtliche Phänomene der Wirklichkeit, weit über die organi-
sche Evolution hinaus, und lokalisiert sie an einer bestimmten Stelle
der Zeitgerade in ihrem Auftreten. 222
Eine besondere Herausforderung stellen für das monistische Weltbild
die Übergangsfragen dar, die sich auf die Entstehung von Neuem –
des Kosmos, des Lebens und des Menschen – beziehen. Von unmittel-
barer philosophischer Bedeutung sind vor allen Dingen die in der
Naturwissenschaft vorgeschlagenen Lösungen zur letzten dieser
Übergangsfragen, die sich noch einmal logisch differenzieren lässt in
die »Evolution des Geistigen (auch: Sprache, Bewußtsein)« und die
»Evolution des Sittlichen (auch: Kultur, Wirtschaft)« 223.
Die Frage nach der Entstehung des Bewußtseins wird in einem Teil-
gebiet der Evolutionstheorie beantwortet, der sogenannten evolutio-
nären Erkenntnistheorie. […] Demgemäß stammen die apriorischen
Anschauungs- und Denkformen Kants aus der Evolution. Sie passen
auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in der Anpassung auf

218 Vgl.: »Ernst Haeckel (1834–1919) und viele andere haben eine solche orthogene-

tische Entwicklungstheorie als Darwinismus ausgegeben und für ihre Verbreitung


gesorgt. Sie hat vor allem deshalb so begeistert Zuspruch gefunden, weil sie genau
das bietet, was man noch immer von der Naturbetrachtung erwartet: klare Entwick-
lungslinien im großen, die uns zeigen, welchem Ziel unsere Welt zustrebt, und die
uns das Recht geben, sie auch anderswo zu suchen oder zu fordern. Doch gerade dafür
kann die Theorie Darwins überhaupt keine Hilfestellung bieten.« – Schramm, Natur
ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, 186.
219 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 186.

220 Ebd. 187.

221 Vgl.: »Grundsätzlich gilt also nach dem Zusammenbruch der natürlichen Teleo-

logie das folgende Programm: Wo Natur war, soll Vernunft (oder Plan, Intervention,
Technik, Wille) sein. Der ›Mensch‹ tritt in die freigewordene Stelle ein, die einst
›Gott‹ besetzt hatte.« – Sieferle, Die Krise der menschlichen Natur, 195.
222 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 189.

223
Ebd. 191.

250

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5.2.4 Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleologisierung

sie herausgebildet haben; dies gilt für die Anschauungsformen genau-


so wie für die logischen Kategorien. 224
Die »Revolution der Denkart« 225, die Kant mit seinem transzenden-
talphilosophischen Ansatz durchführte, um Erkenntnis a priori zu
ermöglichen, wird damit selbst zum Moment einer aposteriorisch
verfahrenden Naturwissenschaft. 226 Eine analoge naturwissenschaft-
liche Aufhebung erfährt auch das Phänomen des Sittlichen durch die
Soziobiologie:
Der Ursprung der menschlichen Moralität ist Teilgebiet einer Wissen-
schaft vom tierischen Sozialverhalten geworden, der sogenannten
Soziobiologie. Alle Antworten auf die Frage: »Was ist der Mensch?«,
welche aus der Zeit vor 1859 gegeben wurden (»Origin of Species«),
kann man prinzipiell ignorieren (G. Simpson), da die Wurzel jedes
menschlichen Verhaltens im Evolutionsprozeß liegt und die Qualifi-
kation vom Verhalten als moralisch oder unmoralisch selbst keine an-
dere Funktion hat als die Selektionsfunktion von Gruppen zu erhöhen
(E. O. Wilson).227
Verbleibende Erklärungsschwierigkeiten bei der plötzlichen Entste-
hung von Neuem in der Evolution versuchte K. Lorenz durch die
»Fulgurationstheorie« auszuräumen:
Wenn z. B. zwei voneinander unabhängige Systeme zusammen-
geschaltet werden […], so entstehen schlagartig völlig neue System-
eigenschaften, die vorher nicht, und zwar auch nicht in Andeutungen
vorhanden gewesen waren. Genau dies ist der tiefe Wahrheitsgehalt
des mystisch klingenden, aber durchaus richtigen Satzes der Gestalt-
psychologen: »Das Ganze ist mehr als seine Teile.« 228

224 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 193.


225 Vgl. Kant, KrV, Vorrede 2. Aufl.
226 Vgl.: »Die ›Brillen‹ unserer Denk- und Anschauungsformen, wie Kausalität, Sub-

stantialität, Raum und Zeit, sind Funktionen einer neurosensorischen Organisation,


die im Dienste der Arterhaltung entstanden ist. Durch diese Brillen sehen wir also
nicht, wie die transzendentalen Idealisten annehmen, eine unvoraussagbare Verzer-
rung des An-sich-Seienden, die in keiner noch so vagen Analogie, in keinem ›Bild-
verhältnis‹ zur Wirklichkeit steht, sondern ein wirkliches Bild derselben, allerdings
eines, das in kraß utilitaristischer Weise vereinfacht ist: Wir haben nur für jene Seiten
des An-sich-Bestehenden ein ›Organ‹ entwickelt, auf die in arterhaltend zweckmäßi-
ger Weise Bezug zu nehmen für unsere Art so lebenswichtig war, daß ein ausreichen-
der Selektionsdruck die Ausbildung dieses speziellen Apparates der Erkenntnis be-
wirkte.« – Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 17.
227 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 194.

228
Lorenz, Die Rückseite des Spiegels, 48. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele

251

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

In dieser entteleologisierten Natursicht herrscht prinzipiell »›Teleo-


matie‹ : automatisches Erreichen von Endzuständen kraft Naturge-
setzlichkeit«; im »Bereich des nicht-menschlichen Organischen
herrscht ›Teleonomie‹, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck« 229. Allein
im Bereich menschlichen Handelns bleibt ein Rest von Teleologie üb-
rig, aber auch dies nur scheinbar:
auch hier ist das Sprechen von »Zwecken« im wesentlichen eine ab-
kürzende Sprechweise einerseits und das Eingeständnis andererseits,
daß unsere Neurophysiologie und vergleichende Humanethologie/
Soziobiologie noch nicht ausreichen, um auch zeitvorläufige »Hand-
lungszwecke« auf Systemkausalität zurückzuführen. Auch das
menschliche Handeln unter sittlichen Aspekten wird sich prinzipiell
auf teleonomische Strukturen zurückführen lassen, ebenso wie diese
über das Evolutionsgeschehen letztlich nur durch ihre Komplexität
von teleomatischen Vorgängen »willkürlich« und zur übersichtlichen
Gliederung abgegrenzt werden. 230
Damit ist nun die Grundlage geschaffen, um im Folgenden zur Kritik
Spaemanns und Löws am hier knapp dargestellten Antiteleologismus
überzugehen.

5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche


des Evolutionsprogramms

Die Kritik Spaemanns und Löws am Evolutionsprogramm lässt sich


unterteilen in eine innerbiologische und eine philosophische. Im
Kontext der innerbiologischen Kritik benennen sie zwei problemati-
sche »Charakteristika des Darwinismus« 231. Die für den Darwinismus
grundlegende Verbindung zwischen dem Selektionsprinzip und der
These vom Artenwandel, die bis zu Darwin als eine »wesentliche Idee
der romantischen Naturphilosophie« 232 aus der Naturwissenschaft
verbannt war 233, zeigt nach Spaemann und Löw, dass die Durchset-

(1981; 2005), 195, sowie die Anmerkung von Spaemann und Löw: »Es soll wohl hei-
ßen, daß das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile.« – Ebd. 291.
229 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 196.

230 Ebd.

231 Ebd. 199.

232
Ebd. 178.
233 Vgl.: »Der berühmte Arzt Rudolf Virchow schreibt 1856: ›Der Artenwandel ist

eine unbewiesene Idee der Naturphilosophie; der wahre Naturforscher betrachtet sie

252

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5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms

zung von Darwins Theorie gegen einen bis dahin bestehenden wis-
senschaftlichen Konsens ein »Musterbeispiel einer Kuhnschen Revo-
lution« 234 darstellt. »Darwin erklärte den Artenwandel (›Variabilität‹)
für ein Faktum« 235 und die »Evidenz seiner Theorie erfuhr nach 1859
mannigfache Bestätigung« 236, durch die sie allmählich in ein Dogma
verwandelt wurde:
Bis etwa 1930 währte noch ein Kampf gegen die Evolutionstheorie mit
wissenschaftlichen Argumenten. Durch Einbeziehung der Evolutions-
faktoren: Populationswellen, »ökologische Nischen«, Isolation er-
reichte die Evolutionstheorie einen solchen Status, daß antievolutio-
nistische Argumente heutzutage per definitionem unwissenschaftlich
sind. 237
Neuere Erkenntnisse aus der Biologie, die nicht der mit dem Evolu-
tionsprogramm verbundenen Erwartungshaltung entsprechen, wer-
den nicht im mindesten als Argumente gegen den Darwinismus ver-
standen: Der Darwinismus ist daher »nicht eine zur Überprüfung
anstehende Hypothese, sondern ein wissenschaftliches Paradigma im
Sinne von Thomas Kuhn« 238. Das zweite Charakteristikum besteht
darin, dass die »Stammbäume, Zwischenformen, Ahnenreihen« des
Darwinismus, die mit dem Anspruch einer empirisch nachweisbaren
Beschreibung und Erklärung von Naturzusammenhängen vorgetra-
gen werden, »logische Gebilde« sind: »Sie sind ersonnen und er-
schlossen aufgrund bestimmter Indizien; ihr oberstes logisches Kon-
struktionsprinzip aber ist der Darwinismus. Stammbäume sind
Argumentationsschemata (W. Hennig).« 239 Es liegt daher im Darwi-
nismus eine gewisse »Zirkularität der Beweisführung« vor: »Der
Tüchtigste überlebt, heißt es – aber der Tüchtigste wozu? Zum Über-

mit Skepsis‹ ; und 1877, rückblickend, findet man bei ihm, daß es ›schon etwas über-
raschend war, wie das Genie eines einzelnen Mannes [Darwins] eine Idee, die schon in
der Naturphilosophie den Status einer apriori-Notwendigkeit hatte und lange, und
nicht ganz ungerechtfertigt, verbannt gewesen war, nicht nur wieder eingesetzt hat,
sondern aus ihr die Basis einer allgemeinen Theorie der Geschichte der organischen
Welt gemacht hat‹.« – Löw, Herder und die Evolution, in: Ders. (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩ-
ΣΙΣ. Festschrift für Robert Spaemann, 140.
234 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 178.

235 Ebd.

236 Ebd. 180.

237
Ebd.
238 Ebd. 199.

239
Ebd.

253

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.
5 Die Spur des Absoluten in der Natur

leben!« 240 Wissenschaftstheoretisch baut er auf einer petitio principii


auf: »Die ›Beweise‹ der Evolutionstheorie setzen deren zentrale Ge-
dankenfigur immer schon voraus.« 241 Dass innerhalb der Biologie
dennoch kaum eine Auseinandersetzung über das darwinistische Ar-
gumentationsschema stattfindet, zeigt nach Spaemann und Löw, dass
man es »vielmehr mit einer dezidierten Wahrheitsüberzeugung zu
tun« 242 hat. 243
Im Rahmen der philosophischen Kritik des Evolutionspro-
gramms widmen Spaemann und Löw besondere Aufmerksamkeit
zentralen Begriffen wie »kausale Erklärung«, »System« und »Infor-
mation« 244 sowie den drei »Wissenschaften vom Übergang (Mole-
kularbiologie, evolutionäre Erkenntnislehre, Soziobiologie)« 245, die
beanspruchen, die Entstehung des jeweiligen Neuen – »Leben, Be-
wußtsein, Sittlichkeit« 246 – erklären zu können. Zunächst sei die kri-
tische Stellungnahme zum wissenschaftlichen Instrument kausaler
Erklärung resümiert: »Kausale Erklärungen sind für die antiteleo-
logische Naturwissenschaft die einzig redlichen, ›metaphysikfreien‹

240 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 199.


241 Ebd.
242 Ebd. 200.

243 Vgl.: »Darwins Evolution ist immer wieder als ein Mechanismus mißverstanden

worden, aus dem sich rein naturgesetzlich die orthogenetisch, zielstrebige Höherent-
wicklung hin zu immer besser angepaßten und vollkommeneren Formen ergeben
sollte; und sie wird noch immer so mißverstanden, aus gutem Grund: Das Bedürfnis,
in der Natur Sinn und Ziel finden zu wollen, läßt sich nicht ersticken. Wenn teleolo-
gische Betrachtungen als schlechthin unwissenschaftlich verpönt werden, so wie es in
der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschah, dann ist man nur um so glück-
licher, statt dessen eine den strengen Maßstäben teleologiefreier Naturwissenschaft
genügende Theorie geboten zu bekommen, die dasselbe wie die Teleologie leistet,
nämlich in die Natur auf ein bestimmtes Ziel hin ablaufende Prozesse einzuführen.
Wenn erst einmal diese Möglichkeit eröffnet ist, läuft alles nach den Mustern teleo-
logischer Argumentation weiter, nur mit dem Unterschied, dass jeder Einwand mit
der Bemerkung zurückgewiesen wird, daß es sich hier um alles andere als teleologi-
sche Spekulation, sondern um strenge naturwissenschaftlich begründete Erkenntnis
handle. Ob der im vorigen Jahrhundert so beliebte Sozialdarwinismus, ob die heute zu
einer Modetorheit ausufernde evolutionäre Erkenntnistheorie: sie alle haben nichts
mit Darwins Lehre zu tun und alles mit einer unkritischen Teleologie, deren Kritik
längst gegeben und wieder vergessen wurde.« – Schramm, Natur ohne Sinn? Das
Ende des telelogischen Weltbildes, 186–187.
244
Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 200–209.
245 Ebd. 211.

246
Ebd.

254

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.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms

Erklärungen« 247. Mit der Universalisierung kausaler »Erklärung im


Sinne des Hempel-Oppenheim-Schemas« 248 ist der Anspruch ver-
bunden, das philosophische Nachdenken über Kausalität selbst noch
einmal begründen zu können:
Kants Kausalitätstheorie ist ein A priori der Erfahrung für das Indivi-
duum, gleichzeitig aber ein A posteriori der menschlichen Stammes-
entwicklung. Das Kausalprinzip, in Vorformen bei Affen durchaus
entwickelt, hat sich im Laufe der Evolution im Gehirn des Menschen
eingebürgert, weil es im Umgang mit der Welt einen Selektionsvorteil
bot. 249
Gegen diese Thesen tragen Spaemann und Löw zwei wesentliche Ein-
wände vor: Diese »Anpassungstheorie« 250 erfordert erstens, dass das
»Kausalprinzip, welches apriorische Kategorie unseres Denkens sein
soll, […] schon irgendwie in der Natur vorhanden sein« muss, »wenn
nicht als Denk-, so doch als Seinsform« 251, so dass diese Theorie ein
»theoretisch naiver Zwitter zwischen Transzendentalphilosophie und
›realistischer‹ Ontologie bzw. Erkenntnistheorie« 252 ist. Zweitens er-
folgt der Hinweis auf die »wissenschaftstheoretische Entdeckung, daß
Kausalität gar nicht ohne ein teleologisches Moment gedacht werden
kann« 253:
Was heißt es denn: zu einem Vorgang eine kausale Erklärung geben?
Es heißt zunächst einmal, aus dem Gesamtzusammenhang der Natur
einen Ausschnitt machen, indem ein Ereignis B als Explanandum iso-
liert wird. B bildet das Ende des Ausschnitts. Wir fragen nach den
Bedingungen A des Zustandekommens von B und konstatieren eine
gesetzmäßige Verknüpfung dieser Bedingungen mit dem Ereignis.
Ohne das Setzen eines B als Endzustand gibt es keine kausalen Erklä-
rungen. […] Jede Isolierung eines Ereignisses, das mit irgendwelchen
anderen in einem gesetzmäßigen Zusammenhang steht, setzt bereits
ein dieses Ereignis beobachtendes Subjekt voraus […]. 254

247 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 200.


248 Ebd.
249 Ebd. 201.
250 Ebd. 202.
251 Ebd. 201.
252
Ebd. 202.
253 Ebd.
254
Ebd.

255

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Die kausale Erklärung eines Vorgangs impliziert also, dass er »vorher


in einen Handlungszusammenhang integriert wurde. Mechanische
Interpretation ist grundsätzlich nur möglich unter der Voraussetzung
eines umgreifenden Lebenszusammenhanges.« 255 Die Einbettung
kausaler Erklärungen in Handlungszusammenhänge zeigt nach Spae-
mann und Löw, dass »die Alternative ›redliche, metaphysikfreie Kau-
salerklärung‹ vs. ›erdichtet-idealistische Finalerklärung‹ unredlich
ist« 256. Die naturwissenschaftlichen Erklärungsschemata sind nur
scheinbar metaphysikfrei: »der hinter der These des universalen Kau-
salnexus stehende Materialismus ist nicht ein Gegensatz zur Meta-
physik, sondern selbst Metaphysik« 257. Spaemann und Löw zeigen
darüber hinaus, dass Versuche im Rahmen der Naturwissenschaften,
sich dieser metaphysischen Lasten zu entledigen, etwa durch Aufgabe
des Begriffs kausaler Erklärung zugunsten statistischer Gesetze letzt-
lich zu einer analogen Problematisierung der Begriffe »Gesetz«, »Er-
eignis«, »Antecedentien« 258 führen, so dass die Konsequenzen dieser
Versuche zur Infragestellung der Möglichkeit von Wissenschaft über-
haupt führen: »es folgt […], daß die Frage nach dem Warum eines
Ereignisses schon deswegen unstatthaft ist, weil ein Ereignis aus
einem Fluß herauspräpariert wurde und dieses Isolieren selbst schon
den Grund für die Nichtbeantwortbarkeit der Frage enthält.« 259 Der
Rückzug der Naturwissenschaften auf »kausalgesetzlich erklärbares
Geschehen«, das scheinbar »theoretisch nicht widerlegt werden«
kann, geht also letztlich damit einher, dass ihre Vertreter »auch kei-
nen Wahrheitsanspruch mehr verteidigen« 260 können.
Die Begriffe »System« und »Information« sind für die »Teleolo-
giediskussion von höchster Bedeutung, weil mit ihrer Hilfe die Gene-
sis teleonomischer Strukturen im Verlauf der Evolutionstheorie auf
molekularer Ebene nachgezeichnet wurde« 261. Mit ihnen verbindet
sich also der naturwissenschaftliche Anspruch, die Entstehung von
Leben rekonstruieren zu können: »Leben wird als ›informations-

255 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 203.


256 Ebd.
257 Ebd. 203–204.
258 Ebd. 205.
259
Ebd. 206.
260 Ebd. 241.
261
Ebd. 206.

256

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.
5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms

gewinnender Vorgang‹ 262 beschrieben, und es sind ›Systeme‹, wel-


chen man die Eigenschaft ›lebendig‹ nachsagt.« 263 Die Untersuchung
der beiden Begriffe durch Spaemann und Löw führt dabei jeweils zu
dem analogen Ergebnis, dass sie nicht unabhängig von einem
menschlichen Subjekt gedacht werden können:
Wenn der Thermostat die Temperatur in einem Raum konstant hält,
so nicht deswegen, weil ihm kalt wird, sondern wir haben eine be-
stimmte Temperatur eingestellt an diesem von uns konstruierten Me-
chanismus. […] daß die nach einer Außentemperaturveränderung und
einem Abfallen der Innentemperatur wiederhergestellte Innentem-
peratur die gleiche ist wie vorher, das ist etwas, was nur der Interpret
des Mechanismus wahrnimmt und nicht der Thermostat! 264
Voraussetzung für die »Qualifikation auch nur des einfachsten Sys-
tems als System« ist »menschlich-bewußtes Leben«, denn nur dieses
ist fähig, die »Gleichheit von Zuständen« 265, allgemein Identität,
wahrzunehmen:
Mechanismen sind gleichgültig gegen Identität und Nicht-Identität,
denn zur Bestimmung von Identität gehört Negativität, gehört das
Bewußtsein möglichen Andersseins. Arrangements von Materie als
System zu interpretieren ist nur möglich unter Voraussetzung eines
Bewußtseins von Identität. Der Systemcharakter eines Systems ist
eine Interpretation eines Arrangements durch Menschen. 266
Auch die Ersetzung des Systembegriffs durch den des Programms
führt über diese Problematik nicht hinaus. Wenn ›Programm‹ ver-
standen wird als »kodierte oder im voraus angeordnete Information,
die einen Vorgang … so steuert, daß er zu einem vorgegebenen Ende
führt« 267, so gelangt man entweder zur aristotelischen Teleologie zu-
rück oder die durch das Wirken eines Programms geprägten teleo-
nomischen Vorgänge werden auf Teleomatie – also auf »automatisches

262
Spaemann/Löw verweisen in einer Anmerkung auf: Lorenz (1973), Vollmer
(1975), Riedl (1976, 1979). – Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 293.
263 Ebd.

264 Ebd. 207–208.

265 Ebd. 208.

266 Ebd.

267 Ebd. – Spaemann/Löw zitieren hier einen »der glänzendsten gegenwärtigen Evo-

lutionstheoretiker und zugleich Historiker der Biologie« – ebd. 179 –, Ernst Mayr,
und verweisen auf folgende Quelle: »Evolution und die Vielfalt des Lebens« (Berlin
1979), S. 213. – Vgl. ebd. 294 u. 302.

257

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Erreichen von Endzuständen kraft Naturgesetzlichkeit« 268 – zurück-


geführt. Die zweite Deutung dieser Vorgänge setzt aber ein abstraktes
Subjekt der Wissenschaft voraus, da der »Begriff Information ohne
ein Subjekt der Information überhaupt keinen Sinn ergibt« 269:
Von Informationen auch nur zu sprechen heißt: genau jenem so-
genannten »Essentialismus« Platons und Hegels zu »verfallen«, der
bei allen Evolutionstheoretikern so unverstanden angegriffen wird.
Denn die Information strukturiert die Materie entweder so wie das
eidos die hyle (…), oder es ist sinnlos, überhaupt von Information zu
sprechen. Die Teleonomie hat nur die Option, zur Teleologie oder Te-
leomatie zu werden. 270
Die Pointe der Argumentation Spaemanns und Löws im Hinblick auf
die »Begriffe ›System‹, ›Information‹, ›Programm‹« 271, die nur
scheinbar »eine ›metaphysikfreie‹ Erklärung des Lebendigen« 272 leis-
ten, besteht darin, dass der Versuch einer naturwissenschaftlichen
Rekonstruktion von Leben sich am Modell von Menschen gemachter
Mechanismen orientiert, dabei von diesem Gemachtsein abstrahiert,
ohne doch die Bewusstseinsabhängigkeit der verwendeten Begriffe
überwinden zu können. 273

268 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 196.


269 Ebd. 208.
270 Ebd. 208–209.

271 Ebd. 209.

272
Ebd.
273 Es ist bemerkenswert, dass Spaemann und Löw hier die unaufhebbare Bezogenheit

zentraler Begriffe wie System und Information auf das menschliche Bewusstsein ge-
gen die Naturwissenschaft akzentuieren, obwohl sie doch zuvor im Zusammenhang
mit Thomas auf die Problematik der Verbindung von Naturteleologie und Bewusst-
sein ausdrücklich hingewiesen haben. Negativität, deren Bedeutung Spaemann und
Löw ausdrücklich hervorheben, wird hier ausschließlich mit menschlich-bewusstem
Leben in Zusammenhang gebracht. Im Sinne des von ihnen selbst verfolgten Projekts
einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens wäre aber gerade der Nachweis von
Negativität auch auf der Ebene nicht bewussten Lebens von entscheidender Bedeu-
tung. Es würde dabei um den Nachweis gehen, dass auch nicht-menschliche Lebewe-
sen im Unterschied zu Mechanismen nicht gleichgültig sind gegen Identität und
Nicht-Identität. Ein solcher expliziter Nachweis fehlt in »Natürliche Ziele« noch, er
taucht bei Spaemann zum ersten Mal auf in dem 1984 erschienen Aufsatz »Sein und
Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?«, in dem Spaemann im Abschnitt
»Die Unableitbarkeit der Negativität« drei Stufen der Negativität unterscheidet:
1. »Schmerz«, 2. »Andersheit«, »Nicht-ich«, 3. »der Gedanke des Absoluten«. – Vgl.
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 198. – Die dort genannte erste Stufe be-
zeichnet die Erscheinungsweise von Negativität auf einer präreflexiven Ebene, die für

258

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5.2.5 Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms

Leben, Bewusstsein und Sittlichkeit stellen als Erscheinungs-


weisen des Neuen Herausforderungen für das Evolutions-Programm
dar, denen es durch die wissenschaftlichen Disziplinen der Molekular-
biologie, der evolutionären Erkenntnislehre und der Soziobiologie be-
gegnete. Spaemann und Löw vertreten die Ansicht, »daß alle drei
Übergänge durch wohlverborgene Argumentationszirkel erschlichen
sind« 274. Beim Begriff des Lebens ist der Ausgangspunkt dieses Argu-
mentationszirkels eine dem jeweiligen wissenschaftlichen Erkennt-
nisstand so angepasste Definition von Leben, durch die die Biologie
zu einer »Wissenschaft von den lebendigen Gegenständen wird, inso-
weit diese nicht ›leben‹« 275. Das heißt, es wird jeweils ein wissen-
schaftlich rekonstruierbarer Begriff des Lebens vorausgesetzt, dessen
Entstehung dann erklärt wird. Auf diese Weise können freilich nur
»conditiones sine quibus non, notwendige Bedingungen für Leben« 276
ermittelt werden, aber kein adäquater Begriff des Lebens: »Verständ-
nis des Lebens kann nur den umgekehrten Weg gehen: das einzig
sichere Kriterium für Leben ist unser Selbstvollzug des Lebens, und
Analogien dieses so in seiner Fülle erfahrenen Lebens schreiben wir
anderen Wesen zu […].« 277 Beim Begriff des Bewusstseins verfährt
man analog, indem man »Erkennen als Außenweltsimulation oder
-registierung definiert« und damit den »entscheidenden Aspekt: den
der Subjektivität« 278 im Voraus aus der Definition herauskürzt, um
dann in einem Abstraktionsgang »das Vorausgesetzte hinterher als
Produkt solcher Abstraktionen« 279 zu erklären. Die Soziobiologie
schließlich löst das Problem des Verhältnisses von Genesis – kausale
Erklärung des Entstehens – und Geltung – von der Entstehung eman-
zipiertes Selbstsein – im Bereich des Sittlichen dadurch, dass »das
Gelten selbst genetisiert« 280 wird, was bedeutet, dass es »kein Sol-
len« 281 mehr gibt, sondern dieses bloß Ergebnis einer »Welt der reinen

die Weiterentwicklung der antireduktionistischen Argumentation Spaemanns im


Weiteren von größter Bedeutung sein wird. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphy-
sisch-analoge Denken, 382.
274 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 211.

275 Ebd. 212.

276 Ebd.

277 Ebd.

278 Ebd. 213.

279
Ebd.
280 Ebd. 214.

281
Ebd. 215.

259

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Faktizität« 282 ist, in der bestimmte Verhaltensweisen einen »Selek-


tionsvorteil« 283 bieten. Es bedarf nach dieser Logik keinerlei Ethik
mehr, da sie eine evolutionär erklärbare Selbstverständlichkeit ist,
durch die der Mensch sich im Kampf ums Dasein durchgesetzt hat.
Für das Evolutionsprogramm zeigt sich erneut der Zirkel. Von aus der
Selbsterfahrung gewonnenen Voraussetzungen her werden Abstrak-
tionen anthropomorph ins Tierreich übertragen, und danach rekon-
struiert man sich selbst aus diesen Abstraktionen mit Hilfe von Selek-
tionstheorien, und das heißt: der Mensch entlarvt sich selbst als
Anthropomorphismus. 284
Die Selbstentlarvung als Anthropomorphismus bedeutet die Aufspal-
tung des Menschen in seinem Selbstverständnis in ein naturwissen-
schaftlich erklärbares Wesen, von dem er sich entfremdet hat, auf der
einen, und in ein reines Wissenschaftssubjekt, das dies durchschaut,
auf der anderen Seite.
Die Erklärung des Neuen in den drei Übergangswissenschaften
erfolgt also durch petitiones principii, durch Zirkelschlüsse. Einen
alternativen Versuch stellt die auf Konrad Lorenz zurückgehende Ful-
gurationstheorie dar. Fulgurationen bezeichnen nicht vorhersehbare
Sprünge in komplexen Systemen, durch die nicht zuletzt das »Auf-
treten von Sinn und Sinngebilden« 285 rekonstruiert werden soll.
Diese Fulgurationen sind jedoch nach Spaemann und Löw »mit dem
Evolutionsprogramm inkompatibel« 286, da durch sie die naturwissen-
schaftliche Erklärbarkeit der auftretenden Sprünge gerade geleugnet
wird. Da die Fulgurationstheorie zudem anthropomorphe Begriffe
verwendet, wird sie von Spaemann und Löw gegen den Anspruch
der Naturwissenschaft selbst gewandt:
Und nun stellen wir die Fulgurationstheorie auf den Kopf: Materie
und Spielregeln erklären nicht das Auftreten von neuen Qualitäten,
sondern sie stellen Bedingungen dar, unter welchen neue Qualitäten
auftreten können. Die Erklärung dieses Neuen kann nicht von Mate-
rie und Spielregeln kommen, weil diese ja Abstraktionsprodukte aus
dem bereits vorhandenen (in und mit uns) »Neuen« darstellen, wenn

282 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 215.


283 Ebd.
284
Ebd. 216.
285 Ebd. 225.
286
Ebd.

260

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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

wir den Blick nach rückwärts wenden. Woher das Neue selbst kommt,
das kann uns keine Naturwissenschaft lehren. 287
Die neuzeitliche Naturwissenschaft ist wesentlich »Bedingungsfor-
schung. Sie kennt nur abhängige Variable, also prinzipiell nur Passi-
vität. ›Selbstsein‹ ist ihr von ihrer Fragestellung her grundsätzlich
unzugänglich« 288. In den dargestellten drei Übergangswissenschaften
ist »der Bedingungscharakter verschleiert: er steckt im jeweiligen An-
fang, in der Definition des Explanandums« 289. Die innere Wider-
sprüchlichkeit des Evolutionsprogramms besteht also darin, dass es
»extrem metaphysisch« 290 ist, zugleich aber den Anspruch erhebt,
metaphysikfreie Erklärung zu bieten. Spaemanns und Löw gelangen
so zu der Schlussfolgerung,
daß die sogenannte Kausalforschung in den Naturwissenschaften vor
dem Dilemma steht, entweder sich als eingeordnet in einen teleologi-
schen Horizont zu verstehen oder sich durch Aufgabe des Ursachen-
wie des Erklärungsbegriffs ad absurdum zu führen und ins Sinnlose,
Unsagbare, Unverständliche zu verschwinden. 291
Die hier knapp dargelegte Kritik des Evolutionsprogramms wurde
ihrerseits vorbereitet durch genuin philosophische Entwicklungen
des 18. und 19. Jahrhunderts, denen nun Aufmerksamkeit gewidmet
werden soll.

5.2.6 Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem


bei Kant und Nietzsche

Aus der Reihe von Philosophen des 18. und 19. Jahrhunderts, deren
Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem von Spaemann und
Löw untersucht wird, werden hier nur Kant und Nietzsche aus-
gewählt, da ihr Denken auf sehr unterschiedliche Weise eine mög-
liche Wiederbelebung des teleologischen Denkens vorbereitet. Dabei
mag gerade diese Zusammenstellung zunächst verwundern. Die Bei-
träge Kants und Nietzsches liegen auf unterschiedlichen Ebenen.
Während Kant aufbauend auf seiner kritischen Philosophie die Frage

287 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 229.


288 Ebd. 227.
289
Ebd. 229.
290 Ebd. 226.
291
Ebd. 217.

261

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

der Denkbarkeit von Naturzwecken erörtert und damit die Möglich-


keit und die Grenzen teleologischen Denkens thematisiert, überwin-
det Nietzsche mit dem teleologischen Denken zugleich den Antiteleo-
logismus und führt das philosophische Denken zu einer Grenze, von
der aus sich zwar keine direkte Wiederbelebung des teleologischen
Denkens ergibt, wohl aber eine rückblickende Reflexion darüber, wel-
che Prämissen die Folgerungen Nietzsches letztlich unausweichlich
gemacht haben, woraus sich dann indirekt ein neuer Zugang zur
Teleologie ergibt.

Das Verhältnis von kausalmechanischer und


teleologischer Naturbetrachtung bei Kant
Die Betrachtung der Geschichte des teleologischen Denkens führte
von den Anfängen bei Platon und Aristoteles über die Ausweitung
zur Universalteleologie seit der Spätantike zu seiner Eliminierung in
der Neuzeit. Im Werk Kants hebt diese Entwicklung auf einer neuen
Ebene noch einmal an: »die Entwicklung der kantischen Argumen-
tation ist um so aufschlußreicher, als sich in ihr die Eigendymamik
des Teleologieproblems entwickelt, wie es sich schon in der Antike
gezeigt hatte, jetzt aber um die Dimension des Bewußtseins ver-
mehrt.« 292 Insofern »das ursprüngliche Problem der Naturphilo-
sophie darin besteht, das Nebeneinander von zweckmäßigen und
nichtzweckmäßigen Erscheinungen in ein und derselben Wirklichkeit
zu erklären« 293, läßt sich die Leitfrage der Untersuchung wie folgt
formulieren: »warum und wann legt sich eine teleologische Interpre-
tation bei Phänomenen der äußeren Natur nahe« 294? Spaemann und
Löw unterscheiden drei Phasen der Entwicklung von Kants Position.
Da die Teleologiethematik in der ersten Phase noch keine Rolle spielt,
wird im Folgenden die Aufmerksamkeit auf die zweite und dritte kon-
zentriert.
In der »Kritik der reinen Vernunft« (1781) und den »Metaphy-
sische[n] Anfangsgründen der Naturwissenschaft« (1786) »stellt für
Kant die objektive Natur ein System von mathematisch-physika-
lischen Beziehungen unter allgemeinen Gesetzen dar« 295, weswegen

292 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 105.


293
Ebd.
294 Ebd.
295
Ebd.

262

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.
5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

»die teleologische Interpretation aus der Naturwissenschaft fern-


zuhalten« 296 ist. »Als sich aber die Naturphänomene des Lebendigen
für ihn nicht auf die Physik zurückführen ließen, mußte der Natur-
begriff so erweitert werden, daß auch diese verständlich wurden.« 297
Dies geschah in der »Kritik der Urteilskraft« (1790), in der »Kant fünf
verschiedene Formen von Zweckmäßigkeit« 298 unterscheidet. Für den
vorliegenden Zusammenhang entscheidend ist die der »Natur-
Zweckmäßigkeit« 299. Für Naturzwecke – »und von Anfang an hat
Kant hier die Organismen im Auge« 300 – charakteristisch ist erstens
ihre »Zufälligkeit«, wobei ›zufällig‹ »bedeutet, daß wir die Notwen-
digkeit der Entstehung nicht begreifen können« 301; charakteristisch
ist zweitens ihre Bezogenheit auf Vernunft, was bedeutet, dass Natur-
zwecke nicht aus Naturgesetzen erklärt werden können, sondern »auf
den Vernunftbegriff des Zweckes zurückgeführt« 302 werden müs-
sen. 303 Das Kriterium für die Beurteilung eines Dings als Naturzweck
ist, dass »es von sich selbst Ursache und Wirkung ist«. 304
Dies muß auf eine dreifache Weise der Fall sein: die Teile des Natur-
zweckes dürfen nur in bezug auf das Ganze möglich sein, Teil und
Ganzes müssen voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung sein,
und alle Ursache-Wirkungs-Verhältnisse in diesem »organisierten
Produkt« müssen sich auch als Zweck-Mittel-Verhältnisse interpretie-
ren lassen. Die dritte Bedingung ist dabei die zentrale: durch sie unter-
scheiden sich Organismen von noch so komplizierten Kunstproduk-
ten, denn hier erscheint der Organismus als in sich verschränkte

296 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 106.


297 Ebd. 107.
298 Ebd.

299 Ebd. 110.

300 Ebd.

301 Ebd.

302
Ebd.
303 Vgl.: »Kant hat, indem er die Organismen als mögliche Naturzwecke zum Aus-

gangspunkt seiner Überlegungen gemacht hat, die immer verworrener gewordenen


Auseinandersetzungen um Fragen der Teleologie auf die Grundlage zurückgeholt,
von der sie einmal bei Aristoteles ihren Ausgang genommen hatte.« – Schramm,
Natur ohne Sinn? Das Ende des teleologischen Weltbildes, 172. – Vgl. auch: »Kant
hält daran fest, daß alle Naturerscheinungen nur aus Naturgesetzen erklärt werden
können, daß aber unser beschränktes Erkenntnisvermögen damit bei Organismen
nicht durchkommt und sich bei seiner naturgesetzlichen Erklärung am regulativen
Prinzip eines Naturzwecks orientieren muß, wenn es nicht die Sache aus dem Auge
verlieren will.« – Ebd. 178.
304
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 111.

263

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Totalität von Zweck-Mittel-Verhältnissen, zu deren Existenz-Erklä-


rung nicht nochmals auf einen ihnen äußerlichen Zweck verwiesen
werden muss. 305
Um nun in der Frage, »warum und wann […] sich eine teleologische
Interpretation bei Phänomenen der äußeren Natur« 306 nahelegt, wei-
terzukommen, ist zu klären, wie die Erkenntnis von Naturzwecken
bzw. Organismen möglich ist. Zwecke sind für Kant ein Allgemeines,
das aber nicht wie die Kategorien der reinen Vernunft gegeben ist.
»Für dieses Problem führt Kant in der KU den Begriff der reflektie-
renden Urteilskraft ein« 307; diese »sucht sich zum Besonderen erst das
Allgemeine, unter welches dann subsumiert wird« 308. Kants Antwor-
ten auf die Frage nach dem Anwendungsbereich dieser auf Zwecke
zielenden reflektierenden Urteilskraft fassen Spaemann und Löw in
drei Thesen zusammen, die hier verknappt wiedergegeben werden:
1. Kausalmechanische und teleologische Naturbetrachtung sind
»zwei Beurteilungsarten von natürlichen Gegenständen« 309.
2. Kausalaussagen sind »prinzipiell ungeeignet, uns die Natur als
Ganzes in den Blick bekommen zu lassen. Kausalforschung ist
unendlich, unabschließbar, und das heißt sie ist wesentlich Pro-
gramm und nicht Ziel 310: ›Es ist für den Menschen ungereimt …
zu hoffen, daß dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch
nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die kei-
ne Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde. […]‹
(V, 400)« 311 Daher gilt, dass »für die unbestreitbaren Zweck-

305 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 111.


306 Ebd. 105.
307 Ebd. 113. – Vgl.: »Aber für Kant ist der Denkprozeß mit der Zuweisung des

Zweckbegriffs an die reflektierende Urteilskraft nicht zu Ende: die Dynamik, ja das


Dynamit, welches in dieser Fassung steckt, läßt sich im § 77 der ›Kritik der Urteils-
kraft‹ verorten. Da heißt es, wir würden anläßlich bestimmter Erscheinungen ge-
nötigt, auf den Begriff des Zweckes zu reflektieren. Wie das, wenn doch der kategorial
konstituierte Verstand und die Anschauungsformen gemäß der ›Kritik der reinen Ver-
nunft‹ den Dingen definitiv vorschreiben, wie sie zu erscheinen haben? Eine Nöti-
gung von seiten der Erscheinungen ist nichts weniger als ein Wink aus dem Reich
der Dinge an sich!« – Löw, Herder und die Evolution, in: Ders. (Hrsg.), ΟΙΚΕΙΩΣΙΣ.
Festschrift für Robert Spaemann, 144.
308 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 113.

309 Ebd. 114.

310
Ebd. – Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Ein prinzipiell nicht zu er-
reichendes telos verdient seinen Namen nicht.« – Ebd. 274.
311
Ebd. 114.

264

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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

mäßigkeitsphänomene in der lebendigen Natur Kausalaussagen


zur Erklärung prinzipiell ungeeignet sind« 312.
3. Die teleologische Betrachtungsweise bleibt immer »Interpreta-
tion«: »Zwecke lassen sich in der Natur nicht als solche beobach-
ten, sondern nur ›in der Reflexion über ihre Produkte … hin-
zudenken‹ (V, 399). […] Bei Naturzwecken kann prinzipiell
weder der Beweis geleistet werden, daß sie mechanisch erklärbar,
noch daß sie es nicht sind«. 313
Innerhalb dieser vom erkennenden Subjekt ausgehenden Betrach-
tung scheint Kant »bezüglich der Teleologie schließlich ein Agnos-
tiker zu sein« 314; ontologisch »ergibt sich jedoch eine ganz andere
Folgerung« 315, wenn das Verhältnis von »Natur als Erscheinung« zu
unserem »Erkenntnisvermögen« 316 bedacht wird:
Unsere Erkenntnis ist dabei in dem Sinne abstrakt, als die konkrete
Natur zwar an diese Vermögen gebunden ist, ohne doch durch sie voll-
ständig konstituiert zu werden. […] Diese Abstraktion wird durch den
Zweckbegriff aufgehoben. Er beseitigt nachträglich die Zufälligkeit des
Besonderen, indem er das fehlende Prinzip der Einheit angibt, unter
welchem sich die Kausalprozesse zum Naturzweck geordnet haben.
Erst dadurch bekommen wir Phänomene des Organischen als be-
stimmte in den Blick. Von daher läßt Kant keinen Zweifel an der on-
tologischen Vorordnung der teleologischen Natursicht vor der kausal-
mechanischen […]. 317
Es bleibt für Kant dennoch dabei, dass »wir den Zweckbegriff nicht
dogmatisch handhaben« 318 können, so dass die Teleologie »im theo-
retischen Teil der KU« keinen »definitiven ontologischen Status er-
hält« 319. Im praktischen Teil dagegen erscheint der Mensch »als mo-
ralisches Wesen, als noumenon« als »Endzweck der Schöpfung« 320,
womit sich bei Kant der Schritt in Richtung Universalteleologie, den
bereits die Stoa vollzogen hatte, wiederholt. 321

312 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 115.


313
Ebd.
314 Ebd.

315 Ebd. 116.

316 Ebd.

317 Ebd.

318 Ebd.

319 Ebd. 117.

320
Ebd. 118.
321 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleo-

logisierung, 242–243.

265

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Die dritte und für ihre Argumentation entscheidende Phase der


Entwicklung von Kants Position sehen Spaemann und Löw »im Werk
der späten Kant (nach 1796)« 322, wobei Ausgangspunkt der Dar-
legung noch einmal der Organismus ist:
Das skandalon für das Vernunftinteresse an der Einheit von Natur
und Erfahrung ist der Organismus 323. Er ist einerseits ein Naturgegen-
stand und unterliegt dem kategorialen Zugriff des Verstandes, ande-
rerseits wird er bestimmt als Totalität von Zweck-Mittel-Beziehun-
gen, die aus der kategorial konstituierten Natur nicht herleitbar ist.
Der Organismus ist gleichsam jenes nichtgegebene (und also erst von
der reflektierenden Urteilskraft aufzusuchende) Allgemeine, welches
in der Erfahrung gegeben ist. 324
Weiterhin geht es damit also um das Problem der »theoretischen Ver-
hältnisbestimmung von kausalmechanischem und teleologischem
Denken« 325. Das »Konzept zur Lösung des Problems findet sich in
den zwischen 1796 und 1803 niedergeschriebenen Entwürfen des
Opus postumum« 326. Die Naturwissenschaft ist für Kant die »Wissen-
schaft von den bewegenden Kräften der Materie« 327. Diese bewegen-
den Kräfte entstammen der Erfahrung, die aber nicht im Sinne der
Kritik der reinen Vernunft als kategorial konstituiert gedacht werden
kann. Dies führt zur Frage, wie dann aber überhaupt ein »Begriff der
bewegenden Kraft« 328 möglich sein kann. Kants Antwort: »der Begriff
der bewegenden Kraft stammt aus der Selbsterfahrung des Sub-
jekts« 329, das durch seine eigene Fähigkeit zur Bewegung immer
schon mit den von außen kommenden, »entgegenwirkende[n] be-
wegende[n] Kräfte[n] der Materie« 330 vertraut ist:

322 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 119. – Diesem war auch die von

Spaemann betreute Dissertation Reinhard Löws gewidmet, die 1980 unter dem Titel
»Philosophie des Lebendigen« publiziert wurde.
323
Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »Vgl. H. Jonas (1973, S. 33): ›So be-
zeichnet der organische Körper die latente Krise jeder bekannten Ontologie, und das
Kriterium ‘jeder künftigen, die als Wissenschaft wird auftreten können’.‹« – Ebd. 274.
324 Ebd. 119.

325 Ebd.

326 Ebd.

327 Ebd.

328
Ebd. 120.
329 Ebd.

330
Ebd.

266

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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

Die Einheit der Erfahrung kann nicht im kategorial strukturierten


Verstand liegen, sondern sie liegt in der psychophysischen Einheit
des Subjekts, das durch Selbstaffektion und Selbstkonstitution den si-
cheren Grund für die Welterfahrung legt und diese nach Analogie der
Grundlegung vollzieht. […] Das eigene Leib-Haben und Ursache-
sein-Können ist a priori Bedingung für die Möglichkeit einer dyna-
misch-physikalisch strukturierten Welterfahrung. 331
Spaemann und Löw weisen auf die zentrale Bedeutung dieses Gedan-
kengangs hin, durch den »Kant auch unter Absehung von der Dimen-
sion des Sittlichen den Zweckbegriff apriorisch verankert« 332. Gerade
in ihm liegt demnach auch das bleibende Vermächtnis Kants im
Rahmen der Teleologieproblematik: »Insofern weisen Kants späte na-
turphilosophische Entwürfe einen Weg, wie eine teleologische Natur-
sicht argumentieren müßte, wenn sie die drohende Universalteleo-
logie vermeiden will, die aus einem Rekurs auf den Menschen als
Endzweck einer Schöpfung resultiert.« 333 Die Überlegungen zur mög-
lichen Wiederbelebung des teleologischen Denkens 334 und die Schluss-
folgerungen aus dem Programm der Gegenkritik am Antiteleo-
logismus 335 werden an diesen Gedanken anknüpfen.

331 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 120.


332
Ebd. – Vgl. auch: »Die Gewissenserfahrung ist für Kant die einzige Erfahrung, die
Selbstsein impliziert. Damit ist sie die einzige Erfahrung, die jene ontologische Leer-
stelle eines ›Dinges an sich‹ füllt, die im Rahmen der ›Kritik der reinen Vernunft‹ nur
einen theoretischen Grenzbegriff darstellt. Alle Gegenstände der Erfahrung in Raum
und Zeit sind nicht von der Art des Selbstseins. Sie sind uns nur in bestimmten Ver-
mittlungsstrukturen gegeben, das heißt in der Form des Bedingtseins des einen durch
das andere, als ›Fall‹ von Gesetzen. In der ›Kritik der Urteilskraft‹ hatte Kant gezeigt,
daß wir so Organismen gar nicht zu Gesichte bekommen. Wir müssen sie als natür-
liche Systeme, das heißt immanent-teleologisch betrachten. Kant war der Meinung,
daß eine Reduktion dieser Betrachtung auf bloße Teleonomie niemals möglich sein
werde, aber er begründete diese Auffassung nicht. Gleichwohl hielt er zunächst diese
Betrachtung für ein unvermeidliches Als-ob, bis er dann im Opus postumum unsere
eigene organische Natur als konstitutives, daher prinzipiell nicht rekonstruierbares
Apriori jeder objektiven Erkenntnis begriff […]. Dann aber nehmen wir offenbar,
wenn wir Organismen, wenn wir Leben wahrnehmen, so etwas wie Selbstsein nach
Analogie unseres eigenen wahr.« – Ebd. 244.
333
Ebd. 120.
334 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 273–279.

335
Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Ateleologische Teleologie und das Ende des Denkens bei Nietzsche


Spaemann und Löw leiten ihr Kapitel über Friedrich Nietzsche ein
mit den Worten: »Mit Nietzsche beschließen wir die Reihe der aus-
drücklich philosophischen Positionen zum Problem des teleologi-
schen Denkens im Gang der Geschichte der Philosophie.« 336 These
dieses Kapitels ist, dass Nietzsche in einem besonderen Sinn Ab-
schluss des teleologischen Denkens in der Geschichte der Philosophie
ist. Um diesen besonderen Sinn darzulegen, wird zunächst ein Blick
geworfen sowohl auf Nietzsches Teleologiekritik als auch auf seine
Kritik am Antiteleologismus, bevor Grundzüge seiner ateleologi-
schen Teleologie erläutert werden und schließlich das Denken Nietz-
sches strukturell betrachtet und als eine Art Inversion der He-
gel’schen Philosophie gedeutet wird.
Nietzsche wendet sich gegen das teleologische Denken in seiner
neuzeitlichen Form als invertierte Teleologie der Selbsterhaltung, in-
dem er den Gedanken der Selbsterhaltung als Interpretation ablehnt
und gegen Schopenhauer 337 den Willen neu deutet: »alles Lebendige
will sich steigern, will seine Kraft auslassen (III, 504); aller Wille ist in
Wahrheit Wille zur Macht« 338. Zwar stimmt Nietzsche mit Schopen-
hauer darin überein, dass jedweder »Sinn der Welt« 339 verneint wird,
doch versteht er »diesen Nihilismus als Durchgangsstadium zu einer
neuen Zukunft« 340:
Nietzsche betont gegen die Selbsterhaltungsteleologie, die »bürgerli-
che Ontologie«, wieder das Moment der Transzendenz, des Über-
schusses des eu zen, des guten und edlen Lebens, über das bloße Leben
der Selbsterhaltung. Grundcharakteristikum alles Seienden 341 ist sein

336 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 163.


337 Spaemann und Löw bemerken zum Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer: »Für
Friedrich Nietzsche war Schopenhauer ein unvergleichlicher ›Erzieher‹. Es ist jedoch
für den Rang Nietzsches als Philosoph kennzeichnend, daß er den Zusammenhang der
Lebensverneinung Schopenhauers mit der neuzeitlichen Form der Selbsterhaltungs-
teleologie klar erkannt hat.« – Ebd. 163.
338 Ebd. 164.

339 Ebd. 165.

340 Ebd.

341 Vgl. die Anmerkung von Spaemann/Löw: »In der Ausweitung der Willensmeta-

physik auf das Anorganische folgt Nietzsche Schopenhauer – ja, es bekommt sogar
den Vorrang: ›Wo es keinen Irrtum gibt, dies Reich steht höher: das Unorganische ist
die individualitätslose Geistigkeit.‹ Zitiert nach Jaspers (1974, S. 312).« – Ebd. 283–
284.

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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

Wille zur Macht, sein Wille zur Steigerung. Dieser Wille ist ohne Sinn
und Ziel. 342
Voraussetzung der Freisetzung des Willens zur Macht ist für Nietz-
sche die Überwindung des Nihilismus, der sich auch im naturwissen-
schaftlichen Antiteleologismus zeigt.
In seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften
wirft Nietzsche diesen vor, »sich einer genauso falschen Metaphysik
wie die Teleologie« 343 zu bedienen. Der »Grundirrtum«, dem auch die
Naturwissenschaften erliegen, besteht für Nietzsche in der Übertra-
gung der »Selbsterfahrung auf alle anderen Ereignisse der Welt« 344.
Sobald die Selbsterfahrung »im Gedanken fixiert wird«, steht sie »in
der Dimension eines ontologischen Irrtums, weil das Gedachte und
denkend Festgemachte ja etwas anderes als die gemeinte Sache ist« 345.
Hinter dieser Denkfigur steht Nietzsches Überzeugung, dass der
»Wille zur Wahrheit«, da er stets »interpretierend bestimmte Ge-
schehnisse voneinander« isoliert, prinzipiell zu einer Verfälschung
der »wahre[n] Wirklichkeit« 346 führen muss. Dem Verdikt Nietzsches
fallen die Naturwissenschaften insbesondere dann zum Opfer, wenn
sie nicht nur beschreiben, sondern erklären zu können beanspruchen
wie der Darwinismus, der glaubte, »die teleologischen Phänomene
aus mechanistischen Verhältnissen erklärt zu haben« 347. Damit er-
liegt der Darwinismus der Dialektik des Willens zur Wahrheit und
führt zu einer verfälschten Sicht der Wirklichkeit. Dem aussichts-
losen Willen zur Wahrheit stellt Nietzsche als einzig mögliche Alter-
native den Willen zur Macht gegenüber, der nur »Einwirkung im
Sinne einer Überwältigung eines Willens durch einen anderen« 348
kennt.
Zu den Grundüberzeugungen Nietzsches gehört also, dass die
»›wahre‹ Welt […] ein chaotischer Fluß des Werdens ohne Stillstand«
und Leben »Wille zur Macht« 349 ist. Nachdem mit dem Tod Gottes die
»größte Idee der Menschheit bisher« 350 weggefallen ist, bleibt für

342 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 163.


343 Ebd. 166.
344 Ebd.
345 Ebd.
346 Ebd. 167.
347 Ebd.
348
Ebd.
349 Ebd. 169.
350
Ebd. 170.

269

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Nietzsche als »Äquivalent« nur die »Idee des Übermenschen« 351, in


dem sich das Motiv der Steigerung – wohlgemerkt des Menschen,
nicht seiner Erhaltungsfähigkeit – konkretisiert. Spaemann und Löw
bemerken zu dieser Idee:
Der Übermensch als Ziel der Evolution: ist das nicht Kennzeichen
einer teleologischen Struktur der Wirklichkeit? Ja, zweifellos. Aber
der Übermensch ist das Wesen, das ohne teleologische und ohne me-
chanische Vorstellungen, ohne Weltinterpretation überhaupt zu leben
imstande ist. Der rezente Mensch braucht Teleologie wie Physik, um
handelnd in die Wirklichkeit eingreifen zu können. Er braucht Inter-
pretationen der Welt, Rechtfertigungen vor sich und anderen, welche
er in einer Wirklichkeit bereits vorfindet. Der Übermensch ist das
Wesen, das in vollem Bewußtsein der Tatsache, daß es all das nicht
gibt, dennoch leben kann, weil er seine ihn verpflichtenden Werte
selbst erst schafft. 352
Dem sich so ergebenden scheinbaren Widerspruch, dass der Über-
mensch einerseits die »Wirklichkeit unter sich als Substrat seiner
Steigerung, seines Kraftauslassens behandeln soll«, er aber anderer-
seits selbst »ihr Produkt ist, Resultat eines kontingenten Willens-Er-
scheinungsprozesses« 353, begegnet Nietzsche durch seine »Theorie
der Ewigen Wiederkehr des Gleichen« 354, die einen »Universalprozess
von Ereignissen« bezeichnet, »die sich in riesigen, epochalen Abstän-
den wiederholen« 355.
Der Übermensch kann nicht nur mit dem Gedanken der Ewigen Wie-
derkehr leben, sondern soll aus ihr sogar den »Sinn des Lebens«
schöpfen: der Übermensch ist Überwinder des Nihilismus. In Wirk-
lichkeit mündet der gegen Spinoza erneuerte Gedanke eines Über-
schusses über die Erhaltung doch in eine Vorstellung eines toten Uni-
versums, dessen einziges telos darin besteht, sich unendlich oft zu
reproduzieren. 356
Nietzsches Überwindung des Nihilismus kommt somit bei der Repro-
duktion der Selbsterhaltungstheorie »in einem gigantischen Maß-

351 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 170.


352 Ebd. 169–170.
353 Ebd. 171.
354
Ebd.
355 Ebd.
356
Ebd. 172.

270

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5.2.6 Das Teleologieproblem bei Kant und Nietzsche

stab« 357 an, von der seine Kritik am teleologischen Denken ihren Aus-
gang nahm.
Von besonderem Interesse für Spaemanns und Löws Anliegen
einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens ist die strukturelle
Betrachtung von Nietzsches Denken. Es geht dabei zunächst um die
Gedankenfigur der doppelten Negation. Zum einen geht es um die
Negation von Wahrheiten, im hier verfolgten Zusammenhang kon-
kret der Existenz von Naturzwecken; zum anderen geht es um die
Negation der Kritik an diesen Phänomenen, hier konkret der anti-
teleologischen Naturwissenschaft. Insofern die Wahrheiten für
Nietzsche selbst noch »Ausdrucksformen des Willens zur Macht« 358
sind, ist ihre bloße »Leugnung verächtlicher als die Position selbst« 359.
Die »wahre« Sicht der Dinge muß die Position wie die Negation als
Irrtümer entlarven. Position wie Negation sind beide Ausflüsse des
Willens zur Macht – das ist ihr Wahres –, mit ihrer Feststellung wird
jedoch ihr Moment des Sich-Steigerns geleugnet. Position wie Nega-
tion drücken eine Perspektive aus, welche der Steigerung des Indivi-
duums dienlich sein soll; qua Perspektive wird die Steigerungsmög-
lichkeit aber schon gehemmt. 360
Da alle »Manifestationen des Willens zur Macht […] schon die Di-
mension des Irrtums notwendig bei sich führen«, ja Wahrheit und
Irrtum selbst »beide Dimensionen des Irrtums« sind, folgt daraus,
dass das Denken selbst »die ontologische Dimension des Irrtums er-
öffnet« 361. Spaemann und Löw ziehen einen Vergleich zwischen
Nietzsche und Hegel. Für beide gilt die »Identität von Denken und
Sein« 362, »aber während für Hegel die Erkenntnis im Werden des Be-
griffs besteht, schließen für Nietzsche Erkennen und Werden einan-
der absolut aus« 363. Hegel erscheine, so Spaemann und Löw, »in
Nietzsche wie in einem Spiegel, in welchem Hegels Wirklichkeit als
entwickelte Logik des Irrtums erscheint« 364. Zu dieser Spiegelung He-
gels gehört die paradoxe Konstruktion einer ateleologischen Teleo-
logie, für die teleologisches Denken genauso falsch ist wie antiteleo-

357 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 171.


358 Ebd. 174.
359 Ebd.
360 Ebd.
361 Ebd. 175.
362
Ebd.
363 Ebd. 176.
364
Ebd.

271

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

logisches Denken, »weil Denken qua Denken schon der ontologischen


Dimension des Irrtums verfallen ist« 365. Doch auch mit dieser Fest-
stellung bringt Nietzsche sich »in innere Widersprüche – ganz ein-
fach, weil er sich ja in ihnen selbst der Sünde des Isolierens, Feststel-
lens, des Redens über … schuldig macht« 366. »Die These, daß Denken
und Sprechen innerhalb des ontologischen Horizonts von Irrtum
stattfinden, macht vor Nietzsche selbst nicht halt« 367, so dass er den
unvermeidlichen inneren Widerspruch seines eigenen Denkens er-
kennt. Nietzsche selbst, so unterstreichen Spaemann und Löw, sei
durchaus bewusst gewesen, »daß er noch von dem Pathos der Wahr-
heit lebt, das er bekämpft,« mit Nietzsches eigenen Worten: »daß
auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysi-
ker, auch unser Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahr-
tausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch
der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit
göttlich ist«. 368 In dieser Tradition stehend ist auch Nietzsches Den-
ken ein Versuch der Überwältigung des Werdens zum Sein. »Der
höchste Wille zur Macht ist: dem Werden den Charakter des Seins
aufzuprägen: aber das gelingt auch dem Übermenschen nicht, der
selbst rettungslos zum Werden gehört« 369. Es gibt nur die unendliche
Iteration von Negationen: »Der Übermensch wird den Irrtum als Irr-
tum erkennen, und diese Erkenntnis als Irrtum, …, und sich zurück-
verlieren ins Werden.« 370 – Das Ende, das Nietzsche der Problematik
der Teleologie bereitet, ist somit das Ende des Denkens selbst. Will
man diese Konsequenz nicht mittragen, aber weder zur invertierten
Erhaltungsteleologie noch zur metaphysischen Naturwissenschaft
zurückkehren, bleibt nur das Nachdenken über einen möglichen Feh-
ler der Entwicklung, der Nietzsches Folgerungen letztlich unaus-
weichlich gemacht hat. Diesem Nachdenken ist das folgende Teilkapi-
tel (5.3) gewidmet.

365 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 284 (Anm. 26 zu Kapitel VII, 164).
366 Ebd. 168–169.
367 Ebd. 176.

368 Nietzsche, Sämtliche Werke, Bd. 3, 577. – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele

(1981; 2005), 176. – Dieses Nietzsche-Zitat aus der »Fröhlichen Wissenschaft« (Apho-
rismus 344) gehört zu den Leitmotiven, die in Spaemanns Werken der folgenden
Jahrzehnte häufig herangezogen werden.
369 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 173.

370
Ebd. 176.

272

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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken 371

Die ersten Auflagen von »Die Frage Wozu?« schlossen zwei Kapitel
ab, 372 die als »Nachruf« auf die Teleologie angekündigt werden, deren
»Tenor« Spaemann und Löw mit folgenden Worten umreißen:
daß, wenn es wirklich die Teleologie war, die hier zur Strecke gebracht
wird, dann mit ihr alle Trauergäste und selbsternannten Erben mitver-
storben sind. Da aber die Obduktion der zu Grabe getragenen ergibt,
daß es nicht »die Teleologie« war, sondern eine schwache Karikatur
von ihr, wird sie selbst an der Spitze der Tafel ihres Leichenschmauses
Platz nehmen und, wie es immer ihre Art war, ihren Verfolgern wie
Anhängern ein reiches Mahl bieten. 373
Die Trauerfeier, so muss man diese ironische Einlassung wohl ver-
stehen, galt nicht der Teleologie selbst, sondern allenfalls den proble-
matischen Umformungen, von denen oben die Rede war. 374 Hinter
den beiden dort skizzierten Umformungen steht als eigentliches Mo-
tiv der mit der Teleologie prinzipiell nicht vereinbare Anspruch, Vor-
gänge erklären zu wollen. Gerade durch die Anmaßung dieses An-
spruchs liefert die Teleologie sich aber der Kritik aus: »Berechtigt ist
überhaupt alle Kritik an der Teleologie, wenn diese etwas im natur-
wissenschaftlichen Sinne erklären will. Das geht schon aus der
Definition des Erklärens hervor, denn teleologisches Denken ist we-
sentlich nachträgliche Interpretation« 375. Die übliche Kritik an einer
mit dem Anspruch erklären zu können auftretenden Teleologie zielt
darauf ab, dass sie das »Modell[…] menschlichen Handelns nach Vor-
sätzen« 376 unzulässigerweise auf Vorgänge in der Natur übertrage.
Dahinter steht die Vorstellung, dass zur Teleologie wesentlich Be-

371 Vgl.: »Was aber spricht positiv für die Annahme teleologischer Verfasstheit? Die

Konzeption Spaemanns hat nicht die schlichte Gestalt einer Behauptung, die durch
eine mehr oder weniger lange Reihe von Argumenten gestützt wird. Es handelt sich
um ein besonders reichhaltiges Arsenal von Gründen und Gesichtspunkten, die ihrer-
seits von ganz unterschiedlicher Art und Reichweite sind.« – Schönberger, Das Sein
des Sinnes, 37.
372 Ab der dritten Auflage von 1991 wurde der Text erweitert um ein weiteres Kapitel

»Teleologie und Teleonomie«.


373 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 197.

374 Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Entteleo-

logisierung, 242–248.
375 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 217.

376
Ebd. 218.

273

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

wusstsein gehöre, was Aristoteles, wie gesehen, entschieden vernein-


te, Thomas dagegen im Hinblick auf das Bewusstsein Gottes in einge-
schränktem Sinn bejahte. Auf die entscheidende Frage, ob Teleologie
aristotelisch vom Bewusstsein abgelöst werden kann oder aber die
Beziehung auf ein Bewusstsein im Sinne Thomas’ beibehalten wer-
den muss, wird zum Abschluss dieses Teilkapitels zurückzukommen
sein. 377
Gegenüber der mittelalterlichen Naturteleologie wurde immer
wieder der Vorwurf erhoben, sie »führe zur ignava ratio, zur faulen
Vernunft« 378, da die Rede von Zwecken »alle weitere Nachforschung
über Naturphänomene zum Erliegen« 379 bringe.
Dieser Vorwurf ist ungerechtfertigt. Das Axiom: cuiuscumque est
causa finalis, eis est causa efficiens 380 (wovon immer es eine Zweck-
ursache gibt, davon gibt es auch eine Wirkursache) besagt, daß
»Zweck« ein Gesichtspunkt ist, unter welchem Kausalreihen geordnet,
nicht aber dem sie geopfert werden; die anderen drei Ursachen bleiben
conditiones sine quibus non. 381
Erst durch die Überschreitung ihres Zuständigkeitsbereichs in dem
Anspruch der Teleologie, Vorgänge im wissenschaftlichen Sinne er-
klären zu können, würde dieser Vorwurf berechtigt erscheinen. Es ist
daher wichtig zurückzugehen auf einen Begriff von Teleologie, der
hier klar unterscheidet.
Wenn man – aristotelisch – »Kausalforschung« als »Mittelforschung«
interpretiert, dann tritt finale Interpretation mit dieser nicht in Kon-
kurrenz; sie verbessert auch nicht die Effizienz unserer Naturbeherr-
schung, sondern sie ermöglicht uns ein Verstehen von Naturvorgän-
gen, das sich nicht zu einem bloßen Als-ob herabsetzen läßt. 382
Im Rückgriff auf Aristoteles soll daher noch einmal knapp ver-
gegenwärtigt werden, was unter Teleologie im eigentlichen Sinne zu
verstehen ist. Da man von der teleologischen Interpretation von Vor-
gängen immer absehen kann und sie stattdessen auf ihre kausalen
Zusammenhänge betrachten kann, lauten die Ausgangsfragen:

377 Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291.


378 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 85.
379 Ebd.

380 Spaemann und Löw verweisen in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: Duns

Scotus: Op. Ox I ist. 8 qu 5 n 6. – Ebd. 268.


381 Ebd. 85.

382
Ebd. 226.

274

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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken

»wann legt es sich nahe, teleologisch zu denken? Und wann ist es


notwendig, teleologisch zu denken?« 383 Zur Beantwortung dieser Fra-
gen nennen Spaemann und Löw zwei Bedingungen: Zum einen muss
»hartnäckige Zielverfolgung unter wechselnden Randbedingun-
gen« 384 vorliegen. Das heißt, dass im Hinblick auf ein System aus-
gehend von einem Anfangszustand A die Erreichung eines End-
zustandes C »auf verschiedenen Wegen B1 … Bn verfolgt werden
kann« 385. Aufgrund dieser variierenden Mittelwahl ist eine »Plastizi-
tät des Prozesses« 386 gegeben. Da aber auch das »Gefälle des Wassers,
das immer wieder dem tiefsten Punkt ›zustrebt‹« 387, unter diese Be-
dingung fällt und somit teleologisch interpretiert werden müsste,
kommt als zweite Bedingung das »Moment der Perzeption, der Wahr-
nehmung« 388 hinzu:
Zielverfolgung wird aber erst dort als Zielverfolgung bemerkbar, wo
Mittel als Mittel ergriffen werden. Dies setzt voraus, daß erstens mit
den Mitteln variiert werden kann, zweitens aber, daß wir einen Grund
zu der Annahme haben, daß die Umwelt auf irgendeine Weise von
dem von uns teleologisch interpretierten Gebilde registriert wird. 389
Voraussetzung dafür, dass teleologische Interpretation von Vorgän-
gen notwendig ist, sind also Umweltwahrnehmung und hartnäckige
Zielverfolgung als »voneinander unabhängige Variable« 390:
Nur wo der Weg eines Systems zur Erreichung oder Aufrechterhal-
tung eines mindestens in einer Hinsicht identischen Zustands variiert
und wo wir diese Variation als Funktion einer »Tendenz« verbunden
mit der Perzeption einer wechselnden Umwelt interpretieren können,
da haben wir Grund von Wahrnehmung und »hartnäckiger Zielver-
folgung« zu sprechen. 391
Dabei ist noch einmal zu betonen, dass Vorgänge, die in diesem Sinne
berechtigterweise als teleologisch interpretiert werden können, ihr
jeweiliges Ziel nicht erreichen müssen. Teleologische Erklärung er-

383 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 235.


384 Ebd. 232.
385 Ebd. 231.
386 Ebd. 232.
387 Ebd.
388 Ebd.
389
Ebd.
390 Ebd. 233.
391
Ebd.

275

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

folgt »nicht vom erreichten, sondern vom ›erstrebten‹ Ziel her«, das
»in der Bewegung bereits präsent« 392 ist. Es kann immer noch etwas
dazwischenkommen, weswegen Teleologie »unbrauchbar für Prog-
nosen« 393 und »in gewissem Sinne nachträglich« 394 ist. Epistemo-
logisch bleibt der Status teleologischer Erklärung immer prekär, wes-
wegen eine theoretische Entscheidung über die Zulässigkeit ihres
Anspruchs wenig wahrscheinlich ist: »Nun ist das Teleologieproblem
so alt wie die europäische Philosophie. Gigantomachien dieser Art
legen die Vermutung nahe, daß eine Beendigung des Disputs auf der
theoretischen Ebene, auf der er geführt wurde, nicht zu erwarten
ist.« 395 Im folgenden Schritt geht es daher um die Frage nach den
Interessen, die hinter dem teleologischen Denken und dem Anti-
teleologismus stehen und damit um die Frage nach der praktischen
Bedeutung der Teleologie.
Im Bereich der praktischen Philosophie stellt sich die Frage nach
der Teleologie als Frage nach der Beweislast. »Die fundamentale Be-
weislastregel besagt, daß derjenige begründen muß, der Selbstver-
ständliches in Frage stellt.« 396 Da es in der Neuzeit zum Normalfall
geworden ist, dass Vertreter des teleologischen Denkens sich recht-
fertigen und begründen müssen, entsteht der Anschein, dass diese
Selbstverständliches in Frage stellen. Diesem Eindruck widersprechen
Spaemann und Löw, da das bedeuten würde, »daß die normalen Le-
bensvollzüge sich als solche erst rechtfertigen müssen vor der ihrer
Natur nach hypothetischen Wissenschaft« 397. Das teleologische Den-
ken orientiert sich an menschlicher Normalität und geht von hier aus
zur Betrachtung der menschlichen Umwelt über, wohingegen die hy-
pothetische Wissenschaft von Abstraktionen ausgeht, aus denen
menschliche Normalität letztlich wieder rekonstruiert werden soll.
Insofern hat teleologisches Verstehen vor kausalem Erklären zumin-
dest einen theoretischen Vorzug: in ihm kommt das Fragen zu einem
Ende, ohne des Rückgriffs auf andere Kategorien zu bedürfen, wäh-
rend die kausale Analyse stets in einen abgeschlossenen teleologischen
Kontext eingebettet ist, der vorgegeben ist entweder durch den Gegen-
stand der Analyse selbst oder aber durch das Ziel des Forschers, der

392 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 233.


393 Ebd.
394 Ebd. 234.
395
Ebd. 230.
396 Ebd. 234.
397
Ebd. 235.

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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken

etwas Bestimmtes wissen oder Geld verdienen will. Gerade dieses Zu-
endekommen kann allerdings auch als Argument gegen teleologische
Betrachtungsweise gewendet werden: teleologisches Verstehen scheint
nicht über sich hinauszuweisen und animiert daher nicht die For-
schung. Teleologisch verstehen heißt ja, sich in der Welt schon aus-
kennen. 398
Dass somit die Beweislast eigentlich auf der Seite der Wissenschaft
liegen müsste, dieses Verhältnis aber kontrafaktisch umgedreht ist,
lenkt die Aufmerksamkeit auf die unterschiedlichen Interessen, die
hinter der kausal erklärenden Wissenschaft und dem teleologischen
Denken stehen.
Das eine Interesse, das sich in der »Reduktion unserer Erkennt-
nis der Natur auf deren kausale Erklärung« zeigt, besteht in dem
»Willen zur Naturbeherrschung« 399. Da aufgrund seiner mangelnden
Zuverlässigkeit das teleologische Denken im Sinne des Interesses an
Naturbeherrschung nicht instrumentalisierbar ist, ist das in ihm sich
ausdrückende Interesse von ganz anderer Art, es geht ihm um das
Verstehen der Welt und des eigenen Platzes in ihr, um »oikeiosis, das
Einhausen und Sich-zugehörig-Machen der Welt« 400. Im Sinne der
von Spaemann und Löw mehrfach zitierten aristotelischen Unter-
scheidung von ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ ist das Herrschaftsinteresse
des Menschen ein von ihm gesetzter ›finis quo‹, der Gefahr läuft sich
zu verselbständigen, während es dem Interesse am Verstehen darum
geht, dass beide – ›finis quo‹ und ›finis cuius‹ – in einem harmo-
nischen Verhältnis bleiben. In der gegen die fundamentale Beweis-
lastregel umgekehrten Konstellation von naturwissenschaftlichem
und teleologischem Denken zeigt sich somit ein signifikantes Un-
gleichgewicht der beiden genannten Interessen in der Neuzeit. 401
Allerdings verleihen Spaemann und Löw ihrer Überzeugung Aus-
druck, dass inzwischen die Zeit für eine Wende des Denkens heran-
gereift ist. Die Argumente, die sie hierfür liefern, lassen sich in zwei
Gruppen einteilen, deren erste auf den Menschen als Individuum,
deren zweite auf ihn als Gattungswesen zielt.

398 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 240.


399 Ebd. 236.
400
Ebd. 14.
401 Vgl. Abschnitt 9.3.2, ›Summen‹ der Spaemann’schen Philosophie im Vergleich,

727–744.

277

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Das Interesse an Naturbeherrschung ist für den Menschen nicht


nur legitim, sondern sogar für sein Überleben in der Natur notwen-
dige Voraussetzung.
Aber ist Naturbeherrschung das einzige und das höchste legitime Ziel
des Menschen? Diese Auffassung hätte verhängnisvolle Konsequen-
zen. Sie unterstellt das menschliche Dasein selbst als Mittel dem
Zweck seiner eigenen Erhaltung, und genau dies ist das Wesen des
Nihilismus. Progressive Naturbeherrschung als oberstes Ziel kehrt
sich dann gegen den Menschen selbst. 402
Die Orientierung an der kausalmechanischen Interpretation der Welt
im Sinne des Interesses an Naturbeherrschung muss auf der indivi-
duellen Ebene mit einem hohen Preis bezahlt werden: »Die erste Rate
besteht im Nicht-mehr-verstehen dessen, was in der Natur geschieht,
und die zweite in der Unverständlichkeit des eigenen Wesens«. 403 Erst
wird die Natur als Mechanismus interpretiert und jedes Verstehen
nach Analogie zur menschlichen Selbsterfahrung als Anthropomor-
phismus entlarvt und unterdrückt, danach wird dieses Naturver-
ständnis ausgeweitet auf das eigene Wesen, wobei diese Operation
durch ein Wissenschaftssubjekt durchgeführt wird, das sich von un-
aufhebbaren Dimensionen des Menschlichen – etwa Trieb und Angst
– als einem Anthropomorphismus abzulösen versucht. Nun könnte
diese Konsequenz auf der individuellen Ebene noch als notwendiges
Übel hingenommen werden; eine andere Dimension hat dagegen die
durch den »ökologischen Schock« aufscheinende Konsequenz einer
»tödliche[n] Gefährdung der menschlichen Gattung« 404. Es geht hier
um die Einsicht, dass die »entteleologisierende progressive Natur-
beherrschung […] selbst in bloße Natur« zurückfällt, »wo sie sich
nicht in ein teleologisch bestimmtes Maß eingebettet weiß« 405. Rück-
fall in Natur meint hier die Rücknahme der natürlichen Selbsttrans-
zendenz des Menschen zugunsten einer naturwüchsigen Expansion
des Herrschaftsinteresses, das dann allerdings auf sein verschwinden-
des Subjekt – den Menschen – weiter keine Rücksicht mehr nimmt.
Die ökologische Krise ist ja eine Folge jener explosionsartigen Expan-
sion der menschlichen Naturbeherrschung, die ihre ideologische Seite
im antiteleologischen Denken seit der frühen Neuzeit hat. Hobbes

402 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 235.


403
Ebd. 88.
404 Ebd. 237.
405
Ebd.

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5.2.7 Plädoyer für das teleologische Denken

hatte programmatisch formuliert, daß es für den Menschen kein sum-


mum bonum als Maß gebe, sondern daß grenzenloses Fortschreiten
von Bedürfnis zu Bedürfnis, von Begierde zu Begierde zum Menschen
gehöre. Um dieses grenzenlose Fortschreiten zu ermöglichen, bedarf
es einer wissenschaftlichen Naturbeherrschung, die in der Natur keine
teleologischen Strukturen mehr zur Kenntnis zu nehmen bereit ist. 406
Die ökologische Krise wird also verstanden als Konsequenz der ver-
suchten Emanzipation des menschlichen Herrschaftsinteresses von
seinen eigenen Naturgrundlagen. Das Trügerische dieser Emanzipa-
tion ist in der nicht abstreifbaren Natur des Menschen begründet:
»Der Gedanke einer Befreiung des Menschen durch bloße Natur-
beherrschung verkennt, daß der Mensch selbst ein Stück Natur ist
und daher Naturbeherrschung immer auch Menschenbeherrschung
heißt.« 407 Während auf der individuellen Ebene die Isolation des
Herrschaftsinteresses zu einem inneren Widerspruch führt, der die
psychische Gesundheit des Einzelnen gefährden muss, geht es auf
der Ebene der menschlichen Gattung schlechthin um die Frage nach
deren Überleben:
Die Alternative lautet daher: entweder es gelingt, das Herrschaftsver-
hältnis über die Natur zu integrieren in ein neues, sich erst in vagen
Zügen abzeichnendes Verhältnis von Mensch und Natur, oder der
Mensch selbst wird zu einem Opfer seiner eigenen Naturbeherr-
schung. Entweder wir entschließen uns, die lebendige Natur anthro-
pomorph zu interpretieren, oder wir werden uns selbst zu einem An-
thropomorphismus bzw. zu weltlosen Subjekten, die sich den Boden
unter den Füßen wegziehen. 408
Gegenüber dem argumentativen Patt im Rahmen der theoretischen
Philosophie zeigt sich im praktischen Kontext die Frage nach der Wie-
derbelebung des teleologischen Denkens als Frage nach der Be-
dingung der Möglichkeit des längerfristigen Weiterexistierens der
menschlichen Gattung. Das Plädoyer für das teleologische Denken
ist somit zugleich als ein Plädoyer für die Spezies homo sapiens zu
verstehen.

406
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 238.
407 Ebd. 239.
408
Ebd.

279

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks

Gut zehn Jahre nach der ersten Auflage von »Natürliche Ziele« ver-
öffentlichte Rainer Isak seine an der Theologischen Fakultät Freiburg
angenommene Dissertation unter dem Titel »Evolution ohne Ziel?
Ein interdisziplinärer Forschungsbeitrag«. Die hier im Mittelpunkt
stehende Auseinandersetzung Spaemanns und Löws mit dem teleo-
logischen Denken ist der wesentliche Referenztext der umfangrei-
chen Studie Isaks. In der Einführung wurde angekündigt, 409 dass im
Rahmen des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit Texte der For-
schungsliteratur einbezogen werden, wenn sie im Hinblick auf die
sukzessive Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk
Spaemanns einen Beitrag leisten. Obwohl Isaks Intention in seiner
Auseinandersetzung mit der Studie Spaemanns und Löws überwie-
gend kritischer Natur ist, leistet sie doch, wie im Folgenden gezeigt
werden soll, einen indirekten Beitrag zu dem genannten Ziel. Vorab
sei ein knapper Ausblick auf die geplanten Schritte gegeben: Zunächst
soll der prinzipielle Einwand Isaks gegenüber Spaemann und Löw
referiert und problematisiert werden. Danach wird die Zielsetzung
von Isaks Studie beleuchtet, vor deren Hintergrund seine kritische
Wendung gegen Spaemann und Löw verständlicher wird. In einem
weiteren Schritt wird aus der hier vorgenommenen Deutung von
»Natürliche Ziele« eine Gegenkritik an Isaks Position entwickelt.
Schließlich wird dargelegt, inwiefern ein prinzipielles Missverständ-
nis Isaks in seiner Deutung Spaemanns und Löws einen indirekten
Beitrag zur hier verfolgten Zielsetzung leistet.
Isak wirft Spaemann und Löw in der Entfaltung der antireduk-
tionistischen Programmatik von »Natürliche Ziele« einen »aggres-
siv-verletzenden« 410 Ton vor und bezeichnet sie als »Scharfmacher
[…]« im »Dialog zwischen Naturwissenschaft und Theologie« 411.
Das argumentative Zentrum seiner polemischen Wendung gegen
Spaemann und Löw besteht in der Bestreitung des teleologischen
Phänomens selbst, also eines nicht reduzierbaren Ausseins-auf, das
nicht nur in der Selbsterfahrung gegeben ist, sondern auch in an-
deren Lebewesen wahrgenommen werden kann. Auf die »Frage, ob

409
Vgl. Teilkapitel 1.2, Der Neuansatz im Denken der Begegnung, 36.
410 Isak, Evolution ohne Ziel?, 20, Fn. 28.
411
Ebd. 28, Fn. 74.

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5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks

solche naturwissenschaftlich unerklärbaren Lebensphänomene wirk-


lich existieren« 412, antwortet Isak:
Wir sind der Ansicht, dass diese Frage – mit einer einzigen Einschrän-
kung […] 413 – verneint werden kann und deshalb die meisten Natur-
wissenschaftler zu Recht einen Monismus von Materie und Leben an-
nehmen, indem sie Leben »als eine besondere Organisationsform der
Materie verstehen« […] 414; auch wenn sie in der Tat keine endgültige
Definition von Leben besitzen. 415
Dabei argumentiert Isak vom Standpunkt des Evolutionsprogramms
aus und stellt gegenüber Spaemann und Löw kritisch fest, dass der
»Versuch der Rehabilitierung einer (aristotelisch-scholastischen) Na-
turteleologie und eines hierauf gründenden Verständnisses mensch-
licher Sittlichkeit […] mit der naturwissenschaftlichen Deutung der
Evolution unverträglich« 416 ist. Wenn man diese Antwort Isaks auf
die gestellte Frage zur Kenntnis nimmt, sollte man erwarten, dass die
Auseinandersetzung mit Spaemann und Löw damit beendet ist, baut
doch deren gesamte Studie darauf auf, dass der Behauptung eines
solchen Phänomens etwas in der Wirklichkeit entspricht. 417 Aus-
gehend von der verneinenden Antwort wäre »Natürliche Ziele«
allenfalls als Musterbeispiel metaphysischen Denkens zu charakteri-
sieren, das es erlaubt, eine umfangreiche Studie auf dem aufzubauen,
was es gar nicht gibt. Überraschenderweise ist jedoch trotz dieses
prinzipiellen Dissenses Isaks Studie in weiten Teilen der Auseinan-
dersetzung mit den Argumentationen Spaemanns und Löws im De-
tail gewidmet. Schon formal fällt die abundante Verwendung des
Konjunktivs I in der Wiedergabe ihrer Gedanken und die anschlie-
ßenden Floskeln der Distanzierung von ihnen auf. Um die Frage be-
antworten zu können, warum Isak sich mit einer scheinbar prinzipiell

412 Isak, Evolution ohne Ziel?, 214.


413
Isak verweist an dieser Stelle auf eine andere Textpassage seiner Studie (Abschnitt
5.2.2.4 »Subjektivität und Leben«), in der von der Subjektivität als dieser Einschrän-
kung die Rede ist.
414 Isak verweist auf: Eigen/Winkler 1973/1974: 54.

415 Ebd. 215.

416 Ebd. 29.

417 Vgl.: »Die Auseinandersetzung um die teleologische oder ateleologische Verfas-

sung des Natürlichen ist somit für Spaemann keine akademische Frage, sondern be-
trifft eine Grundentscheidung über den Zugang zur Wirklichkeit und den Fortbestand
des Humanum.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 259.

281

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

abgelehnten Position so eingehend auseinandersetzt, soll nun ein


Blick auf seine eigene Verortung im Spannungsfeld zwischen Teleo-
logie und Evolutionismus geworfen werden.
Das Ziel Isaks, zu dem er durch seine Studie den Weg freilegen
will, besteht darin, einen »wirklichen Dialog« zu ermöglichen »zwi-
schen Theologie und ›Evolutionismus‹« 418. Es geht ihm in letzter
Konsequenz um einen Ausgleich zwischen dem Glauben und der Na-
turwissenschaft. Der Weg zu diesem Ziel umfasst drei wesentliche
Etappen. 419 Erstens verteidigt Isak das von Spaemann und Löw in
»Natürliche Ziele« angegriffene Evolutionsprogramm, wobei er sich
die argumentative Struktur von jenen vorgeben lässt und seinen Bei-
trag als »Gegenkritik« 420 konzipiert. Indem minutiös die von Spae-
mann und Löw problematisierten Begriffe und Argumentationswei-
sen der antiteleologischen Naturwissenschaft auf der Grundlage des
zitierten prinzipiellen Einwandes, dass es das teleologische Phänomen
gar nicht gibt, verteidigt werden, wird zugleich das Programm des
naturwissenschaftlichen Antiteleologismus von Isak rekapituliert.
Zweitens nimmt Isak bestimmte Aspekte der antireduktionistischen
Argumentation Spaemanns und Löws aus seiner Kritik aus. Es geht
dabei konkret um die Begriffe ›Freiheit‹, ›Innerlichkeit‹ und ›Subjek-
tivität‹. Zum ersten Begriff bemerkt Isak: »Freiheit ist auch für uns in
einer nichtanthropomorphen objektiv-naturwissenschaftlichen Wei-
se, die von jeder Eigenerfahrung des Menschen zu abstrahieren ver-
sucht, nicht darstellbar.« 421 Mit dem Begriff der Freiheit hängen auch
die beiden anderen Begriffe zusammen, von denen Isak sagt: »Doch
allein dieses Lebensphänomen […] erscheint uns prinzipiell durch
naturwissenschaftliche Beschreibungen uneinholbar […].« 422 Dass
Isak in diesen Aspekten mit Spaemann und Löw übereinstimmt, steht
für ihn jedoch nicht im Widerspruch zu seinem Plädoyer für den
Evolutionismus. Indem er ›Freiheit‹, ›Innerlichkeit‹ und ›Subjektivi-
tät‹ vom Begriff des Lebens abhebt, hält er an einer reduktionisti-
schen Sichtweise fest, in der lediglich diese spezifisch menschlichen
Aspekte des Lebensvollzugs ausgeklammert sind:

418 Isak, Evolution ohne Ziel?, 21.


419 Bei diesen Etappen handelt es sich um dominierende Argumentationsstränge
Isaks, ohne dass diese sukzessive abgearbeitet werden würden.
420
Ebd. 20, Fn. 28.
421 Ebd. 116.

422
Ebd. 218.

282

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5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks

Dadurch aber wird Leben naturwissenschaftlich rekonstruierbar. Der


Hyperzyklus ist damit mehr als nur notwendige Bedingung von Le-
ben. Wir halten die naturwissenschaftliche Unerklärbarkeit von Inner-
lichkeit aus diesem Grund auch nicht für einen prinzipiellen Einwand
gegen die evolutionistische Annahme einer natürlichen Entstehung
des Lebens […], denn Leben gibt es auch ohne Innerlichkeit. 423
Somit öffnet sich in der Sicht Isaks drittens ein Bereich, für den die
Naturwissenschaft keine Zuständigkeit beanspruchen kann und den
sie daher der Theologie überlassen muss. In diesem Zusammenhang
beruft Isak sich auf den Physiker und Genetiker Carsten Bresch
(* 1921), der »einen ›Auftrag‹ […] 424 in der Evolution entdecken zu
können« 425 meinte, insofern sie auf den »Zusammenschluß der Men-
schen zur einen Menschheit« 426, dem »Monon« 427, zusteuere. Die
Verbindung von Naturwissenschaft und Theologie treibt Isak dabei
so weit, dass er schließlich »Evolution als kontinuierliche Neuschöp-
fung« 428 bezeichnet: »Man könnte theologisch von permanenter
Schöpfung (creatio continua) sprechen und die ›Evolution‹ als den
›‘Augenblick’ der Schöpfung‹ […] 429 bezeichnen.« 430 Im Rahmen die-
ses Programms einer Synthese von Evolution und Schöpfung 431 wird
mit Bresch Gott als ›Alpha‹ und das Ziel der Evolution als ›Omega‹

423 Isak, Evolution ohne Ziel?, 221–222.


424 Isak verweist hier auf die Publikation Breschs aus dem Jahre 1977: Zwischenstufe
Leben. Evolution ohne Ziel? München: Piper 1977. – Bresch schreibt dort: »Die Zu-
kunft der so kindhaft hilflosen Menschheit / ist in unsere Hände gelegt. / Wir müssen
ihr helfen, sehen zu lernen. / DAS IST DER AUFTRAG.« – Bresch, Zwischenstufe
Leben, 297.
425 Ebd. 244.

426 Ebd. 254.

427 Ebd. 252. – Vgl.: »Wissenschaftlich formuliert ist das Monon das Resultat der

abschließenden, alles-umfassenden Integration der Evolution eines Planeten. Das


Monon ist ein gigantisches, historisch gewachsenes Muster, aufgebaut auf biologisch-
organisierter Materie. Es ist eine überindividuelle Ganzheit, deren Organe (Teilmus-
ter) untereinander und zum Ganzen in kooperativer Beziehung stehen. Alle Aktivitä-
ten im Innern und nach außen sind unter der Kontrolle eines kohärenten Netzwerks
intellektueller Information.« – Bresch, Zwischenstufe Leben, 261.
428 Isak, Evolution ohne Ziel?, 354.

429 Isak verweist hier auf: H. v. Ditfurth, Evolutionäres Weltbild und theologische

Verkündigung. In: Riedl, Rupert J.; Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschen-
bild. Hamburg: Hoffmann und Campe, 1983, S. 244–263, hier: 256.
430 Ebd. 355.

431
Vgl. ebd. 357.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

bezeichnet. 432 Es geht Isak damit um eine Art ›Bündnis‹ zwischen der
reduktionistischen Naturwissenschaft und der theologischen Welt-
sicht. Letztere verzichtet darauf, basale Dogmen der Naturwissen-
schaft wie das Evolutionsprogramm in Frage zu stellen, als Gegenleis-
tung erbittet sie sich von der Naturwissenschaft, dass sie im Bereich
ihrer blinden Flecke – Freiheit, Innerlichkeit, Subjektivität – der
Theologie das Feld überlässt. Gewissermaßen durch die Hintertür re-
habilitiert Isak somit wieder das teleologische Denken, das er zu-
nächst bekämpft hat. Wohl nur aus diesem Zusammenhang heraus
ist erklärbar, wie sich Isaks polemische Haltung gegenüber Spaemann
und Löw mit der kontinuierlichen Bezugnahme auf ihre Argumenta-
tionen vereinbaren lässt.
Versuchte man aus der Gedankenführung Spaemanns und Löws
in »Natürliche Ziele« eine mögliche Erwiderung auf diesen Vorschlag
einer Synthese von Evolution und Schöpfung zu entwickeln, so dürf-
ten zwei Aspekte unverzichtbar sein. Der erste ergibt sich aus Isaks
prinzipiellem Einwand bzw. aus der oben hervorgehobenen zentralen
Bedeutung des teleologischen Phänomens für Spaemann und Löw.
Isak stellt die »Frage, ab welcher Entwicklungshöhe Subjektivität auf-
tritt: Ab wann ›sich mit gutem Grund ein Strich ziehen‹ läßt ›mit
einem ‘Null’ an Innerlichkeit auf der uns abgekehrten Seite und
dem beginnenden ‘Eins’ auf der uns zugekehrten‹ 433« 434. Isak zieht
diesen Strich, so muss man schließen, jenseits normal entwickelter
erwachsener Exemplare der Spezies homo sapiens. Wenn dagegen
mit Spaemann und Löw bewusstes menschliches Leben als Steige-
rung einer naturteleologischen Anlage verstanden wird, die ebenso
in anderen Lebewesen, auch solchen ohne bewussten Lebensvollzug,
anerkannt wird, so wird dieser Strich, falls er überhaupt gezogen wer-
den kann, nur das ausgrenzen können, was keinerlei Lebensregungen
erkennen lässt. Der zweite Aspekt ergibt sich aus dem haltlosen
Schwanken der Argumentationen Isaks zwischen einem monisti-
schen und einem dualistischen Standpunkt. Einerseits spricht Isak
von einem »Monismus von Materie und Leben« 435, gegen den die
Anerkennung von Subjektivität keinen Einwand darstelle: »Denn

432 Vgl. Isak, Evolution ohne Ziel?, 374. – Isak bezieht sich hier auf das Schlusskapitel
»Epilog – jenseits von Wissenschaft« in: Bresch, Zwischenstufe Leben, 295–299.
433 Isak verweist hier auf: H. Jonas, Organismus und Freiheit: Ansätze zu einer phi-

losophischen Biologie. Göttingen: Vandenhœck & Ruprecht, 1973, 84.


434 Isak, Evolution ohne Ziel?, 221.

435
Ebd. 215.

284

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5.2.8 Der Einwand Rainer Isaks

die evolutionäre Entstehung von Bewußtsein und Subjektivität stellt


deren Existenz auch im Falle eines strengen Monismus von Leib und
Materie nicht in Frage.« 436 Andererseits spricht Isak im Hinblick auf
seinen Begriff der Subjektivität selbst von einem »gemäßigte[n] Dua-
lismus« und nennt ihn »die einzige mit den modernen naturwissen-
schaftlichen Erkenntnissen vereinbare dualistische Deutung des
Geist-Materie-Problems« 437. Im hier betrachteten Abschnitt der Ent-
wicklung von Spaemanns Denken deutet sich – sowohl in der Aus-
einandersetzung mit Rousseau als auch in der Untersuchung des
teleologischen Denkens – die These an, die Spaemann dann in den
80er Jahren entfalten wird, wonach der Dualismus eines reduktionis-
tischen Naturalismus und eines weltlosen Spiritualismus als Zer-
fallsprodukt der neuzeitlichen Entteleologisierung gefasst werden
muss. 438 Demnach ist der innere Widerspruch, in den Isak sich in
seiner Argumentation verstrickt, eine notwendige Folge derselben
und nicht auflösbar ohne den Versuch einer Wiederbelebung des
teleologischen Denkens.
Abschließend soll nun, wie eingangs angekündigt, erläutert wer-
den, inwiefern der knapp referierte Einwand Isaks gegen »Natürliche
Ziele« doch einen Beitrag im Rahmen der Untersuchung der sukzes-
siven Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert
Spaemanns leisten kann. Dazu muss die Aufmerksamkeit auf ein
prinzipielles Missverständnis der von Spaemann und Löw in »Natür-
liche Ziele« verfolgten Absicht gelenkt werden. Isak erwartet von der
Studie einen »klärenden Beitrag zur genaueren Charakterisierung
dessen, was die beiden Autoren unter der ›Wiederentdeckung des te-
leologischen Denkens‹, von der sie in den letzten beiden Kapiteln
ihres Buches sprechen, verstehen« 439, und gelangt zu der enttäusch-
ten Feststellung: »So bleibt es nach der Lektüre ihres Buches dem
Leser weitgehend unklar, wo innerhalb der recht heterogenen Teleo-
logieentwürfe der Philosophiegeschichte […] sich die beiden Autoren
selbst einordnen würden.« 440 Isak übersieht hierbei, dass es Spae-
mann und Löw in »Natürliche Ziele« nicht um eine bestimmte Teleo-
logiekonzeption geht, sondern um das teleologische Phänomen selbst,

436 Isak, Evolution ohne Ziel?, 229.


437 Ebd. 234.
438 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.
439 Isak, Evolution ohne Ziel?, 53.

440
Ebd.

285

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

das in der Neuzeit philosophisch heimatlos geworden ist. 441 Das Ne-
beneinander des in der Selbsterfahrung gegebenen Phänomens und
dieser historischen Faktizität liefert erst die Motivation zum philoso-
phiegeschichtlichen Projekt der Untersuchung der Formen des teleo-
logischen Denkens. Wie hier gesehen wurde, ist die aristotelische Fas-
sung eine gültige, uns aber unzugängliche; Thomas’ Versuch einer
neuzeitlichen Transformation aber ebnete durch ihre theologischen
Implikationen gerade den Weg zur Entteleologisierung. Eine aktuali-
sierte neuzeitliche Teleologiekonzeption, die zwischen der aristote-
lischen und der thomasischen Konzeption erfolgreich vermitteln wür-
de, gibt es somit noch nicht. Die Studie von Spaemann und Löw gibt
also keine Antwort, sondern wirft eine Frage auf und leistet ihr Mög-
liches zu deren Konkretisierung. Die im Rahmen des zweiten Teils
dieser Arbeit verfolgte These besteht darin, dass die gesuchte Aktua-
lisierung des teleologischen Denkens als das Projekt der Philosophie
Spaemanns überhaupt betrachtet werden kann und dass Spaemann
eine Antwort auf diese Frage erst in seinen späteren Hauptwerken
»Glück und Wohlwollen« und vor allem »Personen« entwickelt hat.
Erst von deren Reflexionsniveau aus kann von einem klärenden Bei-
trag zur genaueren Charakterisierung dieses Denkens gesprochen
werden. Isak dagegen trägt schon an die Eruierung der Rahmenbedin-
gungen einer möglichen Aktualisierung in »Natürliche Ziele« einen
Anspruch heran, der in ihr nicht erfüllt werden konnte, verhilft damit
aber im Rahmen dieser Untersuchung dazu, nun abschließend die
Aufmerksamkeit auf die wesentlichen offenen Fragen richten zu kön-
nen, die für die weitere Betrachtung von Spaemanns Werk entschei-
dend sein werden.

5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung

Zum Abschluss der Auseinandersetzung mit Spaemanns frühem


Hauptwerk »Natürliche Ziele« soll zunächst im Sinne der aus Isaks
Einwand gewonnenen Schlussfolgerung das Programm der Gegen-

441 Vgl. »Eine solche Erneuerung der Ontologie als Einzelteleologie ist keine Wieder-

belebung einer bestimmten Tradition, sondern ein notwendiger Versuch, die Errun-
genschaften der über sich noch nicht genügend aufgeklärten Aufklärung zu retten,
deren ›Unaufgeklärtsein‹ an den Krisen des Personbegriffs bzw. der Trennung von
Person und Natur besonders deutlich wird.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegen-
wart, 549.

286

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.
5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung

kritik am Antiteleologismus skizziert werden. Diese Überlegungen


werden noch einmal zur Frage der Bindung der Naturteleologie an
das Bewusstsein und zur Hypothese eines im Bewusstsein gegebenen
Präreflexiven führen, das nur anerkannt werden kann. Ausgehend
vom Begriff der Anerkennung wird abschließend die Bedeutung des
Unbedingten für das teleologische Denken und die weitere Entfaltung
von Spaemanns Philosophieren thematisiert.
Die Auseinandersetzung mit den Umbildungen des teleologi-
schen Denkens legte Formen der abstrakten Isolierung des Finalnexus
– Universalteleologie und invertierte Teleologie – frei, wie auf der
anderen Seite in der Auseinandersetzung mit dem modernen natur-
wissenschaftlichen Denken eine abstrakte Isolierung des Kausalnexus
beobachtet wurde. Die von Spaemann und Löw intendierte Wieder-
belebung der Teleologie kann in dieser Antinomie nicht votieren, son-
dern muss von einer anderen Ebene ausgehen: »Unsere Gegenkritik
soll gerade jene ›Negation der Negation‹ darstellen, welche Kausal-
nexus und Finalnexus als zwei Seiten in ihrer Wahrheit in sich
aufgehoben enthält. Falsch werden diese, wenn man sie abstrakt
auseinander- und gegeneinanderhält, als isolierte für das Ganze
nimmt.« 442 Was bedeutet »Negation der Negation« als Programm
dieser Gegenkritik? Der Antiteleologismus negiert zunächst eine uni-
versal ausgeweitete Finaldetermination – die schon im stoischen
Gedanken eines »Weltschauspiels« 443 den impliziten Bezug auf ein
beobachtendes Bewusstsein enthält – durch die konsequente Rück-
führung auf ein Subjekt, das einem durchgängig kausal organisierten
Weltmechanismus gegenübergestellt ist. Als erste Negation erscheint
somit die Transformation der Universalteleologie in moderne Sub-
jektphilosophie im Zuge der Ersetzung des Final- durch den Kausal-
nexus. Eine Negation dieser Negation muss das ›ich denke‹ als Aus-
gangspunkt der Subjektphilosophie selbst noch einmal auf seine
Fundierung befragen. Ein solcher Rückgang hinter das Subjekt war
ein zentrales Thema der philosophiegeschichtlichen Untersuchung
des teleologischen Denkens, insofern von Aristoteles gerade das un-
bewusste Wirken der natürlichen Ziele betont wurde, ihre Verbin-
dung mit dem Bewusstsein Gottes bei Thomas dagegen als Voraus-
setzung der Entteleologisierung benannt worden ist. Die Frage nach
der Abhängigkeit der natürlichen Ziele vom Bewusstsein bzw. die

442 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 225–226.


443
Ebd. 67.

287

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Frage, ob der Begriff des Zweckes bzw. Zieles abgegrenzt werden kann
gegenüber intentionalen Begriffen wie Absicht oder Motiv, hat sich
als die entscheidende Frage in der Kontroverse um die Berechtigung
des teleologischen Denkens erwiesen. »Das stärkste antiteleologische
Argument beruht auf der Verwechslung von Vorsatz und Zweck« 444,
insofern die Behauptung von Naturzwecken gleichgesetzt wird mit
der anthropomorphistischen Übertragung menschlicher Handlungs-
zwecke in den Bereich der Natur. Ein zentrales Argument Spaemanns
und Löws für die Naturteleologie ist die ursprünglich aristotelische
These des unbewussten Wirkens der Naturzwecke, das zuerst im
eigenen Lebensvollzug erfahrbar ist:
Die menschliche Zwecksetzung als einziges Beispiel für zielorientierte
Prozesse zuzulassen, ist zwar moderner wissenschaftlicher common
sense; es ist dennoch falsch. Wir können Zwecke überhaupt nur setzen
unter der Voraussetzung, daß wir vor der Zwecksetzung schon etwas
wollen, und zwar etwas, was wir nicht setzen. Ich kann gar nicht wol-
len, wenn ich mich nicht immer schon wollend vorfinde. Und dieses
primäre Wollen, der primäre Antrieb, bestimmte Zwecke zu setzen, ist
selber nicht von der Art des Setzens, sondern von der Erfahrung eines
dringenden Sollens. 445
Die Unterscheidung eines primären Wollens von bewussten Zweck-
setzungen, die an die aristotelische Differenzierung von ›finis cuius‹
und ›finis quo‹ anknüpft 446, zeugt von einer Distanz des Menschen zu
seiner Natur, die anderen Lebewesen nicht gegeben ist. Die Erfahrung
des »organischen Sollens« 447 teilt der Mensch mit anderen Lebe-
wesen, aber beim Sprechen über diese Gemeinsamkeit ergibt sich
stets eine terminologische Schwierigkeit, insofern hier Begriffe an
etwas sich der begrifflichen Erfassung Entziehendes herangetragen
werden:
Das Sollen zeigt das Ziel nur an, auf welches – in Zwecke transformiert
– hin Dinge als Mittel zu seiner Realisierung ergriffen werden sollen.
Aber in diesem Anzeigen ist das Ziel selbst präsent, es ist nur noch
nicht als Zweck ausgeführt. Zweck und Mittel zeigen das begriffliche
Auseinandertreten einer Einheit an, welche das Lebewesen nicht nur

444 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 218.


445 Ebd. 35.
446
Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Prä-
zision, 231–233.
447
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 219.

288

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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung

kennzeichnet, sondern welche das Lebewesen ist. Man könnte sagen,


Tier und Pflanze verhalten sich zu ihren Zielen unmittelbar. Wenn wir
freilich sagen, daß sie sich unmittelbar verhalten, schreiben wir ihnen
etwas zu, was wir an uns selbst erst begriffen haben, als es nicht mehr
»unmittelbar« war. Die nachträgliche Reflexion versichert der vergan-
genen Einheit Unmittelbarkeit: aber als reflektierte ist sie nicht mehr
unmittelbar. 448
Die prinzipielle Schwierigkeit, mit der jeder Versuch einer Wiederbe-
lebung des teleologischen Denkens unter der neuzeitlichen Bedin-
gung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt konfrontiert ist und
die einen schweren Nachteil im Diskurs mit dem Antiteleologismus
einbringt, besteht darin, dass das Wirken natürlicher Ziele – das pri-
märe Wollen – dem denkenden Wesen Mensch zunächst in der
Selbsterfahrung gegeben ist und dass sein Zugang zu dem vor der
Reflexion liegenden Phänomen, um das es geht, ihm immer schon in
begrifflicher Vermittlung gegeben ist, so dass der Begriff der Unmit-
telbarkeit erst dann leisten kann, was er soll, wenn sein Anspruch,
etwas Vorbegriffliches zu bezeichnen, anerkannt wird. Die Fundie-
rung des Bewusstseins kann nicht aus dem Bewusstsein deduziert
werden. Erst durch die Anerkennung der präreflexiven Fundierung
gewinnt die Unterscheidung zwischen primären Zielen und sekundä-
ren, gesetzten Zwecken prinzipielle Bedeutung. Aus ihr folgt dann
auch die Anerkennung von Grenzen möglicher Zwecksetzungen für
ein natürliches Wesen, die in dem Sinne zu einer »›Finalisierung‹ der
Wissenschaft« führt, als sie »wie alle menschliche Tätigkeit unter
einem Ziel, einem ›Um … willen‹ als ihrer einschränkenden Bedin-
gung steht« 449. Das mit dem Begriff der Anerkennung bezeichnete
Verhältnis zu einem Präreflexiven wird ein zentrales Thema der wei-
teren Entwicklung von Spaemanns Philosophieren sein, insofern in
ihm nach der Möglichkeit der Vermittlung des sich uns in uns Ent-
ziehenden mit dem philosophischen Denken gefragt werden wird.
Eng verbunden mit dem Problem der Anerkennung ist das The-
ma des Unbedingten. Anerkennung bedeutet negativ Verzicht auf
kausale Erklärung, auf Einfügung in den homogenen subjektiven
Horizont einer Welterklärung, auf Unterjochung. Positiv bedeutet
Anerkennung das Zugeständnis, dass Selbstsein einen konstitutiven

448 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 219.


449
Ebd. 221.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Gehalt hat, der sich meinem Horizont entzieht, dass in ihm etwas
Unbedingtes anerkannt werden muss:
Der ontologische Status der Teleologie, die teleologische Deutung des
teleonomischen Phänomens entscheidet sich an der Frage nach dem
Unbedingten. Denn jede Zielgerichtetheit, die nur als immanentes Or-
ganisationsprinzip eines komplexen Materiezustandes verstanden
wird, so daß das Wort »gut« nur eine Relation bestimmter partieller
Zustände zu diesem Organisationsprinzip meint, ist dem kausalen Re-
duktionismus ausgeliefert. 450
Teleologie im eigentlichen Sinne ist immer eine »die bloße Selbst-
erhaltung transzendierende« 451, woraus sich die entscheidende Frage
nach dem Worauf dieser Selbsttranszendenz ergibt. Für eine nicht
invertierte Teleologie ist das Ziel nicht das nackte Leben, die Selbst-
erhaltung, sondern das gute Leben, insofern es jeweils »Ereignisse
und Zustände gibt, die besser sind als andere Ereignisse und Zu-
stände« 452. Die Unterordnung des Guten unter das Bessere führt aber
letztlich zur problematischen Frage nach dem ›finis cuius‹ der Selbst-
erhaltung, die Aristoteles mit dem Gedanken der μέθεξις, der Teil-
habe am Göttlichen, beantwortet hat 453:
Die Kategorie der Darstellung, der repraesentatio, ist die Weise, wie
die platonisch-aristotelische Tradition die »absolute Teleologie« zur
Sprache brachte. Sagen, daß etwas »zur Ehre Gottes« existiert, heißt
ja nicht, es als Mittel einem äußeren Zweck unterordnen, denn nie-
mand war ja der Meinung, es handle sich hier um ein zweckrationales
Maximierungsprogramm. Es heißt vielmehr, daß es in einem absolu-
teren Sinne Selbstzweck ist, als wenn es nur »um seiner selbst willen«
existierte, also nur »für sich« oder »für anderes«, nicht aber »an sich
selbst« wertvoll, ein »Gut« wäre. 454
Teleologisches Denken kann also nicht ›bei sich‹ bleiben, sondern ist
gezwungen eine Sprache zu sprechen, in der »Worte wie ›göttlich‹
und ›heilig‹ vorkommen« 455. Ohne diesen konstitutiven Bezug auf
das Unbedingte degeneriert es:

450 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 242.


451 Ebd. 245.
452 Ebd. 243.

453 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-

sion, 233, Fn. 104.


454 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 245.

455
Ebd. 243.

290

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5.2.9 Versuch einer Schlussfolgerung

Wir haben gesehen, was folgt, wenn Teleologie zur obersten Kategorie
wird, wenn sie nicht in so etwas wie Sinn übergeht. Sie invertiert dann
zur bloßen Selbsterhaltungsteleologie, die entweder in einer schopen-
hauerschen Metaphysik des Absurden als das zu Überwindende ver-
standen wird, oder aber sie löst sich in teleologischen Schein, in Teleo-
nomie auf. 456
Selbstsein als teleologisches Verfasstsein ist Symbolisierung des Un-
bedingten. 457 Jedes Sprechen darüber führt »an die Grenze des sprach-
lich Vermittelbaren« 458. Das zweite zentrale Thema, das sich somit
neben dem der Anerkennung aus dem Programm der Gegenkritik
am Antiteleologismus ergibt, ist die Frage der philosophischen Fas-
sung des Unbedingten. Spaemann liegt eine unkritische Vermischung
von Theologie und Philosophie, wie sie von Isak betrieben wird, fern.
Welche genuin philosophischen Wege zu einer Annäherung an das
Unbedingte führen können, soll im abschließenden Teilkapitel be-
trachtet werden.

456
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247.
457 Vgl. ebd. 246.
458
Ebd. 245.

291

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5.3 Zugänge zum Absoluten

Wenn es abschließend um Zugänge zum Absoluten gehen soll, muss


vorab gezeigt werden, inwiefern Spaemanns Philosophieverständnis
selbst einen konstitutiven Bezug auf das Absolute immer schon vo-
raussetzt. In dem aus dem Jahre 1981 stammenden Vortrag »Die kon-
troverse Natur der Philosophie« wendet Spaemann die philosophi-
sche Reflexion auf die innere Struktur des Denkens selbst:
Jede mögliche Antwort auf eine Frage setzt einen Horizont von Unge-
sagtem voraus, einen Horizont von Selbstverständlichem, das in dieser
Frage gerade nicht in Frage steht. Die Reflexion kann dieses themati-
sieren. Die Unendlichkeit solcher Reflexion ist für das Denken konsti-
tutiv. Platon sagt deshalb, daß man über das, was selbst nicht mehr
Gegenstand innerhalb eines Horizontes ist, sondern dieser selbst ist –
er nannte es das Gute – gar nicht reden, sondern nur an den Punkt
führen könne, wo man es ohne Worte versteht. 1
Für jede mögliche Reflexion gilt also einerseits, dass sie auf nicht
thematisierten Voraussetzungen aufbaut, andererseits ist sie in der
Lage, durch sukzessive Horizontverschiebung jeden zunächst still-
schweigend vorausgesetzten Horizont zu thematisieren. Die spezi-
fisch philosophische Reflexion hebt Spaemann von dieser potentiell
unendlichen Denkbewegung dadurch ab, dass sie eine Metareflexion
dieser Denkbewegung ist, die sich gleichwohl im selben Medium wie
die erste Reflexion bewegen muss und daher den Bedingungen des
Diskurses ausgesetzt ist.
Die Reflexion ist älter und universeller als die Philosophie. Die Phi-
losophie beginnt bei Platon damit, daß die Reflexion, insofern sie na-
turwüchsig aufbricht und das κοινόν, das stillschweigend Gemein-
same auflöst, noch einmal zum Gegenstand einer zweiten Reflexion
gemacht und kritisch distanziert wird. […] Die Reflexion auf die Not-
wendigkeit des Selbstverständlichen, die reflektierte Wiederherstel-
lung von Unmittelbarkeit ist selbst nicht selbstverständlich, sondern
eine kontroverse Position, jedenfalls solange sie in Reden besteht, d. h.,
solange ihre Position eine theoretische ist und mit dem Willen auftritt,
argumentativ zu überzeugen. 2

1 Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie (1981), 114–115.


2
Ebd. 116.

292

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5.3 Zugänge zum Absoluten

Man muss sich klar machen, dass Spaemann hiermit im Rahmen


eines Vortrags über die kontroverse Natur der Philosophie seinerseits
wiederum eine kontroverse Position vertritt, insofern er ein aus-
gesprochen emphatisches Philosophieverständnis – als Frage nach
der ἀρχή 3 – zum Ausdruck bringt. Die Philosophie thematisiert als
Metareflexion den Horizont des Selbstverständlichen, nicht um ihn
durch Horizontverschiebung aufzulösen wie die erste Reflexion, son-
dern um auf ihn als das Selbstverständliche zu zeigen. Zwar ist die
Philosophie als Metareflexion nicht davor gefeit, von einer weiteren
Reflexion wieder aufgehoben zu werden, worin sich nur die Un-
abschließbarkeit des philosophischen Diskurses zeigt; mit »ihrem
Ideal der Entdeckung dessen, was sich von selbst versteht« 4, ist jedoch
der Anspruch verbunden, als Metareflexion in einem Bezug zum Ab-
soluten zu stehen, der der ersten Reflexion prinzipiell unzugänglich
ist, und somit die Bewegung der Reflexion aufhalten zu können.
Kehrseite dieses emphatischen Philosophieverständnisses ist, dass sie
für kein bestimmtes Interesse vereinnahmbar ist, weil für sie der ab-
solute Bezug konstitutiv ist.
Darum ist der Philosoph in ideologischen Auseinandersetzungen
immer nur zeitweise brauchbar. Seine ideologiekritische Tendenz kann
zeitweise mit der Tendenz einer ideologischen Position konvergieren,
aber er ist kein unzuverlässiger Bundesgenosse, weil sein Interesse ein
anderes ist. Er ist gewissermaßen naiv und meint wirklich, was alle
sagen, daß es nämlich um das Wahre und Gerechte, also um das Ge-
meinsame geht. 5
Der Bezug auf das Absolute ist in diesem Philosophieverständnis also
vorausgesetzt als negative Bedingung der Möglichkeit, zu einem
Denken zu gelangen, das nicht der endlosen Iteration von Reflexions-
bewegungen ausgesetzt ist. Im Folgenden sollen konkrete Zugänge
zum Absoluten thematisiert werden, die Spaemann in den Schriften
zwischen 1964 und 1981 erschlossen hat.

3 Vgl. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81.


4 Spaemann, Die kontroverse Natur der Philosophie (1981), 116.
5 Ebd. 124. – Dass Spaemanns emphatischer Philosophiebegriff mit seiner christlich-

religiösen Grundhaltung korreliert, wird daran deutlich, dass er an anderer Stelle die
besagte ideologische Unzuverlässigkeit als Kennzeichen von Christen beschreibt.
Siehe den Abschnitt »Der Ideologieverdacht der Christen« in: Spaemann, Ethische
Aspekte der Energiepolitik (1980), 52–53.

293

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Den ersten Zugang bildet eine geschichtsphilosophische Reflexi-


on, in der vor dem Hintergrund der klassischen antiken Philosophie
das neuzeitliche Denken unter dem Vorzeichen einer Entzweiung ge-
deutet wird, für die der Bezug zum Absoluten – und sei es der fehlen-
de – konstitutiv ist. Hier geht es sowohl um negative Erscheinungs-
formen des Absoluten als auch um die Frage nach einer möglichen
Überwindung dieser Negativität. Im Mittelpunkt stehen hier Texte
Spaemanns aus dem 1977 veröffentlichten Band »Einsprüche. Christ-
liche Reden« 6 (5.3.1). Den zweiten Zugang bildet eine ethische Refle-
xion, in der sich auf verschiedenen Wegen Bezüge zum Absoluten
ergeben. Zum einen führt die Frage nach möglicher praktischer Ge-
wissheit zum Gedanken der Gründung des Ethischen in einem Un-
vordenklichen und damit erneut zur Frage nach einem möglichen
Zugang zu einem Negativen (5.3.2); zum anderen führt die Reflexion
der Krisen der Gegenwart zur Frage nach der Erneuerbarkeit des
Naturrechts und damit zur Auffassung der Natur als absolutem Maß-
stab (5.3.3).

5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

In der 1964 unter dem Titel »Theologie und Pädagogik« veröffent-


lichten Festschrift für Karl Rahner geht es nur indirekt um Philoso-
phie und im Wesentlichen um die Frage, woraus eine Orientierung
für pädagogisches Handeln gewonnen werden kann. Der Text ist wohl
zu sehen im Zusammenhang mit den Studien über Fénelon, in denen,
wie gesehen wurde, die mit der Überwindung der Reflexion gegebene
Abwertung der Philosophie durch Spaemanns Weise der philosophi-
schen Betrachtung dieses Vorgangs kompensiert wurde. Auf ähnliche
Weise ist auch dieser Text philosophisch ergiebig, wenn die Gedan-
kenführung zum Thema der Orientierung pädagogischen Handelns
als existenzphilosophische Positionierung verstanden wird. Spae-
mann geht hier in seinen Überlegungen aus von dem Anspruch, der
von Platon für die Philosophie und die Philosophen erhoben wird:
Sie sollen allein befugt sein, den Staat zu regieren, die Erziehung zu
leiten und die Maßstäbe für die Beurteilung aller kulturellen Betäti-

6
Vgl.: »It would be entirely wrong to read these theological and religious writings as
mere by-products of his philosophy or as independent of his philosophical thought.« –
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 238.

294

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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

gungen zu formulieren. Und zwar deshalb, weil sie allein imstande


sind, sich über das eigene Meinen zu erheben und des an sich Wahren
ansichtig zu werden. Die Wahrheit selbst ist es, die durch sie hindurch
regieren und das ganze Leben, vor allem aber die Erziehung normieren
soll. Die Philosophie ist das Organ dieser Wahrheit. 7
Da ein solcher Anspruch von der neuzeitlichen Subjektphilosophie
nicht mehr vertreten werden kann, stellt sich die Frage, worin unter
neuzeitlichen Bedingungen dieses Organ der Wahrheit gesehen wer-
den kann. Im Sinne des Diktums ›philosophia ancilla theologiae‹ wäre
es naheliegend, dieses Organ nun in der Wissenschaft von Gott zu
sehen. Das, so Spaemann, ist aber nicht der Fall:
Der Theologe ist nicht der, der das weiß, was der einfache Gläubige
bloß glaubt. Er steht vielmehr wie jeder Gläubige glaubend dem ge-
genüber, der allein den Vater gesehen und uns Kunde von ihm ge-
bracht hat (Jo 1,18). Das »Selig, die nicht sehen und doch glauben« gilt
prinzipiell für ihn wie für jeden Gläubigen. Wissenschaftstheoretisch
gesehen steht so die Theologie durchaus auf einer niedrigeren Stufe
als die Philosophie, als die Metaphysik, die ihre eigenen Axiome be-
gründet. Die Theologie vermag ihre Axiome nicht selbst zu begrün-
den, sondern entnimmt sie dem Wort Christi. Dieses aber gewinnt
seine Evidenz nur im Glauben. Der Glaube ist also durchaus vor der
Theologie, nicht nur in einem zeitlichen Sine, so wie die doxa vor der
episteme ist, sondern auch sachlich: Theologie normiert nicht den
Glauben, sondern interpretiert, systematisiert und reflektiert ihn. Sie
ist deshalb wesentlich hermeneutische Wissenschaft, Hermeneutik
des kirchlichen Glaubens. 8
Wenn somit die Rolle der antiken Philosophie als Organ der Wahr-
heit unter neuzeitlichen Bedingungen individualisiert worden ist und
sich in den persönlichen Glauben verlagert hat, stellt sich zunächst
die Frage, was aus dem Bezug der Philosophie zur Wahrheit gewor-
den ist und in welchem Verhältnis sie unter neuzeitlichen Bedingun-
gen zum Glauben steht. »Sofern Philosophie als Lebenslehre, als
›Existenzphilosophie‹ auftrat, wie in allen antiken Philosophenschu-
len, trat das Christentum zu ihr in Konkurrenz. Und wo sie sich als
solche wieder etablieren will, steht sie in einem notwendigen Gegen-
satz zum biblischen Glauben.« 9 Wie eingangs angedeutet, muss der

7
Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 95.
8 Ebd. 96.
9
Ebd. 100.

295

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Begriff einer Philosophie, die in diesem Sinne zum Glauben in Kon-


kurrenz tritt, unterschieden werden von dem anderen Begriff einer
Philosophie als einer zweiten Reflexion, die die Rolle des Glaubens
bzw. der ihn in Frage stellenden Philosophie in der geschichtlichen
und gesellschaftlichen Wirklichkeit reflektiert; um eben diese Refle-
xion geht es im Rahmen dieses Essays. Der scheinbare radikale Be-
deutungsverlust der Philosophie gegenüber der Antike wird insofern
durch die Weise der philosophischen Betrachtung kompensiert, wobei
diese Kompensation sich wieder durch eine christliche Inspiration der
Philosophie ergibt.
Die Verlagerung des Organs der Wahrheit in den einzelnen
Gläubigen wirft nämlich die zweite Frage auf, welchen Anspruch die-
ser individuelle Glaube gegenüber der Gesellschaft haben kann. In
diesem Zusammenhang bezieht sich Spaemann auf Rousseau, der
»das Christentum als Religion der Entzweiung begriffen« 10 hat. Die
Entzweiung – das Christentum »ist nicht religion du citoyen, sondern
religion de l’homme« 11 – besteht zunächst darin, dass das Christen-
tum den Menschen befreit, ihn jedoch von der Gesellschaft entfrem-
det. Gegenüber einer christlichen Welt der Frühneuzeit wird diese
Entzweiung verschärft in der pluralistischen Gesellschaft der Neu-
zeit. Die Frage, was in dieser Welt das »Koinon, das schlechthin
Allgemeine« 12 sei, könnte in zwei Richtungen beantwortet werden:
entweder im Sinne einer »Theorie des Pluralismus«, die sich auf die
»indifferenten technischen Strukturen« und Toleranz als »oberste
Tugend« 13 beschränkt oder im Sinne der »Wahrheit des christlichen
Glaubens«, die »gegen ihr Anerkanntsein gleichgültig« ist und der
gegenüber der Staat sich auf die »Rolle des Verkehrsreglers« 14 zu be-
schränken hat. Beide Versuche der Auflösung der Entzweiung führen
nach Spaemann in die Irre:
Ohne die Reflexion auf die unaufhebbare Entzweiung im Begriff des
Koinon, des »Allgemeinen« in unserer Welt wird der christliche Rück-
zug aus der Indifferenz der modernen Kultur um seine mögliche
Frucht gebracht. Wo die Christen nicht das Andere ihrer selbst voll in
ihr Bewußtsein aufnehmen, wo sie das fieri aliud inquantum aliud

10 Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 104–105.


11 Ebd. 105.
12
Ebd. 108.
13 Ebd. 109.
14
Ebd. 109–110.

296

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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

nicht zu leisten vermögen, da fallen sie, ohne es zu wissen und zu


wollen, dem Anderssein der Welt zum Opfer, da verlieren sie ihre
christliche Identität. Es ist eine unverlierbare Einsicht Hegels, daß
nur die Identität der Identität und Nichtidentität dem Verlust der
Identität enthebt, daß nur die Thematisierung der Dialektik das blinde
Verhängnis aufhebt. 15
Eine irgendwie geartete Aufhebung der Entzweiung liegt nicht im
Bereich des Möglichen und so ist die »gehorsame Annahme der ent-
zweiten Wirklichkeit« 16 durch den Einzelnen der einzige Ausweg und
die existentialistische Verlagerung des Problems in die Person, die die
Entzweiung aushält, die philosophische Antwort auf das Problem, die
dieser Essay anbietet. Die Bedeutung dieser Antwort für die Philo-
sophie wird in seinem Rahmen im Sinne einer Selbstreflexion dieser
Position nicht thematisiert, es dürfte aber im Sinne Spaemanns sein
zu ergänzen, dass das Rousseau’sche »Ecce homo« 17 und seine in Teil-
kapitel 5.1 dargelegte »existenzphilosophische[…] Interpretation« 18,
die zum Teleologieproblem hinführte, eine solche Reflexion der um-
rissenen Position leistet.
Der Vortrag »Mystik und Aufklärung« aus dem Jahre 1967 19
knüpft an die hier dargelegten Gedanken an, indem das Verhältnis
des Gläubigen als Organ der Wahrheit zur pluralistischen Gesell-
schaft in den Begriffen Mystik und Aufklärung gefasst wird. Wenn
der Glaube aufhört, Bestandteil des κοινόν, des Allgemeinen zu sein,
wird die Frage nach ihm allein in das Subjekt verlegt: »Der Glaube
aber wird zu einem blinden, unverantwortlichen Akt der Flucht der
Subjektivität vor sich selbst, oder er setzt irgendein unmittelbares
Verhältnis dieser Subjektivität zu dem Geglaubten voraus.« 20 Da so-
mit der unmittelbare subjektive Zugang zum Geglaubten entschei-
dend wird, gewinnt für den Glauben in der Neuzeit die Tradition der
Mystik zunehmende Bedeutung. Als deren Vertreter nennt Spae-
mann hier »Plotin, Eckhart, Ruysbroeck oder Johannes vom Kreuz«,
denen es um ein »Unaussprechliches« geht, das »sich zeigt«: »Es zeigt

15 Spaemann, Theologie und Pädagogik (1964), 111–112.


16 Ebd. 114.
17 Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 15.

18 Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 25.

19 Vgl. Quellenhinweise: Vortrag auf dem Jahrestag der Görresgesellschaft am

19. 10. 1967 in Mainz. Zuerst erschienen in Concilium 1969. – Spaemann, Einsprüche
(1977), 135.
20
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 43.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

sich als Grund, nicht im Sinne einer Kausalität, sondern als Trans-
parenz des Sagbaren auf einen Sinn hin, der schlechthin jenseits die-
ses Sagbaren liegt, außerhalb der Welt.« 21 Die mystische Tradition
des »Entwerdens« (Eckhart, Tauler), die den Weg zu Gott in einem
Verschwinden von Welt und Ich findet, bringt Spaemann in einen
Zusammenhang mit der Aufklärung: »Es ist nicht von ungefähr, daß
die Epoche der Frühaufklärung, das 17. Jahrhundert, zugleich die
Epoche ist, die Bremond 22 als ›mystische Invasion‹ hat bezeichnen
können.« 23 Der Aufklärung als Rationalisierung der Beziehungen
des Menschen zur Welt und zu sich selbst und als Ausdehnung der
Herrschaftsansprüche instrumenteller Vernunft korreliert eine Reli-
giosität, die ohne jedes Interesse an dieser aufgeklärten Welt auf ihr
ganz Anderes zielt:
Die religiöse Subjektivität sagt ihrer Besonderheit ab. Damit freilich
zugleich dem tiefsten Impuls der Aufklärung, dem Selbstbehaup-
tungswillen des neuzeitlichen Subjekts. Mystik betreibt das Geschäft
der Aufklärung nicht aktiv, sondern durch »Indifferenz«. Sie ist Ver-
wirklichung und Überwindung der Aufklärung in einem, Überwin-
dung, indem sie dem Willen zur Macht absagt, der die aufklärerische
Naturbeherrschung zur Ideologie werden läßt. Das Ich, auf das der
Mystiker sich aus dem Bereich der Objektivität zurückzieht, wird
selbst zum Gleichgültigen bis hin zur Resignatio in infernum. 24
Die Gegenüberstellung von Mystik und Aufklärung ist somit ein
weiterer Versuch, den neuzeitlichen Vorgang der Entzweiung zu
durchdenken. In diesem Zusammenhang stellt Spaemann einen Be-
zug zur modernen Philosophie her, der aufschlussreich ist im Hin-
blick auf die oben 25 aufgeworfene Frage nach dem Bezug der Philo-
sophie zur Wahrheit. Die Transzendentalphilosophie, die ihrerseits
den Anspruch hat, die Entzweiung denken zu können, postuliert ein
weltloses Ich, das in einer gewissen Analogie zum mystischen Ent-
werden steht.

21 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 38.


22 Henri Bremond (1865–1933), französischer Theologe und Philosoph.
23 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 42.

24 Ebd. 45. – In diesem Zusammenhang bezieht sich Spaemann auch auf seine Studien

über Fénelon, dessen Überwindung der Reflexion durch die reine Liebe das Verhältnis
von Aufklärung und Mystik zum Ausdruck brachte. – Vgl. ebd. 45–46.
25
Vgl. im vorliegenden Abschnitt, 295.

298

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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

[…] müssen wir den Gedanken einer transzendentalen Subjektivität


bereits einen mystischen Gedanken nennen? Weil wir dies nicht müs-
sen, bleibt Transzendentalphilosophie in ihrem Inhalt stets zweideutig
und in ihrer Möglichkeit problematisch. Sie ist kein zwingender Gang
des Denkens. Sie hintergeht alle Tatsächlichkeit, aber sie ist ebenso
ihrerseits von Faktizität umgriffen. Das transzendentale Ego, das sich
in der Reflexion konstituiert, ist zweideutig. Es erfährt sich als außer
der Zeit und vor aller Psychologie stehend. Aber es ist doch gleich-
zeitig nur ein bestimmtes Moment in einem individuellen geschicht-
lichen Reflexionsprozeß. Es ist gegen eine psychologische Interpreta-
tion nicht gefeit. 26
Während die Mystik auf die Erfahrung von Selbsttranszendenz ver-
weisen kann, die nicht vermittelt, sondern nur nachvollzogen werden
kann, erhebt die transzendentalphilosophische Reflexion den An-
spruch einer Weltkonstitution, der jedoch von der Faktizität des Ego
unterlaufen wird. Eine von der Transzendentalphilosophie also nicht
leistbare mögliche Vermittlung zwischen der religiösen Erfahrung
und dem philosophischen Denken steht daher nach Spaemann unter
einer bestimmten Voraussetzung: »Um aber das Subjekt-Objekt-Ver-
hältnis, das Verhältnis von Transzendenz und Faktizität zu vermit-
teln, ist, wie Hegel in der Einleitung zur ›Phänomenologie des Geis-
tes‹ sagte, stets schon die unmittelbare Präsenz des Absoluten
vorausgesetzt.« 27 Wie in »Theologie und Pädagogik« wird in »Mystik
und Aufklärung« über diese kritische Auseinandersetzung mit der
Transzendentalphilosophie hinaus die Frage nicht explizit verfolgt,
welche Gestalt eine Philosophie, die das Absolute denkt, annehmen
könnte. Wie dort bleibt es hier bei einer Art Phänomenologie der
Entzweiung, durch die der Bezug zum Absoluten in einer aufgeklär-
ten Welt als Möglichkeit bewahrt bleibt: »In dieser mystisch distan-
zierten und zugleich erinnernd festgehaltenen Weise aber könnte Re-
ligion in einer durch wissenschaftliche Aufklärung bestimmten Welt
Bestand haben, ohne sich von dieser Welt abzukapseln oder sich in
ihren Kategorien definieren zu müssen.« 28 Der hier hergestellte Zu-
sammenhang von Mystik und Aufklärung zeigt, dass die Entzweiung
sich gewissermaßen ständig perpetuiert. Die Bewegungen der aufklä-
rerischen Vernunft führen – zu Ende gedacht – immer wieder zur
mystischen Erfahrung zurück.

26
Spaemann, Mystik und Aufklärung (1969), 46–47.
27 Ebd. 47.
28
Ebd. 50.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Abschließend soll es nun noch um einen dritten Vortrag 29 aus


dem Jahre 1970 mit dem Titel »Die Frage nach der Bedeutung des
Wortes ›Gott‹« gehen. Im Mittelpunkt steht hier die Frage, wie aus
der Perspektive des 20. Jahrhunderts ein genuin philosophischer Zu-
gang zu Gott bzw. zum Absoluten gefunden werden kann. Spaemann
bezieht sich zunächst auf die »Sprachphilosophie, die die vormalige
Transzendentalphilosophie in gewisser Weise abzulösen im Begriff
ist« 30, und im engeren Sinne auf eine Religionsphilosophie, die »sich
dieser sprachanalytischen Richtung angeschlossen hat« 31 und ver-
sucht, »einen eigenen Bereich religiösen Sprechens aufzuzeigen, der
ebenso sinnvoll oder sinnlos ist wie andere Arten von Sprechen« 32.
Die Grenze dieser Religionsphilosophie liegt nun aber, so scheint mir,
darin, daß das Gebet zwar selbst mit Worten ein Verhältnis zu reali-
sieren versucht, daß aber der Adressat dieses Verhältnisses, so wie er
vom Betenden gemeint ist, keineswegs selbst dadurch konstituiert
wird, daß der Betende zu ihm spricht. Er ist davon, ob ich zu ihm bete
oder nicht, ganz unabhängig, und das heißt: er ist nicht angemessen
beschrieben in einer Theorie performativer Sätze. 33
Zweitens bezieht er sich auf die universale »Funktionalisierung« als
»Signum des Zeitalters« 34, die »grundsätzliche Austauschbarkeit von
allem gegen alles« 35 durch funktionale Äquivalente. Die Tendenz zur
Funktionalisierung aller Lebensbereiche hat auch vor der Religion
nicht Halt gemacht und funktionale Äquivalente für Gott gefunden. 36
Da es bei dieser funktionalistischen Interpretation darum geht, dass
Gott für den Menschen zu etwas gut ist, womit dieses Etwas größer
ist als Gott selbst, spricht Spaemann von anthropologischer Theo-
logie, die aber nach seiner Überzeugung zu kurz greift:

29
Vgl. Quellenhinweise: »Vortrag zur Eröffnung der Salzburger Hochschulwochen
im August 1970. Zuerst erschienen in: Internationale Katholische Zeitschrift I
(1972).« – Spaemann, Einsprüche, 135.
30 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 14.

31 Ebd. 16.

32 Ebd.

33 Ebd. 16–17.

34 Ebd. 17.

35 Ebd.

36
In diesem Zusammenhang verweist Spaemann auf de Bonald, »der 1793 bereits das
Thema einer politischen Theologie anschlug und die Wahrheit der christlichen Lehre
aus ihrer Nützlichkeit für die Gesellschaft beweisen wollte«. – Ebd. 18.

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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

Wir können natürlich dem anthropologischen und damit dem funk-


tionalen Ansatz nicht durch einen Salto mortale in die Naivität ent-
gehen. Aber wir können sehen, daß er, wo von Gott ernsthaft die Rede
ist, sich selbst aufhebt: weil hier die »Funktion« gerade darin liegt,
nicht durch die Funktion definiert, also nicht austauschbar zu sein.
Und das »religiöse Bedürfnis« ist Bedürfnis nach etwas, was nicht als
Korrelat von Bedürfnissen bestimmbar ist. 37
Ausgehend von dieser antifunktionalistischen Glaubensüberzeu-
gung, dass es »kein Äquivalent für das Sich-Zeigen Gottes« 38 gibt,
stellt Spaemann dann die Frage nach der »Bedeutung des Wortes
›Gott‹« 39. Die einzige Antwort auf diese Frage, die verhindert, dass
Gott durch funktionale Äquivalente ersetzbar wird, ist die Verbin-
dung der Prädikate »Macht« und »Liebe«, die »Einheit von Sein und
Sinn« 40. Spaemann betont, dass Gott als postulierte Einheit von Sein
und Sinn eigentlich nur theoretisch in Zweifel gezogen werden kann.
»Als handelnde Wesen haben wir uns stets schon für dieses Postulat
entschieden. Wir können nur sinnverstehend existieren.« 41 Spae-
mann unterscheidet also im Hinblick auf die Infragestellung Gottes
und der Einheit von Sein und Sinn den praktischen Vollzug dieser
Handlung von ihrem theoretischen Gehalt:
Hinter jeder Vernunftaufklärung steht noch die konstitutive Naivität
des Handelnden, und das heißt: sinnverstehende Existenz. Die theo-
retisch verfremdende Reflexion, die Sinn als Epiphänomen entlarvt,
erhebt sich nicht über diese Naivität, sondern fällt unter sie. Sie ist
Ausdruck der Ohnmacht, sich als handelndes Wesen selbst anzueig-
nen, sie ist Ausdruck der Identitätsschwäche. Die Reduktion der Welt
auf pure bedeutungslose Faktizität durch die instrumentelle Vernunft
der Wissenschaft dient der Ausdehnung der Macht und Verfügungs-
gewalt über die Natur. Aber die Totalisierung der instrumentellen Ver-
nunft läßt das Subjekt dieser Verfügungsgewalt verschwinden. Wir
beherrschen die Natur, aber es ist eigentlich niemand mehr, der sich
wirklich als Herr über die Natur wüßte. 42
Folgerichtig widmet Spaemann sich dann weiter nicht der Frage nach
möglichen Erwiderungen auf die theoretische Leugnung der Einheit

37 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972),19.
38 Ebd. 20.
39 Ebd. 21.
40
Ebd. 25.
41 Ebd. 26–27.
42
Ebd. 27–28.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

von Sein und Sinn, sondern der Frage nach den positiven Erschei-
nungsformen von Sinn und der Weise ihrer Erschließung.
Die primäre Erschließung von Sinn geschieht deshalb nicht durch Ar-
gumentation, sondern durch fundamentalere Weisen der Kommuni-
kation. Sie geschieht letzten Endes durch Liebe. Darum ist der Begriff
des Gottesbeweises so irreführend. Erkenntnis Gottes ist eine Sache
höchster selbstloser Aufmerksamkeit. Ihr Gegenteil aber, Müdigkeit
und Zerstreutheit, werden nicht durch Beweise beseitigt. Die Therapie
ist von anderer Art. 43
Erschließung von Sinn geht nicht aus einer Betrachtung der Welt der
Objekte durch ein ihr gegenüberstehendes abstraktes Subjekt der Er-
kenntnis hervor, sondern setzt eine Form der Intentionalität voraus,
die dieses abstrakte Subjekt-Objekt-Verhältnis aufhebt. Sinn, so
betont Spaemann, bedeutet symbolische Repräsentation: »Nur in
symbolischer Repräsentation wird die krude Faktizität des begrifflos
Einzelnen transzendiert« 44. Der aus der platonisch-aristotelischen
Tradition stammende Begriff der repraesentatio weist darauf hin, dass
Erkenntnis im Sinne von Verstehen nur möglich ist durch Anerken-
nung von Selbstsein, das sich zeigt und in diesem Sich-Zeigen über
sich hinausweist auf das Absolute, an dem es teilhat. Insofern hier
aber der intentionale Akt solchen Erkennens thematisiert wird, geht
dieser Gedanke wesentlich über die platonisch-aristotelische Traditi-
on hinaus:
Die These von der ontologischen Ursprünglichkeit von Sinn oder, um
mit den Scholastikern zu sprechen, von der Intelligibilität des Seins,
die im Gedanken Gottes gedacht wird, impliziert deshalb die ontologi-
sche Ursprünglichkeit der Sphäre symbolisch vermittelter Interaktion.
Diese ganz und gar nicht selbstverständliche These wird in der christ-
lichen Trinitätslehre ausgesprochen. Denn in der Trinitätslehre ist von
einer symbolischen, nämlich durch ein Wort sich vollziehenden
Selbstvermittlung Gottes die Rede. 45
Der wesentliche Unterschied zum antiken Teilhabe-Gedanke ist also
die Reflexion der Interaktion, innerhalb deren sich eine wechselseiti-
ge Sinnerschließung vollzieht. Durch die in diesem Zusammenhang
ins Gespräch gebrachte Trinitätslehre taucht hier der Begriff der Per-

43
Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 29.
44 Ebd.
45
Ebd.

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5.3.1 Das Absolute in geschichtsphilosophischer Perspektive

son auf, die nur im Plural gedacht werden kann, ohne dass dieser
Begriff an dieser Stelle von Spaemann näher reflektiert wird. 46 Inwie-
fern kann dies aber noch als Gegenstand philosophischen Denkens
betrachtet werden?
Reine Philosophie bringt es nicht etwa zur Erkenntnis eines persönli-
chen Gottes, sondern zugleich zu mehr und weniger. Sie bringt es zu
einer gewissen intellektuellen, von Philosophie selbst nicht mehr de-
finitiv entscheidbaren Schwebe zwischen Pantheismus auf der einen
Seite und Trinitätslehre auf der anderen Seite. 47
Reine Philosophie bringt es zu mehr als zur Erkenntnis eines persön-
lichen Gottes, da die nur theoretisch bestreitbare Annahme eines
»seinsmächtigen Sinn[es]« 48 als »symbolische Selbstvermittlung, al-
so trinitarisch« 49 gedacht werden muss. Sie bringt es zu weniger als
zur Erkenntnis eines persönlichen Gottes, da die pantheistische Vor-
stellung der Welt als »Selbstvermittlung Gottes« faktisch mit der
atheistischen Vorstellung zusammenfällt. Die Philosophie bringt es
nur bis zur Schwebe zwischen beidem, weil sie an eine Grenze des
Denkens, »vor die Schwelle der Entscheidung« 50 führt.
Auf den Gesamtzusammenhang von Spaemanns Werk betrach-
tet führen die hier dargelegten Gedanken aus Aufsätzen und Reden
der 60er und frühen 70er Jahre weit über diese Phase der Entwicklung
seines philosophischen Denkens hinaus. Im eigentlichen Sinne phi-
losophisch eingeholt werden sie erst in seinen Hauptwerken »Glück
und Wohlwollen« (1989) und »Personen« (1996). Im Kontext seiner
Schriften des Zeitraums zwischen 1964 und 1981 stehen wesentliche
hier angeschnittene Positionen isoliert da. Dennoch dokumentieren
sie, wie gezeigt werden sollte, Spaemanns Orientierung am Absolu-
ten und Richtungen des Denkens, durch die diese Orientierung im
Weiteren philosophisch fruchtbar gemacht werden wird.

46 Die hier angeschnittenen Gedanken weisen voraus auf Spaemanns drittes Haupt-
werk »Personen. Versuche über den Unterschied zwischen ›etwas‹ und ›jemand‹«.
S. Kapitel 8, Ontologie der Person, 509–650.
47 Spaemann, Die Frage nach der Bedeutung des Wortes »Gott« (1972), 30.

48
Ebd.
49 Ebd.

50
Ebd. 31.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive

Spaemanns Ansatz in der Ethik soll vor allen Dingen anhand der im
Januar 1964 gehaltenen Stuttgarter Antrittsvorlesung mit dem Titel
»Die zwei Grundbegriffe der Moral« 51 dargelegt werden. Spaemann
geht in ihr aus von der Unterscheidung des italienischen Soziologen
Vilfredo Pareto zwischen Residuen und Derivationen: »Unter ›Resi-
duen‹ verstand Pareto nichtlogische Handlungsschemata, unter ›De-
rivationen‹ die nachträgliche theoretische Begründung und Rechtfer-
tigung solcher Handlungsschemata.« 52 Die allmähliche Entstehung
von Derivationen bedeutet den
Übergang von einer Ethik der »Traditionslenkung« zu einer der »In-
nenlenkung«. Dieser Übergang ist gleichbedeutend mit dem Versuch,
die ethischen Verhaltensregeln auf so etwas wie einen letzten Grund
oder Zweck hin zu rationalisieren, auf ein »höchstes Gut«, wie es in
der Sprache der philosophischen Tradition heißt. 53
Angesichts dieses Übergangs stellen sich zwei Fragen: 1. Sind die De-
rivationen den Residuen adäquat, so dass diese »Rationalisierung
oder Formalisierung der Ethik« 54 als gelungen bezeichnet werden
kann? 2. In welchem Verhältnis stehen die Derivationen zu den Resi-
duen: Werden sie zur funktionalen Deduktion eingeführt oder gibt es
eine »andere Art von Begründungszusammenhang« 55? In die Sprache
der platonischen Philosophie übertragen geht es bei diesen Fragen um
das Verhältnis der Begriffe des Schönen und des Guten.
»Schön« nennt Plato Handlungsweisen, insofern sie sich allgemeiner
Anerkennung und Billigung erfreuen, also moralisch im landläufigen
Sinne sind. »Gut« dagegen nennt er Handlungen, insofern mit ihnen
der Handelnde jenen Zweck erreicht, um den es ihm im Handeln ei-
gentlich geht, gut ist also das Wünschbare, Nützliche, Erstrebens-
werte, Förderliche. 56

51 Zuerst erschienen in: Philosophisches Jahrbuch 74 (1966/67), 368–384. Wieder-


abdruck in: Spaemann, Zur Kritik der politischen Utopie, 1–22, und in: Ders., Gren-
zen, 64–82.
52 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 65.

53 Ebd. 67.

54
Ebd.
55 Ebd.

56
Ebd.

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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive

Das Schöne also steht als Oberbegriff für die Residuen, das Gute als
Oberbegriff für die rationalen Derivationen. »Die Frage, die in der
Auseinandersetzung mit den Sophisten immer wieder erörtert wird,
ist die, ob das Schöne auch gut sei«. Damit wird die erste Frage, ob die
Derivationen den Residuen adäquat sind, thematisiert. Spaemann
legt die konträren Antworten der Sophisten und Platons dar. Die
Position der Sophisten – Kallikles und Thrasymachos – besteht darin,
dass das Schöne »nicht gut und deshalb auch nur aufgrund einer
tückischen Konvention, aber nicht in Wirklichkeit, nicht von Natur
schön« 57 sei. Wünschenswert für den Einzelnen sei es dagegen, die
»eigenen Begierden so groß als möglich werden« zu lassen, »ohne
sie im Zaum zu halten« 58. Die Antwort der Sophisten auf die gestellte
Frage ist demnach eine »Kritik des Schönen, also der sittlichen Kon-
vention, die mit den natürlichen Bedürfnissen und Strebungen des
Menschen nicht im Einklang sei« 59. Eine Identität des Schönen und
Guten ist demnach zwar möglich, aber nur wenn das Schöne nach
Konvention durch das Schöne von Natur ersetzt wird, wobei der ein-
zige Maßstab das starke Individuum ist. Platon stellt dieser Position
eine »kritische[…] Revision der Begriffe des Nutzens, der Lust und
des Guten« 60 entgegen, indem er das Gute so bestimmt, »daß die
Schönheit eines menschlichen Verhaltens selbst ein integrierender
Bestandteil jenes eigentlichen und letzten Handlungszweckes wird« 61.
Platon bejaht also die unbedingte Identität des Schönen und des
Guten dadurch, »daß das Interesse, das dem Handelnden unterstellt
wird, bereits selbst als durch jene Inhalte bestimmt gedacht wird, die
aus ihm abgeleitet werden sollen« 62. Es entsteht somit eine Zirkel-
struktur: Die Inhalte, also das nach Konvention Schöne bzw. die Re-
siduen, bestimmen das Interesse, also das Gute bzw. die rationalen
Derivationen, aus dem jene Inhalte wiederum abgeleitet werden. Die-
se Argumentationsstruktur liefert zugleich die Antwort auf die zwei-
te Frage, insofern klar wird, dass sich kein »deduktiver Zusammen-
hang« 63 zwischen dem Interesse und den Inhalten herstellen lässt:

57 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 68.


58 Ebd.
59 Ebd.
60 Ebd.
61
Ebd.
62 Ebd.
63
Ebd. 69.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Dies ist die Entdeckung der platonischen und aristotelischen Ethik ge-
wesen: Alle inhaltlich eindeutigen, alle materialen Interpretationen
des höchsten Gutes, das heißt des obersten Handlungszweckes bezie-
hungsweise der höchsten Wünschbarkeit, führen zum Verschwinden
des Schönen, das heißt des Sittlichen, wenn nicht die Inhalte des Sitt-
lichen schon von vornherein in diesen obersten Zweck hineininterpre-
tiert worden sind. […] Die moralischen Normen werden nicht aus dem
Begriff des Glücks abgeleitet, sondern der Begriff des Glücks meint
den Inbegriff eines geglückten Lebens, wobei das geglückte Leben un-
ter anderem dadurch bestimmt ist, daß es ein sittliches Leben ist. Und
was dies heißt, wird nicht deduziert, sondern im sittlichen Bewußtsein
der Polis vorgefunden. 64
An die Stelle eines deduktiven Ableitungsverhältnisses der mora-
lischen Normen aus dem Begriff des Glücks tritt also ein hermeneu-
tisches Verständnis von Ethik, die die jeweiligen Inhalte bzw. Normen
auf ihre Einfügbarkeit »ins Ganze eines guten Lebens« 65 zu prüfen
hat, wobei dieses Ganze im sittlichen Bewusstsein der Zeit bereits
vorausgesetzt wird. Ihm entspricht bei Aristoteles auf subjektiver
Seite ein »natürliche[r] Impuls zum Schönen«. Spaemann zitiert aus
der »Großen Ethik« des Aristoteles:
Es ist nicht der Logos, wie die andern meinen, Anfang und Führer der
Tugend, sondern vielmehr nichtrationale Leidenschaft. Denn Voraus-
setzung ist, daß ein gewisser irrationaler Impuls in uns entsteht, was ja
in der Tat der Fall ist, und dann muß, auf dieser Basis, als zweite In-
stanz der Logos die Sache zur Abstimmung und Entscheidung brin-
gen. 66
In diesem Verhältnis der Vernunft zu einem Natürlichen bzw. Irra-
tionalen erkennt Spaemann die »formelle Struktur ethischen Han-
delns« 67: Auf der einen Seite steht die »Unmittelbarkeit der Wert-
schätzung, die sich nicht durch Gründe vermittelt« 68, auf der
anderen Seite die »ausschlaggebende Entscheidung durch die Ver-
nunft, die die Impulse zum Schönen koordiniert und am Ziel des
guten Lebens im Ganzen kritisch mißt« 69. Spaemann verweist an die-

64 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 69.


65 Ebd. 70.
66 Ebd. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Zitats: Große Ethik, 1206b. –

Ebd. 541.
67
Ebd.
68 Ebd. 70–71.

69
Ebd. 71.

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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive

ser Stelle auf die klassische Darstellung dieser Struktur in »den ›Eu-
meniden‹ des Äschylus« 70, in denen es am Ende der Orestie um den
»Ursprung der Polis« und damit indirekt um den »Ursprung des Phi-
losophie« 71 geht. 72 Die Rachegeister der Erinnyen werden zwar von
Athene vor einem Gerichtshof zurückgewiesen, gleichwohl wird
ihnen ein dauerhafter Platz in der Polis garantiert: »Das der Polis
zugeordnete Prinzip der Rationalität erweist […] darin seine huma-
nisierende und friedensstiftende Kraft, daß es sozusagen offen ist
nach unten und rückwärts, das heißt offen für das, was nicht durch
es selbst gesetzt ist.« 73 Das Verhältnis der beiden Seiten, des Natür-
lichen und des Vernünftigen, ist aber kein prästabiliertes, sondern
läuft Gefahr, in eine Richtung aufgelöst zu werden: »Nun wohnt
allerdings dem Prinzip der rationalen Integration eine Tendenz inne,
sich gegen seine eigenen natürlichen und geschichtlichen Vorausset-
zungen zu kehren und sie aufzulösen beziehungsweise sie zu funk-
tionalisieren.« 74 Spaemann spricht daher von einer »grundsätzlichen
Ambivalenz […] des ethischen Prinzips der Rationalität über-
haupt« 75. In Zeiten der einsetzenden Reflexion leistet dieses Prinzip
die Integration konkreter Inhalte, die es selbst nicht generieren kann;
das rationale Prinzip hat jedoch die Tendenz, sich von diesem Unver-
fügbaren zu emanzipieren und »das Dasein total den Bedingungen
seiner Erhaltung zu unterwerfen« 76. Als Gegenbeispiel zur Vermitt-
lung von Natürlichem und Vernünftigem durch Athene führt Spae-
mann den »Friedenspriester Sarastro« 77 an: »Aber die Vernunft, die er
repräsentiert, hat die Kraft eingebüßt, das Andere ihrer selbst in sei-
nem Anderssein zu belassen und zu bestätigen. Sie ist nicht mehr
dialektisch, sondern abstrakt, und das heißt: totalitär.« 78 Es geht hier
also um den Prozess, der mit dem Schlagwort »Dialektik der Aufklä-

70 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 71.


71
Ebd.
72 Die »Eumeniden« des Aischylos werden von hier an ebenso wie das kontrastieren-

de Beispiel Sarastros und der Königin der Nacht (siehe unten) ein im Werk Spaemann
leitmotivisch wiederkehrendes Motiv zur Bezeichnung einer ihre Wurzeln erinnern-
den und präsent haltenden Aufklärung bzw. einer solchen, die diese vergisst und der
Dialektik der Aufklärung anheimfällt.
73 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 71.

74 Ebd. 72.

75 Ebd.

76
Ebd.
77 Ebd. 74.

78
Ebd.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

rung« bezeichnet werden kann: 79 »Vernunft, die nicht ihre natür-


lichen und geschichtlichen Voraussetzungen erinnernd bewahrt, fällt
selbst in bloße Natur zurück.« 80
Bereits die Auseinandersetzung Platons mit den Sophisten hat
aber gezeigt, dass die erinnernde Bewahrung der natürlichen und ge-
schichtlichen Voraussetzungen zweideutig zu werden droht, insofern
das Natürliche von Platon als das κοινόν, von den Sophisten aber als
egozentrischer Wille zur Macht gedeutet wurde. Die Zirkelstruktur
der platonischen Argumentation und das hermeneutische Verständ-
nis der Ethik bei Aristoteles bewahren zwar den Ausgleich zwischen
dem Natürlichen und dem Vernünftigen durch den Bezug auf die
Wirklichkeit der Polis; aus der Perspektive einer autonomen Vernunft
betrachtet, die ihre Maßstäbe nicht aus der Natur, sondern nur aus
sich selbst schöpft, trifft beide jedoch der Vorwurf einer petitio prin-
cipii, womit sie dem Verdikt gegenüber jeder eudämonistischen Ethik
verfallen. Die antieudämonistische Pflichtethik Kants erneuert einer-
seits paradoxerweise die inhaltliche Unbestimmtheit des obersten
Zwecks der eudämonistischen Ethik Platons und Aristoteles’, ande-
rerseits ist sie selbst auch eine petitio principii, insofern der kategori-
sche Imperativ bereits das Bewusstsein davon voraussetzt, »was man
wollen kann, daß es Maxime einer allgemeinen Gesetzgebung wäre«:
Was das ist, läßt sich allerdings, wie dann Hegel bemerkt hat, aus die-
ser formalen Maxime nicht herleiten, wenn man es nicht schon wüßte,
wenn also der tatsächlich bestehende way of life nicht genügend sitt-
liche Substanz enthielte, um den Formalismus des kategorischen Im-
perativs mit geschichtlichem Inhalt zu füllen. Die Philosophie ist we-
sentlich retrospektiv, wenn sie nicht durch die Anmaßung, Wege in die
Zukunft zu weisen, Ideologie werden will. 81
Spaemanns Überlegungen aus der Vorlesung »Über die zwei Grund-
begriffe der Moral« verdeutlichen also einerseits die Bewegung, die
zur Überwindung eudämonistischer Ethiken, denen er in Gestalt der
platonischen und aristotelischen Konzeptionen offen Sympathie ent-
gegenbringt, geführt haben, weisen andererseits aber auf das in der

79 In seiner »Autobiographie in Gesprächen« betont Spaemann die Bedeutung, die das


Buch Adornos und Horkheimers, das er bereits 1949 rezipierte, für die Entwicklung
seines Denkens entwickelte. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 110–
112.
80 Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 74.

81
Ebd. 79.

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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive

Emanzipation von den natürlichen Voraussetzungen begründete Pro-


blem der reinen Pflichtethik Kants hin. 82 Zu einer Lösung geführt
wird dieser Gedankenkomplex von Spaemann erst 25 Jahre später in
»Glück und Wohlwollen« 83. An dieser Stelle ist als entscheidende Er-
kenntnis festzuhalten, dass die Ethik ihren Bezug auf das »Unvor-
denkliche, immer schon Vorauszusetzende« 84, mit anderen Worten:
auf das Absolute, bewahren muss, wenn sie nicht in Irrationalität
umschlagen soll.
In dem Essay »Praktische Gewißheit. Descartes’ provisorische
Moral« aus dem Jahre 1968 betrachtet Spaemann das erörterte Pro-
blem der Ethik aus einer anderen Richtung, nämlich aus der neuzeit-
lichen Perspektive. Er bezieht sich im Wesentlichen auf das dritte
Kapitel von Descartes’ »Discours de la méthode«, in dem Descartes
Regeln einer ›morale par provision‹ entwirft:
Diese Moral besteht aus »drei oder vier Maximen«, die alle den Zu-
stand des Nichtwissens mit Bezug auf so etwas wie absolute Normen
zur Voraussetzung haben. Die drei ersten dieser Maximen besagen:

82
Am Rande sei hier auch auf den aus dem Jahre 1977 stammenden Vortrag »Phi-
losophie als Lehre vom glücklichen Leben« hingewiesen, in dem Spaemann eine Ein-
seitigkeit der kantischen Pflichtethik hervorhebt und die notwendige Verankerung
der Sollens im Wollen betont: »Der Sinn also der Frage nach dem, was wir eigentlich
letzten Endes wollen, ist offenbar der, in unser Wollen eine Einheit zu bringen, die
vorher nicht darin war. Wir können also auch fragen: Was sollen wir eigentlich wol-
len? In dieser Form ist uns die Frage als moralische geläufig seit Kant. Aber in dieser
Form bringt sie nicht zum Ausdruck, daß Einheit in unser Wollen nur kommen kann,
wenn es zugleich Einheit mit dem ist, was wir schon, ehe wir zu fragen beginnen, sind,
das heißt Einheit mit unserer Natur. Die Frage, was wir sollen, läßt sich, da sie auf
Identität zielt, nur so stellen, daß wir zugleich fragen, was wir im Grunde immer
schon wollen. Kein Sollen würde uns überhaupt erreichen, wenn es nicht Ausdruck
von etwas wäre, was wir schon wollen, oder Ausdruck einer Tendenz, die schon in
unserer Natur läge.« – Spaemann, Philosophie als Lehre vom glücklichen Leben
(1977), 83. – Es geht also um die Erneuerung der Naturteleologie, insofern ein natür-
liches Wollen (finis cuius) vorausgesetzt wird, das uns mit anderen natürlichen Lebe-
wesen verbindet und zu dem unsere bewussten Zwecksetzungen (finis cui) sich in ein
Verhältnis setzen müssen und zu dem sie sich nicht ohne ernste Folgen für die see-
lische Gesundheit in einen Widerspruch setzen können. In diesem Vortrag finden sich
auch Gedanken über den »intentionalen Charakter des Glücks« – ebd. 89 – bzw. die
Wirklichkeit erschließende Kraft von Gefühlen – ebd. 90 – sowie über das »Sein für
andere« – ebd. 94 –, die Vorausdeutungen auf Positionen in »Glück und Wohlwollen«
darstellen.
83
S. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen
Ethik, 415–508.
84
Spaemann, Die zwei Grundbegriffe der Moral (1967), 73.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

1. Gehorsam gegen die Gesetze und Gewohnheiten des Landes und der
angestammten Religion; Vermeidung von Extremen, Anpassung;
2. Wahl des »probablen«, wo nichts gewiß ist, und Festhalten am ein-
mal eingeschlagenen Weg, sogar, wenn dieser mangels Probabilität
»blind« gewählt werden mußte. Einmal gewählt, sollte er behandelt
werden, als ob seine Richtigkeit feststünde. Descartes bringt hier den
Vergleich mit einem im Walde Verirrten, der auf jeden Fall gut daran
tut, geradeaus weiterzugehen; 3. Unterordnung der eigenen Wünsche
unter das Unvermeidliche, Beschränkung auf das, was in der eigenen
Macht liegt: die eigenen Gedanken. 85
Spaemann legt dar, dass ›provision‹ zu verstehen ist als ›Proviant‹ im
Sinne der Antwort auf die Frage: »Wie ist ein komplett gerechtfertig-
tes Handeln möglich unter den Bedingungen einer nicht kompletten
Wissenschaft?« 86 Da eine »partielle Rechtfertigung« 87 keine ist, geht
es also »um eine absolute Gewißheit, die auf praktischem Feld immer
schon dort angelangt ist, wohin die theoretische Wissenschaft als
nach ihrem Ideal strebt« 88. Was absolute Gewissheit im praktischen
Bereich bedeutet, lässt sich anhand eines Vergleichs mit theoretischer
Gewissheit zeigen:
Der Begriff der theoretischen Gewißheit gewinnt bei Descartes seine
spezifische Bedeutung durch den Gegensatz zur Zweifelsmöglichkeit.
Gewiß ist, was nicht bezweifelt werden kann. Nun kann aber doch die
Richtigkeit einer Handlung sehr wohl bezweifelt werden. Was heißt
also moralische Gewißheit? Auch dies muß vom Gegenbegriff her ver-
standen werden, und zwar steht hier an der Stelle des Zweifels der
Gewissensbiß, die Reue, der Vorwurf. Moralisch gewiß ist, was un-
möglich nachträglich, auch wenn es als falsch eingesehen wird, Ur-
sache für Selbstvorwürfe werden kann. 89
Praktische Gewissheit bezieht sich also einerseits auf die Eignung von
Handlungen, »die Glückseligkeit als das höchste Gut zu befördern« 90,
die jedoch »im besten Fall immer nur wahrscheinlich« 91 sein kann,
andererseits aber darauf, dass »es richtig ist, im Handeln das objektiv
nur Probable für gewiß zu halten, dies aber ist auf eine nicht zu über-

85 Spaemann, Moral, provisorische, in: HWPh VI, col. 173.


86 Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 85.
87 Ebd.
88 Ebd. 86.
89
Ebd.
90 Ebd. 87.
91
Ebd.

310

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5.3.2 Das Absolute in ethischer Perspektive

bietende Weise wahr und gewiß« 92. Praktische Gewissheit wird also
von Descartes abgelöst von theoretischer bzw. objektiver Gewissheit.
Spaemann weist darauf hin, dass der Begriff der moralischen Gewiss-
heit, der certitudo moralis, »keine Erfindung Descartes’« ist, sondern
»im Rahmen der moraltheologischen Diskussion« 93 des 16. Jahrhun-
derts geläufig war. Die Differenz zwischen moralischer und objektiver
Gewissheit drückte sich aus im »Problem des sogenannten irrenden
Gewissens«,
das nach Lehre der maßgebenden Autoren seine Verbindlichkeit nicht
einfachhin verlieren kann. Und diese Lehre vom irrenden Gewissen ist
das eigentliche missing link zwischen der klassischen naturrechtlichen
Ethik und der neuzeitlichen Subjektivitätsphilosophie. Denn wenn das
Gewissen auch da bindet, wo es hinsichtlich der objektiven Verpflich-
tungen irrt, so kann ja, wie es scheint, die Quelle der Verbindlichkeit
nicht in jenen objektiven Verpflichtungen liegen. 94
Den entscheidenden Schritt zur neuzeitlichen Subjektivitätsphilo-
sophie tut Descartes, insofern bei ihm »das Problem der objektiven
Richtigkeit des Handelns, d. h. seiner Angemessenheit an ein zu er-
reichendes höchstes Gut, ausdrücklich als zur Zeit unlösbar aus-
geklammert und vertagt« 95 wird. Es geht hier also wesentlich um die
Überwindung der eudämonistischen Ethik zugunsten einer Ethik des
reinen guten Willens, wie sie dann bei Kant entfaltet wird. 96 Die aris-
totelische Eudämonie wird bei Descartes »ihrer Wirklichkeit in der
polis entkleidet«, verwandelt sich zu einem »utopisch-universalen
Prinzip totaler Menschheitswohlfahrt« und verliert so schließlich
»jede konkret-praktische Bedeutung« 97.
Der Grund für Spaemanns Interesse an Descartes’ provisorischer
Moral, der man, wie er hervorhebt, im Allgemeinen »kein besonderes
sachliches Interesse zuzuwenden« 98 pflegt, besteht darin, dass die
»gesamte politische Ethik der westlichen Welt […] im Sinne Des-

92
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 87.
93 Ebd.
94 Ebd. 89–90.

95 Ebd. 90.

96 Bei Kant ist der Übergang vollzogen, weswegen der Gedanke eines irrenden Ge-

wissens für ihn seinen Sinn verliert: »Bei Kant sehen wir denn auch konsequenter-
weise den Begriff des irrenden Gewissens als eine contradictio in adjecto behandelt.« –
Ebd. 90.
97 Ebd.

98
Ebd. 83.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

cartes’ provisorische Moral« 99 ist und die Krisen der moralischen Ge-
wissheit in der Gegenwart auf den Ansatz Descartes’ zurückgeführt
werden können. Theorie und Praxis sind in Descartes’ Idee einer Uni-
versalwissenschaft auf seltsame Weise verschränkt. Während für
Aristoteles θεωρία »Selbstzweck, höchste Form menschlicher Pra-
xis« 100 war, dient sie für Descartes einem praktischen Ziel, nämlich
»den Menschen zum maître et possesseur de la nature zu machen« 101.
Umgekehrt besteht ein solches funktionales Verhältnis aber auch
zwischen Praxis und Theorie:
Die vorsorgliche Moral, die Descartes im »Discours de la méthode«
entwickelt und die auf Suspendierung des eigenen Urteils in mora-
lischen Dingen beruht, ist deshalb ausschließlich gerechtfertigt durch
die zugrundeliegende Absicht, »mich weiter zu instruieren«, das heißt
methodische Wissenschaft zu betreiben. Dies ist der einzige reell mög-
liche Beitrag des einzelnen zum allgemeinen Besten, solange dessen
Bedingungen noch nicht mit absoluter Gewißheit theoretisch und
praktisch verfügbar sind. Wer Wissenschaft betreibt, leistet jenen ein-
zig möglichen Beitrag zu einer künftigen rationalen Universalzivilisa-
tion, der ihn für die gegenwärtige Praxis allen auf die Veränderung des
Ganzen zielenden Engagements enthebt. 102
Dieser Dienst an der Wissenschaft ist die vierte Maxime, durch die die
Gültigkeit der anderen drei begründet wird. 103 Aus heutiger Perspek-
tive ist diese Rechtfertigung der vorsorglichen Moral allein schon
dadurch nicht mehr gegeben, dass die »Idee der Vollendbarkeit der
Universalwissenschaft« 104 ebenso überwunden ist wie Descartes’ Vor-
stellung eines »akkumulativen Fortschreitens von Gewißheit zu
Gewißheit« 105 in der Wissenschaft. Abgesehen von diesem veränder-
ten Bild der Wissenschaft erscheint aus heutiger Perspektive aber
auch Descartes’ Absicht, »Existenzentscheidungen nicht von dem je-
weiligen Stand der Wissenschaft abhängig machen, sondern aus dem
Wissenschaftsprozeß gänzlich ausklammern« 106 zu wollen, aufgrund
der engen Verflechtungen von Wissenschaft und menschlicher Exis-

99 Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 92.


100 Ebd. 82.
101 Ebd.

102 Ebd. 91.

103 Vgl.: Spaemann, Moral, provisorische, in: HWPh VI, col. 173.

104
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 84.
105 Ebd.

106
Ebd. 92.

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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten

tenz als unrealistisch. Darüber hinaus stellt Spaemann die Suspendie-


rung der eigenen Meinung zugunsten des Vorgefundenen in Des-
cartes’ provisorischer Moral und die fortschreitende Auflösung von
gemeinsamen Überzeugungen in der pluralistischen Gesellschaft ge-
genüber. Welche Bedeutung kann unter diesen Umständen die in der
ersten Maxime geforderte Anpassung noch haben? Die zur Zeit der
Entstehung des Textes virulenten Entwürfe einer »neue[n] revolutio-
näre[n] Moral« als »auf die Herstellung einer rationalen Weltzivili-
sation […] unmittelbar bezogene Praxis« 107 deutet er dabei als ein
dialektisches Umschlagen dieser Erosion von Überzeugungen. Ange-
sichts dieser Entwicklungen erscheint Descartes’ Vorsatz, durch die
provisorische Moral »niemals Grund zur Reue haben zu wollen« 108,
als nicht mehr zeitgemäß. Die Suspendierung der eigenen Meinung
führt vor dem Hintergrund der fortschreitenden Auflösung des κοι-
νόν in einer funktionalistisch organisierten Gesellschaft zu Hilflosig-
keit angesichts einer krisenhaften Selbsterfahrung: »Was aber, wenn
die nicht planbare Erfahrung des Menschen mit sich selbst ebenjenen
Vorsatz betrifft?« 109 Um solche Erfahrung geht es im abschließenden
dritten Abschnitt.

5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten

In seinem 1973 veröffentlichten Essay »Die Aktualität des Natur-


rechts« geht Spaemann aus von einer reductio ad absurdum, der-
zufolge die Leugnung des Naturrechts nur theoretisch möglich ist 110:
»Gäbe es kein von Natur Rechtes, so könnte man über Fragen der
Gerechtigkeit gar nicht sinnvoll streiten.« 111 Spaemann bezieht sich
auf Joachim Ritters Schrift »›Naturrecht‹ bei Aristoteles« 112 aus dem
Jahre 1963, in der Ritter forderte, »zur aristotelischen Naturrechts-

107
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 93.
108 Ebd. 94.
109 Ebd.

110 Die Argumentation zugunsten des Naturrechts hat somit im Ansatz eine der Ar-

gumentation zugunsten der Existenz Gottes analoge Struktur, insofern Spaemann


auch dort den Atheismus nur als theoretische Möglichkeit sieht und auf seine prakti-
schen Konsequenzen hinweist. – Vgl. den ebenfalls 1973 veröffentlichten Essay
»Christliche Religion und Ethik«.
111 Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 60.

112
S. Ritter, Metaphysik und Politik, 133–179.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

konzeption zurückzukehren« 113 und diese auf die Spezifik der Gegen-
wart zu übertragen, die von Ritter als Entzweiung gefasst wurde:
Entzweiung des gesellschaftlichen, auf die abstrakte, egalitäre Bedürf-
nisnatur reduzierten Daseins von der nicht durch diese Gesellschaft
definierbaren geschichtlich-ethischen Substantialität, die durch die
moderne Gesellschaft als private Sphäre »freigesetzt« wird. Indem
Recht und Staat diese Freisetzung gewährleisten, heben sie – das ist
Ritters These – die Entzweiung nicht auf, sondern versöhnen das Ent-
zweite. Naturrecht im aristotelischen Sinne, übersetzt in unsere Le-
benswirklichkeit, wäre also Hermeneutik des bestehenden Rechts auf
seinen Versöhnungscharakter hin. 114
Spaemann bringt diesem Projekt Ritters viel Sympathie entgegen,
beurteilt die Gegenwart jedoch skeptischer als dieser, insofern er eine
»immanente Tendenz zur Totalität« 115 erkennt in einer Gesellschaft,
die »jede ethische Motivation […] in der homogenisierten Form des
›Bedürfnisses‹ – des kulturellen, sittlichen, religiösen usw. – artiku-
liert« 116, und insofern das System der Bedürfnisse des Menschen
»kein ›natürliches‹ System« sei, »aus dem sich, wie es ursprünglich
schien, ein neues Naturrecht entwickeln ließe« 117. Während Ritter
also das Rechtssystem, das die Entfaltung der Subjektivität ermög-
licht, in den Mittelpunkt stellt, geht es Spaemann um eine Tendenz
der gesellschaftlichen Entwicklung, die dieses Rechtssystem aufzu-
lösen droht. Spaemann betont: »Um jedoch von Aristoteles lernen
zu können, muß man sich zuvor schon klar werden über das, was
uns von ihm trennt« 118; die Differenz zwischen Ritter und Spaemann
scheint mir in der Interpretation dieses Trennenden zu bestehen. Rit-
ter sah, was uns sozialgeschichtlich von Aristoteles trennt: die Ent-
zweiung, aber er unterschätzte, was uns ontologisch von ihm trennt,
nämlich die Teleologie, die als »Zerfallsprodukt« eine »Zwei-Welten-
Lehre in ihren verschiedenen Formen« hinterlassen hat: »Reich der
Ursachen und Reich der Zwecke, Sein und Sollen, Tatsachen und
Werte.« 119 Da der aristotelische Naturrechtsgedanke den »ontologi-

113 Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 64.


114 Ebd. 65.
115 Ebd.

116 Ebd.

117 Ebd. 66.

118
Ebd. 64.
119 Ebd. 67. – Vgl.: »Die Unterscheidung von Sein und Sollen ist bei den antiken

Denkern kaum zu finden, ja im Griechischen schwer zu formulieren.« – Rémi Brague,

314

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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten

schen Begriff eines gerichteten Seinkönnens« 120 zur Voraussetzung


hat, hätte Ritters Projekt in Spaemanns Augen nur eine Chance unter
der Bedingung der Wiederbelebung eines teleologischen Denkens.
Was sollte aber unter der Voraussetzung der bestehenden Entzwei-
ung eine solche Wiederbelebung als Leben in Ȇbereinstimmung mit
der Natur« 121 heißen?
Inwiefern kann Natur ein Maß des Handelns sein? Dieses Maß kann
offenbar nicht mehr in einer positiven Bestimmung dessen liegen, was
das Glück des Menschen ausmacht. Eine solche Bestimmung, die un-
vermittelt einen teleologischen Naturbegriff des Menschen ins Spiel
brächte, würde die Preisgabe des modernen Subjektbegriffs bedeuten.
Sie würde den Zusammenhang von Glückseligkeit und Freiheit preis-
geben, der für das menschliche Selbstbewußtsein seit dem Christen-
tum konstitutiv ist. Das erzwungene Glück ist kein Glück. Und da eine
Rückkehr ins Archaische nicht möglich ist, würde ein solcher teleo-
logischer Eudämonismus in der politischen Wirklichkeit nichts ande-
res bedeuten als die uneingeschränkte Tyrannei der Intellektuellen,
die das Glück definieren: die Parodie der platonischen πολιτεία. 122
Unter den Bedingungen der freigesetzten Subjektivität und ihrer ge-
sellschaftlichen Entzweiung ist damit eine Rückkehr zur teleologi-
schen Naturrechtskonzeption nur möglich als Akt der Freiheit, durch
den der Zusammenhang von Freiheitsrecht und Naturbedingungen
erst realisiert wird:
Da der Zusammenhang heute nicht unmittelbar als teleologischer dar-
stellbar ist, zerfällt Naturrecht in zwei Momente: einerseits in ein
Freiheitsrecht als Gesamt der apriorischen Bedingungen gegenseitiger
Anerkennung und Rechtfertigung handelnder Wesen bzw. der not-
wendigen, aus der »Natur der Sache« folgenden Bedingungen jeder
Konsensbildung, andererseits in ein Naturrecht in sensu stricto, das
diejenigen Bedingungen des Handelns betrifft, die aller Konsensbil-
dung vorausliegen und nur um den Preis der Selbstzerstörung verletzt
werden können. […] Naturrecht in sensu stricto impliziert also die
Forderung, daß Freiheit sich zu ihren Naturbedingungen in ein aus-

Zur Vorgeschichte der Unterscheidung von Sein und Sollen, in: Buchheim/Schön-
berger/Schweidler, Die Normativität des Wirklichen, 32.
120
Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 66.
121 Ebd. 73.

122
Ebd. 73–74.

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

drückliches, sie respektierendes und kontrollierendes Verhältnis


setzt. 123
Naturrecht bedeutet daher, so die Schlussfolgerung des Essays, kei-
nen »Normenkatalog«, sondern eine »alle rechtlichen Handlungs-
legitimationen noch einmal kritisch prüfende Denkweise« 124, durch
die die drohende Selbstzerstörung des menschlichen Geschlechts auf-
gehalten werden könnte.
Zur Charakterisierung dieser Denkweise sei abschließend noch
einmal Bezug auf den Essay »Natur« aus dem Jahre 1973 genommen,
der oben im Zusammenhang mit Rousseau 125 bereits herangezogen
wurde. In ihm wird aus einem teleologischen Begriff der Natur jene
Denkweise abgeleitet, die nach Spaemann allein geeignet sein kann,
die selbstzerstörerischen Tendenzen der Moderne aufzuhalten. Sei-
nen Ausgang kann der Gedankengang nehmen beim Verhältnis des
Menschen zu seiner Natur, das ihn von anderen Lebewesen unter-
scheidet, insofern die unmittelbaren Lebensregungen für ihn im
Selbstbewusstsein immer schon durch Reflexion vermittelt sind. Als
reflektierendes Lebewesen geht der Mensch über die Natur hinaus.
Das bedeutet:
Natur kommt überhaupt erst zum Begriff im Hinausgehen über sie.
Die Verweigerung dieses Hinausgehens, die Berufung auf die eigene
Natur als Erklärung des eigenen Handelns ist ein Widerspruch, wenn
es sich um eine Rechtfertigung handeln soll. Gerechtfertigt werden
können nämlich nur Handlungen, insofern sie Handlungen, also nicht
Naturgeschehen sind. Das bewußte Bleiben in der Natur nennt Hegel
deshalb das »Böse«. 126 Das Böse aber war in der philosophischen Tra-
dition immer gerade als Handeln gegen die Natur begriffen worden.
Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst
sich nur, wenn wir den Begriff der »Natur« teleologisch fassen und
den Menschen als von Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes
Wesen verstehen. 127

123 Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 75.


124 Ebd. 78.
125 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,

196–206.
126 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf eine Textstelle bei Hegel:

Z. B.: G. W. F. Hegel, Sämtliche Werke [Jubiläumsausgabe], hrsg. von Hermann


Glockner, Bd. 19, Stuttgart-Bad Cannstatt 41965, S. 369. – Spaemann, Natur (1973),
39.
127
Spaemann, Natur (1973), 32–33.

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5.3.3 Das Natürliche als Erscheinungsform des Absoluten

Paradigma des Bleibens in der Natur ist für Spaemann wiederum pa-
radoxerweise die »pure Naturwüchsigkeit« 128 der progressiven Na-
turbeherrschung. Zwar tritt der Mensch als Subjekt der Naturbeherr-
schung aus der Natur heraus; wo diese Herrschaft jedoch zum
»Selbstzweck« 129 wird und sich, wie spätestens durch die ökologische
Krise sichtbar wurde, »gegen den Menschen selbst wendet« 130, fällt
sie in die Natur zurück:
Ausdehnung der Herrschaft über die Natur ist deshalb immer zugleich
Ausdehnung der Beherrschbarkeit von Menschen. Aber der Prozeß
dieser Ausdehnung ist selbst noch naturwüchsig. Und eine Geschichte
des Menschen, die als bloße Geschichte der Naturbeherrschung ver-
standen wird, ist selbst bloße Naturgeschichte. 131 D. h. aber: In ihr hat
die Unterscheidung »natürlich–unnatürlich« gar keinen Ort. […] Der
vollendete Technizismus ist so zugleich vollendeter Naturalismus. 132
Was aber bedeutet es dann, das Hinausgehen aus der Natur, das mit
dem Selbstbewusstsein schon zur conditio humana gehört, bewusst
zu ergreifen und den Rückfall in die pure Naturwüchsigkeit zu ver-
meiden? »Herausgehen aus der Natur findet nur statt,« so Spaemann,
»wo Natur als sie selbst erinnert wird« 133. Erinnerung bedeutet zu-
nächst Reflexion auf die »natürlichen Voraussetzungen menschlicher
Existenz« 134. Insofern die Natur nun dem Menschen auf unterschied-
lichen Ebenen Grenzen setzt, lässt Freiheit sich nicht als absolute Au-
tonomie eines Herrschaftssubjekts realisieren, sondern nur als Ge-
staltung eines Spielraums, der von einem Unverfügbaren umgrenzt
ist: »Freiheit ist nicht ein ›Kern‹, der zurückbleibt, wenn alle Natur
unterjocht ist. Der fundamentale Akt der Freiheit ist der des Verzich-
tes auf Unterjochung eines Unterjochbaren, der Akt des ›Seinlassens‹.
In ihrer gegenseitigen Anerkennung und Freilassung allein über-
schreiten natürliche Wesen die Natur.« 135 Die naturrechtliche Denk-
weise, von der Spaemann spricht, ist also ein mit dem menschlichen
Herrschaftsinteresse konkurrierendes und als Korrektiv dessen fatale

128 Spaemann, Natur (1973), 33.


129 Ebd.
130 Ebd. 36.

131 Spaemann verweist an dieser Stelle in einer Fußnote auf: S. Moscovici, Essai sur

l’histoire humaine de la nature, Paris 1968. – Ebd. 40.


132 Ebd. 35–36.

133
Ebd. 36.
134 Ebd. 37.

135
Ebd.

317

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5 Die Spur des Absoluten in der Natur

Folgen abwendendes zweites menschliches Interesse, das hier noch


ganz negativ als Verzicht gefasst wird. Der Appell zum Seinlassen ist
gewissermaßen das ethische Äquivalent der teleologischen Ontologie.
Somit steht hier wie in allen in diesem Teilkapitel betrachteten theo-
logischen, ethischen und naturrechtlichen Überlegungen der Bezug
zu einem nicht verlustfrei kürzbaren Absoluten im Mittelpunkt.
Wie sich im Folgenden zeigen wird, ist der zuletzt im Kontext der
naturphilosophischen Überlegungen gefallene Begriff der Anerken-
nung ein zentraler Gesichtspunkt, von dem aus Spaemann in der wei-
teren Entfaltung seines Denkens das hier noch negativ gefasste zweite
Interesse der menschlichen Vernunft weiterverfolgen und inhaltlich
konkretisieren wird.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«:
Grundzüge einer Philosophie

– Я думаю, что все должны прежде всего на свете


жизнь полюбить.
– Жизнь полюбить больше, чем смысл ее?
– Непременно так, полюбить прежде логики,
как ты говоришь, непременно чтобы прежде ло-
гики, и тогда только я и смысл пойму.
Ф. М. Достоевский, Братья Карамазовы,
Книга пятая, третья глава 1

Das vorangestellte Zitat ist ein Auszug aus dem Dialog zwischen Iwan
und Alexej Karamasow im fünften Buch von Dostojewskijs letztem
Roman, in dem der rastlose Analytiker Iwan seinem Bruder Alexej
von seinem leidenschaftlichen Lebensdrang berichtet. Alexej pro-
voziert durch sein Fazit die ungläubige Nachfrage Iwans, bevor er
noch einmal den Gedanken präzisiert, wonach der Sinn nicht Voraus-
setzung, sondern Folge der Liebe zum Leben ist. Die zentrale These
des vorliegenden Kapitels über die weitere Entfaltung von Spaemanns
Denken besteht darin, dass ein ähnlicher Gedanke der Überordnung
des Lebens über den Begriff Charakteristikum der Philosophie Spae-
manns ist. Diese These kann insofern problematisch erscheinen, als
der Novize Alexej in Dostojewskijs Roman ihn als intuitive Einsicht
vertritt, ohne ihn gegenüber Iwan argumentativ stützen zu können;
bei Spaemann hingegen kann es sich dabei nur um eine philosophi-
sche Argumentation handeln. Für eine solche aber scheint dieser Ge-
danke prinzipiell ungeeignet, insofern er das begriffliche Denken
selbst abwertet. Nun ist eine ähnliche Gedankenfigur in den ersten
Kapiteln – im Zusammenhang beispielsweise mit de Bonald 2, mit

1 »›Ich glaube, jedermann sollte über alles auf der Welt das Leben lieben.‹/ ›Soll man
das Leben mehr lieben als den Sinn des Lebens?‹/ ›Unbedingt; man soll es vor der
Logik lieben, wie du sagst, unbedingt vor der Logik, dann erst wird man auch den
Sinn begreifen. […]‹« – F. M. Dostojewskij, Die Brüder Karamasow, Fünftes Buch,
Drittes Kapitel.
2 Vgl. z. B. Bonalds Kritik am cartesischen Ansatz der Reflexionsphilosophie: »Phi-

losophie […] vermag nicht mit sich selbst anzufangen. Der Versuch, ›in uns selbst den

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Fénelon 3 oder dem teleologischen Denken 4 – mehrfach begegnet, wo-


bei es immer wieder ein Gefüge sich wechselseitig stützender Thesen
war, das die den Begriff in Frage stellenden Argumentationen jeweils
in einen Kontext einfügte, der eine genuin philosophische Bedeutung
des Gedankens der Unterordnung des Begriffs unter ein unvordenk-
liches Prinzip ermöglichte. »Jedes Sollen«, so heißt es in Spaemanns
1982 erschienenen »Moralischen Grundbegriffen«, »muß an irgend-
ein schon vorhandenes Wollen anknüpfen, sonst hätten wir gar kei-
nen Grund, uns dieses Sollen zu eigen zu machen.« 5 Im hier zu unter-
suchenden nächsten Schritt der Entfaltung von Spaemanns Denken
geht es um die Weiterführung, vor allem aber um die Verbindung der
Motive, die aus den vorangegangenen Kapiteln bekannt sind, um den
»Gesichtspunkt, unter dem sich alle anderen Hinsichten ordnen« 6,
wie Spaemann in den zitierten »Moralischen Grundbegriffen« mit
Bezug auf den Begriff des Guten schreibt. Alexej Karamasows ›Liebe
zum Leben vor der Logik‹ kann als dieser Gesichtspunkt begriffen
werden, der seine philosophische Bedeutung freilich erst aus dem zu
entwickelnden Gefüge von Argumentationen erhalten wird, um das
es im Folgenden gehen wird.
Gegenstand des sechsten Kapitels sind Spaemanns Schriften der
80er Jahre nach der Veröffentlichung der mit Reinhard Löw verfass-
ten Studien über die »Geschichte und Wiederentdeckung des teleo-
logischen Denkens« im Jahre 1981 und vor der Veröffentlichung sei-
nes nächsten Hauptwerkes »Glück und Wohlwollen. Versuch über
Ethik« im Jahre 1989. Von besonderer Bedeutung in diesem Zeitraum

Stützpunkt zu nehmen, von dem aus wir uns erheben wollen‹ (III 34), führt nicht über
den Ausgangspunkt selbst hinaus.« – Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus
dem Geist der Restauration (1959), 44–45. – Vgl. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit
des Ausgangs vom Subjekt, 107.
3
Vgl. z. B. Spaemanns Aussage: »Fénelons Absage an die Reflexion entspringt ja
nicht der Hoffnung, einen höheren spekulativen Boden zu gewinnen, sondern ist
gleichbedeutend mit Absage an Philosophie überhaupt.« – Spaemann, Reflexion und
Spontaneität (1963), 303. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die
geschichtsphilosophische Perspektive, 173, Fn. 7.
4 Vgl. z. B. Spaemanns und Löws Aussage in Bezug auf teleologisch verfasstes Selbst-

sein: »Es ist ein Unmittelbares, das man überhaupt nicht erklären und in gewissem
Sinne auch nicht verstehen oder eben nur so verstehen kann, daß es den Horizont
seines möglichen Verstandenwerdens selbst erst in seinem Sich-Zeigen eröffnet.« –
Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 247.
5 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 25.

6
Ebd. 20.

320

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

ist die 1987 unter dem Titel »Das Natürliche und das Vernünftige«
erschienene Sammlung von Essays, die als eine Summe seines Den-
kens der 80er Jahre bezeichnet werden kann, sowie der Text Ȇber die
Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«. Auch wenn in
dem nun zu betrachtenden Abschnitt die zuvor nur schwach vermit-
telten Linien von Spaemanns Denken zusammengeführt werden und
eine einheitliche Spaemann’sche Philosophie Konturen gewinnt, ist
es dennoch sinnvoll, die im dritten Kapitel vorgenommene Drei-
teilung in einen philosophiehistorischen, einen stärker systematisch
orientierten und einen – religionsphilosophischen und ethischen Fra-
gen gewidmeten – im weitesten Sinne praktischen Teil beizubehalten.
Diese Gliederung kann zum einen der Übersichtlichkeit des zu struk-
turierenden Materials dienen und zum anderen transparent machen,
auf welche Weise in den 80er Jahren die zuvor nur implizit verbun-
denen Linien von Spaemann zusammengeführt werden.
In der Einleitung 7 zu seinen 1983 erschienenen »Philosophi-
schen Essays« schreibt Spaemann, er habe »zum Verständnis jenes
Geschehens der Moderne, in das wir alle verwickelt sind, stets zwei
Weisen des Zugangs gesucht. Die eine ist die Geistesgeschichte.« 8 In
Fortführung der philosophiehistorischen Untersuchungen über de
Bonald, Fénelon und Rousseau der vorangegangenen Kapitel wird in
Teilkapitel 6.1 eine Gedankenbewegung Spaemanns verfolgt, die von
der Gegenwart in die Antike und von dort zurück in die Neuzeit
führt. Neben Aristoteles und Thomas von Aquin werden hier vor
allem Descartes, Leibniz und Whitehead im Mittelpunkt der Auf-
merksamkeit stehen. Sein »zweiter Zugang zum Phänomen der Mo-
derne« ist nach Spaemann »ein spontaner Widerwille gegen die Um-
interpretation unseres natürlichen Selbstverständnisses« 9 und damit
sein Projekt der Wiederbelebung des teleologischen Denkens. Im
Teilkapitel 6.2 wird es daher um die in den 80er Jahren von Spaemann
hergestellte Verbindung des teleologischen Denkens mit dem Thema
der Selbsttranszendenz gehen, die anhand der Begriffe Anerkennung

7 Spaemann, Einleitung (1983), 3–18, unter dem Titel »Versuche, das Ganze zu den-
ken. Anstelle eines Vorworts« mit leichten Veränderungen übernommen in: Spae-
mann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 7–23.
8 Spaemann, Einleitung (1983), 10.

9 Spaemann, Versuche, das Ganze zu denken (2010), 17. – Diesen Satz hat Spaemann

erst in der Ausgabe von 2010 in den Einleitungstext eingefügt; der darin ausgedrückte
Gedankenzusammenhang war gleichwohl in der Ausgabe von 1983 bereits implizit
vorhanden.

321

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

und Repräsentation zu entfalten sein wird. Die bis dahin ausgeklam-


merten Gedanken Spaemanns zu religionsphilosophischen Themen
und Fragen der philosophischen Ethik werden abschließend auf die
zuvor dargelegte metaphysische Konzeption bezogen, wobei die An-
schlussfähigkeit dieser Gedanken an das metaphysische Fundament
gezeigt werden soll, so dass Teilkapitel 6.3 die wesentlichen Ergeb-
nisse der beiden vorangegangenen aufnehmen und eine Zusammen-
schau und Schlussfolgerung des gesamten sechsten Kapitels bilden
wird.

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6.1 Das philosophiehistorische Projekt einer
Erneuerung der antiken Substanzontologie

Spaemanns philosophiehistorisches Projekt einer Erneuerung der an-


tiken Substanzontologie kann anhand des erst 2010 erschienenen
Texts »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹ 1
erschlossen werden, der die spezifische Denkbewegung der Spae-
mann’schen Philosophie paradigmatisch vor Augen führt. In seiner
»Autobiographie in Gesprächen« bemerkt Spaemann über die Vor-
geschichte dieses Textes:
Meine Vorlesungen waren meistens sehr gut besucht. Eine Ausnahme
war die Vorlesung »Über die Bedeutung der Worte ›Ist‹, ›Existiert‹ und
›Es gibt‹«, an der mir selbst besonders gelegen war. Sie fiel aus dem
Rahmen meines übrigen Vorlesungsprogramms zu sehr heraus, leider.
Am liebsten hätte ich nur solche Vorlesungen gehalten. 2
In der 2011 erschienenen Ausgabe seiner »Gesammelten Reden und
Aufsätze« versieht Spaemann den Text mit der Jahresangabe
»1980/81« und fügt hinzu: »Dieser Beitrag geht auf Bemerkungen
zum Thema eines Münchner Oberseminars im Wintersemester
1980/81 zurück.« 3 Der Text besteht aus drei, Heidegger, Aristoteles
und Descartes gewidmeten Teilen und beschreibt die doppelte Bewe-
gung aus der Gegenwart in die Antike und wieder zurück in die Neu-
zeit, die Spaemann in den 80er Jahren wiederholt vollzieht. Im Fol-
genden werden zunächst die ersten beiden Teile dieses Texts im
Mittelpunkt stehen, wobei es um den Blick aus dem 20. Jahrhundert
auf die klassische antike Philosophie und um das Problem der Rezep-
tion der Antike geht, das für Spaemanns Denken von prinzipieller
Bedeutung ist (6.1.1). Ausgehend vom aristotelischen Begriff der
φύσις wird anschließend anhand des Essays »Über den Begriff einer
Natur des Menschen« der fundamentale anthropologische Dualismus
erläutert und die Geschichte dieses Dualismus von der Antike bis zur
Gegenwart nachgezeichnet (6.1.2). Danach kehren die Untersuchun-
gen zurück zu einem bestimmten, für Spaemann wesentlichen Mo-

1 Zuerst veröffentlicht in: Philosophisches Jahrbuch 117 (2010), 5–19. Danach in:
Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 27–49.
2 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 219.

3
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 48.

323

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

ment der Entwicklung dieses Dualismus, nämlich zur cartesischen


Unterscheidung der res cogitans und ihrer cogitationes und damit
zur Frage nach der Bedeutung des Fortschrittes vom ›cogito‹ zum
›sum‹. Hier steht der dritte Teil von »Über die Bedeutung der Worte
›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« sowie der aus dem Jahre 1987 stammen-
de Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« im Mittelpunkt
(6.1.3). Als Weiterführung des spekulativ-dialektischen Gedanken-
gangs Descartes’ deutet Spaemann die Leibniz’sche Monadologie
(6.1.4) und als Alternative zu diesem Gedankengang die White-
head’sche Kosmologie (6.1.5), die zum Abschluss betrachtet werden.
Mit diesen philosophiehistorischen Betrachtungen soll der notwen-
dige Hintergrund rekonstruiert werden, vor dem die stärker syste-
matisch orientierten Ausführungen im folgenden Teilkapitel 6.2 zu
sehen sind.

6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption

In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« geht
Spaemann aus von der »Frage nach dem Sein und ihre[r] Bedeutung« 4,
wobei er sich zunächst auf Heidegger und dessen Vorwurf bezieht,
wonach die Geschichte des Seins eine »Verstehens- und Vergessens-
geschichte« 5 ist, die mit der klassischen griechischen Philosophie be-
reits begonnen habe: »Die Metaphysik, die das Seiende als Seiendes
thematisiert, ist zugleich von Anfang an eine Verdrängung des ur-
sprünglich Gemeinten.« 6 Heideggers Denken wird hier jedoch nur
knapp umrissen und dient im Rahmen des Textes eher als Hinführung
zur entscheidenden Fragestellung: »Wie steht es mit Heideggers These
von der Seinsvergessenheit der griechischen Metaphysik? Und zwar
fragen wir mit Bezug auf Aristoteles. Was will Aristoteles eigentlich
wissen, wenn er das on he on thematisiert?« 7 Die folgenden wenigen
Seiten über die aristotelische Metaphysik sind stark verdichtet und
enthalten in nuce eine kultur- bzw. geschichtsphilosophische These,
die für Spaemanns Verständnis der antiken Philosophie und sein Den-
ken im Allgemeinen von zentraler Bedeutung ist. An diese These he-

4 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 27.
5
Ebd. 28.
6 Ebd.
7
Ebd. 31. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Γ, 1003 a 21–26.

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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption

ran kann zunächst die Einsicht führen, dass Spaemann die selbst ge-
stellte Frage nach der Bedeutung der Thematisierung des ὄν ᾗ ὄν bei
Aristoteles nicht direkt beantwortet, sondern vielmehr in einer Reihe
von Negationsschritten aus neuzeitlicher Perspektive naheliegende
Antworten als anachronistisch zurückweist. Als erste Zurückweisung
kann Heideggers Frage selbst nach der Bedeutung von Sein genannt
werden: »Die Frage nach dem on he on bei Aristoteles ist nicht eigent-
lich die Frage nach dem, was wir meinen, wenn wir sagen, etwas ist –
das setzt Aristoteles in der Tat als das gnorimotaton, als das Allerbe-
kannteste voraus 8 –, sondern es ist die Frage, wodurch und warum das
ist, was ist.« 9 In Bezug auf die Bedeutung von Sein wird bei Aristoteles
also Selbstverständlichkeit unterstellt und vielmehr nach den Prinzi-
pien und Ursachen (ἀρχαί und αἴτια) des Seins gefragt. Die zweite
Zurückweisung betrifft die kantische Fassung der Frage:
Wir könnten versucht sein, es kantisch als die Frage nach den Bedin-
gungen der Möglichkeit zu übersetzen. Aber diese Frage ist nicht die
aristotelische. Die Bedingung der Möglichkeit ist nämlich, so wieder-
holt Aristoteles immer wieder, die Wirklichkeit. Möglichkeit ist ein
teleologischer Begriff. Möglichkeit ist etwas am Wirklichen, und zwar
etwas, das in seiner Art, wenngleich nicht an diesem Wirklichen, ent-
weder selbst schon wirklich oder einem schon Wirklichen verwandt
sein muss, um überhaupt möglich zu sein. Die Frage, warum das ist,
was ist, ist daher die Frage nach dem Grund seiner Wirklichkeit. 10
Die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit stellt also die für
Aristoteles gültige Unterordnung der Genesis unter die Geltung auf
den Kopf und verfehlt damit das Sein als Wirklichkeit im aristote-
lischen Sinn. Eine dritte Zurückweisung betrifft die Frage nach dem
Sosein 11 und dem Dasein bzw. nach dem Wesen und der Existenz.

8
Spaemann fügt hier folgende Anmerkung ein: »Siehe Metaph. III 4, 1001 a 18–24:
›Seiendes‹ und ›Eines‹ sind das am meisten Allgemeine; wenn sie nichts beitragen zur
Erkenntnis der Dinge, dann auch nicht alle anderen Allgemeintermini; vgl. IV 3, 1005
b 6–34: Das ›allerbekannteste Prinzip‹ ist die Unterscheidung zwischen Sein und
Nichtsein verbunden mit der Gewissheit, dass nicht beides zugleich auf dasselbe zu-
treffen kann.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es
gibt« (2010), 48.
9 Ebd. 32.

10 Ebd.

11
Spaemann verwendet in unterschiedlichen Publikationen die Schreibweisen ›So-
Sein‹ und ›Sosein‹. Im Sinne der Einheitlichkeit wird hier abgesehen von wörtlichen
Zitaten durchgehend die Schreibweise ›Sosein‹ verwendet.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Geht es bei der Frage nach dem Sein um das Dass oder das Was des
Seienden? »Aristoteles«, so betont Spaemann, »unterscheidet diese
beiden Fragen ausdrücklich nicht: ›Es ist Sache derselben Überlegung,
zu zeigen, was etwas ist und ob es ist.‹ (Metaph. VI 1, 1025 b 17 f.)
[…] Quia unumquodque habet suum esse per quidditatem, wie Tho-
mas sehr genau die aristotelische Sicht wiedergibt.« 12 Sosein und
Dasein sind für Aristoteles also untrennbar und die reale Unterschei-
dung zwischen ihnen ist ein erst im Mittelalter entstandener Ge-
danke. 13 Insofern Aristoteles eine erste οὐσία (z. B. Sokrates) von
einer zweiten οὐσία (z. B. Mensch) unterscheidet, ergibt sich die
Möglichkeit einer weiteren Zurückweisung eines modernen Miss-
verständnisses:
Wirklich ist eine individuelle Substanz. Aber sie ist als individuelle
Substanz nur als Instantiierung einer allgemeinen ousia. So liegt es
nahe, Aristoteles in die Nähe zu Quine zu rücken: Sein heißt: Instan-
tiierung eines generellen Terminus zu sein. 14
Aber diese Formulierung bringt gerade nicht zum Ausdruck, was
Aristoteles sagen will. Sie verwechselt Logik und Sprachanalyse mit
Ontologie. Sie unterscheidet nämlich nicht Prädikatausdrücke und
Subjektausdrücke, oder wie Aristoteles sagt: Substanzbegriffe. 15
Diese Reihe von Negationsschritten ließe sich fortsetzen; stattdessen
soll aber nun gefragt werden, welches Ziel Spaemann mit ihnen ver-
folgt: Welchen Begriff von Sein will er freilegen, der von allen diesen
Fragen aus moderner Perspektive verfehlt wird? In einem ersten Vor-
griff auf die Ausführungen in Abschnitt 6.2.2 zu Spaemanns meta-
physischer Konzeption kann diese Frage dahingehend beantwortet
werden, dass er gar keinen Begriff von Sein freilegen will: »Sein ist
nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der
Anerkennung.« 16 Welches Ziel verfolgt er dann aber in der Annähe-
rung an Aristoteles in einer Reihe von Negationsschritten? Das Ziel

12
Ebd. 32–33. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Thomas-Zitats: Thomas
von Aquin, In XII libros Metaphysicorum VI, 1 (ed. M-R. Cathala, Turin 1950,
nr. 1150). – Ebd. 48. – Deutsch: Weil jedes Einzelne sein Sein hat in der Washeit.
13 Vgl. Hoffmann, Wesen, II. Mittelalter, in: HWPh XII, col. 628.

14 Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: W. V. O. Quine, »On What There Is«,

in: Ders., From a Logical Point of View. Nine logico-philosophical Essays, New York,
2. Aufl. 1963, 1–19, bes. 12–14. – Ebd. 48.
15
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
33–34.
16
Ebd. 42.

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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption

besteht darin, die abgrundtiefe Fremdheit der aristotelischen, oder


allgemeiner, der klassischen antiken Philosophie darzulegen. Aus die-
ser Zielsetzung ergeben sich gleich zwei weitere Fragen. Erstens:
Worin ist diese abgrundtiefe Fremdheit begründet? Und zweitens:
Welche Bedeutung kann die klassische antike Philosophie angesichts
einer solchen Fremdheit für uns überhaupt haben?
Um auf die erste Frage zu antworten, muss man sich zunächst
klarmachen, dass auf die Frage nach der Bedeutung der Thematisie-
rung des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles gar keine positive Antwort möglich
ist und dass eine Annäherung an den aristotelischen Substanzbegriff,
um den es bei der Frage nach dem ὄν ᾗ ὄν geht, aus unserer Perspek-
tive nur per viam negationis möglich ist:
[…] der aristotelische Begriff eines wesentlichen Was, das zugleich
Grund des »Dass« ist, hat seinen Ursprung nicht in der Logik. Er hat
seinen Ursprung in der Erfahrung von Lebendigem, die ihrerseits die
Selbsterfahrung eines Wesens voraussetzt, dem es, um mit Heidegger
zu sprechen, in seinem Sein um dieses selbst geht. Die aristotelische
erste Philosophie reflektiert dies nicht. Sie geht nicht vom Subjekt aus.
Sie fasst vielmehr das Subjekt selbst als natürliche Substanz […]. […]
Die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt hat noch nicht
stattgefunden. 17
In diesen Sätzen ist die Einsicht enthalten, dass das antike Denken
sich in einem Raum bewegt, der, sobald das Denken über diesen
Raum hinausgegangen ist, aus der Außenperspektive nicht mehr

17 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
34–35. – Vgl.: »Die griechischen Klassiker, Platon und Aristoteles, haben neben dem
diskursiven Denken, der διάνοια, ein intuitives Denken, die νόησις, anerkannt. […]
Weil ihr [der Noesis] die propositionale Gliederung in Subjekt und Prädikat abgeht,
denkt (beansprucht) sie nicht etwas von etwas (τί κατὰ τινός), sondern einfachhin
etwas. Sie kann daher, wie Aristoteles Metaphysik Θ 10 ausführt, nicht falsch sein,
sondern ist wahr in einem Sinn von Wahrheit, der tiefer liegt als der Kontrast von
Aussagewahrheit und -falschheit. Die Noesis erhebt keine Ansprüche auf Wahrheit
und braucht daher keine Beweislasten oder Begründungspflichten zu übernehmen; sie
ist wahr vor aller Möglichkeit des Irrtums und der Täuschung. Sie erfaßt Seiendes,
indem sie es, wie Aristoteles sagt, gleichsam ›berührt‹ [Verweis auf: Aristoteles, Me-
taph. Θ 10; 1051 b 24 f.]. Ihre Wahrheit ist daher nicht normativ, als epistemische
Richtigkeit zu verstehen, sondern ursprünglicher: als Unverborgenheit des Erfaßten
für die Noesis, d. h. als ἀλήθεια in dem von Heidegger hervorgehobenen Sinn. Die
Wahrheit der Noesis und die Unverborgenheit des von ihr erfaßten Sachverhaltes
sind ein und dasselbe.« – Anton Friedrich Koch, Die Antinomie des Lügners und der
Satz des Protagoras, in: Buchheim/Schönberger/Schweidler, Die Normativität des
Wirklichen, 239–243.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

nachvollzogen und nicht mehr verstanden werden kann ohne die si-
multane Reflexion auf die prinzipiell verschiedenen Denkvorausset-
zungen innerhalb und außerhalb dieses Raumes. 18 Die nicht in Sub-
jekt und Objekt geteilte antike Wirklichkeit können wir nicht
nachvollziehen und nur indirekt verstehen. Aber ein solches indirek-
tes Verstehen ist an die Bedingung geknüpft, dass wir unsere norma-
lerweise unreflektierten modernen Denkvoraussetzungen als uns
notwendigerweise vom antiken Denken Trennendes bewusst machen,
um dann per viam negationis solche Aspekte dieser antiken Wirklich-
keit auszumachen, denen ungeachtet ihrer spezifischen Fremdheit
eine gewisse Aktualisierbarkeit für uns eignet. Die oben angeführten
Fragen aus moderner Perspektive zum aristotelischen Seinsverständ-
nis erwiesen sich deswegen als Anachronismen, weil sie dieser Bedin-
gung nicht genügten, weil in ihnen gerade diese simultane Reflexion
unterblieben ist und auf verschiedenen Ebenen moderne Denkweisen
in die Antike hineinprojiziert wurden. Es gehört nach meiner Ein-
schätzung zu den großen Vorzügen Spaemanns als Denker, dass er
in diesem Sinne an das antike Denken stets mit einem sehr feinen
Gespür für dessen Fremdheit herangetreten ist, ohne durch diese ko-
gnitive Distanz den Blick auf das zeitlose Gemeinsame von Antike
und Moderne zu verlieren. 19 Eben auf dieses zeitlose Gemeinsame
richtet sich die zweite Frage nach der möglichen Bedeutung der anti-
ken Philosophie für uns. Grundsätzlich kann die antike Philosophie
aufgrund der genannten Rezeptionsbedingungen für uns keinen un-
mittelbaren Orientierungsrahmen bilden. Wenn sie dennoch auch für
uns eine bleibende Inspirationsquelle ist, dann kann das nur in As-
pekten begründet sein, die Ausdruck der conditio humana selbst und
dem Wandel der Zeiten gegenüber indifferent sind. In Bezug auf sol-
che Aspekte kann dann zwar die Notwendigkeit bestehen, sie in das
Bedingungsgefüge unseres neuzeitlichen Denkens zu übersetzen,

18 Christoph Riedel bemerkt in seiner Studie »Subjekt und Individuum«, in der er


zunächst Vorformen der Reflexivität in der griechischen Antike untersucht, im Sinne
dieses Befundes: »Bei Aristoteles verstärkt sich das heuristische Problem, das sich bei
der Darstellung des Ich-Gedankens in der griechischen Philosophie grundsätzlich
stellt: Nirgends ist der Begriff des Ich explizit Thema der Reflexion, weil dafür das
Interesse der Denker noch zu sehr an der allgemeinen Prinzipienebene haftet.« –
Riedel, Subjekt und Individuum, 39.
19 In diesem Sinne werden sich Spaemanns die Antikenrezeption betreffende Gedan-

ken weiterentwickeln und in den folgenden Kapiteln eine wichtige Rolle spielen, so
etwa im Zusammenhang mit dem Denken der Person. – Vgl. Spaemann, Personen,
27–29.

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6.1.1 Das Problem der Antikenrezeption

aber eben eine solche Übersetzbarkeit kann für sie vorausgesetzt wer-
den. Wesentliche Aspekte dieser Art, die Spaemann im Rahmen die-
ses Textes ins Auge fasst und die für sein philosophisches Denken von
zentraler Bedeutung sind, sind die Auffassung des Subjekts als natür-
liche Substanz und damit verbunden dessen teleologische Verfasst-
heit. Der Begriff Substanz bezeichnet bei Aristoteles ein erstes Prin-
zip, da es nicht von einem Zugrundeliegenden ausgesagt wird,
sondern vielmehr alles andere von ihm 20; Paradigma der Substanz ist
für Aristoteles der Mensch als Selbstsein, dem es um etwas geht:
[…] Aristoteles versteht den Menschen als natürliche Substanz. […]
Aber das bedeutet gleichzeitig, dass der Begriff der Substanz im Aus-
gang von der Selbsterfahrung des Lebendigen gebildet ist, d. h. desje-
nigen Seienden, dessen Sein nicht Vorhandensein ist für ein Subjekt,
sondern dessen Sein den Charakter des Selbstseins hat, dem es »um
etwas geht«. Worum geht es diesem Seienden? Es geht ihm darum, zu
sein. Und zwar nicht irgendwie zu sein, sondern als dieses Bestimmte
zu sein, dieses bestimmte eidos zu verwirklichen. Sein ist für Aristo-
teles – wie für Platon – jene Bewegung und Anstrengung, in der sich
aus dem mê on der hylê ständig Gestalten aktualisieren und diese sub-
stanziellen Gestalten wiederum um ihrer eigenen Selbstverwirk-
lichung willen tätig sind. 21
Dieses Prinzip der Bewegung, d. h. die teleologische Verfasstheit
lebendiger Wesen, ist ein solcher zeitloser Aspekt, der sich unter der
Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt gewiss in
anderer Form zeigen muss als in der antiken Welt, dessen Sich-Zei-
gen in der Moderne gleichwohl in einer Analogie zu seinem Sich-
Zeigen in der Antike stehen muss. Der fundamentale Aspekt
schlechthin ist der aristotelische Gedanke der natürlichen Substanz,
die ins neuzeitliche Denken übersetzt als Subjekt auftaucht und der
gerade durch diese Übersetzung die Auflösung droht. An anderer
Stelle – in dem Essay »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evo-
lutionstheorie?« 22 aus dem Jahre 1984 – spricht Spaemann von der
nicht trivialen »Trivialisierung der Subjektivität« 23 in der Moderne,

20 Vgl. z. B. Aristoteles, Metaphysik, 1017 b 10–14 und 1028 b 36–1029 a 2. – Vgl.


Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz, 44–54.
21 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.

22 In: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 43–73, auch in: Ders., Phi-

losophische Essays, 185–231, u. in: Ders., Schritte über uns hinaus. Gesammelte Re-
den und Aufsätze II, 60–81.
23
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 52.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

die darin besteht, dass die Subjektivität »als überlebensdienliche


Funktion des komplexen Regelsystems« 24 rekonstruiert wird und da-
mit als solche zum Verschwinden gebracht wird. Was wir als Subjek-
tivität missverstehen, ist demnach nur ein funktionaler Zusammen-
hang innerhalb des gesellschaftlichen Selbsterhaltungsmechanismus.
Gegenüber dieser Bedrohung des menschlichen Selbstverständnisses
kann die aristotelische Auffassung des Subjekts als natürlicher Sub-
stanz ein Modell darstellen, das modifiziert auch unter der Bedingung
der Zweiteilung der Welt in Subjekt und Objekt zu bewahren sein
muss:
Wollen wir daran festhalten, uns als Subjekte zu denken, und wollen
wir daran festhalten, mit dem Begriff der Menschenwürde irgend-
einen Sinn zu verbinden, dann wird die Aufgabe einer entsprechenden
Ontologie in Abwandlung eines bekannten Hegelwortes wohl so for-
muliert werden müssen: »Es kommt darauf an, Subjekte als Substan-
zen zu denken.« 25
Es ist damit nicht präjudiziert, wie ein Subjekt unter neuzeitlichen
Bedingungen als Substanz gedacht werden kann; lediglich wird als
selbstverständlich angenommen, dass dies möglich sein muss. Ein
moderner Substanzbegriff müsste sich dann durch analoge Merk-
male, die er mit dem antiken teilt, auszeichnen. Die Frage nach dem
Sein führt bei Aristoteles also nicht zu einer begrifflich fixierbaren
Antwort, sondern zur Naturteleologie und ihren Instantiierungen,
den Substanzen, als erstem Aussagengegenstand: »Sein ist ein Ver-
bum und insofern ein Ausdruck mit teleologischer Konnotation. Sein
heißt: zu sein. Von einem Wesen sagen: ›Es ist‹, heißt sagen, dass es
ihm um sein Sein geht.« 26
Berücksichtigt man die hier knapp dargelegten Rezeptionsbedin-
gungen der klassischen antiken Philosophie, so verlangt der dar-
gestellte Rückbezug von Heidegger bzw. allgemein der neuzeitlichen
Philosophie auf Aristoteles eine zweifache Bewegung. Erstens wird
der Blick zurückgelenkt auf die antike Philosophie als einen Gegen-
stand, an den heran nur eine negative Annäherung möglich ist, deren
positiver Gehalt in der In-Frage-Stellung moderner Denkansätze und
in der Wahrnehmung solcher Aspekte, die eine analoge Übersetzbar-
keit für uns vermuten lassen, besteht. Zweitens aber muss der Blick

24
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 53–54.
25 Ebd. 72–73.
26
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.

330

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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

im Sinne der notwendigen Übersetzung solcher uns über die be-


schriebene Distanz hinweg betreffender Aspekte in die Neuzeit zu-
rückkehren, als philosophiehistorische Betrachtung oder als selbstän-
diges Denken. Erst durch diese zweite Bewegung können die
Potentiale, die der Rückbezug auf die klassische antike Philosophie
in sich birgt, aktualisiert werden und die negative Annäherung an
jene in philosophische Positionen verwandelt werden. Dieser zweiten
Bewegung sind die folgenden Abschnitte gewidmet.

6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

Im 1985 zuerst erschienenen Essay Ȇber den Begriff einer Natur des
Menschen« 27 geht es im Wesentlichen um ein in der Geschichte der
Philosophie dauerhaft virulentes Deutungsproblem des Menschen.
Spaemann geht aus von seiner in den 80er Jahren entwickelten Zeit-
diagnose, wonach als Zerfallsprodukt der neuzeitlichen Entteleologi-
sierung zwei komplementäre Weltanschauungen entstanden sind, die
wechselseitig gegen die ihren eigenen Erklärungswert auflösende
Rekonstruktion durch die konkurrierende Sichtweise wehrlos sind.
Diesen Antagonismus, den er später mit den Begriffen Transzenden-
talismus und Naturalismus bezeichnen wird 28, fasst er hier mit dem
Begriffspaar Hermeneutik vs. Szientismus:
Der Dualismus von Hermeneutik und Szientismus in der Frage »Was
ist der Mensch?« scheint die Form eines unüberwindbaren Patt zu
haben. […] Eine Anthropologie, die sich als reine Phänomenologie
solipsistischer Selbsterfahrung einer wesenlosen Subjektivität ver-
steht und jede Objektivierung durch den »Blick des anderen« als für
die Selbstdeutung entweder bedeutungslos oder destruktiv ablehnt,
eine solche Anthropologie kann nicht mehr Wahrheit beanspruchen
als jene szientistische Reduktion, die sie nur ignorieren, aber nicht
integrieren kann. Und umgekehrt: Der Reduktionist kann eine Selbst-
deutung ruhig stehenlassen, die für sich gerade nicht »Objektivität«
beansprucht. Er kann dieser Selbstdeutung jene Absolutheit ohne wei-
teres zugestehen, die sie sich selbst vindiziert, da es ja nur eine »Ab-
solutheit« des Für-sich-Seins ist, das kein An-sich-Sein beansprucht

27 Erschienen zunächst in: Michalski, Krzysztof (Hrsg.): Der Mensch in der moder-
nen Gesellschaft (= Castel Gandolfo-Gespräche [1]), Stuttgart 1985, 110–116. Wie-
derabdruck in: Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige, 13–39.
28
Vgl. z. B. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138–139.

331

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

und das sich so gegen seine naturalistisch-relativierende Erklärung


immunisiert, ohne mit ihr in eine Kontroverse zu treten. Sie kann
diese Reduktion als »andere Wahrheit« über den Menschen durchaus
zur Kenntnis nehmen. 29
Indem er die Entstehung dieses Antagonismus auf die Überwindung
des teleologischen Denkens zurückführt, formuliert er die These, dass
ihm letztlich ein in der menschlichen Natur begründeter fundamen-
taler Dualismus zugrunde liegt: »Nun ist allerdings dieser anthro-
pologische Dualismus nicht einfach ein kontingenter Unfall der
Denkgeschichte. Er gründet vielmehr seinerseits in der Struktur
menschlicher Selbsterfahrung, und auf die eine oder andere Weise
war er immer präsent.« 30 Spaemann verbindet somit seine Zeitdiag-
nose mit dem Grundgedanken seiner Studien zur Teleologie, wonach
es die Selbsterfahrung des Menschen als eines Wesens, dem es um
etwas geht, mit sich bringt, dass ein vollständiger Begriff des Men-
schen immer jenes andere, das er gerade nicht ist, in sich fassen muss,
dass der Dualismus somit in der Natur des Menschen selbst begrün-
det ist. Die »menschliche Natur«, so Spaemann, »wird also durch
etwas definiert, was sie selbst nicht ist, durch eine Antizipation« 31.
Im vorliegenden Essay beschreibt nun Spaemann exakt die Gedan-
kenbewegung, die im vorherigen Abschnitt als charakteristisch für
sein Denken im hier betrachteten Zeitraum bezeichnet worden ist:
Er geht aus von den Erscheinungsformen des anthropologischen
Dualismus in der Neuzeit, springt dann anhand des eben dargelegten
Gedankens der Verwurzelung des Dualismus in der menschlichen
Natur in die klassische antike Philosophie, um von dort aus über die
mittelalterliche Philosophie in die Moderne zurückzukehren und die
Frage der Aktualisierbarkeit der aristotelischen Fassung des Dualis-
mus zu prüfen. Von besonderer Bedeutung im Rahmen dieses Gedan-
kengangs ist die mittelalterliche Aneignung und Umformung der
aristotelischen Fassung des Dualismus, da gerade sie mögliche Bah-
nen einer modernen Aktualisierung vorzeichnet. Auch wenn die Be-
deutung Thomas von Aquins für Spaemanns Denken sich in den vo-
rangegangenen drei Kapiteln durchaus schon ankündigte, vollzieht
sich im vorliegenden Essay nach meiner Überzeugung ein entschei-
dender Schritt, mit dessen Deutung Spaemann noch bis weit in die

29
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 17–19.
30 Ebd. 26.
31
Ebd. 34.

332

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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

90er Jahre hinein beschäftigt war. Im Folgenden wird die Bewegung


von Aristoteles zur Gegenwart in den wesentlichen Grundgedanken
knapp wiedergegeben.
Der anthropologische Dualismus gründet in der menschlichen
Selbsterfahrung und ist Teil der conditio humana: »Irgendeine Unter-
scheidung von Leib und Seele ist offenbar eine Kennzeichnung schon
der archaischsten Formen des Menschseins.« 32 Insofern das Nachden-
ken des Menschen über sich selbst eine Bemühung um die Darstel-
lung der Einheit des eigenen Wesens ist, liest sich die Geschichte der
Selbstverständigung des Menschen wie ein fortwährender Versuch
der Überwindung des Dualismus, der jedoch immer nur neue Dualis-
men hervorbringt. Wenn Aristoteles die Unterscheidung von Leib
und Seele aufhebt,
indem er die Seele als forma corporis begreift, so führt er doch sogleich
einen neuen Dualismus ein: Der nous poietikos, das Prinzip der Intel-
ligibilität ist überhaupt nicht im eigentlichen Sinne Teil der mensch-
lichen Seele, sondern ragt als das »allein Göttliche« »von außen« in
den Menschen hinein 33. Er allein ist »unsterblich und ewig« 34, nicht
der Mensch und seine individuelle Seele. 35
Über das »Eigentümliche« dieses göttlichen Prinzips des νοῦς ποιη-
τικός bemerkt Spaemann an anderer Stelle:
Das Eigentümliche wird in »De anima« 430 a 14 als die Fähigkeit be-
zeichnet, alle Dinge zu »machen«, und zwar so zu machen, dass der
menschliche Geist selbst sie werden kann: »Wirkliches Erkennen ist
identisch mit seinem Gegenstand.« Eben insofern der nous gerade
nicht eine natürliche Substanz ist, kann er alle natürlichen Substanzen
erkennen, und zwar als sie selbst. 36
Zum Problem wurde diese aristotelische Form des Dualismus in
christlicher Zeit, da der von außen – θύραθεν – in den Menschen
hineinragende Intellekt im Widerspruch stand zur Lehre von der in-
dividuellen Unsterblichkeit. Spaemann zitiert hierzu aus dem Kom-
mentar zu »De anima« von Thomas von Aquin:

32 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 26.
33 Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De gen. anim. 736 b. – Ebd. 39.
34
Spaemann verweist als Quelle auf: Aristoteles, De anima, 430 a. – Ebd. 39.
35 Ebd. 26–27.
36
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.

333

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Wäre nämlich, so schreibt Thomas 37, der intellectus agens eine sub-
stantia separata, so wäre der Mensch »von Natur nicht hinreichend
ausgestattet«. Denn »er besäße nicht in sich selbst die Prinzipien,
durch die er die Tätigkeit des Erkennens ausführen könnte … darum
verlangt die Vollkommenheit der menschlichen Natur, daß beide –
aktive und passive Vernunft – etwas im Menschen sind«. 38
Zunächst vollzieht sich nun die erneute Verschiebung des Dualismus:
»Der anthropologische Dualismus, den Thomas zu überwinden sucht,
taucht allerdings unvermeidlich an anderer Stelle wieder auf und
führt nun zum Begriff des ›Übernatürlichen‹, dem gegenüber auch
noch die Vernunft zur ›Natur‹ gerechnet werden muß.« 39 Da »die
vollendete Seligkeit in der in diesem Leben unerreichbaren visio Dei
besteht« und da »der Mensch dieses Ziel nicht ›per sua naturalia‹
erreichen« 40 kann, wird so das Übernatürliche zur notwendigen Er-
gänzung des natürlichen Menschen. Gegen diese neue Form des Dua-
lismus führt Thomas selbst den Einwand an: »natura non deficit in
necessariis.« 41
Die Antwort auf diesen Einwand enthält nun ein zentrales anthro-
pologisches Argument. Sie lautet: »Die Natur versagt dem Menschen
gegenüber nicht im Bereich des Notwendigen, obgleich sie ihm nicht,
wie den Tieren, Waffen und Schutzwehren verliehen hat; denn sie hat
ihm Vernunft und Hände gegeben, mit denen er sich diese Dinge
selbst verschaffen kann. Ebenso versagt sie nicht dem Menschen ge-
genüber hinsichtlich des Notwendigen, wenn sie ihm kein Prinzip ver-
lieh, durch das er die Seligkeit erreichen kann. Das war nämlich un-
möglich. Dafür gab sie ihm den freien Willen, durch den er sich zu
Gott bekehren kann, daß dieser ihn selig mache.« 42 Und dann fügt er

37 Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin. In Arist. De anima, III, 10. –
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 39.
38 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 27.

39 Ebd. 28.

40 Ebd.

41 Ebd. – Das Zitat lautet bei Thomas im Kommentar zu »De anima« vollständig:

»natura nihil facit frustra, neque deficit in necessariis.« – Deutsch: »Die Natur tut
nichts Überflüssiges und bleibt hinter dem Notwendigen nicht zurück.« – Sentencia
De anima, lib. 3, lectio 14 n. 17.
42 Spaemann verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa theologica, I a,

II ae, V, 3, ad 1. – Ebd. 39.

334

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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

als Zitat des Aristoteles an: »Was wir durch unsere Freunde können,
können wir gewissermaßen durch uns selbst.« 43
Die Erwiderung von Thomas enthält zwei Übersetzungen aristote-
lischer Positionen im Sinne der Ausführungen des vorangegangenen
Abschnittes. Zum einen wird die aristotelische Überzeugung, wonach
die Natur des Menschen sich erst in der Wirklichkeit der Polis entfal-
tet, übertragen auf das Verhältnis des Menschen zu Gott; zum ande-
ren – und das ist das zentrale anthropologische Argument, von dem
Spaemann spricht – wird die Bedeutung der menschlichen Vernunft
als Kompensation physischer Schwäche erläutert durch ihr Potential
einer spezifisch menschlichen Realisierung natürlicher Selbsttrans-
zendenz:
Wie die Isolierung einer selbstgenügsamen individuellen »Natur« und
ihrer Vermögen für Aristoteles eine Abstraktion von der sozialen Na-
tur des Menschen ist, zu welcher Natur immer die Freundschaft ge-
hört, so ist für Thomas die Isolierung einer natura pura eine Abstrak-
tion von der religiösen Natur des Menschen, einer Natur, die zur
»Gottesfreundschaft« führt. Selbsttranszendenz der menschlichen
Natur aber wird in Analogie gesetzt zu der Überwindung der Mängel-
lage, in der der Mensch sich als Naturwesen befindet, durch Hände
und Vernunft, was schon ein antiker Topos war. Natur – das ist die
Grundstruktur des Gedankens – bringt im Menschen etwas hervor,
was mehr ist als Natur, »nobilior«, heißt es bei Thomas. Der Mensch
ist nicht dieses Mehr, er ist das Wesen, in dem Natur sich selbst auf das
Mehr überschreitet. »L’homme transcend infiniment l’homme«, wird
Pascal sagen. 44
Dieses zentrale anthropologische Argument, in dem die reflektierte
Selbsttranszendenz als Wirken der Natur im Menschen begriffen
wird, kann als die vielleicht bedeutendste philosophische Entdeckung
Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum gelten. 45 Dieses Argument

43
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 28–29. – Spaemann
verweist als Quelle des Zitats auf: Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1112 b 25. – Ebd.
38–39.
44 Ebd. 29. – Das Pascal-Zitat lautet im Original: »l’homme passe infiniment

l’homme«. – Vgl. URL: hhttp://www.penseesdepascal.fr/Contrarietes/Contrarietes


14-moderne.phpi
45 Vgl.: »Wenn nun aber selbst der trotz aller naturphilosophischen und metho-

dischen Kritik traditionelle Descartes seine Begriffe, Definitionen, Axiome, Distink-


tionen etc. der mittelalterlichen Scholastik (und der des Barock) verdankt, dann
scheint offenbar das Mittelalter ebendiese tiefgreifende Epochenschwelle darzustel-

335

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

enthält den Schlüssel für die Verbindung seiner metaphysisch-natur-


philosophischen Überlegungen 46 und seiner anthropologischen An-
sätze 47 und damit, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, für die wei-
tere Entfaltung der Spaemann’schen Philosophie. Spaemann bezieht
sich an dieser Stelle erneut 48 auf die beiden Axiome des mittelalter-
lichen Aristotelismus: »omne ens est propter suam propriam opera-
tionem« und »omne ens agit propter finem« 49, in denen die teleologi-
sche Verfasstheit der natürlichen Wesen ausgedrückt ist. Als Ziel des
Strebens der natürlichen Wesen wird erneut μέθεξις, »Teilhabe am
Ewigen und Göttlichen« 50, genannt. Neu gegenüber Aristoteles ist in
der mittelalterlichen Philosophie nun der mit der christlichen Schöp-
fungslehre – »homo est finis totius generationis« 51 – verbundene Ge-
danke, dass »der Mensch allein dieses Ziel ausdrücklich als sein Ziel
zu thematisieren vermag« 52, dass die natürliche Selbsttranszendenz
in ihm also reflexiv gewendet wird. Mit Bezug auf die Ausführungen
zur Fremdheit der antiken Philosophie aus neuzeitlicher Sicht kann
erstens festgestellt werden, dass in der mittelalterlichen Philosophie,
konkret bei Thomas von Aquin, eine Übersetzung des Aristoteles
stattfindet, die »die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Ob-
jekt« 53 zu reflektieren beginnt. Die zweitens in dieser Übersetzung
zum Ausdruck kommende Bewahrung aristotelischer Grundeinsich-
ten bringt Spaemann mit folgenden Worten auf den Punkt:
Der Mensch, indem er die Natur übersteigt, bringt diese gewisser-
maßen erst zu sich selbst. In ihm erst wird das, was Natur eigentlich

len, auch wenn sie als solche von den großen neuzeitlichen Autoren der Philosophie
nahezu durchweg verkannt worden ist – und nicht nur von solchen, die es in seinen
Textdokumenten nicht zur Kenntnis genommen haben.« – Schönberger, Die Trans-
formation des klassischen Seinsverständnisses, 10.
46 Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215–

291.
47 Vgl. Teilkapitel 5.3, Zugänge zum Absoluten, 292–318.

48
Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 60–61, u. Teilkapitel 4.1, Bür-
gerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 139.
49 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 29–30. – Deutsch:

»Alles Seiende ist um der ihm eigenen Tätigkeit willen.« »Alle Tätigkeit geschieht um
eines Zieles willen.«
50 Ebd. 30.

51 Ebd. – Deutsch: »Der Mensch ist das Ziel der ganzen Schöpfung.« – Spaemann

verweist als Quelle auf: Thomas von Aquin, Summa Contra Gentes, III, 22. – Ebd. 39.
52 Ebd. 30.

53
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.

336

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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

und von sich her ist, sichtbar, weil ihre Um-willen-Struktur erst in
ihm die Zweideutigkeit des Als-ob verläßt und als freies Wollen und
freie Anerkennung des nicht selbstgesetzten Grundes und Zieles her-
vortritt. 54
Auch wenn die natürliche Selbsttranszendenz im klassischen antiken
Denken bereits wirksam war, geschieht im Mittelalter doch ein ent-
scheidender Schritt darüber hinaus, insofern dieses Denken nun erst
reflexiv gewendet wird und die Selbsttranszendenz ausdrücklich
setzt. 55 Es ist auffällig, dass die Gedanken zu dieser mittelalterlichen
Übersetzung aristotelischer Grundgedanken sich in den 80er Jahren
verstreut in verschiedenen Schriften Spaemanns finden, ohne dass er
selbst hier schon explizit die Zusammenhänge herstellt und die Deu-
tung dieser Übersetzung im vollen Umfang entwickelt. Was sich in
seinen Schriften der 80er Jahre andeutet und ansonsten an impliziten
Zusammenhängen ablesbar ist, wird später in »Glück und Wohl-
wollen« und »Personen« explizit ausgeführt. An dieser Stelle sei nur
auf zwei weitere Texte der 80er Jahre hingewiesen, die Beiträge zu
dieser Übersetzung beinhalten. Bei beiden Textauszügen geht es um
das Problem, wie in der mittelalterlichen Philosophie aristotelische
Grundgedanken in den durch den christlichen Schöpfungsglauben
gesetzten Orientierungsrahmen übersetzt werden können. Erst im
Gedanken der Schöpfung wird die Setzung eines Objekts durch ein
Subjekt denkbar, dessen Gegenstück aus subjektiver Perspektive die
reflexiv gewendete Selbsttranszendenz ist. Der platonische Demiurg
ist ebenso wie der aristotelische unbewegte Beweger ein Weltgestal-
ter, der mit einem vorgegebenen Material arbeitet, wohingegen der
jüdisch-christlich-islamische Schöpfergott ohne ein vorgegebenes
Material die Welt aus dem Nichts erschafft. Genau diese Differenz
ist der Hintergrund eines weiteren Aspektes der oben als zentrales
anthropologisches Argument bezeichneten Übersetzung der aristote-
lischen Position:
Erst im Kontext des Schöpfungsglaubens wird übrigens überhaupt je-
ner spezifische Begriff von Existenz entwickelt, der wiederum eine

54 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 30.
55 Vergleiche hierzu die Bemerkung Spaemanns in den Studien über Fénelon über das
Problem der Reflexion und die »scholastische Unterscheidung von einer Reflexion im
vollzogenen Akt und im ausdrücklich gesetzten Akt – in actu exercito und in actu
signato« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 69 – u. Teilkapitel 4.5, Zur
wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische Perspektive, 176–177.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Adäquationstheorie der Wahrheit erfordert. Für Aristoteles gilt: esse


sequitur formam. Avicenna formuliert erstmals den Begriff von Exis-
tenz, der das Sosein, die forma der Welt als ganzer noch einmal in
Klammern setzt, so daß mit Bezug auf sie sinnvoll gesagt werden
kann, sie könne sein oder auch nicht sein. 56
Es stellt sich dann aber die Frage, wer das sinnvoll sagen kann. Die
Rede ist von einem Wesen, das zur Selbsttranszendenz fähig ist und
sich dessen bewusst wird, das also die Differenz von Wesen und Exis-
tenz als eigene Daseinsform zu erleben beginnt. Die Differenzierung
von Sosein bzw. Wesen und Existenz, die in der mittelalterlichen Phi-
losophie aufkam, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit
jener reflektierten natürlichen Selbsttranszendenz des Menschen, da
durch sie das Sosein, das bei Aristoteles gleichbedeutend mit Wirk-
lichkeit ist, zu einem kontingenten Faktum in einem Wirklichkeits-
raum wird:
Es ist die Eigentümlichkeit gerade der Schöpfungsreligionen, die Kon-
tingenzerfahrung so zu steigern, daß auch das So-und-nicht-anders-
sein der Welt noch einmal als kontingentes Faktum, als vérité de fait
begriffen wird. Erst unter dem Einfluß der Schöpfungsidee hat Avi-
cenna und nach ihm folgend die mittelalterliche Philosophie einen
Existenzbegriff entwickelt, der nicht – wie in der Antike – im Begriff
der Substanz bereits impliziert ist, sondern sich zu diesem noch einmal
kontingent verhält. 57
Die Übersetzung des aristotelischen Gedankens einer im Menschen
sich verwirklichenden Naturteleologie in einen durch die christliche
Schöpfungslehre inspirierten Orientierungsrahmen, der die Zweitei-
lung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt zu reflektieren beginnt,

56 Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 175.


57
Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 221–222. –
Vgl.: »Die Frage der Kontingenz, die hinter der Unterscheidung von Sein und Wesen
steht, ist bei Aristoteles im Rahmen der antiken Voraussetzungen hinreichend, und
zwar ebenfalls mit einer Theorie von einander komplementären Prinzipien gelöst:
nämlich der von erster und zweiter Substanz. Daraus ergibt sich die Kontingenz der
Dinge; die Ewigkeit der Formen und der Materie ist naturgemäß keines Grundes mehr
bedürftig. Erst die Schöpfungslehre wird die Kontingenzfrage auch an die Prinzipien
selbst stellen.« – Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständ-
nisses, 243–244. – Vgl. auch: »… das antike Kontingenzproblem betraf nur die Welt
des Werdens und Vergehens; die neue und radikalere Frage entsteht dadurch, daß die
Prinzipien, die das antike Problem lösen sollten (Hylemorphismus), nun selbst unter
dem Maßstab des Schöpfungsbegriffes kontingent werden.« – Ebd. 384.

338

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6.1.2 Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte

führt also zur Aristoteles fremden Unterscheidung von esse und es-
sentia, die das Charakteristikum der Selbsterfahrung eines Wesens
ist, das auf die eigene Fähigkeit zur Selbsttranszendenz zu reflektie-
ren beginnt. Im dritten Teil von »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,
›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkt Spaemann in diesem Zusammen-
hang:
Die berühmte These von der Realdistinktion zwischen esse und essen-
tia ist nur so verständlich: Meine essentia, mein So-Sein ist es, Subjekt
zu sein, und alles, was ist, in meinem Bewusstseinsraum zu konstitu-
ieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere Existenz nicht schlecht-
hin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren. Dies unterscheidet
gerade die Existenz eines vernünftigen Lebens vom bloßen Leben
eines Lebewesens. In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das
Leben als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des
Lebendigen aus, wie wir gesehen haben. 58 Darum hat das Lebendige
bloß als Lebendiges keine Kontingenzerfahrung. Von ihm als von
einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als »Seiendem« spre-
chen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten
Selbsttranszendenz fähig sind. 59
Die Bedeutung dieser inneren Differenz und der Kontingenzerfah-
rung wird in den beiden folgenden Kapiteln auf dem Weg zur Per-
sonenphilosophie Spaemanns von größter Bedeutung sein.
Die Fortsetzung der Geschichte des anthropologischen Dualis-
mus nach dem Hochmittelalter führt direkt zu dem am Anfang dieses
Abschnitts beschriebenen Antagonismus von Transzendentalismus
und Naturalismus, für dessen Anbahnung die im Spätmittelalter ein-
setzende Invertierung der Teleologie von entscheidender Bedeutung
war. »Die spezifisch anthropologischen Überlegungen bei Thomas,
nach welchen die Natur im Menschen sich selbst übersteigt, entfal-
len.« 60 Diesen Abschnitt der Entwicklung des anthropologischen
Dualismus hatte Spaemann zuvor im Rahmen seiner Auseinander-

58 Diese Einsicht wird Spaemann später in einer entscheidenden Hinsicht modifizie-


ren, insofern er in »Personen« unterstreicht, dass Leben – auch das von Tieren – nicht
in seinem Sosein aufgeht, sondern wesentlich Existenz ist, auch wenn diese innere
Differenz auf der Stufe nicht selbstbewusster Lebewesen latent bleibt. – Vgl. Spae-
mann, Personen, 80–81, u. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleo-
logie und Personalität, 590–591.
59
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
45–46.
60
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31.

339

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

setzung mit Rousseau 61 bereits untersucht. Der Dualismus des ›Na-


türlichen‹ und des ›Übernatürlichen‹ führt nach Wegfall des Letzte-
ren zu einem Totalbegriff der Natur, infolgedessen der Dualismus
sich erneut einschleicht in Form der Gegenüberstellung dieser Natur
und eines abstrakten Erkenntnissubjektes. 62 Zum unlösbaren Pro-
blem wird in dieser neuen Form des Dualismus die Frage nach der
Einheit der beiden Seiten im Menschen selbst, der seine Zugehörig-
keit zur Natur nicht vollständig leugnen kann. Bei Descartes ent-
spricht der Verbindung von res cogitans und res extensa im konkreten
Menschen »keine clara et distincta perceptio; sie ist nur sinnlich er-
lebbar« 63, weswegen eine »philosophische Anthropologie im eigent-
lichen Sinne […] für Descartes unmöglich« 64 ist. Kant sprach »von
einem fundamentalen Dualismus der Hinsichten, der unsere anthro-
pologische Fragestellung charakterisiert, der ›physiologischen‹ und
der ›pragmatischen‹ Hinsicht« 65. Als weitere Stationen auf dem Weg
nennt Spaemann die Hermeneutik Diltheys und auch die Philosophie
Heideggers: »Einerseits ist der Mensch in ›Sein und Zeit‹ transzen-
dentale Voraussetzung von Welt und seine Sprache ›das Haus des
Seins‹, anderseits findet er sich in seiner Welt als Vorkommnis unter
Vorkommnissen.« 66 Es ist offensichtlich, dass für Spaemann die Mög-
lichkeit der Überwindung dieser modernen Form des anthropologi-
schen Dualismus geknüpft ist an eine Wiederbelebung des teleologi-
schen Denkens und damit an die Anerkennung der zur conditio
humana gehörenden Struktur menschlicher Selbsterfahrung als eines
natürlichen Wesens, das sich zu seiner eigenen Natur noch einmal
verhält. Um diesen spezifisch Spaemann’schen Ansatz wird es in Teil-
kapitel 6.2 gehen. Zuvor jedoch soll der Blick noch einmal zurück-

61 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive, bes.


Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert«, 196–206.
62
Fast wörtlich wiederholt Spaemann hier eine bereits zuvor getroffene Feststellung:
»Das sich hier anmeldende Naturverständnis bewegt sich in der Richtung auf die
cartesisch-spinozistische Definition der Substanz als dessen, was begriffen werden
kann ohne den Begriff eines anderen. Die anthropologische Fiktion einer »natura
pura« beginnt ihren folgenreichen Siegeszug.« – Spaemann, Über den Begriff einer
Natur des Menschen (1985), 31. – Vgl. Spaemann, Natur (1973), 26, u. Ders. Zur
Vorgeschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert, 95, u. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vor-
geschichte des Naturbegriff im 18. Jahrhundert«, 200, u. ebd., Fn. 80.
63 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 15.

64
Ebd. 16.
65 Ebd. 14.

66
Ebd. 16.

340

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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

gewandt werden auf den Beginn der Neuzeit, auf den Moment in der
Geschichte der Philosophie, in dem die in der mittelalterlichen Real-
distinktion von esse und essentia bedachte Kontingenzerfahrung des
vernünftigen Lebewesens radikal zu Ende gedacht wird, nämlich im
Denken Descartes’.

6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

Die Frage nach dem Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ steht im Mit-
telpunkt des dritten Teils des Essays Ȇber die Bedeutung der Worte
›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« und des aus dem Jahre 1987 stammen-
den Essays »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« 67, auf die sich die
folgenden Ausführungen beziehen werden. Vorab sei noch einmal an
den vorbereitenden Gedankengang 68 erinnert. Ausgehend von Hei-
deggers Vorwurf der Seinsvergessenheit wurde nach der Bedeutung
des ὄν ᾗ ὄν bei Aristoteles gefragt und ermittelt, dass Sein bei Aris-
toteles kein logischer Begriff ist, sondern ein von der Selbsterfahrung
des Menschen als natürlicher Substanz abgeleiteter »Ausdruck mit
teleologischer Konnotation« 69. Im Übergang zur Neuzeit hat gerade
dieser in der menschlichen Selbsterfahrung liegende paradigmatische
Ort der Seinserfahrung einen tiefgreifenden Wandel erfahren, der im
an die Stelle der aristotelischen Substanz rückenden modernen Sub-
jektbegriff seinen Ausdruck findet. In der Verschiebung vom Sub-
stanz- zum Subjektbegriff verliert das Sein den unmittelbaren Bezug
zur menschlichen Selbsterfahrung und wird zu einem Objektbegriff
distanziert. Sein heißt neuzeitlich »Gegenständlichkeit für ein Be-
wusstsein« 70. Als abschließende Formulierung dieses Gedankens zi-
tiert Spaemann häufig Quines Formel: »To be [is] to be the value of a
bound variable« 71 bzw. »Sein heißt: Wert einer gebundenen Variablen
sein.« 72 In dieser Formel vollendet sich die Reduktion der Wirklich-
keit auf die Gegenständlichkeit für ein Subjekt. Descartes gilt Spae-

67 Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Philosophische Forschung 41 (1987), 373–382.


Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und
Aufsätze I, 136–148.
68 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.

69 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.

70
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.
71 Ebd.

72
Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 172.

341

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

mann als einer der geistigen Väter dieses modernen Denkens, das bei
ihm stets unter einem kritischen Vorzeichen steht. 73 Er spricht in
diesem Zusammenhang von einem »cartesische[n] Typus« der Wis-
senschaft, deren Kennzeichen »die radikale Reduktion ihrer Gegen-
stände auf ihre Gegenständlichkeit, der Ausschluß aller Ähnlichkeit
der res extensa mit der res cogitans, das Verbot des Anthropomor-
phismus zugunsten eines radikalen Anthropozentrismus« 74 ist. Zu-
gleich fällt jedoch auf, dass Spaemann schon seit seiner frühen Arbeit
über de Bonald eine gewisse Ambivalenz der Bewertung des cartesi-
schen Denkens erkennen lässt. 75 Einerseits steht Descartes für eine
radikale neuzeitliche Entteleologisierung und die Auffassung der Na-
tur als Mechanismus – die Seite der res extensa –, andererseits entfal-
tet Spaemann, wie im Folgenden ausführlich dargelegt werden soll,
die These, wonach der Zweifelsbeweis im ›cogito ergo sum‹ als eine
Übersetzung der aristotelischen Rede vom Sein ins neuzeitliche Den-
ken unter den Bedingungen der Entteleologisierung verstanden wer-
den kann – die Seite der res cogitans. Über die Schwelle der Entteleo-
logisierung hinweg, so lautet also die These, lässt sich von Descartes
ein Bezug zur aristotelischen Rede vom Sein herstellen. Descartes
greift nach Spaemann die Frage auf, die Aristoteles selbst explizit
nicht gestellt hat:
Wir abstrahieren aus der Erfahrung des bewussten Lebensvollzuges
jenes Moment, das uns sozusagen zu einem Element der Allklasse
macht, und nennen dies »Sein«. Aber was ist es denn, was wir da abs-
trahieren? Und was wir dann dem Denken als ein ihm Voraus- und
ihm Entgegengesetztes gegenüberstellen? 76
Aristotelisch verstanden zielt diese Frage auf das Analogon, das un-
seren bewussten Lebensvollzug mit allen natürlichen Dingen verbin-

73
Die kritische Auseinandersetzung mit Descartes beginnt in der Studie über de Bo-
nald, in der Descartes’ Gründung der Philosophie im reinen Denken, die Abstraktheit
des individuellen ›cogito‹ abgelehnt wird – vgl. Spaemann, Der Ursprung der Sozio-
logie aus dem Geist der Restauration (1959), z. B. 36, 44–45, 207 – sie setzt sich fort in
den Studien über Fénelon, in denen im Zusammenhang mit dem Cartesianismus vom
»Ring der Reflexion« und der »Isolation des Verstandessubjektes« die Rede ist – vgl.
Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), z. B. 69, 108 – und bildet im Weiteren
ein Leitmotiv seines Denkens bis in seine späten Publikationen hinein.
74 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 102.

75
Vgl. Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
36, u. Abschnitt 3.2.1, Die Unmöglichkeit des Ausgangs vom Subjekt, 105–107.
76
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 37.

342

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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

det. Für Aristoteles könnte man antworten, dass dieses Analogon die
φύσις ist »als inneres teleologisches Prinzip spezifischen Bewegt-
seins« 77. Diese Antwort ist, wenn sie Menschen, Lebewesen und na-
türliche Dinge verbinden soll, an die analoge Verwendung von ›Sein‹
gebunden: »pollachōs légetai – ›es wird auf vielfältige Weise aus-
gesagt‹« 78. Unter der Voraussetzung von Descartes’ Streben nach Ge-
wissheit, für das der »univoke[…] Begriff«, die »clara et distincta
perceptio« 79 das Ideal ist, scheidet diese Antwort aus und muss die
Frage völlig neu gestellt werden. Mit Bezug auf diese Frage beginnt
Spaemann den Descartes gewidmeten dritten Teil des Essays Ȇber
die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« mit den Wor-
ten: »Um die Frage zu verdeutlichen, bitte ich den Satz des Descartes
zu vergegenwärtigen: ›Ich denke, also bin ich.‹ Was fügt das ›ich bin‹
dem ›ich denke‹ hinzu?« 80 Dieser Frage muss nun intensiv nach-
gegangen werden.
Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass im ›cogito sum‹ in Be-
zug auf die res cogitans die Begriffe cogitare und esse nicht gleichbe-
deutend sein dürfen, wie es diese Begriffe in Bezug auf die res extensa
sind, für die ja gilt, dass Sein Gegenstand für ein Bewusstsein ist,
wenn das ›cogito sum‹ nicht rein tautologisch sein soll:
Wodurch unterscheiden sich diese Begriffe? Im Cogito sum bezeich-
nen sie ja denselben Gegenstand. Sie dürfen jedoch nicht bedeutungs-
gleich sein, denn es soll ja im Cogito sum ein Fortgang des Gedankens
stattfinden, wenn auch nicht in der Form des Syllogismus. Worin be-
steht dieser Fortgang? Wieso folgt aus dem Cogito überhaupt etwas,
und wie unterscheidet sich das, was folgt, von dem, woraus es folgt?
Offenbar sind die beiden Begriffe extensional identisch, solange wir
den Ring des Zweifels, den Ring des Solipsismus, nicht gesprengt ha-
ben. Intensional identisch jedoch dürfen sie nicht sein, wenn das
Cogito sum einen Sinn haben soll. 81
Auch im Falle des einsamen Denkers der cartesischen Meditationen
muss es also einen intensionalen, d. h. inhaltlichen Mehrwert des
›sum‹ gegenüber dem ›cogito‹ geben, nach dem hier zu fragen ist.
Bei der Analyse des ›cogito sum‹ unterscheidet Spaemann vier Stufen

77 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.


78 Ebd. – Vgl. Aristoteles, Metaphysik, Buch Γ, 1003 a 33, 122.
79
Ebd.
80 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 38.
81
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 136–137.

343

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

des Bewusstseins, indem er die Vorgeschichte dieser Schlussfolge-


rung in den ersten beiden Meditationen einbezieht. 82 Es geht Des-
cartes dabei um »die Überwindung des Skeptizismus: die Suche nach
Gewissheit, nach Überwindung des Zweifels. Worauf bezieht sich der
Zweifel? Darauf, ob die Dinge so sind, wie sie uns scheinen.« 83 Aus-
gangspunkt ist das naive Bewusstsein, das in Frage gestellt wird durch
den Zweifel, den Spaemann als erste Reflexionsstufe bezeichnet.
Beim ›cogito sum‹ geht es dann um die zweite und dritte Reflexions-
stufe bzw. dritte und vierte Stufe des Bewusstseins. Diese Interpreta-
tion soll durch das folgende Schema verdeutlicht werden:
Stufe des Reflexions- Horizont- Gegenstands-
Bewusstseins stufe bewusstsein bewusstsein
(Horizont alles Gedachten) (Vorkommnis
in der Welt)
1 – naives Bewusstsein –
2 1 – Zweifel
3 2 Subsumtion des Zweifels –
unter die cogitatio
4 3 – Reflexion auf das
cogito, sum

Auf der ersten Reflexionsstufe, der des Zweifels, führt Descartes ei-
nen fiktiven Täuschegeist, den genius malignus ein, der dem Men-
schen eine falsche Welt vorspiegelt:
Der Genius malignus selbst hat offenbar ein von seinen Opfern unter-
schiedenes Bewusstsein. Er sieht die Sache anders, als er sie die Opfer
sehen lässt. Und offenbar ist er es, der sie richtig sieht. Descartes aber
kommt zu dem berühmten Schluss, dass mindestens an einem Punkt
er, Descartes, sie auch so sehen muss, wie sie ist, nämlich wo er sich
seines Bewusstseins bewusst wird. 84
Dieser Schluss bildet die dritte Stufe des Bewusstseins bzw. die zweite
Reflexionsstufe.
Die zweite Reflexion dubito ergo cogito (ich zweifle, also denke ich)
steht in sich selbst und ist unhintergehbar. Aber sie ist ebenso leer. Der
Horizont des Bewusstseins ist nun geschrumpft auf den zeitlich und

82
Vgl. Descartes, Meditationes de prima philosophia, 32–67.
83 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 38.
84
Ebd. 39.

344

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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

inhaltlich ausdehnungslosen Punkt des Zweifels. Das Cogito bleibt als


Form ohne Inhalt, als Horizont ohne Gegenstand. 85
Um diese Inhaltslosigkeit der zweiten Reflexionsstufe exakt zu fas-
sen, muss hier, genau besehen, statt von ›cogito‹ von ›cogitatur‹ – es
wird gedacht – die Rede sein, da das in der Flexionsendung des ›cogito‹
enthaltene ›ego‹ »nicht als logischer Eigenname verstanden werden
darf« 86, ohne dass der Satz ›cogito ergo sum‹ eine Tautologie würde.
Vielmehr ist das ›ego‹ »als eine prädikative Bestimmung des cogita-
tur« zu verstehen, die erst im Übergang von der zweiten zur dritten
Reflexionsstufe hinzukommt: »Es gibt cogito« bzw. »cogitare in der
Form des cogito findet statt« 87. In der Aufeinanderfolge dieser Stufen
beobachtet Spaemann eine »eigentümliche Dialektik von Horizont-
bewusstsein und Gegenstandsbewusstsein« 88:
Das naive Bewusstsein ist Horizont, »Grenze der Welt« 89, wie Witt-
genstein sagt. Der Zweifel vergegenständlicht diesen Horizont. Für
den Zweifel wird Evidenz zu möglicher Idiosynkrasie, zu einem sich
möglicherweise selbst missverstehenden Zustand eines innerwelt-
lichen Dings oder Systems. Das Cogito ist nun die Entdeckung, dass,
wie Hegel sagt, Misstrauen ins Misstrauen gesetzt werden kann 90,
weil nämlich der Zweifel selbst noch eine Gestalt jenes Bewusstseins
ist, das er in Klammern setzen möchte. Er bleibt in dem Horizont, den
er zu vergegenständlichen sucht. Im sum aber – im Sinne von: »es gibt
ein cogito« – wird das Cogito erneut zu einem Faktum in der Welt,
einem Gegenstand, einer res. 91
Im Schritt von der dritten zur vierten Stufe des Bewusstseins findet
bei Descartes also ein Fortschritt vom Denken zum Sein statt, wobei
dieser Schritt allerdings geradezu eine Depotenzierung der res cogi-
tans bedeutet:

85 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 144.


86
Ebd. 140.
87 Ebd.

88 Ebd. 140–141.

89 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: L. Wittgenstein, Tractatus Logico-

Philosophicus, 5.6. Schriften Bd. 1, Frankfurt/M. 1969, S. 65. – Ebd. 148.


90 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: G. W. F. Hegel, Phänomenologie des

Geistes, Werke, ed. Glockner, Bd. 2, Stuttgart 1951. Vgl. auch: Vorlesungen über die
Philosophie der Religion, in Werke, ed. Glockner, Bd. 15, 136: »Wird der Zweifel Ge-
genstand des Zweifels, … so verschwindet der Zweifel.« – Ebd. 148.
91
Ebd. 141.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Diese res füllt damit nicht mehr a priori den Raum aus, der durch das
Cogito aufgespannt ist. Sie ist ja selbst ein Vorkommnis in diesem
Raum. Sogar wenn sie das einzige Element der Klasse aller Dinge ist,
ist sie nicht mit dieser Klasse identisch. Daher wird nun das Sein dieser
res cogitans vom Denken selbst unterschieden. Descartes interpretiert
diese Unterscheidung mit Hilfe der aristotelischen Begriffe von Sub-
stanz und Akzidens. Für das Sein der Substanzen gilt, dass sie etwas
anderes sind als ihr Gedachtsein: »Wir erkennen die Substanz nicht
unmittelbar durch sie selbst, sondern nur weil sie Subjekt bestimmter
Akte ist.« 92 Das aber heißt: Die Unmittelbarkeit der Selbstgewissheit
des Cogito geht wieder verloren im Übergang zum sum. Es gibt keine
Unmittelbarkeit der Erkenntnis der endlichen Substanz. 93
An dieser Stelle sei an den im ersten Teil untersuchten neuzeitlichen
Subjekt-Wechsel und die dort konstatierte eigentümliche Zwischen-
stellung Descartes’ erinnert. Es ist für den weiteren Gedankengang
zunächst wichtig festzuhalten, dass Descartes, indem er das antike
Substanz/Akzidens-Schema auf das Verhältnis der cogitationes – als
Akzidentien – zur res cogitans – als Substanz – bezieht, eine Differenz
mit diesem Schema zu bezeichnen versucht, die sich Aristoteles noch
gar nicht erschlossen hatte. 94 Der Schritt vom Denken zum Sein im
›cogito sum‹, von der cogitatio zur Substanz ist somit ein Akt freiwil-
liger Selbstbeschränkung, der Fragen aufwerfen muss. Erstens: Wel-
che Motivation kann hinter einem solchen Schritt stehen? – Spaemann
bemerkt zur Rezeptionsgeschichte dieses Satzes: »Husserl hat eben
diesen Schritt kritisiert. 95 Das transzendentale Ego ist für ihn wesent-
lich letzter Horizont und gerade deshalb nicht möglicher Gegenstand,
nicht ein Seiendes in der Welt.« 96 – Zweitens stellt sich grundsätzlich
die Frage nach der Möglichkeit dieses Schrittes: »Von welchem Stand-
punkt aus ist diese erneute Objektivierung des Cogito möglich, durch

92 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Descartes, Méditations, Réponses aux
troisièmes objections. Obj. II; A.-T. IX 136. – Spaemann, Das Sum in Descartes’
Cogito Sum (1987), 148.
93 Ebd. 141.

94 Vgl.: »Die aristotelischen Aussagen der Metaphysik als Wissenschaft betreffen das

Wesen der Dinge; alles andere hat den Status eines esse per accidens: sein Zukommen
oder Nichtzukommen kann aus dem Wesen der Sache nicht erklärt werden.« –
Schönberger, Die Transformation des klassischen Seinsverständnisses, 249.
95
In einer Anmerkung verweist Spaemann auf: E. Husserl, Cartesianische Meditatio-
nen, in: Husserliana Bd. I, Haag, 1950. – Ebd. 148.
96
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 141–142.

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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

die dieses endgültig als Seiendes stabilisiert wird?« 97 – Und kann nicht
das Sein des ›sum‹ erneut in den Horizont des Gedachten hinein-
genommen werden, so dass es zu einem »unendlichen Regress«
kommt, »der nie bei so etwas wie Sein ankommen kann« 98? Die dritte
Frage lautet also: »Wie entgeht Descartes dem unendlichen Regress der
Reflexion, in welchem immer wieder das Cogito sich vergegenständ-
licht, um als ungegenständlicher Horizont hinter seiner Vergegen-
ständlichung wieder aufzutauchen?« 99 Wie im Folgenden gezeigt wird,
ist es eine Antwort, die Descartes auf diese drei Fragen gibt.
Zu der gesuchten Antwort hin kann die Beobachtung führen,
dass es eine Parallele zwischen der ersten und der dritten Reflexions-
stufe, dem Zweifel und dem ›sum‹ gibt. Der Zweifel auf der ersten
Reflexionsstufe, den Descartes in der ersten Meditation durchspielt,
ist ein absoluter Zweifel. Selbst die Arithmetik – »zwei und drei mit-
einander addiert ergeben fünf« 100 – und die Geometrie – »das Qua-
drat besitzt nicht mehr als vier Seiten« 101 – können vom genius mali-
gnus uns vorgegaukelt sein. Es ist wichtig zu sehen, dass es hier nicht
um den Gedanken einer relativen Täuschung geht, die immer als ein
Noch-nicht-Erfassen der Wahrheit gedeutet werden könnte, sondern
um eine absolute Täuschung. Eine solche ist aber nur möglich durch
ein Subjekt, das uns täuscht. Der Wirklichkeitsraum, der in Des-
cartes’ Zweifel eröffnet wird, ist also auch im Falle des Solipsismus
zumindest von zwei Subjekten bewohnt, wobei das zweite Subjekt
des Täuschegeistes als unendlich gedacht wird. Und genau diese Vor-
stellung vom Wirklichkeitsraum ist es auch, die dem Schritt zum
›sum‹ auf der dritten Reflexionsstufe zugrunde liegt:
Was den Zweifel ermöglicht, ist das Gleiche, was seine definitive Über-
windung möglich macht, nämlich die Antizipation eines absoluten
Bewusstseins und damit einer definitiv wahren Welt. Nur auf dem
Hintergrund dieser Antizipation ist ja meine Welt möglicherweise
die falsche. […] Nur ein endliches Bewusstsein kann irren. Die Idee
Gottes ist der Horizont, auf dem das Cogito seinen absoluten Hori-
zontcharakter verliert, zu einem endlichen Faktum, einer res wird
und damit zum möglichen Opfer des Täuschungsversuchs eines genius
malignus. Gott wird von Descartes eingeführt als der, »der alles kann

97 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 141.


98 Ebd. 142.
99
Ebd. 143.
100 Descartes, Meditationes de prima philosophia, 39.

101
Ebd.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

und durch den ich geschaffen und hervorgebracht bin, so wie ich bin«.
Erst aber, wenn ich »un tel«, ein »So-und-so« bin, stellt sich die Frage
nach meiner Täuschbarkeit. »Un tel« aber bin ich nur, wenn es den
Blick gibt, der mich zu einem solchen macht. Erst die Antizipation
des Unendlichen ermöglicht die Transformation des Cogito vom um-
greifenden Horizont zum Gegenstand, zu einem endlichen Ding. Nur
unter der Voraussetzung Gottes ist der »génie trompeur«, der Täu-
schegeist möglich. 102
Descartes’ Argumentation liegt zunächst die Einsicht zugrunde, dass
ich mir ein fremdes Bewusstsein vorstellen kann, das mich selbst ver-
gegenständlicht. Damit dieses nicht seinerseits von einem dritten Be-
wusstsein vergegenständlicht werden kann, stellt Descartes es sich als
unendliches Bewusstsein vor. Eine solche Vorstellung bilden zu kön-
nen, ist Ausdruck natürlicher Selbsttranszendenz, der Fähigkeit, im
Denken einen Standpunkt außerhalb des eigenen Gesichtskreises ein-
nehmen zu können. Von dieser Fähigkeit zur Selbsttranszendenz
schließt Descartes spekulativ auf die Idee Gottes, womit er die »Theo-
logisierung der Ontologie« 103 betreibt. An dieser Stelle wird nun
deutlich, dass der cartesische Gedankengang sich anschließt an die in
Abschnitt 6.1.2 erläuterte mittelalterliche Übersetzung der aristote-
lischen Fassung des anthropologischen Dualismus. Dort wurde die im
Kontext der christlichen Schöpfungslehre fundierte Einführung des
Übernatürlichen in den Dualismus in einen Zusammenhang gebracht
mit der reflexiven Wendung der natürlichen Selbsttranszendenz, 104
durch die erst die Wahrnehmung von Kontingenz – der eigenen wie
der der Schöpfung – möglich wurde. Die damit verbundene Realdis-
tinktion von esse und essentia wird nun von Descartes in klaren – von
Aristoteles übernommenen! – Begriffen nachvollzogen, wobei aller-
dings die Selbsttranszendenz den für die mittelalterliche Philosophie
konstitutiven Bezug auf die teleologisch verstandene natürliche Sub-
stanz verliert. An ihre Stelle tritt bei Descartes als Substanz die res
cogitans, deren Akzidens die cogitationes bzw. das ›cogitatur‹ sind,
das, wie gesehen, die zweite Reflexionsstufe darstellt. Dieses ›cogita-
tur‹ als reines Horizontbewusstsein, das sich seiner selbst gewiss, je-
doch auch völlig leer ist – »ein Wissen des Wissens, in dem nichts

102 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 143–144.


103
Ebd. 139.
104 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333–

339.

348

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6.1.3 Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹

gewusst wird« 105 –, kann als die cartesische Fassung der denkbar wer-
denden Existenz, also des ›esse‹ der mittelalterlichen Realdistinktion,
aufgefasst werden. Die Selbsterkenntnis bzw. die Erkenntnis der ei-
genen Substanz, zu der der Mensch in diesem Akt der Selbsttrans-
zendenz gelangt, ist jedoch immer schon eine vermittelte. Der Schritt
von der zweiten zur dritten Reflexionsstufe besteht in der Wahrneh-
mung einer inneren Differenz des erkennenden Wesens in sich selbst:
Das cartesische Cogito ergreift sich erst dadurch als Seiendes, dass es
sich aufspaltet in die Antizipation eines absoluten, schlechthin mit
sich identischen Seins, das es selbst nicht ist, und in ein durch dieses
göttliche Sein be-dingtes »Ding«, die res cogitans, die es selbst ist und
deren Substanzialität gerade nicht identisch ist mit seiner cogitatio. 106
Die Selbsterkenntnis der res cogitans als Substanz geschieht also erst
in der Vermittlung durch ein absolutes Sein, das das Worauf des Ak-
tes der Selbsttranszendenz ist. Dieser Akt der Selbsttranszendenz ist
somit die reflexive Wendung auf eine innere Differenz zwischen dem
Sosein als Subjekt, das alles, was ist, in seinem Bewusstsein konstitu-
iert, und der die Grenzen dieses Subjekts überschreitenden Ahnung
des Seins, des absoluten und des eigenen. 107 Erst aus dieser inneren
Differenz enthüllt sich die Kontingenz des Soseins, das in den Seins-
akt hineingezogen wird: In ihm kann die res cogitans als Seiendes sich
zum eigenen Sosein noch einmal verhalten. Zu sein bedeutet für ein
der Selbsttranszendenz fähiges Lebewesen also die Spannung zwi-
schen dem Sosein und dem absolut Offenen, an dem es im Seinsakt
teilnimmt.
Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist
das Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität,
so dass das diesen Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes
selbst als ein Seiendes vorkommt, als res cogitans. Es ist »an sich«, dass
ich »für mich« bin, und das heißt: Es ist für jedes Denken, dass ich für
mich bin, d. h. denke! Der Seinsraum konstituiert sich nicht durch die
einfache Intentionalität meines Bewusstseins, sondern durch die Rezi-
prozität eines durch Sprache bestimmten Bewusstseins. Sprechend

105 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 144.


106 Ebd. 147.
107 Vgl.: »Meine essentia, mein So-Sein ist es, Subjekt zu sein, und alles, was ist, in

meinem Bewusstseinsraum zu konstituieren. Aber wir wissen uns so, dass wir unsere
Existenz nicht schlechthin als inneres Moment unseres So-Seins erfahren.« – Spae-
mann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

muss das Subjekt auf seine Gegenständlichkeit für ein anderes Subjekt
reflektieren. […] So sieht es die Welt nicht aus der Perspektive seiner
eigenen Mitte, sondern aus einer Perspektive, die überhaupt keinen
Mittelpunkt in einem Bewusstsein hat. 108
Mit dem ›cogito ergo sum‹ liefert Descartes also eine spekulative Theo-
rie reflexiv gewendeter Selbsttranszendenz, die unter den Vorzeichen
des neuzeitlichen – entteleologisierten – Denkens dennoch die als
Übersetzung der antiken Form des anthropologischen Dualismus zu
verstehende Realdistinktion von ›esse‹ und ›essentia‹ in klaren Begrif-
fen ausdeutet. Es sei an dieser Stelle an die bemerkenswerte Tatsache
erinnert, dass Fénelon diese Theorie im Sinne seines amour-pur-Ge-
dankens ablehnte und die Evidenz des Schlusses in Frage stellte. 109 Was
Fénelon dabei nicht bewusst war, ist die Tatsache, dass Descartes spe-
kulativ einen mittelalterlichen Gedanken interpretierte, der seiner-
seits wieder eine Übersetzung jenes substanzontologischen Denkens
darstellte, das Fénelon selbst in seiner Lehre von den direkten Akten zu
erneuern versuchte. 110 An dieser Stelle kann nun auch, der Ankündi-
gung in Abschnitt 3.2.5 entsprechend, an die dort zitierte Bemerkung
Spaemanns über de Bonald angeknüpft werden. Dort hieß es:
Gerade durch seinen absoluten Gegensatz zu dem individualistischen
Cogito erweist Bonald sich als noch unter der gleichen Voraussetzung
stehend. Das Ergebnis ist paradox: Gerade weil er die in diesem Ansatz
verborgene Wahrheit nicht wahrzunehmen vermochte, wurde er zu
einem Glied in dem geschichtlichen Prozess der Vollstreckung seiner
Unwahrheit. 111
Oben wurde bereits dargelegt 112, inwiefern Bonalds Position bei glei-
chen Voraussetzungen einen absoluten Gegensatz darstellt. Vor dem
Hintergrund der hier durchgeführten Untersuchung der Bedeutung
des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ wird nun auch erkennbar, worin
die »in diesem Ansatz verborgene Wahrheit« besteht. Es geht dabei

108
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
40–41.
109 Vgl. Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 111, u. Abschnitt 4.3.1, Féne-

lon und Descartes: Radikalisierung und Überwindung des Rationalismus, 153–158.


110 Vgl. ebd. 75, u. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner

Mystik‹, 149–151.
111 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

207.
112 Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstauf-

hebung der Vernunft, 120–121.

350

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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

um die konstitutive Rolle des Anderen im Prozess der Selbsterkennt-


nis. 113 Auch wenn diese von Descartes nur im Sinne einer »spekula-
tive[n] Dialektik von endlichem und unendlichem Bewusstsein« 114
gedacht werden kann, ist damit ein fundamentaler Gedanke einer
möglichen Philosophie der Begegnung bei Descartes angelegt. Spae-
manns Auseinandersetzung mit dem Fortschritt vom ›cogito‹ zum
›sum‹ ist mit diesen Ausführungen noch nicht abgeschlossen. Hier
bestand die Aufgabe darin, im Zuge einer philosophiehistorischen
Betrachtung die Bedeutung des cartesischen Gedankens im Grundzug
darzulegen. Im Zusammenhang mit der Entfaltung von Spaemanns
eigenem Ansatz in Teilkapitel 6.2 wird auf den Schritt vom ›cogito‹
zum ›sum‹ zurückzukommen sein. Zunächst aber werden noch zwei
für Spaemann wichtige Repräsentanten des neuzeitlichen Denkens in
die Betrachtung aufgenommen.

6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

Spaemanns Haltung zu Leibniz 115 (1646–1716) kann als zwiespältig


bezeichnet werden. Sie schwankt zwischen der Skepsis gegenüber
einem spekulativen Höhenflug, für den menschliche Denkbedingun-
gen außer Kraft gesetzt zu sein scheinen, und der Faszination ange-
sichts der Universalität seines Gedankengebäudes. Spaemann spricht
mit Bezug auf Leibniz von einer »Theologisierung der Ontologie« 116,
die er schon im Denken Descartes’ beobachtete und die in Leibniz’
Philosophie »den Höhepunkt einer Sicht der Welt als System« 117

113 Vgl.: »Erst durch die Antizipation des Anderen und seines Blicks wird [der Prozess

der Reflexion] zum Stehen gebracht. Wenn der Andere sich nicht selbst täuschen will,
muss er denken, dass ich denke. In diesem cogitat me cogitare weiß sich das Cogito als
sum.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 147.
114 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.

115
Leider ist bislang nur ein Text veröffentlicht, der Spaemanns Beschäftigung mit
Leibniz dokumentiert: der den folgenden Ausführungen zugrunde liegende, im Rah-
men einer Ringvorlesung der Universität München 1987 gehaltene Vortrag »Leibniz’
Begriff der möglichen Welten«. Zuerst erschienen in: V. Schubert (Hrsg.), Rationali-
tät und Sentiment, St. Ottilien 1987, 7–36. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte
über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze I, 149–170. Eine Edition von Spae-
manns Leibniz-Vorlesung steht noch aus. – Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt
(2012), 219–220.
116 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 169.

117
Ebd. 168.

351

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

erreichte, von einer »Philosophie sub specie Dei« 118, einer »Onto-
logie sozusagen vom Standpunkt Gottes aus« 119. Im Folgenden wird
ausgehend von Leibniz’ Begriff der möglichen Welten 120 die Vor-
geschichte dieses Theorems, wie Spaemann sie rekonstruiert, knapp
dargelegt, bevor seine philosophischen Implikationen näher erläutert
und die Ausführungen zu diesem Thema in den Kontext der philoso-
phiehistorischen Untersuchungen Spaemanns – nicht zuletzt seiner
Überlegungen zur Vorgeschichte des neuzeitlichen Naturbegriffs 121 –
eingeordnet werden.
Die Entstehung und Verbreitung des Begriffs möglicher Welten
ist eng verbunden mit der Frage nach der ›Allmacht Gottes‹ 122 und der
Problematik menschlicher Freiheit. »Eingeführt wurde der Begriff
nach herrschender Ansicht durch Leibniz.« 123 Spaemanns These ist,
»dass Leibniz nicht der erste Erfinder« 124 dieses Begriffes war, dass er
ihn aber »vor allem dadurch so berühmt gemacht« habe, »dass er ihn
in den Rahmen der These stellte, nach der unsere Welt die beste aller
möglichen Welten ist« 125. Leibniz Grundgedanke kann folgender-
maßen zusammengefasst werden:
Die tatsächliche Welt ist nur eine von unendlich vielen möglichen
Welten, die existiert haben könnten 126. Genau diejenige Folge oder
Kombination von Dingen, bzw. – wie man einfacher sagen kann – die-
jenige mögliche Welt wird von Gott geschaffen, die insbesondere in
der Hinsicht am vollkommensten ist, daß in ihr mehr Individuen zur
Existenz kommen als in irgendeiner anderen möglichen Welt: »Ich
sage daher, daß ein Seiendes existierend ist, wenn es mit der größten
Anzahl von Dingen kompatibel ist« 127. Unsere Welt ist damit die beste

118 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 169.


119 Ebd. 168.
120 Vgl. zu diesem Thema auch: Buchheim, Zum Verhältnis von Existenz und Freiheit

in Leibniz’ Metaphysik.
121 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,

196–206.
122 Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443.

123 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 149.

124 Ebd.

125 Ebd.

126 Verweis durch Anmerkung [4] auf: Remarques sur la lettre de M. Arnauld [1686],

a.O. 40; vgl Art. ›Optimismus I.‹. Hist. Wb. Philos. 6 (1984) 1240–1246.
127
Verweis durch Anmerkung [5] auf: Generales inquis. de analysi notionum et ve-
ritatum (73) [1686], in: Opusc. et fragm. inéd., hg. L. Couturat [COp] (Paris 1903,
ND 1961) 376.

352

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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

der möglichen Welten, da jede beliebige Veränderung eine Verände-


rung zum Schlechteren wäre. 128
In seinem Vortrag »Leibniz’ Begriff der möglichen Welten« versucht
Spaemann eine Rekonstruktion der Vorgeschichte dieses Grund-
gedankens, die – entsprechend der oben dargelegten charakteristi-
schen Gedankenbewegung Spaemanns – von Leibniz zunächst zu-
rückgeht zur klassischen antiken Philosophie, um von dort über die
mittelalterliche christliche Philosophie schrittweise in die Neuzeit zu-
rückzukehren. Zum ersten Mal findet sich der Gedanke nach Spae-
mann in Platons »Timaios« als Gestaltung des Kosmos durch den
Demiurgen. Von diesem Mythos unterscheidet sich die »jüdisch-
christlich-islamische[…] Schöpfungsidee« 129 in dreifacher Hinsicht:
Für sie gibt es keine der Schöpfung vorausliegende Materie. Es gibt
keine dem göttlichen Schöpferwillen entgegenstehende blinde Not-
wendigkeit wie bei Platon. Die einzige Notwendigkeit ist diejenige,
die mit dem Wesen Gottes selbst gegeben und gesetzt ist, z. B. die des
Widerspruchsprinzips. Und schließlich wird die Welt als Geschichte
gedacht, als einmaliges Geschehen mit Anfang und Ende. 130
Unter diesen neuen Denkbedingungen wurde die These von der »Un-
möglichkeit einer besseren Welt als der bestehenden« 131 zunächst von
Abaelard (1079–1142) vertreten und vom Konzil von Sens 1141 »als
häretisch verurteilt […], weil sie die Freiheit Gottes leugne« 132, wo-
raufhin auch Thomas von Aquin sich eingehend mit dieser Frage aus-
einandersetzte und sich von Abaelard distanzierte, ohne sich anti-
thetisch zu dessen These zu positionieren:
Thomas verwirft als Irrtum sowohl die Meinung derer, die die gött-
liche Macht einschränken, indem sie sagen, Gott könne nur das tun,
was er wirklich tut, weil sich nur dies zu tun ziemt; wie die Meinung
derer, die sagen, »dass alles nur die Folge einer Willenssetzung ist,
ohne einen anderen in den Dingen selbst zu suchenden oder ihnen
zuzuschreibenden Grund«. 133

128 Vgl. Max, Welt, mögliche, in: HWPh XII, col. 443.
129 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 153.
130 Ebd. 153–154.

131 Ebd. 154.

132
Ebd.
133 Ebd. 154. – Die These findet sich »im Sentenzenkommentar, in der 25. Quaestio

im 1. Teil der ›Summa theologica‹ und in der ›Summa contra gentiles‹.« – Ebd.

353

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Thomas stellt sich damit sowohl gegen eine rationalistische Interpre-


tation der Schöpfung, die die Welt auf einen »zureichenden und
zwingenden Grund« 134 zurückzuführen versucht, als auch gegen eine
voluntaristische Interpretation, die eine vernünftige Betrachtung der
Welt unmöglich machen würde. Thomas zielt dabei auf die bereits
erörterte perspektivische Unterscheidung zwischen dem Absoluten
an sich und quoad nos 135, also auf die Betonung der endlichen Per-
spektive des Menschen auf die Schöpfung: »im Bereich des End-
lichen gibt es keinen Maßstab dessen, was das Beste heißen dürfte.
Man kann nur analog zu Platon sagen, dass die Ordnung der Dinge
positis his rebus, so wie die Dinge stehen, nicht besser sein kann, als
sie ist.« 136 Der Ordnung der Dinge haftet also aus menschlicher Per-
spektive eine unaufhebbare Kontingenz an, die das Äquivalent des
Bewusstseins von Freiheit im Vollzug der menschlichen Existenz ist.
Spaemann zitiert den »erstaunliche[n] Satz« 137 von Thomas von
Aquin: »›Die Dinge, insofern sie in Gott sind, haben keine Ordnung,
sondern nur, insofern sie in sich selbst sind. Deshalb wird die Ord-
nung der Dinge nicht der göttlichen Weisheit zugeschrieben, son-
dern allein seinem Willen.‹ (ver. 23, 2, ad. 3)« 138 Es geht hier also
um die Unterscheidung zwischen Possibilien, in Gottes Sein grün-
denden ideellen Möglichkeiten bzw. ewigen Ideen, und der kontin-
genten Verknüpfung der Dinge in der Welt, die in Gottes Willen
begründet sind. Aus dieser Unterscheidung ergibt sich folgende
Frage:
Wie kann dann aber Gott unter der Voraussetzung, dass die contin-
gentia futura, die kontingenten Ereignisse und Dinge der Zukunft,
nicht den Charakter ewiger Wahrheit haben, alles Künftige, insbeson-
dere die freien Handlungen der Menschen vorauswissen? Denn dass er
sie vorausweiß, gehört zum unverzichtbaren Bestand der christlichen
Lehre. Hierauf war die traditionelle, die augustinische, thomistische,
scotistische Antwort die, dass alles, was geschieht, von Gott schon
immer gewusst wird, weil Gott selbst dessen letzte Ursache ist, unbe-

134 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 155.


135 S. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131.
136 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 155. – Dieser Gedanke

korrespondiert dem in Teilkapitel 3.3 dargelegten Begriff einer ›bedingten Notwen-


digkeit‹ (necessarium ex suppositione). – Vgl. 128–131.
137 Ebd. 163.

138
Ebd.

354

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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

schadet der Kontingenz und Freiheit der menschlichen Handlungen


im Verhältnis zu allen innerweltlichen Kausalgesetzlichkeiten. 139
An der Schwelle zur Neuzeit vollzog sich im Zuge der Entteleologi-
sierung jedoch ein tiefgreifender Wandel im Verständnis des Verhält-
nisses des Menschen zu Gott, der im Rahmen des Leibniz-Vortrags
von Spaemann nicht explizit thematisiert wird, auf den weiter unten
aber im Rahmen des Versuchs, die hier dargelegten Gedanken in den
übergreifenden Kontext von Spaemanns Denken einzufügen, zurück-
zukommen sein wird. Aus der zitierten traditionellen Antwort auf die
Frage nach dem Verhältnis von Gottes Vorauswissen und mensch-
licher Freiheit zogen die Reformatoren im 16. Jahrhundert den
Schluss, dass »von menschlicher Freiheit […] im Verhältnis zu Gott
überhaupt nicht die Rede sein« 140 könne, dass somit auch »die Ver-
dammten ihr Schicksal sich nur zuziehen können, weil er sie hierzu
prädestiniert habe und ihnen infolgedessen die entscheidende Hilfe
eben nicht gewährt« 141. Dieser Schluss wurde vom Trienter Konzil,
das als Reaktion auf die Lehren der Reformation einberufen wurde,
abgelehnt.
Das Konzil von Trient (1545–1563) hatte entschieden, daß der von
Gott erweckte und bewegte freie Wille des Menschen etwas zur Vor-
bereitung auf den Empfang der Rechtfertigungsgnade beitragen und,
wenn er wolle, seine Zustimmung versagen könne. Die nachtridenti-
nische Theologie versuchte nun, das Zueinander von Gnade und Frei-
heit durch eine umfassende Concordia aller Faktoren zu klären und
von einem einheitlichen Grundprinzip her verständlich zu machen.
So entstanden die Gnadensysteme, vor allem der von L. de Molina SJ
(1535–1600) begründete und von den meisten Jesuiten vertretene Mo-
linismus und das nach dem Dominikaner D. Báñez (1528–1604) be-
nannte báñezianisch-thomistische Gnadensystem. 142
Während in diesem Gnadenstreit die thomistischen Dominikaner an
»ihrer Lehre von der praemotio physica, der ›physischen Determi-
nation‹« 143 festhielten und die »Priorität und Souveränität Gottes als
der causa prima alles Seins und Wirkens« 144 betonten, entwickelte

139 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 163.


140 Ebd.
141 Ebd. 163–164.
142
Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 713.
143 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164.
144
Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 714.

355

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Molina eine Theorie, die einen »indeterministischen Freiheits-Be-


griff« 145 sichern sollte:
Aufgabe dieser Theorie war es, ein göttliches Vorherwissen freier
Handlungen zu denken, das einerseits nicht darauf beruht, dass Gott
selbst unmittelbar Urheber dieser Handlungen ist, und das doch nicht
gedacht werden darf als ein passives Zur-Kenntnis-Nehmen dessen,
was geschieht. Denn das war wiederum mit dem Begriff Gottes nicht
vereinbar. Der Gedanke Molinas war nun der: Gott hat in sich nicht
nur Ideen möglicher Dinge, sondern Ideen möglicher Weltverläufe,
möglicher series rerum oder ordines rerum, also Ketten von Dingen
und Ordnungen von Dingen. In jeder dieser Ereignistotalitäten, in
jeder dieser series rerum haben die Menschen völlige Handlungsfrei-
heit. Aber jede dieser series rerum ist dadurch definiert, dass in ihr die
Menschen diesen oder jenen Gebrauch von ihrer Freiheit machen, dass
sie sich durch dieses oder jenes Motiv bestimmen lassen. […] Gott
wählt nun unter allen ordines rerum einen aus und überführt ihn in
die Wirklichkeit. Und da er selbst ihn geschaffen hat, weiß er natür-
lich, was in ihm geschieht, ohne dass er selbst eingreifen müsste, um
die Menschen zu dieser oder jener Handlung zu bestimmen. Er hat mit
der Auswahl der bestimmten Konstellation die Bedingung gewählt,
die faktisch diese bestimmte Handlungsweise auslöst, wenn auch nicht
mit irgendeiner metaphysischen oder kausalen Notwendigkeit. Schöp-
fung reduziert sich so auf eine rationale Auswahl unter gegebenen
möglichen Welten. 146
Molina erweitert damit den Bereich der Possibilien, der in Gottes Sein
gründenden ideellen Möglichkeiten, durch Aufnahme alles Kontin-
genten in die series rerum. Menschliche Freiheit wird also ontolo-
gisch mit der scientia media Gottes begründet, deren Gegenstand
»das bedingt Wirkliche, ein Zwischenreich zwischen dem rein Mögli-
chen und dem kategorisch Wirklichen« 147 ist:
Molina nennt Gottes Wissen um das bedingt Wirkliche jedoch nicht
deshalb »scientia media«, weil es in der Mitte steht zwischen Möglich-
keitserkenntnis (»scientia simplicis intelligentiae«) und Wirklichkeits-
erkenntnis (»scientia visionis«); vielmehr steht für Molina die scientia
media in der Mitte zwischen dem Gott schon durch sein Wesen eige-
nen Erkennen alles notwendigen Seins (»scientia naturalis«) und dem
erst nach seiner freien Willensentscheidung möglichen Erfassen kon-

145
Spaemann, Freiheit, IV, in: HWPh II, col. 1089.
146 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164–165.
147
Reinhardt, Scientia media, in: HWPh VIII, col. 1507.

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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

tingenter Akte. Sie gründet in der alle kontingenten Ursachen bis in


ihre bedingten Entscheidungen hinein durchdringenden »supercom-
prehensio« des göttlichen Wesens. 148
Molina versucht also, die Verbindung von Weisheit und Wille Gottes,
um die es Thomas von Aquin ging, nach der Seite des Vorauswissens
Gottes hin aufzulösen. Dem Menschen wird eine »Spontaneität des
Willens« 149 zugestanden, die von Gottes Wissen noch einmal umgrif-
fen wird: »Durch diese scientia media weiß Gott voraus, wie sich die
freien Zweitursachen unter beliebigen Bedingungen verhalten.« 150
Im Báñezianismus dagegen bedeutet das Festhalten an der thomisti-
schen These der praemotio physica den umgekehrten Versuch der
Auflösung der Verbindung nach der Seite des Willens Gottes hin:
»Für den Báñezianismus ist Gottes Vorherwissen der freien Akte
leicht zu erklären: Sie entstehen, weil Gott von Ewigkeit her dekre-
tiert hat, bestimmten Menschen wirksame praemotiones zu geben;
dieses Dekret geht Gottes Wissen voraus.« 151
Im Báñezianismus wird die Freiheit des Menschen praktisch zum
Verschwinden gebracht, aber auch im Molinismus bleibt ihr Status
gegen die Absicht Molinas prekär. Im Grunde bedeutet seine Theorie
»einen noch radikaleren Determinismus als die traditionelle Prädes-
tinationslehre« 152, insofern das »Handeln des Menschen, der einmal
einer solchen series rerum angehört, […] seit aller Ewigkeit« 153 fest-
liegt. Keines der beiden großen Gnadensysteme konnte sich daher
durchsetzen und der Gnadenstreit blieb unentschieden, worin »die
Unzulänglichkeit des menschlichen Denkens« gesehen werden kann,
»wenn es die in Gottes Offenbarung verborgene Ordnung in ein Sys-
tem fassen will« 154. Leibniz dagegen glaubte an eine mögliche Lösung
mit den Mitteln des Denkens und bot »seiner irenischen Natur ent-
sprechend und auch aufgrund seiner Überzeugung, dass bei großen
Kontroversen beide Parteien Recht haben in dem, was sie behaupten,
und Unrecht in dem, was sie bestreiten,« 155 eine Vermittlungslösung
an, die beide Theorien zu verbinden sucht:

148 Reinhardt, Scientia media, in: HWPh VIII, col. 1507.


149 Specht, Molinismus, in: HWPh VI, col. 95.
150 Ebd. 96.
151 Ebd.
152 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 166.
153
Ebd.
154 Reinhardt, Gnadenstreit, in: HWPh III, col. 714.
155
Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 164.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Er übernimmt den Begriff der series rerum als einer ideellen Einheit.
Gott schafft, indem er eine solche series rerum in die Realität über-
führt, und wenn dies, dann natürlich die beste – das ist die Leibniz’sche
Zutat. Die Frage aber, wie die series rerum sich zu der Kontingenz der
Einzelereignisse verhält, ob sie also den Menschen, der ihr angehört,
zu bestimmten Handlungen determiniert oder nicht, beantwortet
Leibniz damit, dass er sagt: Jede Monade ist definiert durch die Ge-
samtheit ihrer Prädikate. Sie muss nicht determiniert werden, weder
durch die series rerum noch durch Gott, denn es gehört zu ihrem We-
sen, dieser und keiner anderen series rerum anzugehören. Sie ist, wie
sie ist, weil die Welt so ist, wie sie ist. Und umgekehrt, die Welt ist, wie
sie ist, weil jede einzelne Monade ist, wie sie ist. Gott bestimmt nicht
den einzelnen von außen zu irgend etwas, sondern jeder ist von An-
fang an der, der das tut, was er tut. Dieser nominalistische Begriff der
Monade bedeutet eine Dynamisierung des Wesensbegriffs. 156
Zuvor hatte Spaemann in seinem Vortrag bereits darauf hingewiesen,
dass Leibniz’ Begriff der Monade exakt nach dem Modell der thomis-
tischen Engelslehre konzipiert ist: »wo die Materie, wie im Aristote-
lismus des Mittelalters, als das principium individuationis gilt, da
folgt, dass es nicht zwei immaterielle Wesen der gleichen Art geben
kann. Jeder Engel ist eine eigene Spezies.« 157 Entsprechend gilt für die
Monaden: »Jede Monade […] ist ihre eigene Spezies«, »sie ist de-
finiert durch die Gesamtheit ihrer Prädikate« 158. Leibniz’ Vermitt-
lungslösung ist also der Versuch einer »Ontologie […] vom Stand-
punkt Gottes aus« 159:
So übernimmt Leibniz von den Molinisten den Gedanken der Welt als
einer bestimmten, sozusagen nach einer einheitlichen Formel zu kon-
struierenden Ereigniskurve. Von den Thomisten übernimmt er das
Theorem von der vollständigen Ursächlichkeit Gottes für alle Ereig-
nisse. Aber diese Ursächlichkeit scheint nun nicht die Freiheit der Mo-
nade zu beeinträchtigen, weil Gott sie nicht sozusagen von außen zu
etwas bewegt, sondern weil ihre Substanz identisch ist mit einer be-
stimmten Repräsentation des gesamten Weltverlaufs. Erschaffung des
Individuums und Erschaffung einer Welt ist identisch. 160

156 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 166–167.


157 Ebd. 158.
158
Ebd. 159.
159 Ebd. 168.
160
Ebd. 167.

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6.1.4 Leibniz: Ontologie sub specie Dei

Da es »für Leibniz immer nur in der Begrenztheit unserer Perspektive


begründet« ist, »dass wir überlegen, was denn unter anderen Um-
ständen gewesen wäre« 161, bedeutet die Aufhebung der menschlichen
Perspektive in einer Philosophie sub specie Dei für ihn die endgültige
Lösung des Problems.
Die im Leibniz-Vortrag im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
stehende Entwicklung der Theologie im 16. Jahrhundert war zuvor
bereits Gegenstand von Spaemanns Nachdenken über den Natur-
begriff 162, weswegen es sich lohnt, den Zusammenhang zwischen
beiden Gedankenkomplexen herzustellen. Im Essay »Natur« (1973)
betrachtete Spaemann die Rolle der Theologie im Wandel des Natur-
begriffs zwischen dem Hochmittelalter und der frühen Neuzeit. Aus-
gangspunkt kann wieder Thomas von Aquin sein, der, wie in Ab-
schnitt 5.2.3 gezeigt, durch die Verknüpfung der Teleologie mit dem
Bewusstsein Gottes 163 eine wichtige Voraussetzung der Entteleogisie-
rung geschaffen, seinerseits aber an einer teleologischen Naturvor-
stellung festgehalten hatte. Der Mensch hat nach Thomas in seiner
»natura intellectualis« eine natürliche Ausrichtung auf ein Ziel, das
er aber nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Gnade erreichen
kann. Die Natur, konkret die menschliche, ist demnach nicht immer
in sich zurückgebogen, 164 sondern entwickelt im Menschen eine spe-
zifische Form der Selbsttranszendenz. Diese teleologische Naturvor-
stellung »haben die späteren Scholastiker – gerade die thomistischen
– unter Berufung auf Aristoteles aufgegeben« 165. Im 16. Jahrhundert
entstand dann »die folgenreiche Konzeption einer ›natura pura‹« 166,
einer vollkommen sich selbst genügenden Natur, der der Bezug zu
Gott ganz äußerlich ist: »Das System der ›natura pura‹ wurde dann
in der Auseinandersetzung mit Bajus 167 in der katholischen Theologie
herrschend. Um der Gratuität der Gnade willen wird von den Theo-

161 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 157.


162
S. Spaemann, Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert (1967), u.
Ders., Natur (1973).
163 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,

235–237.
164 Vgl.: »Für Albert den Großen zwar gilt die totale Selbstbezüglichkeit der Natur als

Axiom, wenn er, einen Terminus Augustinus’ aufnehmend, schreibt: ›Natura semper
re curva in se ipsa.‹« – Spaemann, Natur (1973), 25.
165
Spaemann, Natur (1973), 25.
166 Ebd. 26.

167
Michael Bajus (1513–1589), ein katholischer Theologe.

359

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

logen die Autonomie der Natur zu einem Postulat gemacht, der ge-
genüber die Gnade nur den Charakter eines ›superadditum‹ hat.« 168
Für den hier verfolgten Gedankengang ist nun entscheidend, welche
Bedeutung die Konzeption der natura pura für das Verständnis des
menschlichen Handelns hat: »Die Freiheit des Handelnden liegt nicht
in einer Unabhängigkeit vom Determinismus, der die Natur durch-
waltet, sondern nur im Erkennen der eigenen Knechtschaft und in der
Zustimmung zu dem, was ohnehin geschieht.« 169 Insofern eine posi-
tive menschliche Freiheit nach dem hier in Erinnerung gerufenen
Gedankengang in der teleologisch verstandenen menschlichen Natur
fundiert ist, wird klar, dass die dem im Mittelpunkt des Leibniz-Vor-
trags stehenden Gnadenstreit zugrunde liegende Problematisierung
der menschlichen Freiheit ihrerseits ein Resultat der im Mittelalter
einsetzenden Entteleologisierung ist. Aus dieser Sicht fällt nun ein
neues Licht auf Leibniz’ Vermittlungslösung zwischen Molinismus
und Báñezianismus, die keine Aktualisierung des thomasischen teleo-
logischen Naturbegriffs versucht, sondern auf spekulative Weise
durch eine Theologisierung der Ontologie die im Gnadenstreit aus-
einander getretenen Positionen versöhnen will. Für die Rettung des
menschlichen Freiheitsanspruchs bedarf es dabei keines geringeren
metaphysischen Konstrukts als der prästabilierten Harmonie, durch
die jedes Individuum den gesamten Weltverlauf in sich trägt, was
aber nur dem göttlichen Bewusstsein gegeben ist. Hierin zeigt sich –
bei allen sonst bestehenden Differenzen – eine Parallele zwischen
Descartes und Leibniz, insofern beide unter den Bedingungen der
Entteleologisierung Errungenschaften der mittelalterlichen Philo-
sophie spekulativ verarbeitet haben. Dies galt wie oben gesehen 170
für Descartes, insofern er die in der mittelalterlichen Realdistinktion
von esse und essentia zum Ausdruck kommende natürliche Selbst-
transzendenz unter Ausklammerung der natürlichen Substanz in ei-
ne rein spekulative Sprache übertrug. Dies gilt nun für Leibniz, inso-
fern er die kontroversen Positionen im Gnadenstreit durch eine
spiritualistische Konzeption zu versöhnen versucht: »Leibniz kann
nicht den aristotelischen Gedanken denken, dass die Seele das Form-
prinzip des Körpers ist. Er denkt das Verhältnis daher wieder nach der

168 Spaemann, Natur (1973), 27. – Als »Theoretiker der natura pura« nennt Spae-

mann die Molinisten Suarez und Bellarmin. – Ebd.


169 Ebd. 28.

170
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.

360

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

spiritualistischen Konzeption der Engellehre.« 171 Von Thomas von


Aquin trennt beide, Leibniz wie Descartes, die mechanistische Natur-
erklärung. Das mit der mittelalterlichen Realdistinktion von esse und
essentia gesetzte Bewusstsein der Freiheit hebt Leibniz durch seine
»Dynamisierung des Wesensbegriffs« 172 wieder auf bzw. er führt es
auf unsere unzureichende und nicht maßgebliche menschliche Per-
spektive zurück:
Die Prädikate A, B, C, D entscheiden nicht über das folgende Prädikat
E, was Fatalismus wäre, »Determinismus« im üblichen Sinne, sondern
der vollständige Begriff der individuellen Monade, also des konkreten
Diesda, den nur Gott vollständig kennt, enthält die ganze Serie ihrer
Zustände, also auch das Prädikat E. 173
Diese vollständige Kenntnis Gottes aller Monaden wird von Leibniz
in den Dienst seines philosophischen Gebäudes gestellt. Spaemann
schließt seinen Vortrag über Leibniz mit der Bemerkung: »Die Re-
aktion auf diese Philosophie sub specie Dei war Kant. Seine Koper-
nikanische Wende kann als Versuch gesehen werden, die Intention
jenes griechischen, dem Epicharm zugeschriebenen Satzes zu er-
neuern: ›Sterbliche Gedanken soll der Sterbliche denken, nicht un-
sterbliche der Sterbliche.‹« 174

6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und


ihre Grenzen

Der britische Philosoph Alfred North Whitehead (1861–1947) ist in


Spaemanns Augen eine einzigartige Erscheinung in der Philosophie
des 20. Jahrhunderts:
Von allen vorherrschenden Tendenzen unterscheidet er sich dadurch,
dass er überhaupt von der Natur, perí tēs physeōs handelt, während
doch für die herrschende Meinung Naturphilosophie nur noch Natur-
wissenschaftsphilosophie sein kann, Erforschung der psychischen,
sprachlichen, logischen Voraussetzungen und Implikationen natur-

171 Spaemann, Leibniz’ Begriff der möglichen Welten (1987), 159.


172
Ebd. 167.
173 Ebd.
174
Ebd. 169.

361

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

wissenschaftlicher Theorien bzw. naturwissenschaftlicher Beobach-


tungen und Experimente. 175
Im Rahmen seines Essays »Whitehead oder: Welche Erfahrungen
lehren uns die Welt verstehen?« 176 rekapituliert Spaemann aus der
Perspektive von Whiteheads Denken wesentliche Etappen der Ent-
wicklung der Philosophie seit Kant, um die besondere Stellung Whi-
teheads zu verdeutlichen. Im Folgenden wird dieser diachrone Längs-
schnitt in großen Zügen nachgezeichnet, um vor diesem Hintergrund
die fundamentalen Einsichten Whiteheads in Spaemanns Deutung
zusammenzufassen. Abschließend wird dann die Kritik Spaemanns
an Whiteheads Denken erläutert, aus der als Schlussfolgerung eine
Stellungnahme zu den in seinen Augen wesentlichen Aufgaben der
Gegenwartsphilosophie abgeleitet wird, die den Übergang bereitet
zur Darstellung der von Spaemann in den 80er Jahren entwickelten
eigenständigen metaphysischen Konzeption.
»Was Whitehead von aller gegenwärtigen Naturphilosophie un-
terscheidet und ihn mit Aristoteles verbindet,« so Spaemann, »ist der
Versuch, auch noch die anorganische Natur, ja gerade diese zu ver-
stehen.« 177 In einem kurzen Exkurs zur Frage, was in diesem Zusam-
menhang eigentlich ›verstehen‹ bedeutet, arbeitet Spaemann die Un-
terscheidung zwischen einem Verstehen als »Sich-vertraut-Machen,
oikeíōsis, Einverwandeln in das Selbstverständliche« 178 und einem
anderen, am »Ideal […] des göttlichen Verstehens« orientierten Be-
griff heraus:
Verstehen heißt für die Philosophie nicht: Zurückführen auf die
Selbstverständlichkeit unserer Normalsituation, sondern Erweite-
rung, Universalisierung dieser Situation, die uns den Maßstab für
Normalität vorgibt. Spinoza hat in der Neuzeit vielleicht am besten

175 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 171.


176 Der Essay »Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen?

Bemerkungen zum Paradigma von Whiteheads Kosmologie« (1983) wurde zuerst ver-
öffentlicht in: F. Rapp, R. Wiehl (Hrsg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. In-
ternationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg / München 1986,
169–181. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus. Gesammelte
Reden und Aufsätze I, 171–188.
177
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 172.
178
Ebd. 173.

362

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

verstanden, dass Philosophie primär eine Umdefinition unserer Le-


benssituation ist. Philosophie ist eine Lebensweise, ein Bios. 179
Worum es Spaemann in dieser Aussage geht, ist nichts anderes als
jene Orientierung am »absolute[n] Inhalt des Glaubens in seiner alle
geschichtliche Realisierung transzendierenden Gestalt« 180, von dem
schon am Ende der Bonald-Studie die Rede war. Die in den voran-
gegangenen beiden Abschnitten betrachteten Denker Descartes und
Leibniz waren ohne Zweifel an einem solchen fundamentalen Begriff
des Verstehens orientiert. Aber gerade ihr spekulativer Höhenflug
provozierte die kritische Revision, die mit Kants kopernikanischer
Wende eingeleitet wurde und die moderne Philosophie zu einem Ver-
zicht auf ein absolutes Verstehen verpflichtete. Aus diesem nachkan-
tischen Konsens bricht Whitehead nach Spaemann aus, insofern er
Philosophie wieder als »Aufbruch ins Unabsehbare« 181 begreift:
»Die Menschheit«, so schreibt Whitehead, »stolpert mit unsicheren
Schritten dem Ziel entgegen, die Welt zu verstehen.« Die Bedeutung
Whiteheads liegt m. E. darin, dass er das Schiff dieser Fahrt ins Unbe-
kannte im 20. Jahrhundert wieder flott gemacht hat, nachdem die Phi-
losophie seit zwei Jahrhunderten durch den Versuch gekennzeichnet
ist, die Fahrt abzubrechen und endgültig vor Anker zu gehen. 182
Mit Bezug auf die kantische Philosophie spricht Spaemann von einem
»Programm der Etablierung einer definitiven, durch die Natur der
Vernunft vorgezeichneten Normalität als des letzten möglichen Ver-
stehenshorizontes des Menschen« 183, wobei jedoch Kant noch ein Be-
wusstsein geblieben sei für die »Kontingenz auch dieser Normali-
tät« 184 und das Jenseits derselben, das sie verstellt. Dies sollte sich im
19. und 20. Jahrhundert ändern, wie Spaemann durch eine freie Va-
riation des Höhlengleichnisses mit Bezug auf Comte und Quine ver-
anschaulicht:

179 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 176.


180 Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),

192. – Vgl. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung des Bonald’schen Denkens, 125.
181 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 176.


182
Ebd. 176–177.
183 Ebd. 177.

184
Ebd.

363

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Der Positivismus versuchte, auch diese Erinnerung an das Offene zu


liquidieren und die Rede von diesem Offenen bei den Bewohnern der
platonischen Höhle unter die Strafe kognitiver Ächtung zu stellen.
Einmal daran gewöhnt, dass die Welt nur das Höhlenkino ist, kann
man dann schließlich die Rede vom Sein, die Ontologie innerhalb der
Höhle wiederherstellen. Sein heißt dann nämlich nur noch, auf der
Leinwand dieses Kinos vorkommen: »to be the value of a bound varia-
ble«, Wert einer gebundenen Variablen sein. 185
Die übermächtige Vorstellung von Normalität, die die Philosophie
letztlich zu einer solchen Reduktion des Verstehens-Begriffes, zur
Formel: »Sein heißt: Gegenstandsein« 186 drängte, war zunächst »das
physikalistische Weltbild des Newton’schen Zeitalters« 187, das über
die Verwerfung der traditionellen »Naturansicht der Antike und des
Mittelalters« 188 als anthropomorphistisch zum »Objektivismus der
neuzeitlichen Philosophie« führte, der die »transzendentale Wende
der Philosophie« 189 als Gegenreaktion vorbereitete. Das Resultat die-
ser Entwicklung ist, solange noch an einem Wahrheitsanspruch fest-
gehalten wird, die wechselseitige Rekonstruktion der konkurrieren-
den Weltanschauungen im Rahmen des eigenen Ansatzes und damit
das dialektische Umschlagen der einen Position in die andere. 190 Die
Transzendentalphilosophie schaltet dem Objektivismus »eine Refle-
xion vor, die es dem Menschen erlauben soll, sich selbst nicht im
Rahmen dieses deterministischen und materialistischen Weltbildes
verstehen zu müssen« 191, während der Objektivismus die »Rückzugs-
position der Transzendentalphilosophie« »nun evolutionstheoretisch
als ›Rückseite des Spiegels‹ interpretiert« 192 und die Transzendental-
philosophie wiederum die Frage aufwirft, wie der Objektivismus als
»Anpassungsprodukt« 193 im Prozess der Evolution überhaupt einen

185 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 177.


186 Ebd.

187
Ebd. 178.
188 Ebd.

189 Ebd.

190 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.
191 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 179.


192
Ebd. – Vgl. Abschnitt 5.2.4, Umbildungen der Teleologie und der Prozess der Ent-
teleologisierung, 251, Fn. 226.
193
Ebd.

364

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

Wahrheitsanspruch rechtfertigen will. Die mögliche Alternative zu


dieser unabschließbaren Dialektik ist die schlechthinnige Aufgabe
eines Wahrheitsanspruchs, wie Spaemann wiederum mit Bezug auf
Quine darlegt:
Übrig bleibt das sich selbst erzeugende Universum der arbeitsteiligen
Wissenschaft, in welcher die Physik die psychische Welt erklärt und
die Psychologie das Unternehmen der Physik. […] Jede Frage nach
dem Status des Ganzen dieses arbeitsteiligen Systems wird zur sys-
temimmanenten Frage umformuliert und zum Zwecke der Beantwor-
tung von einer der Abteilungen zur anderen weiterverwiesen. 194
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung in Richtung einer radikalen
Reduktion des Verstehens-Begriffes ist die von Spaemann hervor-
gehobene einzigartige Stellung Whiteheads in der modernen Philo-
sophie zu sehen, die wesentlich in dem Bemühen besteht, Natur wie-
der zu verstehen.
In der Entwicklung der neuzeitlichen Philosophie war es die der
klassischen Antike unbekannte Zweiteilung der Welt in Subjekt und
Objekt, durch die die Dynamik der Entwicklung des anthropologi-
schen Dualismus 195 jene Wendung genommen hat, die zur Dialektik
von Transzendentalismus und Naturalismus führte. Ein Ausweg aus
dieser Entwicklung muss daher an dieser Zweiteilung ansetzen, worin
Spaemann den Schlüssel zum Verständnis Whiteheads sieht:
Die fundamentale Einsicht Whiteheads liegt darin, dass Konkretheit
nur als Subjekt-Objekt-Einheit, als erlebte Innerlichkeit gedacht wer-
den kann. […] Unter dieser Voraussetzung – dass nur Subjekt-Objekt-
Einheiten konkret und wirklich sind – wird eine These wie die, dass
sekundäre Sinnesqualitäten »nur subjektiv« seien, zu einer nichts-
sagenden Trivialität. Sie besagt nämlich dann nur, dass diese Qualitä-
ten nur als erlebte wirklich sind. Wenn jedoch der Begriff einer nicht-
erlebten Wirklichkeit ein Unbegriff ist, wenn jeder erlebte Inhalt als
erlebter Inhalt Wirklichkeit gewinnt, ist jeder erlebte Inhalt ein »actu-
al event«, ein aktuales Ereignis im Sinne Whiteheads, und aus solchen
»actual events« besteht die Welt. 196

194 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 179.


195 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.
196 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 181.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Mit diesem Grundsatz revidiert Whitehead die gesamte neuzeitliche


Subjektphilosophie und setzt ihr als Ausgangspunkt der Philosophie
eine Tätigkeit entgegen, die Subjekt und Objekt verbindet. Spaemann
zitiert aus Whiteheads »Adventures of Ideas« den Satz: »Die letzte
wirkliche Wesenheit ist eine organisierende Tätigkeit, welche die Be-
standteile so zu einer Einheit verschmilzt, dass diese Einheit die
Wirklichkeit ist.« 197 Wesentlich für das Verständnis Whiteheads ist,
dass diese Vorstellung der ›erlebten Wirklichkeit‹ nicht, was nahe-
liegend erscheinen könnte, auf die Seinsweise von Lebewesen be-
schränkt wird, sondern als universales Prinzip für alles Seiende gelten
soll, was bedeutet, dass allem Seienden »so etwas wie Selbstsein und
Für-sich-Sein zugesprochen« 198 werden muss. Den Grundgedanken
einer solchen Universalisierung der Teleologie, die doch immer auf
Individuen bezogen bleibt und damit den Übergang in Universalte-
leologie vermeidet, erläutert Spaemann wie folgt:
So vor die Alternative gestellt, dem Nichtlebendigen entweder die
Wirklichkeit ab- oder das Für-sich-Sein zusprechen zu müssen, ent-
scheidet Whitehead sich für das zweite. Alles, was ist, ist von der Art,
dass anderes für es ist, dass anderes von ihm in Umwelt verwandelt
wird. Alles, was ist, ist ein jeweils eigener teleologischer Entwurf, in-
nerhalb dessen alles andere eine jeweils neue und eigene Bedeutung
gewinnt. Die Gesamtheit der Relationen, in denen ein Seiendes zu
allem anderen steht, definiert dieses Seiende, und wir haben nur die
Wahl, diese Relationen als bloß logische zu verstehen, deren ontologi-
sche Realisierung vom Gedachtwerden durch ein dem Gedachten äu-
ßerliches Subjekt nicht verschieden ist, oder aber das so Gedachte
selbst als »Suprajekt« im Sinne Whiteheads zu verstehen. Das letztere
bedeutet, dass die Welt auch ohne den Menschen bereits konkret ist
und dass die Kategorien, die das Konkrete definieren, immer schon als
instantiiert gedacht werden müssen. Je ferner ein Seiendes uns selbst
ist, desto abstrakter und leerer an Vorstellungsgehalt ist für uns frei-
lich diese Instantiierung. Was »erfassen«, »fühlen«, »Befriedigung«,
»streben« in einem von uns sehr weit entfernten »actual event« wirk-
lich bedeutet, bleibt für uns ganz abstrakt. Aber das ist ja nun gerade
die Pointe des Whitehead’schen Denkens, dass die Welt überhaupt nur

197 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 183. – Spaemann verweist auf folgende Quelle des Zitats: Vgl. Ad-
ventures of Ideas, New York: Macmillan 1933, S. 201. – Ebd. 188.
198
Ebd. 182.

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

aus aktuellen Weisen ihres Erfahrenwerdens und damit Konkretwer-


dens besteht. 199
Daher bezeichnet Spaemann Whiteheads Denken als »universale
Sozialontologie« bzw. als »Ontologie des Mitseins«, insofern Inter-
subjektivität für ihn nur der aus menschlicher Perspektive bekann-
teste Fall ist »desjenigen Verhältnisses, in dem ohnehin alles mit
allem steht« 200. Hierbei ist Whiteheads Denken nach Spaemann je-
doch von einer Merkwürdigkeit gekennzeichnet, insofern er
die Seinsverfassung der höheren Tiere allem zuspricht, was ist, um sie
am Ende eben den höheren Tieren selbst, ja allen Organismen ab-
zusprechen: »The real Actual things that endure (such as stones and
animal organisms) are all societies. They are not actual occasions.«
(»Die wirklichen aktualen Dinge, die dauern [wie Steine oder tierische
Organismen], sind sämtlich Gesellschaften. Sie sind nicht aktuale Er-
eignisse.«) 201
Warum spricht Whitehead gerade »den Organismen, den höheren
Tieren und den Menschen ab[…], ›actual entities‹, letzte ontologische
Einheiten zu sein« 202? Spaemann vermutet, dass es die Absicht ist,
»alle Deutung fernzuhalten und nur das, was sich unmittelbar als es
selbst zeigt, als ein Selbst, also als Letztes, Konkretes gelten zu
lassen« 203. Ein weiterer Grund ist mit dem Problem der Identität ver-
bunden. Die »zeitüberdauernde, eine Folge von Erlebnissen und
Wahrnehmungen übergreifende Identität eines Wahrnehmungssub-
jekts« 204 setzt die Verknüpfung einer Vielzahl von Akten voraus und
die Vorstellung einer »den Akten ihrer Erfahrung voraufgehende[n]
Substanzialität […] scheint dann wiederum der Whitehead’schen De-
finition von Konkretheit zu widersprechen« 205. Diese Merkwürdigkeit
seines Denkens ruft nach Spaemann zwei Schwierigkeiten hervor:
Erstens die Schwierigkeit, die teleologisch strukturierte Totalität eines
»actual event« aus dem kontinuierlichen Erlebnisstrom herauszu-
heben und als distinkte Totalität zu erfassen. Zweitens die Unmöglich-

199 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 183.
200 Ebd. 184.

201 Ebd. 181–182.

202 Ebd. 184.

203
Ebd.
204 Ebd.

205
Ebd. 185.

367

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

keit, die spezifisch humanen Phänomene: Reflexion, Wollen und mo-


ralische Verantwortung kategorial zu fassen, d. h. die Phänomene der
Selbstvermittlung, in welchen sich Identität konstituiert. 206
Beide Schwierigkeiten beziehen sich aus unterschiedlicher Perspekti-
ve auf denselben Sachverhalt, dass nämlich diese Isolierung einzelner
Akte dem subjektiven menschlichen Erleben nicht gerecht zu werden
vermag, worin sich für Spaemann zeigt, dass »auch seine Ontologie
noch eine Form von Reduktionismus« 207 ist: »Wenn wir seiner anti-
dualistischen Grundintention folgen, so ergäbe sich die Notwendig-
keit, das kategoriale System so zu fassen, dass es seine konkret para-
digmatische Erfüllung in der höchsten Form unserer Selbst- und
Welterfahrung gewinnt.« 208 Da dies von Whitehead nicht gesehen
wurde, versucht Spaemann, gegenüber Whiteheads Reduktionismus
den »aristotelische[n] Begriff der Substanz« 209 erneut ins Spiel zu
bringen, womit bereits der kritische Teil seiner Auseinandersetzung
mit Whitehead eingeleitet ist.
Whitehead hat, so der prinzipielle Vorwurf Spaemanns, kein
hinreichendes Verständnis der aristotelischen Substanz entwickelt,
insofern er sie nur »als Hypokeimenon, als Materie« 210 versteht.
Tatsächlich unterscheidet jedoch Aristoteles von gewöhnlichen Prädi-
katen diejenigen, die wir heute als sortale Ausdrücke zu bezeichnen
pflegen, und die eine Substanz bereits als eine prōtē enérgeia, als actus
primus definieren, d. h., um es in Whiteheads Sprache zu sagen, als ein
fundamentales, durch ein und nur ein »ewiges Objekt« strukturiertes
Ereignis. Dieses Ereignis schließt eine Folge von actus secundi, von
mit diesem Ereignis kompatiblen sekundären »actual events« zu einer
letzten ontologischen Einheit zusammen, d. h. zu etwas, von dem aus
alles ausgesagt, was selbst jedoch von nichts anderem ausgesagt wird.
Das Fundamentalereignis »Substanz« integriert nicht nur, wie die
»actual entity« Whiteheads, andere Ereignisse gleicher Art zur Einheit
eines Aktes der Erfassung, es integriert vielmehr die Akte der Erfas-
sung selbst noch einmal zu einer übergreifenden Einheit. Und diese
Einheit kann nicht als »Gesellschaft« verstanden werden, weil sie jene

206 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-

stehen? (1983), 185.


207 Ebd.

208
Ebd.
209 Ebd.

210
Ebd.

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

welterfassenden »actual events« erst als deren Ermöglichungsgrund


aus sich hervorgehen lässt. 211
Die aristotelische Substanz – das ist der Sinn der Schlussfolgerung im
letzten Satz – ist das letzte Aussagensubjekt aller konkreten Akte und
kann ihrerseits nicht mehr von einem Zugrundeliegenden – den iso-
lierten Akten Whiteheads – ausgesagt werden. Damit ist Spaemann
wieder bei dem unhintergehbaren Ausgangspunkt angelangt, von
dem oben im Zusammenhang mit dem Problem der Antikenrezeption
die Rede war, 212 nämlich der paradigmatischen menschlichen Selbst-
erfahrung eines Lebewesens, dem es um etwas geht.
Es ist leicht zu sehen, was das Paradigma für diesen Substanzbegriff
ist: Es ist die Einheit des Subjektes als einer Folge von Akten und Zu-
ständen, die sich selbst als ein diese Einzelereignisse übergreifendes,
teleologisch-strukturiertes Geschehen erfährt. Aristoteles versteht
dieses Subjekt als Substanz, weil er die Substanz immer schon nach
Analogie des Subjekts verstanden hat. Und wenn dieser paradigmati-
sche Ursprung einmal klar ist – Kant hat ihn als erster klar gemacht –,
dann ist auch klar, warum Whitehead beim Aktualismus des »actual
event« als letzter »entity« stehen geblieben ist. Er ist bei ihm stehen
geblieben, weil er bei der Kosmologie stehen geblieben ist. 213
Die letzten drei Sätze sind in dieser Verknappung erläuterungs-
bedürftig. Zunächst ist die Rede vom aristotelischen Substanzbegriff,
der, wie oben gezeigt, 214 uns nicht direkt, sondern nur per viam nega-
tionis zugänglich ist. Wenn es dann heißt, dass Kant diesen paradig-
matischen Ursprung als erster klar gemacht hat, geht es bereits um
die moderne subjektphilosophische Übersetzung des aristotelischen
Substanzbegriffs, in der »die ursprünglich-synthetische Einheit des
Ich-denke« zum »alles bestimmenden Ausgangspunkt« 215 der Trans-
zendentalphilosophie wird. Der Sprung danach von Kant zur Kosmo-
logie ist nur zu verstehen vor dem Hintergrund der am Anfang dieses
Abschnitts erläuterten grundsätzlichen Revision der subjektphilo-
sophischen Denkbedingungen durch Whitehead zugunsten einer ver-

211 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-

hen? (1983), 185–186.


212 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327–330.

213 Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-

hen? (1983), 186.


214 Vgl. Fn. 212.

215
Janke, Apperzeption, transzendentale, in: HWPh I, col. 452.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

mittelnden Tätigkeit in den »actual events«, aufgrund deren der kos-


mologische Ansatz für ihn alternativlos zu sein schien. Genau hierin
sieht Spaemann nun die entscheidende Schwäche Whiteheads. Sein
gegen den zum abstrakten Bewusstseinssubjekt führenden Reduktio-
nismus gerichtetes Projekt einer Aktualisierung der aristotelischen
Substanzontologie baut ganz wesentlich auf der Verbindung von Te-
leologie und reflexiv gewendeter natürlicher Selbsttranszendenz auf,
die hier im zweiten Abschnitt 216 als die wesentliche gedankliche Er-
rungenschaft Spaemanns im hier betrachteten Zeitraum der Entfal-
tung seines Denkens bezeichnet wurde:
Um über die Kosmologie hinaus zu einer Fundamentalontologie vor-
zudringen, bedürfte es wohl der Orientierung an denjenigen Weisen
der Erfahrung, die nicht den Charakter der »presentational immedia-
cy«, des unmittelbaren Vorstellens haben, sondern den der reflektier-
ten Vergegenwärtigung des Anderen als des Anderen und der Selbst-
identifikation in der vermittelten Rückkehr aus der Andersheit. […]
Erst jener freie Akt der Anerkennung, der seinen adäquaten Ausdruck
im Wort »Sein« findet, erst also die »absolute Position«, die im Urteil
vollzogen wird, stellt das Erfasste als Erkanntes wieder dort hin, wo es
zuerst war. Und erst in diesem Akt der Anerkennung nimmt das Sub-
jekt seine sinnliche Erfassung des Anderen sozusagen zurück und rea-
lisiert, dass es seinerseits ebenso durch das Andere erfasst wird, das
heißt, dass es selbst Umwelt für Anderes ist. Und in diesem Seinlassen
erst konstituiert es sich selbst als schlechthin seiend. Das aber lässt
sich in Begriffen Whiteheads nicht denken. 217
Aus diesen Worten geht hervor, dass die gesuchte Aktualisierung des
aristotelischen Substanzbegriffes nur aus einem intersubjektiven
Geschehen hervorgehen kann, in dem durch die wechselseitige An-
erkennung von Subjekten die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Proble-
matik überschritten wird, ohne dass – wie bei Whitehead – der Bezug
zur menschlichen Selbsterfahrung aufgegeben werden müsste. »Die
Grenze von Whiteheads Kosmologie liegt darin, dass sie ihre eigenen
Möglichkeitsbedingungen nicht selbst noch kategorial zu interpretie-
ren erlaubt.« 218 Mit den Möglichkeitsbedingungen spielt Spaemann
gerade auf die menschliche Selbsterfahrung des Lebendigen an, zu

216 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335–

336.
217
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu verste-
hen? (1983), 186–187.
218
Ebd. 187.

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6.1.5 Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen

der Whiteheads Philosophie dann aufgrund ihrer freiwilligen Selbst-


beschränkung keinen Zugang hat:
Entgegen ihrer tiefsten Intention kann daher Whiteheads Philosophie
ihr eigenes Paradigma, den Organismus in seiner fundamentalen
Identität, nicht festhalten, weil sie Vernunft nur als Funktion organi-
scher Kreativität, nicht als deren freies Zu-sich-selbst-Kommen be-
greift. Sie versucht, was wir sind, am Organismus abzulesen und
nicht, was dieser ist, an denjenigen »actual events«, in denen wir uns
ausdrücklich als freies Selbstsein begreifen. Den Szientismus hat
Whitehead überwunden. Seine Kosmologie wartet nur noch auf eine
sie fundierende, ihre Möglichkeit begreifende Ontologie. 219
Die These, die im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels entfaltet
werden soll, ist, dass es Spaemann im hier betrachteten Zeitabschnitt
ausgehend von den in diesem ersten Teil dargestellten philosophie-
historischen Orientierungspunkten um eine erste umrisshafte Dar-
stellung einer eigenständigen ontologischen Konzeption geht, die ge-
nau den hier zuletzt genannten Anspruch erhebt. 220

219
Spaemann, Whitehead oder: Welche Erfahrungen lehren uns die Welt zu ver-
stehen? (1983), 187.
220
Ein detaillierter Vergleich der philosophischen Konzeptionen Whiteheads und
Spaemanns liegt außerhalb der Möglichkeiten dieser Arbeit. Ein solcher würde eine
intensive Auseinandersetzung mit den wichtigsten Werken Whiteheads – insbeson-
dere »The Concept of Nature« (1920), dt. »Der Begriff der Natur«, »Science and the
Modern World« (1925), dt. »Wissenschaft und moderne Welt«, »Process and Reality.
An Essay in Cosmology« (1929), dt. »Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmo-
logie«, »Adventures of ideas« (1933), dt. »Abenteuer der Ideen« – voraussetzen. Auch
sollte ein solcher Vergleich die bislang unveröffentlichten Skripte zu Spaemanns Vor-
lesung über Whitehead Anfang der 80er Jahre in München einbeziehen. – Vgl. Spae-
mann, Über Gott und die Welt (2012), 249.

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6.2 Die Konturen einer eigenständigen
metaphysischen Konzeption

Die folgenden, die Mitte des zweiten Teiles der vorliegenden Arbeit
bildenden Abschnitte stellen insofern ein Novum im Rahmen der
bisherigen Ausführungen zu Spaemanns Denken dar, als in ihnen
weder eine philosophiehistorische Untersuchung bestimmter Reprä-
sentanten der Philosophiegeschichte noch eine systematische Be-
trachtung eines konkreten Problemfeldes der philosophischen Refle-
xion im Mittelpunkt stehen. Die im Folgenden zu entwickelnde These
ist, dass sich in Spaemanns Schriften der 80er Jahre – in nuce und an
verstreuten Stellen – die Konturen einer eigenständigen metaphysi-
schen Konzeption abzeichnen, die in seinen späteren Hauptwerken
»Glück und Wohlwollen« und »Personen« maßgeblich entfaltet wird.
In Anknüpfung an die dargelegten philosophiehistorischen Orientie-
rungspunkte soll versucht werden, diese metaphysische Konzeption
in ihren wesentlichen Grundgedanken darzulegen. Zunächst wird
ausgehend von der alternativen metaphysisch-analogen Deutungs-
möglichkeit des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ der darzulegende
Spaemann’sche Ansatz in dem zuvor entworfenen philosophiehis-
torischen Orientierungsrahmen verortet, wobei es zentral um den
Lebensbegriff und die Bedingungen seiner Denkbarkeit gehen wird
(6.2.1). Danach wird der Kerngedanke Spaemanns einer Verbindung
von Naturteleologie und Selbsttranszendenz anhand der für seine
Essaysammlung der 80er Jahre namensgebenden Schlüsselbegriffe
des ›Natürlichen‹ und des ›Vernünftigen‹ entwickelt und die meta-
physischen Kategorien der Anerkennung bzw. der Repräsentation
präzisiert (6.2.2). Schließlich wird die Bedeutung der genannten Ver-
bindung und dieser metaphysischen Kategorien dargelegt, indem das
Paradigma einer Philosophie der Person abgehoben wird von dem der
Transzendentalphilosophie und somit die Selbstpositionierung Spae-
manns im entworfenen philosophiehistorischen Orientierungs-
rahmen nachvollzogen wird (6.2.3).

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

In seinem Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« aus dem Jahre
1987 spricht Spaemann in Bezug auf den Fortschritt vom ›cogito‹ zum
›sum‹ von zwei Deutungsmöglichkeiten: »Ich möchte die eine die me-
taphysisch-analoge nennen, die andere die spekulativ-dialektische.« 1
Bei der oben dargelegten Deutung 2, die sich in den Bahnen der carte-
sischen Meditationen bewegte, handelte es sich um die zweite Deu-
tungsmöglichkeit. Im genannten Essay 3 skizziert Spaemann nun die
alternative metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit, die Des-
cartes selbst aus Gründen, die nun erläutert werden sollen, nicht
möglich war. Dazu muss noch einmal am Begriff des Seins angesetzt
werden. Oben wurde Spaemanns Deutung wiedergegeben, wonach
Descartes im ›cogito sum‹ eine Übersetzung der aristotelischen Rede
vom Sein unter den Bedingungen der Entteleologisierung leistet, in-
dem er eine spekulative Theorie der Selbsttranszendenz entwickelt.
Spaemann nahm damit nicht nur Aristoteles vor dem Heideg-
ger’schen Vorwurf der Seinsvergessenheit in Schutz, sondern dehnte
diese Apologie auch auf das ›cogito sum‹ aus. 4 Vor diesem Hinter-
grund geht es nun um eine alternative Deutungsmöglichkeit des

1 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.


2 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
3 Es ist auffällig, dass in den Überlegungen »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,

›existiert‹ und ›es gibt‹« (1980/81) die spekulativ-dialektische cartesische Deutung


des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ und die metaphysisch-analoge Spae-
mann’sche Deutung nicht klar auseinandergehalten werden. Erst in dem Essay aus
dem Jahre 1987 arbeitet Spaemann diesen Unterschied in aller Deutlichkeit heraus.
4 Den Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 beginnt Spaemann mit einem Zitat aus

»Sein und Zeit«: »Mit dem Cogito beansprucht Descartes, der Philosophie einen neu-
en und sicheren Boden bereitzustellen. Was er aber bei diesem radikalen Anfang un-
bestimmt lässt, ist die Seinsart der res cogitans, genauer der Seins-Sinn des ›sum‹!« –
Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 24. – Dieses Zitat kommentiert Spaemann dann mit
folgenden Worten: »Die Frage ist, ob es hier überhaupt etwas zu bestimmen gibt, ob
nicht ›Sein‹ als erster Begriff, als primum notum jeder näheren Bestimmung unbe-
dürftig und unfähig ist. Descartes hat es zweifellos so gesehen, wenn er auf die 6. Ent-
gegnungen antwortet, die Kenntnis der ›Natur des Denkens und der Existenz‹ sei
›allen Menschen natürlich‹, sie sei eine ›innere Erkenntnis, die der erworbenen stets
vorausgeht‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: Descartes, Meditations, Réponses aux
sixièmes Objections, § 1; A.-T. VII, 422., ebd. 147] Cogitare und esse seien, so ant-
wortet er im Brief an Clerselier, ursprüngliche Begriffe, ›die erkannt werden ohne
irgendeine Affirmation oder Negation‹. [Anmerkung mit Quellenangabe: ›qui se con-
naissent sans aucune affirmation ni négation‹: A.-T. IX, 206.]« – Ebd. 136.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Seinsbegriffs, den Versuch einer neuzeitlichen Aktualisierung der


aristotelischen Rede vom Sein bei gleichzeitigem Festhalten am
Grundgedanken der Teleologie:
Sie unterscheidet sich von der cartesischen dadurch, dass in ihr »Sein«
nicht ein univoker Begriff, nicht eine clara et distincta perceptio ist,
sondern dass von ihr gilt: pollachōs légetai – »es wird auf vielfältige
Weise ausgesagt«. Sein heißt hier nicht primär Gegenständlichkeit für
ein Bewusstsein; »to be« ist nicht, wie nach der berühmten Definition
von Quine, »to be the value of a bound variable«, sondern umgekehrt:
Bewusstes Leben ist das fundamentale Paradigma des Seienden. 5
In der Aussage des letzten Satzes ist bereits eine dreifache Aussage-
möglichkeit von Sein impliziert. Die analoge Rede vom Sein bedeutet,
dass die Selbsterfahrung als Zugang zum Sein zugleich eine Verbin-
dung herstellt zu anderem Sein. Um diesen Gedanken in seiner vollen
Bedeutung nachzuvollziehen, ist es zunächst nötig, sich die dreifache
Aussagemöglichkeit von Sein in voller Deutlichkeit vor Augen zu
führen:
Sein ist actualitas. Die actualitas des Lebendigen ist das Leben. Vivere
viventibus est esse – »Leben ist das Sein der Lebewesen« –, dieses
Aristoteleszitat aus »De anima« 6 wird das ganze Mittelalter hindurch
weitergereicht, und Albertus Magnus folgert aus ihm: Ex quo posuit
vitam, superfluum fuit addere ›esse‹ – »Wo leben statuiert wird, ist es
überflüssig, zusätzlich von ›Sein‹ zu sprechen.« 7 Erkennen aber ist
nicht ein Accidens des Lebens, sondern dessen höchster Modus. So
schreibt Thomas von Aquin im Kommentar zur Nikomachischen
Ethik: Qui non intelligit, non perfecte vivit sed habet dimidium vitae
– »Wer kein Bewusstsein hat, lebt nicht im vollen Sinn, sondern nur
halb.« 8 Wir können unbewusstes Leben nur nach Analogie bewussten
Lebens verstehen und Nichtlebendiges nur nach Analogie von Leben-
digem. Dies tun wir, indem wir sogar dem Nichtlebendigen eine physis
zuerkennen, eine natura als inneres teleologisches Prinzip spezi-
fischen Bewegtseins. 9

5 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.


6 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Aristoteles,
De anima II, 4; 415 b 13. – Ebd. 147.
7 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Albertus

Magnus, In Dionys. de div. nom., ed. Col. 37,1 col. 135a. – Ebd. 147.
8
Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Thomas von
Aquin, In Eth. Arist. ad Nicom., lib. IX lect. 11, Nr. 1902. – Ebd. 147.
9
Ebd. 137.

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

Leben ist also eine andere Aussageweise des Seins, eine dritte ist das
Erkennen. Dabei verweisen diese Aussageweisen auf eine Hierarchie:
Was erkennt, lebt; was lebt, ist. Diese Aussagen lassen sich nicht ein-
fach umkehren, da es Seiendes gibt, das nicht lebt, und Lebendiges,
das nicht erkennt. Wesentlich ist es nun festzuhalten, dass der
Mensch in seiner Selbsterfahrung zum Sein immer nur Zugang hat
als Erkennender, aus der Perspektive bewussten Lebens. »Der Schluss
vom Denken aufs Sein ist daher in dieser Sicht ein Schluss a fortio-
ri« 10, ein Schluss vom Stärkeren her. Das metaphysisch-analoge Den-
ken thematisiert also einerseits das allen Seienden Gemeinsame, an-
dererseits gibt es den Blick frei auf die Stufen der Entfaltung des Seins
und ihre Ordnung, die es mit sich bringt, dass in der Betrachtung des
Seins keine Stufe übersprungen werden kann, das heißt, dass Er-
kennen als Aussageweise des Seins nicht begreifbar ist ohne die Zwi-
schenstufe des Lebens als einer vermittelnden Aussageweise:
Die Trias Sein – Leben – Denken, die auf Platons »Sophistes« 11 zu-
rückgeht und in der neuplatonischen Tradition zentrale Bedeutung
gewinnt 12, bleibt bestimmend bis ins 14. Jahrhundert. Das Verhältnis
von Bewusstsein und Sein als ein Verhältnis der Analogie zu denken
setzt den Mittelbegriff des Lebens voraus. Die subjektiven Erfahrun-
gen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust, Begierde, Streben,
Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn
charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar
nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins.
Wir finden uns durch sie immer schon in einer teleologischen Struk-
tur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die uns mit allem Leben-
digen verbindet. 13

10 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137.


11 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Vgl. Platon, Sophistes 248 e. – Ebd. 148.
12
Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Z. B. Augustinus, De ver. rel. XXXI, 57,
De Civ. Dei VIII, 4. Vgl. auch P. Hadot, Être, vie pensée chez Plotin et avant Plotin, in:
Les Sources de Plotin. Genf 1960. – Ebd. 148.
13 Ebd. 138. – Mit Bezug auf unser Verhältnis zu dieser teleologischen Struktur be-

merkt Eduard Zwierlein treffend: »Das bewußte Wollen vermittelt sich erst über ein
natürliches ›Sollerleben‹ der Triebe und Bedürfnisse, deren wir im Modus des wieder-
holenden Bewußtseins gewahr werden, die wir aber als dem Vorbewußten entstam-
mendes Unwillkürliches und Vorgegebenes verstehen. Über die Leibhabe und die ihr
nachfolgende teleologische Handlungserfahrung, die der naturphilosophische, an-
thropologische und hermeneutische Fokus des teleologischen Denkens sind, erfährt
das vernünftige Bewußtsein seine vorgängige Lebendigkeit als zielgerichtete und
sinnvolle Selbstbewegung.« – Zwierlein, Das höchste Paradigma des Seienden, 123.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Auffallend und von besonderer Bedeutung ist in der zitierten Text-


stelle die Aussage, wonach die Lebensäußerungen das Bewusstsein
»nicht auf ein Jenseits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins«
transzendieren. Rein logisch betrachtet ist das Unsinn, da die Bedeu-
tung von ›transzendieren‹ gerade das Überschreiten der Grenze auf
ein Jenseits hin ist. Diese Paradoxie ist jedoch bewusst gewählt, da
anders von Lebensäußerungen nicht die Rede sein kann. Transzendie-
ren des Bewusstseins auf ein Diesseits desselben bedeutet eine Er-
weiterung des Bewusstseins, die nicht Resultat intentionaler Akte
der autonomen Vernunft ist, sondern in der teleologischen Struktur
des Ausseins-auf 14 eines Lebewesens, dem es um etwas geht, begrün-
det ist. Bei dieser Paradoxie des Transzendierens auf ein Diesseits des
Bewusstseins geht es also um denselben Sachverhalt, der an einer
früheren Stelle als Unterscheidung von finis cuius im Sinne eines
primären Wollens, das den Menschen mit anderen Lebewesen ver-
bindet, und finis quo im Sinne bewusster Zielsetzung beschrieben
wurde. 15 Dort wurde bereits auf die prinzipielle Schwierigkeit des
Sprechens über Phänomene des primären Wollens hingewiesen, die
einerseits als präreflexiv begriffen werden müssen, andererseits aber
nur vermittelt durch bewusste Selbsterfahrung in einen rationalen
Diskurs eingehen können. Aus diesem Sachverhalt – der sich direkt
aus den drei Aussageweisen des Seins im metaphysisch-analogen
Denken ergibt – folgt die Unvermeidbarkeit der Paradoxie im Spre-
chen über die Selbsterfahrung des bewussten Lebewesens, aus der
auch die Erklärung entwickelt werden kann, warum Descartes selbst
die metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit des Fortschritts vom
›cogito‹ zum ›sum‹ nicht möglich war:

14
Der Begriff des ›Ausseins-auf‹ bezeichnet bei Spaemann die teleologische Struktur
von Lebewesen. Er erscheint bei Spaemann, soweit ich sehe, zum ersten Mal im Essay
»Teleologie und Teleonomie« – zuerst in: Henrich/Horstmann (Hrsg.), Metaphysik
nach Kant? Stuttgarter Hegel-Kongreß 1987, Stuttgart 1988, 545–556 –, der in die
dritte Auflage von »Natürliche Ziele« aufgenommen wurde. Spaemann benutzt in
verschiedenen Texten die unterschiedlichen Schreibweisen ›Aus-Sein-auf‹, ›Aus-
sein-auf‹ und ›Aussein-auf‹. Hier wird durchgängig die von Spaemann unter anderem
in »Glück und Wohlwollen« und »Personen« verwendete Schreibweise ›Aussein-auf‹
benutzt.
15
Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-
sion, 225–233, Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277, u. Ab-
schnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–289.

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

Dieser Mittelbegriff des Lebendigen ist für Descartes verschwunden.


So schreibt E. Gouhier: »Alles, was nicht zur res cogitans gehört, wird
auf die Seite der res extensa verwiesen. Es gibt also keinen Platz für
das Leben als eine spezifische Ordnung zwischen dem Sein der mens
und dem des Leichnams.« 16 Der entscheidende Grund hierfür ist die
bereits längst vor Descartes erfolgte programmatische Preisgabe jeder
teleologischen Naturbetrachtung als idolatrisch, als wesentlich unklar,
weil nur per analogiam aussagbar, und als unnütz, »unfruchtbar und
wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts gebiert« 17. Durch die Preis-
gabe des teleologischen Lebensbegriffs ist für die Ontologie der Weg
der Analogie verschlossen. Descartes zieht als Erster daraus die Kon-
sequenzen. An die Stelle der Analogie tritt die Dialektik. 18
Die aus der Entteleologisierung folgende Dialektik kann dabei zwei
Formen annehmen: Entweder es entsteht jener Antagonismus der
Positionen des Naturalismus und des Transzendentalismus – »zwei
prinzipiell inkommensurable methodische Ansätze« 19 –, der oben im
Zusammenhang mit dem anthropologischen Dualismus näher be-
schrieben wurde. 20 Oder an »die Stelle der Analogie tritt die spekula-
tive Dialektik von endlichem und unendlichem Bewusstsein« 21, wie
sie mit Bezug auf Descartes als »Theologisierung der Ontologie« dar-
gelegt wurde. 22 Im Folgenden soll nun zunächst verdeutlicht werden,
worin im Grundzug die metaphysisch-analoge Deutungsmöglichkeit
des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ besteht, bevor auf die mit
dieser Deutung verbundenen Denkschwierigkeiten und deren mög-
liche Lösung eingegangen wird.
Um auf metaphysisch-analogem Weg vom ›cogito‹ zum ›sum‹ zu
kommen, bedarf es einer Vorgehensweise, die sich von der oben dar-
gelegten cartesischen bereits im Grundsatz unterscheidet, insofern
die Preisgabe des teleologischen Lebensbegriffs hier rückgängig ge-
macht wird. Bevor der Gedankengang skizziert wird, soll verdeutlicht

16 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: E. Gouhier,
Cartésianisme et Augustinisme au 17ième siècle. Paris 1978, S. 175. – Ebd. 148.
17 Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats: Fr. Bacon, De

dignitate et augmentis scientiarum III, 5. In: The Works of Lord Bacon Bd. II, London
1984, S. 340. – Ebd. 148.
18 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.

19 Ebd. 139.

20 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.
21 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.

22
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 348.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

werden, aufgrund welcher Denkvoraussetzungen das cartesische ›co-


gito sum‹ eine solche Umdeutung überhaupt ermöglicht. Wie oben
gezeigt wurde, 23 überträgt Descartes das aristotelische Substanz/Ak-
zidens-Schema auf das Verhältnis der res cogitans zu ihren cogitatio-
nes. Obwohl Descartes also den teleologischen Substanzbegriff ver-
loren hat, hält er an der Vorstellung der res cogitans als Substanz
fest, durch die in dem von Aristoteles übernommenen Schema der
Platz der verlorenen φύσις gewissermaßen freigehalten wird. Die
metaphysisch-analoge Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹
bedeutet daher im Kern, das ›cogito‹ als Distanz zur menschlichen
Natur zu verstehen und wieder in der menschlichen Natur – anstelle
der res cogitans – fundiert zu denken. Auf metaphysisch-analogem
Weg lässt sich der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ allerdings nicht
analog der spekulativ-dialektischen Deutung als Folge von Refle-
xionsstufen darstellen, sondern ist als Revision der problematischen
Denkvoraussetzungen Descartes’ zu verstehen, durch die dieser Fort-
schritt vielmehr als ein komplexer Schritt erscheint, in dem gleich-
wohl zwei Ebenen unterschieden werden können. Durch die Anknüp-
fung an den teleologischen Substanzbegriff im Sinne der φύσις wird
zum einen die den Menschen mit allem Lebendigen verbindende »or-
ganische Zentralität« 24 eines Wesens, das die Welt »aus der Perspek-
tive seiner eigenen Mitte« 25 sieht, als eine Ebene der Betrachtung des
Menschen hervorgehoben. Auf dieser Ebene geht es um die oben im
Zusammenhang mit dem »Mittelbegriff des Lebens« erwähnte »te-
leologische[…] Struktur […], die aller Bewusstheit voraufliegt und
die uns mit allem Lebendigen verbindet« 26. Zu seiner damit bezeich-
neten Natur steht der Mensch zweitens durch die reflexive Wendung
auf die Selbsttranszendenz in einer Distanz, durch die er die Welt
»aus einer Perspektive, die überhaupt keinen Mittelpunkt in einem
Bewusstsein hat« 27, zu sehen vermag. Der Mensch ist demnach zu-
gleich ein Lebewesen mit seiner organischen Zentralität und ein We-
sen, das über diese hinaus ist, indem es sein natürliches Transzendie-
ren mit Bewusstsein vollzieht. In diesem Zusammenhang spricht
Spaemann auch vom Menschen als ›Person‹ : »Der Mensch ist das

23 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 346.
24 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 45.
25 Ebd. 40.

26
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
27 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),

40–41.

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

Wesen, das sich selbst zurücknehmen, sich relativieren kann. […]


Eben in dieser Relativierung des eigenen endlichen Ich, der eigenen
Begierden, Interessen und Absichten erweitert sich die Person und
wird ein Absolutes.« 28 Der Schritt zum ›sum‹ durch Überschreiten
des bloßen ›cogito‹ vollzieht sich auf metaphysisch-analogem Weg
also nicht durch eine Theologisierung der Ontologie, sondern durch
eine innerweltlich vermittelte Distanznahme zur eigenen Natur. 29
Die metaphysisch-analoge Deutung hat damit gegenüber der cartesi-
schen den Vorzug, dass sie eine genuin philosophische Argumenta-
tion bleibt. Die Schwäche dieser Deutung besteht allerdings darin,
dass sie als konstitutives Element ihrer Argumentation ein Prärefle-
xives einbeziehen muss, das in der Argumentation nie als es selbst
gegenwärtig kann sein, sondern auf das nur als nicht begründbare
Voraussetzung der Deutung verwiesen wird. Das teleologische Phä-
nomen, das hier zu einer tragenden Säule der Argumentation wird,
kann nur im eigenen Daseinsvollzug erlebt und im Hinblick auf an-
dere Lebewesen anerkannt werden. Die kausal-mechanische Deutung
der Objektwelt ist von dieser Argumentation aus so wenig widerleg-
bar wie der Idiosynkrasie-Verdacht in Bezug auf das eigene Erleben. 30

28 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 90.


29 Der hier skizzierte Gedankengang wird von Spaemann in voller Klarheit erst ent-
faltet in seinem späteren Hauptwerk »Personen«, in dem er von einer doppelten Ne-
gation spricht, durch deren Ineinandergreifen das ›Haben einer Natur‹ sich realisiert,
wobei der Ort dieser Distanzierung von der eigenen Natur die Begegnung von Per-
sonen ist. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561.
30 Für das Verständnis dieses metaphysisch-analogen Denkens ist es von größter Be-

deutung, das Verhältnis der Reflexion zum Präreflexiven genau zu bedenken. Ute
Kruse-Ebelings Spaemann-Deutung scheitert, wie mir scheint, gerade an dieser Auf-
gabe. Sie versucht »zwischen zwei Ebenen zu unterscheiden: Der Ebene der ›ein-
fachen‹ Wahrnehmung des Seins als Selbstsein und der Ebene der ›metaphysischen‹
Wahrnehmung des Seins als Selbstsein.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 358. – In
Bezug auf die erste Ebene spricht sie von einer »vorreflexiven, leiblichen Erfahrung
des eigenen und anderen Selbstseins«. – Ebd. 360. – In Bezug auf die zweite Ebene
spricht sie »von der von [Spaemann] für evident erachteten metaphysischen Wahr-
nehmung von Selbstsein als Unbedingtes«. – Ebd. 374. – Dabei kritisiert sie, dass
Spaemann mit der zweiten Ebene einen aus ihrer Sicht nicht notwendigen ›Überbau‹
konstruiere: »Selbst Spaemann scheint, trotz allen Eintretens für die Ansicht, dass
sich der positive Sinn des Seienden, dass Selbstsein als Unbedingtes sich ganz ur-
sprünglich im Horizont der spontanen, alogischen liebenden Bejahung und Wahrneh-
mung erschließt, für die Fundierung seiner Ethik des Wohlwollens denn doch noch
einen zusätzlichen Rahmen zu benötigen, in den er die Bejahung von Selbstsein als
Unbedingtes einbettet.« – Ebd. 393. – Dass dieser Vorwurf eines metaphysischen
Überbaus Spaemanns Sichtweise verfehlt, kann anhand ihrer Analyse der konkreten

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Es kann somit keine zwingende Argumentation geben für das


skizzierte metaphysisch-analoge Denken. Was es behauptet und wo-
für es gute Gründe anführen kann, kann immer in Zweifel gezogen
werden. Nun kann der Zweifel, wie an Descartes’ Gedankenführung
abzulesen ist, einen festen Halt nur bieten durch die spekulative Ein-
führung eines absoluten Bewusstseins, das die Universalität des
Zweifels erst ermöglicht. Eine gewisse Immunisierung gegen den
Zweifel kann daher erreicht werden, indem das Gefüge der guten
Gründe, die für das metaphysisch-analoge Denken angeführt werden
können, dargelegt wird. Dies soll hier versucht werden, indem Argu-
mente, die bereits in den Ausführungen zu »Natürliche Ziele« ge-
nannt wurden, kurz in Erinnerung gerufen werden und wesentliche

Wahrnehmung von Selbstsein am Beispiel einer Katze gezeigt werden: »Zwar kann
ich mir das Tier als bewusstes Leben abzüglich des Selbstbewusstseins vorstellen und
entsprechend auf diese Weise sein Selbstsein rekonstruieren. Gleichwohl scheint mei-
ne Wahrnehmung von ihm als Selbstsein sich nicht in diesem Denken zu erschöpfen,
geschweige denn in ihm seinen Ausgangspunkt zu nehmen: Das Selbstsein der Katze,
der ich begegne, ist mir immer schon auf leiblicher Ebene aufgegangen, lange bevor
ich in meinem Selbstbewusstsein darüber nachgedacht habe, ob sie über Subjektivität,
Leben oder andere Dinge verfügt, die sie mit mir teilen könnte.« – Ebd. 364. – Nach
dieser Analyse gibt es also die präreflexive Wahrnehmung des Selbstseins der Katze
und danach, in einem sekundären Schritt, die Reflexion auf dieses Selbstsein. Diese
Analyse greift aber zu kurz, wie leicht gezeigt werden kann. Wenn es richtig ist, dass
ich für die Katze meinerseits nur Teil ihrer Umwelt bin und sie daher meinen
Schmerz, wenn sie mich kratzt, nicht wahrnimmt, dann folgt daraus, dass ich die
Katze als ein Zentrum der Bedeutsamkeit, das seinerseits über Schmerzempfindung
verfügt, nur wahrnehmen kann, weil ich meine Zentralität überwunden habe. Das
Überwinden der Zentralität ist aber ein Akt der Reflexion. Was sich mir beim Anblick
der Katze mit intuitiver Evidenz erschließen kann, dass sie nämlich Schmerzen emp-
findet, hat dennoch epistemologisch zur Voraussetzung, dass ich in einem Akt der
Reflexion meine eigene Zentralität durch die Übernahme einer Außenperspektive
verlassen habe und mir als schmerzempfindungsfähiges Wesen selbst zum Gegen-
stand geworden bin. Dies ist die conditio sine qua non jeder Wahrnehmung fremder
Schmerzen als Schmerzen, d. h. als Negativität und damit als Selbstsein. Dass dies
dann in einem konkreten Wahrnehmungsakt nicht mehr über eine bewusste Refle-
xionskette geschehen muss, ist selbstverständlich, widerspricht aber nicht der Spae-
mann’schen Deutung, dass jeder Wahrnehmung von Selbstsein ein ursprünglicher
Reflexionsakt zugrunde liegt. Es kann keine ›präreflexive Wahrnehmung von Selbst-
sein‹ geben, weil das in dieser Wahrnehmung Wahrgenommene noch nicht als Selbst-
sein erkannt wäre. Kruse-Ebelings Darstellung zielt zwar auf den wesentlichen Sach-
verhalt, dass es eine der Katze und mir gemeinsame lebendige Zentralität geben muss
als Voraussetzung ihrer reflexiven Überwindung, aus der die Wahrnehmung von
Selbstsein erst hervorgehen kann, ihre Unterscheidung von ›einfacher‹ und ›meta-
physischer‹ Wahrnehmung verfehlt aber im Kern den Ansatz Spaemanns.

380

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

neue Argumente dazu referiert werden. Die Argumentation für eine


Wiederbelebung der Teleologie, die die Voraussetzung des um den
Mittelbegriff des Lebens kreisenden metaphysisch-analogen Denkens
ist, bestand im Wesentlichen aus einem theoretischen und einem
praktischen Argument. Das zentrale praktische Argument für die
Wiederbelebung des teleologischen Denkens war die mit der Beweis-
lastfrage verbundene Berufung auf die menschliche Normalität, die
von der hypothetischen Wissenschaft in Frage gestellt wird. 31 Die Be-
drohung des Menschen, die in seinem naturwissenschaftlich erzeug-
ten Selbstverständnis als Anthropomorphismus zum Ausdruck
kommt, fasst Spaemann im Essay »Ende der Modernität« 32 1986 noch
einmal mit folgenden Worten zusammen:
Das vorneuzeitliche Denken hatte den Menschen stets als »natürliches
Wesen« angesehen, wenngleich als das »höchste«, sozusagen als Vize-
könig in einer Lebenspyramide. Das moderne Bewußtsein emanzipier-
te zunächst den Menschen aus dem gesamten Naturzusammenhang
und stellte ihn diesem gegenüber. Es verbietet, Natur unter dem As-
pekt ihrer Ähnlichkeit mit unserer Selbsterfahrung zu betrachten.
Solch eine Betrachtungsweise gilt ihr als »Anthropomorphismus«.
Wenn nun aber entdeckt wird, daß der Mensch selbst Teil der Natur
ist, nun aber Teil einer Natur, die wir uns zuvor verboten haben an-
thropomorph zu betrachten, dann bedeutet die »natürliche« Betrach-
tung des Menschen seine unmenschliche Betrachtung, seine Reduk-
tion auf eben jenen Status bloßen Objektes, den er zuvor allem
Natürlichen gegeben hat. So wird der Mensch sich selbst zum Anthro-
pomorphismus. 33
Insofern die Alternative zum metaphysisch-analogen Denken in der
realen historischen Entwicklung zur Selbstgefährdung des Menschen
führt, gibt es im Sinne der Umkehr der Beweislast auch ohne zwin-
gende Argumentation ein schwerwiegendes Argument, den Szientis-
mus zurückzuweisen und zu einem Denken zurückzukehren, das mit
der menschlichen Normalität in Einklang zu bringen ist.
Das theoretische Argument für die Wiederbelebung der Teleo-
logie wurde entwickelt aus der Freilegung von petitiones principii, auf

31 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 276–279.


32 Vgl. dazu: »Diskussion über die These vom Ende der Modernität« (Zusammen-
fassung von Tanja Neumann, Vorsitz: Dieter Henrich), in: Koslowski/Spaemann/
Löw (Hrsg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeit-
alters, 41–43.
33
Spaemann, Ende der Modernität? (1986), 239–240.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

denen wissenschaftstheoretisch die naturwissenschaftliche Argu-


mentation in unterschiedlichen Zusammenhängen aufbaut, 34 und be-
steht wesentlich in der Feststellung, dass die naturwissenschaftliche
Interpretation lebendiger Systeme, da sie an Mechanismen orientiert
ist, deren Identität durch eine menschliche Zielverfolgung gestiftet
wird, ein natürliches Aussein-auf bereits uneingestandenermaßen in
die lebendigen Systeme hineinprojiziert und sie dann als komplexen
Mechanismus reduktionistisch interpretiert. Was die naturwissen-
schaftliche Interpretation dabei unterschlägt, ist, dass »Negativität,
[…] das Bewußtsein möglichen Andersseins«, »zur Bestimmung
von Identität gehört« 35, dass sie den menschlichen Lebensvollzug als
Bedingung wissenschaftlicher Beobachtung voraussetzt, ohne diese
Voraussetzung zu reflektieren. Dieses Argument wird von Spaemann
in einem Essay 36 aus dem Jahre 1984 in einem wesentlichen Punkt
weiter ausgebaut, indem er ausgehend von der Feststellung, dass
Negativität naturwissenschaftlich ohne petitio principii nicht rekon-
struierbar ist, drei Stufen unterscheidet, auf denen Negativität auf-
tritt: »1. als Schmerz, 2. als Andersheit, als Nicht-ich, 3. als der
Gedanke des Absoluten.« 37 Für den hier verfolgten Zusammenhang
ist vor allen Dingen die erste Stufe von Bedeutung, 38 da sie verdeut-
licht, dass Negativität nicht erst erfahrbar ist für ein Lebewesen, dem
es um sein Sein geht, sondern ein allgemeines Charakteristikum von
Leben ist: »Für ein Wesen, das unter Schmerzen leidet, hat der
Schmerz wesentlich die Bedeutung des Negativen, des Nicht-sein-
Sollenden.« 39 Dass Schmerz etwas ist, was vor seiner bewussten
Wahrnehmung schon irgendwie da gewesen sein muss, ist gleicher-
maßen einleuchtend, ob es sich um die eigene Körperwahrnehmung
oder die Beobachtung der Schmerzäußerung eines anderen Lebe-
wesens handelt. Das Faktum des Schmerzes als erster Stufe des Auf-
tretens von Negativität liefert also ein eindringliches Argument,

34 S. Abschnitt 5.2.5, Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionspro-


gramms, 252–261.
35 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 208.

36 »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evolutionstheorie?« – Vgl. Abschnitt

5.2.5, Schwächen und innere Widersprüche des Evolutionsprogramms, 258–259,


Fn. 273.
37 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62. – Vgl. Nusser, Der blinde Fleck der

Evolutionstheorie, 249–252.
38
Auf die zweite Stufe wird in Abschnitt 6.2.2, 392, auf die dritte in Abschnitt 6.3.1,
406, zurückzukommen sein.
39
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62.

382

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6.2.1 Das metaphysisch-analoge Denken

insofern der Analogieschluss auf andere Lebewesen in der Selbst-


erfahrung bereits antizipiert ist.
Ein drittes gewichtiges Argument, das bereits auf das spätere
Buch »Personen« vorausdeutet, 40 ist in »Über die Bedeutung der
Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« enthalten. Ähnlich wie in dem
zuletzt erörterten theoretischen Argument geht es um das Selbstver-
hältnis des Menschen, wobei diese Thematik hier aber substantiell
erweitert wird:
Zu einem Seienden wird das Bewusstsein nicht nur durch seine End-
lichkeit im Verhältnis zu anderem Bewusstsein, sondern auch im Ver-
hältnis zu sich selbst in der Zeit. Die absolute Selbstgewissheit des
punktuellen »Ich denke« ist hergeleitet von einer ebenso absoluten
Ohnmacht der Selbstbehauptung. Das »Ich denke« ist seiner selbst
nicht mächtig, sondern wird sich selbst im Verlaufe der Zeit fortwäh-
rend zu einer äußeren gegebenen Sache. Ja, der Wille zur Selbst-
gewissheit, zur absoluten formalen Autonomie der Subjektivität ist
selbst unmittelbar der Grund dafür, dass dieses Subjekt hinsichtlich
seines Gehaltes ganz ohnmächtig wird: Seine Erinnerung wird ihm
ebenso zur Außenwelt wie seine Zukunft, überhaupt seine Kontinui-
tät in der Zeit. 41
Im bewussten Lebensvollzug geht das Bewusstsein also stets dadurch
über seine punktuelle Instantiierung hinaus, dass es sich zu der Wahr-
nehmung seiner Vergangenheit und der Antizipation seiner Zukunft
in ein Verhältnis setzt. Die Unterscheidung zwischen der Wahrneh-
mung anderer bewusster Lebewesen und der Selbstwahrnehmung
wird also weiter relativiert durch eine Reflexion auf die zeitliche
Struktur des Selbstverhältnisses, aus der sich im Umkehrschluss auf
die hohe Plausibilität analoger Wahrnehmung – nicht nur bewusster
– anderer Lebewesen schließen lässt.

40
Spaemann verweist in einer Fußnote zu der im Folgenden zitierten Textstelle auf
die ersten beiden Abschnitte des 9. Kapitels »Zeit« aus »Personen«.
41
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 41.

383

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz:


Repräsentation und Anerkennung

Mit der zuletzt angestrebten Vergegenwärtigung und Problematisie-


rung des metaphysisch-analogen Denkens sollen für die folgenden
Ausführungen die Grundlagen gelegt sein im Hinblick auf die phi-
losophische Methodik und die zu beachtenden Vorzeichen. Gegen-
über dieser programmatischen Hinführung wird im Folgenden die
dezidiert inhaltliche Ausrichtung auf den, wie Spaemann betont,
»Gedanke[n], der die Philosophie konstituiert« 42, im Mittelpunkt ste-
hen. Die Ausführungen beziehen sich im Wesentlichen auf die 1987
veröffentlichte Essay-Sammlung »Das Natürliche und das Vernünf-
tige«, insbesondere auf den gleichnamigen vierten Essay derselben. 43
Das philosophische Anliegen, um das es dabei geht, wird, wie Spae-
mann unterstreicht, »nicht nur die Anstrengung des Begriffs, son-
dern auch die Aktivierung aller menschlichen Erfahrungsmöglichkei-
ten einfordern« 44, insofern es hier im Sinne des diesem Kapitel
vorangestellten Mottos um eine begrifflich vermittelte Relativierung
des Begriffs selbst geht, die nicht umhinkann, an vorausgesetzte
menschliche Erfahrungen anzuknüpfen. Auch wenn es hier nicht
mehr primär um die philosophiehistorische Perspektive geht, die in
Teilkapitel 6.1 im Vordergrund stand, wiederholt sich im Folgenden
dennoch die dort beschriebene charakteristische Gedankenbewegung.
Ausgehend von Beobachtungen zum neuzeitlichen Naturbegriff wird
der Blick zurückgelenkt auf die klassische Antike, um von Platon aus
wieder in die Moderne zurückzukehren und der Frage nach der Ak-
tualisierbarkeit jenes Gedankens, der die Philosophie konstituiert,
unter ihren Bedingungen nachzugehen. In diesem Kontext werden
die programmatischen Überlegungen zum metaphysisch-analogen
Denken erst ihre volle Bedeutung entfalten.
Der Gedankengang setzt bei der Geschichte des Naturbegriffs
an, die bereits im Zusammenhang mit Rousseau 45 und zuletzt mit

42 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.


43 Vortrag zur 600-Jahrfeier der Universität Heidelberg, erschienen zuerst in: Schei-
dewege, Jahresschrift für skeptisches Denken, 16. Jahrgang 1986/87. – Vgl. ebd. 137.
44
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20.
45 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,

196–206.

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

dem anthropologischen Dualismus 46 und Leibniz 47 thematisiert wur-


de. Über das dort Dargelegte hinaus richtet Spaemann in »Das Natür-
liche und das Vernünftige« seine Aufmerksamkeit auf die Zweideu-
tigkeit von Begriffen wie ›natürlich‹ und ›künstlich‹ im modernen
Sprachgebrauch: »Wie können die Begriffe ›natürlich‹ und ›künstlich‹
eine Antithese bilden, wenn doch das Künstliche um so vollkom-
mener ist, je mehr es sich dem Natürlichen annähert?« 48 Den Grund
für diese Verwirrung erkennt Spaemann darin, dass beide Begriffe
einerseits eine genetische Bedeutung haben, insofern »eine be-
stimmte Ursprungsrelation bezeichnet« 49 wird, andererseits eine nor-
mative, die »einen Beurteilungsmaßstab für Bestrebungen, Handlun-
gen oder Zustände nennt« 50: »Erst wo das Wollen sich von dem
Natürlichen im genetischen Sinne ganz losgerissen hätte, wäre es
›natürlich‹ im vollen normativen Sinne.« 51 Ursache der Zweideutig-
keit sind die konkurrierenden Erklärungsansätze von Genesis und
Geltung, in denen man unschwer die moderne Form des anthropo-
logischen Dualismus von Naturalismus und Transzendentalismus
wiedererkennen kann, der seinerseits eine unmittelbare Konsequenz
der »programmatische[n] Preisgabe jeder teleologischen Natur-
betrachtung« 52 darstellt. Das genetische Erklärungsprinzip wird vor
allem vom Evolutionismus vertreten, der mit dem Anspruch auftritt,
die »Subjektivität im Rahmen einer ateleologischen Wissenschaft
erstmals zu rekonstruieren« 53, das normative wiederum vom Trans-
zendentalismus, der der nicht trivialen »Trivialisierung der Subjekti-
vität« 54 durch den Evolutionismus den Anspruch entgegenstellt, »die
menschliche Subjektivität als Bedingung der Vergegenständlichung
der Welt zu begreifen und eben deshalb den Menschen den Gesetzen
der gegenständlichen Welt dann und nur dann unterworfen zu
denken, wenn er sich zum Gegenstand theoretischer Betrachtung

46
Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
47 Vgl. Abschnitt 6.1.4, Leibniz: Ontologie sub specie Dei, 351–361.

48 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 115.

49 Ebd. 112.

50 Ebd.

51 Ebd. 117.

52
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 138.
53 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 51–52.

54
Ebd. 52.

385

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

macht« 55. Einen Ausweg aus diesem Dualismus sieht Spaemann im


Rückgriff auf die antike Philosophie:
Die Versöhnung eine[r] genetischen und einer geltungstheoretischen
Betrachtungsweise wäre nur unter einer platonischen Voraussetzung
möglich. Wenn wir nämlich Evolution so verstehen, daß die funktio-
nal-bedingte Einübung in bestimmte Verhaltensweisen die Bedingung
dafür ist, daß sich plötzlich eine ganz neue Dimension des Erlebens
eröffnet, die Dimension der Unbedingtheit des Schönen. So haben es
Platon und Aristoteles gesehen, wenn sie übereinstimmend schreiben,
der Staat entstehe aus der Notwendigkeit bloßen Lebens, aber, einmal
entstanden, bestehe er um des guten Lebens willen. Und was das gute
Leben ist, läßt sich aus diesen Entstehungsbedingungen überhaupt
nicht mehr herleiten. 56
In dieser avisierten platonischen Versöhnung wird also Geltung be-
hauptet, ohne dass die Genesis negiert würde; allerdings deutet das
Adverb ›plötzlich‹ bzw. die Verneinung der Herleitbarkeit darauf hin,
dass die genetische Betrachtung an die neue Dimension nur heran-
führen kann, aus Gründen, die zu erläutern sein werden, aber prinzi-
piell keine Erklärung für sie liefern kann. Bevor er zur platonischen
Philosophie kommt, betrachtet Spaemann jedoch zunächst eine frühe
Form der Invertierung von Teleologie in der Antike selbst. In der
Sophistik des fünften vorchristlichen Jahrhunderts wurde »der No-
mos als eine Ordnung des Geschehens gedacht, der mit der Ordnung
›von Natur‹ nicht in eins fällt« 57. Zwar ist der »Ursprung des Nomos
[…] sehr wohl natürlich, d. h. physei, von Natur« 58; wenn jedoch »je-
mand gegen sein eigenes Interesse überzeugt wurde, d. h. wenn eine
sittlich-rechtliche Überzeugung die Geltendmachung seines Kraft-
potentials einschränkt statt fördert, dann wird man sagen können,
daß für ihn dieser Nomos unnatürlich ist« 59. Die Sophistik zerstört
damit »die Illusion eines gemeinsamen Interesses, die Illusion des
Gemeinwohls« 60. In diesem Denken treten die beiden Seiten von Ge-
nesis und Geltung im Begriff des Natürlichen zum ersten Mal deut-
lich auseinander:

55 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 49.


56 Ebd. 57–58.
57 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 118.
58
Ebd.
59 Ebd. 119.
60
Ebd.

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

»Natürlich«, das kann einerseits den Ursprung bezeichnen und also


meinen: »von Natur«; und in diesem Sinne ist für die Sophistik letzt-
lich jeder Nomos natürlich. Es kann aber andererseits einen bestimm-
ten Maßstab meinen, den Maßstab des »Naturgemäßen«, und dann ist
es eine Frage des Standpunkts und der Interessenlage, ob ein Nomos
natürlich oder unnatürlich genannt wird. Der gewaltsame Tod ist für
den, der ihn erleidet, vom natürlichen Tod verschieden. Für den Lö-
wen, der den Menschen frißt, ist die Verursachung dieses Todes natür-
lich. 61
Der sophistischen Argumentation liegt die hedonistische Überzeu-
gung zugrunde, dass das, was »wir eigentlich und im Grunde wollen
und weshalb wir alles andere wollen, […] Lustgewinn und Unlust-
vermeidung« 62 ist. Es besteht daher eine direkte Verbindung zwi-
schen der Sophistik des fünften vorchristlichen Jahrhunderts und
der bürgerlichen Ethik der frühen Neuzeit 63: »Der Nomos der Natur,
das kann nach Auffassung des Kallikles, die im 16. Jahrhundert er-
neuert wird, immer nur eine Variante des selfish systems sein, Resul-
tat eines Parallelogramms natürlicher Kräfte.« 64
Um vor diesem Hintergrund das platonische Denken zu charak-
terisieren, bedarf es einiger klärender Vorbemerkungen. In einem an-
deren Text aus dem hier betrachteten Zeitraum gibt Spaemann ein
kurzes Resümee der platonischen Philosophie, das hier vorangestellt
werden soll:
Wissen, das heißt […] bei Platon nicht irgendein bloß kognitiver, bloß
intellektueller Zustand. Wissen ist jenes unmittelbare Einswerden mit
der erkannten Sache von Grund auf, die einen Zweifel unmöglich
macht. Für Descartes war die Gewißheit, daß ich existiere, eine solche
letzte Gewißheit, die ich nicht durch Zweifel noch einmal distanzieren
kann. Für Platon ist diese letzte, keiner weiteren Begründung mehr
fähige und bedürftige Einsicht die in das Gute – wobei wir uns immer
vergegenwärtigen müssen, daß »das Gute« für die Griechen immer
auch, ja zuerst und vor allem, das Nützliche, das für den Handelnden
selbst letzten Endes Zuträgliche meint. Wer, so denkt Platon, von dem,
was das Wort »gut« meint, ein wirkliches Wissen hat – also eine Evi-

61 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 119.


62 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 26.
63 Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 138–142.

– Vgl. dazu auch: Schröder, Moralischer Nihilismus. Radikale Moralkritik von den
Sophisten bis Nietzsche.
64
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

denz, die vergleichbar, ja noch fundamentaler ist als die Evidenz des-
sen, was wir meinen, wenn wir »Ich« sagen –, der brauchte keine wei-
teren Tugenden. Sein Handeln wäre der unfehlbare Ausdruck dieser
Evidenz. Das Wahre einzusehen heißt, ihm zuzustimmen. Das Gute
wirklich einsehen heißt, es wünschen. Tatsächlich aber besitzen die
meisten von uns eine solche geradezu mystische Evidenz nicht. 65
Gegenüber der sophistischen Argumentation macht Platon geltend,
dass »es ein koinon agathon, ein gemeinsames Gutes gibt, und dies
nicht nur als Resultat eines Kompromisses, solange die Kräfte sich die
Waage halten, sondern als spezifisches Interesse des vernünftigen
Menschen: ›Das Gute, wenn es an den Tag kommt, ist allen gemein-
sam.‹« 66 Da die Sophisten die entsprechende Evidenz nicht besaßen
und das gemeinsame Gute für eine Illusion hielten, stellt sich aller-
dings die Frage, was das Einswerden mit der erkannten Sache, um das
es beim platonischen Wissen geht, verhindern kann. »Der entschei-
dende Grund dafür […], daß wir das für uns Gute, d. h. Zuträgliche
nicht von Natur, d. h. von selbst wissen, liegt darin, daß unserer Natur
die Indirektheit des Selbstverhältnisses wesentlich ist.« 67 Damit spielt
Spaemann an auf die antike Vorstellung des Menschen als ζῷον πο-
λιτικόν, das erst wird, was es von Natur ist, indem es aus der Natur
heraustritt, also eine Sprache lernt und ein gesellschaftliches Wesen
wird. Die Natur des Menschen ist es, so könnte man pointiert formu-
lieren, den Antagonismus der Natur zu überwinden:
Die Schlüsselstelle für die Aufhebung des Antagonismus der Natur, in
welcher Fressen natürlich, Gefressenwerden aber unnatürlich ist, ist
das Gespräch des Sokrates mit Polos im »Gorgias«, wo Sokrates den
Satz verteidigt: »Wie das Handelnde handelt, so leidet das Leidende«
(476 d). Daß dies für die Härte des Schlagens, die Hitze des Brennens
und die Schärfe des Schneidens gilt, das gesteht jedermann leicht zu.
Aber daß Polos zugesteht, es gelte auch für die Gerechtigkeit, also
Schönheit, also Gutheit des Strafens, damit ist er nach Ansicht des
Kallikles in die Fußangeln getappt, die Sokrates ihm gelegt hat. Denn
hier habe Sokrates gerade den Nomos der Natur mit dem von Men-
schen gemachten Nomos fälschlich identifiziert. 68

65 Spaemann, Disziplin und das Problem der sekundären Tugenden (1988), 251–252.
66
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.
67 Ebd. 121.
68
Ebd. 122–123.

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

Sokrates’ Anliegen ist jedoch nicht eine bloße Identifikation des von
Menschen gemachten Nomos mit dem Nomos der Natur, sondern
eine analoge Interpretation jenes durch diesen. Die vernünftige Ein-
sicht in die mögliche Gerechtigkeit des Strafens enthält den Gedan-
ken eines gemeinsamen Guten, der sich über den hedonistischen Kal-
kül erhebt: »Bedenke aber, o Kallikles, ob nicht das Edle und Gute
etwas anderes ist als retten und sich retten lassen.« 69 Der Antagonis-
mus der Natur hebt sich also deswegen auf, weil die Natur des Men-
schen die Vernunft ist:
Das An-den-Tag-Kommen des für alle gemeinsamen Guten heißt:
Vernunft. Und insofern Vernünftigkeit zur Natur des Menschen ge-
hört, ist die Aufhebung des natürlichen Interessenantagonismus nicht
unnatürlich. Vernunft ist nicht identisch mit Natur. Aber erst das Ver-
nünftige ist auch das An-den-Tag-Kommen der Wahrheit über das
Natürliche, und dieses An-den-Tag-Kommen liegt selbst in der Teleo-
logie der Natur. Natürliches als bloß Natürliches verhält sich antago-
nistisch zu anderem Natürlichen. Aber die Wahrheit über das Natür-
liche ist eine gemeinsame, und wo natürliche Wesen als vernünftige
an dieser Wahrheit Interesse nehmen, da hebt sich der unmittelbare
Antagonismus auf. 70
Es ist also gerade Kennzeichen teleologischer Verfasstheit für ein sei-
ner selbst bewusstes Wesen, dass in ihm eine Spannung besteht zwi-
schen dem Natürlichen und dem Vernünftigen, die so zu verstehen
ist, dass das Natürliche erst eigentlich zu sich kommt im Vernünfti-
gen. Die Vernunft selbst ist Ausdruck der Teleologie der mensch-
lichen Natur. »Dieser platonische Grundgedanke ist nicht irgendein
philosophischer Gedanke, es ist der Gedanke, der die Philosophie kon-
stituiert.« 71 Im Folgenden muss es nun um die Frage gehen, wie dieser
platonische Grundgedanke in der Moderne aktualisiert werden kann,
wobei zugleich die Frage mitgemeint ist, wie sich Philosophie in die-
sem fundamentalen Sinn überhaupt unter den Bedingungen neuzeit-
lichen Denkens aktualisieren lässt.
Spaemann weist darauf hin, dass dieser Grundgedanke immer
wieder bestritten wurde, und führt als Beispiel aus der Philosophie
des 20. Jahrhunderts Michel Foucault an:

69 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20. – Vgl. Platon,

Gorgias, 512 d 5.
70 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.

71
Ebd.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Wahrheit ist, so schreibt Foucault, gerade nicht ein Gemeinsames,


sondern ein Instrument der Diskursdisziplinierung, der Ausschlie-
ßung und Grenzziehung, dem gegenüber er den sophistischen Diskurs
als »wirksamen Diskurs«, »rituellen Diskurs«, »mit Mächten und Ge-
fühlen ausgezeichneten Diskurs« verteidigt 72. Vernunft enthüllt nicht
Natur, sondern vergewaltigt sie. »Wir müssen uns nicht einbilden, daß
uns die Welt ein lesbares Gesicht zuwendet, welches wir nur zu ent-
ziffern haben. Die Welt ist kein Komplize unserer Erkenntnis… Man
muß den Diskurs als Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun« 73. 74
In seiner Solidarisierung mit den Sophisten scheint Foucault das Ar-
gument auf seiner Seite zu haben, dass sich hinter dem Begriff Ver-
nunft im modernen Denken immer eine subjektive Perspektive ver-
birgt. Es ist daher ratsam, an dieser Stelle in Erinnerung zu rufen, was
oben über die Schwierigkeiten einer möglichen Aktualisierung von
Positionen der klassischen antiken Philosophie gesagt wurde. 75 Nach
dem dort Festgehaltenen müsste erstens angesichts der prinzipiellen
Fremdheit des antiken Denkens beim Blick auf Platons These, wonach
die Vernunft Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur ist, die
uns von Platon trennenden Denkvoraussetzungen bewusst gemacht
werden. Unter der Bedingung der Zweiteilung der Welt in Subjekt
und Objekt steht prinzipiell in Frage, ob die subjektive Vernunft ein
κοινόν sein kann oder nicht vielmehr in einem antagonistischen Ver-
hältnis zu anderen subjektiven Instantiierungen der Vernunft steht.
Der – aus moderner Perspektive naive – Schluss Platons von der
menschlichen Natur auf eine gemeinsame Vernunft scheint unter
diesen Bedingungen nicht mehr möglich zu sein. Die Frage nach der
Aktualisierbarkeit des platonischen Grundgedankens muss daher
zweitens dieses uns von Platon Trennende so berücksichtigen, dass
die mögliche Aktualisierung den unterstellten zeitlosen Kern des Ge-
dankens an die Bedingungen des modernen Denkens anpasst. Über
das, was dies heißt, kann zunächst nur so viel gesagt werden, dass
die gesuchte Vernunft, die Ausdruck der Teleologie der menschlichen
Natur sein soll, die Grenzen einer nur subjektiven Instantiierung der
Vernunft überschreiten muss, dass also der subjektphilosophische

72 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: »Die Ordnung des Diskurses«, Frank-
furt am Main 1979, S. 39.
73 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: S. 36/37. – Vgl. Foucault, Die Ord-

nung des Diskurses, 34.


74 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 124.

75
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.

390

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

Perspektivismus überwunden werden muss. Um die Frage, um die es


geht, auf den Punkt zu bringen, kann also formuliert werden: Wie
lässt sich eine in der Natur verwurzelte Vernunft denken, die sich
zwar durch die reflexive Wendung auf sich selbst als Anfang begrei-
fen muss, gleichzeitig aber jene Fundierung erinnert?
Mit der somit gesuchten Aufhebung des subjektphilosophischen
Perspektivismus geht es erneut um die Frage nach einem Vernunft-
begriff, der Selbsttranszendenz einschließt. In den philosophiehis-
torischen Ausführungen insbesondere zu Descartes wurde gezeigt 76,
wie ein Denken der Selbsttranszendenz auf spekulativem Weg mög-
lich ist; wenn es im Sinne der Aktualisierung des platonischen
Grundgedankens jedoch um ein in der Natur verwurzeltes Denken
der Selbsttranszendenz gehen soll, dann kann dies im Folgenden nur
auf metaphysisch-analogem Weg geschehen. Doch zunächst zurück
zu Foucault als Beispiel einer modernen Philosophie, die den plato-
nischen Grundgedanken bestreitet:
So ergibt sich die Alternative: Entweder die Diskurspartner sind nur
Dinge, und Dinge sind radikal opak, oder die Dinge sind auch Partner
in einem Lebenszusammenhang, sie haben auch den Charakter des
Mit-Seins und nicht nur den Status von Zuhandenheit oder Vorhan-
denheit. D. h. sie sind Natur. Nur wenn es das Natürliche, von sich
selbst her und mit eigenem Um-willen Seiende gibt, kann es Vernunft
geben. Denn nur solches Seiendes kann sich enthüllen. Die Enthül-
lung des Natürlichen, die Enthüllung natürlichen Selbstseins aber,
das ist es, was wir das Vernünftige nennen. Das Natürliche und das
Vernünftige sind streng korrelative Begriffe. Keiner ist aus dem ande-
ren ableitbar: Vernunft nicht aus Natur, denn das Seinlassen des Sei-
enden ist nicht aus jener Ursprünglichkeit des Selbstseins ableitbar, die
wir natürlich nennen. 77
Wenn man sich für die Alternative entscheiden möchte, anderem Sei-
enden den Charakter des Mit-Seins zuzugestehen, und die Vernunft
in dem mit diesem Anspruch verbundenen fundamentalen Sinn da-
durch gekennzeichnet ist, dass Seiendes sich ihr enthüllt, liegt auf der
Hand, dass das hier gemeinte In-Beziehung-Treten zu einem Seien-
den zunächst den Charakter eines Verzichts hat, des Verzichts auf
Vergegenständlichung, auf die Reduktion des Seienden auf den Sta-
tus eines Objekts für ein Subjekt. Hier ist daher der Ort, um, wie

76 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
77
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 126.

391

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

oben angekündigt, 78 zur zweiten Stufe der Negativität, der »Nega-


tivität des Erkennens, also des fieri aliud inquantum aliud« 79 zu
kommen:
In diesem Sinne verstanden, sprengt der Akt der Erkenntnis jede na-
turalistische und damit auch jede anthropologische Deutung. Von Na-
tur bildet jeder Organismus ein System, das mit seiner Umwelt im
Austausch steht. Jedes Lebewesen steht im Mittelpunkt seiner Welt.
Welt erschließt sich ihm als Raum von Bedeutsamkeiten, und etwas
gewinnt Bedeutsamkeit im Hinblick auf das, was es für diesen Orga-
nismus ist. Den anderen als anderen, mich selbst als dessen Gegen-
über, als »Umwelt« für andere Zentren wahrnehmen und so aus dem
Mittelpunkt meiner Welt heraustreten, diese »exzentrische Position«
(Helmut Plessner) erschließt ein Reich epekeina tes ousias – wie
Platon sagte, um den Ort des Guten zu bestimmen – »jenseits des
seienden Wesens«. 80
Negativität des Erkennens bedeutet also zunächst die Fähigkeit zur
Selbsttranszendenz in dem Sinn, dass jenseits des eigenen Horizonts
ein ihn relativierender hypothetischer Standpunkt eingenommen
werden kann. Danach aber bedeutet es die nicht erzwingbare, aber
wohlbegründete Anwendung dieser Fähigkeit in Bezug auf anderes
Seiendes. Spaemann benutzt zur Veranschaulichung dieses Ge-
dankens häufig das Beispiel der Wanderung mit einem Freund:
Der Unterschied zwischen einer geträumten und einer wirklichen
Wanderung mit einem Freund liegt darin, dass bei der wirklichen auch
mein Freund mit mir die gleiche Wanderung gemacht hat. Es kommt
dabei nicht darauf an, ob ich das jemals erfahre. Es kommt überhaupt
nicht auf die Kohärenz in meinem theoretischen Weltkonzept an. Die
Sache ist vielmehr die: Ich bin überhaupt nicht der, der darüber ent-
scheidet, ob der Andere mit mir gegangen ist. Eben dies macht den
Begriff der Anerkennung aus. Dieser Begriff sprengt jede systemphi-
losophische Aufhebung des Seinsbegriffs. Sein ist nämlich überhaupt
kein Begriff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung. 81

78 Vgl. 382, Fn. 38.


79 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62.
80 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 33. – Vgl. zur

Wendung ἐπέκεινα τῆς οὐσίας Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung
in der christlichen Theologie: Der Akt des Seins, 581, u. Einleitung zu Kapitel 9, Zur
Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 654, Fn. 16.
81 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),

41–42.

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

Könnte die Annahme eines den eigenen Horizont relativierenden hy-


pothetischen Standpunkts zunächst rein spekulativ erscheinen, so
zeigt dieses einfache Beispiel, dass dieser Gedanke keineswegs speku-
lativ ist, sondern in der Erfahrung von menschlichem Mit-Sein fun-
diert ist. Als zweites Beispiel nennt Spaemann das Beispiel eines
Kranken, der, »vielleicht auf dem Sterbebett, unfähig sich zu äußern,
eine Äußerung über seine Schmerzen hört, die falsch ist, dann weiß
er und nur er, dass sie falsch ist. Er nimmt sein Wissen mit ins
Grab.« 82 Der Anspruch auf Wirklichkeitswahrnehmung schließt aus
menschlicher Perspektive immer schon das Gebot der exzentrischen
Position ein. »Existenz«, sagt Spaemann an anderer Stelle mit Kant 83,
»ist kein reales Prädikat« 84. Jedes Prädikat bleibt im Bereich des sub-
jektiven theoretischen Weltkonzepts, Sein bzw. Existenz dagegen lie-
gen außerhalb dieses Bereichs. Der Schlüssel zu diesem Seinsver-
ständnis und damit der Schlüssel zu der gesuchten Aktualisierung
des platonischen Grundgedankens der Vernunft als Ausdruck der Te-
leologie menschlicher Natur liegt im Begriff der Anerkennung. Die
Anerkennung bezieht sich, das ist ganz wesentlich, nicht auf so etwas
wie einen Diskurspartner, sondern auf ein natürliches Lebewesen:
Anerkennung eines fremden Vernunftwesens kann sich nur realisie-
ren als Anerkennung dieses Wesens in seiner Natürlichkeit. Denn
wenn ich es nur qua Vernunftwesen anerkenne, dann ist es ja gerade
nicht das andere Subjekt, das ich anerkenne, sondern es sind meine
eigenen Kriterien der Vernünftigkeit, die ich in ihm instantiiert
finde. 85
Einmal mehr wird so verständlich, was mit dem eingangs zitierten
Hinweis Spaemanns auf die im hier verfolgten Zusammenhang
nötige »Aktivierung aller menschlichen Erfahrungsmöglichkeiten« 86
gemeint war. Der in der Natur verankerte Vernunftbegriff, um den es
geht, ist nicht instrumentell verfügbar, sondern wird verstanden als
Ausdruck einer Sammlung der ganzen Person, die allerdings, das ist
ganz wesentlich, ihren Fokus gerade nicht in dieser Person selbst hat.
Spaemann unterstreicht einerseits die Naturverwurzelung der Ver-

82 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.
83 Vgl. Kant, KrV, B 626–627.
84
Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62.
85 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132.
86
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 20.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

nunft mit der Metapher »Erwachtsein zur Vernunft« 87, hebt anderer-
seits hervor, dass die diese Vernunft kennzeichnende »Umkehr der
Perspektive« 88 die Überwindung der instrumentellen Vernunft, das
»Verlassen der rein theoretischen Einstellung« 89 bedeutet:
Denn in dieser bleibt der andere unvermeidlich immer Gegenstand,
der sich im Verhältnis zum vergegenständlichenden Subjekt definiert.
Etwas nicht als Gegenstand, sondern als schlechthin wirklich, als
Selbstsein realisieren, das ist das, was in der Sprache der philosophi-
schen Tradition vernünftige Liebe oder amor benevolentiae heißt.
Amor benevolentiae im Unterschied zum amor concupiscentiae inten-
diert nicht primär Vereinigung, sondern er vereinigt, indem er distan-
ziert. Er läßt das Für-sich-Sein des anderen für mich sein. Jede natura-
listische Deutung dieser Transzendenz ist notwendigerweise eine
reduktionistische Umdeutung. […] Vernünftige Liebe im Sinne des
amor benevolentiae läßt erst Wirklichkeit für uns entstehen und mit
ihm einen Nomos, der gerade in dem Maße natürlich ist, wie er nicht
von Natur ist. Daß er göttlich sei, diese Formel drückt nur aus, daß er
den endlichen Perspektivismus verläßt, indem er ihn enthüllt und
allem Endlichen seine eigene Perspektive zugesteht. 90
Die im Begriff der Anerkennung sich kristallisierende Aktualisierung
des Grundgedankens der platonischen Philosophie wird also durch die
der antiken Tradition unbekannte wirklichkeitserschaffende Kraft der
vernünftigen Liebe realisiert, die den subjektphilosophischen Per-
spektivismus aufhebt.
Für das Verständnis von Spaemanns metaphysischer Konzeption
ist es nach meiner Überzeugung entscheidend, den Zusammenhang
der beiden Seiten des Natürlichen und des Vernünftigen festzuhalten
und ihn nicht, was vielleicht naheliegend erscheinen könnte, zur Seite
des Vernünftigen als des vermeintlich eigentlich Menschlichen hin
aufzulösen. Das Argument für die unaufhebbare Bedeutung des Na-
türlichen lässt sich wiederum in zwei Richtungen wenden: Erstens ist
das Natürliche der Ursprung der Bewegung, die zum Vernünftigen
hinführt:
Natur prinzipiell unter der Form der Selbsttranszendenz – also teleo-
logisch – verstehen ist nun auch die Bedingung dafür, daß sie als Me-

87 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 127.


88
Ebd. 129.
89 Ebd.
90
Ebd. 129–130.

394

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

dium der Selbstdarstellung von Personalität verstanden werden kann.


Nur dann kann es so etwas wie »Sprache des Leibes« geben, und nur
dann kann die Würde der Person auf physische Weise verletzt werden.
Die Form des Gerichtetseins auf fällt nicht erst in der Form des ratio-
nalen Willens vom Himmel, wir finden sie in uns bereits vor in der
Weise des Triebes, des eigenen und desjenigen anderer, der nach Be-
friedigung drängt. 91
Das Vernünftige bleibt damit auf das Natürliche als seine Voraus-
setzung angewiesen. Zweitens wird das Natürliche, indem es im Ver-
nünftigen zu sich selbst kommt, nie Mittel zu einem höheren Zweck.
Die Marx’sche Vision des »Gattungswesen[s]« 92 wird von Spaemann
ebenso abgelehnt wie die nietzscheanische des »Übermenschen« 93,
insofern es sich hier um Versuche handelt, die natürliche »Selbst-
transzendenz des Menschen in einer definitiven Autarkie« 94 zurück-
zunehmen. Die menschliche Selbsttranszendenz eröffnet vielmehr
»eine kognitive und voluntative Unbedingtheit, die weder sozio-
logisch noch kosmologisch einholbar ist« 95 und für die ihre natürliche
Grundlage von unaufhebbarer Bedeutung bleibt.
Das Verhältnis des Menschen zu diesem Unbedingten ist nicht das des
Mittels zu einem erst zu realisierenden Zweck. »Das Gute selbst« im
Sinne Platons und der jüdisch-christlichen Tradition, Gott also als
letztes Um-willen ist immer schon wirklich, und er bedarf des Men-
schen nicht zu seiner Realisierung. Das Verhältnis zu diesem finis
ultimus kann nur das des Bildes, der Repräsentation sein. 96
Mit dem Begriff der Repräsentation ist der zweite zentrale Begriff
nach dem der Anerkennung genannt. »Repräsentation ist eine letzte
Kategorie, jenseits von Selbstbehauptung und Selbstmediatisierung
zum Mittel für Künftiges oder für andere.« 97 Gerade weil der »termi-
nus ad quem der Transzendenz« 98 sich nicht auf einen Begriff bringen
lässt, ist die Repräsentation des Unbedingten im natürlichen Bild des
Menschen eine letzte der Philosophie zugängliche Kategorie, hinter
der Gott gedacht werden kann, womit das Nachdenken an die Grenze

91 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 35.
92 Ebd.
93 Ebd.
94 Ebd.
95 Ebd. 36.
96
Ebd.
97 Ebd. 37.
98
Ebd. 35.

395

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

zur Theologie gelangt. Bleibt man dagegen im Bereich der Philo-


sophie, so ist die »Repräsentation des Absoluten« 99 im Menschen
und damit, da Repräsentation nicht ohne ihre Wahrnehmung denk-
bar ist, das Ereignis der Begegnung der Brennpunkt der metaphysi-
schen Konzeption Spaemanns, nach dem hier gesucht wird. Und die-
ser Brennpunkt ist direkt aus seinem fundamentalen philosophischen
Anliegen einer Wiederbelebung des teleologischen Denkens ent-
wickelt:
Wenn wir auf das blicken, »was die Natur aus dem Menschen macht«,
so treiben wir Biologie und sprechen unvermeidlich von etwas, was
weniger ist als der Mensch. Denn die Natur »macht« keine Person.
Fragen wir aber, »was er als frei handelndes Wesen aus sich selbst
macht oder machen kann und soll«, so müssen wir vom Unbedingten
sprechen, also von dem, was mehr ist als der Mensch. Eine Einheit der
Hinsichten kann deshalb nur dann gedacht werden, wenn wir dieses
Mehr als das Wohin des Menschen und zugleich als das Woher der
Natur denken. 100
Philosophisch ist die Spannung zwischen dem Natürlichen und Ver-
nünftigen damit ein letzter Gedanke, durch den der Grundgedanke
der Teleologie mit der Dimension des Geistes verbunden wird.
Zum Abschluss soll unter der Voraussetzung des unaufhebbaren
Zusammenhangs des Natürlichen und des Vernünftigen noch einmal
nach dem genauen Verhältnis der beiden Seiten gefragt werden. Wie
gesehen wurde, hat die Aktualisierung des platonischen Grundgedan-
kens bei Spaemann die Form einer Verbindung von Naturteleologie
mit einem ersten Ansatz zu einer Personenphilosophie. Die damit
intendierte Aufhebung des neuzeitlichen anthropologischen Dualis-
mus versucht den Widerspruch von Genesis und Geltung, von dem
die Ausführungen in diesem Abschnitt ihren Ausgang nahmen, auf-
zulösen. Dies ist jedoch nicht vollständig möglich:
Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren.
Sie führt sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber
am Ende bleibt immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Positi-
on, auch wenn dieser empirisch kaum, allenfalls physiognomisch be-
merkbar wird. Vernunft kommt, wie Aristoteles sagt, letzten Endes
immer thyrathen, von außen. Es gibt auch keinerlei vernünftiges Ar-

99 Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985/86), 91.


100
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 37–38.

396

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6.2.2 Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz

gument für diesen Positionswechsel. Das heißt nicht, daß er irrational


wäre. Nur: Man muß ihn schon vollzogen haben, um seine Vernünf-
tigkeit zu begreifen. Alle Ethik, die den Namen verdient, setzt diesen
Positionswechsel schon voraus. 101
Der Verweis auf einen ›Sprung‹ kann jedoch ebenso wenig zufrieden-
stellen wie der Bezug auf das aristotelische θύραθεν, das ja selbst
wieder eine Gedankenfigur darstellt, die erst einer neuzeitlichen Ak-
tualisierung bedürfte, um in diesem Zusammenhang aussagekräftig
zu werden. Das hier aufscheinende Problem bleibt im betrachteten
Zeitraum ungelöst und wird erst in »Glück und Wohlwollen« weiter-
verfolgt, 102 indem das Verhältnis von Ontologie und Ethik bedacht
wird. Diese Reflexion ist implizit schon in »Das Natürliche und das
Vernünftige« da, wenn Spaemann mit den Mitteln des metaphysisch-
analogen Denkens einen Imperativ der praktischen Vernunft formu-
liert:
Tatsächlich können wir überhaupt kein von Natur Wirkliches denken,
das nicht durch ein Moment von Innerlichkeit und damit von Totalität
und Unendlichkeit konstituiert wäre. Darum kann der Imperativ rei-
ner praktischer Vernunft nur so gefaßt werden: »Handle so, daß du die
Natur sowohl in deiner Person als auch in jedem anderen natürlichen
Wesen niemals nur als Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck
gebrauchst.« Nur in diesem Imperativ erweist sich der Mensch als
mehr als Natur. Denn nur in diesem Imperativ überschreitet er die
bloße Solidarität der Gattung, die er mit allem Lebendigen gemeinsam
hat. 103
Die Erschließung der Wirklichkeit von Denken, Leben und Sein ver-
bindet sich mit dem universalisierten Gebot der exzentrischen Posi-
tion. Der Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt, gilt
die weitere Entfaltung von Spaemanns Denken.

101 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130–131.


102
Vgl. Kapitel 7, »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen
Ethik, 415–508.
103
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 133.

397

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie in einer


Philosophie der Person

Abschließend soll ein Fazit aus den vorangegangenen beiden Ab-


schnitten aus der Perspektive Spaemanns gezogen werden, indem sei-
ne Selbstpositionierung, wie sie sich in einigen Texten angedeutet
findet, knapp dargestellt wird. Das Programm seiner Gedankenbewe-
gung, wie sie sich in dieser Untersuchung seiner Werke in den 80er
Jahren abzeichnete, hatte Spaemann bereits 1983 in der Einleitung zu
seinen »Essays« formuliert:
Philosophie ist antidialektisch, indem sie die Dialektik der modernen
Abstraktionen sichtbar macht, ihr haltloses Umkippen ins jeweilige
Gegenteil. Der Hegel’sche Gedanke, dass das Konkrete, das Wahre als
Resultat dieser Dialektik der Abstraktionen zu denken sei, ist selbst
nur wahr unter der teleologischen Voraussetzung, dass »das Absolute
an und für sich schon bei uns ist und sein will« 104. Aus »non-A« folgte
nämlich in alle Ewigkeit gar nichts und schon gar nicht B, wenn das
Ganze, von dem A abstrahiert wurde, nicht bereits als offenbares Ge-
heimnis da wäre und vor aller Augen läge. Dialektik bringt nicht das
Wahre hervor, sie überführt nur den Irrtum des Selbstwiderspruchs,
und auch dies nur, weil wir das Wahre im Grunde schon wissen und
deshalb nie konsequent und vollständig irren, d. h. nie aus der Wahr-
heit des Seins gänzlich herausfallen können. Ich kann daher Hegels
Logik nur verstehen, wenn ich sie als moderne Propädeutik zu Aristo-
teles, Aristoteles aber als Scholion zu Platon lese. 105
Wiederholt wurde in den Schriften der 80er Jahre eine Gedankenbe-
wegung beobachtet, in der Spaemann von der erwähnten Dialektik
der modernen Abstraktionen aus- und – der Wahrheit des Seins ge-
wiss – auf die antike Philosophie zurückging, um sich dann der Frage
nach der Aktualisierbarkeit antiker Positionen als eigentlicher phi-
losophischer Aufgabe zu widmen. Auch die kritische Auseinanderset-
zung Spaemanns mit der neuzeitlichen Philosophie war wesentlich
von dieser Gedankenbewegung inspiriert, was Spaemann im selben
Text treffend zusammenfasst:
Für Aristoteles galt als Axiom, dass das Wirkliche vor dem Möglichen
ist. Möglichkeit war verstanden als Spielraum, der mit jedem wirklich

104
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf die Einleitung zur »Phänomenologie
des Geistes«.
105
Spaemann, Einleitung (1983), 13.

398

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6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie

Seienden eröffnet ist. Möglichkeit hieß: »Können«. Nur Wirkliches


»kann«. Der Primat der Möglichkeit in der Philosophie der Neuzeit
hatte die christliche Theologie zur Voraussetzung, nach welcher Gott
alles kann, was widerspruchsfrei denkbar ist. Wenn aber hinter der
Gleichsetzung von Möglichkeit und Denkbarkeit nicht mehr diese
Prämisse steht, was heißt dann »möglich«? Der transzendental-phi-
losophische, weder theologisch noch anthropologisch fundierte Raum
des Apriorismus spiegelt philosophisch die Bodenlosigkeit der Moder-
ne. Es konnte nicht ausbleiben, dass sie vom Kopf auf die Füße gestellt
wurde. 106
Aus der neuzeitlichen Umkehrung des Verhältnisses von Wirklich-
keit und Möglichkeit folgt unter der Bedingung der Absage an die
christliche Theologie ein radikaler Seinsverlust der Subjektphilo-
sophie, der als »unvermeidliche dialektische Kehrseite« 107 den ebenso
abstrakten Naturalismus hervorbringen musste. Die angekündigte
Selbstpositionierung Spaemanns erfolgt daher im Wesentlichen
gegen die Transzendentalphilosophie, wobei dies im Sinne des
Programms seiner Gedankenbewegung keine dialektische Gegen-
bewegung meint, sondern die moderne Aktualisierung des antiken
substanzontologischen Grundgedankens. In Ȇber die Bedeutung
der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« bemerkt er zu diesem Thema:
Transzendentalphilosophie ist also gewissermaßen die prima philoso-
phia des Menschen qua Lebewesen, das die Bedingungen der Möglich-
keit dessen, was für es Welt ist, analysiert, insofern diese Bedingungen
in seinen eigenen gegenstandskonstituierenden Leistungen liegen. Als
Personen haben wir die Transzendentalphilosophie als Möglichkeits-
philosophie immer schon transzendiert. Denn der Möglichkeitsraum,
den diese eröffnet, setzt die Wirklichkeit von Personen voraus, die sich
sprachlich miteinander verständigen. Und dieser Verständigung wie-
derum geht jene fundamentale Anerkennung voraus, in der wir Men-
schen, Lebewesen und Dinge als selbst existierend setzen, mich ebenso
durch sie wie sie durch mich gesetzt, und zwar als von meinem Setzen
unabhängig gesetzt, d. h. in einem Sein, das mich und sie umgreift. 108
Der Anspruch der Transzendentalphilosophie, prima philosophia zu
sein, 109 verkennt die noch in der Neuzeit von Descartes erfasste refle-

106 Spaemann, Einleitung (1983), 14–15.


107 Ebd. 15.
108
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
46.
109
Spaemann nimmt mit Kant den eigentlichen Schöpfer der Transzendentalphiloso-

399

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

xive Wendung der Selbsttranszendenz, die im ›Wesen des Denkens‹ 110


begründet liegt. Durch die metaphysisch-analoge Deutung desselben
Gedankens wird das Mit-Sein ausgedehnt auf Lebewesen und Dinge.
Bereits hier rückt der Personen-Begriff, dessen inhaltliche Präzisie-
rung von Spaemann erst später geleistet wurde, in den Mittelpunkt
des Interesses. Die Personen – der Pluralgebrauch ist wohlbedacht 111 –
rücken, das wird hier deutlich, an die Stelle der aristotelischen Sub-
stanz. Der Schlüssel zum Verständnis des Verhältnisses von Personen
ist die Anerkennung.
Anerkennung aber ist: Seinlassen dessen, was anerkannt wird als eines
solchen, das von dieser Anerkennung in dem Sinne unabhängig ist,
dass es nicht durch sie konstituiert wird. Der Akt der Anerkennung
ist der Akt, in dem die Freiheit ihre höchste Verwirklichung findet,
und zwar deshalb, weil in ihm das Subjekt sich und seine natürliche
Teleologie zurücknimmt und ein anderes Umwillen gelten lässt, wel-
ches für das eigene Maß und Begrenzung bildet. Der Begriff der An-
erkennung sprengt die Grenzen der Transzendentalphilosophie, die –

phie partiell aus der Kritik aus: »Wo Kant den Begriff des Dinges an sich über die bloße
Grenzbestimmung eines Gegenstandes überhaupt, eines x hinaus bestimmt, da be-
stimmt er es als Freiheit. Freiheit rückt in die Leerstelle, die in der ›Kritik der reinen
Vernunft‹ durch den Begriff des Dinges an sich geschaffen wurde. Sein ist nur in-
sofern ein Gegenstand der Erkenntnis, als es ein Korrelat des in jedem Erkenntnisakt
implizierten Aktes der Anerkennung ist.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Wor-
te »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43. – Er expliziert seine Kritik am Beispiel
Heideggers: »Auch Heidegger bleibt in ›Sein und Zeit‹ noch in diesem transzendental-
philosophischen Ansatz stecken. Er gewinnt den Gedanken des Seins – den er insofern
durchaus noch als eine Art transzendentalen Begriff konzipiert – durch eine Analyse
des Seins des nach dem Sein fragenden Daseins, bestimmt aber dann das Sein des
innerweltlich Begegnenden, insofern es sich nicht um Menschen handelt, als Zuhan-
denheit bzw. Vorhandenheit statt Mitsein. Beim späteren Heidegger kehrt sich diese
Sicht allerdings um, und die Dinge beginnen zu ›dingen‹. D. h. ihr Sein wird nach
Analogie des menschlichen Daseins als Vollzug ihres So-Seins gedacht. Das So-Sein
ist diesem Vollzug nicht vorgeordnet, sondern ist selbst nur eine Weise des Seins, sich
anwesend zu machen. Hier scheint mir allerdings die Transzendentalphilosophie un-
mittelbar in Mythologie umzuschlagen, und zwar deshalb, weil Heidegger bei der
Bestimmung des Dinges den klassischen Begriff der physis übergeht und das Sein
der Dinge daher doch weiterhin an die Lichtung des Seins im Menschen bindet.« –
Ebd. 43–44.
110 Vgl.: »Der Raum, der durch das Denken eröffnet wird, transzendiert – das ist das

Wesen des Denkens – die Immanenz der endlichen Subjektivität, so dass das diesen
Raum eröffnende Denken innerhalb dieses Raumes selbst als ein Seiendes vorkommt,
als res cogitans. Es ist ›an sich‹, dass ich ›für mich‹ bin, und das heißt: Es ist für jedes
Denken, dass ich für mich bin, d. h. denke!« – Ebd. 40.
111
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 9, 87, 144: »Personen gibt es nur im Plural.«

400

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6.2.3 Die Überwindung der Transzendentalphilosophie

wie mir scheint – als Philosophie der Intentionalität in einer Theorie


des Lebendigen gipfelt. 112
Der letzte Satz ist stark verkürzt. Was Spaemann meint, ist wohl so
zu verstehen: Jeder intentionale Erkenntnisakt muss, wenn er nicht
im Raum der Gegenstände für ein Subjekt bleiben, sondern zum Sein
vordringen möchte, einen Akt der Anerkennung implizieren. An-
erkennung von Sein ist aber nur möglich in der Vermittlung durch
die φύσις, weil sie es ist, durch die unser Bewusstsein auf ein Dies-
seits seiner selbst transzendiert wird. Die eigentliche prima philo-
sophia, um die es Spaemann geht, die dem Menschen als Person ge-
recht werden kann, muss daher um den Begriff des Lebens herum
aufgebaut sein. In freier Paraphrase des diesem Kapitel vorangestell-
ten Mottos lässt sich dieser Gedanke auch so formulieren: Man muss
das Leben vor der Logik lieben, um seinen Sinn zu begreifen.

112 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),
44.

401

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6.3 Der metaphysische Hintergrund der Religions-
philosophie und der philosophischen Ethik

Aufgabe des abschließenden dritten Teilkapitels zu Spaemanns


Schriften der 80er Jahre ist es nicht, der theoretischen Entfaltung
seiner metaphysischen Konzeption Wesentliches hinzuzufügen, son-
dern mit der Frage nach dem Verhältnis der Philosophie zum Glauben
und der nach der praktischen Philosophie zwei Linien seines Denkens,
die bisher in diesem Kapitel ausgeblendet wurden, wieder aufzuneh-
men und in ein Verhältnis zur dargelegten metaphysischen Konzep-
tion zu setzen. Dabei wird die These verfolgt, dass in der konkreten
Weiterführung dieser Gedankenlinien in Spaemanns Texten der 80er
Jahre gegenüber älteren Publikationen zu diesen Themen 1 nun eine
direkte Anschlussfähigkeit von Spaemanns Thesen an seine meta-
physische Konzeption erkennbar wird. Seine Gedanken zu diesen
Themen sind zumindest implizit auf ein metaphysisches Fundament
bezogen, so dass sie den Anspruch einer Religionsphilosophie bzw.
einer philosophischen Ethik erheben können. Zunächst wird mit Be-
zug auf seine Essays aus den 80er Jahren zum Thema Religion ge-
zeigt, dass Spaemanns religionsphilosophische Überlegungen als An-
wendung grundlegender Positionen verstanden werden können, die
in den vorangegangenen Abschnitten dargestellt wurden (6.3.1). Da-
nach werden vor allen Dingen anhand von Spaemanns populärstem 2
Werk »Moralische Grundbegriffe« aus dem Jahre 1982 wesentliche
Grundgedanken seiner philosophischen Ethik skizziert und auf die
metaphysische Konzeption bezogen, nicht ohne in diesem Zusam-
menhang auch eine kritische Frage zu stellen, die auf die Weiterent-
wicklung von Spaemanns ethischen Reflexionen im nächsten Kapitel
vorausweist (6.3.2). Mit den abschließenden Ausführungen zur Reli-
gionsphilosophie und zur philosophischen Ethik werden somit auch
die wesentlichen Ergebnisse des vorliegenden Kapitels noch einmal
gebündelt.

1 Vgl. Teilkapitel 5.3, Zugänge zum Absoluten, 292–318.


2 Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens
(2008), 125. – Vgl. auch folgenden Kommentar Spaemanns: »Die ›Moralischen
Grundbegriffe‹, Rundfunkvorträge, die ich – ohne den Gedanken an Veröffentlichung
– geschrieben habe, wurden in 14 Sprachen übersetzt.« – Spaemann, Über Gott und
die Welt (2012), 220.

402

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6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit der
metaphysischen Konzeption

Philosophie erhebt als Metaphysik bzw. Ontologie den Anspruch,


philosophia prima zu sein, die jede funktionalistische Interpretation
ihrer selbst in einem übergeordneten Zusammenhang prinzipiell ab-
lehnt. Konstitutiv für die so verstandene Philosophie ist der Bezug
auf das Unbedingte, durch den sie schon immer in einer Beziehung
zur religiösen Sphäre steht: »Nun lebt der spezifische Unbedingt-
heitsgedanke philosophischer Theorie davon, daß die Dimension von
Unbedingtheit in der Weise des Ethischen und des Religiösen schon
vor ihrer theoretischen Reflexion im menschlichen Lebensvollzug
präsent ist« 3. Der Anspruch auf Unbedingtheit und die Ablehnung
funktionalistischer Interpretationen haben – zumindest im neuzeit-
lichen Kontext – ihre spezifische Form im religiösen Denken:
Religion ist eine Verwandlung der Perspektive, innerhalb derer die
Frage nach Funktionen erst Sinn macht. Der paulinische Satz »Der
geistliche Mensch beurteilt alles, er selbst aber wird von niemandem
beurteilt« 4, muß in diesem Sinne verstanden werden. Religion ist mit
diesem Anspruch so eng verbunden, daß man ihn nicht in Frage stel-
len kann, ohne Religion selbst in Frage zu stellen. 5
Unter den Vorzeichen der neuzeitlichen Subjektphilosophie ist das
Verhältnis von Religion und Philosophie problematisch, insofern die
Philosophie entweder diesen genuinen Anspruch der Religion in
Zweifel ziehen oder aber sich ausdrücklich zu ihm in ein Verhältnis
setzen muss.
Wittgenstein schrieb: »Wenn das Christentum die Wahrheit ist« – und
Wittgenstein wünschte, daß es die Wahrheit sei –, »dann ist alle
Philosophie darüber falsch.« 6 Das gilt freilich nur, wenn man den
skeptischen Philosophiebegriff Wittgensteins zugrunde legt; sicher
aber gilt es für alle funktionalistischen Typen von Religionsphiloso-
phie. Die Wahrheitsansprüche der christlichen Religion sind, wenn
philosophisch, dann nur in ontologischen Kategorien interpretierbar.

3 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 216.


4 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: 1. Kor. 2,15. – Ebd. 230.
5
Ebd. 219.
6 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Wittgenstein, Vermischte Bemerkun-

gen, hrsg. von G. H. von Wright, Frankfurt a. M. 1977, S. 159. – Ebd. 231.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

Sie erfordern als kognitives Interpretationsinstrumentarium eine Me-


taphysik. 7
Um im Folgenden der Frage nachzugehen, inwiefern die dargelegte
metaphysische Konzeption Spaemanns als ein solches »kognitives In-
terpretationsinstrumentarium« für die christliche Religion verstan-
den werden kann, sollen zunächst einige Gedanken Spaemanns aus
seinen religionsphilosophischen Texten der 80er Jahre kurz zusam-
mengefasst werden, bevor diese auf die philosophiehistorischen Über-
legungen und die Darlegung seiner metaphysischen Konzeption in
den ersten beiden Teilen dieses Kapitels bezogen werden.
In seinem Essay »Religion und ›Tatsachenwahrheit‹« aus dem
Jahre 1986 thematisiert Spaemann vor dem Hintergrund einer pan-
theistischen Religiosität, »die der Welt eine bestimmte Tiefendimen-
sion gibt«, den spezifischen Wahrheitsanspruch der Schöpfungsreli-
gionen:
Gott wird hier nämlich als freie Subjektivität gedacht und insofern als
Maß für die Wahrheit unseres Glaubens, ein Maß, das von diesem
Glauben selbst ganz unabhängig ist. Was der Schöpfungsglaube
glaubt, ist, daß diese Tiefendimension der Welt nicht bloß darin be-
steht, daß in der Welt Subjekte leben, die die Welt auf eine bestimmte
Weise erleben und erfahren, sondern daß umgekehrt diese Erfahrung
ihren Grund darin hat, daß der Welt vorauf eben diese Tiefe einer
unendlichen Freiheit liegt. […]
Die Schöpfungsreligion, die Gott als freie Subjektivität denkt,
denkt Gott so, daß er selbst das Maß dafür ist, ob unsere Rede über
die Tiefe der Welt wahr ist oder nicht. Die Wahrheit des Schöpfungs-
glaubens ist daher nicht daran gebunden, daß sie geglaubt wird. Dieser
Glaube glaubt nämlich ein Subjekt, das selbst weiß, ob es die Welt ge-
schaffen hat oder nicht. 8
Schöpfungsreligionen denken das Verhältnis des Menschen zu Gott
im Unterschied zu pantheistischen Religionen als Verhältnis freier
Subjekte, in dem es aus der Sicht der menschlichen Subjekte kein
anderes Wahrheitskriterium für die Existenz des göttlichen Subjektes
gibt als die Existenz der von ihm geschaffenen Welt selbst, die ihrer-
seits aber zum Glauben an ihren Schöpfer nicht zwingt, sondern die-
sen zu einem freien Akt macht:

7 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 225–226.


8
Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 171–173.

404

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6.3.1 Die religionsphilosophische Anschlussfähigkeit

Offenbarungsreligion ist in einem bestimmten Sinne im Unterschied


zu anderen Religionen »totale Religion«. Sie ist nämlich nicht Zurück-
führung von Tatsachenwahrheiten auf Vernunftwahrheiten, sondern
sie ist umgekehrt die Verwandlung der Welt als ganzer in eine Tat-
sachenwahrheit. […] Insofern wird die Kontingenzerfahrung auf eine
unüberbietbare Weise radikalisiert. 9
Tatsachenwahrheiten lassen sich etwa im Christentum insofern nicht
auf Vernunftwahrheiten zurückführen, als Gott sich nicht in konkre-
ten Erscheinungen in der Welt zeigt, sondern die Welt insgesamt »als
›zufällige Geschichtswahrheit‹ […] auf eine freie Handlung Gottes« 10
zurückgeführt wird. Die menschlichen Subjekte wiederum, die ein
göttliches Schöpfer-Subjekt denken und damit die gesamte Welt als
kontingentes Faktum begreifen können, verfügen über eine reflexiv
gewendete Selbsttranszendenz, durch die sie sich selbst als kontin-
gentes Sosein (essentia) erfahren, zu dem sie sich durch ihre Existenz
(esse) noch einmal in ein Verhältnis setzen.
Dass der Gedanke der Selbsttranszendenz bzw. der Realdistink-
tion von esse und essentia im Mittelalter aus dem Bemühen entstand,
aristotelisches Denken und christlichen Glauben miteinander zu ver-
binden, wurde oben im Zusammenhang mit der Geschichte des an-
thropologischen Dualismus dargelegt. 11 Durch Descartes wurde dann
in der neuzeitlichen Philosophie eine spekulative Theorie der Selbst-
transzendenz entwickelt, 12 die exakt den oben dargelegten Grund-
gedanken der Schöpfungsreligion als Verhältnis freier Subjekte ab-
bildet. Gegenüber der mittelalterlichen Philosophie wurde bei Des-
cartes der Ausgang der Philosophie vom Subjekt zum ersten Mal in
begrifflicher Schärfe gedacht, wobei allerdings der konstitutive Bezug
auf die teleologisch verstandene natürliche Substanz fallen gelassen
wird. Das Subjekt, um das es geht, ist eine res cogitans, die mit dem
Körper nur durch göttliche Vermittlung verbunden ist. Descartes’
spekulative Theorie der Transzendenz wurde, wie gesehen, durch eine
»Theologisierung der Ontologie« 13 erkauft. In Bezug auf Descartes
kann daher nicht die Rede davon sein, dass für die »Wahrheitsansprü-

9 Spaemann, Religion und »Tatsachenwahrheit« (1986), 174.


10 Ebd. 174.
11 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.
12
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351,
bes. 350–351.
13
Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

che der christlichen Religion […] als kognitives Interpretations-


instrumentarium eine Metaphysik« 14 gefunden wäre, sondern die
Metaphysik transzendiert hier umgekehrt zur Theologie. Spaemanns
metaphysische Konzeption wurde in Teilkapitel 6.2 dargelegt im
Ausgang von der alternativen metaphysisch-analogen Deutung des
Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ und damit der reflexiv gewen-
deten Selbsttranszendenz, die sich von der cartesischen im Wesent-
lichen durch Wiedereinsetzung des in der frühen Neuzeit weg-
gefallenen Lebens-Begriffes als analoger Aussageweise des Seins
und damit durch die Rückkehr zum teleologischen Naturbegriff un-
terscheidet. Als Kern der metaphysischen Konzeption Spaemanns
zeigten sich dann die Begriffe der Anerkennung und der Repräsenta-
tion. Im Akt der Anerkennung von Sein überschreitet der Mensch
seine bloße Natur, insofern diese in der Vernunft als Ausdruck der
Teleologie menschlicher Natur erst zu sich kommt und andere Wesen
sein lassen, d. h. ohne Reduktion auf ein Objekt für ein Subjekt wahr-
nehmen kann. Im natürlichen Bild des Menschen als zu solcher
Anerkennung fähigen Wesens zeigt sich das Unbedingte, wird der
Mensch zur Repräsentation des Absoluten. Der Gedanke des Absolu-
ten wird hier als dritte Stufe der Negativität in der Seinsweise leben-
diger Wesen verankert. 15 Die Rede vom Unbedingten bzw. Absoluten
ergibt sich im metaphysisch-analogen Denken nicht auf spekulativem
Wege wie bei Descartes, sondern aus einer Rückführung des Ver-
nünftigen auf die Naturteleologie, für deren Berechtigung sich ein
Gefüge guter Gründe anführen lässt, auch wenn hier aus den dar-
gelegten Gründen eine strenge Beweisbarkeit nicht möglich ist. 16
Die mit der Selbsttranszendenz verbundene Auffassung der Welt im
Ganzen als kontingentes Faktum erweist sich als anschlussfähig an
religionsphilosophische Überlegungen. So schreibt Spaemann im
Zusammenhang mit der Radikalisierung der Kontingenzerfahrung
in den Schöpfungsreligionen:
Die Welt im Ganzen als kontingentes Faktum sehen, das setzt die An-
tizipation eines Sinnes schon voraus, der dieses Faktum übergreift. Es
ist schwer zu sehen, welche »innerweltliche Funktion« diese Trans-

14 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 225–226.


15 Vgl. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 62, Abschnitt 6.2.1, Das metaphy-
sisch-analoge Denken, 382, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und
Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 392.
16
Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 380–383.

406

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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus

zendenz der Welt als Ganzes haben sollte, außer jener, in der Welt
selbst deren Sinn zu vergegenwärtigen. Aber das ist selbst schon eine
religiöse Antwort, denn es setzt voraus, daß es mit den Tatsachen der
Welt noch nicht abgetan ist. 17 Dies »sehen« heißt für Wittgenstein,
»an einen Gott glauben«. 18
Nach Spaemann ist nun gerade »die Struktur von Antizipation auf
irgendeine Weise in der generellen Struktur der Natur vorgezeich-
net« 19, die, weil sie keine Funktion mehr erfüllt, das Unbedingte in
der Weise der Repräsentation vergegenwärtigt. Die um die Kern-
gedanken von Anerkennung und Repräsentation aufgebaute meta-
physische Konzeption Spaemanns kann somit als mögliche Ausprä-
gung des gesuchten kognitiven Interpretationsinstrumentariums für
die Wahrheitsansprüche der christlichen Religion aufgefasst werden.

6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus

In den »Moralischen Grundbegriffen« – der Buchausgabe von acht


Rundfunkvorträgen zum Thema der philosophischen Ethik – geht
es, wie Spaemann im Vorwort bemerkt, um »das Selbstverständli-
che« 20, über das es eigentlich nichts zu sagen gibt. »Wenn dennoch
vom Selbstverständlichen immer wieder die Rede sein muß, so nur
deshalb, weil es immer wieder bestritten wird.« 21 Entsprechend dieser
Vorbemerkung variieren die Vorträge im Grunde immer wieder
einen Grundgedanken und sind ansonsten der Entlarvung von Denk-
weisen gewidmet, die diesen in Frage stellen. Ausgehend von der
Frage nach der Relativität von Gut und Böse hebt Spaemann vom
mehrwertigen Gebrauch des Wortes ›gut‹ – »gut für jemanden in
einer bestimmten Hinsicht« 22 – seine Verwendung »in einem ›abso-
luten‹ Sinn« 23 als Thema der philosophischen Ethik ab, womit er
gleich zu Anfang eine de facto höchst umstrittene These als selbst-

17 Spaemanns verweist als Quelle auf: Wittgenstein, Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M.

1960, S. 167. – Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985),


231.
18 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 222.

19 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 34.

20 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 7.

21
Ebd.
22 Ebd. 12.

23
Ebd.

407

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

verständlich ausgibt. Ein erstes Argument für die absolute Bedeutung


des Wortes ›gut‹ entwickelt er im Rückgang auf die klassische Antike
und den dort gefundenen Maßstab der φύσις 24, ohne an dieser Stelle
die Problematik der Bezugnahme auf die Antike zu reflektieren. Aus
antiker Sicht leitet er zunächst die Schlussfolgerung ab, dass das Wort
›gut‹ nicht im Sinne des naturalistischen Fehlschlusses »durch ir-
gendeinen speziellen Gesichtspunkt« 25 ersetzt werden darf, sondern
den Gesichtspunkt bezeichnet, »unter dem sich alle anderen Hinsich-
ten ordnen, die uns veranlassen, dieses oder jenes zu wollen« 26. Denn
eigentlich, das ist der nächste Schritt der Argumentation, geht es bei
der ethischen Frage nach dem Sollen um das Wollen: »Wenn wir
etwas sollen, dann heißt das, wir sollen es wollen.« 27 Und eben dies,
»was wir eigentlich und im Grunde wollen und weswegen wir alles
andere wollen und tun, was wir tun, nannten die Griechen das Gute
oder das höchste Gut.« 28 Die Frage nach der Aktualisierbarkeit dieses
antiken Denkens stellt Spaemann indirekt durch Bezugnahme auf
Freuds »Begriffe Lustprinzip und Realitätsprinzip« 29, durch die eine
nach seiner Überzeugung verzerrte Auffassung der Realität als »Hin-
dernis unserer Lebenserfüllung« 30 suggeriert wird. Ausdrücklich ge-
gen diese Sichtweise formuliert er dann in einer ersten Fassung den
Grundgedanken, um den es in dem ganzen Buch geht:
Wer verstanden hat, daß wir gerade Realität – Wirklichkeit – wollen,
daß wir in dem Erlebnis der Realität und in der aktiven Auseinander-
setzung mit ihr zu uns selbst kommen, der wird es anders sehen. Der
wird verstehen, daß das Gute etwas damit zu tun hat, Wirklichkeit zu
erfahren und der Wirklichkeit gerecht zu werden. 31
Hier ist deutlich der Grundgedanke einer Philosophie der Begegnung
– die Vermittlung des Selbst durch das Begegnende – formuliert. Der
Zugang zur Wirklichkeit ist dabei zunächst kein kognitiver, sondern
ein affektiver: »Die Leidenschaft erschließt uns einen Wert oder

24
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 14.
25 Ebd. 21.
26 Ebd. 20.

27 Ebd. 25.

28 Ebd. – Vgl. zu dem hier angedeuteten Gedankengang auch die wesentlich differen-

ziertere Darlegung in Spaemanns Vortrag »Die zwei Grundbegriffe der Moral«, s. Ab-
schnitt 5.3.2, Das Absolute in ethischer Perspektive, 304–313.
29
Ebd. 29.
30 Ebd. 31.

31
Ebd. 34.

408

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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus

Unwert, aber sie verstellt uns gleichzeitig die Proportionen, in denen


er gesehen werden muß.« 32 Die Werte der Wirklichkeit – verstanden
als »Inhalte oder Gegenstände gerichteter Gefühle« 33 – stehen dabei
nach Spaemann in einer hierarchischen Rangordnung, als deren »prä-
zises Kriterium« er die »Intensität der Freude« 34 nennt, die sich aus
der jeweiligen Wirklichkeitsbegegnung ergibt. Um die eigene Fähig-
keit zur Freude zu steigern und damit höhere Werte wahrnehmen zu
können, bedarf es der Bildung:
Die Aufdringlichkeit von Werten steht fast immer in einem umge-
kehrten Verhältnis zu ihrer Höhe. Gerade deshalb bedarf es einer ge-
wissen Selbstdisziplin, um der höheren, das heißt derer, die die größe-
re Freude machen, überhaupt ansichtig zu werden. Sie bedürfen
erhöhter Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit aber ist Selbsttätigkeit.
Alles aber, was mit Selbsttätigkeit verbunden ist, macht die tiefere
und dauerhaftere Freude. 35
Insofern also der Grundgedanke der philosophischen Ethik, der Wirk-
lichkeit gerecht zu werden, bedeutet, seine Interessen »durch den
Wertgehalt der Wirklichkeit formen« 36 zu lassen, ist ein »weiteres
Element des richtigen, des gelingenden Lebens« 37 die Bereitschaft,
diese Interessen »allgemeinen Maßstäben [zu] unterstellen« 38 und
von der eigenen subjektiven Perspektive zu abstrahieren: »denn die
Wirklichkeit, der wir gerecht zu werden haben, das sind vor allem die
anderen Menschen.« 39 Mit der Fähigkeit dazu ist nichts anderes als
die Negativität des Erkennens bzw. die Fähigkeit zur Selbsttranszen-
denz gemeint, 40 die hier mit dem Begriff des Gewissens in Zusam-
menhang gebracht wird:
Das Gewissen ist die Gegenwart eines absoluten Gesichtspunktes in
einem endlichen Wesen; die Verankerung dieses Gesichtspunktes in
einer emotionalen Struktur. Weil dadurch im einzelnen Menschen
selbst schon das Allgemeine, das Objektive, das Absolute gegenwärtig

32
Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 43.
33 Ebd. 37.
34 Ebd. 42.

35 Ebd.

36 Ebd. 48.

37 Ebd. 49.

38 Ebd. 48.

39
Ebd. 49.
40 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz:

Repräsentation und Anerkennung, 392.

409

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

ist, darum sprechen wir von der Würde des Menschen und aus keinem
anderen Grunde. 41
Mit dem Begriff des Gewissens ist keine über den ethischen Grund-
gedanken der Öffnung für die Wirklichkeit hinausgehende Hyposta-
sierung des Absoluten im Menschen intendiert: »Gewissen ist der
Ruf zur Aufmerksamkeit.« 42 Dieser Ruf ist unendlich und darum
nicht erfüllbar, ihm entspricht auf menschlicher Seite die Liebe:
Es ist eine Haltung der grundsätzlichen Bejahung der Wirklichkeit.
Aus ihr entspringt ein universelles Wohlwollen, für das wir selbst
nicht mehr im Mittelpunkt der Welt stehen, das sich aber sehr wohl
auch auf uns selbst erstreckt: man muß mit sich selbst in Freundschaft
leben, um gut zu leben. Gemessen an diesem Maßstab der Liebe aller-
dings sind wir alle nur bedingt gut. 43
Es besteht daher eine unaufhebbare Unzulänglichkeit des Menschen
gegenüber der Wirklichkeit, der er immer nur teilweise gerecht wer-
den kann, wobei diese Unzulänglichkeit als Kontingenzerfahrung be-
wusst ist, angesichts deren der aus der mittelalterlichen Mystik stam-
mende Begriff der Gelassenheit für Spaemann die einzig vernünftige
Antwort enthält: »Unter Gelassenheit verstehen wir die Haltung des-
sen, der das, was er nicht ändern kann, als sinnvolle Grenze seines
Handelns in sein Wollen aufnimmt, der die Grenzen akzeptiert.« 44
Es geht Spaemann in »Moralische Grundbegriffe« nicht um eine
metaphysische Fundierung seiner Thesen, sondern unter Berufung
auf ein intuitiv Selbstverständliches um die theoretische Wider-
legung von Argumentationen, die dieses in Frage stellen, und um
praktische Aussagen zum gelingenden Leben. Daher hängen wesent-
liche, in diesem Text einfach gesetzte Prämissen gewissermaßen in
der Luft, wenn man ihn isoliert betrachtet. Liest man die »Mora-
lischen Grundbegriffe« jedoch vor dem Hintergrund der im vorigen
Abschnitt dargelegten metaphysischen Konzeption Spaemanns, wird
klar, dass diese Prämissen in ihr eine Fundierung finden. Ich greife
zur Verdeutlichung hier nur die wichtigsten Prämissen und die ihnen
entsprechenden Momente der metaphysischen Konzeption heraus.
Als erste Prämisse kann die moderne Aktualisierbarkeit von Positio-

41 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 75.


42
Ebd. 86.
43 Ebd. 94–95.
44
Ebd. 104.

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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus

nen der platonischen und aristotelischen Ethik genannt werden; aus


ihr folgt der Grundgedanke der »Moralischen Grundbegriffe«, wo-
nach die Wirklichkeit der modernen Ethik einen ebenso unverbrüch-
lichen Maßstab gibt, wie es die φύσις für die antike tat. Diese Prä-
misse wird, wie gesehen, von Spaemann methodisch durch die
prinzipielle Reflexion auf das Problem der Antikenrezeption und in-
haltlich durch die Deutung der Selbsttranszendenz als neuzeitliche
Weise, wie die menschliche Natur in der Vernunft zu sich selbst
kommt, begründet. Als zweite Prämisse kann angeführt werden, dass
diese Wirklichkeit nicht als auf ein Subjekt bezogener transzenden-
taler Entwurf verstanden werden kann, sondern dass Wertqualitäten
in ihr zunächst affektiv erschlossen werden müssen, bevor sie erst in
einem zweiten Schritt diskursiv geordnet werden können. Diese Prä-
misse wird hauptsächlich durch das metaphysisch-analoge Denken
und den Mittelbegriff des Lebens fundiert, durch die wiederum alle
bewussten Setzungen des Menschen in einem primären Wollen ver-
ankert werden, das ihn mit anderen Lebewesen verbindet. Als dritte
und wohl wichtigste Prämisse wäre schließlich die Setzung eines Ab-
soluten zu nennen, die im Begriff des Guten bereits Ausgangspunkt
der Überlegung war, im Kontext des Gewissensbegriffs wiederkehrt
und aus dem Bezug zu dem schließlich die menschliche Kontingenz-
bejahung möglich wird. Diese fundamentale Prämisse findet in Spae-
manns den Gedanken von Naturteleologie und Selbsttranszendenz
verbindender Konzeption von Repräsentation und Anerkennung eine
Fundierung, der aufgrund des konstitutiven Bezugs auf etwas Vor-
begriffliches zwar keine stringente Beweisbarkeit zukommt, die je-
doch ohne jeden theologischen Überbau als ein Gefüge direkt aus
der conditio humana abgeleiteter Argumente für sich stehen kann.
Abschließend sei auf eine Frage hingewiesen, auf die aus Spae-
manns metaphysischer Konzeption nach meiner Auffassung noch
keine Antwort ableitbar ist und die mit dem oben bereits erwähnten
Problem des ›Sprungs‹ von der Genesis zur Geltung bzw. von der
Natur zum vernünftigen amor benevolentiae verbunden ist. 45 Für
das Verhältnis zur Wirklichkeit hat die Freude für Spaemann als in-
tentionales Gefühl besondere Bedeutung, insofern sie gewissermaßen
einen äußersten Rahmen darstellt, der nicht noch einmal von einem
weiteren Zusammenhang funktional umfasst werden kann. Daher

45Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 396–397.

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6 »Das Natürliche und das Vernünftige«: Grundzüge einer Philosophie

habe es keinen Sinn zu fragen, was man von der Freude hat. »Von der
Freude hat man nämlich nichts, sondern etwas von etwas haben, das
heißt eben: sich darüber freuen. Mehr als Freude kann man nicht von
etwas haben.« 46 Dieses fundamentale Verständnis der Freude könnte
man als idealistische Überhöhung abtun und die Macht der Abstrak-
tion entgegenstellen in dem Sinne, dass ein Wissen, wie jede Freude
beliebig generierbar ist, mehr ist als bloße Freude. So kommentiert
Mephisto im zweiten Teil des »Faust« das von ihm zum Zwecke gren-
zenloser Wunscherfüllungen am Kaiserhof eingeführte Papiergeld
mit den Worten:
Ein solch Papier, an Gold und Perlen Statt,
Ist so bequem, man weiß doch, was man hat;
Man braucht nicht erst zu markten, noch zu tauschen,
Kann sich nach Lust in Lieb’ und Wein berauschen. 47
Die Entgegnung, wonach es hier nur um Lust, nicht um Freude gehe,
könnte ihre Entkräftung in der Betonung des Interesses an der Wirk-
lichkeit finden, das aber gegenüber dem kritisierten Begriff der Freu-
de noch einmal beliebig gesteigert werden kann. Zu wissen, welche
Freuden man sich jederzeit generieren kann, wäre in dieser Logik
mehr als die bloße Freude, die man nur als Geschenk empfangen
kann. Auch wenn also zugestanden würde, dass man nicht mehr als
Freude von etwas haben kann, kann man doch, so der Einwand,
immer noch mehr Freude haben. Um gegen diesen Einwand wirksam
zu argumentieren, müsste ein Argument, das in den »Moralischen
Grundbegriffen« erst anklingt, ausgebaut und systematisch entfaltet
werden. Spaemann erwähnt »die Tatsache, daß kein Mensch sich über
seine egozentrische Sicht der Welt völlig erhebt« 48, und spricht in
diesem Zusammenhang von einer Schuld, die einen noch unbe-
stimmten Status hat, »weil die Unaufmerksamkeit, die dem Bösen
zugrunde liegt, gerade auf einer Verdrängung beruht« 49. Wie ich mei-
ne, liegt hier die Wurzel eines in Spaemanns ethischem Denken der
80er Jahre noch offenen Problems, das er dann in »Glück und Wohl-
wollen« durchdenken wird.
Es zeigt sich hier eine gewisse Parallele zwischen den Grundpro-
blemen der theoretischen und der praktischen Philosophie. Mit Bezug

46 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 37.


47
Goethe, Werke (HA), Bd. 3, 188 (Faust, 6119–6122).
48 Spaemann, Moralische Grundbegriffe (1982), 96.
49
Ebd.

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6.3.2 Philosophische Ethik als Erneuerung des Platonismus

auf jene schreibt Spaemann: »Religionsphilosophie kann es nur geben


als ›Theorie des Absoluten‹. Pascal hat gezeigt, wie funktionale Über-
legungen bis zu dieser hypothetischen Einsicht führen können. Von
dieser bis zur wirklichen Wahl dieses Rahmens oder besser: zu seiner
wirklichen Evidenz ist immer ein Sprung.« 50 Mit Bezug auf die prak-
tische Philosophie bemerkt er, wie oben bereits zitiert 51: »Man kann
eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie führt
sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber am En-
de bleibt immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Position« 52.
In beiden Bereichen bedarf es, wie Spaemann betont, eines Sprunges.
Im theoretischen Bereich ergibt sich diese Notwendigkeit aus der
Nichtdeduzierbarkeit des Absoluten, im praktischen Bereich daraus,
dass der Positionswechsel schon vollzogen sein muss, bevor er ver-
standen werden kann. Aus der in dieser Parallele erkennbaren Diffe-
renz könnte man folgern, dass das mit den Mitteln diskursiven Den-
kens nicht vollständig lösbare Problem der theoretischen Philosophie
seine eigentliche philosophische Thematisierung erst in der prakti-
schen Philosophie finden kann: »Ontologie und Ethik werden durch
die Intuition des Seins als Selbstsein – des eigenen ebenso wie des
anderen – uno actu konstituiert.« 53 Die im folgenden siebten Kapitel
verfolgte These ist, dass Spaemann Ende der 80er Jahre genau diesen
Schluss zog und daher in »Glück und Wohlwollen. Versuch über
Ethik« den Schwerpunkt seines Denkens in die philosophische Ethik
verlagerte.

50 Spaemann, Funktionale Religionsbegründung und Religion (1985), 229.


51 S. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Reprä-
sentation und Anerkennung, 396–397.
52 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 130.

53
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung
der eudämonistischen Ethik

Im Mittelpunkt des siebten Kapitels steht Spaemanns »Hauptwerk in


Sachen praktischer Philosophie« 1, das 1989 in erster Auflage erschie-
nene Buch »Glück und Wohlwollen. Versuch über Ethik«, neben dem
gelegentlich noch verschiedene Aufsätze aus der Zeit zwischen 1989
und Mitte der 90er Jahre herangezogen werden. An dieser Stelle sol-
len zunächst einige Bemerkungen erfolgen über das Verhältnis der im
Weiteren zu entfaltenden Gedankenentwicklung zu der im voran-
gegangenen Zeitabschnitt, bevor auf die im Vorwort zu »Glück und
Wohlwollen« benannten Vorzeichen eingegangen wird, unter denen
Spaemanns »Versuch über Ethik« zu sehen ist und die Einblicke ver-
mitteln in die leitenden Intentionen ihres Autors. Schließlich wird ein
knapper Ausblick auf die geplanten Gedankenschritte gegeben.
In seiner »Autobiographie in Gesprächen« antwortet Spaemann
auf die Frage, was ihn zu seinem Buch »Glück und Wohlwollen« an-
geregt habe:
Unbefriedigend fand ich immer, dass die Antworten auf die Frage nach
dem richtigen Leben zwei ganz verschiedene Arten des Denkens aus-
drücken. Man könnte die eine aristotelisch und die andere kantisch
nennen.
Bekannt ist der kantische Ausgang von der Ur-Erfahrung des
Sollens. Ihm gegenüber wird der Einwand immer lauten: Ein Sollen,
das den Pflichttreuen nur unglücklich macht, kann niemanden moti-
vieren. Ein Leben unter dem kategorischen Imperativ »lohnt sich
nicht«. Umgekehrt verhält es sich genauso. Wenn jemand offenbar
ein glückliches Leben führt auf Kosten eines anderen, den er im Stich
lässt und in dem er dadurch Verwüstungen anrichtet – wie will er das
verantworten? Er hat ein schlechtes Gewissen – und wenn nicht, umso
schlimmer. 2

1 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 275.


2
Ebd. 251.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

»Glück und Wohlwollen« ist angesichts dieses Dualismus dem Ver-


such gewidmet, den antiken Begriff der εὐδαιμονία in einem solchen
Sinn zu aktualisieren, dass dessen antagonistische Stellung zum
Begriff der Pflicht aufgehoben wird. Somit wird die Gedanken-
bewegung, die im vorangegangenen Kapitel 3 als charakteristisch für
Spaemanns Denken der 80er Jahre gekennzeichnet wurde, durch die
leitende Intention von »Glück und Wohlwollen« fortgesetzt. Es geht
um die zweifache Bewegung, in der zum einen auf die »klassische[…]
Sicht« der antiken Philosophie als »unaufgebbare Entdeckung« 4 zu-
rückgegangen wird, was aufgrund ihrer in Abschnitt 6.1.1 explizier-
ten Fremdheit im Wesentlichen auf dem Weg der Negation möglich
ist, in der zum anderen in der Gegenbewegung eine Aktualisierung
zeitloser Aspekte jener klassischen Sicht unter neuzeitlichen Denkbe-
dingungen versucht wird. Waren es zunächst die Begriffe Substanz
und Bewegung (Teleologie), auf die sich in den 80er Jahren diese
Denkbewegung konzentrierte, so ist es in »Glück und Wohlwollen«
der Begriff der εὐδαιμονία. Spaemanns Überlegungen in seinem
»Versuch über Ethik« gehen aus der Überzeugung hervor, dass der
Gedanke der εὐδαιμονία in seiner allgemeinsten Fassung »als das
unser Dasein konstituierende Um-willen« 5 eine anthropologische
Konstante ist, der eine Aktualisierbarkeit eignen muss auch unter
den Bedingungen eines Denkens, dem sich schwerwiegende Ein-
wände gegen den historisch konkreten Begriff der Eudämonie er-
geben. Für das Gelingen der Aktualisierung gibt so die kantische Ant-
wort auf die Frage nach dem richtigen Leben zunächst ein negatives
Kriterium, insofern ein Zurückbleiben hinter dem Sollen mit diesem
Gelingen nicht vereinbar sein kann. Die Idee einer neuzeitlichen
Aktualisierung der eudämonistischen Ethik entspringt der Intuition,
dass entweder der Gegensatz zwischen dem aristotelischen und dem
kantischen Denken ein scheinbarer oder eine philosophische Ethik
überhaupt unmöglich ist. Im Kern besteht das aufgeworfene Problem
somit in der Vermittlung zweier vermeintlich antagonistischer An-
sätze:
Der Wunsch nach Gelingen des eigenen Lebens kann der Ursprung der
Idee der sittlichen Verantwortung nicht sein. Er kann allenfalls die
Verwirklichung dieser Idee in sich aufnehmen. Aber die Evidenz bei-

3
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 330–331.
4 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17.
5
Ebd. 21.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

der Lebensimpulse scheint prinzipiell verschiedener Herkunft zu sein.


Wenn dieser Anschein der Wirklichkeit letztlich entspräche, wäre
allerdings so etwas wie philosophische Ethik gar nicht möglich. 6
An sein Ziel gelangen kann das in »Glück und Wohlwollen« unter-
nommene Projekt nur, wenn eine gemeinsame Herkunft der zunächst
antagonistisch erscheinenden Lebensimpulse erweisbar ist und die
Idee der sittlichen Verantwortung sich in das Streben nach εὐδαιμο-
νία integrieren lässt.
Bereits im Vorwort stellt Spaemann die Vorzeichen heraus, un-
ter denen sein gesamter »Versuch über Ethik« zu sehen ist. Diese
Vorzeichen betreffen eine bestimmte Perspektivierung des Gegen-
standes der Untersuchungen, die auf den Einheitspunkt von theoreti-
scher und praktischer Philosophie zielt und ihren lapidaren Ausdruck
in der Feststellung findet: »Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik«. 7 Es
ist wichtig, sich schon zu Beginn der Beschäftigung mit den wichtigs-
ten Gedankenlinien von »Glück und Wohlwollen« klarzumachen, um
welche Art von Perspektivierung es hier geht, da sie das formale Prin-
zip der gesamten Gedankenführung darstellt. Ausgangspunkt der
Reflexion in der praktischen Philosophie ist eine bestimmte Weise
subjektiver Wirklichkeitswahrnehmung, der eine objektive Geltung
zugestanden wird und die Spaemann »Wahrnehmungsevidenz« 8
nennt. Da es hier um keine Vergegenständlichung der Wirklichkeit
aus subjektiver Perspektive geht, wird der theoretische Zweifel an
dieser Evidenz von vornherein ausgeschlossen. Als »Basis aller Ethik«
erscheint die »Evidenz der Wirklichkeit des Anderen« 9, die eine »Ver-
pflichtung ihm gegenüber« 10 hervorbringt:
Und die Erfahrung dieser Verpflichtung ist letzten Endes nichts ande-
res als jene Wirklichkeitserfahrung. Denn diese wiederum ist nichts
rein Theoretisches. Rein theoretisch haben wir nur qualitative Erfah-
rung, nie die Erfahrung von Existenz, von Selbstsein, also von dem,
was gerade per definitionem nicht Gegenstand ist. 11

6 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 94.


7 Ebd. 11. – Diese Aussage wird im Rahmen von »Glück und Wohlwollen« mehrfach
wiederholt. Vgl. ebd. 132 u. 150.
8 Ebd. 132.

9
Ebd.
10 Ebd. 150.

11
Ebd. 150–151.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Mit der Setzung dieses Ausgangspunktes ist eine wesentliche Vorent-


scheidung getroffen, insofern der zentrale Grundgedanke der in
Kapitel 6 entfalteten metaphysischen Konzeption Spaemanns – die
Anerkennung von Selbstsein als Repräsentation des Absoluten 12 –
als nicht begründungspflichtig unterstellt wird, obwohl dort doch
von ihm selbst betont worden ist, dass es eines Sprunges bedarf, um
zu ihm zu gelangen. In »Glück und Wohlwollen« nun wird für ihn
eine unmittelbare Evidenz in Anspruch genommen, die jeder Forde-
rung nach einem Beweis übergeordnet ist. Dieser bemerkenswerte
Sachverhalt bedarf hier einer näheren Betrachtung. In seiner »Auto-
biographie in Gesprächen« antwortete Spaemann auf die Frage, ob
»metaphysische Überzeugungen beweisbar« sind: »Nicht beweisbar,
aber begründbar, so wie das Widerspruchsprinzip nicht beweisbar ist,
weil jeder Beweis es voraussetzt. Aber eben deshalb ist es wohl be-
gründet.« 13 Worin, so ist also zu fragen, besteht die Begründung für
diesen in »Glück und Wohlwollen« gewählten Ausgangspunkt seiner
Untersuchungen? Letzte Instanz für die unmittelbare Evidenz, auf
die Spaemann sich bei dieser Wahl beruft, ist das Gewissen:
Die theoretisch unentscheidbare Frage nach dem, was »in Wahrheit
ist«, wird an jenem Punkt entschieden, wo theoretische und praktische
Philosophie, wo Metaphysik und Ethik ursprünglich eins sind, im Ge-
wissen. Ich darf den Anderen nicht als bloße »Erscheinung« betrach-
ten, wenn ich mir des Anspruchs bewußt werde, der von seiner Wirk-
lichkeit ausgeht, und ich darf mich selbst nicht als bloße Erscheinung
betrachten, wenn ich mich als Adressat dieses Anspruchs erfahre. 14
Denselben »Horizont des Unbedingten« 15, den das Wort ›sein‹ er-
öffnet – »insofern es gerade nicht meint: Gegenständlichkeit, Sein-
für, sondern Selbstsein, das aller Objektivität zugrundeliegt« 16 –, er-
öffnet das Wort ›gut‹ – »insofern es gerade nicht meint ›gut für‹ und
damit der Reflexion erlaubt, die weitere Frage zu stellen, ob es denn
gut sei, daß das geschehe, was für diesen oder jenen gut ist« 17. Der
innere Zusammenhang der Worte ›sein‹ und ›gut‹ in ihrer unbeding-

12 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 393–396.
13 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 282.

14 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194.

15
Ebd. 112.
16 Ebd.

17
Ebd.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

ten Bedeutung – und damit der Einheitspunkt von Ethik und Meta-
physik – ist in der Evidenz der Wahrnehmung fundiert, womit eine
bestimmte Perspektivierung ihres Gegenstandes zum Prinzip der
praktischen Philosophie wird: »Nur wo Seiendes als unbezüglich, als
Selbstsein wahrgenommen wird, gewinnt der unbezügliche Gebrauch
des Wortes ›gut‹ seinen Sinn.« 18 Diese erste Beobachtung, dass in
einem publizierten und damit auf den philosophischen Diskurs aus-
gerichteten Werk über Ethik die argumentative Letztbegründung

18
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 112–113. – Vgl. dazu E. Levinas’ Kon-
zept der ›Exteriorität‹ : »Weil es Gegenwart der Exteriorität ist, wird das Antlitz nie-
mals Bild oder Intuition. Alle Intuition hängt ab von der Bedeutung, die nicht auf die
Intuition zurückgeführt werden kann. Diese Bedeutung kommt von weiter als die
Intuition, und sie allein kommt von weit her. Die Bedeutung, die nicht auf Intuitionen
zurückgeführt werden kann, hat ihr Maß am Begehren, an der Moral und an der Güte
– sie ist eine unendliche Forderung, die an mich gerichtet ist, oder Begehren des
Anderen oder Beziehung mit dem Unendlichen.« – Levinas, Totalität und Unendlich-
keit, 431. – Ungeachtet der im Gedanken der Wahrnehmungsevidenz anklingenden
Nähe Spaemanns zu Levinas’ Begriff der ›Exteriorität‹ zeigt sich in dem von Spae-
mann behaupteten Zusammenhang von Ethik und Metaphysik, die bei ihm ganz im
Gegensatz zu Levinas ein Synonym für Ontologie ist – vgl. Spaemann, Glück und
Wohlwollen (1989), 11 – zugleich das Trennende zwischen beiden Denkern. Im Vor-
wort zur zweiten Auflage von »Reflexion und Spontaneität« aus dem Jahre 1990 stellt
Spaemann einen Zusammenhang zwischen dem Denken Levinas’ und dem amour-
pur-Streit her: »Inzwischen fordert Emmanuel Levinas mit einer jüdischen Variante
des amour pur systemtheoretische Ontologie, naturalistische Philosophie des Geistes
und die im Begriff der Sorge kulminierende Daseinsanalyse heraus. Seine These von
der theoretischen Uneinholbarkeit des Anderen und vom radikalen Primat der Ethik
vor der Ontologie setzt in kritischer Absicht das gleiche Paradigma der Selbstbehaup-
tung voraus, von dem nun gesagt wird, es liege aller europäischen Ontologie zugrun-
de. Wenn es sich so verhält, dann wäre es in der Tat besser, die Wahrheit au-delà de
l’être zu suchen. Mein Vorschlag, die Prämisse in Frage zu stellen und den Gedanken
der Teleologie auf anfänglichere, nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken, ist bisher
überwiegend auf höfliche Skepsis gestoßen. Ich sehe zwar nicht, wie ohne einen sol-
chen Neuanfang die Dialektik der zwei Kulturen, die eskalierende Dialektik von Na-
turalismus und Spiritualismus zum Stehen gebracht werden kann, die die Humanität
unserer Zivilisation in der Tiefe bedroht. Aber noch übertrifft offenbar der Schrecken
vor den theoretischen und praktischen Folgelasten einer solchen Revision die Sorge
vor dem, was von selbst geschieht, wenn weiter gedacht wird wie bisher.« – Spae-
mann, Reflexion und Spontaneität (1963), 13–14. – Spaemann versteht Levinas’ Kon-
zept der ›Exteriorität‹ selbst noch als dialektische Gegenbewegung gegen das durch die
Invertierung der Teleologie freigesetzte ›Paradigma der Selbstbehauptung‹. Indem
Spaemann die Prämisse der Entteleologisierung in Frage stellt, geht er hinter den
Gegensatz von ›Selbstbehauptung‹ und ›Exteriorität‹ zurück und kann im Gegensatz
zu Levinas in der Wahrnehmung des Anderen gerade den weiterhin unverlorenen
Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik bzw. Ontologie sehen.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

durch den Verweis auf eine Wahrnehmungsevidenz als Prinzip der


praktischen Philosophie ersetzt ist, führt dicht an den fundamentalen
Ansatz von »Glück und Wohlwollen« heran, dessen Bedeutung noch
klarer wird, wenn man ihn vor dem Hintergrund der ihn vorbereiten-
den philosophischen Entwicklung Spaemanns in den 80er Jahren be-
trachtet.
Zweierlei fällt bei einer solchen Betrachtung auf. Insofern die
metaphysische Konzeption Spaemanns in seinen Essays der 80er
Jahre in den Begriffen der Anerkennung und der Repräsentation kul-
minierte, durch die ein ontologischer, wesentlich aus der Natur-
teleologie entwickelter Gedanke erst in einem intersubjektiven Be-
gegnungsgeschehen seine volle praktische Bedeutung erlangte, 19 war
die untrennbare Verbindung von Metaphysik und Ethik implizit auch
dort schon mitgedacht. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden
Abschnitten der Entfaltung seines Denkens liegt dagegen darin, dass
Spaemann erst in »Glück und Wohlwollen« diese Verbindung aus-
drücklich reflektiert und sie zum Ausgangspunkt und zur gedank-
lichen Klammer seines gesamten »Versuchs über Ethik« macht. In
diesem Nexus drückt sich gegenüber den vorangegangenen Essays
eine veränderte Zielsetzung Spaemanns aus. Ein wesentliches Ergeb-
nis der Untersuchungen im vorangegangenen sechsten Kapitel be-
stand darin, dass sowohl im Bereich der theoretischen als auch in
dem der praktischen Philosophie jeweils die Notwendigkeit eines
Sprungs konstatiert wurde, um in jener von der genetischen zur gel-
tungstheoretischen Betrachtungsweise, um in dieser vom selfish sys-
tem zum amor benevolentiae zu gelangen. Zum Abschluss des sechs-
ten Kapitels wurde die Aufmerksamkeit auf die in dieser Parallele
erkennbare Differenz gelenkt. Während im Bereich der theoretischen
Philosophie der Gedanke der Anerkennung zunächst ein negativer
ist, der gerade in einem Verzicht auf Erkenntnis besteht und zu po-
sitiven Aussagen nur über den analogen Begriff des Lebens gelangt,
weswegen hier der prinzipielle Einwand, dass dieser Gedanke nicht
auf einer clara et distincta perceptio aufbaut und nach einem Sprung
verlangt, immer möglich bleibt, kann im Bereich der praktischen Phi-
losophie eine unmittelbare Evidenz geltend gemacht werden, für die
zwar auch keine Beweisbarkeit in Anspruch genommen werden kann,
die sich aber gegenüber der Beweisforderung dadurch immunisiert,

19Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 393–396.

420

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

dass sie sich auf die Fundierung des die Beweisforderung einschlie-
ßenden Denkens in einer vorgängigen Wahrnehmungsevidenz be-
ruft. Im Bereich der praktischen Philosophie ist damit die prinzipielle
Möglichkeit einer das diskursive Denken selbst noch einmal begrün-
denden Argumentation denkbar. Dies allein ist noch nichts anderes
als das, was sich bereits im kantischen Dualismus einer auf ihre Gren-
zen reflektierenden theoretischen und einer im sittlichen Gebot das
Unbedingte denkenden praktischen Vernunft gezeigt hatte. Dem-
gegenüber ist es der entscheidende Schritt, den Spaemann mit »Glück
und Wohlwollen« gehen will, dass er in seiner spezifischen Perspek-
tivierung die Identität von theoretischer und praktischer Philosophie
zu denken versucht, wodurch die theoretische Aporie in eins mit dem
sittlichen Schlüsselproblem des Solipsismus überwunden wird. Die
wahrgenommene Evidenz von Selbstsein wird nicht nur zum Aus-
gangspunkt der praktischen Philosophie, sondern durch sie vermittelt
auch zu einer Position der theoretischen Philosophie, indem der Ge-
danke des Sprungs zurückgewiesen, der Spieß umgedreht und die den
Sprung erst nötig machende Beweisforderung aus dieser Perspektive
suspendiert wird. Wesentlich für diesen Ansatz ist die durchgängig
einheitliche perspektivische Ausrichtung aller gedanklichen Linien
auf die Wahrnehmungsevidenz. Diese ist gewissermaßen der Nukleus
aller Gedanken sowohl der theoretischen als auch der praktischen
Philosophie: »Ethik geht so wenig der Ontologie als erste Philosophie
vorauf wie diese jener. Ontologie und Ethik werden durch die Intui-
tion des Seins als Selbstsein – des eigenen ebenso wie des andern –
uno actu konstituiert.« 20 Um im Folgenden gemäß dieser veränderten
Zielsetzung Spaemanns die zentralen Gedankenlinien von »Glück
und Wohlwollen« nachvollziehen zu können, müssen daher mit der
ethischen Konzeption des als Aktualisierung des Eudämonismus ver-
standenen Wohlwollens auch die von ihr nicht abtrennbaren onto-
logischen Implikationen beleuchtet werden. Letztlich geht es damit
um die Prüfung der Leistungsfähigkeit dieses auf den Einheitspunkt
von Ethik und Ontologie ausgerichteten Ansatzes und um die Refle-
xion auf seine Grenzen.
Abschließend sei nun ein Ausblick gegeben auf die hier gewählte
Struktur, mit der die für den Zusammenhang dieser Arbeit wesent-
lichen Gedankenlinien aus »Glück und Wohlwollen« dargelegt wer-
den sollen. Die Untersuchung teilt sich zunächst in zwei Hauptteile,

20
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

wobei die ethische Fragen thematisierende Schwerpunktsetzung des


ersten gegenüber einer stärker ontologisch bzw. metaphysisch orien-
tierten des zweiten im Widerspruch zu stehen scheint zu der hier als
gedankliche Klammer ausgewiesenen Ausrichtung des gesamten
»Versuchs über Ethik« auf den Einheitspunkt von Ethik und Ontolo-
gie. Diese Strukturierung ist aber dadurch gerechtfertigt, dass sich in
»Glück und Wohlwollen« deutlich zwei Hauptzüge erkennen lassen,
die sich auch im Wesentlichen in der von Spaemann vorgenommenen
Gliederung seines Buches in zwei Teile widerspiegeln. Im Mittel-
punkt vor allen Dingen des ersten Teils steht eine auf den Begriff der
εὐδαιμονία hin ausgerichtete philosophiehistorische Untersuchung
ethischer Konzeptionen im Wesentlichen von Platon bis Kant. Im
ersten Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird diese Untersuchung
mit der dezidierten Konzentration auf die eingangs erwähnten anta-
gonistischen Antworten auf die Frage nach dem richtigen Leben – die
aristotelische und die kantische –, also im Hinblick auf Eudämonis-
mus und Pflichtethik als wesentliche Orientierungspunkte nachvoll-
zogen. Dabei kommt dieser philosophiehistorischen Untersuchung
nach der hier vorgelegten Interpretation die doppelte Aufgabe zu,
einerseits die im historischen Wandel und der Rezeption des εὐδαι-
μονία-Gedankens entstehenden Antinomien zu analysieren und zu
deuten, andererseits die als Reaktion auf diese Entwicklung ent-
standene Pflichtethik vor dem Hintergrund der klassischen Sicht der
εὐδαιμονία auf ihre Aporien hin zu untersuchen, wobei beide Linien
auf die Notwendigkeit einer Aktualisierung des Eudämonismus bzw.
auf seine Vermittlung mit der Pflichtethik hinauslaufen. Der andere
Hauptzug von »Glück und Wohlwollen«, der vor allen Dingen im
zweiten Teil hervortritt, unterscheidet sich vom ersten dadurch, dass
er weit weniger philosophiehistorisch orientiert ist, sondern wesent-
lich in Fortführung der zunächst in »Natürliche Ziele« und danach in
den Essays der 80er Jahre entfalteten metaphysischen Konzeption
diese als möglichen Ansatz zur Entwicklung der gesuchten Vermitt-
lung von Eudämonismus und Pflichtethik durchdenkt. Im zweiten
Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird daher in Anknüpfung an
wesentliche Ergebnisse des fünften und sechsten Kapitels die Weiter-
entwicklung von Spaemanns metaphysischer Konzeption anhand
einer neuen Untersuchung des Verhältnisses von bloßer Lebendigkeit
und bewusstem Leben dargelegt. Der wesentliche neue Beitrag von
»Glück und Wohlwollen« in diesem Zusammenhang wird anhand der
Konzeption des Wohlwollens entwickelt, deren zentrale Bedeutung

422

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

für die praktische Philosophie Spaemanns durch die skizzierte Per-


spektivik seines »Versuchs über Ethik« umschlägt in eine ontologi-
sche. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit steht gleichwohl die von
ihrem ontologischen Aspekt nicht trennbare Frage, wie das Wohl-
wollen im Rahmen der praktischen Philosophie als neuzeitliche
Aktualisierung des antiken Eudämonismus verstanden werden kann.
Nachdem diese beiden Hauptteile die für den hier verfolgten Zusam-
menhang wesentlichen Gedankenlinien von Spaemanns »Versuch
über Ethik« dargelegt haben, widmet sich der dritte Teil einer ab-
schließenden Betrachtung des spezifisch ethischen und des spezifisch
ontologischen Beitrags von »Glück und Wohlwollen«. Zunächst wird
nach der Bedeutung dieses »Versuchs über Ethik« nun ganz konkret
im Rahmen des ethischen Diskurses der Gegenwart gefragt, wobei
sein Verhältnis zum Utilitarismus und zur Diskursethik eine Rolle
spielen wird. Zum anderen wird der metaphysische Gehalt von
»Glück und Wohlwollen« auf seine Grenzen hin reflektiert, indem
zum einen Textstellen thematisiert werden, an denen der Autor selbst
Fragen stellt, die über den Rahmen des Buches hinausweisen, und
zum anderen die Aufmerksamkeit auf das gewissermaßen unter-
bestimmt erscheinende Verhältnis von antiker und neuzeitlicher
Philosophie gelenkt wird. Diese Überlegungen sollen den Horizont
eröffnen für mögliche Weiterentwicklungen über den Rahmen dieses
Kapitels hinaus.

423

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7.1 Eudämonismus und Pflichtethik

Der Nachvollzug der philosophiehistorischen Untersuchung vor allen


Dingen im ersten Teil von »Glück und Wohlwollen« erfolgt in drei
Schritten. Im ersten Schritt geht es um den zentralen Begriff der
εὐδαιμονία, zu dem zunächst der Weg gebahnt werden muss durch
eine Problematisierung des Begriffs der Handlung: eine Unterschei-
dung mehrerer Bedeutungen dieses Begriffs und die Ausweisung des
in diesem Kontext zentralen Sinnes von Handlung. Darauf aufbau-
end werden die wesentlichen eudämonistischen Thesen dargestellt
und deren phänomenale Grundlagen expliziert. Die Problematisie-
rung des Begriffs der εὐδαιμονία erfolgt anschließend anhand der
mit ihm seit antiker Zeit verbundenen Missverständnisse, die, wie
gezeigt wird, auch mit der neuzeitlichen Distanzierung von ihm zu-
sammenhängen. Vor diesem Hintergrund wird versucht, den forma-
lisierten Allgemeinbegriff der εὐδαιμονία durch ein Gleichnis zu
konkretisieren, wobei die Potentiale und Grenzen dieses Versuchs an-
hand der möglichen Übersetzungen des Begriffs verdeutlicht werden
(7.1.1). Im zweiten Schritt geht es um die beiden entscheidenden klas-
sischen Ausprägungen des Begriffs der εὐδαιμονία, die platonische
und die aristotelische. Im Zusammenhang mit der ersten wird der
Begriff des platonischen Intellektualismus expliziert und gezeigt, dass
er nur bedingt geeignet ist, um die Position Platons zu charakterisie-
ren. Eine Problematisierung des ekstatischen Charakters der plato-
nischen Philosophie leitet über zur dezidierten Gegenposition des
Aristoteles, die anhand der Unterscheidung verschiedener Begriffe
der εὐδαιμονία zu einer Hermeneutik des Gelingens führt, in deren
Mittelpunkt die Wirklichkeit der Polis steht. Die aristotelische Ethik
wird als Kompromiss zwischen der radikalen Position Platons und der
menschlichen Normalität gedeutet, durch die wesentliche Aspekte
der von Spaemann verfolgten Konzeption des Wohlwollens vorberei-
tet werden (7.1.2). Ausgehend von einer als Ringen um eine mögliche
Verortung des gelingenden Lebens verstandenen Geschichte der ethi-
schen Reflexion in der Antike wird im dritten Schritt die durch den
christlichen Einfluss verursachte »kopernikanische Wende des Eu-
dämonismus« 1 thematisiert, als deren philosophische Konsequenz

1
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 85.

424

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7.1.1 Εὐδαιμονία

schließlich die Pflichtethik kantischer Prägung zu betrachten ist. Zur


Erhellung dieses Übergangs werden vielfältige Bezüge zu älteren
Überlegungen Spaemanns hergestellt, die in »Glück und Wohlwol-
len« weitgehend implizit bleiben, für das Verständnis der Zusam-
menhänge aber von Bedeutung sind. Abschließend wird das mit der
kantischen Pflichtethik bezeichnete Auseinandertreten von Moral
und Eudämonie anhand der Folgerungen problematisiert, die im
19. Jahrhundert aus ihm gezogen wurden, und die bleibende Aktuali-
tät der eudämonistischen Reflexionsform unterstrichen (7.1.3).

7.1.1 Εὐδαιμονία

Von Ethik überhaupt zu sprechen ist nur sinnvoll, wenn es Handeln


gibt, das heißt, wenn »Handeln das ist, wofür der Handelnde es hält:
die bewußte und willentliche Realisierung einer Absicht« und wenn
»derjenige, der eine Handlung unter dem Aspekt ihres immanenten,
also subjektiven Sinnes beurteilt, sie unter dem für sie wesentlichen
Gesichtspunkt beurteilt« 2:
Die moralische Beurteilung der Handlung bezieht sich auf den sub-
jektiven Handlungssinn, das heißt auf das, was die Handlung zur
Handlung macht. Sie betrachtet diesen Sinn als autonom, als solchen,
der zu seinem Verständnis und zu seiner Würdigung keines weiteren
Kontextes bedarf. Diese Autonomie des Handlungssinnes ist nur ein
anderes Wort für das, was wir Freiheit nennen. Ist Autonomie des
Handlungssinnes eine Illusion, so ist Freiheit es auch. Denn frei han-
deln heißt wissen, was man tut und warum man es tut. 3
Dass dieses »Selbstverständnis des Handelns […] heute auf eine
Weise gefährdet« ist, »die in der bisherigen Geschichte ohne Beispiel
ist« 4, führt Spaemann auf den praktischen Grund akkumulierter Fol-
gen individueller Handlungen im technischen Zeitalter und auf den
theoretischen Grund der funktionalistischen Deutung unseres Han-
delns durch die Wissenschaften zurück. 5 »Der erste, der sich diesem
Problem des Gegensatzes von wissenschaftlicher Weltanschauung

2 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 186.


3
Ebd.
4 Ebd. 190.
5
Vgl. ebd. 190–192.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

und Selbstinterpretation des Handelnden gestellt hat, war Kant.« 6


Dieser »glaubte im Unterschied zur gesamten vorkantischen Tradi-
tion, den gefährdeten Handlungs- bzw. Freiheitsbegriff nur noch
durch die sittliche Erfahrung retten zu können« 7, also durch die Prü-
fung der Handlung auf ihre Konformität mit dem moralischen Ge-
setz. Die Problematik dieses kantischen Verständnisses der prakti-
schen Vernunft wird an späterer Stelle thematisiert; zunächst
kommt es darauf an zu sehen, dass die Rede vom Handeln keine von
außen kommende Relativierung erlaubt, sondern eine konstitutive
Unbedingtheit einschließt:
In jeder Handlung, die ihrem Begriff entspricht, beziehen wir uns auf
das Ganze der Wirklichkeit. Nur partieller Sinn ist in der Tat nur der
Schein von Sinn. Handlung ist daher nur dann, was ihr Begriff meint
und als was der Handelnde sie versteht, wenn Verstehbarkeit, Intelli-
gibilität die umfassende Struktur der Wirklichkeit ist, wenn also der
Satz wahr ist: »Im Anfang war der Logos«. 8
Erst unter dieser Voraussetzung wird es möglich, in Bezug auf Hand-
lungen von Irrtümern bzw. Fehlern zu reden und verschiedene Be-
deutungen von Handlung und des sie konstituierenden Handlungs-
zwecks zu unterscheiden:
Wir haben es nun also mit drei Bedeutungsstufen dieser Worte und
damit auch des Begriffes »Fehler« zu tun: 1. dem »objektiven«, sozio-
kulturell vorgeprägten Handlungsziel – dem finis operis, 2. dem sub-
jektiven Ziel des Handelnden – dem finis operantis und 3. dem objek-
tiv-subjektiven Ziel, dem Gelingen des Lebens. 9
Die erste Bedeutungsstufe zielt auf zweckrationales Handeln, das im
Sinne des aristotelischen Begriffs der ποίησις 10 auf das Machen, die
Herstellung von etwas zu einem bestimmten Zweck zielt. Hier ist die
Bedingung des Handelns ein bestimmtes Können und das Nicht-
erreichen des intendierten Zwecks ein Fehler. »Reines Machen ist in-
dessen eine Abstraktion«, da in Wirklichkeit »jede poiesis eingebettet
[ist] in eine praxis, jedes Machen in einen Lebenszusammenhang« 11.

6 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 193.


7 Ebd. 198.
8 Ebd. 196–197.

9
Ebd. 19.
10 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1140 a 1.

11
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 223.

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7.1.1 Εὐδαιμονία

Das subjektive Ziel des Handelnden als zweite Bedeutungsstufe be-


zeichnet die »im engeren Sinne moralische Dimension« des Rich-
tigen, die »Dimension des verantwortlichen Umgangs mit der Wirk-
lichkeit« 12. Formal betrachtet kann diese in einem bloßen Unterlaufen
einer äußeren Zwecksetzung bestehen: »Der, der etwas absichtlich
schlecht macht, erreicht nämlich in der Verfehlung des objektiven
Zweckes gerade seinen subjektiven Zweck.« 13 Inhaltlich wird diese
Dimension des Handelns bestimmt durch den »Umgang mit anderem
Lebendigen«:
Umgang nennen wir die Weise des Handelns, in der der Handelnde
sich nicht allein Zweck ist und Zwecke setzt oder verfolgt, sondern in
einem Wechselverhältnis mit Anderem steht, das in diesem Verhältnis
sich in seiner eigenen Teleologie entfaltet und so als es selbst erscheint.
Der Umgang enthüllt das, womit wir umgehen. 14
Ein Fehler auf dieser Stufe bedeutet, dem Anspruch eines Lebendi-
gen, mit dem wir umgehen, nicht gerecht zu werden. Nun kann auf
der dritten Bedeutungsstufe Handeln im Sinne von πρᾶξις noch ein-
mal integriert werden in einen übergeordneten Zusammenhang und
gefragt werden, inwiefern es zum Gelingen des Lebens als Ganzen
beiträgt: »Der gute Techniker, der eine Bombe absichtlich schlecht
macht, kann eben deshalb in diesem dritten Sinne besser sein und
der gute Mediziner, der absichtlich krank macht, in diesem Sinne
schlechter, nämlich als ›Arzt‹.« 15 In dieser dritten Bedeutung – der
objektiv-subjektiven, wie Spaemann sagt – geht es im Unterschied
zu den ersten beiden nicht um die bewusste Zielsetzung, sondern
um das,
was alle Ziele eines Menschen zu einem Ganzen integriert. Dieses Ziel
ist das »des Menschen, insofern er Mensch und insofern er sittlich
ist«. Im Unterschied zu den partikularen Zielen ist es nicht »gesetzt«,
nicht »ausgedacht«, sondern immer schon vorgefunden als das unser
Dasein konstituierende Um-willen, die eudaimonia. Dieses Ziel kann
gar nicht absichtlich verfehlt werden. 16

12 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 223.


13 Ebd. 20.
14
Ebd. 224–225.
15 Ebd. 20.
16
Ebd. 20–21.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Wohl aber ist es möglich, dass der Mensch sich irrt in Bezug auf
dieses immer schon vorgefundene Umwillen 17 und dass seine subjek-
tiven Handlungsziele zu ihm in einen Gegensatz treten. Bevor diese
Problematik weiterverfolgt werden kann, muss nun der Begriff, mit
dem in der antiken Philosophie dieses Umwillen bezeichnet wurde, in
seiner Bedeutung entfaltet werden: εὐδαιμονία.
Eudämonistische Ethiken sind im allgemeinen Verständnis sol-
che, die in der Glückseligkeit das Ziel des menschlichen Handelns
bzw. im Streben nach Glückseligkeit den Grund der Sittlichkeit
sehen. Der Gedanke lässt sich folgendermaßen konkretisieren:
»Alle Menschen möchten glücklich sein.« In diesem Satz drückt sich
die gemeinsame Überzeugung aus, auf der alle antiken Lehren vom
richtigen Leben beruhen, wie unterschieden sie im übrigen auch sein
mögen. Alle Menschen wollen, daß ihr Leben gelingt. Weiter geht die
zweite These, daß alle Menschen alles, was sie sonst wollen, letzten
Endes um dieses Zieles willen wollen. Die dritte, im engeren Sinne
»eudämonistische« These besagt dann, daß die Richtigkeit und Ver-
kehrtheit menschlicher Handlungen sich letzten Endes danach beur-
teilt, ob sie geeignet sind, dieses Ziel zu fördern oder nicht. 18
Als Grundgedanke des Eudämonismus kann man also zunächst he-
rausstellen, dass es eine hierarchische Überordnung eines Lebens-
zieles über partikulare Ziele gibt und dass diese sich nur am Maßstab
von jenem beurteilen lassen. Spaemann weist auf die mit diesem
Grundgedanken bereits gesetzten Implikationen hin:
Er impliziert erstens, daß Leben überhaupt so etwas wie ein Ganzes
sein kann oder daß es zumindest darum geht, es als ein solches Ganzes
begreifen zu können. Er impliziert zweitens, daß das Verkehrte im
moralischen, das heißt auf das »gemeinsame Ziel des ganzen mensch-
lichen Lebens« bezogenen Sinn auf Mangel an Einsicht in die Bedin-
gungen des Gelingens beruht. […] Die dritte Implikation schließlich
ist, so scheint es, daß im moralischen Sinne schlechte Handlungen
»falsche Handlungen« sind, also gar keine wirklichen Handlungen,
weil wir mit ihnen nicht das tun, was wir tun wollen. 19

17 Spaemann benutzt in verschiedenen Texten im freien Wechsel die Schreibweisen


›Um-willen‹ und ›Umwillen‹. Hier wird, außer in Zitationen, durchgängig die
Schreibweise ›Umwillen‹ benutzt.
18 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 32.

19
Ebd. 22.

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7.1.1 Εὐδαιμονία

Diese dritte Implikation, die bereits ein wesentliches Gegenargument


gegen den Eudämonismus vorbereitet, würde zu der problematischen
Konsequenz führen, dass es die »besondere Art der Verkehrtheit oder
Schlechtigkeit, die wir ›böse‹ nennen« 20, nicht gäbe. Spaemann geht
es in seinem »Versuch über Ethik« um beides: zu zeigen, wie diese
Konsequenz die klassische antike Sicht verfehlt, 21 und zugleich zu
untersuchen, durch welche veränderten Vorzeichen diese dritte Im-
plikation zu einem Verdikt des Eudämonismus führen konnte. 22 Vor
einer Auseinandersetzung mit Einwänden gegen den Eudämonismus
soll es zunächst um eine positive Ausleuchtung des Begriffs εὐδαιμο-
νία gehen, indem dessen »phänomenale Grundlage« 23 vergegenwär-
tigt wird: »Es ist die häufig erfahrbare Tatsache, daß sich, wenn wir
etwas Gewolltes erreicht haben, das Gefühl einstellt, wir hätten das,
was wir eigentlich wollten, doch nicht erreicht.« 24 Diese Grund-
tatsache kann in ganz verschiedenen Gestalten auftreten. Das
Gewollte kann sich als Mittel zu einem weiterführenden Zweck als
ungeeignet erweisen, so dass wir einen Fehler in der Mittelwahl be-
gangen haben. Oder das Gewollte kann als unbedingter Zweck ver-
folgt werden, wobei man versäumt, »das Ziel in seiner Relativität zu
sehen« 25, was erst im Erreichen nachgeholt wird. Auch »kann es ge-
schehen, daß das Ziel erst, wenn es erreicht ist, sich in seinem wahren
Wesen enthüllt« 26. Das Gemeinsame all dieser Erfahrungen ist »das
Phänomen der Relativierung unserer Handlungsziele durch ein um-
greifendes Wozu« 27, durch das sich ein Horizont unserer möglichen
Handlungen eröffnet, der »unsere konkreten Einzelziele umgreift« 28
und in der antiken Sicht als εὐδαιμονία bezeichnet wurde: »Im Ge-
danken gelingenden Lebens konstituieren wir ein umfassendes Ziel,
das es uns ermöglicht, gegenüber unseren verschiedenen Handlungs-

20 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 22.


21
Vgl. die Problematisierung des sogenannten ›platonischen Intellektualismus‹ in
Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss,
435–445.
22 Vgl. die Unterscheidung von zwei Begriffen des Wollens im Kontext der deonto-

logischen Ethik in Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und


Pflichtethik, 451–452.
23 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 32.

24 Ebd. 33.

25 Ebd.

26
Ebd. 34.
27 Ebd. 35.

28
Ebd.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

zielen die Freiheit der Disposition zu behaupten.« 29 Da die Ent-


deckung dieses Horizontes aber bereits in der Antike von verschie-
denen Missverständnissen begleitet war, sollen diese nun vor einer
weiteren Klärung der Frage, welche konkrete Bedeutung er für den
Handelnden haben kann, betrachtet werden.
Spaemann erörtert drei mit dem Gedanken der εὐδαιμονία zu-
sammenhängende Missverständnisse, die eng beieinander liegen. 30
Zwei von ihnen stehen in einem spiegelbildlichen Verhältnis zu-
einander, während das dritte als deren Fundierung verstanden werden
kann. Das erste Missverständnis ist vor dem Hintergrund der Tat-
sache zu sehen, dass Zwecke stets eine Selektion vornehmen: »Ein
physisches Geschehen ist erst dadurch eine Handlung, daß aus der
komplexen Folgenkette ein Ereignis oder wenige Ereignisse als
Zwecke hervorgehoben oder ausdrücklich gewollt, alle anderen Fol-
gen aber zu Mitteln, Kosten oder Nebenwirkungen herabgesetzt wer-
den.« 31 Da die εὐδαιμονία als gelingendes Leben das alle Mittel, Kos-
ten und Nebenwirkungen integrierende »übergreifende Maß« und
damit inkommensurabel ist, kann sie nicht in diesem Sinn als Hand-
lungszweck verstanden werden. »Denn es fehlt hier offensichtlich die
selektive Funktion des Zwecks.« 32 Das Missverständnis, um das es
hier geht, besteht gewissermaßen in der »Verkennung des Unter-
schieds zwischen eudaimonia und Geschäftsgewinn« 33: Für den
Geschäftsmann ist dieser Gewinn ein Teil seines Lebens, das Gelingen
des Lebens aber kann für den Menschen nicht im gleichen Sinne noch
einmal Teil sein. Das spiegelbildlich dazu stehende zweite Missver-
ständnis ergibt sich aus einer Umkehr der Blickrichtung. Die konkre-
ten Handlungszwecke können »nicht zu bloßen Mitteln« 34 herab-
gesetzt werden, ohne den übergreifenden Zweck des Gelingens des
Lebens dadurch zu entwirklichen: »Es gibt keine Handlung, die nur

29
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35.
30 S. ebd. 35–41.
31
Ebd. 36.
32 Ebd. 37. – Der klassisch verstandene antike Eudämonismus klammert die Möglich-

keit einer egozentrischen Vorstellung vom Gelingen des Lebens aus. Vgl.: »[E]xterne
Kosten für das Gelingen des Lebens« könnte es nur als Kosten geben, »die andere zu
tragen haben in Gestalt einer Minderung ihres Lebens«. – Ebd. 38. – Dieser Einwand
zielt aber am Grundgedanken des Eudämonismus vorbei, dem es gerade darum geht,
»alle externen Kosten zu verinnerlichen und so den Begriff einer eudaimonia zu den-
ken, die als Inbegriff des Gelingens keinen Preis mehr hat«. – Ebd.
33 Ebd. 38.

34
Ebd.

430

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7.1.1 Εὐδαιμονία

durch die Absicht definiert wäre, das Leben gelingen zu lassen, ohne
irgendeine besondere partikulare Absicht.« 35 Das Missverständnis,
um das es hier geht, ist somit die »Instrumentalisierung der beson-
deren Inhalte des guten Lebens« 36. Demgegenüber ist es wichtig fest-
zuhalten,
daß die Inhalte des guten Lebens sich zu diesem nicht verhalten wie
bloße Mittel, sondern eher wie die Teile zu einem Ganzen. Im Zweck-
Mittel-Verhältnis ist der Zweck unabhängig von den Mitteln definier-
bar und bestimmt als solcher die Suche nach den Mitteln. Was ein
gelungenes Leben ist, wissen wir hingegen nicht unabhängig von den
Inhalten, die dieses Leben ausmachen. Diese Inhalte werden durch die
Hinordnung auf ein solches Ganzes nicht zu »Mitteln« funktionali-
siert und dadurch prinzipiell austauschbar gemacht. 37
Diese beiden Missverständnisse des Begriffs der εὐδαιμονία können
als fundiert verstanden werden im »Doppelsinn des Begriffes ›Ziel‹,
telos«, der im Rahmen dieser Arbeit zuerst bei der Betrachtung von
Platon und besonders Aristoteles in »Natürliche Ziele« thematisiert
wurde: 38 die Unterscheidung zwischen finis quo und finis cuius. Es
geht dabei um die fundamentale Unterscheidung zwischen vom Men-
schen gesetzten Zielen und vorgefundenen Zielen:
Bestimmte Handlungsziele verweisen zunächst auf fernere Ziele, um
derentwillen sie als Mittel gewollt werden. Aber auch wenn wir ein
letztes Ziel ins Auge fassen, bleibt immer noch die Differenz zwischen
diesem und demjenigen, »dem zuliebe« wir das Ziel zu erreichen wün-
schen. Wenn wir das Gelingen des eigenen Lebens wünschen, so
handelt es sich um ein äußeres Ziel. Wem aber, oder wem zuliebe
wünschen wir die Erreichung dieses Zieles? 39
Die Antwort des Aristoteles besteht, wie oben bereits gesehen, 40 in
der μέθεξις, der ›Teilnahme‹ am Göttlichen. Ein anderes Umwillen
des übergreifenden Zieles des gelingenden Lebens ist nicht denkbar,

35
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 38.
36 Ebd.
37 Ebd. 39.

38 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-

sion, 231–232; Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277; Abschnitt
5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 288–290, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphy-
sisch-analoge Denken, 376.
39
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 35.
40 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-

sion, 225–233.

431

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

was hier als erster Hinweis auf die religiöse Dimension der Frage nach
dem Gelingen des Lebens festgehalten werden sollte. 41 Die beiden zu-
erst erörterten Missverständnisse sind eine direkte Folge der Tat-
sache, dass der Gedanke des Gelingens des Lebens für den Menschen
nicht noch einmal operationalisierbar ist, was darin begründet ist,
dass es auf die Frage nach dem Umwillen dieses Gelingens keine an-
dere als eine im weitesten Sinne religiöse Antwort geben kann.
Das Erschließen der konkreten Bedeutung des mit dem Begriff
der εὐδαιμονία eröffneten Horizonts für den Handelnden wird also
dadurch erschwert, dass der begrifflichen Annäherung eine kaum
überwindbare Abstraktheit anhaftet: »Der ›Eudämonismus‹ nennt
nicht ein bestimmtes inhaltliches Um-willen des Lebens, sondern
stellt eine bestimmte Reflexionsform dar, aus der ein solches Um-
willen erst entspringt.« 42 Εὐδαιμονία ist ein »bestimmter, reflexiv
gewonnener Inbegriff, der alles Wünschbare in seiner Vielfalt zu
einer wünschbaren Ganzheit zusammenwachsen läßt« 43. Insofern
also der begrifflichen Annäherung an ihn offenbar Grenzen gesetzt
sind, wählt Spaemann zu seiner konkreteren Erhellung ein Verfah-
ren, das Verhältnis von Handlungen und Handlungszweck in einem
bestimmten Lebensbereich als Modell des Lebens im Ganzen zu ver-
stehen: »Aber das Gelingen des Lebens hat vielleicht etwas damit zu
tun, daß es uns gelingt, es als Ganzes nach Analogie eines Spiels zu
verstehen.« 44 Konkret denkt Spaemann dabei an das Schauspiel, in
dem »das Ganze von Handlung und Handlungszweck in Klammer
gesetzt und als dieses Ganze ›gezeigt‹« 45 wird. Die Handlung, die der
Schauspieler auf der Bühne zeigt, ist einerseits »konstituiert durch
ihren unmittelbaren Zweck«, andererseits aber ist »dieser Zweck
[…] nicht mehr ihr Grund. Grund ist vielmehr, daß sie gesehen wer-
den soll« 46. Das »tertium comparationis dieser Analogie von Leben
und Schauspiel« 47 besteht nach Spaemann nun darin, dass

41 In einem neuen Licht erscheinen wird dieser Zusammenhang im Rahmen von


Spaemanns Entwicklung des Begriffs Wohlwollen, s. Abschnitt 7.2.2, Amor bene-
volentiae, 467–479.
42 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 21.

43 Ebd. 28.

44 Ebd. 41.

45
Ebd. 42.
46 Ebd.

47
Ebd.

432

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7.1.1 Εὐδαιμονία

jede Handlung, wenn sie aufs Gelingen des Lebens als ein Ganzes be-
zogen und von daher beurteilt wird, von der unmittelbaren Fixierung
auf ihren Zweck abgelöst und mit diesem zusammen als Teil des Ge-
lingens von etwas anderem betrachtet wird, einmal des Spiels und ein-
mal des Lebens. Und dabei verlagert sich der Sinn der Handlung auf
sie selbst, auf ihr Stattfinden. Dies wird wichtiger als der unmittelbare
Zweck. Diese Verwandlung gilt in einem viel radikaleren Sinn für das
Leben als für das Theater. 48
Wie das Handeln des Schauspielers ist jedes menschliche Handeln,
das in seinem Bezug auf das Gelingen des Lebens betrachtet wird,
letztlich symbolisch. 49 Es ist nicht nur bloßes Handeln, sondern
immer zugleich auch ein rituelles: 50
Handlungen auf das Gelingen des Lebens als ganzes beziehen heißt,
sie genau das sein und bleiben zu lassen, was sie sind, und ihre intentio
recta nicht durch eine intentio obliqua, wie die des Zeigens im Theater
zu »entwirklichen«. Es wird ihnen vielmehr eine neue, höhere Dimen-
sion hinzugefügt, durch die die intentio recta relativiert wird, ohne
ihre Realität zu verlieren. Es kommt nicht mehr unbedingt auf die
Erreichung des handlungskonstituierenden Zweckes an, sondern auf
die richtige Handlung. Sie soll wirklich stattfinden, und nicht bloß
ihr Schein. Denn beim Gelingen des Lebens geht es um einen absolu-
ten Zuschauer, der durch keinen Schein zu täuschen ist. 51
Da diese Analogie von Leben und Schauspiel als die konkreteste Fas-
sung des antiken Begriffs der εὐδαιμονία gelten muss, die Spaemann
zu seiner Erhellung gibt, muss hier noch einmal gefragt werden, was
diese Fassung leistet bzw. welche Fragen sie offenlässt. Einerseits ist
dieses Gleichnis, wie man es mit einigem Recht nennen könnte, 52 so-
lange als tertium comparationis die Ablösung der jeweiligen Hand-

48 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 42.


49
Vgl. ebd. 142 u. 238, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung,
482–483.
50
Vgl.: »[…] jeder die sittliche Identität des Menschen begründende unmittelbare
Bezug des Handelns ist ein symbolischer. Daher ist alles sittliche Handeln ein rituel-
les, also nicht rein zweckrationales Handeln.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen
(1989), 142.
51 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 43.

52 Vgl. folgende Erläuterung des Begriffs Gleichnis: »poetische Veranschaulichung

eines Sachverhalts, Vorgangs, Gedankens durch Vergleichung eines analogen Vor-


gangs oder Zustands aus einem anderen, anschaulicheren, konkret-alltäglichen Le-
bensbereich, der sich […] nur in einem wesentlichen Punkt (tertium comparationis)
einleuchtend mit dem Gemeinten berührt, so daß Sachsphäre und Bildsphäre wech-

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

lungen von ihrer Fixierung auf Zwecke festgehalten wird, aussage-


kräftig, insofern anhand seiner sehr klar die oben dargelegten Miss-
verständnisse abgewiesen werden können; andererseits aber legt es
doch eine Übersetzung von Elementen der als Bildsphäre dienenden
Theaterwirklichkeit in die ihr entsprechende Sphäre der Lebenswirk-
lichkeit nahe, was zu fragwürdigen Konsequenzen führen würde.
Denn das Schielen im Lebensvollzug auf den absoluten Zuschauer
müsste ja doch die intentio recta der Handlungen entwirklichen. 53
Man müsste also erst ergänzen, dass, so wie der Schauspieler erst
vollkommen spielt, wenn er vergessen hat, dass er spielt, der Mensch
erst vollkommen lebt, wenn er den religiösen Lohngedanken über-
wunden hat; aber damit würde ja gerade die Pointe dieses Gleichnis-
ses wieder aufgegeben. Diese Überlegung weist auf das Problem hin,
das schon mit der von Spaemann gewählten Übersetzung des Begriffs
εὐδαιμονία als ›Gelingen des Lebens‹ erkauft ist, denn »in dieser
Übersetzung erscheint Leben wie eine objektiv zu lösende Auf-
gabe« 54, die durch die Außensicht auf das Leben entwirklicht zu wer-
den droht. Die umgekehrte Problematik wird durch die übliche Über-
setzung als ›Glückseligkeit‹ bezeichnet, die den Anschein erweckt,
dass »es bei der Einschätzung des Lebens eigentlich nur auf die sub-
jektive Perspektive des Einzelnen ankomme« 55. Beide Übersetzungen
und die in ihnen enthaltenen Deutungen leisten insofern nicht, was
sie sollen, und verfehlen den vollen Umfang ihres Gegenstands. Und
so schließt Spaemann das mit »Eudaimonia« überschriebene Kapitel
von »Glück und Wohlwollen« mit der Frage: »Was heißt eudai-
monia?« 56

selseitig die Bedeutung erhellen, die ausdeutend direkt hinzugefügt wird«. – Wilpert,
Sachwörterbuch der Literatur, s. v. Gleichnis.
53 Diese Problematik lag dem Streit zwischen Fénelon und Bossuet über den amour

pur zugrunde, insofern jeder eudämonistische Lohngedanke aus Fénelons Sicht die
reine Liebe zerstören müsste, welche Konsequenz Bossuet ebenso dezidiert ablehnte.
– Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–184.
54
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 44.
55 Ebd.

56
Ebd.

434

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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und
aristotelischer Kompromiss

Zwei Ausprägungen des antiken Eudämonismus haben für Spae-


manns eigenen Ansatz in der Ethik eine nachhaltige Bedeutung, die
platonische und die aristotelische, die daher im Folgenden näher be-
trachtet werden sollen. Die Annäherung an die platonische Ausprä-
gung kann über die Problematisierung der Verkehrtheit von Hand-
lungen erfolgen. Eine Handlung wird Fehler genannt, wenn mit ihr
das Ziel der Handlung nicht erreicht wird. Ihr liegt eine falsche An-
nahme oder eine falsche Mutmaßung über die Wirklichkeit, also ein
Irrtum zugrunde. Somit ergibt sich, dass die auf einer »falsche[n]
Erkenntnis« beruhende Handlung eine »falsche Handlung« ist, also
»etwas, was aussieht wie eine Handlung und auch als Handlung ge-
meint ist, in seinem Handlung-Sein aber mißlungen ist« 57. Dieses
Verständnis der Verkehrtheit von Handlungen liegt dem »sogenann-
ten ›Intellektualismus‹ der platonischen Philosophie« zugrunde,
»nach der alles schlechte Handeln auf Irrtum beruht, so daß niemand
freiwillig verkehrt handelt und also jede verkehrte Handlung den
Charakter des ›Fehlers‹ hat. Richtiges Handeln und wirkliches Han-
deln wären demnach ein und dasselbe.« 58 In dieser Denkweise kann
geradezu das Paradigma des Eudämonismus gesehen werden:
Voraussetzung dieses Gedankens ist, daß es so etwas wie eine äußerste
Handlungsintention gibt, ein letztes Um-willen all unseres Handelns,
daß dieses Um-willen nicht das Resultat einer Option ist, sondern
»von Natur« unser Aussein auf etwas bestimmt, daß wir uns indessen
über das Wissen um dieses Um-willen und über die Mittel zu seiner
Erreichung täuschen und deshalb etwas »Falsches« erstreben können.
[…] Das Falsche besteht darin, daß das, was wir für das letzte Um-
willen des Strebens halten, es im Grunde nicht ist. Damit aber geraten
wir in einen Widerspruch mit uns selbst. Wir wollen, was wir nicht
wollen. 59
Um Spaemanns Haltung zu Platon zu verstehen, ist es wichtig, die
Differenz zu sehen zwischen dem, »was an dieser klassischen Sicht
unaufgebbare Entdeckung ist« 60, und dem, was sie aus ihrer inneren

57 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 16.


58
Ebd.
59 Ebd. 16–17.
60
Ebd. 17.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Logik heraus ausblendet. Einerseits ist Spaemanns gesamter »Versuch


über Ethik« tief von einem platonischen Geist durchdrungen, dem er
beispielsweise in der Aussage Ausdruck verleiht: »Platons These, nie-
mand wisse das Gute, der es nicht wolle, trifft den Sachverhalt genau.
Amor oculus est.« 61 Andererseits weist er darauf hin, dass in Platons
Lehre kein Platz zu sein scheint für den Unterschied zwischen der
Verkehrtheit einer Handlung aus Mangel an Einsicht, also Irrtum,
und »anderen Formen der Verkehrtheit, wie Verirrung, Schuld, Ver-
brechen, Bosheit« 62. Es geht also um den Einwand, wonach eudämo-
nistische Ethiken das Böse im Menschen ausblenden und damit, wenn
sich dies bestätigt, offensichtlich zu kurz greifen. Nach Spaemann
trifft dieser Einwand Platon nur bedingt. Er bezieht sich in diesem
Zusammenhang auf den Dialog »Hippias Minor«, in dem Sokrates
im Gespräch mit dem Sophisten Hippias aus Elis über die homeri-
schen Gestalten Achill und Odysseus zunächst die These widerlegt,
wonach Achill der Wahrhaftige, Odysseus der Lügnerische sei, indem
er zeigt, dass das Lügen die Kenntnis der Wahrheit voraussetzt und
somit zwischen Achill und Odysseus kein Unterschied bestehe. Aus-
gehend von Hippias’ Zugeständnis führt Sokrates ihn über die Fest-
stellung, dass auch Achill zumindest unabsichtlich lüge, zu der pro-
vokativen These: »Eines guten Mannes Sache ist es also, absichtlich
Unrecht zu tun, eines schlechten aber, unabsichtlich« 63. Der absicht-
lich lügende Odysseus ist also besser als der unabsichtlich lügende
Achill. Sokrates spielt hier zum Zweck der Bloßstellung des ›weisen‹
Hippias mit der Äquivokation von ›gut‹ einerseits im technischen –
das absichtliche Verfehlen des Handlungszieles setzt das Wissen um
die Verkehrtheit der Handlung voraus –, andererseits im moralischen
Sinn – die Verkehrtheit der Handlung ist Folge eines Mangels an
Wissen. Dabei zielt Platon als Pointe des Dialogs auf die Erkenntnis,
dass, da ein absichtliches Verfehlen des Guten nach dem Grundsatz
seiner Lehre nicht möglich, sondern das Verfehlen des Guten immer
eine Folge von Nichtwissen ist, das sittlich Gute als das ›Schöne‹
(καλόν) sich nicht unterscheiden kann vom Guten als dem ›Zuträg-
lichen, Förderlichen, Erstrebenswerten‹ (ἀγαθόν), dass lediglich in
Bezug auf dieses ein Irrtum bestehen kann. Das absichtliche Verfeh-
len des Handlungszieles (Odysseus) kann also im Dienste des sittlich

61
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 151.
62 Ebd. 17.
63
Ebd. 18. – Vgl. Platon, Hippias Minor, 376 c.

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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss

Guten stehen, andererseits kann der Irrtum (Achill) durch Belehrung


überwunden und die Identität von ἀγαθόν und καλόν wiederher-
gestellt werden.
Platons Intention geht nun daraufhin, zu zeigen, daß das Schöne nicht
sekundär und aus irgendwelchen externen Gründen, sondern als es
selbst »gut« ist, das heißt in unserem wahren Interesse liegt, ja dieses
wahre Interesse definiert. Das Wort »gut« ist letzten Endes für Platon
nur so lange äquivok, wie dieses wahre und ursprüngliche Interesse
noch nicht zum wohlverstandenen Interesse geworden ist. Es dazu zu
machen, ist Sache der Philosophie. 64
Am Beispiel des »Hippias Minor« lässt sich nach Spaemann somit
zeigen, dass der Intellektualismus Platons »Theorie keineswegs hin-
länglich charakterisiert« 65. Dieser Begriff enthält immer eine »pejo-
rative Konnotation« im Sinne der »Überbetonung des Intellekts ge-
genüber Willen, Tat, Gefühl, Glauben« 66. Platon geht es aber nicht
um ein intellektuelles Wissen, sondern um »einen emphatischen Be-
griff des Wissens«: »Er verstand unter Wissen jene Art von Evidenz
des Guten, des Zuträglichen, die es dem Wissenden unmöglich macht,
sich ihr in seinem praktischen Urteil über das, was jetzt und hier zu
tun ist, zu entziehen.« 67 Charakteristisch für Platons Theorie ist da-
her, dass der intellektuelle und damit zugleich moralische Gesichts-
punkt alle übrigen Gesichtspunkte – emotionale, voluntative, tech-
nische – immer schon integriert hat. Von außen betrachtet haftet der
»Ekstase der Vernunft« 68, um die es Platon geht, allerdings immer
etwas von der oben beschriebenen Abstraktheit des Eudämonismus
als einer reinen Reflexionsform an:
Platons These, daß niemand absichtlich das Schlechte tue, meint zu-
nächst den rein formalen Sachverhalt, daß niemand absichtlich gegen
die Grundstruktur von Absichtlichkeit handeln kann, ohne den Hand-
lungscharakter seines Handelns aufzuheben. Es ist unmöglich, so ist
der Gedanke, das Ziel des gelungenen Lebens nicht zu wollen. Es gibt
kein Motiv, das uns dazu bewegen könnte, denn sollte uns etwas dazu
bewegen, alle übrigen Ziele zu opfern, dann bildet gerade dieses Etwas

64 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 18.


65 Ebd. 17.
66
Borsche, Intellektualismus, in: HWPh IV, col. 442.
67 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 82.
68
Ebd. 75.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

offensichtlich einen wesentlichen Bestandteil dessen, was wir als ge-


lungenes Leben ansehen. 69
Wenngleich Spaemann also den Vorwurf des Intellektualismus ge-
genüber Platon auf der einen Seite relativiert, sieht er in der für seine
Lehre charakteristischen Ausblendung der Normalität der mensch-
lichen Existenz doch ein ernsthaftes Problem: »In seiner radikalen
Form ist der Eudämoniebegriff wesentlich überschwänglich.« 70 Als
notwendiges Korrektiv der platonischen Sicht begreift Spaemann da-
her die aristotelische Ausprägung des Eudämonismus, auf die nun
hingelenkt werden soll.
Die von Spaemann zur Erhellung des Begriffs εὐδαιμονία be-
mühte Analogie zwischen Schauspiel und Leben hatte zum Ziel, ein
Mittleres zwischen zwei Verfehlungen des gelingenden Lebens als
Idealvorstellung zu bezeichnen, die Mitte zwischen dem Aufgehen
in der »besinnungslose[n] Absolutheit« 71 der Handlungsintentionen
auf der einen Seite, dem Entwirklichen der Handlungen durch die
intentio obliqua ihrer Beziehung auf das Gelingen des Lebens auf
der anderen. Beide Verfehlungen sind Formen der Unfreiheit, die ein
Gelingen des Lebens verhindern:
Unfrei ist einerseits derjenige, der sich in einem bestimmten Strebens-
inhalt so verliert, daß dieser für ihn unbedingt wird. Unbedingt aber
wird dieser Inhalt, wenn er prinzipiell jeder Abwägung entzogen wird
und der Handelnde für ihn jeden Preis zu zahlen bereit ist. […] Unfrei
macht aber auch die Unfähigkeit zur Leidenschaft, zur ungebrochenen
intentio recta, die Zwanghaftigkeit jener Reflexion, die von allen In-
halten des guten Lebens abstrahiert und diese allenfalls in der abge-
töteten Form bloßer Mittel für einen guten Zweck existieren läßt,
einen Zweck, der den Inhalten immer äußerlich bleibt. 72
Zwischen diesen beiden Unfreiheiten wird die »antinomische Verfas-
sung des Gedankens der eudaimonia« 73 sichtbar, wobei die plato-
nische Lehre als die Utopie verstanden werden kann, beiden Un-
freiheiten dadurch zu entgehen, dass die Idee des Guten von allen
bestimmten Strebensinhalten befreit und die Teilhabe an ihr gleich-
zeitig als höchste Form der Leidenschaft begriffen wird:

69 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 21.


70 Ebd. 94.
71
Ebd. 43.
72 Ebd. 73–74.
73
Ebd. 74.

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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss

In dieser Teilhabe aber ist der Mensch seiner selbst nicht Herr. Sie ist
eine Art Ekstase, eine Weise des Eros. Nicht im Sinne eines irrationa-
len Untertauchens, eines Außersichseins nach Art der poetischen In-
tuition, sondern als eine Ekstase der Vernunft selbst, die im Guten das
berührt, was als äußerstes Umwillen aller Wirklichkeit die Vernunft
selbst nicht ist, sondern das, was sie als ihren Grund und ihre höchste
Möglichkeit ergreifen kann. Gelingen des Lebens heißt, sich von die-
ser höchsten Möglichkeit ergreifen lassen, und dieses Sich-ergreifen-
Lassen heißt: Philosophie. 74
Der Gefahr des Abgleitens in eine der beiden Unfreiheiten entgeht
nach der platonischen Lehre damit allein der Philosophie Treibende,
und zwar durch eine äußerste Steigerung seiner menschlichen Mög-
lichkeiten, wobei sowohl die Frage nach der individuellen Begabung
als Voraussetzung einer solchen als auch die nach der Möglichkeit,
sich dauerhaft in einem solchen Zustand zu halten, keine Beachtung
finden. In bewusster Absetzung von Platon stellte Aristoteles diesem
Maximalismus »die Herabminderung des Glücksanspruchs und die
Überwindung der Antinomie durch den Kompromiß« 75 entgegen:
Aristoteles hat den Gedanken des philosophischen Glücks nicht auf-
geben wollen. Aber er hat gegen Platon eingewandt, das »Gute«, »Ei-
ne« und »Unbedingte« sei kein Maß, an dem das spezifisch mensch-
liche Gelingen des Lebens sich orientieren könne. Aristoteles lehnt es
ab, den Menschen als ein Wesen zu denken, dessen Leben nur gelingen
kann, wenn es sich von dem Unbedingten, das es selbst nicht ist, er-
greifen läßt und darin seine höchste Möglichkeit realisiert. So entwirft
er in der Nikomachischen Ethik die Hermeneutik eines Gelingens, das
sich an der Normalität, der conditio humana orientiert und an deren
Zweideutigkeit teilhat. 76
Der Mensch ist ein zweideutiges Wesen durch das Spannungsverhält-
nis zwischen seiner lebendigen Natur und seiner Vernunftbegabung.
Diese Zweideutigkeit zeigt sich im Nebeneinander einer Innenper-
spektive des Lebewesens und eines Blicks von außen auf dieses, deren
Vermittlung problematisch erscheint. Überall, wo Aristoteles be-
ginnt, über menschliches Glück nachzudenken, stößt er auf Para-
doxien. So ist Glück einerseits das »Erlebnis von Glück« aus der
Innenperspektive, andererseits nur von außen beurteilbares »Ge-

74
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 74–75.
75 Ebd. 74.
76
Ebd. 75.

439

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

lingen« 77. Der Begriff des Glücks scheint zu zerfallen in zwei unver-
mittelte Aspekte, wenn keine andere als die utopische Vermittlung
beider bei Platon gedacht werden kann.
Die Antwort des Aristoteles auf diese Paradoxien besteht darin, daß er
– im Unterschied zu aller sonstigen antiken Philosophie – zwei Weisen
der eudaimonia unterscheidet. Die eine ist im eigentlichen Sinne
menschlich, hält sich im Rahmen bürgerlicher Normalität und beruht
auf einem Kompromiß. Die andere ist radikal im Sinne der Plato-
nischen Vernunftekstase, und sie wäre vollkommen, wenn sie die con-
ditio humana hinter sich ließe und von dieser nicht immer wieder
eingeholt würde. 78
Aristoteles unterscheidet sich von Platon also nicht in der Bewertung
der Philosophie als »Vergegenwärtigung des Immerseienden«: »Theo-
ria ist selbstgenügsame, göttliche Tätigkeit und insofern eudaimonia,
Glückseligkeit im äußersten Sinne.« 79 Ihm geht es aber im Unter-
schied zu Platon um die Einbeziehung der conditio humana und da-
mit der oben erwähnten Fragen nach der individuellen Begabung und
der Dauerhaftigkeit der Vernunftekstase, die bei diesem ausgeklam-
mert sind. »Wenn Aristoteles […] gelingende theoria nicht mit
Gelingen des Lebens gleichsetzt, so deshalb, weil die philosophische
Kontemplation eben nicht das Ganze des menschlichen Lebens aus-
machen kann.« 80 Um nun die Tragweite der aristotelischen Unter-
scheidung zwischen einer menschlichen εὐδαιμονία und einer un-
bedingten zu verstehen, ist es wichtig, sich die »zweifache[…] Rolle«
zu vergegenwärtigen, »die die Vernunft im menschlichen Leben
spielt« 81:
Vernunft ist einerseits Organ der Lebensbewältigung, Organ, das un-
sere Praxis orientiert und strukturiert. Andererseits ist sie die Er-
öffnung einer Dimension der Wahrheit, des Guten, des Heiligen, des
Unbedingten, einer Dimension, die verschwinden würde, wenn man
sie als lebenspraktische Funktion im Dienste der Arterhaltung ver-
stünde. Die Eröffnung einer solchen Dimension des Unbedingten, des
Göttlichen durch die Vernunft veranlaßt aber Aristoteles, von ihr zu

77 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 75.


78 Ebd. 76.
79
Ebd. 83.
80 Ebd. 84.
81
Ebd. 76.

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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss

sagen, sie sei nicht eigentlich ein Teil der menschlichen Seele, sondern
komme »von außen herein« (De gen. anim. 736 b). 82

Der Hinweis auf die Herkunft der Vernunft von außen – θύραθεν –
verdeutlicht, dass eine die Normalität der conditio humana berück-
sichtigende menschliche εὐδαιμονία nur auf einer praktisch vermit-
telten Vernunft aufgebaut sein kann. Die Antwort auf die Frage, was
für Aristoteles eine Hermeneutik des Gelingens und damit die Über-
windung der mit ihm verbundenen Paradoxien ermöglicht, ist daher
die menschliche Gemeinschaft der Polis:
Nur die Polis ist autarke Ganzheit, und nur in einem bestimmten Ver-
hältnis zu ihr kann von einem richtigen und gelingenden Leben die
Rede sein. Nur in diesem Verhältnis werden die anfänglichen Wider-
sprüche dieses Gedankens zu einer – relativen und prekären – Versöh-
nung geführt. So vor allem der Widerspruch zwischen einer Beurtei-
lung des Lebens aus der Innenperspektive des Erlebens einerseits und
aus der Perspektive des Nutzens für andere andererseits. Der Bürger
einer freien Polis lebt richtig, wenn sein Leben für seine Mitbürger, für
die Erhaltung und das Wohlergehen der Polis nützlich ist. […] Der
Bürger der freien Polis identifiziert sich mit der Polis so, daß die Nütz-
lichkeit für sie zugleich seine eigene Befriedigung bedeutet. 83
Der Antagonismus von Leben und Vernunft im Menschen, durch den
die Vermittlung von Innen- und Außenperspektive problematisch
wird, lässt sich nicht nur durch die platonische Vernunft-Ekstase
überwinden, sondern auch – orientiert an der menschlichen Norma-
lität – durch ein bestimmtes Verhältnis zum anderen Menschen:
Philia, Freundschaft, ist der Grundbegriff, der den Kern der politi-
schen Philosophie des Aristoteles bildet. Für die Freundschaft aber ist
es charakteristisch, daß die Innen- und Außenperspektive des eigenen
Lebens miteinander verschmelzen. Da der Freund zu meinem Leben
gehört, ist die Weise, wie er mich sieht, selbst Teil meiner eigenen
Wirklichkeit. Und nur in dieser Verschmelzung kann das Glück lie-
gen […]. 84
Der platonischen Überforderung des Menschen in einer dauerhaften
Vernunft-Ekstase stellt Aristoteles somit eine im eigentlichen Sinne
politische Philosophie entgegen, die neben der Entlastung des Einzel-

82
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 76.
83 Ebd. 77.
84
Ebd.

441

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

nen auch die Überwindung der Antinomien bewirkt, die mit dem Ge-
danken eines gelingenden Lebens verbunden sind. Das Ideal einer Mit-
te zwischen der Intentionalität alles Handelns und seiner Beziehung
auf den Horizont des Gelingens, das im Bild des Schauspiels vergegen-
wärtigt wurde, wird bei Aristoteles durch die Polis als das Medium ver-
wirklicht, in dem die normale menschliche Tätigkeit sich bewegt:
Menschliches Handeln ist intentional, und diese Intentionalität
scheint durch die Selbstthematisierung des Handelns vernichtet zu
werden. Andererseits scheint diese Selbstthematisierung doch unver-
meidlich zu sein, wenn wir das Gelingen des Lebens überhaupt thema-
tisieren wollen. Dieser Widerspruch hebt sich dann auf, wenn der Ge-
genstand der Intentionalität dem Handelnden so gegenübertritt, daß
er in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich bleibt oder zu sich zu-
rückkehrt. Eben dies ist wiederum in der Polis der Fall. 85
Es muss nun noch näher betrachtet werden, wie die Vermittlung von
Leben und Vernunft im Menschen durch die Polis konkret vorzustel-
len ist. Zwischen der Partikularität des Individuums und der Wirk-
lichkeit der Polis vermittelt die Tugend als »Selbst-Inbesitznahme«
des Einzelnen durch eine vernünftige »Antwort auf die Kontingenzen
des Daseins« 86: »Vernunft allein gewährleistet Autonomie. Tugend
aber ist jene auf Erziehung und Übung beruhende habituelle Disposi-
tion, die den, der sie besitzt, in Stand setzt, sich auf sich selbst als
vernünftig Handelnden zu verlassen und gegenüber anderen für sich
gerade zu stehen.« 87 Die in der Tugend begründete Autonomie des
Einzelnen ist aber »selbst noch einmal kontingent« 88, da sie erst er-
worben werden muss durch »richtige Erziehung« 89 und damit von der
Verwirklichung der Vernunft in der Polis abhängig ist.
Richtige Erziehung setzt wiederum die Polis voraus, »gute Gesetze«,
sagt Aristoteles. Das meint nicht nur geschriebene Gesetze, sondern
das Ganze einer in Sitten, Gewohnheiten und Gesetzen sich voll-
ziehenden gemeinsamen Lebensordnung. Eine solche auf Dauer ge-
stellte gemeinsame soziale Praxis ist diejenige Bedingung normalen,
richtigen Lebens, die dessen Paradoxien bis zu einem gewissen Grade
aufhebt, nämlich soweit es die conditio humana überhaupt zuläßt.

85 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 78.


86 Ebd. 79.
87
Ebd.
88 Ebd. 80.
89
Ebd.

442

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7.1.2 Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompromiss

Erst der lebendige Kulturzusammenhang ist es, der die Vielfalt


menschlicher Möglichkeiten ausdifferenziert und den einzelnen in
diese Möglichkeiten hineinwachsen läßt. 90
Die Bedeutung der Polis besteht also wesentlich darin, Vernunft in
einem menschlichen Maß zu realisieren: »Die Kontingenzreduktion
durch die Tugend, die habitualisierte Vernünftigkeit wird ermöglicht
und verstärkt durch die Kontingenzreduktion der von der Polis ga-
rantierten Normalität.« 91 Mit dieser Konzeption einer menschlichen
εὐδαιμονία gelingt es Aristoteles zugleich gegenüber dem plato-
nischen Intellektualismus eine Form der Verkehrtheit von Hand-
lungen zu unterscheiden, die nicht auf Nicht-Wissen, also Irrtum
beruht, sondern auf einer Schuld: »ein tadelnswerter Irrtum«. Dieser
Begriff ist nur sinnvoll, wenn Irrtum hier etwas anderes bedeutet als
eine falsche Meinung:
Einsicht oder Verblendung, die dem Gelingen oder Mißlingen des Le-
bens zugrundeliegen, sind offenbar nicht adäquationstheoretisch als
Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit
zu definieren. Und zwar deshalb, weil die Einsicht, um die es hier geht,
ein Element der Wirklichkeit selbst ist. Die »Sache« selbst, das Leben
ist reflexiv. Nur als ein seiner selbst bewußtes kann das Leben gelin-
gen. Und die Erkenntnis der Bedingungen gelingenden Lebens muß
sich selbst als die wichtigste Bedingung erkennen. Das aber heißt: Die
Bedingung kann erst erkannt werden, wenn sie schon erfüllt ist, und
umgekehrt: Wenn sie erfüllt ist, ist sie auch erkannt. Jene Stabilisie-
rung der Antriebsstruktur, die erst so etwas wie Einsicht in die Bedin-
gungen gelingenden Lebens ermöglicht, kann sich selbst nicht der-
selben Einsicht verdanken. Sie ist göttliche oder menschliche Gabe. 92
Einsicht besteht demnach darin, dass die Wirklichkeit gewissermaßen
Teil des Menschen selbst ist bzw. das Selbst nicht verstanden werden
kann ohne den Bezug auf die Wirklichkeit; umgekehrt besteht Ver-
blendung in einer Nichtwahrnehmung dieses Zusammenhangs.
Gelingen des Lebens kann nur von der Anerkennung von Wirklich-
keit ausgehen. Im Falle der reinen εὐδαιμονία im Sinne der gött-
lichen Tätigkeit der θεωρία ist es göttliche Gabe, die von außen –
θύραθεν – in den Menschen hineinragt, im Falle der gesellschaft-

90
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 80–81.
91 Ebd. 81.
92
Ebd. 23–24.

443

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

lichen εὐδαιμονία ist es menschliche Gabe in Gestalt der Normalität


stiftenden Polis.
Die Bedeutung der Polis, die »Normalität stiftet und ermög-
licht« 93, erinnert im Kontext der vorliegenden Arbeit an die entschei-
dende Bedeutung, die für de Bonald die in der Gesellschaft verwirk-
lichte Vernunft über das vermittelnde sentiment für den Einzelnen
hatte. 94 In Bezug auf die Gesellschaftstheorie de Bonalds hatte Spae-
mann festgestellt, dass das Funktionieren des gesellschaftlichen Me-
chanismus zur Selbstaufhebung der Vernunft führt. Es soll daher an
dieser Stelle gefragt werden, wie die um den Polis-Gedanken auf-
gebaute Lehre einer menschlichen Eudämonie bei Aristoteles nach
Spaemann dieser Konsequenz entgeht. Der entscheidende Unter-
schied zur Gesellschaftstheorie de Bonalds ist, dass Aristoteles den
Menschen von seiner natürlichen Substanz her denkt und die in der
Normalität der Polis verwirklichte Vernunft als eine Brechung der
von außen – θύραθεν – in den Menschen hineinragenden göttlichen
Vernunft versteht, wohingegen de Bonald die nur in der Gesellschaft
verwirklichte Vernunft als Substanz des Menschen versteht, woraus
die gesellschaftliche Funktionalisierung sowohl der Metaphysik als
auch der Idee Gottes resultierte. 95 Aristoteles versteht den Menschen
als animal rationale, als Lebewesen, das für die Vernunft offen ist,
und die Normalität der Polis als den Kompromiss zwischen der
menschlichen Bedingtheit und dem durch die Vernunft sich erschlie-
ßenden Unbedingten.
Aristoteles geht diesen Weg in bewußter Auseinandersetzung mit Pla-
ton, aber auch im Bewußtsein der unaufhebbaren Grenze dieser Nor-
malität. Und im Bewußtsein der Tatsache, daß die Antinomien darin
nur niedergehalten, nicht zum Austrag gebracht sind. Und wenn er es
auch nicht ausspricht, so muß er es doch gewußt haben, daß er in
dieser Normalität bereits eine »altgewordene Gestalt des Lebens« (He-
gel) vor Augen stellt. Die kleine, überschaubare, auf Freundschaft der
Bürger gegründete autarke Polis gehört in der Zeit Alexanders des
Großen bereits einer idealisierten Vergangenheit an. 96

93 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81.


94 Vgl. Teilkapitel 3.2, Das Ende der Metaphysik in der Gesellschaftstheorie de Bo-
nalds, 102–125.
95 Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstauf-

hebung der Vernunft, 118–121, u. Abschnitt 3.2.6, Spaemanns Bewertung der Bo-
nald’schen Denkens, 121–125.
96
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81.

444

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

Der dargelegte aristotelische Kompromiss war also bereits in der Zeit


des Aristoteles, in der »die Polis ihre Normalität stiftende Kraft ver-
loren hat« 97, ein philosophisches Postulat; für ihn aber ist »praktische
Philosophie durchaus normativ und nicht nur deskriptiv« 98. Im zwei-
ten Hauptteil des vorliegenden Kapitels wird sich zeigen, dass die für
eine menschliche εὐδαιμονία konstitutive Normalität ein wesent-
licher Gedanke ist, den Spaemann von Aristoteles übernimmt und
der für die Möglichkeit einer neuzeitlichen Aktualisierung des anti-
ken Eudämoniegedankens von zentraler Bedeutung ist.

7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

Der Begriff der εὐδαιμονία bezeichnet den »Horizont, der unsere


konkreten Einzelziele umgreift« 99. Für Platon war ein Leben in die-
sem Horizont möglich durch eine »Ekstase der Vernunft« 100, in der
die Teilhabe an der Idee des Guten gelingt. Aristoteles dagegen ging
es um einen Kompromiss »zwischen ›reiner Vernunft‹ und ›prakti-
scher Vernunft‹, zwischen Vernunft und Leben« 101, den er in der Nor-
malität der Polis-Wirklichkeit fand. Εὐδαιμονία bedeutet für ihn ein
bestimmtes Verhältnis zur autarken Ganzheit der Polis. 102 Bei allen
Unterschieden eint Platon und Aristoteles ein teleologisches Ver-
ständnis des Menschen, dessen subjektives Ziel des Strebens nach
Gelingen in dem alle Einzelziele umgreifenden Horizont eine objek-
tive Grenze findet. »Das griechische Wort telos meint ja beides: Gren-
ze und Ziel.« 103 Diese Verbindung ist im Hedonismus etwa Epikurs
ebenso aufgelöst wie in dem als logische Konsequenz aus ihm hervor-
gehenden stoischen Gedanken der Selbsterhaltung. »Die Spannung
zwischen Lustgewinn und Selbsterhaltung ist das Zerfallsprodukt
einer teleologischen Sicht von eudaimonia« 104. Beide Richtungen ten-
dieren zur Selbstaufhebung und scheinen damit den Gedanken vom
Gelingen des Lebens zum Verschwinden zu bringen. Die Geschichte

97 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 82.


98 Ebd.
99 Ebd. 35.

100 Ebd. 75.

101 Ebd. 84.

102
Vgl. ebd. 77.
103 Ebd. 66.

104
Ebd. 67.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

der ethischen Reflexion in der Antike lässt sich damit als ein Ringen
um eine mögliche Verortung des gelingenden Lebens verstehen:
Für Aristoteles ist die Polis jener Ort, der als Ersatz für die Ortlosig-
keit (utopia) des absoluten Gelingens »menschenmögliches Glück« er-
laubt. Seine Ethik ist Lehre von diesem Gelingen. Mit dem Ende der
autarken Polis aber wird die Philosophie zur Lehre vom utopischen,
absoluten Glück, sei es, wie bei Epikur, im radikalen Rückzug auf die
Endlichkeit, sei es, wie in der Stoa, in der Fiktion des Weisen, der alle
individuellen Interessen überwunden und sich als Medium reiner Ver-
nunft mit dem Weltlogos identifiziert hat. 105
Eine »kopernikanische Wende des Eudämonismus« 106 wurde durch
die christliche Antwort auf die Frage nach dem Gelingen des Lebens
eingeleitet, weil sie im Unterschied zu allen antiken Lehren den Ort
der Erfüllung überhaupt nicht in dieser Welt sieht: »Was wir als In-
bild vollkommenen Glücks in uns tragen, läßt sich unter empirischen
Bedingungen prinzipiell nicht adäquat realisieren. Es ist ein alle
Erfahrung transzendierender Gedanke.« 107 Diese Wende verdient be-
sondere Aufmerksamkeit; es muss gefragt werden, warum das Ge-
lingen des Lebens unter empirischen Bedingungen, das im aristote-
lischen Kompromiss zumindest im Sinne einer »prekären Balance« 108
doch möglich war, unter christlichen Bedingungen prinzipiell un-
möglich zu werden scheint. Zunächst sei in diesem Zusammenhang
erinnert an ältere Überlegungen Spaemanns zu dieser Frage, die in
vorangegangenen Kapiteln thematisiert wurden. Für Rousseau war
das Christentum die Macht, die das politische Ideal der Polis zerstört
hat, da das Christentum »die ›religion de l’homme‹ [ist], die den Men-
schen als Menschen freisetzt und zum Bürger des Universums
macht« 109. Dem Wandel der Bedingungen menschlichen Denkens im
Übergang von der Antike zur christlichen Zeit, der hinter dieser Frei-
setzung des Menschen steht, ging Spaemann zunächst in dem Essay
»Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« nach,
wo er mit Bezug auf die aristotelische Philosophie feststellte, dass
diese nicht vom Subjekt ausgeht. 110 Wenn dementsprechend eine An-

105 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 100.


106 Ebd. 85.
107 Ebd.

108 Ebd. 99.

109
Spaemann, Natürliche Existenz und politische Existenz (1962), 29. – Vgl. Ab-
schnitt 5.1.2, Vom politischen zum natürlichen Ideal, 191–196.
110
Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327.

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

näherung an das aristotelische Denken aus neuzeitlicher Sicht nur per


viam negationis möglich ist, kann dies als Erklärung dienen, warum
der im Begriff der εὐδαιμονία gedachte Zusammenhang des Subjek-
tiven und Objektiven aus aristotelischer Sicht im Sinne einer pre-
kären Balance als möglich, aus neuzeitlicher Sicht jedoch als Anti-
nomie erscheint. Der Wandel von der klassischen antiken zur
christlichen Sicht wurde von Spaemann in der Untersuchung der Ge-
schichte des anthropologischen Dualismus im Wesentlichen in einer
neuen Deutung der Vernunft gesehen, die im christlichen Verständ-
nis nicht mehr von außen in den Menschen hineinragt, sondern Teil
seiner Natur ist, wodurch der neue Dualismus des Natürlichen und
Übernatürlichen entsteht. 111 Die im – gegenüber dem antiken Denken
neuen – Ausgang vom Subjekt begründete Auffassung der Vernunft
als Teil der menschlichen Natur eröffnet einen Horizont des Absolu-
ten, durch den das Gelingen des Lebens sich nicht mehr aus dem Ver-
hältnis zur Ganzheit der Polis, sondern nur noch aus dem Verhältnis
zu Gott ergeben kann. Die menschliche Vernunft erfährt also eine
wesentliche Umdeutung: Sie ist nicht mehr das von außen in ihn
hineinragende Göttliche, sondern sie ist das natürliche Vermögen ab-
soluter Selbsttranszendenz. Es ist wichtig, sich noch einmal klar-
zumachen, in welchem Sinne die Selbsttranszendenz als ein Signum
christlicher Zeit erscheint. Selbsttranszendenz gehört als Streben
nach μέθεξις, nach Teilhabe am Göttlichen, durchaus schon zur
antiken Philosophie; neu an der christlichen Sicht ist hingegen die
reflexive Wendung auf diese Selbsttranszendenz und damit der re-
flektierte Ausgang dieses Denkens von einem Subjekt der Selbst-
transzendenz. Durch diesen Wandel des Denkens erhält die »Idee
eines absoluten Gelingens« einen »wesentlich transzendentalen Cha-
rakter« 112, d. h. die Bedingung seiner Möglichkeit wird an die Reali-
sierung von absoluter Selbsttranszendenz geknüpft. Der Ausgang des
Denkens vom Subjekt eröffnet die »›exzentrische Position‹ (Helmuth
Plessner)«, die es ermöglicht, »daß sich der Mensch das eigene Leben
als ein Ganzes vorstellen kann. Der Blick, der es so vorstellt, ist we-
sentlich ein Blick von außen. Im unmittelbaren Erleben ist mensch-
liches Leben immer ›Aussein-auf‹, immer ›Sich-vorweg-Sein‹.« 113 In-

111 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333–

334.
112 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 86.

113
Ebd. 86–87.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

sofern das Gelingen des Lebens abhängt von der Realisierung absolu-
ter Selbsttranszendenz, die ihrerseits ein Gelingen in dieser Welt un-
möglich werden zu lassen scheint, verwandelt sich die Verbindung
von Subjektivem und Objektivem, die in der aristotelischen Ethik als
prekäre Balance möglich war, in eine Antinomie:
Weder die Innenansicht noch die Außenansicht kann offenbar so etwas
wie Gelingen des Lebens definieren. Die Antinomie gründet darin, daß
das menschliche Leben nur vom Ende und von Außen betrachtet zu
einem Ganzen wird. Subjektivität, Für-sich-Sein aber geht gerade nicht
in Gestalthaftigkeit, also in das »An-sich« ein, als welches das Dasein
sich dem Blick eines Anderen darbietet. Die Antizipation der Eudämo-
nie aber ist die Antizipation eines An-und-für-sich-Seins. 114
Noch einmal sei darauf hingewiesen, dass diese Antinomie des Ge-
lingens in Latenz auch in der klassischen antiken Philosophie gegen-
wärtig war; sie konnte jedoch latent bleiben, insofern der Handelnde
»in der Selbsttranszendenz zugleich bei sich selbst bleibt oder zu
sich zurückkehrt« 115. Unter christlichen Denkbedingungen dagegen
scheint die Reflexion auf das Gelingen des Lebens das Auseinander-
fallen der beiden Seiten des Für-sich und des An-sich unausweichlich
zu machen.
Bevor nun die Konsequenz, die in der neuzeitlichen Ethik aus
dem Antinomisch-Werden des Eudämoniegedankens gezogen wurde,
dargestellt wird, muss an den in Spaemanns Sicht zentralen Umbruch
des Denkens an der Schwelle zur Neuzeit erinnert werden, nämlich
die im Spätmittelalter einsetzende Invertierung der Teleologie, durch
die der Gedanke, dass »die Natur im Menschen sich selbst über-
steigt« 116, aufgegeben wurde. Der daraus folgende Schluss, dass es
der Natur allein um die Selbsterhaltung geht, hat im Kontext der hier
verfolgten Problematik der Antinomie gelingenden Lebens entschei-
dende Bedeutung. Im Rahmen eines teleologischen Denkens und, wie
zu ergänzen ist, unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt be-
steht die Antinomie darin, dass das subjektive Streben nach absolu-
tem Gelingen seine objektive Erfüllung nur jenseits der Todesgrenze
finden kann. Im Leben kann die Erfüllung nur antizipiert werden.
»Die Existenz dieser Antizipation als desiderium naturale in uns
legitimiert jedoch für Thomas die Gewißheit seiner Erfüllbarkeit.

114
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 87.
115 Ebd. 78.
116
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 31.

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

›Denn die Natur tut nichts vergeblich‹ 117.« 118 Die Quelle dieser Ge-
wissheit ist also die natürliche Selbsttranszendenz, als deren Organ
im Menschen die Vernunft wirkt. Durch diese Vernunft, die die Ver-
bindung des Menschen zu Gott herstellt, ist die Antinomie gleichwohl
immer schon aufgehoben, so dass für ihre Deutung das Verständnis
der menschlichen Vernunft von entscheidender Bedeutung ist:
Die Innenperspektive, die Perspektive des Erlebens kann zu so etwas
wie einem Ganzen des Gelingens nicht führen. Die Außenperspektive
kann, indem sie etwas als Totalität vorstellt, diese gerade nicht selbst
als Glück erleben. Der Gegensatz zwischen beiden ist nur der subjek-
tive Modus der antinomischen Struktur endlicher Erkenntnis des fieri
aliud inquantum aliud, des »Im-Anderen-bei-sich-selbst-Sein«. 119
Unter der Bedingung einer auf Gott gerichteten natürlichen Selbst-
transzendenz ist die Struktur endlicher Erkenntnis lediglich insofern
antinomisch, als sie immer nur eine Antizipation der jenseits der To-
desgrenze möglichen Gottesschau (visio intuitiva) sein kann. 120 Fällt
hingegen diese Bedingung weg, droht sie in einem radikalen Sinn
antinomisch zu werden. Die subjektive Wahrnehmung erfasst die
Wirklichkeit als gegenständliches An-sich, über das hinaus es zu
einem anderen Für-sich-Sein nur durch Identifikation mit ihm und
damit die Aufgabe des eigenen Standpunktes, denen natürliche Gren-
zen gesetzt sind, gelangen könnte; Erkenntnis des Anderen wird so zu
einer Unmöglichkeit. Aber nicht einmal in Bezug auf das eigene
Selbst ist die Einheit von Für-sich und An-sich erreichbar:
Unser Erleben und die Selbstreflexion dieses Erlebens führen den
Dualismus in den eigenen Lebensvollzug ein. Sie kommen nicht zur
Deckung. Das Zur-Deckung-Kommen, die adaequatio rei et intellectus
wäre gerade das Erlöschen der Reflexion. Und Erlöschen der Refle-
xion, Ekstase, reines selbstvergessenes Eintauchen in die Unmittelbar-
keit des Erlebens ist denn auch seit jeher synonym mit dem Traum
vollendeter Seligkeit. Aber gerade dieser Traum ist mit seiner Reali-
sierung unvereinbar. 121

117 Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin, Summa contra
Gentiles III, 48.
118 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 101.

119 Ebd. 88.

120 Vgl. hierzu die Auseinandersetzung Spaemanns mit dem Thomas-Zitat »Dato

enim per impossibile …« in Abschnitt 4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hinter-
grund gerückte Autorität, 161–166.
121
Spaemann, Glück und Wohlwollen, 88.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Im Rahmen der vorliegenden Arbeit ist dieses Thema der anti-


nomischen Struktur endlicher Erkenntnis bereits ausführlich bedacht
worden im Zusammenhang mit Spaemanns unter dem Titel »Refle-
xion und Spontaneität« veröffentlichten Studien über Fénelon, 122 für
den unter den Bedingungen einer invertierten Teleologie jede
menschliche Reflexion vom amour propre beherrscht ist, der nur
»durch den Tod jener um sich selbst kreisenden Natur« 123 überwun-
den werden kann. Die aus dieser Überzeugung hervorgehende dezi-
diert antieudämonistische Position Fénelons war darin begründet,
dass jede Reflexion auf das Gelingen des eigenen Lebens den Men-
schen in diesen Grenzen einschließt und damit die Gottesliebe, die die
eigentliche Aufgabe des Menschen ist, unmöglich macht. Wenn
Spaemann sich nun in »Glück und Wohlwollen« im Kapitel »Die An-
tinomien des Glücks« wesentlich mit der Problematik bewussten
Glücks beschäftigt, tritt dieses Thema der Reflexion erneut in den
Mittelpunkt. Das Problem der Reflexion, die nicht identisch ist mit
den Vorgängen, die sie reflektiert, die aber ihrerseits wiederum nur
bewusst werden in der Reflexion, führt so das Nachdenken über das
Glück in eine prinzipielle Aporie:
[…] Unmittelbarkeit wird erst für die Reflexion als Glück erfahrbar.
Die Reflexion aber hebt die Unmittelbarkeit auf, indem sie auf sie
reflektiert. Ekstase ist vollkommenes Glück nur als erinnerte Unmit-
telbarkeit, also im Nachhinein. Das heißt: es gibt dieses Glück über-
haupt nur als »erinnertes«. Es wird erst zu so etwas wie Glück, wenn
es nicht mehr ist. Vollkommenes Gelingen des Lebens wäre eine er-
füllte Gegenwart, die nur als Zukunft antizipiert oder als Vergangen-
heit erinnert werden kann, also das gerade nicht, was ihren Begriff
ausmacht: Gegenwart. Gegenwart ist außerhalb der Zeit. 124
Glück ist somit etwas wesentlich sich dem Begriff Entziehendes und
diese Eigenschaft ist ebenso ursächlich dafür, dass es nicht direkt in-
tendierbar 125 und ebenso wenig beherrschbar ist: »Glück als Erfüllung
reißt das Subjekt auf einen unendlichen Weg, der unter Bedingungen
der Endlichkeit vom Schmerz des Ungenügens untrennbar ist.« 126

122 Vgl. Kapitel 4, Studien über Fénelon: Das Denken der Selbsttranszendenz, 133–

184.
123 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 57.

124
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 89.
125 Vgl. ebd. 130.

126
Ebd. 92.

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

Ausgehend vom zweiten Schlüsselbegriff im Titel der Studien über


Fénelon kann dieser Gedanke noch in die andere Richtung gewendet
werden. Das sich im Streben nach einer Beherrschbarkeit des Glücks
ausdrückende Motiv ist das Verlangen nach einer »totalen endlichen
Freiheit« 127 bzw. Spontaneität, die von einer analogen inneren Anti-
nomie beherrscht ist: »Jede Verwirklichung von Freiheit ist zugleich
›Verbrauch‹ von Freiheiten. Wer sich alle Freiheiten bewahren will,
darf keine Freiheit realisieren.« 128 Jeder Versuch, eine praktische Phi-
losophie auf die Reflexion über das Gelingen des Lebens aufzubauen,
scheint damit zum Scheitern verurteilt zu sein. Die Konsequenz, die
aus dieser Einsicht in der neuzeitlichen Ethik gezogen wurde, muss
nun zum Abschluss des philosophiehistorischen Teils der Darstellung
skizziert werden.
Die antieudämonistische Gegenposition der deontologischen
Ethik hat ihren klassischen Ausdruck in der Philosophie Kants gefun-
den, für den repräsentativ der erste Satz aus der »Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten« stehen kann: »Es ist überall nichts in der
Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was
ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein
guter Wille.« 129 Nun liegt auch dem Eudämonismus ein Wille, näm-
lich der zum Gelingen des Lebens zugrunde, weswegen hier zwischen
verschiedenen Willensbegriffen unterschieden werden muss:
Kant setzt den menschlichen Willen ausdrücklich vom »heiligen Wil-
len« ab und erhebt so die Lutherische Lehre von der fundamentalen
Verderbtheit der menschlichen Natur durch die Erbsünde zu einem
anthropologischen Grundbestand und damit zu einem Gegenstand
der Philosophie. Liebe kann in einer durch curvatio in seipsum ge-
kennzeichneten Natur nur als verkappter Egoismus gedeutet werden.
Luthers maledicta sit caritas findet hier seinen philosophischen Wi-
derhall. Die letztendliche Konvergenz von Wohltun und Wohl-
ergehen, die Kant im Begriff des höchsten Gutes denkt, kann daher
nur »extrinsezistisch«, als äußerliche Verknüpfung von Moralität aus
»Achtung fürs Gesetz« und Befriedigung der wesentlich egozentri-
schen Neigungen gedacht werden. Es ist klar, daß unter dieser Voraus-
setzung alle Moral korrumpiert würde, wenn sie von einem Lohn-
motiv getragen wäre. Sie muß vielmehr ganz unabhängig von aller
Reflexion auf eigene Glückseligkeit bleiben. Die Einbeziehung der

127
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 92.
128 Ebd.
129
Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 18.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

letzteren ins »Höchste Gut« ist deshalb bei Kant nicht ein Bestandteil
der Moralität selbst, sondern ein moralisch geforderter Glaube zur
Stützung der Moralität. 130

Als »menschlicher Wille« wird bei Kant das thematisiert, was in der
antiken und mittelalterlichen Philosophie weitgehend ausgeklam-
mert worden ist: das Böse. 131 Der Begriff zielt darauf, dass schlechte
Handlungen nicht aus Unwissen hervorgehen müssen, sondern ge-
wollt werden können, und damit entgegen der platonischen Auffas-
sung echte Handlungen sind. 132 Dagegen richtet sich der »heilige
Wille« auf das Gesetz der praktischen Vernunft, das sich im kategori-
schen Imperativ ausdrückt. An die Stelle des Glücks als leitenden Be-
griffs tritt somit die Pflicht. Dabei ist es wesentlich festzuhalten, dass
diese Pflicht sich gerade gegen den natürlichen Willen, also auch den
zum Glück, durchsetzen muss. Gut ist eine Handlung nicht aufgrund
eines als gut einzuschätzenden Resultats, sondern nur dann, wenn sie
aus Pflicht geschieht. Diesem kantischen Gedanken liegt ein pessi-
mistisches Menschenbild zugrunde, wonach der Mensch wesentlich
egoistisch ist und selbst die Liebe nur ein Ausdruck dieses Natur-
triebes ist, weswegen allein die vernünftige Selbstbestimmung als
Gesetzestreue das Sittliche hervorbringen kann. Gleichwohl kehrt
der Gedanke der Eudämonie bei Kant zumindest in der Form wieder,
dass das vom moralischen Gesetz geforderte Handeln nicht im Wider-
spruch zum Verlangen nach Glück gedacht wird, wobei allerdings
»die Kriterien zur Erlangung der Glückswürdigkeit sich nicht aus
dem Gedanken des Glücks herleiten lassen, sondern unabhängig
davon gewonnen werden« 133. Als Postulat der Vernunft weist die Ver-
bindung von Glückwürdigkeit und Glückseligkeit über die Todes-
grenze hinaus, womit die kantische Ethik der Antinomie des Eudämo-
nismus entgeht. Der Preis dafür ist allerdings, dass die »konstitutive
Einheit und Zusammengehörigkeit von gelingendem Leben und ge-
rechtfertigtem Handeln« 134 sich auflöst. Dies führte in der Geschichte

130 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 104–105.


131 Vgl.: »Thomas von Aquin verfügt sowenig wie Platon oder Aristoteles über eine
Vokabel, um Böses von Schlechtem, oder von ›Übeln‹, zu unterscheiden.« – Spae-
mann, Einleitung (1990), in: Thomas von Aquin, Über sittliches Handeln, 7.
132 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompro-

miss, 435–436.
133 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 102.

134
Ebd. 105.

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

der Ethik zu problematischen Konsequenzen, die nun abschließend


vergegenwärtigt werden sollen.
Bereits im ersten Kapitel von »Glück und Wohlwollen« bemerkt
Spaemann mit Bezug auf die Deontologie, »daß der Typus von Ethik,
der sich von der Frage nach dem Gelingen des Lebens loslöst und den
moralischen Gesichtspunkt konsequent ausdifferenziert, seit Nietz-
sche seine fraglose Plausibilität eingebüßt hat« 135. Diese Krise seiner
Plausibilität führt Spaemann auf die zuletzt benannte Auflösung des
Zusammenhangs zwischen Moralität und Eudämonie zurück, der von
Kant zwar vorausgesetzt wurde, für den Handelnden aber keine Rolle
spielen durfte. 136 Als erste Stufe der Kritik an der kantischen Pflicht-
ethik bezieht Spaemann sich auf Schillers Unterscheidung zwischen
der »moralische[n] Schätzung eines Menschen von der ›vollen an-
thropologischen‹ Schätzung« 137 in den »Briefen zur ästhetischen Er-
ziehung« 138. Schiller geht es dort um die Abhebung des konkreten,
auf einem die Natur einbeziehenden Menschenbild beruhenden Be-
griffs der Sittlichkeit von dem abstrakten kantischen. 139 Um dem
Menschen gerecht zu werden und ihm nicht Gewalt anzutun, muss
der Begriff der Sittlichkeit die natürliche Triebgrundlage und damit
die Verbindung zwischen Glücksverlangen und Moralität einbezie-
hen, was, wie gesehen, bei Kant ausdrücklich nicht der Fall ist. Die
Eigendynamik, die der kantische Ansatz in der weiteren Entwicklung
in Gang gebracht hat, erläutert Spaemann an den Folgerungen Scho-
penhauers und Nietzsches:

135 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29.


136 Vgl.: »Nur ist ein reiner Begriff des Sollens, der in keinem vorausgehenden Wol-
len gründet, ein Gedanke, der sich selbst nicht behaupten kann. Er fordert seine Ent-
larvung heraus.« – Spaemann, Die Zweideutigkeit des Glücks (1990), 97.
137 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29.

138 Vgl.: »Schiller unterschied in den ›Briefen über ästhetische Erziehung‹ zwischen

der ›moralischen‹ und der ›vollen anthropologischen Schätzung‹. Jemand kann ein
wohlgeratener Mensch sein und doch der Versuchung unterliegen, wortbrüchig zu
werden. Jemand kann ein kümmerlicher Mensch oder ein Schlawiner sein und im
entscheidenden Augenblick anständig bleiben und seinen Mitmenschen nicht im
Stich lassen.« – Spaemann, Wer ist ein gebildeter Mensch? (1994), 515.
139 Vgl.: »Wenn also auf das sittliche Betragen des Menschen wie auf natürliche Er-

folge gerechnet werden soll, so muß es Natur sein, und er muß schon durch seine
Triebe zu einem solchen Verfahren geführt werden, als nur immer ein sittlicher Cha-
rakter zur Folge haben kann. Der Wille des Menschen steht aber vollkommen frei
zwischen Pflicht und Neigung, und in dieses Majestätsrecht seiner Person kann und
darf keine physische Nötigung greifen.« – Schiller, Ästhetische Erziehung, 4. Brief,
Werke, Bd. 5, 576.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

In aller Radikalität hat Schopenhauer den moralischen Gesichtspunkt


von jedem eudämonistischen losgelöst. Schopenhauer verspottete
Kant, der erst eine Ethik der Uneigennützigkeit lehrte, um dann am
Ende doch die Hand für den Lohn aufzuhalten. Aber Schopenhauer
war es auch, der die Konsequenz aus einer so verselbständigten »rei-
nen« Moralität gezogen hatte: Er konstatierte ihre Lebensfeindlichkeit
und bejahte sie. Das richtige Leben besteht für Schopenhauer in der
Überwindung des Lebenswillens. Dieses Moralverständnis hat Nietz-
sche übernommen, dann aber gegen die Moral gekehrt. Nietzsche ver-
suchte, den Gedanken gelingenden Lebens von allen Elementen zu
reinigen, die traditionellerweise als ethische galten, das heißt vor allem
von dem Verallgemeinerungsgedanken und dem Postulat der »Ge-
rechtigkeit«. Nietzsches These war, daß mindestens die traditionelle
Vernunftethik platonisch-stoisch-christlicher Prägung dem Gelingen
des Lebens abträglich sei. Dies aber spricht für ihn nicht, wie für Scho-
penhauer, gegen das Leben, sondern gegen die Moral. 140
Schopenhauer und Nietzsche haben somit die folgerichtigen Kon-
sequenzen gezogen, die in Kants Ansatz durch die Loslösung der phi-
losophischen Ethik vom Eudämonismus bereits enthalten waren.
Dass Kant selbst diesen Konsequenzen entgehen konnte, erklärt
Spaemann dadurch, dass er den Zusammenhang von Glücksverlan-
gen und Glückswürdigkeit doch nicht so radikal aufgelöst habe, wie
es den Anschein hat: »Kants formale Fassungen des kategorischen
Imperativs gewinnen nur Inhalt durch die stillschweigende Voraus-
setzung, daß der Wille als rationale Form des Triebes, als zu sich selbst
gekommener Trieb verstanden wird.« 141 Dass es sich um eine »still-
schweigende« Voraussetzung handelt, zeigt sich in der gegenläufigen
Schlussfolgerung Kants: »Nach vergeblichen Versuchen einer Ab-
leitung des kategorischen Imperativs gelangte er schließlich dazu,
das Gewissen als unableitbares Faktum, als ›Faktum der Vernunft‹
wie einen erratischen Block in unserem sonst so anders strukturierten
Lebensvollzug zur Kenntnis zu nehmen.« 142 Die Schlussfolgerung
aus dieser Betrachtung der kantischen Pflichtethik und der durch sie
in Gang gesetzten Entwicklung in der Geschichte der philosophischen
Ethik besteht darin,
daß die Autonomie einer philosophischen Ethik, die sich unabhängig
vom Eudämoniegedanken zu konstituieren sucht, immer nur eine

140
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 29.
141 Ebd. 117.
142
Ebd. 30.

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7.1.3 Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik

scheinbare ist. Sie wird von diesem Gedanken unvermeidlich wieder


eingeholt, nun aber auf eine destruktive Weise. Sie scheint als eine
sich selbst mißverstehende, lebensdienliche oder lebensfeindliche
Ideologie. Diese Deutung destruiert die Dimension des Sittlichen, weil
sie das vom Leben abgelöste Sittliche nun definiert durch den Bezug
auf ein vor- und außersittliches, das heißt naturalistisch verstandenes
Leben. Die außermoralische Betrachtung des Moralischen war ja gera-
de das große Postulat Nietzsches. In solchen Reduktionsversuchen
wird immer vorausgesetzt, es gehe um das Gelingen des Lebens, und
wir wüßten bereits, worin es bestünde. Aber der Biologismus, auch
derjenige Nietzsches, ist weit davon entfernt, das zu wissen. Er hat
davon nur die verschwommensten Ideen, und wenn seine Ideen präzi-
siert werden, sind sie leicht als falsch erkennbar. Die sittliche Dimen-
sion läßt sich nicht, weder in apologetischer noch in entlarvender Ab-
sicht, funktional aus einem Begriff vom Leben oder Lebensinteresse
konstruieren, in welchem diese Dimension nicht immer schon mit-
gedacht ist. Jede solche Rekonstruktion konstruiert etwas anderes als
das Sittliche, weil es dessen eigentümliche Unbedingtheit auf diese
Weise gerade beseitigen muß. 143
Eine deontologische Ethik, die sich vom Eudämonismus radikal gelöst
hat, ist demnach, so das erste Fazit aus dieser philosophiehistorischen
Betrachtung, nach Spaemann nicht möglich: »Pflichten sind nur ein
Teil unseres Lebens, und Pflichtgemäßheit ist nur ein Aspekt unseres
Handelns und Unterlassens. Der Sinn dieses Aspektes läßt sich nicht
aufklären, ohne daß wir ihn auf das Leben als ganzes und auf den
umfassenden Aspekt seines Gelingens beziehen.« 144 Der Versuch
einer Aktualisierung des antiken Eudämonismus, die das Anliegen
der weiteren Gedankenentfaltung in »Glück und Wohlwollen« ist,
muss sich, so das zweite, von Nietzsche angeregte Fazit der bisherigen
Überlegungen, mit einem Begriff des Lebens auseinandersetzen, der
die Dimension des Sittlichen und die mit ihr verbundene Unbedingt-
heit bereits enthält. Für einen solchen Versuch muss die philosophie-
historische Betrachtung im Folgenden verlassen und in Anknüpfung
an die vor allem anhand der Aufsatzsammlung »Das Natürliche und
das Vernünftige« im vorangegangenen Kapitel umrissene metaphy-
sische Konzeption Spaemanns ein völlig neuer Zugang zu der zen-
tralen Frage danach, was εὐδαιμονία heißt, gefunden werden.

143 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 30.


144
Ebd. 31.

455

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7.2 Metaphysik und Gelingen des Lebens

Die Herstellung der Verbindung der im vorangegangenen sechsten


Kapiteln umrissenen metaphysischen Konzeption Spaemanns mit
der Frage nach dem Gelingen des Lebens erfolgt in drei Schritten.
Zunächst wird die Frage nach dem Zusammenhang des Natürlichen
und des Vernünftigen neu aufgegriffen und in mehreren Anläufen
das Verhältnis von bloßer Lebendigkeit und bewusstem Leben neu
untersucht. Dabei geht es wesentlich um die Frage, inwiefern die im
sechsten Kapitel konstatierte Notwendigkeit eines metaphysischen
Sprunges in dieser neuen Perspektivierung philosophisch aufgehoben
werden kann. Die Überlegung wird dahin führen, dass diese Auf-
hebung zunächst nicht auf dem Gebiet der theoretischen, sondern
vielmehr der praktischen Philosophie möglich erscheint, die von der
durchschnittlichen Verfasstheit bewussten Lebens ausgeht und zu
einer Einsicht von prinzipieller Bedeutung über die in Frage stehende
conditio humana gelangt (7.2.1). Ausgehend von diesen anthropo-
logischen Vorüberlegungen wird mit dem Wohlwollen bzw. dem
amor benevolentiae der Hauptbegriff von Spaemanns »Versuch über
Ethik« entfaltet, wobei die phänomenologische Analyse den Weg be-
reitet zur Erschließung eines interpersonalen Begegnungsgesche-
hens, dessen theoretische Bedeutung für Spaemann in der gesuchten
Aktualisierung des antiken Eudämonismus besteht. Das somit er-
reichte gedankliche Zentrum von »Glück und Wohlwollen« wird im
Sinne einer Metareflexion näher auf seine Bedeutung im Gesamt-
zusammenhang des Argumentationsganges befragt (7.2.2). Der dritte
Abschnitt wendet sich der Paradoxie zu, die sich ergibt, sobald das
Wohlwollen in seiner prinzipiellen Universalität als Haltung eines
konkreten Individuums zur Welt gedacht wird. Über eine erneute
Thematisierung des Problems der Reflexion und des teleologischen
Lebensbegriffs ergibt sich eine Auflösung der Paradoxie im Begriff
der symbolischen Handlung, der zum Gedanken der ›Brechung‹ der
Universalität des Wohlwollens im ordo amoris und dem – angesichts
der dennoch fortbestehenden Gefahr der Überforderung des Men-
schen durch die ihm zugedachte Aufgabe – entlastenden Gedanken
der ontologischen Verzeihung führt (7.2.3). Die so insgesamt herzu-
stellende Vermittlung zwischen der metaphysischen Konzeption
Spaemanns und dem Gedanken des gelingenden Lebens liefert die

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7.2.1 Conditio humana

Grundlage für eine allgemeine Betrachtung von »Glück und Wohl-


wollen« und die Eröffnung darüber hinausgehender Perspektiven.

7.2.1 Conditio humana

Um gegenüber der philosophiehistorischen Darstellung und der Ana-


lyse der antinomischen Struktur der εὐδαιμονία im ersten Hauptteil
zum stärker systematisch orientierten zweiten Hauptteil überzulei-
ten, muss im Sinne des eingangs erwähnten Gedankens vom »Wesen
des Denkens als Erinnerung« 1 ein Leitmotiv von Spaemanns Philoso-
phieren vergegenwärtigt werden. Die Antinomie des Glücks, das erst
im Bewusstsein als bereits vergangenes erfasst wird, bildet exakt das
von Spaemann seit »Natürliche Ziele« reflektierte Verhältnis von be-
wusstem Leben und präreflexivem Lebensvollzug ab.2 Eine Verbin-
dung der teleologischen Gedankenlinie mit der Frage nach dem Ge-
lingen des Lebens verspricht daher eine neue Möglichkeit, der
beschriebenen Aporie des Eudämonismus zu entgehen: »Die anti-
nomische Verfassung unserer Intuition von Glückseligkeit, die an-
scheinende Unmöglichkeit, Gelingen des Lebens widerspruchsfrei zu
denken, läßt die Frage nach der Verfassung eines Wesens entstehen,
das nicht umhinkann, in diesen Widerspruch zu geraten, sobald es
nachzudenken beginnt.« 3 Diese Verfassung, die als Spannung zwi-
schen dem Natürlichen und dem Vernünftigen bereits Thema der Es-
says der 80er Jahre war, wird von Spaemann nun in »Glück und
Wohlwollen« erneut durchdacht, wobei der Antagonismus von Ver-
nunft und Leben Ausgangspunkt der Überlegungen ist. Was also
bedeutet Leben, und was Vernunft?
Leben heißt: Zentriertheit in sich, in einer organischen Mitte. Das
Lebendige ist ein Innen, das sich gegen ein Außen abschließt. Es ver-
wandelt das Begegnende in Umwelt und verleiht ihm auf diese Weise

1 Spaemann, Mystik und Aufklärung (1967), 49. – Vgl. die Einleitung zum zweiten

Teil, 88.
2 Vgl.: »Leben drängt gewissermaßen danach, bewusst zu werden. Und wo es bewusst

wird, da wird es bewusst als ein Aus-Sein-auf, das allem bewussten Wollen und
Zwecksetzen vorausgeht. Leben ist wesentlich, wie es das aristotelische to ti en einai
sagt – ein Gewesensein dessen, was ist.« – Spaemann, Zum Begriff des Lebens (zuerst
erschienen 1989 unter dem Titel »On the concept of life«; deutsche, leicht erweiterte
Übersetzung 1994), 84.
3
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 110.

457

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Bedeutsamkeit. Indem es allem Begegnendem im Rahmen der eigenen


Selbstbehauptung und Selbstverwirklichung eine Bedeutung gibt,
»versteht« es die Welt. Das schlechthin Unverstandene ist für das Le-
bendige nicht da. Für das vernünftige Wesen kehrt sich die Richtung
um. Fieri aliud inquantum aliud ist eine alte Definition seines kogni-
tiven Weltverhältnisses. »Das Andere als das Andere werden«, das
heißt, es als Unverstandenes realisieren, als etwas, das zunächst nicht
in meiner Welt Bedeutung hat, sondern das selbst Subjekt ist, für das
es Bedeutung gibt. Vernunft beginnt mit dem Wissen, daß etwas exis-
tiert, wovon man selbst nichts weiß oder das man nicht versteht. Die
Worte »sein«, »existiert« und »es gibt« eröffnen einen Horizont, des-
sen Umfang unendlich und dessen Mitte überall ist, also gerade nicht
nur dort, wo ich selbst bin. In diesem Horizont zu existieren steht in
einer unaufhebbaren Spannung zu der Tatsache, daß das vernünftige
Wesen zugleich ein lebendiges ist, das fortfährt, im Mittelpunkt seiner
Umwelt zu stehen und die Welt aus dem Gesichtspunkt seiner Sorge
um das eigenen Seinkönnen zu deuten. 4
Diese Deutung von Leben und Vernunft ist angelehnt an einen
Grundgedanken von Helmuth Plessners philosophischer Anthro-
pologie, die »exzentrische Position« 5, auf die Spaemann sich in
»Glück und Wohlwollen« explizit beruft. 6 Um Spaemanns anthro-
pologische Konzeption in ihrer vollen Tragweite zu begreifen, ist es
nun notwendig, intensiv über das Verhältnis von Leben und Vernunft
zueinander nachzudenken. Zunächst ist zu fragen, wie überhaupt der
Übergang von Leben zu Vernunft vorgestellt werden kann: Wie
kommt das Leben zur Vernunft? Die Antwort auf diese Frage kann
ausgehen von folgender negativen Feststellung: »Der Gegensatz von
Lebendigkeit und Vernünftigkeit, organischem Leben und Reflexion
ist von der Art, daß es keine kontinuierliche ›Entwicklung‹ vom einen
zum anderen gibt. Entwicklung ist eine Kategorie des Lebendigen.« 7
Wenn die Vernunft sich aus dem Leben nicht entwickelt, handelt es
sich bei ihrem Erscheinen um ein plötzliches Ereignis, einen »onto-
logischen Sprung«, Spaemann spricht auch von »Bruch«, »metanoia«
und »Umkehr« 8. Die von Spaemann zur Beschreibung des Übergangs

4 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 111.


5 Plessner, Die Frage nach der Conditio humana, Gesammelte Schriften, Bd. 8, 190–
195.
6
Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 86.
7 Ebd. 111.

8
Ebd. 113.

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7.2.1 Conditio humana

gewählte Metapher des Erwachens des Lebens zur Vernunft unter-


streicht die in diesem Sprung zu Tage tretende Paradoxie:
In seiner durchschnittlichen Verfassung ist Leben nie voll erwacht.
Aber andererseits können wir auch nicht sagen, die Vernunft schlum-
mere oder sei nur halb erwacht. Wenn nämlich Vernünftigkeit, wie
wir sahen, nicht ein Entwicklungsprodukt, sondern eine Richtungs-
umkehr ist, dann kann der Horizont, den Vernunft eröffnet, nicht all-
mählich sich eröffnen. Vernunft ist wesentlich Antizipation eines
Vollendeten. Und als solche ist sie, wie die Aristoteliker sagen, »sem-
per in actu«. 9
Vernunft eröffnet also, sobald sie da ist, einen »Horizont des Unbe-
dingten« 10, wobei die Umkehr, in der sie wesentlich besteht, nur als
plötzliches Ereignis begriffen werden kann, so dass die Frage nach
dem Übergang vom Leben zur Vernunft zunächst unbeantwortet
bleibt, da als Antwort nur jener Verweis auf eine Grenze des Denkens
steht, auf die bereits die Untersuchungen im sechsten Kapitel hinaus-
liefen.
Um im Gedankengang weiterzukommen, muss daher die Frage-
stellung verändert und gefragt werden, wie weit die Bewegung vom
Leben zur Vernunft gehen kann: Ist ihr Ziel eine reine Vernunft, die
das Leben hinter sich gelassen hat? Spaemann verneint diese Frage in
aller Deutlichkeit:
Hinter dieser Antizipation einer immer wachen Vernunft bleibt das
Leben zurück. Es kann nicht zu reinem Bewußtsein seiner selbst wer-
den ohne dasjenige, wovon es Bewußtsein ist, zum Verschwinden zu
bringen. Es kann sich nicht in einen reinen Blick auf sich selbst ver-
wandeln. Auch hier gilt: »Wer alles durchschaut, sieht nichts.« Sub-
jektivität ist zwar das Paradigma für jeden Begriff von Substanzialität,
aber vollkommen in Bewußtsein aufgehobenes Leben, vollkommen zu
Wille gewordener Trieb würde jene Leere sein, in der aller Inhalt ver-
schwunden wäre. Menschliche, also endliche Vernunft ist auf Re-
zeptivität angewiesen. Sie kann sich nicht selbst zu denken geben. Re-
zeptivität aber setzt eine kausale, also gerade nicht begriffliche
Beziehung zum Anderen, folglich eine Dimension der Unbewußtheit
voraus. 11

9
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 116.
10 Ebd. 112.
11
Ebd. 116–117.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Vernunft ist immer etwas an einem lebendigen Substrat. Diese Fest-


stellung ist keineswegs trivial, sondern steht im Widerspruch zu we-
sentlichen Traditionslinien neuzeitlichen Philosophierens. Eben jene
Entleerung des Vernunftbegriffes, von der Spaemann hier spricht,
liegt dem Ausgangspunkt der neuzeitlichen Philosophie in Descartes’
Zweifelsbeweis zugrunde: »Das Cartesische cogito, vollständig er-
wacht, vollständig bei sich seiend, ist zugleich ebenso vollständig leer
– erinnerungsloses und zukunftsloses Jetzt.« 12 Descartes konnte sich,
wie oben gesehen, 13 nur durch die Theologisierung der Ontologie
dieser Konsequenz entziehen, zu der er gezwungen war, weil er den
»Begriff des Lebens preisgegeben« 14 hatte. Das von Spaemann dem
cartesischen Ansatz entgegengestellte metaphysisch-analoge Denken
hält demgegenüber ausdrücklich am Begriff des Lebens fest, der sich
nicht in reine Vernunft verwandeln lässt: »Endliche Vernunft ist
nicht Substanz, sondern Geschehen, das Geschehen des Substan-
ziell-werdens eines organischen Prozesses.« 15 Dabei gilt aber, dass
Leben – d. h. das, was substanziell wird, – »wesentlich nicht eine clara
et distincta perceptio« ist und dass es keinen »anderen als analogen
Begriff des Lebens« geben kann, was ebenso auf den Begriff der
Glückseligkeit zutrifft und für den Gedanken einer Erneuerung des
Eudämonismus von wesentlicher Bedeutung ist. Die Destruktion der
kantischen Pflichtethik durch Nietzsche wurde ja gerade dadurch
möglich, dass »das ›Faktum der Vernunft‹, die sittliche Forderung«
bei Kant völlig von seiner lebendigen Grundlage abgelöst wurde:
»Der Gegensatz von Vernunft und Lebendigkeit schien ihm prinzi-
piell unaufhebbar, eine ›Verwandlung‹ des Lebens nicht möglich.« 16
Dagegen bleibt für Spaemann Leben das – wie man in Anspielung auf
sein Lewis-Zitat 17 sagen könnte – in jeder Vernunft ›Undurchschau-
te‹, durch das Festhalten an dem allein die Aufhebung einer ohne es
wurzellos gewordenen Vernunft verhindert werden kann.
Wenn Vernunft nicht von Leben abgelöst werden kann, der

12 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 117.


13 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 314–351.
14 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 117.

15 Ebd.

16 Ebd. 121.

17 Vgl.: »Es führt zu nichts, die Ersten Prinzipien ›durchschauen‹ zu wollen. Wenn

man durch alles hindurchschaut, dann ist alles durchsichtig. Aber eine völlig durch-
sichtige Welt ist unsichtbar geworden. Wer alles durchschaut, sieht nichts mehr.« –
Lewis, Die Abschaffung des Menschen, 82.

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7.2.1 Conditio humana

Übergang vom einen zum anderen sich aber nicht widerspruchsfrei


denken lässt, bleibt drittens zu fragen, in welchem Verhältnis die Ver-
nunft zum Leben steht: Ist sie die Form eines lebendigen Inhalts? Es
könnte naheliegend erscheinen, den »Dualismus von Lebendigkeit
und Vernunft« nach dem »Gegensatz von Materialität und Formali-
tät« zu verstehen und somit einen »Antagonismus vernünftiger, bloß
formaler Allgemeinheit einerseits und bloß organischer Lebendigkeit
andererseits« 18 anzunehmen. Eine solche Annahme verkennt nach
Spaemann, dass das Verhältnis von Leben und Vernunft nicht ana-
lysierbar ist, 19 da Leben nicht ohne Vernunft und diese nicht ohne
jenes gedacht werden kann. Letzteres wurde bereits mit der Antwort
auf die zweite Frage gezeigt, hier geht es nun um die umgekehrte
Möglichkeit der Reduktion der Vernunft als reine Form auf das Leben
als ihren Inhalt. Ein solcher Gedanke unterstellt, dass »der Inhalt ver-
nünftigen Wollens sich in individueller oder allgemeiner Trieberfül-
lung erschöpfe«, dass also der »materiale Gehalt des guten Lebens
[…] auf die Erfordernisse physischer Selbst- und Arterhaltung und
auf diejenigen physischen Wohlbehagens« 20 reduzierbar wäre. Diese
Sicht verkennt aber die seit den Anfängen der Menschheit sich voll-
ziehende kulturelle Überformung des Naturtriebs:
Der Trieb ist uns […] nur dann hinreichender Grund, etwas zu seiner
Befriedigung zu tun, wenn wir ihn dazu machen, wenn wir den vekto-
riellen Sinn, der in ihm liegt, in Freiheit übernehmen. Und das können
wir nur, wenn wir diesen Sinn als Sinn wahrnehmen, nicht als factum
brutum, sondern als etwas, das einer Interpretation zugänglich, das
schon eine Art von Sprache ist.
Die Deutung des Triebes geschieht nicht von selbst. Sie ist gerade
nicht Natur. Sie ist das, was wir das Vernünftige nennen. Erst in der
Vernunft kommt Natur als Natur zur Erscheinung. 21
Es geht also um den Gedanken, von dem oben gesagt wurde, dass er
»die Philosophie konstituiert« 22, den Gedanken der Vernunft als Aus-
druck der Teleologie menschlicher Natur, 23 der sich darin ausdrückt,

18 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 114.


19 Vgl.: »In [unserer spezifisch humanen Erfahrung] sind Natur und Freiheit auf eine
Weise miteinander verbunden, die nicht analysierbar ist.« – Ebd. 242.
20 Ebd. 114.

21 Ebd. 214.

22
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1989), 123.
23 Vgl. Abschnitt, 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-

präsentation und Anerkennung, 389.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

dass sich die organische »Lebendigkeit immer schon auf das All-
gemeine vernünftiger und sozialer Lebensformen hin transzendiert
hat und daß umgekehrt Vernunft immer schon in solchen inhaltlich
reich strukturierten Lebensformen gegenwärtig ist« 24. Nun differen-
ziert diese dritte Antwort im Grunde nur aus, warum eine Antwort
auf die erste Frage nicht möglich war. Zusätzlich hat die Antwort auf
die zweite Frage durch den Verweis auf das metaphysisch-analoge
Denken klargestellt, dass hier überhaupt nicht Antworten erwartet
werden können, die ohne analoge Begriffe und damit den Bezug auf
ein Unvordenkliches auskommen. Das angekündigte intensive Nach-
denken über den Zusammenhang von Vernunft und Leben kann aber
damit noch nicht zu Ende gekommen sein, wenn es hier darum gehen
soll, in »Glück und Wohlwollen« einen substantiellen Fortschritt in
der philosophischen Entwicklung Spaemanns gegenüber dem im
sechsten Kapitel untersuchten Zeitraum zu konstatieren.
Ein neuer Ansatz des Nachdenkens über das Verhältnis von Ver-
nunft und Leben wird nun möglich durch die Besinnung auf den spe-
zifisch ethischen Ansatz von »Glück und Wohlwollen« und durch die
Frage, was dieser zur Überwindung der Aporie beitragen könnte, in
die die metaphysischen Überlegungen unausweichlich zu geraten
scheinen. Wenn die durchschnittliche Verfassung des Menschen als
ein »Zustand der Halbwachheit zwischen bloßer Lebendigkeit und
bewußtem Leben« 25 bezeichnet werden kann, stellt sich die Frage,
wie es um die Verantwortung des Menschen für diese Halbwachheit
bestellt ist. Für das durchschnittliche sittliche Empfinden ist ja die
Berufung auf Unachtsamkeit im Falle der Verkehrtheit von Handlun-
gen nur bedingt entschuldbar. Es ist somit nach der Bedeutung der
Verkehrtheit von Handlungen – und zwar Verkehrtheit nicht auf-
grund von Irrtum, sondern im eigentlich moralischen Sinne 26 – im
Hinblick auf das in ihnen zu Tage tretende Verhältnis von Leben
und Vernunft zu fragen. Wenn die moralische Verfehlung als defi-
zienter Modus der Erwachtheit zur Vernunft zu verstehen ist, lässt
sich die Frage dahingehend konkretisieren, wie moralische Schuld aus
einem solchen Mangel an Aufmerksamkeit abgeleitet werden kann,

24 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 114.


25 Ebd. 125.
26 Die folgenden Überlegungen schließen an an die Reflexionen zu diesem Thema in

Bezug auf Platon und Aristoteles in Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus


und aristotelischer Kompromiss, 435–436 u. 443, sowie in Bezug auf Kant in Ab-
schnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 451–452.

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7.2.1 Conditio humana

das heißt, wie überhaupt der Gedanke einer »schuldhaften Unauf-


merksamkeit« 27 gedacht werden kann. Ich zitiere eine längere Text-
passage, um an die Antwort heranzuführen:
Auch unbeabsichtigte, aber in Kauf genommene Folgen, auch das
Nicht-Bedenken von Folgen, auch Unaufmerksamkeit und Vergessen
fallen in die Verantwortung des Handelnden, wenn er als frei begriffen
und anerkannt werden soll. Das mag verwundern, denn Nicht-Beden-
ken, Vergessen und Unaufmerksamkeit sind ja offenbar gerade nicht
psychische Ereignisse, nicht Willenshandlungen. Wenn wir sie gleich-
wohl moralisch beurteilen, so deshalb, weil der Ort der Freiheit offen-
bar gar nicht primär die einzelne Handlung ist, sondern die Verfas-
sung der Person, der Grad ihres Erwachtseins zur Wirklichkeit. Daß
dieses Erwachtsein, diese Aufmerksamkeit selbst noch einmal zu ver-
antworten ist, ist ein Paradox, das der Philosophie immer wieder zu
schaffen gemacht hat. Denn es scheint das Problem der Freiheit in eine
unendliche Iteration zu verstricken. Wenn Freiheit in Erwachtsein zur
Vernunft gründet und wenn wir selbst andererseits für dieses Er-
wachtsein selbst Verantwortung tragen, dann scheint dies zum Postu-
lat einer »Freiheit vor der Freiheit« zu führen. Ohne dieses Problem
hier mit der erforderlichen Differenzierung anzugehen, läßt sich doch
prima facie folgende Richtung für seine Lösung angeben. Das ur-
sprüngliche Erwachtsein kann in keiner Weise als eigene Leistung des
Subjekts gedacht werden. Es ist vielmehr konstitutiv für Personalität.
Der höchste Grad der Wachheit – zugleich der höchste Grad des Wohl-
wollens – ist identisch mit dem höchsten Grad der Freiheit, wobei
Freiheit hier alle sittliche Indifferenz hinter sich gelassen hat. Indiffe-
rent kann sie nur sein gegen sittliche adiaphora. Sittliche Indifferenz,
Freiheit zum Guten oder zum Bösen läßt sich nur denken als Resultat
eines Abfalls, in dem die endliche Freiheit ihre Wachheit nicht durch-
gehalten hat. Nur als sekundäre Entscheidung läßt sich die sittlich
negative Entscheidung denken. Der Mensch ist frei, sich aus dem Er-
wachtsein zur Wirklichkeit in die Partikularität des amor sui usque ad
contemptum Dei zurückzuziehen, er ist nicht ebenso frei, diese Rich-
tung wieder umzukehren, sondern bedarf hierzu einer »Befreiung«. 28
Ausgangspunkt der Überlegung ist hier eine Verschiebung des Fokus:
Die moralische Betrachtung richtet sich nicht mehr auf die Handlung,
sondern auf die Verfassung der Person als Ort der Freiheit. Dies führt
zunächst zur Paradoxie der schuldhaften Unaufmerksamkeit, die sich

27 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 243.


28
Ebd. 188–189.

463

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

nicht widerspruchsfrei denken lässt, weil zur Einräumung einer


Schuld immer bereits ein Bewusstsein von dem, was in der Unauf-
merksamkeit ausgeblendet wurde, bzw. eine »Freiheit vor der Frei-
heit« angenommen werden müsste. Diese aus der Perspektive der
Person in der Verfassung der Unaufmerksamkeit sich ergebende Pa-
radoxie ist nur die Kehrseite jener Paradoxie, die sich aus dem Ver-
such einer Antwort auf die erste Frage, wie das Leben zur Vernunft
kommt, ergab. Bis zu dieser Stelle wiederholt sich also das oben Aus-
geführte. Ein völlig neuer Gedanke ist dagegen mit der Idee eines
»ursprünglichen Erwachtseins« als anthropologischer Grundbestim-
mung gegeben, die, da sie keine Leistung des Subjekts sein kann,
entweder als natürliche Ausstattung oder göttliche Gabe aufgefasst
werden muss. Von diesem für die Personalität konstitutiven primären
Erwachtsein aus stellt sich der Normalzustand des Menschen als Ab-
fall in Folge einer sekundären Entscheidung dar. Es ist wesentlich zu
sehen, dass der Begriff einer schuldhaften Unaufmerksamkeit in die-
sem Bezugsrahmen seine paradoxe Implikation verliert, da es dem-
nach eine freie und somit zu verantwortende Bewegung war, die in
den Zustand der Unaufmerksamkeit geführt hat. In Bezug auf die der
Person möglichen Bewegungen besteht aber eine wesentliche Asym-
metrie, insofern die dem Abfall gegenläufige Bewegung, also die
neuerliche Rückkehr zum Erwachtsein nicht aus freier Spontaneität
erfolgen kann, sondern eine von außen kommende Befreiung voraus-
setzt. Diese Argumentation ist daher prinzipiell geeignet, die Aporie,
in die das Nachdenken über das Verhältnis von Vernunft und Leben
geführt hat, aufzulösen. Allerdings steht und fällt diese Möglichkeit
mit der hier neu eingeführten anthropologischen Grundbestimmung
eines »ursprünglichen Erwachtseins«, nach deren Rechtfertigung im
nächsten Schritt gefragt werden muss. Als solche findet man in
»Glück und Wohlwollen« aber überraschenderweise statt einer an-
thropologischen Theorie den Verweis auf einen biblischen Mythos:
Das Phänomen, von dem hier die Rede ist, das Paradox der schuldhaf-
ten Unaufmerksamkeit ist in diesem Kontext, wo es erstmals thema-
tisch wird, gar nicht Gegenstand einer anthropologischen Theorie,
sondern Gegenstand einer kontingenten Geschichte, der Geschichte
der sogenannten Erbsünde, also der Erzählung von der Entstehung
eines Verstrickungszusammenhangs, der die »Verfallenheit« für jeden
Einzelnen zur Ausgangsituation macht, obgleich sie »an sich« selbst
bereits Folge einer Schuld ist. Sie als solche erkennen und so die Nor-
malität der conditio humana als eine ontologische Anomalität durch-

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7.2.1 Conditio humana

schauen ist selbst erst Folge einer Umkehr. Und diese Umkehr kann
niemand sich selbst verdanken. 29
Bevor die volle Bedeutung dieser Textstelle expliziert werden kann,
muss gezeigt werden, dass die hier vorgenommene Deutung des Sün-
denfalls im Gegensatz zu derjenigen steht, die in der Moderne Epoche
gemacht hat. Spaemann weist zunächst auf Rousseau hin, 30 für den
der Urzustand ein status naturae purae war, aus dem herauszutreten
der notwendige Schritt zur Freiheit war. 31 In seinem Essay Ȇber
einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre« (1991) bemerkt
Spaemann hierzu: »Die von Rousseau angeregte Identifizierung von
Sündenfall und Freiheitsgeschichte läuft natürlich auf eine Zerstö-
rung des Begriffs des peccatum originale hinaus.« 32 Mit Bezug auf
die Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts führt Spaemann in
»Glück und Wohlwollen« aus:
Man sieht leicht, wie sowohl Kants oder Schopenhauers Lehre von der
Wahl des intelligiblen Charakters als auch Heideggers Theorie der
Verfallenheit Versuche sind, die Erbsündenlehre in eine Theorie zu
transformieren und die radikale Kontingenz des Sündenfallmythos,
den die Bibel erzählt, in so etwas wie eine apriorische Verfaßtheit des
menschlichen Wesens zu verwandeln. Aber man sieht auch, daß der
Mythos hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll. 33
Gegen den Gedanken, dass »der Mensch nur durch die Übertretung
dieses Gebotes sich als Freiheitswesen erfahre« 34, dessen Echo er in
den in der Rousseau’schen Tradition stehenden Konzeptionen der drei
Genannten erkennt, stellt Spaemann die »traditionelle Auslegung des
Mythos als dessen authentische Selbstauslegung« 35, die durch eine
weitere Textstelle präzisiert werden soll:
Dann nämlich sagt er, der Mensch sei von Anfang an herausgerufen
aus der Selbstzentriertheit der natürlichen Lebendigkeit zu einer
Handlungsweise, genauer: einer Unterlassung aus überindividueller,
aus göttlicher Perspektive. Diesem Ruf habe er sich versagt. Zwar sei

29 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.


30 S. ebd. 113.
31 Vgl. Abschnitt 5.1.3, »Zur Vorgeschichte des Naturbegriffs im 18. Jahrhundert«,

202–205.
32 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203.

33
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.
34 Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 203.

35
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

er durch diesen Ruf zur Vernunft erwacht, aber er habe diese sogleich
umgedeutet in ein Instrument jener Selbstzentriertheit, die er doch
hätte verlassen sollen. Damit sei aber ihre tierische Unschuld ver-
lorengegangen. Einmal zur Vernunft erwacht und in den Horizont
des Absoluten getreten, kann die curvatio in seipsum, das Festhalten
an der Mittelpunktstellung, nur noch in der Form der Hybris gesche-
hen, nämlich als »Sein-wollen wie Gott«. Diese »unvernünftige Ver-
nunft« aber ist zugleich unnatürliche Natur. 36
Der ursprüngliche Ruf, der sich an den Menschen richtet, wird nicht
wie in der Rousseau’schen Tradition als der zur Übertretung des Ge-
bots, sondern als der in der Naturteleologie fundierte Ruf zur Selbst-
transzendenz in der Befolgung des Gebots verstanden. Es handelt sich
also um eine direkte Umkehrung der Konstellation. Da das scheinbare
Freiheitsgeschehen der Übertretung die Richtung auf die curvatio in
seipsum einschlägt, bedeutet der Beginn der vernünftigen Reflexion
auf die natürliche Selbsttranszendenz im Gegenteil den Verzicht auf
die Übertretung. Der vermeintlichen Selbsttranszendenz der Über-
tretung wird die ursprüngliche vernünftige Selbsttranszendenz, die
über sich hinausgeht, ohne das Gebot zu übertreten, entgegengestellt.
Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Deutungen besteht
in der Antwort auf die Frage, ob die Verfallenheit als Ausgangspunkt
und damit als Normalität der conditio humana angenommen wird
oder ob sie als Folge einer Schuld und damit als ontologische Anoma-
lität begriffen wird. Im letzteren Fall ist eine Umkehr – μετάνοια –
möglich, die sich allerdings immer einer Befreiung von außen ver-
dankt. Die sich im Zuge dieser Überlegung aufdrängende Frage, ob
und inwiefern die Bezugnahme auf einen biblischen Mythos im Rah-
men einer philosophischen Argumentation legitim ist, 37 sowie die, ob
es auch genuin philosophische Mittel gibt, um das hinter dieser Be-
zugnahme stehende Anliegen zu vertreten, soll zunächst ausgeklam-
mert und erst an späterer Stelle betrachtet werden. 38 Hier ist zunächst
festzuhalten, dass die Idee eines »ursprünglichen Erwachtseins« zum
einen die Möglichkeit bietet, die hier eingangs bedachten Paradoxien
im Verhältnis von Vernunft und Leben zu überwinden, und sie sich
zum anderen in dem bei Spaemann vorausgesetzten Bedingungsrah-

36 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.


37 An anderer Stelle nennt Spaemann die Erbsündenlehre einen »ätiologische[n] My-
thos«, also einen solchen, der wesentlich der Erklärung eines Sachverhaltes dient. –
Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 187.
38
S. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 504–505.

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7.2.2 Amor benevolentiae

men des metaphysisch-analogen Denkens im teleologischen Lebens-


begriff genuin philosophisch fundieren lässt.

7.2.2 Amor benevolentiae

Die zentrale Frage, die sich nach der Darlegung der anthropologi-
schen Grundgedanken in »Glück und Wohlwollen« stellt, besteht
darin, wie ein Erwachen zur Wirklichkeit ausgehend von der als
ontologischer Anomalität gekennzeichneten Normalverfassung des
Menschen möglich ist. Bevor dieser Frage nachgegangen werden
kann, muss man sich zunächst klarmachen, was damit gefragt ist bzw.
welche Antworten überhaupt erwartet werden können. Nicht gefragt
ist damit nach der Rekonstruktion des Übergangs von bloßer Leben-
digkeit zu bewusstem Leben, da dieser, wie gesehen, nur als μετάνοια
begreifbar ist, nicht als Überwindung bloßer Lebendigkeit verstanden
werden kann und die Verbindung von Leben und Vernunft nicht ana-
lysierbar ist. Im Sinne der dargelegten Asymmetrie möglicher
menschlicher Bewegungen, nach der frei wählbar der Abfall von der
Wirklichkeit, die umgekehrte Richtung aber nur durch eine Befrei-
ung von außen möglich ist, muss die Frage somit auf das Ereignis der
Begegnung zielen, durch die die Befreiung bewirkt wird. Die An-
näherung an das Ereignis der Begegnung erfolgt am Leitfaden der
Gedankenentwicklung im Kapitel »Wohlwollen« zuerst in weit-
gehender methodischer Beschränkung auf das Selbst im Sinne der
subjektiven Voraussetzungen – also auf das, was in dem Ereignis ent-
gegengebracht wird; danach erst wird der Blick auf die Intersubjekti-
vität ausgeweitet und im Sinne der Evidenz der Wahrnehmung eines
anderen Selbst auf das gerichtet, was in dem Ereignis entgegen-
kommt. Es geht somit um eine phänomenologische Analyse der
Wahrnehmung und ihre Verwandlung durch das Ereignis der Begeg-
nung, in das der Wahrnehmende so hineingezogen wird, dass aus
diesem Ereignis die Antwort auf die gestellte Frage hervorgeht.
Die Frage nach der Möglichkeit eines Erwachens zur Wirklich-
keit fragt danach, wie die Subjektivität welthaltig werden kann. Die
subjektive Eigenschaft der Welthaltigkeit impliziert notwendig ein
Interesse an der Welt. Für dieses Interesse, das, wie im Folgenden
dargelegt werden soll, zur »Lösung des Eudämonismusproblems« 39

39
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 123.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

führt, wählt Spaemann den Begriff des Wohlwollens als Übersetzung


des lateinischen amor benevolentiae, der in der mittelalterlichen
Philosophie vom amor concupiscentiae, der Begierde, unterschieden
wurde. Liebe als »Wohlwollen eines vernünftigen Wesens« ist in
christlichem Verständnis immer eine Gabe Gottes, wobei der
Gnadencharakter der Liebe auf den oben mit dem Sündenfallmythos
thematisierten Zusammenhang verweist, »daß Liebe die Normalver-
fassung eines vernünftigen Wesens ist und daß die Notwendigkeit
einer besonderen Gnade der Umkehr ihren Grund in der sündhaften
Abweichung des Menschen von seiner Normalverfassung hat« 40.
Spaemann nennt zwei Voraussetzungen des Wohlwollens:
Es setzt zunächst voraus die teleologische Verfaßtheit eines Lebe-
wesens, dem es um etwas geht, für das etwas gut, zuträglich, wohl-
tuend ist. Nur dann kann man ihm wohlwollen. Es setzt aber zweitens
voraus, daß dasjenige Wesen, um dessen Wohl es zu tun ist, als es
selbst sichtbar wird. Aristoteles unterschied das eine vom anderen als
finis quo und als finis cuius gratia, als Wozu und als Umwillen. 41
Insofern die lebendige Grundstruktur des Ausseins-auf unter dem
teleologischen Vorzeichen der Philosophie Spaemanns nicht in Frage
steht, muss die Annäherung an den Begriff des Wohlwollens sich auf
den zweiten Aspekt konzentrieren, also auf die Frage nach dem Sicht-
barwerden des Umwillen, die direkt zur Thematisierung der Vernunft
führt: »Das Tier wird seiner selbst als Umwillen seiner Triebe und
Begierden nie ansichtig. Praktische Vernunft unterscheidet sich vom
Trieb dadurch, daß das Umwillen des Handelns selbst hervortritt, also
dasjenige, ›dem zuliebe‹ der Handelnde handelt.« 42 Spaemann weist
darauf hin, dass das Hervortreten des eigenen Selbst als dieses Um-
willen immer schon durch den Anderen vermittelt ist. Der reflexive
Rückbezug des bewusst gewordenen Triebes auf ein Selbst als dessen
Umwillen verdankt sich bereits einem Blick von außen. Dass die The-
matisierung des Selbst durch ein vernunftbegabtes Wesen problema-
tisch ist, legt Spaemann zunächst unter Verweis auf Heideggers in
»Sein und Zeit« entwickelte These dar, wonach alles in der Welt Be-
gegnende eine Bewandtnis hat für das Dasein, das »sich selbst als
Grund aller Bewandtnis entdeckt« 43, mit dem es aber selbst keine Be-

40 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 123.


41
Ebd.
42 Ebd. 124.
43
Ebd.

468

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.
7.2.2 Amor benevolentiae

wandtnis hat und das »selbst nicht noch einmal aus einem Umwillen
heraus verstehbar ist« 44. Das »bewandtnislose Um-willen ist das
schlechthin Wirkliche«, sein Sichtbarwerden ist gleichbedeutend mit
dem Erwachen zur Vernunft. Was Heidegger als Entdeckung der
»Eigentlichkeit« beschrieben hat und Spaemann mit »Erwachen zur
Wirklichkeit« 45 übersetzt, 46 »ist mit jener Blickwendung verbunden,
die aus der Perspektive des Triebes nicht ableitbar ist« 47, mit jener
μετάνοια im Erwachen zur Vernunft, nach der hier gefragt wird
und die genauer untersucht werden soll. Was diese Blickwendung
positiv bedeuten kann, entfaltet Spaemann vor dem Hintergrund
ihrer solipsistischen Zurückbiegung auf die lebendige Zentriertheit,
die zuerst betrachtet werden muss. Den Schlüssel zu diesem Vorgang
liefert der Begriff des Selbsterhaltungstriebes: »Die Rede von einem
solchen Trieb hat etwas Problematisches. Sie ist charakteristisch für
den Zustand der Zweideutigkeit, den wir als Zustand der Halbwach-
heit zwischen bloßer Lebendigkeit und bewußtem Leben bezeichnet
haben.« 48 Die Zweideutigkeit ergibt sich daraus, dass Selbsterhaltung
prinzipiell »finis cuius gratia, nicht Wozu, sondern Umwillen« 49 ist,
dass ein vernünftiges Wesen in ihrer expliziten Thematisierung aus
ihr aber ein Triebziel, einen finis quo zu machen versucht. Es ist wich-
tig, sich den inneren Widerspruch dieses Vorgangs klarzumachen:
Das Erwachen zur Vernunft, in dem das Selbst als Umwillen entdeckt
wird, bedeutet wesentlich die Loslösung von der Bindung an den
Trieb, also eine Distanznahme zur eigenen Natur; durch die Rede
von der Selbsterhaltung aber versucht nun die erwachte Vernunft
sich auf das Triebziel der Erhaltung und damit auf eine Bewandtnis
des Selbst zurückzubiegen. 50 Die erwachte Vernunft gerät also in

44 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124.


45 Ebd.
46
Vgl.: »Heidegger leitet daraus die Unheimlichkeit und Angst des Daseins ab. Spae-
mann hingegen interpretiert dieses Phänomen in Richtung auf den Kantischen Ge-
danken der Selbstzwecklichkeit.« – Ollig, Die Aktualität der Metaphysik. Perspek-
tiven der deutschen Gegenwartsphilosophie, 62.
47 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 125.

48 Ebd.

49 Ebd.

50 Diese Analyse kann als phänomenologische Explikation desjenigen Selbstverhält-

nisses gelesen werden, das der oben skizzierten Rousseau’schen Deutung des Sünden-
fallmythos zugrunde liegt. Der vermeintliche Schritt in die Freiheit im Übertreten des
Gebots erweist sich als Negierung der Selbsttranszendenz und Rückzug in die cur-
vatio in seipsum.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

einen inneren Widerspruch, weil sie sich mit dem identifiziert, aus
der Distanz zu dem sie selbst hervorgegangen ist. Dadurch kommt
es aber gewissermaßen zu einem ›Kurzschluss‹, da es gerade das We-
sen der Vernunft ist, vom Trieb nicht determiniert zu sein. Die Folge
ist der Verlust des Selbst entweder praktisch als Rückzug aus der
Wirklichkeit – die frei wählbare der beiden Bewegungen – oder theo-
retisch als Negation des Selbst:
Der Selbsterhaltungstrieb, der das zum Triebziel macht, was doch we-
sentlich Umwillen des Triebes ist, entwirklicht das Selbst. Er gibt ihm
eine »Bewandtnis«. Aber da diese Bewandtnis eben jenes Selbst zur
Voraussetzung hat, um dessen Erhaltung es geht, kann dieses Triebziel
vor der Vernunft nicht bestehen. Der Selbsterhaltungstrieb ist kein
»Grund« zur Selbsterhaltung für den, der nicht an den Trieb gefesselt
ist. Schopenhauer, der das Selbst nur als Ziel des Selbsterhaltungs-
triebs kannte, mußte es eben deshalb als durch diesen Trieb durchaus
bedingt ansehen. Mit dem Erlöschen des Triebes sinkt es in die Un-
wirklichkeit zurück. Erwachen zur Vernunft ist daher für ihn gleich-
bedeutend mit dem Verschwinden des Selbst. Der Trieb kann nicht
Grund seiner eigenen freien Bejahung sein. 51
Die Reflexion auf den Selbsterhaltungstrieb muss also, wenn sie sich
als Reflexion erhalten will und nicht zu einem Zurücksinken in bloße
Lebendigkeit führen soll, eine Position jenseits des Bewandtnis-
zusammenhangs einnehmen, um sich von diesem ›Nichts‹ aus zu
ihm noch einmal verhalten zu können. Der Moment des Erwachens
zur Wirklichkeit, in dem das Selbst als Umwillen erfahren wird,
bleibt damit als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und of-
fen für zwei gegensätzliche Deutungen. Die hier zuerst betrachtete
Deutung »aus der Perspektive des Triebhangs« bezeichnet Spaemann
als »Position des Nihilismus«; sie besteht in der Möglichkeit, die in
der μετάνοια sich zeigende Unbezüglichkeit des Selbst als das zu in-
terpretieren, »was – weil selbst bewandtnislos – seine Bedeutung erst
in seiner Relation auf anderes, ebenso Bedeutungsloses gewinnt, wo-
bei der Bedeutungszusammenhang als Ganzer wiederum bedeu-
tungslos ist« 52. Das Erwachen zur Wirklichkeit, die Erfahrung des
Selbst als Umwillen erlaubt jedoch auch eine entgegengesetzte Deu-
tung: Sie »läßt dieses Subjekt in einem Glanz erscheinen, der nicht

51 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 125.


52
Ebd. 127.

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7.2.2 Amor benevolentiae

sein eigener ist« 53. Das bedeutet, dass der den Bewandtniszusammen-
hang transzendierende Bezug zur Wirklichkeit ins Zentrum der Auf-
merksamkeit rückt. Diese Deutung knüpft an den Gedanken der Re-
präsentation an, der bereits im sechsten Kapitel als Schlüsselbegriff
der Spaemann’schen metaphysischen Konzeption ausgewiesen wur-
de 54 und hier als Repräsentation des Unbedingten in der Weise des
Bildes 55 wiederkehrt. 56 Was ist ein Bild?
Ein Bild ist etwas, das nicht selbst ist, was es zeigt. Es ist ein physisches
Objekt. Bild ist es nicht durch eine physische Existenz, sondern da-
durch, daß es zeigt. Mit dem Bild des Unbedingten verhält es sich noch
einmal anders. Bild des Unbedingten ist etwas gerade dadurch, daß es
in einem emphatischen Sinne ist, durch seine Substantialität, die es
dem Prozeß des Werdens enthebt und seine »Geltung« mit seiner
Genesis inkommensurabel macht. 57
Um diesen Gedanken im vollen Umfang verstehen zu können, muss
die Bedeutung von »zeigen« und »sein« genau verstanden und zu-
sammengedacht werden. Zur Bedeutung von »sein« im für Spae-
manns Denken zentralen Sinn ist Grundlegendes im sechsten Kapitel
gesagt worden: »Sein ist nämlich überhaupt kein Begriff, sondern das
Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 58 In »Glück und Wohl-
wollen« liest man in Ergänzung dazu:
Sein ist nicht Gegenständlichkeit. Sein ist Substantialität, Selbstsein,
das aller Gegenständlichkeit zugrunde liegt. Der paradigmatische Fall
solcher Substantialität aber ist Subjektivität. Für sie gilt, was Aristo-

53 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.


54 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 384–397.
55 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

56 Vgl.: »Die ›Repräsentation des Bildes‹ und das ›Unbedingte‹, von denen Spaemann

hier spricht, müssen im Zusammenhang mit dem mittelalterlichen Gedanken der


repraesentatio gesehen werden. Gemäß der alten schon bei Pseudo-Dionysius sich
findenden Idee, dass sich das Gute mitteilt […,] wird die Frage, ob Gott Außergött-
liches will, bei Thomas ähnlich wie im gesamten Mittelalter dahingehend beantwortet
und bejaht, dass sich Gott als das Gute mitteilen will, das heißt, dass er sich in der
Weise der Mitteilung seiner Güte realisiert. Durch die Darstellung des Göttlichen im
Endlichen ist dieser Vorstellung zufolge alles geschöpfte Seiende immer schon eine
Weise der Repräsentation bzw. des Ausdrucks des Unbedingten, Heiligen, Guten, vgl.
Thomas von Aquin, Summa Theologiae, I, q. 47, a. 1, resp.« – Kruse-Ebeling, Liebe
und Ethik, 331.
57 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

58
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

teles von der Substanz sagt: Von ihr wird alles ausgesagt, sie selbst
aber wird von nichts anderem ausgesagt. Sie ist nicht Eigenschaft eines
Seienden, sondern sie ist schlechthin. Und gerade in diesem schlecht-
hinnigen Sein ist sie Bild, sie ist das Absolute in der Weise des Bildes. 59
Während die wesentlich negative Bedeutung von ›sein‹ als Verzicht
auf einen vereinnahmenden subjektiven Zugriff auf der Hand liegt,
stellt sich aber die Frage, was das Bild der für das Sein paradigmati-
schen Subjektivität als Substanz ›zeigt‹. Die Antwort kann nur lau-
ten: Alles. Es geht um das Bild der Welt, das angeschaut wird, indem
das Bild angeschaut wird. Das Bild ist zugleich das Angeschaute –
›sein‹ – und das Sehen – ›zeigen‹. Entscheidend ist nun aber das Er-
eignis der Wahrnehmung des Bildes, »das Sich-zeigen des schlechthin
Unbezüglichen«, in das der Anschauende selbst hineingezogen wird:
Es besteht im Sein desjenigen endlichen Seienden, in dem der Gedanke
des unbezüglichen Seins ineins mit dem Dank aufgeht. Das diesen
Gedanken denkende Seiende, also das bewußte Leben gewinnt darin
selbst jene Unbezüglichkeit, jene »Substantialität«, durch die es zum
Bild dessen wird, was es verehrt, und das in jedem anderen vernünfti-
gen Wesen eben jenes Bild wiedererkennt. 60
Obwohl Spaemann im hier untersuchten ersten Abschnitt des Kapi-
tels »Wohlwollen« die Fragestellung in weitgehender methodischer
Beschränkung auf das singuläre Selbst anging, wird spätestens in sei-
nen Ausführungen zum Begriff des Bildes klar, dass vom Sichtbar-
werden des Selbst als Umwillen in einem anderen als nihilistischen
Sinn nur im Rahmen eines reziproken interpersonalen Begegnungs-
geschehens die Rede sein kann. Die Wahrnehmung des Anderen als
unbezügliches Selbst, als bewandtnisloses Umwillen, verwandelt den
Wahrnehmenden seinerseits in ein ebensolches unbezügliches
Selbst. 61 Näher heran an das Verständnis des Wohlwollens kann da-

59 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127–128.


60
Ebd. 128.
61 Vgl.: »Was macht nun die conditio humana – das absolute Novum gegenüber der

tierischen Welt – aus? Sie besteht darin, diese Zentralität des Tieres hinter sich gelas-
sen zu haben. Dieser entscheidende Schritt ereignet sich anlässlich der Entdeckung
des Anderen, die mit der Entdeckung ›meiner selbst‹ einhergeht, in der man das Fun-
dament des Miteinander sehen darf. Ich entdecke erst den Anderen, indem ich einem
anderen Menschen begegne, dessen Blick auf mich ich nachvollziehe. Eine solche Per-
spektive einzunehmen läuft darauf hinaus, für immer die Selbstzentriertheit hinter
sich zu lassen. Der Mensch entkommt der Enge seiner vitalen Umwelt, um in einen
neutralen kognitiven Raum einzutreten, dessen Zentrum überall liegt. Der Mensch

472

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7.2.2 Amor benevolentiae

her die Thematisierung des interpersonalen Begegnungsgeschehens,


des Verhältnisses von Ich und Anderem führen.
Vor der Betrachtung dieses interpersonalen Begegnungsgesche-
hens ist zunächst das Missverständnis zurückzuweisen, wonach
Selbstliebe sich zur Nächstenliebe verhalte wie Begierde (amor con-
cupiscentiae) zum Wohlwollen (amor benevolentiae). Die Liebe zum
Anderen kann ebenso auf Begierde beruhen, wie die Selbstliebe von
Wohlwollen geprägt sein kann. Auch wenn Interpersonalität das Pa-
radigma wohlwollender Zuwendung sein mag, ist sie mit dieser nicht
untrennbar verknüpft. Das entscheidende Kriterium, an dem Wohl-
wollen zu erkennen ist, besteht vielmehr in einer konstitutiven Para-
doxie, die wiederum durch ihre subjektive und ihre objektive Seite
expliziert werden kann. Die subjektive Seite folgt aus der Wahrneh-
mung der Wirklichkeit als Selbstsein:
Wer diese Wahrnehmung macht, der befindet sich in einer eigentüm-
lichen, paradoxen Lage. Er begreift einerseits, daß nicht er selbst
Grund dieser seiner Wahrnehmung ist, so als ginge ihr noch irgend-
etwas wie ein sittlicher Entschluß voraus, wo doch jeder sittliche Ent-
schluß erst in dieser Wahrnehmung gründet. Er kann sie nur als Gabe
begreifen, und zwar als Gabe, deren Ausbleiben bedeutet, daß der
Mensch noch gar nicht zum Menschsein erwacht ist, daß er trotz aller
Intelligenz noch träumt und daß er in diesem träumenden Zustand
allen alles schuldig bleibt. Denn Menschen, sprechende Wesen begeg-
nen einander mit dem Anspruch, wahrgenommen zu werden. Ande-
rerseits: Das bisherige Nichtwahrnehmen als eigene Schuld zu sehen,
gehört zum Erwachen. 62
Die Paradoxie besteht aus subjektiver Sicht wesentlich darin, dass der
Schritt zum Selbstsein sich als Gabe erkennen lässt, dass Freiheit von
der eigenen zugrunde liegenden Triebstruktur in einer bestimmten
Verbindung mit der Wirklichkeit gründet und Autonomie im stren-
gen Wortsinn unmöglich ist. Die objektive Seite der Paradoxie be-
steht in der Entdeckung eines Zentrums von Bedeutsamkeit, das un-
abhängig von jeder subjektiven Zumessung von Bedeutung existiert:

ist das ›exzentrisch‹ gewordene Lebewesen.« – Duplá, Die Theorie der Person und die
Bioethik bei Robert Spaemann, 254–255. – Der Schluss, dass der Mensch damit die
Selbstzentriertheit für immer hinter sich lasse, blendet allerdings die menschliche
Fähigkeit zu einer curvatio in seipsum aus. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Condito humana,
466, u. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 507–508.
62
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 222.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Ein Anderer ist für mich vielmehr bedeutsam durch das, was er nicht
für mich, sondern an sich selbst ist. Hinter diesem Paradox verbirgt
sich das, was wir als Erwachen zur Wirklichkeit beschrieben haben.
Das Ich im Triebhang hat weder sich noch den Anderen entdeckt. Es
bleibt in der Zentralstellung alles Organischen sich selbst verborgen.
Im Akt des Erwachens zur Vernunft wird die eigene Wirklichkeit und
die des Anderen gleichzeitig sichtbar. Das Sichzeigen der Wirklichkeit
des Anderen ist gleichbedeutend mit dem Mitvollzug dieser Wirklich-
keit als einer teleologischen, der Wirklichkeit eines Ausseins-auf. Nur
in diesem Mitvollzug wird uns der Andere wirklich. 63
Die das Wohlwollen konstituierende Paradoxie ist somit ein Interesse,
das nicht durch das eigene Interesse definiert ist, – die Realisierung
reiner Selbsttranszendenz. Ein solches Interesse wird möglich auf-
grund des Nachvollzugs des teleologischen Ausseins-auf des Ande-
ren, also seines finis quo, bei gleichzeitigem Sichtbarwerden seines
Selbst, also seines finis cuius gratia. Die Paradoxie des Wohlwollens
besteht darin, dass der auf Identifizierung zielende Mitvollzug der
teleologischen Wirklichkeit des Anderen durch das Sichzeigen dieser
Wirklichkeit zugleich wieder distanziert wird. Was im Verhältnis zu
sich selbst, wie gesehen, zur Entwirklichung dieses Selbst führt, näm-
lich die Thematisierung des Umwillen, lässt im Verhältnis zum Selbst
des Anderen die mitvollzogene Wirklichkeit erst als solche hervortre-
ten. Eine Paradoxie stellt das im Wohlwollen sich äußernde Interesse
am Anderen solange dar, wie die beiden Seiten des Ich und des Ande-
ren als Gegensätze betrachtet und Wahrnehmung des Anderen als
Gegenstandswahrnehmung aufgefasst wird. Die Wirklichkeit des
Wohlwollens kann daher nicht als Welt von Objekten für ein Subjekt
aufgefasst werden, sondern erscheint als Wirklichkeit von Menschen,
die diese einander erst zeigen, was Spaemann mit dem Begriff der
Person ausdrückt:
Die unzweideutige Wirklichkeit aber ist die der Person. In der Liebe
wird mir der Andere nun so wirklich, wie ich mir selbst in eben diesem
Erwachen werde. Er und ich gewinnen die Wirklichkeit des Bildes. Das
Bild soll etwas. Es soll nicht verschwinden, sondern zeigen, erscheinen
lassen. Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrnehmen, sich
von ihm etwas zeigen lassen. Was erscheint in der Subjektivität? Sein,
Wirklichkeit. Und zwar gerade deshalb, weil Subjektivität selbst nicht
Positivität, sondern Negativität ist, nicht vorfindbares Faktum, son-

63
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 130.

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7.2.2 Amor benevolentiae

dern Reflexion. Nur in dem, was nicht von der Art des positiven Fak-
tums ist, kann das Faktum erscheinen. Der Mensch ist der Ort der
Erscheinung des Seins. 64
Zum Ort der Erscheinung des Seins wird der Mensch im Erwachen
zur Vernunft, das aus einem Begegnungsgeschehen hervorgeht. Im
Sinne der Aussage, dass Sein Korrelat eines Aktes der Anerkennung
ist, bedeutet die interpersonale Begegnung, in der der Andere als Bild
– verstanden sowohl als Antlitz als auch als Blick auf die Welt – einen
vom eigenen Interesse freien Zugang zur Welt ermöglicht, die Über-
windung der individuellen Bedingtheit. Aus der Perspektive der in
»Glück und Wohlwollen« leitenden ethischen Fragestellung ergibt
sich aus der hier versuchten Explikation des Begriffs Wohlwollen eine
Schlussfolgerung von fundamentaler Bedeutung:
Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart. Und dieses Sich-
zeigen geht allem Sollen voraus. Es ist die Gabe, die jeder möglichen
Aufgabe zugrundeliegt. Das Wohlwollen ist für den Wohlwollenden
selbst Geschenk. Es ist die eudaimonia, das Gelingen des Lebens, das
uns auf der Ebene der bloßen Lebendigkeit und des Triebes mit unauf-
löslichen Antinomien behaftet schien. Erst das zur Vernunft erwachte
Leben ist eines solchen Gelingens fähig. 65
Was es bedeutet, dass das Wohlwollen das Gelingen des Lebens ist,
kann erst aus einer Betrachtung hervorgehen, in der die Brechung der
Idee des Wohlwollens im konkreten menschlichen Leben untersucht
wird. 66 An dieser Stelle ist zunächst festzuhalten, dass Spaemann den
Anspruch vertritt, mit dem Wohlwollen die gesuchte Aktualisierung
der antiken εὐδαιμονία gefunden zu haben. Zum Abschluss dieser
Untersuchung des Wohlwollens ist die Frage nach der Bedeutung die-
ses Begriffs im Gesamtzusammenhang von Spaemanns »Versuch
über Ethik« zu stellen.
Zwischen der Wahrnehmung des Anderen als Gegenstand und
dem Sichtbarwerden seines Selbst im Wohlwollen gibt es keinen
Übergang, sondern liegt jener Sprung, um dessen Einholung im Den-
ken es hier wesentlich geht. Möglich ist diese Einholung entweder
durch den Imperativ der praktischen Vernunft oder aber im Sinne
einer Neuverteilung der Beweislast durch den Ausgang von der

64
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.
65 Ebd. 137–138.
66
S. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Wahrnehmungsevidenz. Diese Alternative entscheidet über die


Grundlegung der Ethik. »Gegenüber der Kantischen Engführung der
Ethik muß nur gesagt werden, daß nicht die Forderung der Unpartei-
lichkeit das Fundament aller sittlichen Entscheidung ist, sondern die
Wahrnehmung der Wirklichkeit des Anderen ebenso wie des eigenen
Selbst.« 67 Eine »Engführung« stellt der Ausgang vom Imperativ der
praktischen Vernunft deshalb dar, weil es um ein Sollen geht, das
nicht in einem Wollen begründet ist und darum seine Entlarvung
herausfordert. 68 Mit der Orientierung am antiken Eudämonismus
geht es Spaemann um eine Alternative zu dieser Engführung:
So erscheint dann am Grunde jeder sogenannten Letztbegründung
doch eine Dezision. Anders wenn die Forderung der Unparteilichkeit,
das heißt Gerechtigkeit in einer Wahrnehmungsevidenz gründet, in
der Evidenz der Wirklichkeit des Anderen und der eigenen Wirklich-
keit als der eines Subjektes und nicht nur des ersten Triebobjektes.
Diese Evidenz ist tatsächlich Basis aller Ethik. Es gibt daher keine
Ethik ohne Metaphysik. 69
Der Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik, um den es in »Glück
und Wohlwollen« wesentlich geht, ist die Evidenz der Wahrnehmung
von Selbstsein. Damit ist das gedankliche Zentrum von Spaemanns
»Versuch über Ethik« erreicht und es muss an dieser Stelle verdeut-
licht werden, welche Funktion diesem Einheitspunkt im Rahmen des
gesamten Argumentationsganges zukommt. Der Ausgang von der
Wahrnehmungsevidenz bedeutet zunächst die Gründung jeder ethi-
schen Reflexion auf einem Anspruch der Wirklichkeit an uns. Durch
diesen Ausgang wird der Gedanke eines Sprungs in der praktischen
Philosophie ersetzt durch die als ontologische Normalität begriffene
menschliche Selbsttranszendenz, der gegenüber es allerdings eine
freie Bewegung des Abfalls gibt, deren erneute Inversion nur durch
ein Entgegenkommen von außen möglich ist. Wesentlich für den auf
die praktische Philosophie ausgerichteten Teil dieser Reflexion ist,
dass die zuvor als Sprung bezeichnete Inversion der Bewegung ein
Sekundäres ist, das auf die primäre teleologische Verfasstheit eines
Lebewesens verweist. Das aus ihr hervorgehende Wohlwollen ist kein
Grundsatz, sondern Ursprung – ἀρχή – der ethischen Reflexion:

67 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 131.


68
Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik,
453 u. ebd., Fn. 136.
69
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 132.

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7.2.2 Amor benevolentiae

Wohlwollen ist nicht aus einem Imperativ ableitbar. Es liegt jedem


sittlichen Imperativ voraus und zugrunde. Aber das heißt nicht, alle
sittliche Verbindlichkeit, jede sittliche Norm gründe in einer letzten
Endes irrationalen, grundlosen, subjektiven »Option«. Wohlwollen
ist nicht eine grundlose Option, sondern das unmittelbare Resultat
einer Wahrnehmung, der Wahrnehmung der Wirklichkeit als Selbst-
sein. 70
Nun hat diese Reflexion, wie die Rede vom Einheitspunkt von Ethik
und Metaphysik ausdrückt, zugleich eine ontologische Flanke, deren
Kern das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der
menschlichen Natur ist. Dass der Mensch durch die Vernunft sich
selbst transzendiert und anderen Selbstseins in seiner Geltung an-
sichtig wird, die nicht rekonstruierbar ist, ist ein durch den Ausgang
von der Wahrnehmungsevidenz vorausgesetzter Gedanke. Für die
ontologische Flanke der Reflexion ergibt sich daraus, dass die Beweis-
forderung, die dem Gedanken des theoretischen Sprungs zugrunde
liegt, durch den hier nachvollzogenen argumentativen Zusammen-
hang suspendiert wird, da eine Vernunft, die durch die Forderung
nach der Rekonstruktion der Geltung von Selbstsein von dessen
Nichtwahrnehmung ausgeht, sich als Instrument der Selbstzentrie-
rung zu erkennen gibt. Die Wahrnehmungsevidenz selbst wird somit
zu einem Schlüsselargument auch der ontologisch-metaphysischen
Argumentation. Der Zweifel an ihr bleibt möglich, setzt aber immer
den Rückfall hinter das Erwachtsein voraus:
Diese fundamentale »metaphysische« Evidenz ist nicht eine solche, die
jeder Zweifelsmöglichkeit absolut unzugänglich wäre. Nietzsche hat
gezeigt, wie weit der Zweifel reicht. Er ist imstande, sogar den Sinn
jeder sprachlichen Äußerung in Frage zu stellen. Wer indessen daraus
folgert, nach Nietzsche sei Metaphysik nicht mehr möglich, weiß
nicht, was er sagt. Denn wenn er Nietzsches Logik folgt, muß er jeden
Gedanken des Sinnes von irgendetwas, auch den der Leugnung der
Möglichkeit von Metaphysik preisgeben. Die Folgerung aus dem, was
bei Nietzsche Einsicht heißen darf, lautet daher anders. Aus der Mög-
lichkeit alles zu bezweifeln, folgt nicht, daß es gut sei, das zu tun. Die
Notwendigkeit, die Wirklichkeit des Lebendigen zu setzen, ist nicht
theoretischer Zwang, sondern selbst von der Art sittlicher Evidenz. 71

70 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 222.


71
Ebd. 132–133. – Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleo-
logieproblem bei Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ›ateleologischen Teleo-
logie und dem Ende des Denkens bei Nietzsche‹, 268–272.

477

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Die Reaktion auf den Zweifel an der metaphysischen Evidenz besteht


in der Berufung auf eine sittliche Evidenz, die die metaphysische Evi-
denz selbst wieder aus sich hervorgehen lässt und eine Immunisie-
rung gegen den metaphysischen Zweifel bewirkt. An die Stelle der
Dezision tritt somit das Faktum der praktischen Vernunft selbst, das
zwar wieder bezweifelt werden kann, aber nur um den Preis der
Selbstaufhebung der Vernunft. Spaemann weist darauf hin, dass aus
dieser Argumentationsstruktur auch wesentliche, aus seinen frühe-
ren Schriften bekannte Gedanken eine nachträgliche Stützung erfah-
ren, insbesondere der teleologische Lebensbegriff 72 und die daraus
hervorgehende anthropomorphe Weltwahrnehmung. 73 Erst durch
diesen Zusammenhang von praktischer und theoretischer Reflexion
wird der aristotelische Gedanke der von außen – θύραθεν – kommen-
den Vernunft, auf den sich Spaemann schon in »Das Natürliche und
das Vernünftige« zur Rechtfertigung der Notwendigkeit des Sprun-
ges berief, 74 so aktualisiert, dass er zum Bestandteil einer schlüssigen
philosophischen Argumentation unter neuzeitlichen Denkbedingun-
gen werden kann: Die Vernunft kommt deshalb immer von außen,
weil ihr Kommen nur aus der Perspektive der ontologischen Anoma-
lität thematisiert werden kann, die auf eine Befreiung angewiesen
ist. 75 Inwieweit allerdings die erwähnte Suspendierung der Beweis-
forderung allein durch den Einheitspunkt von Ethik und Metaphysik
möglich ist bzw. eine über den Rahmen von »Glück und Wohlwollen«
hinausgehende Argumentation verlangt, soll am Ende dieses Kapitels

72 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 133–134.


73 Vgl. ebd. 134–136. – »Ein Objekt unserer Erfahrung zugleich als ein von dieser
Erfahrung unabhängiges, an sich Seiendes zu denken heißt, es nach Analogie des
Lebendigen zu denken, so daß es nicht in der augenblicklichen Wahrnehmung, die
ich von ihm habe, aufgeht, sondern verschiedene Zustände und Widerfahrnisse in
die Einheit eines mit sich Identischen versammelt.« – Ebd. 134.
74
Im Essay »Das Natürliche und das Vernünftige« schreibt Spaemann, dass man
»eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren« könne, die aber nie bis
zu ihm selbst führe, da »am Ende […] immer ein Sprung« bleibe. In diesem Zusam-
menhang verweist Spaemann auf den aristotelischen Gedanken, dass die Vernunft
»letzten Endes immer thyrathen, von außen« komme. – Vgl. Spaemann, Das Natür-
liche und das Vernünftige (1986/87), 130, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von
Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396.
75 Vgl.: »[…] wenn die Vernunft nicht eine Phase der Evolution des Lebens, nicht ein

Schritt in Richtung auf eine größere Angepasstheit des Lebens, sondern eine Wende,
ein Richtungswandel ist, muss man das Erwachen zur Vernunft notwendigerweise als
ein Ereignis verstehen, das von außen eingeführt wurde.« – Duplá, Die Theorie der
Person und die Bioethik bei Robert Spaemann, 257.

478

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

gefragt werden. Hier ging es darum, den erwähnten Einheitspunkt


von Ethik und Metaphysik in seiner Tragweite zu erfassen.

7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

»Sein ist das, was sich nur dem Wohlwollen offenbart.« 76 Das Wohl-
wollen vermittelt somit zwischen der partikularen Perspektive des
Wohlwollenden und dem Unbedingten und es stellt sich die Frage,
wie eine solche Vermittlung vorstellbar ist. Die im vorangegangenen
Abschnitt gegebene Antwort auf diese Frage bestand wesentlich im
Hinweis auf die Repräsentation des Unbedingten in der Weise des
Bildes, dessen Wahrnehmung im Erwachen zur Vernunft möglich
wird. Diese Antwort scheint aber problematisch zu sein und zu einer
Paradoxie zu führen: Das, was als Bild erscheint, ist »einzig, inkom-
mensurabel, unvergleichlich, unbezüglich, nur mit sich identisch.
Aber gerade darin ist es eben doch vergleichbar, denn es steht in einer
Ähnlichkeitsbeziehung mit allem, was ebenfalls es selbst und mit sich
identisch ist.« 77 Die Wahrnehmung von Selbstsein ist also immer be-
gleitet von der Möglichkeit einer sie relativierenden Betrachtung,
selbst wenn diese Relativierung nur in der vergleichenden Feststel-
lung der gemeinsamen Unvergleichlichkeit von Selbstsein besteht.
Diese Paradoxie der Wahrnehmung lässt sich konkretisieren zu einer
Paradoxie des Wohlwollens:
Es ist so universell wie der Horizont, den es eröffnet. Es gilt jedem
Seienden als einem Einmaligen, Inkommensurablen. Und doch muß
der Wohlwollende als endliches Wesen spätestens dann Kommensura-
bilität herstellen und das Begegnende relativieren, wenn er zu handeln
beginnt. Denn als Handelnder ist er wesentlich endlich. Handeln ist
selektiv. 78
Das Wohlwollen scheint sich im Übergang von der reinen Betrach-
tung zur Handlung ebenso aufzuheben wie die Wahrnehmung von
Selbstsein in der Reflexion auf diese selbst. Es scheint damit so, als
gäbe es Wohlwollen nur als auf die gesamte Welt gerichtete »trans-
zendentale optio fundamentalis«, die »den ›kategorialen‹ Anwendun-

76
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.
77 Ebd. 141.
78
Ebd.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

gen immer transzendent« 79 bleibt. Wenn dem so wäre, folgte daraus


aber, »daß die Liebe, der amor benevolentiae, eigentlich überhaupt
nicht real wird. Die fundamentale Option, der ›gute Wille‹, ist, solan-
ge er allgemein bleibt, nur abstrakt, und wo er konkret wird, da ist er
gar nicht mehr er selbst.« 80 Das Wohlwollen hätte mit anderen Wor-
ten danach keine »wirklichkeitserschließende Kraft« 81. Ist die »Uni-
versalität des Wohlwollens« also überhaupt »nur eine kontemplative,
nicht eine tätige« 82? – Diese Überlegung führt wieder auf das prinzi-
pielle Problem der Reflexion zurück, das Spaemann zuerst in seinen
Studien über Fénelon durchdacht hat: Wenn jede Reflexion die Un-
mittelbarkeit der Liebe zerstört, könnte Liebe nur aus der Selbst-
aufhebung der Reflexion hervorgehen. 83 Wie die Untersuchung des
Fénelon’schen Denkens oben gezeigt hat, war es in Spaemanns Inter-
pretation die Überwindung des teleologischen Denkens in der frühen
Neuzeit und damit der Verlust des nicht reduktionistisch verstande-
nen Lebensbegriffs, die als notwendige Voraussetzung von Fénelons
amour-pur-Gedanken gesehen werden müssen und die dann gleicher-
maßen dem kantischen Dualismus von reinem guten Willen und
›pathologischer‹ Neigung zugrunde liegen. 84 Unter diesen Vorausset-
zungen ist Wohlwollen als Erwachen zur Vernunft nicht denkbar:
Lebendigkeit und Vernünftigkeit wären wieder getrennt, das »Faktum
der Vernunft« ein in das Leben einbrechendes fremdes Element, wel-
ches das Leben nicht verwandelt, sondern nur seine Äußerungen be-
stimmten Bedingungen unterwirft, ohne daß ersichtlich wäre, was ein
lebendiges Wesen dazu veranlassen könnte, sich diesen Bedingungen
zu unterwerfen. 85
Solange an dem Dualismus von Lebendigkeit und Vernünftigkeit
festgehalten wird, ist es unausweichlich, dass jede konkrete Handlung
immer nur ein unvollkommener Ausdruck des guten Willens ist und
ihre Rechtfertigung nur aus der subjektiven Motivation erhält, die-
sem zu folgen, den sie nicht repräsentieren kann. Es ist wichtig, sich
an dieser Stelle noch einmal bewusst zu machen, dass zwischen dieser

79 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142.


80 Ebd.
81 Ebd. 143.

82 Ebd. 141.

83 Vgl. Teilkapitel 4.2, Reflexion und Spontaneität in Fénelons ›kleiner Mystik‹, 143–

152.
84 Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons Niederlage und sein Fortwirken, 167–171.

85
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144.

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

Position, für die etwa Kant steht, und der hier verfolgten Konzeption
des Wohlwollens ein entscheidender Schritt liegt. Zum inneren Zu-
sammenhang »zwischen der Erfahrung einmaliger und exklusiver
Liebe und der Universalität des Wohlwollens« 86 führt erst die An-
knüpfung an Spaemanns der Wiederbelebung des teleologischen
Denkens gewidmete metaphysische Konzeption, deren Erweiterung
in »Glück und Wohlwollen« ausgehend vom teleologischen Lebens-
begriff oben im Abschnitt »Conditio humana« dargelegt wurde. 87 Im
Mittelpunkt der Überlegungen stand dort der Gedanke des »ur-
sprünglichen Erwachtseins« als anthropologischer Grundbestim-
mung, auf den die Unmöglichkeit, das Verhältnis von Lebendigkeit
und Vernünftigkeit in der durchschnittlichen Verfassung des Men-
schen zu analysieren, zurückgeführt wurde. Dabei fand diese anthro-
pologische Grundbestimmung, wie gesehen, ihre Fundierung in der
Berufung auf den Mythos von der Erbsünde und damit auf ein ur-
sprüngliches Verhältnis des Menschen zu Gott. Aus eben dieser Fun-
dierung wiederum entwickelt Spaemann die Überwindung der skiz-
zierten Paradoxie des Wohlwollens, insofern das abstrakte Verhältnis
von Allgemeinem und Konkretem durch diese Fundierung eine Ver-
mittlung erfährt: »Das Verhältnis von Gottesliebe und ›Nächsten-
liebe‹ hingegen ist nicht das von transzendentaler Form und katego-
rialem Anwendungsfall, sondern von Präsenz des Absoluten und
dessen realem Symbol. Das Bild ist nicht eine ›Anwendung‹ dessen,
wovon es Bild ist. Es stellt das, wovon es Bild ist, dar.« 88 Durch den
Begriff der Darstellung wird nun also versucht, die Doppeldeutigkeit
des Bildes als Sein und Zeigen, 89 als Angeschautes und Sehen zu-
gleich, neu zu denken. Sobald das Wohlwollen die kontemplative Po-
sition verlässt und sich handelnd auf die Welt bezieht, verwandelt es
sich, so schien es, entweder in einen »Kult reiner Spontaneität« und
»Fanatismus der Leidenschaft« oder in den »Imperativ der Unpartei-
lichkeit und die Verallgemeinerungsforderung« 90. Diese Antinomie,
in die das praktisch werdende Wohlwollen zu geraten scheint, soll
nun aufgehoben werden durch eine Vermittlung zwischen dem Kon-
kreten, dem das Wohlwollen gilt, und dem Ganzen der Wirklichkeit,

86 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144.


87 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467.
88
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142.
89 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 471–472.
90
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 143.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

die durch das Konkrete repräsentiert wird, in der symbolischen Dar-


stellung des Ganzen durch das Konkrete, als deren Urbild wiederum
das Verhältnis des Menschen zu Gott dient:
Handelnd können wir uns auf Gott gar nicht beziehen, sondern nur
auf Endliches – mit Ausnahme der rituellen Formen der Gottesver-
ehrung, deren endliche, partikulare, »konventionelle« Gesten das
Göttliche symbolisch thematisieren. Aber jeder die sittliche Identität
des Menschen begründende unmittelbare Bezug des Handelns ist ein
symbolischer. Daher ist alles sittliche Handeln ein rituelles, also nicht
rein zweckrationales Handeln. Es ist Darstellung des Wohlwollens,
nicht dieses selbst. In dieser Darstellung wird aber die Universalität
des Wohlwollens gebrochen. 91
Symbolisch ist also nicht nur jede handelnde Bezugnahme auf Gott,
sondern überhaupt jeder Bezug des Menschen auf das Unbedingte im
Handeln und damit jedes Handeln aus Wohlwollen, wie es hier ver-
standen wird. Durch diese Kennzeichnung wird die Paradoxie zum
wesentlichen Unterscheidungsmerkmal eines bestimmten Hand-
lungstyps gemacht. Jedes Handeln, das nicht rein zweckrational ist,
sondern dem es um etwas geht, was nicht durch das eigene Interesse
definiert ist, ist symbolisch in dem Sinne, dass es einerseits die je
eigene Handlung bleibt, andererseits aber einen Blick von außen auf
diese Handlung antizipiert und damit einen Mittelpunkt der Welt,
der mit dem eigenen Subjekt nicht identisch ist. Das in der Handlung
sich realisierende Wohlwollen wird damit zum Symbol in dem para-
doxen Sinn, durch den Goethe diesen Begriff bestimmt hat: »Es ist die
Sache, ohne die Sache zu sein, und doch die Sache; ein im geistigen
Spiegel zusammengezogenes Bild, und doch mit dem Gegenstand
identisch.« 92 Die unauflösbare Paradoxie des Wohlwollens hat ihren
Grund im Wesen der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der
menschlichen Natur. Als Darstellung des Wohlwollens ist die sym-
bolische Handlung der Kompromiss zwischen der vernünftigen
Universalität des Wohlwollens selbst und seiner dem lebendigen
Menschen möglichen endlichen Konkretisierung. ›Brechung‹ des
Wohlwollens meint also keinesfalls seine Aufhebung, sondern, ver-
gleichbar der Lichtbrechung zu einem Farbspektrum im Prisma, seine
zunächst kontingente Konkretisierung in der Begegnung mit dem

91 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 142.


92
Goethe, Nachträgliches zu Philostrats Gemälde, Weimarer Ausgabe, Bd. 49.1, 142.

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

Anderen; es bleibt Wohlwollen in seiner ganzen Universalität und


konkretisiert sich doch an einem einzigen Gegenüber:
Das ursprünglich kontingente Wohlwollen erweist nun aber gerade
darin seine Echtheit, das heißt seinen kognitiven Charakter, seine
wirklichkeitserschließende Kraft, daß es in dem Einen, dem es sich
zuwendet, die ganze Welt erlebt und in neuem Licht sieht. Eben da-
durch hebt die anfängliche Kontingenz sich auf. Der Eine repräsentiert
das Ganze. 93
Nur in einem solch eingeschränkten Sinn kann Wohlwollen unter
den »Bedingungen der Endlichkeit« 94 sich verwirklichen. Im Folgen-
den muss nun näher betrachtet werden, welche Einschränkungen der
Universalität des Wohlwollens möglich sind, ohne dass dieses selbst
verschwindet, und welche ontologischen Folgen sich aus diesen Ein-
schränkungen ergeben.
Zunächst muss hierzu der Gedanke der ›Brechung‹ des Wohl-
wollens im konkreten Lebensvollzug in rationalen Kategorien aus-
gedrückt werden:
Das Wohlwollen in seiner Universalität muß sich für endliche Lebe-
wesen in eine Struktur gliedern, die der Endlichkeit ihrer Perspektive
ebenso wie der Endlichkeit der Gegenstände des Wohlwollens ent-
spricht. Mit anderen Worten: Es gibt das, was Augustinus den ordo
amoris genannt hat. Jeder hat im ordo amoris des Anderen einen ei-
genen Ort. Die Universalität der Vernunft läßt uns selbst realisieren,
daß wir nicht jedem so wichtig sein können, wie wir es uns selbst sind.
Und eben weil jeder Mensch das weiß, hat jeder Mensch einen An-
spruch darauf, niemandem als ein Niemand zu gelten. 95
Es besteht zunächst eine Kluft zwischen einem rein theoretischen und
einem lebendigen Wissen, um deren Überbrückung es geht: »Wir
können also als Halberwachte nur in dem Sinne aufwachen wollen,
daß wir das, was wir wissen, für uns erlebbar machen, indem wir
einen ordo amoris ausbilden.« 96 Die Forderung nach Anerkennung
jedes Anderen in seinem Selbstsein markiert das sittliche Minimum,
über das hinaus der ordo amoris »eine gestufte Rangordnung inner-
halb des universalen Wohlwollens« 97 enthält, für die zunächst die »in

93 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 144.


94 Ebd. 142.
95
Ebd. 145.
96 Ebd. 148.
97
Ebd. 146.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

der sinnlichen, räumlich-zeitlichen Verfassung des Lebens« gründen-


de »Relation größerer Nähe und Ferne« 98 von zentraler Bedeutung
ist:
Wenn Vernunft das Zusichkommen eines Lebendigen ist, sein Er-
wachen zur Wirklichkeit, dann heißt das: Praktische Vernunft ist nicht
eine zweite Realität neben der des lebendigen Organismus, sondern
dessen »Form«. Die Zentralität des Triebes, dem die Welt wesentlich
Umwelt ist, wird für das vernünftige Wesen daher nicht gleichgültig.
Menschliche Interaktion ist nicht eine Verschmelzung füreinander
transparenter Vernunftwesen, die alle im Medium vernünftiger All-
gemeinheit existieren. Das Medium vernünftiger Allgemeinheit setzt
ja, wenn es nicht leer bleiben soll, die konkrete Lebendigkeit partiku-
larer Individuen voraus, die wir deshalb, weil sie als diese Individuen
zugleich des Wohlwollens und der wohlwollenden Relativierung der
eigenen Interessen fähig sind, Personen nennen. Die Individualität
und endliche Perspektivität der Person ist nicht das Unvernünftige
und zu Überwindende, sondern das, was den Überstieg in die univer-
selle Perspektive trägt und ermöglicht. Personen sind nur als Indivi-
duen. Und so ist die Ordnung von Nähe und Ferne eine sittlich rele-
vante Ordnung. 99
Jeder Versuch, das Wohlwollen aus seiner Verwurzelung im lebendi-
gen Organismus zu lösen, müsste erneut zu einer rein deontologi-
schen Ethik führen, für die die oben im Zusammenhang mit Kants
Pflichtethik beschriebenen Konsequenzen unausweichlich wären. 100
Durch diese Verwurzelung im lebendigen Organismus ist das Wohl-
wollen aber an eine Rangordnung gebunden, die zunächst aus den
kontingenten Relationen der Nähe und Ferne eines Individuums zu
der es umgebenden Welt hervorgeht und sich auch im Prozess der
vernünftigen Überformung mit entsprechenden Modifikationen er-
hält. Neben diesem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne gibt es auch
eine »Rangordnung der Wirklichkeiten« 101, zu deren Abstufungen
Spaemann in »Glück und Wohlwollen« nur einige Andeutungen
macht. Die höchste Stufe nehmen die anderen Menschen ein, nicht
aufgrund der »biologischen Gattungssolidarität«, sondern weil der

98 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 146.


99 Ebd.
100
Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflicht-
ethik, 453–455.
101
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 150.

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

Andere »ein Verhältnis zu sich selbst hat, also ein Selbst ist« 102. Da-
rüber hinaus antwortet Spaemann auf die Frage, »ob es ein sittliches
Verhältnis des Menschen, ein Verhältnis des Wohlwollens und des
Zuhilfekommens, auch jenseits zwischenmenschlicher Beziehungen
gibt« 103, mit einem klaren Ja, ohne auf die weiteren Abstufungen in
der Tier-, der Pflanzen- und der anorganischen Welt an dieser Stelle
einzugehen.
Um den Gedanken der ›Brechung‹ des Wohlwollens im Lebens-
vollzug weiter mit Inhalt zu füllen, muss noch ein zweiter Aspekt
thematisiert werden, der von der Herausbildung einer Rangordnung
des ordo amoris vorausgesetzt ist und durch den ein Bezug zur Be-
deutung der Polis in der oben dargelegten aristotelischen Kompro-
missfassung des Eudämonismus hergestellt wird: 104
[…] Traditionen, Sitten, normative Orientierungen haben die Funk-
tion, die Unbedingtheit des Wohlwollens, in der die Wirklichkeit des
Selbstseins erscheint, zu vermitteln mit den vielfältig bedingten Situa-
tionen, in denen endliches Handeln geschieht. In ihnen muß sich
Wohlwollen »brechen«, um sich äußere Realität zu geben. Diese struk-
turellen Vorprägungen unserer Erwartungen und Pflichten stellen
dem Wohlwollen gewissermaßen eine »Sprache« zur Verfügung. 105
Die Bedeutung, die Spaemann Traditionen, Sitten und normativen
Orientierungen beimisst, entspricht sehr genau der von ihm be-
schriebenen Funktion der Polis-Wirklichkeit in der Ethik des Aristo-
teles, die wesentlich in der Kontingenzreduktion durch die von ihr
garantierte Normalität bestand. Traditionen, Sitten und normative
Orientierungen bieten somit einen für die Entfaltung des Individu-
ums wesentlichen Rahmen, ohne die Verantwortung des Einzelnen
für diese Entfaltung aufzuheben:
Sitte ist zur Darstellung des Wohlwollens unentbehrlich, doch eine
adäquate Darstellung wird dieses in der Sitte nie finden können.
Gerade deshalb ist Sitte, Konvention für menschliches Handeln
unerläßlich. Sie stiftet Normalität, die für alles Lebendige konstitutiv
ist. 106

102 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 151.


103 Ebd. 153.
104 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompro-

miss, 440–444.
105 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 203.

106
Ebd. 204.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Lebendige Wesen zeichnen sich gemäß Spaemanns Grundüberzeu-


gung durch ein teleologisches Aussein-auf aus, weswegen für sie
Normalität von zentraler Bedeutung ist: »Das Äquivalent für Gesetz-
mäßigkeit in Kausalaussagen ist Normalität in teleologischen Aus-
sagen.« 107 Der Begriff der Normalität bezeichnet den für lebendige
Wesen notwendigen Rahmen möglicher Orientierung und Entfal-
tung der eigenen Anlagen. »Sitte ist eine […] zweite Normalität, die
durch Erziehung vermittelt wird.« 108 Der Vergleich dieser zweiten
Normalität mit einer »Sprache«, die dem Wohlwollen zur Verfügung
gestellt ist, unterstreicht einmal mehr die nicht analysierbare Verbin-
dung von Natur und Vernunft in der menschlichen Wirklichkeit:
Man kann das Natürliche und das Vernünftige nicht als Gegensätze
begreifen. Wenn wir einsehen, daß die Stabilität der Verhaltenserwar-
tungen und des Verhaltens selbst nicht durch ständige Reflexion ge-
sichert werden kann, sondern der Tradition und der Sitte bedarf, so
heißt das, daß Tradition und Sitte gerade wegen ihrer reflexionsent-
lastenden Funktion wiederum vernünftig sind. Diese Einsicht bedeutet
jedoch nicht Rückkehr zu unaufgeklärtem Traditionalismus. Im Ge-
genteil. Gerade weil Tradition und Sitte als solche durch ihre Funktion
rational gerechtfertigt sind, sind sie auch in ihrem jeweiligen Gehalt
der Kritik durch vernünftige Reflexion zugänglich. Gerade weil Kon-
ventionen nicht als solche unvernünftig sind, können wir vernünftige
und unvernünftige Konventionen unterscheiden. 109
Die zweite – kulturelle – Normalität bezeichnet so schon dem Begriff
nach die nicht analysierbare Verbindung des Natürlichen und des
Vernünftigen, 110 durch die für das Individuum ein Strukturzusam-
menhang des Handelns insgesamt, gewissermaßen ein Modell des
ordo amoris, bereitgestellt wird, der von jedem Einzelnen neu gefüllt
werden muss, wobei diese zweite Normalität im konkreten Einzelfall
immer wieder neu in Frage gestellt und modifiziert wird. Gleichwohl
ist die Ausbildung des konkreten ordo amoris des Einzelnen auf diese
entlastende Kontingenzreduktion durch Tradierung von bewährten
Formen menschlichen Miteinanders in einer bestimmten Umwelt an-
gewiesen.

107 Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1978), 50.


108 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 205.
109
Ebd. 206.
110 Vgl.: »Kultur heißt ursprünglich Ackerbau, Kultur ist humanisierte, nicht abge-

schaffte Natur.« – Ebd. 215.

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

Doch trotz Kontingenzreduktion durch gesellschaftliche Norma-


lität und die Herausbildung eines individuellen ordo amoris bleibt der
mit der Idee des Wohlwollens gesetzte Anspruch durch seine nicht
abstreifbare Universalität zwangsläufig eine Überforderung des Ein-
zelnen. Es »bleibt die Spannung bestehen zwischen der Unendlichkeit
des Horizontes der Verantwortung, der sich dem vernünftigen Wesen
erschlossen hat, und der Endlichkeit des Lebewesens Mensch, das die-
ser Verantwortung handelnd gar nicht entsprechen kann« 111. Wenn
die Überforderung des Menschen somit im Verhältnis von Lebendig-
keit und Vernünftigkeit begründet ist, die die conditio humana aus-
macht, so müsste sich aus derselben conditio humana auch die ent-
sprechende Entlastung entwickeln lassen, durch die diese Überforde-
rung aufgefangen werden kann. Dies geschieht bei Spaemann durch
eine eingehende Analyse des Aktes der Anerkennung. Da es sich um
einen wesentlichen Gedankengang handelt, zitiere ich eine längere
Textpassage:
Anerkennung der Wirklichkeit des Anderen, amor benevolentiae gibt
es, so hatten wir bereits früher gesehen, nur als Anerkennung des
Anderen in seiner natürlichen Lebendigkeit, also seiner Zentralität.
Der Grund dieser Anerkennung kann aber nur darin liegen, daß er
seine Zentralität immer schon transzendiert hat. Die Potenz zu dieser
Transzendenz liegt jedoch in der lebendigen Zentralität selbst, die des-
halb zwar nicht Grund, aber Gegenstand der Anerkennung und des
Wohlwollens ist. Wir können auch sagen: Form und Inhalt der An-
erkennung endlicher Wesen fallen nicht zusammen. Darum enthält
diese Anerkennung immer das Moment der Verzeihung dafür, daß
niemand hält, was er durch sein Wesen verspricht. Auf allem liegt ein
geborgter Glanz. Aber diese Verzeihung – in einem sozusagen vor-
moralischen, ontologischen Sinn – ist eben zugleich Anerkennung.
Denn die endliche Natürlichkeit, die wir verzeihen müssen, ist zu-
gleich das Sein dessen, dem die Verzeihung gilt, also der Grund seiner
Selbsttranszendenz. Auf ihr liegt der Glanz, um dessentwillen wir
einem Seienden wohlwollen. Verzeihung in diesem fundamentalen,
vormoralischen Sinn bedeutet, daß wir unseresgleichen nur dann ge-
recht werden und ihn in seiner Würde achten, wenn wir ihn nicht
vollkommen ernst nehmen. Einen Menschen vollkommen ernst neh-
men heißt ihn vernichten. Denn vollkommen ernst genommen zu
werden überfordert uns. Die Vernunft eröffnet uns eine Dimension,

111
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 147.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

von der wir zugleich erkennen, daß sie von uns nicht ausfüllbar ist.
Niemand ist vollkommen erwacht. Natürlichkeit ist Unbewußtheit. 112
Bevor eine Deutung der die Überforderung des Menschen kompen-
sierenden Entlastung gegeben werden kann, müssen einige Vor-
bemerkungen zur Einordnung der hier verwendeten Begriffe in den
übergreifenden Kontext der Spaemann’schen Gedankenentwicklung
gemacht werden. Bedeutsam scheint mir an dieser Stelle der Bezug
auf die Unterscheidung von Sein und Wesen bzw. esse und essentia zu
sein, die oben im Zusammenhang mit der beginnenden Reflexion auf
die natürliche Selbsttranszendenz in der mittelalterlichen Philosophie
thematisiert und mit der Kontingenzerfahrung in einen Zusammen-
hang gebracht wurde. 113 An der hier zitierten Stelle wird als Ort der
Kontingenzerfahrung zur reflektierten Selbsttranszendenz fähiger
Wesen das reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen ausge-
wiesen. Die Wahrnehmung von Selbstsein als »Grund« und »Form«
der Anerkennung, die in der vollzogenen Selbsttranszendenz die
eigene Verwandlung in ein Selbstsein bewirkt, geht einher mit dem
Bewusstsein der Kontingenz des eigenen Soseins bzw. Wesens als
»Gegenstand« und »Inhalt« der Anerkennung. Der entscheidende
Gedanke, der nun an dieser Stelle entwickelt wird, ist, dass die aus
der lebendigen Zentralität hervorgehende Selbsttranszendenz als na-
türliche nicht durchgehalten werden kann. Es wäre nicht richtig zu
sagen, sie könne sich nur teilweise entfalten, denn, wie gesehen wur-
de, 114 ist Vernunft »wesentlich Antizipation eines Vollendeten« 115.
Selbsttranszendenz ist, wo sie gelingt, vollendete Selbsttranszendenz.
Aber wie Vernunft »nicht Substanz, sondern Geschehen« 116 ist, so ist
Selbsttranszendenz Ergebnis der Anstrengung eines natürlichen
Lebewesens, der zeitliche Grenzen gesetzt sind. Da diese aus der con-
ditio humana hervorgehende Beschränkung ein Teil der Selbsterfah-
rung eines jeden ist, kann im Akt der Anerkennung die natürliche
Lebendigkeit des Anderen als ihr Gegenstand und Inhalt nicht ver-
leugnet werden, ohne dass dieser Akt sich selbst aufhöbe. Diese kon-
stitutive, die Entlastung realisierende Komponente der Anerkennung

112 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 241–242.


113 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 338–
339.
114
Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 458–459.
115 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 116.

116
Ebd. 117.

488

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7.2.3 Ordo amoris und ontologische Verzeihung

nennt Spaemann Verzeihung: »Die Verzeihung, von der hier die Rede
ist, nenne ich deshalb ›ontologisch‹, weil sie unser Sein zum Gegen-
stand hat, die Tatsache, daß wir sind, wie wir sind.« 117 Wir sind auf-
grund des unauflösbaren Spannungsverhältnisses von Natürlichkeit
und Vernunft in der »Situation der Zweideutigkeit«:
Was am »Bleiben in der Natur« ist Natur? Wir müssen dieses Bleiben
dem anderen als Person zurechnen, falls wir ihn als freies Subjekt an-
erkennen. Wir können es ihm nicht zurechnen, wenn wir ihn als freies
Subjekt weiterhin respektieren wollen. Derjenige Akt, der diese Situa-
tion der Zweideutigkeit in die sittliche Eindeutigkeit bringt und die
Einheit von Zurechnung und Nichtzurechnung vollzieht, ist die Ver-
zeihung. In der »ontologischen« Verzeihung erlauben wir es dem an-
deren, das Versprechen nicht zu halten, das er als vernünftiges Wesen
ist. Wir erlauben ihm die Perspektivität eines endlichen ordo amoris,
in dem wir ihm weniger wirklich sind, als wir uns selbst erfahren, und
der deshalb mit dem unsrigen nur darin identisch ist, daß er um seine
eigene Endlichkeit und Perspektivität weiß, sie anerkennt und sich
selbst auf Bedingungen der Koexistenz mit anderen Ordnungen des
Wohlwollens zurücknimmt. 118
Spaemanns Theorie des Wohlwollens, wie sie in ihren Grundzügen
hier expliziert wurde, nimmt also aufgrund der konkreten Brechung
im ordo amoris und der menschlichen Normalität sowie der die onto-
logische Überforderung kompensierenden ontologischen Verzeihung
die Gestalt eines Kompromisses an, wodurch die Form der Aktualisie-
rung des antiken εὐδαιμονία-Gedankens im Wohlwollen, die von
Spaemann entwickelt wird, eine deutlich größere Nähe zu Aristoteles
erkennen lässt als zur reinen Lehre Platons.

117 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 242.


118
Ebd. 245.

489

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7.3 Wohlwollen: Ethische Bedeutung und
ontologische Konsequenzen

Nachdem in den beiden Hauptteilen des vorliegenden Kapitels ver-


sucht wurde, in zwei aufeinander aufbauenden Schritten die wesent-
lichen Intentionen Spaemanns zu erfassen und die auf sie zielenden
Argumentationen in einer möglichst stringenten Gedankenführung
wiederzugeben, soll im abschließenden dritten Teil auf zwei verschie-
dene Weisen ein Blick gewissermaßen von außen auf diese Argumen-
tationen geworfen werden. Mit der Sicht von außen ist damit vor
allen Dingen das Absehen gemeint von der für »Glück und Wohlwol-
len« charakteristischen Zielsetzung, Ethik und Ontologie als zwei
Seiten derselben Sache zu betrachten. Gewissermaßen im Sinne einer
Gegenprobe sollen die wesentlichen Gedanken Spaemanns aus der
Sicht der Ethik auf der einen, aus der der Ontologie auf der anderen
Seite geprüft werden. Zunächst geht es dabei um die Frage, worin der
Beitrag von »Glück und Wohlwollen« zum ethischen Diskurs der Ge-
genwart zu sehen sein kann. Hierzu wird ausgehend von Spaemanns
Auseinandersetzung mit dem Konsequenzialismus und der Diskurs-
ethik geprüft, inwieweit seine Gedanken als ›metaphysikfreie‹ Ethik
gelesen werden können bzw. inwieweit ein ontologischer Subtext aus
seinen ethischen Aussagen nicht entfernt werden kann. Ziel dieser
Überlegung ist eine Einschätzung der Potentiale und der Grenzen
von Spaemanns ethischer Argumentation (7.3.1). Den Abschluss des
Kapitels bildet der Blick auf die ontologische Seitenlinie der Argu-
mentation in »Glück und Wohlwollen« und die aus ihr hervorgehen-
den philosophischen Potentiale. Dabei können sich die Gedanken zu-
nächst auf Fragen stützen, die Spaemann selbst aufwirft und die über
den Rahmen seines »Versuchs über Ethik« hinausweisen. In ihrem
Zusammenhang tritt der Begriff der Person in den Mittelpunkt, des-
sen Verbindung mit den philosophiehistorischen Untersuchungen
Spaemanns thematisiert wird, woraus sich abschließend Hinweise
auf die im folgenden Kapitel leitende Fragestellung ergeben (7.3.2).

490

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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« als Beitrag zum
ethischen Diskurs der Gegenwart

Die beiden wesentlichen Bezugspunkte der kritischen Auseinander-


setzung Spaemanns mit dominierenden Ethikmodellen der Gegen-
wart sind der Utilitarismus bzw. Konsequenzialismus und die Dis-
kurstheorie, denen bereits lange vor »Glück und Wohlwollen«
verschiedene Veröffentlichungen Spaemanns galten. 1 Ihnen ist im
zweiten Teil von »Glück und Wohlwollen« jeweils ein Kapitel gewid-
met, in denen ein Fazit dieser kritischen Auseinandersetzung zu se-
hen ist. Beide Modelle sollen hier in Nachzeichnung von Spaemanns
Gedanken knapp im Hinblick auf ihre Stärken charakterisiert werden,
bevor die Einwände gegen sie dargelegt und somit die Bezüge zu
Spaemanns ethischer Position hergestellt werden.
Das »Prinzip des Utilitarismus oder Konsequentialismus, das
von seinen Vertretern auch als teleologisches Moralprinzip bezeich-
net wird« 2, fügt sich ein in den Rahmen des naturwissenschaftlich
orientierten Denkens und des technischen Fortschrittsverständnisses
der Moderne, indem es sich im Geist der Aufklärung von überkom-
menen Lasten befreit und entschieden die rationale Selbstbestim-
mung in den Mittelpunkt rückt:
Es versteht sich als ein Prinzip, aus dem sich für jede denkbare Situa-
tion ohne Rekurs auf Traditionen, Konventionen und Sitten die einzig
pflichtgemäße Handlungsweise deduzieren läßt. Außerdem erlaubt
dieses Prinzip die Auflösung aller vorrationalen Tabuisierungen und
damit aller Hindernisse, die sich einer voll durchrationalisierten,
funktionalen Gesellschaftsplanung in den Weg legen. Das Prinzip
schließt nämlich, im Unterschied zu jeder bisherigen Ethik, keine
Handlungsweise a priori davon aus, als eine deduzierte Pflicht in
Frage zu kommen. 3

1
Mit dem Utilitarismus beschäftigen sich beispielweise die Publikationen »Über die
Unmöglichkeit einer universalteleologischen Ethik« (1981), »Wer hat wofür Verant-
wortung? Kritische Überlegungen zur Unterscheidung von Gesinnungsethik und
Verantwortungsethik« (1982) und »Teleologische und deontologische Moralbegrün-
dung« (1983). Zum Thema Diskurstheorie sind vor allen Dingen zu erwähnen »Die
Utopie der Herrschaftsfreiheit« (1972) und der unter dem Titel »Die Utopie des guten
Herrschers« ebenfalls 1972 veröffentlichte Briefwechsel zwischen Spaemann und
J. Habermas.
2 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159.

3
Ebd. 158–159.

491

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Dieses Prinzip besteht wesentlich im utilitaristischen Nutzenkalkül,


also der Betrachtung jeder Handlung nach dem Kriterium des größt-
möglichen Nutzens für die größtmögliche Zahl der Betroffenen. Es
versteht sich, dass unter dieser Voraussetzung »die Worte ›gut‹ und
›Wert‹ hier nur in einem außermoralischen Sinne verstanden werden
dürfen, da sonst die Definition zirkulär wäre. (Moralisch gut wäre
dann eine Handlung, die das moralisch Gute zur Folge hätte.)« 4 Der
Utilitarismus tritt also mit dem Anspruch auf, ein »eindeutiges und
überprüfbares Moralkriterium« 5 und damit eine Antwort auf die
schnellen Wandlungen unterworfene und damit permanent kontin-
genzreduzierende Bestände abbauende technische Zivilisation zu be-
sitzen: »Moralische Gesichtspunkte begrenzen hier nicht die zweck-
rational-technische Handlungsorientierung, sondern vollenden sie.« 6
Prinzipiell spricht aus der Perspektive des Utilitarismus für ihn selbst,
dass er eine metaphysikfreie Ethik zu sein beansprucht bzw., wie
Spaemann es polemisch formuliert, 7 dass »er den Gottesgedanken
entbehrlich macht, nämlich dadurch, daß er selbst durch die Über-
nahme der Universalverantwortung den Gottesstandpunkt ein-
nimmt« 8. Die Argumentation Spaemanns gegen den Utilitarismus
besteht zunächst aus einem intuitiven Einwand, der dann in einem
zweiten Schritt argumentativ untermauert wird. Der intuitive Ein-
wand richtet sich gegen die aus dem utilitaristischen Nutzen- bzw.
»Optimierungskalkül« 9 hervorgehende Konsequenz, dass ein guter
Zweck jedes Mittel heiligt:
Die sittliche Qualität von Handlungen hängt für diese Ethik aus-
schließlich ab von ihrer Eignung als Mittel für das Optimierungsziel.
Der Einwand, unsittliche Mittel könnten dieses Ziel niemals fördern,
verfehlt das Problem: Ob ein Mittel sittlich oder unsittlich ist, kann
man ja nach dieser Theorie vor der Kenntnis seiner Eignung gar nicht
wissen. Es ist nichts anderes als diese Eignung.

4
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 159.
5 Ebd. 162.
6 Ebd. 163.

7 Diese polemische Haltung zum Utilitarismus macht Oliver Hallich Spaemann zum

Vorwurf. Seiner Behauptung, dass Spaemann »seine Thesen nicht in Form einer Kri-
tik des Utilitarismus formuliert«, sondern »sich zu ihrer Begründung auf basale ›sitt-
liche Intuitionen‹ beruft«, soll jedoch im Folgenden widersprochen werden. – Hal-
lich, Grenzen (Rezension).
8 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 164.

9
Ebd.

492

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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart

Diese Auffassung läßt keinen Platz für das, was für alle bisherige
Ethik charakteristisch war und was die Griechen als αἰδώς, als Scheu
oder Scham bezeichneten, also ein Gefühl dafür, daß dem Menschen
bei der Verfolgung seiner Ziele Grenzen gesetzt sind. 10
Die für Spaemann entscheidende Frage in der kritischen Auseinan-
dersetzung mit dem Utilitarismus lautet daher: »Gibt es nun Grenzen
der Güterabwägung oder gibt es sie nicht?« 11 Aus Spaemanns Sicht
erfordert diese Frage ein klares Ja, wobei seine Argumentation in zwei
Richtungen geht. Die erste wird markiert durch einen Gedanken-
gang, der zeigen soll, dass ein »universaler Nutzenkalkül« 12 eine
Überforderung des Menschen sowohl im theoretischen als auch im
praktischen Sinn darstellt. Die theoretische Überforderung ergibt sich
schlicht aus der kognitiven Unmöglichkeit, sämtliche Folgen einer
Handlung zuverlässig zu antizipieren. Sittlichkeit wird so »zu einer
Sache von Experten für möglichst umfassende Nutzenkalküle«, was
gleichbedeutend ist mit einer »Entmündigung des Einzelnen« 13. Die
praktische ergibt sich als Verlust jeder Handlungsfähigkeit aus der
theoretischen und »besteht darin, daß jeder in jedem Augenblick,
um sittlich zu handeln, genötigt ist, das Bestmögliche zu tun, um
das Weltbeste zu fördern« 14. Die zweite Richtung der Argumentation
geht von der Betrachtung der einzelnen Handlung aus. Dass jede be-
liebige sittliche Überzeugung und die daraus folgende Handlungs-
regel »durch die utilitaristische Reflexion geschwächt« 15 wird, indem
sie sich der kritischen Prüfung durch den universalen Nutzenkalkül
stellen muss, führt nach Spaemann »zu einer sittlichen Unterforde-
rung der Person« 16 durch Reduktion des Menschen auf seine vitalen
Bedürfnisse, die zeigt, dass es dem Utilitarismus nicht gelingt, die
beiden Seiten des Menschen als Lebewesen und Vernunft in ihrer
Vermittlung zu denken. In utilitaristischer Perspektive ist der
Mensch einerseits als Vernunft Instrument des universalen Optimie-
rungsprogramms, andererseits als Lebewesen Teil der zu optimieren-
den Welt:

10 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 165.


11 Ebd.
12 Ebd. 166.
13 Ebd. 169.
14
Ebd. 170.
15 Ebd. 167.
16
Ebd. 170.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Als Vernunftwesen ist der Mensch nicht lebendig, als Lebewesen nicht
vernünftig. Das gilt natürlich auch für den Umgang des Menschen mit
sich selbst. Als Lebewesen ist er selbst ein Teil der Welt, die es zu
optimieren gilt. Für den Umgang mit sich selbst kann daher nur fol-
gende Doppelregel gelten: 1. Vervollkommne deine Fähigkeiten, als
Instrument des vernünftigen Willens zur Verbesserung der Welt bei-
zutragen. 2. Sorge für dich als Teil dieser zu verbessernden Welt da-
durch, daß du es dir als Lebewesen so gut wie möglich gehen läßt, –
wobei zu diesem Wohlbefinden sittliche Vollkommenheit, sittliches
Erwachtsein definitionsgemäß nicht gehört. Die beiden Imperative
bleiben unvermittelt, und es ist auch nicht zu sehen, wie eine Ab-
wägung zwischen ihnen aussehen sollte. Als sittlich Handelnder bin
ich reines, auf das Optimierungsziel verpflichtetes Vernunftwesen.
Als Teil der Welt, die es zu optimieren gilt, kann meine anzustrebende
Vervollkommnung nur in der Entfaltung meiner selbst im außersitt-
lichen Sinne liegen. 17
Sittliche Überzeugungen sind in dieser Sicht nur tradierte Vorurteile,
die einer vernünftigen Überprüfung zu unterziehen sind. Das eigene
Wohlergehen als Lebewesen hängt danach nicht ab von sittlichen In-
tuitionen, sondern von als vernünftig erkannten Regeln, die wesent-
lich außersittlicher Art sind, also auf Selbsterhaltung und Lust-
maximierung zielen. Damit aber verfehlt der Utilitarismus – in den
begrifflichen Kategorien Spaemanns gedacht – gerade das Mensch-
liche am Menschen, nämlich die Vernunft als »Geschehen des Sub-
stanziell-werdens eines organischen Prozesses« 18 und damit das
Selbstsein: »Die utilitaristische Ethik bringt nicht nur das Selbstsein
des Anderen, der von unserem Handeln betroffen ist, durch Relati-
vierung zum Verschwinden, sondern auch das Selbstsein des Han-
delnden.« 19 Selbstsein ist, wie oben gezeigt wurde, 20 nach Spaemann
Repräsentation des Unbedingten, dessen Wahrnehmung ihrerseits
nur einem Selbstsein möglich ist und mit der erwähnten, dem Uti-
litarismus fremden Scheu (αἰδώς) verbunden ist:
Der eigentliche Endzweck alles sittlichen Handelns erweist sich näm-
lich als schon präsent, ehe wir zu handeln beginnen. Aus diesem Sein-
lassen erst folgt der Impuls des Zuhilfekommens. Aber jede Hilfe, die
aus diesem Impuls hervorgeht, wird – bei aller erforderlichen tech-

17 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 170–171.


18
Ebd. 117.
19 Ebd. 169.
20
Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.

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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart

nischen Perfektion – doch umgriffen bleiben von dieser Haltung der


Ehrfurcht vor dem, was ist – und das[,] indem es ist, allem, was sein
und geschehen soll, vorausgeht. 21
Spaemanns Einwand gegen das utilitaristische Ethikmodell besteht
also darin, dass die universale Güterabwägung einerseits unsere ko-
gnitiven Kapazitäten überfordert, dass in diesem Ethikverständnis
andererseits die entscheidende Evidenz der Wahrnehmung von
Selbstsein negiert und der Mensch als zu sittlichem Handeln fähiges
Wesen damit unterfordert wird.
Das zweite von Spaemann näher betrachtete Ethikmodell der
Gegenwart, die Diskursethik, »versucht dem gegenüber, den Kanti-
schen Gedanken vernünftiger Verallgemeinerung, in der die Subjekt-
stellung jedes vernünftigen Wesens gewährleistet ist, in einer moder-
nen Variante zu erneuern« 22. Die vernünftige Verallgemeinerung
besteht dabei zunächst in der »Anerkennung des Anderen« 23 als
Selbstsein bzw. Selbstzweck. »Die Diskursethik ist ein Versuch, den
Kantischen Begriff der praktischen Vernunft zu operationalisieren
und zu entindividualisieren.« 24 Welche Konsequenzen der kantischen
Ethik ließen eine solche Operationalisierung und Entindividualisie-
rung als geboten erscheinen? Der kategorische Imperativ der prakti-
schen Vernunft ist als bloß formales Prinzip der Handlungsbeurtei-
lung einerseits abhängig von der »Interessenlage des Einzelnen« 25,
andererseits »ergibt sich, so scheint es, kein Prinzip, das es erlauben
würde, den Grad der Individualisierung bestimmter Handlungs- oder
Situationstypen festzulegen, auf die sich unsere moralischen Regeln
beziehen können« 26. Da somit das Kriterium der Sittlichkeit nur
durch die Selbstgewissheit der Vernunft verbürgt ist, scheint eine
Operationalisierung der praktischen Vernunft nur möglich zu sein
durch die Überwindung des individualistischen Ausgangspunkts:
Es ist nun der Vorschlag gemacht worden, die individuelle Konsultati-
on der eigenen praktischen Vernunft oder auch die individuelle
Wünschbarkeit einer allgemeinen Verteilungsordnung zu ersetzen
durch das Ergebnis eines realen Diskurses mit allen, die von den Fol-

21 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 171.


22 Ebd. 173.
23 Ebd.
24
Ebd.
25 Ebd.
26
Ebd. 174.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

gen meiner Handlung betroffen sind. Das Prinzip des Wohlwollens


erfordert danach nicht nur, deren Wohl zu berücksichtigen, sondern
auch sie selbst bei der Definierung dieses Wohls und bei der Ausarbei-
tung von Normen, die jedermann zumutbar sind, zu Wort kommen zu
lassen. 27
Das individuelle »Mit-sich-zu-Rate-Gehen[…]« 28 soll also im Sinne
der Überwindung des kantischen Formalismus ersetzt werden durch
ein echtes Miteinander-zu-Rate-Gehen der vernünftigen Wesen in
einem realen Diskurs:
Ein solcher Diskurs muß drei Bedingungen genügen, wenn er als
Äquivalent für das Selbstgespräch des Vernünftigen gelten soll. Er
muß herrschaftsfrei sein, das heißt, die Ungleichverteilung von
Durchsetzungschancen, die im wirklichen Leben vorhanden sind, darf
es in ihm nicht geben, da ja hier die Kriterien entwickelt werden sol-
len, an denen diese Verteilung auf ihre Gerechtigkeit hin überprüft
werden kann. In diesem Rechtfertigungsdiskurs muß jeder Betroffene
ohne Druck seine Interessen artikulieren und an ihrer Umformung zu
einem kompatiblen Ganzen chancengleich mitwirken können. Aller-
dings, das ist die zweite Bedingung, müssen alle Beteiligten über die
erforderliche Kompetenz verfügen. Sie müssen über ihre Interessen
aufgeklärt sein und über die geistige Fähigkeit verfügen, unter Ge-
rechtigkeitsgesichtspunkten »umzudisponieren«. Die dritte Bedin-
gung ist schließlich eine gewisse moralische Qualifikation aller Betei-
ligten. Sie müssen bereit sein, ihre Interessen wirklich zur Disposition
einer eventuellen Umformulierung zu stellen. 29
In Spaemanns Darstellung leitet bereits die Aufzählung dieser Bedin-
gungen eines gelingenden Diskurses seine Kritik an der Diskursethik
ein, da als Modell hier offensichtlich kein faktischer Diskurs dient,
sondern »vielmehr ein kontrafaktisch angenommener idealer Dis-
kurs, dessen Ergebnis wir in unseren moralischen Überlegungen zu
antizipieren haben« 30. Spaemann zeigt, dass alle drei Bedingungen
von realen Diskursen nicht erfüllt werden und dass umgekehrt ihre
Voraussetzung den Diskurs überflüssig machen würde. Erstens sind
»[r]eale Diskurse, die praktische Fragen zum Gegenstand haben, […]
nie herrschaftsfrei. Sie privilegieren z. B. Intellektuelle, die gut reden

27 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 174


28
Ebd. 176.
29 Ebd. 175.
30
Ebd. 176.

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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart

können.« 31 Aber auch abgesehen von einer solchen persuasiven


Machtausübung setzt der Gedanke der Herrschaftsfreiheit voraus,
dass sich im Diskurs eine überpersönliche Vernunft durchsetzt. Ge-
rade diese wurde aber durch die Annahme einer notwendigen Opera-
tionalisierung und Entindividualisierung des kantischen Begriffs der
praktischen Vernunft in Zweifel gezogen 32: »Unter der nominalisti-
schen Voraussetzung, die dem Paradigmenwechsel von der Vernunft
zum Diskurs zugrundeliegt, verfällt der Diskurs schließlich demsel-
ben Verdikt wie die mit sich selbst sich verständigende Vernunft.« 33
Das aber bedeutet, dass der Diskurs »nur eine andere Form von Ge-
walt, Gewalt mit Worten« 34 ist. Hält man dagegen »kontrafaktisch an
der Idee eines nur an Wahrheit oder Gerechtigkeit orientierten herr-
schaftsfreien Diskurses« fest, heißt das, dass sein Ergebnis antizipiert
werden kann, so dass er gar nicht mehr stattzufinden braucht. Denn
»die Antizipation seines Ergebnisses ist nichts anderes als das Resul-
tat eben jenes vernünftigen Mit-sich-selbst-zu-Rate-Gehens, das
durch die Fiktion des idealen Diskurses abgelöst werden sollte« 35.
Mit den beiden anderen Kriterien, also der sittlichen Kompetenz der
Beteiligten und ihrer moralischen Qualifikation bzw. Aufrichtigkeit,
verhält es sich ähnlich: »Wo diese Bedingungen erfüllbar sind, da ist
eigentlich die Aufgabe schon gelöst, die durch den Diskurs angeblich
erst lösbar werden sollte.« 36 Die damit aufgewiesene »sekundäre Stel-
lung des Diskurses im Bereich der sittlichen Urteilsbildung« 37 belegt
Spaemann darüber hinaus durch drei weitere Argumente. Wenn ers-
tens dem Diskurs die Antizipation seines Ergebnisses sowie die
Bereitschaft, sich ihm zu stellen, vorhergehen muss, ist der Diskurs
»nie sittliche Entscheidungsinstanz, sondern immer nur Durchgangs-
stadium in der persönlichen sittlichen Urteilsbildung« 38. Er dient der
Überprüfung der »prätendierte[n] Unparteilichkeit unserer sittlichen

31 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 176.


32
Die historische Ursache dieser Entwicklung sieht Spaemann wiederum in der neu-
zeitlichen Entteleologisierung: »Es ist vor allem der antiteleologische Nominalismus
der Neuzeit, der die Umdeutung der klassischen Vernunft- zu einer Diskursethik
nahelegt.« – Ebd. 175.
33 Ebd. 176.

34 Ebd. 177.

35 Ebd.

36
Ebd.
37 Ebd. 179.

38
Ebd.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Urteile«, wobei die »Bereitschaft, das eigene Urteil einer solchen Prü-
fung zu unterziehen, […] der Test auf die Aufrichtigkeit dieser Prä-
tention« 39 ist. Die sittliche Urteilsbildung unterscheidet sich von po-
litischen Entscheidungsprozessen eben dadurch, dass eine politische
Mehrheitsentscheidung, die den eigenen Überzeugungen wider-
spricht, aufgrund der Respektierung demokratischer Meinungsfin-
dungsprozesse akzeptiert werden kann, ohne dass diese Respektie-
rung diskursiv erzeugt wäre:
Der Gehorsam gründet vielmehr, wenn er mehr ist als Anpassung aus
Furcht vor Sanktionen, in jenem fundamentalen Wohlwollen, in dem
mir die Wirklichkeit meiner selbst und der Anderen wirklich wird.
Und unter den inhaltlichen Konsequenzen dieses Wohlwollens ist die
Bereitschaft zur diskursiven Verständigung über das Gute und das
Schlechte nur eine unter anderen und nicht einmal die primäre. 40
Zweitens weist Spaemann darauf hin, dass aus einem Diskurs, bei-
spielsweise dem der Wissenschaft, eine sittliche Verantwortung erst
dann hervorgeht, wenn der Teilnehmer des Diskurses in ein persön-
liches Verhältnis zu einem Anderen tritt, etwa der am medizinischen
Diskurs teilnehmende Arzt in eines zu seinem Patienten: »Ethik ist
keine ars longa, Ethik hat es immer mit der vita brevis zu tun.« 41
Drittens führt Spaemann als Argument für die sekundäre Stellung
des Diskurses im Bereich der sittlichen Urteilbildung die definitori-
sche Beschränkung auf die Diskursteilnehmer an:
Aber was ist mit Kindern, was ist mit Geisteskranken, was ist mit den
kommenden Generationen, die von unseren Entscheidungen betrof-
fen, aber in keinem Diskurs präsent sind, der ihre Interessen betrifft?
Was ist mit der Verantwortung für Leben und Tod der Ungeborenen?
Spätere Diskursteilnehmer werden nur diejenigen sein, die man am
Leben ließ. Und was ist mit der Verantwortung für das Andenken
und die Fortsetzung des Werkes derer, die vor uns waren? Die Dis-
kursethik kann die Verantwortung für diejenigen, die nicht am Dis-
kurs teilnehmen können, nicht begründen. Diese liegt vor dem Dis-
kurs. Und Verantwortung, also jenes praktisch werdende Wohlwollen,
das »Hilfe« heißt, liegt allem Diskurs zugrunde. 42

39 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 178.


40
Ebd. 179.
41 Ebd. 181.
42
Ebd. 182.

498

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7.3.1 »Glück und Wohlwollen« im ethischen Diskurs der Gegenwart

Spaemanns Kritik an der Diskursethik lässt sich also dahingehend


zusammenfassen, dass der Versuch der Operationalisierung des kan-
tischen Begriffs der praktischen Vernunft an denselben Denkvoraus-
setzungen scheitert, die diese Operationalisierung zuallererst nötig
erscheinen ließen, und dass die jedem Diskurs notwendig voraus-
gehende sittliche Urteilsbildung ihren Grund in einer nicht reduzier-
baren Evidenz der Wahrnehmung hat.
Abschließend soll es nun vor dem Hintergrund der kritischen
Auseinandersetzung mit dem Utilitarismus und der Diskursethik
um die Frage gehen, welche über diese kritischen Einlassungen hi-
nausgehende Konkretisierung der spezifisch ethischen Position Spae-
manns aus »Glück und Wohlwollen« abgeleitet werden kann. Diese
Überlegung muss in dem Bewusstsein geschehen, dass jeder Versuch,
aus Spaemanns »Versuch über Ethik« ein neues »Ethikmodell« he-
rauslesen zu wollen, den Intentionen seines Autors zuwiderlaufen
müsste. Spaemann beginnt das Vorwort zu »Glück und Wohlwollen«
mit den Worten: »Dieser Versuch über Ethik enthält hoffentlich
nichts grundsätzlich Neues. Wo es um Fragen des richtigen Lebens
geht, könnte nur Falsches wirklich neu sein.« 43 Die Einwände gegen
die Diskursethik und den Utilitarismus sind somit nicht Hinweise auf
die Notwendigkeit eines neuen Modells der Ethik, sondern rufen viel-
mehr selbst zu einer μετάνοια auf, um die es, wie gesehen, 44 für
Spaemann in der Ethik wesentlich geht. Eine solche Wendung kann
zunächst auf Kants Auffassung des Menschen als Selbstzweck zu-
rückgehen, dessen Erscheinung »Repräsentation seiner eigentlichen,
›noumenalen‹ Wirklichkeit ›in der Sinnenwelt‹« 45 ist, womit das
Selbstsein für Kant, wie Spaemann schon früher betonte, »in die
Leerstelle, die in der ›Kritik der reinen Vernunft‹ durch den Begriff
des Dinges an sich geschaffen wurde« 46, einrückt. Spaemann teilt mit
Kant diese Auffassung des menschlichen Selbstseins, stellt sie aber in
einen gegen die kantische Philosophie gerichteten naturteleologi-
schen Begründungszusammenhang, durch den Kants Selbstzweckfor-
mel des kategorischen Imperativs 47 bei Spaemann, wie bereits im

43 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 9.


44 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 458.
45 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194.

46 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 43.

47
»Handle so, daß du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines
jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.« –
Kant, Grundlegung der Metaphysik der Sitten, Werke, Bd. 6, 61.

499

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

sechsten Kapitel gezeigt, 48 eine Erweiterung über die menschliche


Spezies hinaus erfährt: »Handle so, daß du die Natur sowohl in deiner
Person als auch in jedem anderen natürlichen Wesen niemals nur als
Mittel, sondern immer zugleich auch als Zweck gebrauchst.« 49 Die
Differenz zu Kant zeigt, dass die philosophiehistorische Rückwen-
dung hier nicht stehen bleiben kann; es bedarf weiter der Rückkehr
zu Platon und Aristoteles und dem, was an der »klassischen Sicht
unaufgebbare Entdeckung« 50 war, nämlich die Idee vom gelingenden
Leben. Insofern diese wiederum sich unter neuzeitlichen Denkbedin-
gungen in Antinomien verstrickte, kann sie erst durch eine mit der
Idee der sittlichen Verantwortung vermittelte Aktualisierung erneu-
ert werden, die in Spaemanns Denken den Namen Wohlwollen trägt.
Dieses Wohlwollen ist wesentlich Geschenk, das Erwachen zur Wirk-
lichkeit. Die Fundierung des ethischen Grundgedankens Spaemanns
ist daher nicht möglich, ohne auf die Evidenz einer Wahrnehmung zu
rekurrieren, die nicht auf Gegenständlichkeit für ein Subjekt zielt,
sondern sich allein einem Akt der Anerkennung erschließt. Damit
kann als Schlussfolgerung des Gedankengangs in diesem Abschnitt
festgehalten werden, dass Spaemanns ethische Position, wiewohl sie
durchaus eine deutliche Schnittmenge mit der kantischen Sicht hat,
sogleich beginnt, die Grenzen des Ethischen im engeren Sinne in
Richtung einer Ontologie zu überschreiten, sobald über rein norma-
tive Gesichtspunkte hinaus nach den Beweggründen für sittliches
Handeln in der menschlichen Natur gefragt wird. Akzeptiert man
die Forderung, dass eine zeitgemäße Ethik ›metaphysikfrei‹ sein müs-
se, ergibt sich daraus ein schwerwiegender Einwand gegen Spae-
manns »Versuch über Ethik«. Dieser Einwand jedoch würde den Ge-
dankengang Spaemanns bereits im Ansatz verfehlen, insofern eine
solche Forderung durch seine erste Prämisse als in sich widersprüch-
lich und darum unhaltbar zurückgewiesen wurde: »Es gibt keine
Ethik ohne Metaphysik.« 51

48 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 397.
49
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 133.
50 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 17.

51
Ebd. 11.

500

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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven

Im zweiten Teil von »Glück und Wohlwollen« gelangen Spaemanns


Argumentationen gelegentlich an einen Punkt, an dem er entweder
auf sich aus dem Gedankengang ergebende Fragen hinweist, die den
Rahmen seines »Versuchs über Ethik« sprengen würden, oder in Er-
wägung zieht, dass die Überlegungen hier prinzipiell an eine Grenze
des theoretischen Denkens rühren. Regelmäßig ist dieser Punkt mit
dem Thema der Person verbunden, das allmählich im Gang der Ge-
danken in den Vordergrund rückt, offenbar aber Implikationen mit
sich führt, die quer zu Spaemanns Intentionen in »Glück und Wohl-
wollen« stehen. Im Folgenden sollen nun einige der entsprechenden
Textstellen unter der leitenden Fragestellung untersucht werden, aus
welcher inneren Logik heraus der Gedankengang in Spaemanns »Ver-
such über Ethik« zum Thema der Person führt und wodurch diese
Thematik den hier gesetzten Rahmen zu sprengen droht.
Als zentrale Entdeckung Spaemanns in »Glück und Wohlwol-
len« kann die Freilegung des eigentlichen Ausgangspunktes seiner
ethischen Reflexion in der Evidenz einer Wahrnehmung aufgefasst
werden, der das radikal Unbezügliche bzw. Unbedingte »in der Weise
der Repräsentation des Bildes« 52 gegeben ist. Auf diesen innersten
Punkt seiner Überlegungen, der im Kapitel »Wohlwollen« zuerst er-
reicht wird, bereiten der erste Teil und die ersten Kapitel des zweiten
Teils vor; von diesem Punkt gehen danach die weiteren Überlegungen
zu seiner Ausdeutung aus. Über das hierzu oben in den Abschnitten
7.2.2 und 7.2.3 Gesagte hinaus soll es im Folgenden einerseits um
theoretische Fragen gehen, die sich aus dieser Wahrnehmungs-
evidenz ergeben, zum anderen um das zentrale praktische Problem
von »Glück und Wohlwollen«, das in der Wahl der selbstverschul-
deten Unaufmerksamkeit als Ausgangspunkt einer praktischen Phi-
losophie besteht. Die theoretischen Fragen ergeben sich aus dem
Missverhältnis zwischen der Universalität des Wohlwollens, das un-
mittelbare Reaktion auf die Evidenz der Wahrnehmung ist, und der
Endlichkeit des Menschen. Diesem Missverhältnis widmet Spaemann
seine Überlegungen zum ordo amoris und zur ontologischen Verzei-
hung, die jedoch nur vorläufig sein können und auf eine Ontologie
vorausweisen:

52
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

501

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Der ordo amoris strukturiert unser Verhältnis zu der Vielzahl der In-
dividuen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Nähe und Ferne, son-
dern vor allem der Rangordnung der Wirklichkeiten, denen wir begeg-
nen. Was begründet eine solche Rangordnung? Die ausführliche
Rechtfertigung einer Antwort könnte nur im Rahmen einer Ontologie
geschehen. Gleichwohl kann im Rahmen einer Ethik auf sie nicht ver-
zichtet werden. Es gibt keine Ethik ohne Metaphysik. Wir sahen das
bereits hinsichtlich der Notwendigkeit, den Anderen als wirklich, als
»Ding an sich« betrachten zu müssen, um überhaupt so etwas wie eine
Verpflichtung ihm gegenüber zu erfahren. Und die Erfahrung dieser
Verpflichtung ist letzten Endes nichts anderes als jene Wirklichkeits-
erfahrung. Denn diese wiederum ist nichts rein Theoretisches. Rein
theoretisch haben wir nur qualitative Erfahrung, nie die Erfahrung
von Existenz, von Selbstsein, also von dem, was gerade per definitio-
nem nicht Gegenstand ist. 53
Im Rahmen seines »Versuchs über Ethik« beschränkt Spaemann sich
also auf die Wirklichkeit des Selbstseins anderer Menschen und
streift die Frage, inwiefern es ein Verhältnis des Wohlwollens auch
gegenüber der außermenschlichen Welt geben muss, nur am Rande. 54
Die ausführliche Begründung einer »Rangordnung der Wirklichkei-
ten« wäre dagegen Sache einer Ontologie. Doch auch die Beschrän-
kung auf das Selbstsein wird Spaemann im Zuge der Entfaltung sei-
ner Gedanken problematisch, insofern »wir so etwas wie Personalität
oder Selbstverhältnis niemals direkt empirisch feststellen können« 55
und damit kein Kriterium für Selbstsein haben: »Es gehört zum We-
sen der menschlichen Person, daß sie im Unvordenklichen grün-
det.« 56 Damit aber ist jede einzelne Person immer schon angewiesen
auf eine vorausgesetzte Personengemeinschaft, ohne die sie erst gar
nicht wirklich werden kann: »Ohne Interpersonalität gibt es keine
Person.« 57 Diese Gemeinschaft kann unter diesen Voraussetzungen
nicht durch gegenseitigen Nutzen definiert sein, sondern muss eine
prinzipielle Achtung aller ihrer Mitglieder zur Voraussetzung haben:
»Was das heißt, läßt sich wiederum gar nicht oder nur in Begriffen
explizieren, die nicht der Ethik im engeren Sinne entstammen, son-

53 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 150–151.


54 Vgl. ebd., Abschnitt IV des Kapitels »Ordo amoris«, 153–156.
55
Ebd. 152.
56 Ebd. 152–153.
57
Ebd. 235.

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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven

dern einer Theorie des Absoluten angehören.« 58 Eine solche liegt au-
ßerhalb der Möglichkeiten von »Glück und Wohlwollen«, wenn-
gleich häufige Vorgriffe auf sie nicht vermeidbar sind. Im Umkehr-
schluss folgt daraus, dass für die ethische Reflexion sittliches Handeln
»jederzeit aus der Präsenz einer Totalität von Sinn lebt« und dass
diese Reflexion somit ohne »eine religiöse Implikation« 59 kaum mög-
lich ist. Am klarsten tritt diese Implikation in den Überlegungen zu
einer Verantwortung sich selbst gegenüber hervor:
Die Entscheidung darüber, ob von einer solchen Verantwortung sinn-
voll die Rede sein kann, ist eine metaphysische. Sie hängt davon ab, als
was wir die Person, als was wir uns selbst verstehen. Die sittliche Er-
fahrung ist die Erfahrung einer eigentümlichen Art von Unbedingt-
heit, ähnlich wie die Erfahrung von Wahrheit. Diese Erfahrung kann
nicht auf das kontingente Faktum der Existenz eines Exemplars der
species homo sapiens als auf ihren Grund zurückgeführt werden, ohne
sich damit als Mißverständnis, als Illusion zu enthüllen. Jede sozio-
logische, psychologische oder biologische Ableitung des Phänomens
ist gleichbedeutend mit seiner Destruktion. Nur unter der Vorausset-
zung, daß die endliche Subjektivität sich als Ort der Erscheinung, des
Unbedingten als dessen Bild oder Repräsentation versteht, das sie
selbst nicht ist, läßt sich der Gedanke einer Verantwortung vor und
für sich selbst denken. 60
Es geht hier um die entscheidende Frage des Selbstverständnisses, die
durch die Differenz zwischen Autonomie und Freiheit präzisiert wer-
den kann: Liegt es im Sinne eines autonomen Selbstverständnisses
»im Belieben des Handelnden […], sich selbst von einer Verantwor-
tung zu dispensieren, die er auch nur sich selbst auferlegen kann« 61,
oder kann im Sinne eines Freiheitsbegriffs, der ein gewissermaßen
reflexives Verhältnis der Anerkennung impliziert, Verantwortung
sich selbst gegenüber nur auf das Unbedingte als Adressat zielen,
dessen Repräsentation im Selbst erblickt wird. Es ergibt sich somit
eine klare Alternative: »entweder ich bin für mich verantwortlich
oder ich bin eine res nullius, deren sich jeder bemächtigen kann, wie
er will« 62. Dies freilich ist, wie Spaemann bemerkt, ein »religiöser

58 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 237.


59 Ebd. 201.
60
Ebd. 236.
61 Ebd.
62
Ebd. 253.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Gedanke« 63, allerdings ein unvermeidlicher, da es, wie gesehen, zur


conditio humana gehört, dass »niemand hält, was er durch sein We-
sen verspricht« 64, und die mit der Verantwortung für sich verbundene
Selbstachtung nur durch ein Entgegenkommen möglich ist, durch das
eine metaphysische Dimension eröffnet wird. Der letzte Satz von
»Glück und Wohlwollen« lautet: »Der Gedanke der Verantwortung
gegen sich selbst ist deshalb nur durchzuhalten, wo eine mögliche
Verzeihung, also auch ein Subjekt dieser Verzeihung gedacht wird.« 65
Die Möglichkeit, dass ein konkreter Anderer als Repräsentation die-
ses Subjekt vertreten kann, relativiert die religiöse Dimension des
Gedankengangs, ohne sie aufzuheben. 66 Die Überlegungen von
»Glück und Wohlwollen« führen somit zum Mysterium der Person,
die nur im Plural gedacht werden kann, womit der fokussierte Ein-
heitspunkt von Ethik und Ontologie in Richtung Letzterer verlassen
und eine über den gesetzten Rahmen hinausgehende Thematik er-
öffnet wird.
Zu einer ganz ähnlichen Verschiebung führt das erwähnte prak-
tische Problem, auf das Spaemann in seinem Gedankengang stößt.
Dieses Problem besteht darin, dass die für Spaemanns ethischen An-
satz primäre Evidenz der Wahrnehmung des Unbedingten in der
Weise der Repräsentation des Bildes mit der Normalität der conditio
humana gerade nicht zusammenfällt. Daraus ergibt sich, wie oben
gesehen, »ein Paradox, das der Philosophie immer wieder zu schaffen
gemacht hat« 67, nämlich das »Paradox der schuldhaften Unaufmerk-

63 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 253.


64 Ebd. 241.
65 Ebd. 254.

66 Kristina Klitzke bemerkt in »Das ›Heiligtum‹ der Person« mit Bezug auf das »Wo-

vor der Verantwortung«: »Dass bei einem Christen Gott das Wovor der Verantwor-
tung ist, mag richtig sein. Gleichwohl beantwortet Spaemanns Sichtweise m. E. nicht
hinreichend, weshalb nicht auch bspw. die autonome praktische Vernunfterkenntnis
und das von ihr als normativ erkannte praktische Vernunftgesetz letzter Gegenstand
der sittlichen Verantwortung des Menschen sein kann.« – Klitzke, Das »Heiligtum«
der Person, 73, Fn. 203. – Warum die autonome Vernunft und das praktische Ver-
nunftgesetz mit dieser Rolle überfordert sind, wurde in Abschnitt 7.1.3 gezeigt. Klitz-
ke verkennt zudem, dass die Alternative ›Glaube an Gott‹ oder ›autonome Vernunft‹
die Sicht Spaemanns unzulässigerweise verkürzt. Der in »Glück und Wohlwollen«
entwickelte Gegenentwurf zur autonomen Vernunft baut auf dem ›Erwachen zur
Wirklichkeit‹ auf, das trotz religiöser Konnotationen im reziproken interpersonalen
Begegnungsgeschehen eine phänomenologische Beschreibungsebene hat.
67
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 188.

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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven

samkeit« 68, von dem Spaemann sagt, dass er es nicht mit der »er-
forderlichen Differenzierung« 69 angehen kann:
Das bisherige Nichtwahrnehmen als eigene Schuld zu sehen, gehört
zum Erwachen. Als selbstverschuldet erscheint dem Aufgeklärten
nach Kant die Unmündigkeit, die er hinter sich gelassen hat. Wenn
die Wahrnehmung Gabe ist, dann scheint darin ein Widerspruch zu
liegen. Dieser Widerspruch kann hier nicht aufgelöst werden. Er hat in
Europa seit den Tagen Augustins bis zu den Religionskriegen der frü-
hen Neuzeit die Geister beschäftigt, und wenn er zur Ruhe kam, so
nur deshalb, weil er schließlich den Fragen zugezählt wurde, von
denen Kant sagte, daß die menschliche Vernunft genötigt sei, sie zu
stellen, aber unfähig sie zu beantworten. 70
Über den Hinweis hinaus, dass dieses Paradox im Rahmen von
»Glück und Wohlwollen« nicht aufgelöst werden kann, stellt Spae-
mann seine Auflösbarkeit prinzipiell in Frage: »Die theoretische Deu-
tung dieses Phänomens führt über unsere Absicht an dieser Stelle
hinaus. Und es ist auch die Frage, ob eine theoretische Deutung nicht
aus prinzipiellen Gründen unmöglich ist.« 71 An die Stelle der theo-
retischen Auseinandersetzung mit diesem Paradox tritt in »Glück
und Wohlwollen«, wie oben gezeigt, an mehreren Stellen als letzte
Berufungsinstanz der Hinweis auf den Mythos des Sündenfalls, der
»hier mehr erklärt als die Theorie, die ihn deuten soll« 72. Ausgehend
von dieser ›Sackgasse‹ der praktischen Argumentation und der oben
dargelegten theoretischen Aporie soll im Folgenden, ohne Spaemanns
gedankliche Bahnen in »Glück und Wohlwollen« zu verlassen, eine
Auffälligkeit der Gedankenführung hervorgehoben werden, die mei-
nes Erachtens in ursächlichem Zusammenhang mit diesen Grenzen
der Reichweite von Spaemanns »Versuch über Ethik« steht und deren
Thematisierung zugleich vorauszuweisen vermag auf den bevorste-
henden Schritt der Entfaltung von Spaemanns Philosophie im achten
Kapitel.
Als eine Konstante von Spaemanns philosophischem Denken,
die sich in »Glück und Wohlwollen« unvermindert durchhält, kann
die große Bedeutung philosophiehistorischer Untersuchungen in der

68 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.


69 Ebd. 189.
70
Ebd. 222.
71 Ebd. 244.
72
Ebd.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

Genese seiner eigenen philosophischen Konzeptionen gesehen wer-


den. In seinem »Versuch über Ethik« bedeutet dies konkret die kriti-
sche Auseinandersetzung vor allen Dingen mit der kantischen
Pflichtethik, die Anknüpfung an die klassische Sicht Platons und
Aristoteles’ und das Projekt der Aktualisierung des Eudämonismus
in seiner Fassung des Wohlwollens. Das Verhältnis von neuzeitlicher
und antiker Philosophie und die prinzipiellen Schwierigkeiten einer
Annäherung an letztere und des Versuchs einer Aktualisierung anti-
ker Positionen wurde von Spaemann bereits Anfang der 80er Jahre in
»Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« reflek-
tiert. 73 Im Rahmen der Argumentation von »Glück und Wohlwollen«
ist nun einerseits erkennbar, dass die Fortsetzung der dort grund-
gelegten Reflexion des problematischen Verhältnisses von neuzeit-
licher und antiker Philosophie für das zentrale Anliegen von größter
Bedeutung ist, andererseits drängt sich der Eindruck auf, dass dieses
Verhältnis stellenweise unterbestimmt zu sein scheint. So betont
Spaemann etwa auf der einen Seite im Hinblick auf die Korrekturbe-
dürftigkeit der individuellen praktischen Vernunft gegenüber der
auch im Individuum zumindest potentiell voll gegebenen theoreti-
schen Vernunft die abgrundtiefe Differenz zwischen der neuzeit-
lichen und der antiken Perspektive:
Platon dachte auch die praktische Vernunft als eine solche überpersön-
liche Instanz. Diese Auffassung setzt so etwas voraus wie eine teleo-
logisch gedachte allgemeine Menschennatur, deren Strebungen mit
gleichen Maßen gemessen werden können, so daß, wo es darum geht,
sie miteinander kompatibel zu machen, jeder vernünftig und gerecht
Denkende im Prinzip die notwendige Entscheidung allein und stellver-
tretend für alle anderen treffen kann. 74
Umgekehrt zeigt er im Hinblick auf das erörterte Phänomen der
schuldhaften Unaufmerksamkeit, dass dieses eine genuin christliche
Erscheinung ist, die dem antiken Denken fremd ist:
Die Antike hat dem Problem nicht ins Auge gesehen. Sie hat die
Tatsache, daß ein Mensch nicht tut, was die recta ratio gebietet, auf
Unvermögen zurückgeführt, auf Unwissenheit, schlechte Natur,
schlechte Erziehung. Das Christentum erst hat eine neue Sicht der

73 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.


74
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 175.

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7.3.2 Ontologische Fragen und Perspektiven

Dinge inauguriert, indem es die Verblendung noch einmal als Folge


des Nichtwollens deutete. 75
Auf der anderen Seite aber bringt Spaemann das Erwachen zur Wirk-
lichkeit, das sonst ein anderer Name des Wohlwollens ist, mit Platon
in Verbindung, womit indirekt suggeriert wird, dass es das Paradox
der schuldhaften Unaufmerksamkeit auch für ihn schon gegeben ha-
be: »Das Sich-zeigen des Guten selbst ist für Platon gleichbedeutend
mit dem Erwachen zur Wirklichkeit, mit dem Wirklichwerden des
Wirklichen für den, dem es sich zeigt.« 76 Ähnlich gelagert ist sein
Gedankengang, in dem die mit Wohlwollen überschriebene Selbst-
verwandlung in der Wahrnehmung des Selbstseins als Bild in einen
Zusammenhang mit Aristoteles gebracht wird: »Solcher amor amici-
tiae ist nach Aristoteles nur möglich als gegenseitiges Wohlwollen
unter Menschen, deren Willensrichtung füreinander nachvollziehbar
ist, weil sie beide sich über den bloßen Trieb erhoben und das Gute als
das Allgemeine in ihren Willen aufgenommen haben.« 77 Textstellen
wie diese stehen nach meinem Dafürhalten in einer offensichtlichen
Spannung zu dem in »Glück und Wohlwollen« allmählich hervor-
tretenden Gedanken, wonach das interpersonale Geschehen, in dem
das Wohlwollen sich zeigt, allenfalls in einer sehr weit gefassten Ana-
logie zum antiken Wirklichkeitsverständnis gesehen werden kann
und daher die Person selbst als eine geschichtlich gewordene und da-
rum die christliche Zeit von der klassischen Antike trennende be-
griffen werden muss:
Person ist nicht das, was in der Antike als Vernunft des Menschen
seiner sinnlichen Natur entgegengesetzt wurde, wobei dann die par-
tikulare Besonderheit, die Individualität auf die Seite des Unvernünf-
tigen geriet, das zu überwinden war. Personalität meint die vernünf-
tige Individualität. Die Rede von der Person geht davon aus, daß die
menschliche Natur als Natur sich nur verwirklicht, wenn sie »er-
wacht«, wenn sie ihre Zentralität transzendiert, genauer gesagt, wenn
sie die Selbsttranszendenz, die ihr wesentlich ist, bewußt ergreift und
nicht wieder »zurückbiegt« zu einem Instrument bloß natürlicher
Selbstbehauptung. Diese curvatio in seipsum ist das Böse, nicht also

75
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 244.
76 Ebd. 119.
77
Ebd. 130.

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7 »Glück und Wohlwollen«: Aktualisierung der eudämonistischen Ethik

das natürliche Sosein, sondern die gegen dessen natürlichen Rich-


tungssinn gehende Fixierung des Soseins. 78
An dieser Stelle kündigt sich deutlich der Gedanke einer Entdeckung
der Person an, der im folgenden Kapitel eine zentrale Rolle spielen
wird und im Grunde nichts anderes ist als die Reflexion auf das his-
torische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie,
der hier als Leitlinie der Untersuchung von »Glück und Wohlwollen«
diente. Im Verlauf der hier durchgeführten Untersuchung wurde die
Konzentration auf die Wahrnehmungsevidenz und das Ereignis des
gegenseitigen Wirklichwerdens im Wohlwollen zusehends durch die
ontologische Frage nach der Person abgelenkt, die, wie gesehen, den
gesetzten Rahmen zu sprengen drohte. In den Bereich dieser Frage
gehört auch die im Zusammenhang der ontologischen Seitenlinie
der Argumentation in »Glück und Wohlwollen« in Abschnitt 7.2.2
erwähnte Suspendierung der Beweisforderung, deren Begründung
über die Berufung auf die Wahrnehmungsevidenz als Anfangspunkt
der philosophischen Reflexion hinaus nach einer ontologischen Ar-
gumentation verlangt. Das explizite Durchdenken der Differenz von
Antike und Neuzeit im Hinblick auf die Spannung zwischen εὐδαι-
μονία und Wohlwollen und damit eine geschichtliche Theorie der
Person könnte ebenso aus der praktischen Sackgasse helfen, in die
die Argumentation sich durch die Berufung auf einen Mythos ge-
bracht hat, wie sie die theoretische Aporie überwinden könnte durch
die Fundierung einer Theorie des Absoluten in der Reflexion auf das
historische Gewordensein des Einheitspunktes von Ethik und Onto-
logie. Diesem Vorhaben und dem hier noch mit zahlreichen Frage-
zeichen versehenen Mysterium der Person widmet sich das nun fol-
gende achte Kapitel.

78
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 248.

508

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8 Ontologie der Person

Eine erste Vorstellung von den Schwierigkeiten, die sich aus der Wahl
des Begriffs der Person als zentrales Thema eines philosophischen
Werks ergeben, kann der Artikel zu diesem Begriff im Historischen
Wörterbuch der Philosophie vermitteln. Von den fast 70 Spalten des
Artikels ist weniger als ein Drittel seiner spezifisch philosophischen
Bedeutung gewidmet, was bereits darauf hindeutet, dass seine genuin
philosophische Thematisierung die Auseinandersetzung mit den
Grenzen der Philosophie selbst implizieren muss. Das Historische
Wörterbuch geht aus von der bereits umstrittenen Etymologie des
Begriffs, um danach seine außerphilosophische Bedeutung im »all-
gemeine[n] Sprachgebrauch der Römer« 1 zu skizzieren: Aufbauend
auf der Grundbedeutung der ›Maske‹ des Schauspielers geht es dabei
zum einen um die »Rolle, die der Schauspieler darstellt«, und zum
anderen um die »Rolle, die der Mensch in der Gesellschaft spielt« 2.
Eine wissenschaftliche Bedeutung erlangte der Begriff zuerst zur Be-
zeichnung der »Sprecherrollen« 3 in der Grammatik. Der größte Teil
des Artikels aber ist der Reflexion des Begriffs in der christlichen
Tradition von der Spätantike über die Scholastik bis hin zu Luther
gewidmet. Seine theologische Bedeutung erlangte der Personbegriff
in der Frage, »wie man sich das Verhältnis der drei in der Trinität
vereinigten göttlichen Instanzen vorzustellen habe« 4. Da für »das
umfassende Eine der Göttlichkeit« – in griechischer Terminologie
die οὐσία – lateinisch bereits der Begriff substantia verwendet wurde,
kam »für ὑπόστασις das genaue Äquivalent nicht mehr in Betracht«,
so dass der Begriff persona als »anthropologische Vorstellungen« 5

1 Fuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 269.
2 Ebd.
3
Ebd. 272.
4 Ebd. 277.
5
Ebd.

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8. Ontologie der Person

hervorrufendes Surrogat fungierte. Verstärkt wurde die Bedeutung


des Begriffs durch seine Funktion bei der Lösung des Problems der
»göttlich-menschliche[n] Doppelnatur« 6 Christi. Auch wenn diese
Fragen seit dem Chalcedonense im Jahre 451 abschließend beantwor-
tet waren, blieb die Vermittlung des Verhältnisses der Personen – die
»Relationalität« – mit dem umfassenden Einen – der »Substantiali-
tät« 7 – durch das Mittelalter hindurch Gegenstand intensiver theo-
logischer Bemühungen, durch die »das Substanz-Akzidens-Schema,
das sonst die gesamte Ontologie beherrschte, durchbrochen« 8 wurde.
Zunehmend deutete sich in dieser Entwicklung die Möglichkeit an,
»die aus der Christologie und Gotteslehre gewonnenen Erkenntnisse
für eine Anthropologie fruchtbar zu machen« 9. Die genuin philoso-
phische Thematisierung des Personbegriffs seit der frühen Neuzeit
stellt gegenüber dieser mehr als 1000 Jahre umfassenden theologi-
schen Tradition einen Bruch dar und führte zu einer Degradierung
des traditionellen Begriffs der Person. 10 Vor diesem Hintergrund
knüpft Spaemann, wie zu zeigen sein wird, mit seinem Personbegriff
weit eher an die christliche Tradition als an die genuin philosophische
Thematisierung des Begriffs an. Um nichts weniger verlangt aber der
Rahmen eines philosophischen Werks zum Thema der Person die
kritische Auseinandersetzung mit dieser genuin philosophischen Ver-
arbeitung des Begriffs im neuzeitlichen Denken, die den negativen
Teil von Spaemanns Untersuchungen ausmacht. Dabei ergeben sich
jedoch, insbesondere in der Philosophie des 20. Jahrhunderts – es sei-
en an dieser Stelle nur die Namen Max Scheler und Harry Frankfurt
genannt –, für Spaemann auch Anknüpfungspunkte für den positi-
ven, auf die Entfaltung einer eigenen Konzeption gerichteten Teil
seiner Personenphilosophie. Ihr eigentlicher Gegenstand, darauf zielt
diese Vorbemerkung, liegt aber nicht einfach zu Tage, sondern wird
zunächst in mehreren Schritten freizulegen sein.
Spaemanns 1996 in erster Auflage erschienenes Buch »Per-
sonen« ist, wie schon seine Einleitung verdeutlicht, mit dem An-
spruch geschrieben, die angedeutete zweitausendjährige Geschichte
dieses Begriffs zu reflektieren und einen neuen Beitrag zur mensch-

6 Fuhrmann, Person. I. Von der Antike bis zum Mittelalter, in: HWPh VII, col. 277.
7 Kible, Person. II. Hoch- und Spätscholastik; Meister Eckhart; Luther, in: HWPh
VII, col. 284.
8
Ebd. 292.
9 Ebd. 295.

10
Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.

510

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8. Ontologie der Person

lichen Selbstverständigung zu leisten. Seinem Verständnis von Phi-


losophie entsprechend verzichtet Spaemann in seinem wohl wichtigs-
ten Werk, das den Untertitel »Versuche über den Unterschied zwi-
schen ›etwas‹ und ›jemand‹« trägt, weitgehend auf eine Systema-
tisierung der eigenen Ergebnisse. In den 18 relativ selbständigen
»Versuchen« werden nur sparsam Bezüge zwischen den Kapiteln her-
gestellt, so dass es in der Verantwortung des Lesers bleibt, aus ihrem
Zusammenhang die übergreifenden Intentionen des Autors zu re-
konstruieren. Bei seinem relativ geringen Umfang baut das Buch in
hohem Maß auf wesentlichen Gedanken aus früheren Werken auf,
die hier nur teilweise rekapituliert, ansonsten beim Leser voraus-
gesetzt werden. 11 Die Auseinandersetzung mit diesem Hauptwerk
Spaemanns stellt den Leser damit vor die doppelte Herausforderung,
zum einen die impliziten Bezüge zu Gedanken seines Autors aus frü-
heren Werken zu rekonstruieren und zum anderen das dadurch wei-
ter angereicherte Material als komplexes Gefüge von Aussagen auf
eine mögliche Gesamtdeutung hin zu befragen. 12 Im Folgenden gebe
ich einen knappen Ausblick auf die wesentlichen Schritte, durch die
im folgenden Kapitel eine solche Rekonstruktion der leitenden Inten-
tionen Spaemanns versucht wird.
In einem ersten Schritt wird Spaemanns allmähliche Annähe-
rung an den Personbegriff in den Anfangskapiteln von »Personen«
nachvollzogen, wobei zunächst von außen auf die Person geblickt
und danach die Innenperspektive der Person untersucht wird. Da Per-
sonalität sich dabei als ein sowohl aus der Außen- als auch aus der
Innenperspektive sich der begrifflichen Erfassung Entziehendes er-
weisen wird, besteht die Aufgabe der vorbereitenden Überlegungen
in der Klärung der besonderen Denkbedingungen, unter denen ein
Begriff der Person entwickelt werden kann, und der Richtung, in die

11
Beispielsweise wird Spaemanns Deutung des cartesischen ›cogito sum‹ im Rahmen
des Personen-Buchs an mehreren Stellen recht ausführlich rekapituliert. – Vgl. die
Kapitel »Transzendenz« – Spaemann, Personen (1996), 72–77 –, »Zeit« – ebd. 111–
113 –, »Das Sein von Subjekten« – ebd. 144–147 – und »Seelen« – ebd. 158–161 –,
wohingegen die für das Personen-Buch grundlegenden Vorarbeiten Spaemanns zur
Naturteleologie vorausgesetzt und kaum eigens thematisiert werden.
12 Jörg Splett bemerkte in einer Rezension zu »Personen«: »Das Buch macht es dem

Rezensenten ähnlich schwer wie der Vorgänger von 1989 [scil. »Glück und Wohlwol-
len«]: unmöglich, die Fülle an Einsichten und Ausblicken zu referieren; vielleicht
nicht unmöglich, doch ungehörig, aus der durchmessenen Denklandschaft den – mit-
unter in Tunneln verschwindenden – Gleisstrang der zielstrebigen Argumentation
rein für sich herauszupräparieren.« – Splett, Personen, 454.

511

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8. Ontologie der Person

die Untersuchung im Sinne dieser Bedingungen gehen muss. Inso-


fern von Spaemann eine erste schemenhafte Bestimmung der Person
als ›Haben einer Natur‹ vorgenommen wird, ergibt sich aus den ers-
ten Überlegungen die Frage, welcher Begriff der Natur für das Ver-
ständnis der Person grundlegend ist (8.1). Zu dieser ›gehabten Natur‹
führt im zweiten Schritt zunächst ein Umweg im Ausgang von der
Geschichte der Destruktion des Personbegriffs. Die kritische Aus-
einandersetzung mit Vertretern der neuzeitlichen Philosophie – Des-
cartes, Locke, Hume – lenkt dabei die Aufmerksamkeit zurück auf das
für Spaemann grundlegende Thema des teleologischen Denkens und
den Begriff des Lebens, der als Schlüsselbegriff seiner Philosophie
auch im Kontext des Personbegriffs von zentraler Bedeutung ist. Als
anthropologisches Analogon zu diesem rückt der ebenfalls in der neu-
zeitlichen Philosophie weggefallene Begriff der Seele in den Mittel-
punkt, zu dessen Aktualisierung es einer aufwendigen vorbereiten-
den Spurensuche bedarf. Indem Spaemann seine auf verschiedene
Versuche im Rahmen des Personen-Buches verteilten Überlegungen
zum Naturbegriff entfaltet, führt er Ideen aus »Natürliche Ziele«,
den Essays der 80er Jahre und »Glück und Wohlwollen« weiter und
bringt seine Konzeption auf den Begriff des »metaphysischen Realis-
mus« 13, der als Endpunkt der Entwicklung dieses Ideenkomplexes bei
Spaemann begriffen werden kann (8.2). Der metaphysische Realis-
mus, der im Sinne Putnams der spekulative Gegenentwurf zum in-
ternen Realismus ist, demzufolge Sätzen Wahrheit nur im Rahmen
eines Bezugssystems zugeschrieben werden kann, 14 verweist erneut
auf die Problematik eines notwendigen ›Sprunges‹, die hier zuerst am
Ende des sechsten Kapitels thematisiert wurde. In »Glück und Wohl-
wollen« hatte Spaemann insofern eine Antwort auf diese Problematik
entwickelt, als er aus der als Einheitspunkt von Ethik und Ontologie
qualifizierten Evidenz der Wahrnehmung von Selbstsein als onto-
logischer Normalität eine Suspendierung der theoretischen Beweis-
forderung ableitete, 15 deren ontologische Fundierung er allerdings im
Rahmen seines »Versuchs über Ethik« schuldig bleiben musste. Die
leitende These im dritten Schritt des folgenden Kapitels besteht darin,

13 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 75–76 und 88–89. – Über »Personen« hinaus
findet sich der Begriff häufig in Spaemanns späten Essays, vgl. z. B. Spaemann, Wirk-
lichkeit als Anthropomorphismus (2000), 194–195, u. Ders., Wahrheit und Freiheit
(2009), 311–316.
14 Vgl. Abel, Realismus. III. Analytische Philosophie, in: HWPh VIII, col. 166–167.

15
Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 475–479.

512

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8. Ontologie der Person

dass eine solche Fundierung möglich wird durch die Reflexion auf das
historische Gewordensein jenes Einheitspunktes von Ethik und Onto-
logie, um den es in »Glück und Wohlwollen« ging. Ausgangspunkt
der Überlegungen ist die in »Personen« von Spaemann nachgeholte
explizite Bestimmung des Verhältnisses von antikem und neuzeit-
lichem Denken, durch die er an frühere grundsätzliche Überlegungen
vor allem aus der Vorlesung »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,
›existiert‹ und ›es gibt‹« anknüpft. 16 Unter der Bezeichnung »Ent-
deckung der Person« 17 wird von Spaemann in »Personen« ein histori-
scher Umbruch rekonstruiert, durch den sich die apriorischen Vo-
raussetzungen des Denkens geändert haben, indem die Vernunft als
das dem Individuellen gegenübergestellte Allgemeine von einer per-
sonal gefassten Vernunft abgelöst wurde. Zur Rekonstruktion dieses
Umbruchs wird Spaemanns hermeneutische Untersuchung der an-
thropologischen Entdeckung des ›Herzens‹ analysiert, das als eine
die menschliche Natur transzendierende Instanz eines primären Wol-
lens Ausgangspunkt der Entdeckung der Person ist. Da der Person-
begriff selbst in seiner in diesem Kontext interessierenden Bedeutung
in der Theologie entwickelt wurde, wird anschließend Spaemanns
Exkurs in die Trinitätslehre und die Christologie nachvollzogen, des-
sen philosophische Bedeutung in einer Transformation der aristo-
telischen Metaphysik besteht. Die eigentliche Schwierigkeit des zu
entfaltenden Gedankengangs besteht darin, den in der Theologie ge-
bildeten Personbegriff in die Philosophie zu übertragen und überzeu-
gend in ihr zu fundieren. Hierzu wird das Verhältnis von Personalität
und Teleologie untersucht mit dem Ziel, den Personbegriff in Spae-
manns metaphysischem Realismus zu verankern. Der Zusammen-
hang, der so entwickelt wird, erweitert seine Konzeption des teleo-
logischen Denkens, indem die analogen Begriffe ›Person‹, ›Leben‹
und ›Sein‹ in ihrem Verhältnis zueinander bestimmt werden (8.3).
Auf der Grundlage dieser Klärung der genuin philosophischen Denk-
barkeit des Personbegriffs und eines Blicks auf die praktischen Kon-
sequenzen kann die zentrale Frage nach dem »Vollzug des Habens, das
unsere Identität ausmacht« 18, gestellt werden und zur konkreten in-
haltlichen Bestimmung des Personbegriffs übergegangen werden.
Hierzu wird im vierten Schritt die personale Perspektive thematisiert,

16
Vgl. 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.
17 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 29, 127, 161.
18
Ebd. 48.

513

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8. Ontologie der Person

indem anhand verschiedener »Versuche« Aspekte des ›Habens einer


Natur‹ analysiert werden. Die personale Distanzierung von der eige-
nen Natur kann zunächst rein formal im Hinblick auf die personale
Identität betrachtet werden, die entsteht, indem der Mensch sich in
der Zeit selbst äußerlich wird, wobei diese Veräußerung zugleich die
Voraussetzung der Entstehung einer personalen Zeitgestalt ist. Das
Haben der Natur drückt sich auf einer weiteren Ebene durch die Dis-
tanzierung von jeder Reflexion aus, die durch den Begriff des Ge-
wissens bezeichnet wird und der Person eine unendlich vermittelte
Unmittelbarkeit ermöglicht. Die Distanzierung von der Natur bedeu-
tet Inkommensurabilität und Kontextunabhängigkeit der Person, die
schließlich zur Frage führt, wie sich die Freiheit von ihrer Natur, die
die Person wesentlich ist, exakt bestimmen lässt. Diese Freiheit reali-
siert sich, wie zu zeigen sein wird, wesentlich in einem Geschehen der
Begegnung, das als konkreteste Bestimmung des gesuchten Person-
begriffs gelten muss (8.4). In einem letzten Schritt werden schließlich
zwei über die inhaltliche Darlegung der Ontologie der Person hinaus-
gehende Überlegungen nachgereicht. Zum einen wird angesichts der
neuzeitlichen Destruktion des Personbegriffs 19 die Frage nach den
spezifischen Gefährdungen der Person gestellt, deren Hintergründe
betrachtet und die Möglichkeit, diesen Gefährdungen zu entgehen,
reflektiert. Zum anderen muss die Bedeutung der Bezugnahme auf
das Absolute in »Personen« Ausgangspunkt einer abschließenden Re-
flexion des Verhältnisses von Philosophie und Religion und der
Rechtfertigung religiöser Positionen in einem philosophischen Werk
werden (8.5).

19
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 146.

514

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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes

In den ersten Kapiteln seines Personen-Buches arbeitet Spaemann die


Inkommensurabilität des Begriffs der Person heraus, an die als Vo-
raussetzung alles Folgenden zunächst herangeführt werden muss.
Aus der Sicht des Alltagsverstandes könnte man die Gleichung auf-
stellen, dass Menschen Personen sind. Diese Gleichung scheint den
sortalen Term 1 ›Mensch‹ in ein Verhältnis zu einem zweiten sortalen
Term ›Person‹ zu setzen, wobei jener entweder als Teilmenge von
diesem oder als mit ihm extensional identisch aufgefasst werden
kann. Diesem Anschein widerspricht Spaemann jedoch sogleich, in-
dem er betont, dass ›Person‹ »kein sortaler Ausdruck« 2 und die »Rede
von einer Klasse der Personen […] logisch einwandfrei, doch onto-
logisch unangemessen« 3 ist. Bis zu einer umfassenden Begründung
dieser Unangemessenheit ist es ein weiter Weg, aber schon aus einer
rein logischen Erwägung ist ein erstes Argument für sie leicht ein-
zusehen: Wenn im gleichen Alltagsverstand keine Personen geläufig
sind, die nicht Menschen sind, wenn somit ›Person‹ kaum als Ober-
begriff verstanden werden kann und wenn Personsein nicht als reine
Tautologie des Menschseins aufgefasst wird, läge es nahe, die Bestim-
mung des Personseins als Konkretisierung der Bestimmung des
Menschseins, also als Hinzufügung einer Eigenschaft zu verstehen.
Dann aber wäre ›Person‹ ein engerer Begriff als ›Mensch‹ und die
Gleichung müsste durch eine adverbiale Bestimmung wie ›oft‹ oder
›manchmal‹ eingeschränkt werden, da eben nicht jeder Mensch die
Eigenschaft besitzen müsste, die eine Person ausmacht. Gerade diese
mit Namen wie Peter Singer, Derek Parfit, Norbert Hoerster verbun-
dene These brachte Spaemann nach eigener Auskunft dazu, das Per-
sonen-Buch zu schreiben. In seiner »Autobiographie in Gesprächen«
bemerkt er dazu:

1 Vgl.: »Als ›Sortale‹ oder ›sortale Prädikate‹ werden in der neueren Sprachphiloso-
phie solche Prädikate bezeichnet, deren Gegenstände (d. h. die Gegenstände, auf die
die Prädikate zutreffen) als von einander räumlich verschieden zählbar sind. Beispiele
für Sortale sind daher insbesondere Prädikate, die ›Sorten‹ von materiellen Gegen-
ständen bestimmen wie z. B. ›Tisch‹ und ›Stuhl‹ oder ›Apfel‹ und ›Birne‹.« – HWPh,
s. v. Sortal, IX, col. 1099.
2 Spaemann, Personen (1996), 14.

3
Ebd. 25.

515

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8. Ontologie der Person

Anlass für mich war eine wachsende Zahl von Stimmen, die nicht
mehr allen Menschen den Personenstatus zuerkennen wollen, son-
dern nur noch solchen Exemplaren der Spezies homo sapiens, die über
bestimmte zusätzliche Eigenschaften verfügen, also Neugeborenen
nicht, Embryonen nicht, Dementen, auch Altersdementen nicht. 4
Die explizite Auseinandersetzung mit dieser These ist im Personen-
Buch in das letzte Kapitel unter dem Titel »Sind alle Menschen Per-
sonen?« 5 verlegt, in dem Spaemann sechs Argumente rekapituliert,
warum im Ergebnis seiner Untersuchungen alle Menschen Personen
sind. Zu verstehen, worum es in »Personen« wesentlich geht, bedeu-
tet daher nachzuvollziehen, wie Spaemann die zitierte Gleichung des
Alltagsverstandes philosophisch begründen kann, ohne dabei ›Per-

4 Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 285.


5 In seinem Gespräch mit Hanns-Gregor Nissing aus dem Jahr 2007 bemerkt Spae-
mann zu diesem Abschlusskapitel des Personen-Buchs: »… diese Frage und die da-
hinter stehende Auseinandersetzung mit Peter Singer war eigentlich die Herausfor-
derung, die mich veranlaßt hat, tiefer nachzudenken über den Begriff der Person. Das
ganze Buch erschöpft sich natürlich nicht in der Diskussion dieser Frage. Sie ist nur
eine Art Appendix. Als ich das Buch schrieb, habe ich daran gar nicht mehr gedacht,
und die Gedanken, die ich entwickle[,] sind ganz frei davon. Daher hat es mich nicht
sehr gefreut, daß die Frankfurter Allgemeine Zeitung seinerzeit Norbert Hoerster mit
der Rezension beauftragt hat, der nur dieses letzte Kapitel zur Grundlage seiner Be-
sprechung nahm, so daß die Leser denken mußten, es handle sich ausschließlich um
eine Diskussion dieser Frage.« – Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und
das Ende des Denkens (2008), 131. – Hoerster spricht in seiner Rezension von einem
»theologisch inspirierten Denken« Spaemanns, geht dabei auf seine philosophischen
Argumentationen kaum ein bzw. bleibt, wo er dies ansatzweise tut, unter Spaemanns
Niveau, wenn er etwa die Fundierung der Personalität in teleologischen Strukturen
durch den Verweis auf universalteleologische Vorstellungen ad absurdum führen
möchte: »Offenbar hat Gott die teleologischen Strukturen auf der Erde so eingerich-
tet, daß die Menschen aus klimatischen Gründen in einigen Gegenden prosperieren
können, in anderen Gegenden jedoch darben und frühzeitig sterben müssen. Würden
die Privilegierten hier nicht geradezu die Zwecke Gottes beziehungsweise der Natur
verletzen, wenn sie ihren Mitmenschen etwa unter utilitaristischem Aspekt zu Hilfe
kommen wollten? Falls Spaemann hier jedoch die Unterstützung billigt: Wie in Got-
tes Namen läßt sich ein derartiges Ergebnis ›aus der Natur‹ ableiten?« – Hoerster,
Der göttliche Funke entzündet das Lebenslicht. – Hoersters Rezension kann hier stell-
vertretend für zahlreiche Einwände gegen Spaemanns »Personen« stehen. Ganz ähn-
lich versucht etwa Reinhard Merkel Spaemanns Argument, wonach menschliche Em-
bryonen Personen sind, dadurch ad absurdum zu führen, dass ebenso durch jede
Verhinderung der Befruchtung »ein Potential […] an der Entwicklung gehindert«
würde, womit er das individualteleologische Argument Spaemanns durch eine uni-
versalteleologische Pauschalisierung auszuhebeln versucht. – Vgl. Merkel, Rechte
für Embryonen.

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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes

son‹ als ein Prädikat zu verstehen, das dem ›Menschen‹ eine bestimm-
te Eigenschaft hinzufügte. 6 In seiner Autobiographie bemerkt Spae-
mann zu diesem allgemeinen Rahmen seines Personen-Buchs weiter:
Um das aber wirklich zu begründen, musste ich weit ausholen zu einer
Theorie der Person, in der der genannte Anlass nur noch eine entfern-
te Schlussfolgerung darstellt. Im Kern der Theorie steht das Verhältnis
von menschlicher Natur und Personalität, ein Verhältnis, das ich als
»Haben einer Natur« zu beschreiben suche. 7
Die Schwierigkeit beim Nachvollzug von Spaemanns Gedankengang
besteht darin, dass erst im Lauf der Untersuchung der begriffliche
Status von ›Person‹ aufgeklärt werden kann, dass gleichwohl von An-
fang an mit diesem sich entziehenden Begriff operiert werden muss,
um an diese Aufklärung heranzuführen. Die vorläufige Annäherung
an den Begriff soll hier in zwei aufeinanderfolgenden Betrachtungen
zunächst aus der Außenperspektive auf die Person und danach aus der
Innenperspektive der Person vollzogen werden, um aus dem Ineinan-
dergreifen dieser beiden Überlegungen eine Propädeutik des hier ge-
suchten philosophischen Ansatzes zu entwickeln, aus der sich die ent-
scheidenden Fragen ergeben werden, durch die dann in den folgenden
Abschnitten zur Freilegung des gesuchten Begriffs und damit zu
einer Ontologie der Person zu gelangen sein wird.
Spaemann geht aus von alltagssprachlichen Verwendungen des
Wortes ›Person‹ und konstatiert dabei zunächst einen auffälligen Ge-
gensatz. Auf der einen Seite drückt das Wort eine distanzierte oder
zumindest neutrale Haltung gegenüber Mitmenschen aus:
»Wir rechnen heute mit acht Personen zum Abendessen«: In diesem
Satz ist »Personen« keineswegs ein emphatischer Ausdruck. Im Ge-
genteil. »Wir erwarten acht Menschen« klingt gewählter und ein biß-

6
Thomas Buchheim und Jörg Noller sprechen von einem Dilemma, in das die Be-
hauptung, alle Menschen seien Personen, führe, da dies entweder zu einem Speziesis-
mus – vgl. den Abschnitt »Racism and speciesism« in: Singer, Practical ethics, 55–62
– oder zu einem Selbstwiderspruch führe: »Wenn also ›Mensch‹ und ›Person‹ nicht
gleichbedeutend sind, sondern der eine Term eine biologische Spezies, der andere zu-
mindest auch eine ethische Vorrangstellung bezeichnet, wie kann man dann an dem
Satz ›alle Menschen sind Personen‹ gerechtfertigt festhalten, ohne entweder Spezie-
sist oder ethisch-religiös motivierter Phantast zu sein?« – Buchheim/Noller, Sind
wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 146–147. – Auf die
Antwort Buchheims und Nollers auf diese Frage wird weiter unten kritisch Bezug
genommen. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 558–560, Fn. 139.
7
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 285.

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8. Ontologie der Person

chen feierlicher. »Acht Personen«, das klingt dagegen abstrakter, un-


persönlicher. Von Personen spricht man, wenn man aufs rein Nume-
rische abhebt. 8
Ganz anders klingt es, »wenn das Wort ›Person‹ prädikativ gebraucht,
wenn also von einem bereits anderweitig identifizierten Wesen aus-
drücklich gesagt wird, es sei eine Person« 9. Da Spaemann kein Bei-
spiel anführt, sei hier zu diesem Zweck auf die letzten Worte von
Helenas Dienerin Panthalis in Goethes »Faust« verwiesen, die einer
Fortexistenz in den Elementen der Natur den freiwilligen Gang in
den Hades vorzieht: »Nicht nur Verdienst, auch Treue wahrt uns die
Person.« 10 Hier erscheint das Wort als »nomen dignitatis« 11, der Per-
son wird der »Status der ›Unantastbarkeit‹« 12 zuerkannt: »Die Ver-
wendung des Begriffs ›Person‹ ist gleichbedeutend mit einem Akt
der Anerkennung bestimmter Verpflichtungen gegen denjenigen,
den man so bezeichnet.« 13 Diese Gegenüberstellung zweier scheinbar
gegensätzlicher Verwendungsweisen des Wortes gibt einen ersten
Aufschluss zum Personbegriff:
Einerseits sprechen wir dem, den wir so nennen, eine besondere Wür-
de zu, andererseits dient das Wort zu einer rein numerischen, von aller
weiteren Bestimmtheit abstrahierenden Bezeichnung. […] Wenn wir
nun diese beiden Verwendungsweisen nicht als bloße Äquivokation
nehmen, sondern auf ihre Zusammengehörigkeit achten, dann erhal-
ten wir schon einen ersten Hinweis auf die Richtung, in der wir zu
suchen haben. Person wäre dann jemand, der das, was er ist, auf andere
Weise ist, als andere Dinge oder Lebewesen sind, was sie sind. 14
Diese andere Weise, das zu sein, was sie ist, kann ausgehend von der
Feststellung nachvollzogen werden, dass ›Person‹ im Unterschied zu
»Lampe«, »Hund« oder »Mensch« 15 kein sortaler Ausdruck ist. Sor-
tale Ausdrücke können »in zweifacher Absicht« 16 verwendet werden,
entweder um ein Exemplar einer Klasse zu identifizieren – z. B.: »die-

8 Spaemann, Personen (1996), 13.


9 Ebd.
10 Goethe, Werke (HA), Bd. 3, 301 (Faust, Vers 9984).

11 Spaemann, Personen (1996), 13.

12 Ebd. 25.

13 Ebd. 26.

14
Ebd. 14–15.
15 Vgl. ebd. 14–15.

16
Ebd. 43.

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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes

ser Apfel« oder »dort liegt ein Apfel« 17 – oder um die Zugehörigkeit
eines Dings zu einer Klasse zu bestimmen – z. B.: »dies ist ein Apfel«
oder »es ist ein Apfel, was dort liegt« 18. Dass ›Person‹ kein sortaler
Ausdruck ist, hat daher zunächst eine zweifache negative Bedeutung:
Der Begriff der Person dient nicht der Identifikation von etwas als
etwas, sondern sagt etwas aus über ein bereits als ein So-und-so Be-
stimmtes. Es handelt sich aber andererseits auch nicht um ein Prä-
dikat, das dem bereits in seiner Art Qualifizierten eine bestimmte
zusätzliche Eigenschaft zuspricht. Es gibt keine Eigenschaft, die »Per-
sonsein« hieße. Es ist vielmehr so, daß wir von Wesen aufgrund be-
stimmter Eigenschaften, die wir zuvor identifiziert haben, sagen, sie
seien Personen. 19
Bezogen auf den Ausgangssatz des Alltagsverstandes, wonach Men-
schen Personen sind, bedeutet dies, dass Menschen jeweils ein als ein
›So-und-so Bestimmtes‹ sind, aufgrund dessen der Begriff der Person
auf sie angewandt wird, wobei dieser allerdings dem als einem ›So-
und-so Bestimmten‹ nichts hinzufügt. Wenn diese Aussage sinnvoll
sein soll, muss der Begriff ›Person‹ eine andere Bedeutung haben als
der Begriff ›Mensch‹, wobei der Bedeutungsunterschied jedoch nicht
prädikativer Art sein kann. Dies kann nur heißen, dass der Begriff der
›Person‹ in einem sehr engen Verhältnis zum Begriff ›Mensch‹ stehen
und dass der Unterschied zwischen beiden in der Art des Begriffs
bestehen muss. ›Person‹ ist, wie Spaemann sagt, »kein deskriptiver
Ausdruck« 20; es handelt sich aber auch nicht um einen normativen
Ausdruck, auch wenn er »eine normative Implikation hat«: »Tatsäch-
lich gehört er, wie wir später sehen werden, zu einer dritten Art von
Begriffen.« 21

17 Spaemann, Personen (1996), 43.


18 Ebd.
19
Ebd. 14.
20 Ebd. 26.

21
Ebd. – Die damit angedeutete, für Spaemann zentrale Problematik blendet bei-
spielsweise Thorsten Jantschek völlig aus, der ausgehend von einer biologisch-de-
skriptiven und einer moralischen Verwendung des Begriffs ›Mensch‹ zu dem Schluss
gelangt: »Der Personenbegriff ruht systematisch auf dem Begriff des Menschen auf,
statt ›‘Mensch’ im moralischen Sinne‹ können wir auch ›Person‹ sagen. Insofern sind
alle Menschen auch Personen in demselben Sinne wie jeder Stab eine Länge hat. ›Alle
Menschen sind Personen‹ ist ein logisch-grammatischer Satz, d. h. er bringt das in-
terne begriffliche Verhältnis von ›Mensch‹ und ›Person‹ zum Ausdruck.« – Jant-
schek, Von Personen und Menschen, 475. – Jantschek glaubt, damit auf sprachana-
lytischem Weg eine Alternative zur metaphysischen Bestimmung des Personbegriffs

519

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8. Ontologie der Person

Die Betrachtung aus der Außenperspektive scheint mehr Fragen


aufzuwerfen als zu beantworten, weswegen nun versucht werden
soll, in der Überlegung weiterzukommen durch den Wechsel in die
Innenperspektive der Person. Die Frage lautet dann, wie die gegen-
über Dingen und anderen Lebewesen sich abhebende Weise der Per-
son, das zu sein, was sie ist, in der Selbstwahrnehmung des Menschen
gegeben ist.
Diese Besonderheit läßt sich daran verdeutlichen, wie wir uns mit
Hilfe des Personalpronomens »Ich« auf uns selbst beziehen. »Ich« ist
ein referentieller Ausdruck. »Ich« sagend, meinen wir nicht etwa so
etwas wie »ein Ich« – eine Philosophenerfindung –, sondern ein be-

gefunden zu haben. Jantscheks Kritik bezieht sich hauptsächlich auf »Spaemanns Nei-
gung, die deskriptive Seite des Ausdrucks ›Mensch‹ biologistisch zu bestimmen«. –
Ebd. 476 – Dieser Vorwurf läuft also auf den oben erwähnten Speziesismusverdacht
hinaus. – Vgl. im vorliegenden Teilkapitel, 517, Fn. 6. – Nach Jantschek »ist gegen die
Ausdehnung des Personbegriffs über den Menschen im alltäglichen, phänomenologi-
schen Sinne hinaus auf die biologische Struktur mit menschlichen Genen einzuwen-
den, daß eine solche Redeweise Teile unserer Praxis verfehlt und dem Metaphysik-
verdacht ausgesetzt ist, weil sich die wissenschaftliche Bestimmungspraxis allzu weit
von der Alltagspraxis entfernt hat.« – Ebd. 477. – Gegenüber dem damit implizierten
Naturalismusverdacht in Bezug auf Spaemanns Position stellt Damian Pietrowski
berechtigterweise fest: »Jantscheks Vorwurf, Spaemanns Identifikation von Mensch
und Person sei naturalistisch, lässt sich nur aufrecht erhalten, wenn man seine Aus-
führungen über den teleologischen Charakter der Natur einfach ignoriert. Wenn Jant-
schek die biologische bzw. deskriptive Dimension von der normativen geschieden
wissen will, trennt er aus Spaemanns Sicht, was bei aller Unterschiedenheit doch
untrennbar ist. Der Mensch ist als das Lebewesen, als das ihn die Biologie beschreibt,
immer schon mehr als das, was sich deskriptiv erfassen lässt: nämlich ein Subjekt, das
seine Natur gewissermaßen hat. Und weil Spaemann nicht erst dem Menschen, son-
dern letztlich jedweder unterscheidbaren Kreatur einen gewissen Grad von Subjek-
tivität (ein gewisses ›Selbst‹) zuspricht, ist der Vorwurf des Speziesismus bei ihm an
der falschen Adresse. Für einen Naturalisten ist die Natur das unhintergehbar Letzte;
Spaemann aber versteht die Natur teleologisch, weil sie nicht ihr eigenes Sollen
(telos) bestimmt.« – Pietrowski, Alles, was ist, ist auf etwas aus, 199. – Sieht man
von der im abschließenden Kausalsatz enthaltenen schöpfungstheologischen Prämisse
ab, deutet Pietrowski hier den Weg zur genuin philosophischen Deutung des Person-
begriffs, um die es Spaemann geht. Demgegenüber ist anhand Jantscheks ›meta-
physikfreier‹ Alternative nicht zu sehen, wie die daraus sich zwangsläufig ergebende
Kooptationspraxis für Personen, die im Einzelnen immer an die konkrete Ausdeutung
des Begriffs ›Mensch‹ im moralischen Sinn geknüpft ist, von willkürlichen Grenz-
ziehungen abgehoben werden könnte. – Vgl. zu Jantscheks Kritik an Spaemann auch:
Zaborowski, Personen, Menschen und die Natur jenseits des Biologismus, und die
Darstellung der Auseinandersetzung zwischen Jantschek und Zaborowski in: Ku-
ciński, Naturrecht in der Gegenwart, 406–411.

520

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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes

stimmtes Lebewesen, einen bestimmten Menschen in der Welt: den-


selben Menschen, den andere mit einem bestimmten Eigennamen
nennen. Und zwar bezeichnet jeder mit »ich« den Menschen, der er,
der Sprecher, selbst ist. 22
Diese Selbstbezugnahme des Menschen durch das Personalpronomen
hat nun nach Spaemann zwei wesentliche Besonderheiten. Zum
einen bezieht sich das Personalpronomen der ersten Person im Unter-
schied zu den anderen grammatischen Personen immer »auf etwas
Wirkliches«: »Wer ›ich‹ sagt, den gibt es.« 23 Zum anderen aber ist
mit dem Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person im Un-
terschied zu jedem begrifflichen Erfassen kein notwendiges Wissen
über jenes Wirkliche verbunden, das durch es bezeichnet wird:
Etwas […] kann nur identifiziert werden, wenn es als ein So-und-so,
als ein qualitativ Bestimmtes identifiziert wird: als ein solches, das
mittels eines sortalen Ausdrucks einer bestimmten Art zugeordnet
wird. Das gerade gilt nun für die Identifikation durch das Personalpro-
nomen »ich« nicht. Jemand kann sich sehr wohl darüber täuschen, wer
und was für einer er ist. Er kann sich auch über seine räumliche und
zeitliche Lage in Unkenntnis befinden. […] Dennoch haftet der Refe-
renz des »Ich« keine Unbestimmtheit an. Denn diese Referenz ist eine
rein numerische, von allen qualitativen Bestimmungen unabhängige.
»Ich« bezieht sich auf den, der »ich« sagt, unabhängig von allem, was
er sonst noch ist. 24
Dieses personale Selbstverhältnis, das durch eine eindeutige, jedoch
rein numerische Referenz, also gewissermaßen durch eine ›bestimm-
te Unbestimmtheit‹ gekennzeichnet ist, kann dann zur Ursache eines
Missverständnisses werden 25, wenn diese ›bestimmte Unbestimmt-
heit‹ als ›unbestimmte Bestimmtheit‹ missverstanden wird, d. h.
wenn von dem Gebrauch des Personalpronomens der ersten Person
auf eine formale Bewusstseinsentität geschlossen wird, – ein Missver-
ständnis, das nach Spaemann in der »Philosophie der Subjektivität

22 Spaemann, Personen (1996), 17. – Vgl.: »Selbstbewußtsein ist nicht ein innerer
Reflexionsakt auf ein sog. Ich, sondern erfolgt, indem ich meine bewußten Zustände
– die Absichten, Gefühle usw. – mittels Prädikaten mir und damit einer Person zu-
spreche, die innerhalb des realen Universums unterscheidbarer Gegenstände einer
unter allen ist.« – Tugendhat, Egozentrizität und Mystik, 28.
23 Spaemann, Personen (1996), 17.

24
Ebd. 17–18.
25 Vgl. dazu Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–

528 u. 534–536.

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8. Ontologie der Person

von Descartes bis zur philosophy of mind, die auf unmittelbare


Selbstgegebenheit als Kriterium der Ich-Identität baut« 26, wirkungs-
mächtig geworden ist und gegen das Spaemann sich explizit wendet:
Das darf nun nicht so verstanden werden, als beziehe sich »ich« auf
eine reine res cogitans oder auf eine wesenlose Existenz, die sich erst,
sozusagen aus nichts, zu etwas Bestimmtem, Wesenhaftem zu machen
habe. Das ist eine falsche Interpretation des Phänomens. Nicht von
ungefähr fragt der von Amnesie Befallene: »Wer bin ich? Wo bin ich?«
Er setzt voraus, daß er nicht »ein Ich«, sondern ein so und so beschaf-
fener Jemand ist, der sich irgendwo in der Welt befindet. Sobald er
überhaupt Bewußtsein hat, weiß er, daß er nicht nur Bewußtsein ist.
Aber sein Wissen, daß er ist, geht der Kenntnis des Wer und Wo vo-
raus. Seine Selbstidentifikation ist nicht durch irgendeine qualitative
Bestimmung vermittelt. Ich weiß, daß ich ein irgendwie bestimmtes,
so und so beschaffenes Wesen habe. Aber ich bin nicht unmittelbar
dieses Wesen, und der Ausdruck »Ich bin« ist nicht gleichbedeutend
mit der Lokalisierung an einer bestimmten Raum-Zeitstelle, sondern
er verlangt nach einer solchen Lokalisierung. Der Mensch ist nicht,
was er ist, auf die gleiche Weise, wie alles, was uns sonst begegnet. 27
Die Philosophie der Subjektivität verkennt die für das personale
Selbstverhältnis konstitutive Relation der ›bestimmten Unbestimmt-
heit‹, indem sie von der vom menschlichen Wesen abgelösten, selb-
ständigen Entität eines Ich ausgeht. Demgegenüber kann die aus der
personalen Innenperspektive erschließbare eindeutige numerische
Referenz zum Ausgangspunkt einer Überlegung werden, die näher
an den gesuchten begrifflichen Status der Person heranführt. Der
Gedanke der numerischen Referenz drückt aus, dass die Person in
einer Distanz steht zu dem Wesen, auf das sie bezogen ist, und zwar
so, dass sie zugleich – entgegen der Deutung der Philosophie der Sub-
jektivität – sich von diesem Wesen nicht ablösen kann. Das, was auf
Distanz geht, ist keine selbständige Entität, sondern ein von diesem
Wesen aus sich Entlassenes. Daher muss zum So-und-so der Be-
stimmtheit dieses Wesens ein Moment der Negativität gehören,
durch das es sich selbst transzendieren kann. Person muss demnach
das Ergebnis der zum So-und-so des Menschseins gehörenden Fähig-
keit zur Selbsttranszendenz sein, die dieses aus sich entlässt und
durch die das Menschsein überschritten wird.

26 Spaemann, Personen (1996), 45.


27
Ebd. 18.

522

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8.1 Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes

Die bisherigen Überlegungen haben ergeben, dass Personsein


sich aus der Außenperspektive entzieht und aus der Innenperspektive
als bestimmte Unbestimmtheit erlebt wird, die auf das menschliche
Lebewesen verweist, das paradoxerweise Person ist und zugleich
nicht ist, sofern es diese erst aus sich entlässt. Die Frage nach der
Person und ihrem begrifflichen Status lässt sich, dies wird aus dem
Ineinandergreifen beider Überlegungen deutlich, weder durch den
Versuch beantworten, sie als objektives Vorkommnis zu erfassen,
noch durch den entgegengesetzten, ihre subjektive Gegebenheit
nachzuvollziehen. Zum Begriff der Person ist nur jenseits des Sub-
jekt-Objekt-Verhältnisses zu gelangen. Sie ist das,
was sich der Zugänglichkeit definitiv entzieht. Und es entzieht sich
nicht nur, wie alles innerpsychische Geschehen, der Außenwahrneh-
mung. Es entzieht sich ebenso der inneren Wahrnehmung. Denn auch
der inneren Wahrnehmung sind nur »reale Prädikate«, das heißt sach-
haltige Bestimmungen, zugänglich. Auch in der inneren Wahrneh-
mung sehen wir uns, wie Kant sah, nur als Phänomen. Aber in diesem
Phänomen ist zugleich der Verweis auf das Gehabtsein dieser Eigen-
schaften und Zustände enthalten, nicht aber der Vollzug des Habens,
das unsere Identität ausmacht. Er entzieht sich der inneren ebenso wie
der äußeren Wahrnehmung. Wir kennen uns selbst nicht unbedingt
und notwendigerweise besser, als andere uns kennen, obgleich wir uns
»von innen« kennen. Die Person ist weder innen noch außen. Sie
transzendiert die für alles Psychische konstitutive Innen-Außen-Dif-
ferenz. 28
Einerseits gelangt somit dieser vorbereitende Gedankengang an jene
Grenze der Reflexion, die als Problem eines notwendigen ›Sprunges‹
bereits in der Auseinandersetzung mit Spaemanns Essays der 80er
Jahre erreicht wurde. Als das Sich-Entziehende ist die Person »nur
zugänglich im Akt der Anerkennung« 29. Anerkennung ist in Spae-
manns Denken seit den 80er Jahren eine zentrale metaphysische
Kategorie, die den Akt der Selbsttranszendenz bezeichnet, in dem
die Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur
verstanden wird. 30 Andererseits aber geht Spaemann in »Personen«
von einem anderen Reflexionsniveau aus, das sich oben bereits in der
Differenzierung der Begriffsarten andeutete. Auch wenn der Begriff

28 Spaemann, Personen (1996), 48.


29
Ebd.
30 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-

präsentation und Anerkennung, 384–397.

523

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8. Ontologie der Person

der Person in seiner Spezifik hier noch nicht voll erfasst werden kann,
ist doch deutlich geworden, dass es sich um einen Metabegriff han-
delt, für dessen Verständnis seine Relation auf das negative Moment
eines zugrunde liegenden Bezugsbegriffes wesentlich ist. Nur als
Aussage über ein negatives Moment des So-und-so der Bestimmtheit
des Menschen eröffnet sich für den Begriff der Person ein gewisser-
maßen ›nicht-prädikatives‹ Feld der Bedeutung im Sinne einer Stei-
gerung der Negativität. Personsein könnte somit, so die Schlussfolge-
rung aus dem Gedankengang, ein Verhältnis ausdrücken, das als
bestimmte Negation eines Momentes der begrifflichen Unbestimmt-
heit des Menschen verstanden werden kann. Als solche bestimmte
Negation könnte der Begriff, ohne sortaler Ausdruck zu sein, eine
neue Dimension der Bedeutung eröffnen, an die aber nur auf Um-
wegen herangeführt werden kann. Der erste Umweg besteht in der
Erneuerung der Frage nach dem So-und-so der menschlichen Natur
als einer solchen, die, wie dieser propädeutische Gedankengang nahe-
legt, die Person aus sich entlassen kann. Da Personalität der »einzige
Status« ist, der »jemandem natürlicherweise zukommt« 31, wird zu
klären sein, welche natürliche Eigenschaft den Menschen zur Person
werden lässt. Dazu muss Spaemanns Naturphilosophie in ihren we-
sentlichen Grundgedanken rekapituliert bzw. im erweiterten Rahmen
des Personen-Buches ergänzt werden. 32 Der zweite Umweg wird da-
nach in der Frage nach der prinzipiellen philosophischen Denkbarkeit
jenes aus der Natur Entlassenen bestehen, als das in dieser Vorüber-
legung die Person erscheint. 33 Inwiefern aus dem Denken der Person
als doppelter Negation ein Positives hervorgehen kann, muss an die-
ser Stelle zunächst offengelassen werden.

31 Spaemann, Personen (1996), 26.


32
S. Teilkapitel 8.2, Historische Voraussetzungen und ›negative‹ Philosophie, 525–
561.
33
S. Teilkapitel 8.3, Die Entdeckung der Person, 562–599.

524

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8.2 Historische Voraussetzungen und
›negative‹ Philosophie

Bevor eine Annäherung an Spaemanns Begriff der Person möglich


wird, müssen zunächst durch die Fortsetzung der kritischen Aus-
einandersetzung mit der neuzeitlichen Philosophie die notwendigen
Voraussetzungen für die metaphysische Konzeption Spaemanns re-
flektiert werden, auf deren Grundlage zunächst seine ›negative‹ Phi-
losophie, die zum personalen Selbstsein immer nur durch eine Nega-
tion gelangt, abschließend gefasst wird. Der erste Schritt hierzu
besteht in der Reflexion derjenigen Prämissen der neuzeitlichen Phi-
losophie, die zur Krise des Personbegriffs und zu seiner Destruktion
geführt haben. Im Mittelpunkt steht hier die Neubegründung der
Philosophie durch Descartes, die von Spaemann seit seiner Disserta-
tion kritisch reflektiert und hier im Zusammenhang mit den aus ihr
abgeleiteten, für den Personbegriff entscheidenden Konsequenzen
betrachtet wird, die Locke und Hume gezogen haben (8.2.1). Nach-
dem die Auseinandersetzung mit Descartes im Kontext des Person-
begriffs zum Problem des teleologischen Denkens zurückgeführt hat,
steht im Mittelpunkt des zweiten Abschnitts der Begriff der Seele als
anthropologisches Analogon zum ontologischen Begriff des Lebens.
Vor dem Hintergrund der zu entfaltenden wechselvollen Geschichte
des Seelenbegriffs wird die Frage nach der nicht zu schließenden Lü-
cke gestellt, die durch die Abschaffung des klassischen, teleologisch
konnotierten Begriffs hinterlassen wurde (8.2.2). Eine Aktualisierung
dieses Begriffs durch die Darlegung seiner konstitutiven Bedeutung
für das Verständnis des Menschen als vernünftiges Lebewesen kann,
wie im dritten Schritt gezeigt wird, nur aus einer doppelten Negation
hervorgehen. In Anknüpfung an das metaphysisch-analoge Denken
wird dazu der Zusammenhang zwischen dem teleologischen Aussein-
auf und der Rede vom Sein als Jenseits des Denkens entwickelt, wobei
zentrale Ergebnisse aus dem siebten Kapitel über »Glück und Wohl-
wollen« eine weitere argumentative Stützung erfahren und in der
Konzeption des ›metaphysischen Realismus‹ in eine letztgültige Form
gebracht werden (8.2.3).

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8. Ontologie der Person

8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

Spaemanns Auseinandersetzung mit Descartes, die bereits in seiner


Dissertation begann und sich seither wie ein roter Faden durch sein
Denken zieht, erreicht in »Personen« eine neue Stufe. An dieser Stel-
le soll zunächst seine kritische Haltung zu Descartes ausgehend vom
Personbegriff konkretisiert werden. »Im vielzitierten Neueinsatz des
spezifisch neuzeitlichen Denkens bei R. Descartes spielt der Begriff
der Person kaum eine Rolle; er wird von Descartes nur am Rande
verwendet.« 1 Entsprechend seinem Verständnis von Wissen als cogni-
tio certa 2 gehört für Descartes die im Begriff Person gedachte Einheit
von Geist und Körper »zu den ›notions primitives‹, die in einer vor-
philosophischen, vorwissenschaftlichen Alltagserfahrung gründen« 3.
Stattdessen gilt ihm als Ausgangspunkt sicherer Erkenntnis, als ar-
chimedischer Punkt der Philosophie, die Selbstgegebenheit des Be-
wusstseins im ›cogito‹, die jedem Zweifel gegenüber gewiss sein soll.
Doch mit diesem Ausgang vom ›cogito‹ unterstellt Descartes, »daß
Bewußtsein immer schon die Form eines Bewußtseins von sich hat,
eines Vertrautseins mit sich selbst« 4, obwohl ein solches Selbstver-
hältnis aus dem reinen Denken keineswegs ableitbar ist. Der Aus-
gangspunkt müsste im Sinne des Ideals der Gewissheit nicht im
›cogito‹, sondern unter Ausscheidung des ›Ich‹ in einem bloßen cogi-
tatur – es wird gedacht – bestehen. 5 »Die Bedeutung des ›Ich‹ im
cartesischen cogito ist zunächst die einer reinen Form.« 6 Das heißt,
›denken‹ hat die Form des ›ich denke‹, das ›Ich‹ ist reiner Ausdruck des
›Für mich‹ des Denkens. Das im ›cogito‹ unterstellte Selbstverhältnis
wird in Spaemanns Analyse des ›cogito sum‹ wesentlich erst durch
den zweiten Schritt hergestellt 7:

1
Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.
2 Vgl. Meier-Oeser, Wissen. IV. Frühe Neuzeit, in: HWPh XII, col. 881.
3
Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 300.
4 Spaemann, Personen (1996), 111.

5 Vgl.: »Lichtenberg meinte, was uns zunächst gewiß sei, müsse eher so formuliert

werden: ›Es wird gedacht‹. Schon Avicenna dachte so: Ein Mensch, der, blind und ohne
sich selbst berühren zu können, im Raum schwebte, würde, mangels irgendeiner sinn-
lichen Erfahrung, nur denken können: ›Cogitatur‹.« – Ebd. 111.
6 Ebd.

7
Es geht also um die dritte Reflexionsstufe, von der im sechsten Kapitel die Rede war.
Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–
351.

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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

Mit dem Gedanken »Ich bin« habe ich die Dimension des »Für mich«
überschritten, und zwar zunächst einfach dadurch, daß ich sie aus-
drücklich denke. Sie ausdrücklich denken heißt, sie unterscheiden
von einem »An-sich«, und sei es auch nur in der formalen Bedeutung,
daß es an sich ist, daß es ein Für-mich gibt. Der Raum der Differenz
zwischen Für-mich und An-sich ist identisch mit der Möglichkeit eines
Gegenüberseins für andere. Für andere aber kann ich nur sein, wenn
ich nicht nur Bewußtsein bin, wenn ich also eine »Außenseite«, eine
»Natur« habe, die dem anderen als ein »etwas« gegeben ist. 8
Daraus, dass das »Ich« erst aus dieser Überschreitung der Dimension
des »Für mich« hervorgeht, folgt, dass die Identität des Ich in Des-
cartes’ Gedankengang nur als intersubjektiv vermittelt begriffen wer-
den kann. Das Gegebensein des Ich für andere durch seine Außenseite
ist zwar nicht konstitutiv »für Subjektivität als instantanes Vertraut-
sein mit sich, wohl aber für jede Selbstidentifikation, also für das
Bewußtsein, selbst zu sein« 9. Doch wie ist die für Descartes noch vor
der Selbstidentifikation liegende reine Selbstgegebenheit des Den-
kens vorzustellen? Die Antwort ist, dass sie eben nicht vorstellbar,
sondern nur denkbar ist, weil es sich um eine reine Abstraktion
handelt:
Es handelt sich bei einem solchen Ausgang vom »Subjekt« um die
Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität
immer schon vorausliegt. Das instantane cogito ist eine Abstraktion
aus dieser Wirklichkeit. Die Möglichkeit dieser Abstraktion ist in der
Eigenart der Person begründet. Es ist für Personen, wie wir gesehen
haben, charakteristisch, daß ihre numerische Identität einerseits ein-
deutig, andererseits durch keinen qualitativen Bestand definierbar,
ihre Identifikation also durch keine Beschreibung erreichbar ist. Die
Versuchung liegt nahe, diese abstrakte, alle inhaltlichen Bestimmun-
gen distanzierende Identität als Entität zu hypostasieren und sie das
»Selbst« zu nennen. 10
Spaemann unterscheidet also erstens eine ›unvordenkliche‹ Wirklich-
keit, zweitens eine Subjektivität, die zu dieser Wirklichkeit in einem
näher zu bestimmenden Verhältnis steht, und drittens das abstrakte
cartesische Subjekt als Rekonstruktion der Wirklichkeit. Der An-
spruch Descartes’, mit dem Ausgang vom Subjekt auf ein der Wirk-

8
Spaemann, Personen (1996), 111–112.
9 Ebd. 112.
10
Ebd. 114–115.

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8. Ontologie der Person

lichkeit zugrunde liegendes Prinzip zurückgegangen zu sein, beruht


also auf der Verkennung der Priorität dieser Wirklichkeit selbst, aus
der der Gedanke des Subjekts durch Abstraktion gewonnen ist. 11
Spaemanns Interpretation der cartesischen Neubegründung der Phi-
losophie führt zu der Feststellung, dass die Descartes’ Neuansatz
zugrunde liegende Absicht, auf eine reine Subjektivität als Ausgangs-
punkt des Denkens zurückgehen zu wollen, dadurch selbstwider-
sprüchlich wird, dass aus dem Zweifelsbeweis selbst die intersubjek-
tive Vermitteltheit dieser Subjektivität hervorgeht. Gleichzeitig
erkennt Spaemann in diesem selbstwidersprüchlichen Versuch einer
Neubegründung der Philosophie wesentliche Charakteristika des Per-
sonbegriffs wieder, die aber, wie zu zeigen sein wird, falsch inter-
pretiert wurden. An dieser Stelle kann zunächst nach dem zentralen
Motiv gefragt werden, das Descartes’ Ausgang vom instantanen
Selbstbewusstsein und der unzutreffenden Interpretation dessen,
was die Person ausmacht, zugrunde liegt.
Ziel dieses Verfahrens ist Gewißheit, also Stabilisierung des Subjektes
gegenüber allem nicht mit ihm Identischen, um dann dieses Nicht-
identische in dauerhaften Besitz zu nehmen, den Menschen zum
»Herrn und Besitzer der Natur« zu machen. 12
Indem Descartes die Gesamtheit des Soseins – also alles, was der
Mensch ist, indem er es hat – von der Subjektivität distanziert und
dieser entgegenstellt, macht er den entscheidenden Zug dessen, was
Personsein heißt, sichtbar und verdeckt ihn doch zugleich wieder.
Was er sagt und was er, indem er es sagt, zeigt, klafft auseinander. Er
bestimmt nämlich das Haben der eigenen Natur als Herrschaft. Zweck
der Distanzierung ist die definitive Stabilisierung des Herrschaftssub-
jektes – als Selbstgewißheit – einerseits, Herrschaft über die Natur
andererseits. 13

11
Am Rande sei hier auf die Nähe des Spaemann’schen Ansatzes einer Philosophie
der Person zu dem Paul Ricœurs hingewiesen, dem es in »Das Selbst als ein Anderer«
um eine Hermeneutik des Selbst geht, in der die Person ähnlich wie bei Spaemann in
einer unvordenklichen Wirklichkeit fundiert ist: »Selbst sagen heißt nicht ich sagen.
Das Ich setzt sich – oder es wird abgesetzt. Das Selbst ist als reflektiertes in Operatio-
nen impliziert, deren Analyse der Rückkehr zu sich selbst vorausgeht.« – Ricœur,
Das Selbst als ein Anderer, 29.
12
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: R. Descartes: Discours de la méthode,
6. Teil. AT VI, 62. – Ebd. 271.
13
Ebd. 144–145.

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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

Das gesuchte Motiv ist das dem Bedürfnis nach οἰκείωσις entgegen-
stehende Herrschaftsinteresse, dessen Subjekt als reine Selbstgege-
benheit des Bewusstseins nicht nur der Außenwelt, sondern ebenso
allem zu diesem menschlichen Subjekt Gehörenden gegenüberge-
stellt wird, was qualitativ bestimmbar ist, also ein Sosein hat. Inwie-
fern Descartes damit eine wesentliche Besonderheit des Personseins
für einen Moment sichtbar gemacht hat, soll weiter unten verfolgt
werden. Hier interessiert zunächst die »Geschichte der Destruktion
des Personbegriffs« 14, die in einem engen Zusammenhang steht mit
der cartesischen Neubegründung der Philosophie, das heißt mit der
Wahl der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins als Ausgangs-
punkt.
Der von Descartes vorbereitete Gedanke entfaltete seine Dyna-
mik im englischen Empirismus des 17. und 18. Jahrhunderts. 15 Spae-
mann konzentriert in diesem Zusammenhang seine Aufmerksamkeit
auf die Behandlung des Problems der Identität in Lockes »Abhand-
lung über den menschlichen Verstand« und Humes »Abhandlung
über die menschliche Natur«. Locke geht aus von der »Frage der Re-
identifizierbarkeit einer Entität nach Ablauf einer Zeit« 16, wobei
Dinge ihm zufolge identisch sind, »wenn sie einen einzigen Anfang
haben, den sie mit keiner anderen Sache gemeinsam haben« 17. Dies
bedeutet, dass es nach Locke zwar »[d]auernde Wesen« 18, also zum
Beispiel menschliche, geben kann, die reidentifizierbar sind; dass sie
es sind, liegt aber nicht an ihrer personalen Identität, also an ihrer
lebendigen Einheit. Es gibt nämlich nach Locke keine »zeitübergrei-

14 Spaemann, Personen (1996), 146.


15 Die Ausführungen zum englischen Empirismus orientieren sich an dieser Stelle
eng an der Darstellung Spaemanns in »Personen«. Im elften Kapitel der vorliegenden
Arbeit wird anhand der Publikationen zur Philosophie der Person von Dieter Sturma
und Michael Quante eine alternative Sichtweise dargelegt, in der insbesondere Lockes
Denken nicht im Kontext einer Destruktion des Personbegriffs, sondern affirmativ als
wesentlicher Beitrag zur Herausbildung eines spezifisch neuzeitlichen Verständnisses
der Person gedeutet wird. – Vgl. zu Sturma Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des
Begriffs der Person, 818–824, und zu Quante Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von
Personen und die Frage personaler Identität, 839–847.
16 Spaemann, Personen (1996), 148.

17
Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf: J. Locke: An Essay on Human
Understanding II, 27, § 1. – Ebd. 271.
18
Ebd.

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8. Ontologie der Person

fende Identität« 19, sondern nur »eine Folge unendlich vieler instanta-
ner Einzelereignisse« 20:
Wenn Leben das Sein des Lebendigen ist, dann gibt es dieses Sein
nicht. Es gibt nur einzelne, diskrete Zustände von Organismen. Leben
ist also nicht das Sein dieser Organismen. Was ihre Identität aus-
macht, ist nur die Invarianz einer Struktur, die vom Austausch der
materiellen Teile unberührt bleibt. Auch Maschinen besitzen eine sol-
che Struktur. […] Für den Begriff der Person macht es, so schreibt
Locke, keinen Unterschied, ob wir ihre Einheit als die einer Maschine
oder als die eines beseelten Wesens verstehen. 21
Dass die Identität der Person somit nur in ihrem physischen Substrat
– der invarianten Struktur – begründet sein kann, rührt daher, dass
Gedanken, also verschiedene geistige Regungen bzw. Tätigkeiten, nie
identisch sein können, »weil jeder ihrer Teile einen verschiedenen
Anfang seiner Existenz hat« 22. Während also die Identität eines
menschlichen Wesens durch die Invarianz seiner Struktur gewähr-
leistet ist, kann personale Identität nur in einem aktualen Bewusst-
sein bestehen, das verschiedene Dinge aufeinander bezieht und durch
die Erinnerung dabei in die zeitliche Dimension ausgreift:
»Das Bewußtsein«, schreibt Locke, »vereinigt die getrennten Hand-
lungen zu einer und derselben Person.« Alle Handlungen, die in einem
Bewußtsein vereinigt werden, sind Handlungen dieser Person, aber
auch nur diese Handlungen. »Soweit dieses Bewußtsein rückwärts
auf vergangene Taten oder Gedanken ausgedehnt werden kann, so
weit reicht die Identität dieser Person.« 23
Eine Unterbrechung des Bewusstseins bedeutet somit auch eine zu-
mindest temporäre Aufhebung personaler Identität; Spaemann zitiert
Locke: »Es ist gewiß, daß der schlafende Sokrates und der wache So-
krates nicht dieselbe Person sind.« 24 Personale Identität hat aktuales
Bewusstsein zur Voraussetzung: »Identität des Bewußtseins ist also

19 Spaemann, Personen (1996), 148.


20 Ebd. 149.
21 Ebd.

22 Ebd. 148–149. – In der Anmerkung verweist Spaemann auf: J. Locke: Essay on

Human Understanding II, 27, § 2. – Ebd. 271.


23
Ebd. 150. – In Anmerkungen verweist Spaemann als Quelle der Zitate auf: J. Locke:
An Essay on Human Understanding II, 27, §§ 9–10. – Ebd. 271.
24
Ebd. 153. – In der Anmerkung verweist Spaemann auf: A. a. O., § 19.

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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

nichts anderes als Bewußtsein der Identität.« 25 Die Identität des


menschlichen Wesens und die der Person, der es als physische Grund-
lage dient, haben sich voneinander getrennt.
Die von Descartes ausgehende allmähliche Abkehr vom substanz-
ontologischen Denken wurde oben als »Subjekt-Wechsel« 26 beschrie-
ben, 27 in dem Locke ein Stadium des Übergangs bezeichnet. »Die
Konsequenzen aus dieser Konzeption Lockes hat David Hume gezo-
gen« 28, indem er unter ausdrücklicher Ablehnung der »cartesische[n]
Idee einer res cogitans, einer seelischen Substanz« 29, die Frage nach
der personalen Identität radikalisiert hat:
Gibt es eine Vorstellung, die dem »Ich« entspricht, das sich in allen
Perzeptionen angeblich durchhält? Hume antwortet: nein. Was es
gibt, sind immer nur Perzeptionen. Das Selbst ist keine solche Perzep-
tion. Abgesehen von einigen Metaphysiker[n], »die sich eines Ich zu
erfreuen meinen«, sind alle übrigen Menschen nur »ein Bündel oder
eine Ansammlung von Perzeptionen«, die mit großer Schnelligkeit
aufeinander folgen. 30 Sogar das instantane Bewußtsein ist ein Kom-
plex aus verschiedenen Perzeptionen. 31
Obwohl Hume den »Personbegriff, nachdem er ihn zur Fiktion er-
klärt hat, wieder dem common sense annähern« 32 kann, gelangt er
am Ende in dieser Frage zu einer »Kapitulation«: »Personale Identität
ist für mich eine zu harte Aufgabe«. 33 Wie Spaemann dazu bemerkt,
ist diese Aufgabe, »[w]enn man nicht bereit ist, die Prämissen auf-

25 Spaemann, Personen (1996), 151.


26 Kible, Subjekt, in: HWPh X, col. 380.
27 Vgl. Teilkapitel 2.1, Der Subjekt-Wechsel und der verlorene Begriff der Substanz,

50.
28 Spaemann, Personen (1996), 153.

29
Ebd.
30 In der Anmerkung verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: David Hume:

A Treatise of Human Nature, Book I, part IV, sect. VI. – Ebd. 271.
31 Ebd. 154.

32 Ebd. – Vgl.: »Der ›schwache‹ Begriff von Identität erlaubt es nun aber Hume, im

Unterschied zu Locke, Identität über das selbst Erinnerte hinaus durch kausale Rück-
schlüsse auszuweiten. Kausalbeziehungen sind zwar, wie alle Beziehungen, unsere
Fiktionen. Aber mit Hilfe dieser Fiktionen können wir eine Vergangenheit rekonstru-
ieren, deren wir uns selbst nicht unmittelbar erinnern. Wir können auch Erzählungen
anderer über uns in unser Selbstverständnis aufnehmen.« – Ebd.
33 Ebd. 155. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: D. Hume: A

Treatise of Human Nature, Appendix – Ebd. 271.

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8. Ontologie der Person

zugeben, […] nicht nur hart, sondern per definitionem unlösbar« 34.
Die wesentliche Prämisse ist dabei die in cartesischer Tradition ste-
hende solipsistische Vorentscheidung im Ausgang von einem instan-
tan gegebenen Bewusstsein, durch den Erinnerung als »schwächere
Reproduktion früherer Vorstellungen« interpretiert und damit als
Ausdruck der intersubjektiven Vermitteltheit des Bewusstseins aus-
geschlossen wird: 35 »Um uns aber erinnernd als Personen aneignen zu
können, müssen wir ›aus uns herausgehen‹. Und eben dies ist uns
nach Hume nicht möglich: ›We never really advance a step beyond
ourselves.‹« 36 Der cartesische Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, in dem
durch einen Akt der Selbsttranszendenz die Seelensubstanz der res
cogitans gefunden wird, wurde von Locke und Hume also zugunsten
der reinen Selbstgegebenheit des Bewusstseins wieder aufgegeben,
was personale Identität letztlich unmöglich macht: »Der Solipsismus

34 Spaemann, Personen (1996), 155.


35 Vgl.: »Zeiterfahrung setzt Erinnerung voraus. Erinnerung aber ist für Hume die
schwächere Reproduktion früherer Vorstellungen. Als frühere erweisen sie sich da-
durch, daß sie schwächer sind. Das ist bezweifelbar. Beiläufige gegenwärtige Ein-
drücke können schwächer sein als erinnerte starke Eindrücke. Vor allem aber definiert
das Schwächersein nicht das Frühersein. Das ist schon deshalb ausgeschlossen, weil ja
gegenwärtige Eindrücke als frühere dann auch schwächer sein müssen als erwartete
künftige, was ganz sicher Humes Auffassung widerspricht.« – Ebd. 156.
36 Ebd. 156. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des Zitats: A. a. O., Book I,

part II, sect. VI. – Vgl.: »Wenn nun dem Geiste nichts gegenwärtig ist als Perzeptio-
nen, und Vorstellungen immer aus etwas entstanden sein müssen, das zuvor schon
dem Geiste gegenwärtig gewesen ist, so folgt, daß es uns unmöglich ist, eine Vor-
stellung von etwas zu bilden oder zu vollziehen, das von Vorstellungen und Eindrü-
cken spezifisch verschieden wäre. Man richte seine Aufmerksamkeit so intensiv als
möglich auf die Welt außerhalb seiner selbst, man dringe mit seiner Einbildungskraft
bis zum Himmel, oder bis an die äußersten Grenzen des Weltalls; man gelangt doch
niemals einen Schritt weit über sich selbst hinaus, nie vermag man mit seiner Vor-
stellung eine Art der Existenz zu erfassen, die hinausginge über das Dasein der Per-
zeptionen, welche in dieser engen Sphäre [des eigenen Bewußtseins] aufgetreten sind.
Dies ist das Universum der Einbildungskraft; wir haben keine Vorstellung, die nicht
darin ihr Dasein hätte.« – Hume, Ein Traktat über die menschliche Natur, 91–92. – Der
zitierte Satz wird von Spaemann seit dem Personen-Buch häufig als Ausdruck der
szientistischen Weltanschauung angeführt und liegt dem Titel »Schritte über uns
hinaus« seiner 2010 bzw. 2011 erschienenen »Gesammelten Reden und Aufsätze«
zugrunde. – Vgl.: »Dass wir niemals einen Schritt über uns hinaus tun, diesen Satz
David Humes finde ich bei der Durchsicht meiner Texte aus den letzten Jahren immer
wieder zitiert. Er erscheint mir als ein Schlüssel zur modernen Weltanschauung.
Allerdings ist er widersprüchlich, denn wenn er wahr wäre, könnten wir ihn nicht
aussprechen und von seiner Wahrheit nicht wissen.« – Spaemann, Versuche, das
Ganze zu denken (2010), 7.

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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

ist immer zugleich ›Instantanismus‹. Die Verwerfung des Gedankens


der Transzendenz des Subjekts impliziert die Verwerfung der Realität
der Zeit und macht damit den Gedanken personaler Identität als
Selbstobjektivierung unmöglich.« 37 Das cartesische Ideal der Gewiss-
heit, das von Locke und Hume unter Absehung von seinen metaphy-
sischen Prämissen weiterverfolgt wurde, führt also zu einer klaren
Trennung der Identitätskriterien von Menschen und Personen, die
nach erheblicher Inkubationszeit im 20. Jahrhundert von Philo-
sophen wie Parfit und Singer aufgegriffen und für Spaemann zum
Auslöser seiner philosophischen Bemühungen um den Personbegriff
wurde. 38 Die Entwicklung, die von Descartes über den englischen Em-
pirismus zum Personbegriff des 20. Jahrhunderts führt, kann somit
auch als Freilegung des cartesischen Ausgangspunktes durch Entfer-
nung allen metaphysischen Beiwerks verstanden werden. Da dieser
Ausgangspunkt, wie gesehen wurde, nach Spaemann in einem engen
Zusammenhang steht mit dem, was Personsein heißt, muss nun der
Blick noch einmal auf ihn zurückgelenkt werden, um den entschei-
denden Punkt zu benennen, an dem unabweisbare Charakteristika
der Person von Descartes falsch interpretiert wurden.
Spaemann greift damit in »Personen« auf Gedanken zurück, die
er zuerst in seinem Descartes-Essay aus dem Jahre 1987 entwickelt
hat und die hier im sechsten Kapitel im Kontext des metaphysisch-
analogen Denkens erläutert wurden. 39 Es sei hier vorab noch einmal
an die wesentlichen Zusammenhänge erinnert. Descartes orientierte
sich an dem aristotelischen Substanz/Akzidens-Schema, insofern er
die cogitationes als Akzidenzien der zugrunde liegenden Seelensub-
stanz der res cogitans deutete. Spaemanns alternative metaphysisch-
analoge Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ besteht darin,
dass an der bei Descartes durch die res cogitans freigehaltenen Stelle
die teleologisch verstandene φύσις wiedereingesetzt wird, zu der die
Person im Sinne des ›Habens einer Natur‹ auf Distanz geht. Im Rück-
blick vom Reflexionsniveau des Personen-Buches zeigt sich daher,
dass die falsche Interpretation des personalen Ortes, die Descartes
nach Spaemann vorgenommen hat, in einer direkten Inversion des
Subsistenzverhältnisses besteht. Indem Descartes das Substanz/Akzi-
dens-Schema auf die Aristoteles fremde Realdistinktion von esse und

37
Spaemann, Personen (1996), 157.
38 Vgl. ebd. 148.
39
Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–379.

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8. Ontologie der Person

essentia bezog, erklärte er mit der res cogitans das Sosein (essentia)
zur Substanz. Demgegenüber nimmt in Spaemanns Verständnis der –
von Descartes in den cogitationes erfasste – personale Ort die Stelle
der aristotelischen Substanz ein, 40 insofern der in ihm zum Ausdruck
kommende Akt des Seins (esse) in einer Distanz steht zur ›gehabten
Natur‹ (essentia), die an die Stelle der cartesischen Seelensubstanz
tritt.
Der von Descartes gefundene Ausgangspunkt der Philosophie
hat nach Spaemann mit dem Personsein also gemeinsam, dass er eine
rein numerische Identität ohne jede qualitative Bestimmung bezeich-
net. Es geht um eine ›bestimmte Unbestimmtheit‹, einen bestim-
mungslosen ›Jemand‹, der erst durch die Antizipation eines Gegen-
übers denkbar wird. Zwei Hinweise wurden erwähnt, warum
Descartes im Finden dieses Punktes ihn sogleich falsch interpretierte.
Erstens hypostasiert er ein aus der Wirklichkeit abstrahiertes Mo-
ment zur unabhängigen Entität eines Selbst, das dadurch eine quali-
tative Bestimmtheit gewinnt, von der abgelöst zu sein gerade sein
Charakteristikum war. 41 Diese ›unbestimmte Bestimmtheit‹ kann

40 Vgl. »Insofern kann man sogar sagen, daß Personen erst im vollen Sinn den Begriff
natürlicher Substanz erfüllen. Und tatsächlich hat Aristoteles seinen Begriff der Sub-
stanz wohl am Paradigma des Menschen gewonnen.« – Spaemann, Personen (1996),
42. – Ausgehend von diesem Zitat gelangt Raphael Bexten in seiner Studie »Was ist
menschliches Personsein?« zu der Schlussfolgerung, dass Spaemann »die onto-
logisch-geistige Substantialität der menschlichen Person als gegeben voraussetzt,
auch wenn er dies hier nicht explizit betont«. – Bexten, Was ist menschliches Person-
sein?, 156–157, Fn. 6. – Wenn Bexten postuliert, »dass die Person wesensnotwendig
Substanz ist« – ebd. 182 –, so rückt sein Personbegriff in gefährliche Nähe zu dem,
was Spaemann als Hypostasierung des personalen Standpunkts ausdrücklich ablehnt.
– Vgl. Spaemann, Personen, 115, u. im vorliegenden Abschnitt, 527. – Mit Duns
Scotus spricht Bexten in Bezug auf die Person von einer »haecceitas (ein Diesesda-
Sein)« – Bexten, a. a. O., 222 – und bemerkt: »Diese Seinsweise wird menschliche
Person oder, abstrakt gesprochen, menschliches Personsein genannt.« – Ebd. 247. –
Dies widerspricht direkt der Position Spaemanns, der betont: Personen »sind nicht
eine solche Weise, sondern verhalten sich zu ihr«. – Spaemann, a. a. O., 81. – Die
substanzontologische Hypostasierung der Person bringt Bexten durch die damit zu-
geschriebene »Seinsselbständigkeit« – Bexten, a. a. O., 178 – in Schwierigkeiten bei
dem Versuch, die für Spaemanns Personverständnis konstitutive Pluralität der Per-
sonen zu denken, die er eine »scheinbar paradoxe Formulierung« – ebd. 242 u. 312 –
nennt. Diese Schwierigkeiten treten bei Bexten auch zu Tage, wenn es darum geht,
»die Selbsttranszendenz zum personalen Du, zur anderen Person« – ebd. 277 – zu
denken, die für Bexten erst aus der dritten Dimension der »Wirklichkeitsform
menschlichen Personseins« hervorgeht. – Vgl. ebd. 238 u. 288.
41
Diesen Gedanken hat Spaemann im Rahmen seines Aufsatzes »Das Sum in Des-

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8.2.1 Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs

sich nur in ihrem Sein stabilisieren durch die Annahme eines absolu-
ten Bewusstseins. Der im englischen Empirismus durchgeführte Ver-
such, die Hypostasierung zur Entität durch konsequente Beschrän-
kung auf das instantane Selbstbewusstsein zurückzunehmen,
brachte jedoch, wie der Blick auf die Geschichte der Destruktion des
Personbegriffs bei Locke und Hume gezeigt hat, die innere Problema-
tik dieses Ansatzes erst zur Entfaltung. Wo aber liegt der Fehler,
wenn weder die Hypostasierung zur Entität noch der Verzicht auf
diese eine Lösung herbeiführt? Die Richtung, in der die Antwort zu
suchen ist, gibt der zweite bereits erwähnte Hinweis. Als Motiv des
cartesischen Ansatzes wurde die »Stabilisierung des Herrschaftssub-
jektes – als Selbstgewißheit – einerseits, Herrschaft über die Natur
andererseits« 42 genannt. Dieses Herrschaftsinteresse erzwingt einer-
seits die Hypostasierung des Selbstbewusstseins zur Entität der res
cogitans, gleichzeitig führt die prinzipielle Ausgrenzung alles So-
seins, also der Natur, dazu, dass die so entstehende Entität eine reine
Abstraktion bleibt. 43 Indem sie als instantanes Selbstbewusstsein sich
selbst besitzt, grenzt sie alles als ein Sosein aus, was sie besitzt. Da-
durch, dass ihr Verhältnis zum anderen ihrer selbst als Herrschaft
bestimmt ist, bleibt sie auch als hypostasierte Entität ein formales
Prinzip, das alles Inhaltliche aufgrund seiner Bestimmtheit aus-
grenzt. Das eigentliche Problem ist also die abstrakte Entgegenset-
zung des Herrschaftssubjekts, der res cogitans, und des beherrschten
Objekts, der res extensa. Diese abstrakte Entgegensetzung verhindert
jede inhaltlich bestimmte Selbstvermittlung, die nur möglich wird
durch die Reflexion auf die natürlichen Voraussetzungen der res co-
gitans und das Verständnis des ›cogito‹ selbst als gesteigerten Aus-

cartes’ Cogito Sum« durchdacht: Es würde sich eine endlose Iteration ergeben, wenn
die Dialektik von Horizontbewusstsein und Gegenstandsbewusstsein nicht durch die
Einführung des Gedankens eines absoluten Bewusstseins, also durch die Theologisie-
rung der Ontologie, zum Stehen gebracht würde. – Vgl. dazu Abschnitt 6.1.3, Des-
cartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.
42 Spaemann, Personen (1996), 145.

43 Eine vergleichbare Kritik an der auf Descartes zurückgehenden Entwicklung des

neuzeitlichen Denkens findet sich bei Spaemann zum ersten Mal in der Dissertation
über de Bonald, in der er von »der Selbstaufhebung der aufgeklärten Vernunft«
spricht, »die das Moment der Reflexion auf ihre natürlichen Wurzeln verloren hat«.
– Spaemann, Der Ursprung der Soziologie aus dem Geist der Restauration (1959),
207. – Vgl. Abschnitt 3.2.5, Der Verlust der natürlichen Wurzeln und die Selbstauf-
hebung der Vernunft, 118–121.

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8. Ontologie der Person

drucks der lebendigen Natur, um die es Spaemann in seiner Korrektur


des cartesischen Ansatzes geht:
Die Krise des Personbegriffs ergibt sich aus dem cartesischen Dualis-
mus und aus der Unmöglichkeit, im Rahmen dieses Dualismus Leben
zu denken. Seit Platon und insbesondere seit dem Neuplatonismus
war maßgeblich die ontologische Trias Sein-Leben-Denken. Leben
war dabei der eigentliche, paradigmatische Begriff. »Leben ist das Sein
des Lebendigen«, schrieb Aristoteles. 44 Nichtlebendiges Sein können
wir nur nach Analogie unseres eigenen Seins denken, aber unser ei-
genes ist Leben. Bewußtsein ist volles, gesteigertes Leben. »Qui non
intelligit non perfecte vivit sed habet dimidium vitae«. 45 Der Sein und
Bewußtsein verbindende Mittelbegriff des Lebens verfällt nun dem
cartesischen Verdikt, keine klare und distinkte Idee zu sein. Um zu
leben, müsse man deshalb aufhören zu denken, schreibt Descartes an
die Kurfürstin Elisabeth. 46 Die Geschichte der Destruktion des Person-
begriffs ist die Geschichte der Destruktion des Lebensbegriffs. Und
diese wiederum hängt zusammen mit der Destruktion des Gedankens
einer natürlichen Teleologie. 47
Die Krise des Personbegriffs wird von Spaemann somit in einen di-
rekten Zusammenhang mit der neuzeitlichen Abwendung vom teleo-
logischen Denken gestellt. Der Wegfall des Lebensbegriffs ging ein-
her mit der »Atomisierung der Bewegung« und der »Preisgabe des
Begriffs des Potentiellen« 48 und führte das philosophische Nachden-
ken über die Person, wie gesehen, bei Locke und Hume in die Aporie:
»Wo der Gedanke des Lebens undenkbar wird, da wird es a fortiori der
Gedanke der Person, denn Personen sind Lebewesen. Die Identität der
Person ist eine Funktion der Identität eines Lebewesens.« 49 Die Re-
flexion der Prämissen der neuzeitlichen Philosophie, die zur Krise des
Personbegriffs geführt haben, lenkt die Aufmerksamkeit damit zu-
rück auf das Thema der Naturteleologie, das hier vor allen Dingen
im fünften Kapitel anhand Spaemanns und Löws Buch »Natürliche

44 Verweis auf die Quelle des Zitats: Aristoteles: De anima II, 4; 415 b 13: »vivere
viventibus est esse«. – Spaemann, Personen (1996), 271.
45 Verweis auf die Quelle des Zitats: Thomas von Aquin: In Eth. Arist. ad Nic., lib IX,

lectio 11, Nr. 1902. – Ebd. 271.


46 Verweis auf die Quelle des Zitats: R. Descartes: Brief an Elisabeth vom 28. Juni

1643; in: Œuvres et Lettres. Ed. A. Bridoux, Paris 1953, 1157. – Ebd. 271.
47
Ebd. 146.
48 Ebd. 150.

49
Ebd. 147.

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

Ziele« behandelt wurde. 50 Im nächsten Schritt muss daher zusam-


mengetragen werden, was Spaemann im Rahmen des Personen-
Buchs über das bereits Bekannte hinaus zu diesem Thema ergänzt.

8.2.2 Genauigkeit und Seele

Im ganzen entsteht so der Eindruck, daß aus allen mensch-


lichen Beziehungen erst wieder die falsch darin sitzende Seele
völlig entfernt werden müsste; und in dem Augenblick, wo
Ulrich dies dachte, fühlte er, daß sein Leben, wenn es über-
haupt Sinn besaß, keinen anderen hatte als diesen, daß sich
die beiden Grundsphären der Menschlichkeit darin selbst zer-
legt zeigten und einander in der Wirkung entgegenstanden.
Solche Menschen werden offenbar heute geboren, aber sie
bleiben noch allein, und allein war er nicht imstande, das Aus-
einandergefallene von neuem zusammenzubringen.
Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapi-
tel 116 »Die beiden Bäume des Lebens und die Forderung
eines Generalsekretariats der Genauigkeit und Seele«

Im Kontext des Personbegriffs rückt der Begriff der Seele als anthro-
pologisches Analogon zum ontologischen Begriff des Lebens in den
Mittelpunkt, dessen Geschichte zunächst betrachtet werden muss, be-
vor seine Bedeutung für die konstitutive Fundierung des Person-
begriffs in der Natur des Menschen entwickelt werden kann. Auch
im Zusammenhang mit der Geschichte des Seelenbegriffs spielt Des-
cartes eine bedeutsame Rolle: »Der prekäre philosophische Status der
Seele rührt vor allem her von der Hypostasierung einer unabhängi-
gen Seelensubstanz durch Descartes, die auf schwer erklärbare Weise
mit einer Körpersubstanz verbunden sein und zusammen mit dieser
den Menschen ausmachen soll.« 51 Im Sinne der oben skizzierten Be-
seitigung des metaphysischen Beiwerks aus dem cartesischen Ansatz
in der auf ihn zurückgehenden neuzeitlichen Philosophie trat an die
Stelle der res cogitans »bei Kant die ›transzendentale Apperzeption‹,
das ›Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten kön-

50
Vgl. Teilkapitel 5.2, »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive, 215–
291.
51
Spaemann, Personen (1996), 158.

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8. Ontologie der Person

nen‹« 52. Damit verlor die ehemalige Seelensubstanz allerdings gänz-


lich die ursprünglich mit dem Begriff der Seele verbundene Fähigkeit
Individualität zu bezeichnen: »Das Subjekt der weltkonstituierenden
Intentionalität ist für Kant wie Husserl nicht eine individuelle Person,
sondern ein ›transzendentales Ego‹, das gerade nicht mehr individuell
ist.« 53 Auch wenn es begriffsgeschichtlich wichtig ist, sich diese
Wandlung zu vergegenwärtigen, die von der cartesischen Seelensub-
stanz ihren Ausgang nahm, muss verdeutlicht werden, dass es hier
von vornherein nicht um das ging, was traditionell mit dem Begriff
Seele bezeichnet wurde.
Tatsächlich hatte Descartes für den klassischen Begriff der Seele gar
keine Verwendung mehr. Seele war in der aristotelischen Tradition die
»Form«, das heißt das Prinzip lebendiger Organismen. Descartes
kennt kein solches Prinzip, weil lebendige Organismen Maschinen
sind. Für das Bewußtsein, das auf irgendeine schwer verständliche
Weise »in« diesen Maschinen existiert, benutzt er den freigewordenen
Terminus der »Seele«, die so zu einer eigenen Entität wird. 54
Der Begriff der Seele wurde damit äquivok und es ist wichtig, den
cartesischen Begriff klar von einem älteren zu trennen. Mit dem
»›klassischen‹ Begriff der Seele« 55 wurde das Organisationsprinzip
lebendiger Wesen bezeichnet, die im Unterschied zu Artefakten eine
innere Einheit unabhängig von einem äußeren Beobachter bilden:
»Lebendige Systeme sind autopoietische, sich selbst organisierende
Systeme.« 56 Diese Kennzeichnung beinhaltet einen inneren Wider-
spruch, solange unter ›machen‹ bzw. ›organisieren‹ eine Tätigkeit ver-
standen wird, in der ein Agens auf etwas als seinen Gegenstand ein-
wirkt. »Die aristotelische Formursächlichkeit dagegen ist kein solches
Machen. […] Sie ist vielmehr Strukturprinzip einer lebendigen Ein-
heit, und diese ist eine elementare Wirklichkeit, deren Teile nur noch
[…] virtuelle entia per se, selbständige Seiende« 57 sind. Die in enger
Verbindung mit der Zweckursache stehende Formursache ist in der
aristotelischen Metaphysik das Prinzip der teleologischen Organisa-

52 Spaemann, Personen (1996), 158. – Spaemann verweist in der Anmerkung auf:

I. Kant: Kritik der reinen Vernunft B 131. – Ebd. 272.


53 Ebd. 159.

54 Ebd. 160–161.

55
Ebd. 164.
56 Ebd.

57
Ebd. 165.

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

tion, wobei in Naturdingen im Unterschied zu Artefakten das ›Was‹


und das ›Wozu‹ im Sinne der ἐντελέχεια in eins fallen: 58
Dieses, daß etwas an sich selbst »etwas«, und zwar ein so und so be-
stimmtes Etwas, ist, heißt aristotelisch: es hat eine substantielle Form.
Und wenn dieses Etwas ein autopoietisches System ist, dessen Innen-
Außen-Differenz nicht nur relativ auf einen äußeren Betrachter exis-
tiert, sondern an sich selbst und für sich selbst, dann nennen wir dieses
System »lebendig«, und seine »substantielle Form« nennen wir »See-
le«. Die Seele ist jene teleologische Struktur, jener innere »Bauplan«,
der nicht, wie bei Artefakten, immer daseinsrelativ bleibt auf Beobach-
ter oder Benutzer, die ihn und durch ihn das Artefakt als »etwas« ent-
decken; er macht vielmehr ein Etwas zum neuen Zentrum einer »Um-
welt«, innerhalb derer etwas anderes für diese lebendige Entität
bedeutsam werden beziehungsweise daseinsrelativ auf sie existieren
kann. 59
Seele als Inbegriff der teleologischen Struktur autopoietischer Syste-
me entzieht sich prinzipiell jeder vom Subjekt ausgehenden und auf
objektive Gegebenheit zielenden Betrachtung. In den Gegenständen
solcher Betrachtung ist nie das teleologische Aussein-auf gegeben,
sondern stets nur dessen Wirkungen, die auch kausal-mechanisch er-
klärt werden können. Aber auch im Akt der Introspektion bleibt die
Leugnung der Fundierung des ›cogito‹ in einer teleologischen Struk-
tur des menschlichen Lebewesens durch seine Hypostasierung zur
Entität immer eine Denkmöglichkeit. Und eben für diese Denkmög-
lichkeit beanspruchte Descartes den Begriff der Seele, der dann in der
weiteren Entwicklung des neuzeitlichen Denkens durch die Rückfüh-
rung auf reine Transzendentalität liquidiert wurde. Diese Ersetzung
des klassischen Seelenbegriffs durch die res cogitans Descartes’ wirft
die Frage nach der Vorgeschichte auf, die sie ermöglicht hat.
In der Betrachtung der Geschichte des klassischen Seelenbegriffs
knüpft Spaemann an seine Gedanken zur Geschichte des anthropo-
logischen Dualismus an, die im Zusammenhang der Essays der 80er
Jahre bereits Thema waren 60 und hier nur knapp rekapituliert bzw.
ergänzt werden. Ausgangspunkt der Überlegungen dort war die klas-
sische antike Philosophie. In der Antike wurde klar unterschieden

58 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Präzi-


sion, 225–233.
59
Spaemann, Personen, 166–167.
60 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–

341.

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8. Ontologie der Person

zwischen Seele und Geist; dieser ragt nach Aristoteles von außen –
θύραθεν – in den Menschen hinein:
Aristoteles hatte einen ontologisch radikalen Schnitt zwischen Seele
und Geist gemacht. Gott ist für ihn reiner Geist, das Sein des Geistes
aber ist Leben. Seele dagegen ist das Prinzip einer niederen Form von
Leben, nämlich des Lebens materieller Körper. 61 Es gibt eine Sorte von
beseelten Wesen, die auch Geist besitzen, nämlich Menschen. Ihr
Geist kann nicht als Eigenschaft ihrer Seele verstanden werden. Seele
ist das wesentlich egozentrische teleologische, also triebhafte Lebens-
prinzip. Sie konstituiert eine von aller anderen Wirklichkeit getrennte
Substanz. Geist aber ist über die durch die Seele konstituierte Innen-
Außen-Differenz gerade hinaus, indem er sie im Licht des Allgemei-
nen und Ewigen denkt. Er ist Teilhabe am Göttlichen. 62
Wie oben ausgeführt, wandelte sich dieser anthropologische Dualis-
mus von Geist und Seele unter christlichem Einfluss entscheidend,
wobei »zwei Motive leitend« 63 waren. Durch die in schöpfungstheo-
logischen Prämissen gründende neue Form des Dualismus von Natur
und Gnade – ›natura-gratia‹ – gelangten Seele und Geist auf die Seite
des Natürlichen, so dass zum einen die vom Menschen geforderte
Entscheidung zwischen »Geist und Fleisch« 64 eine Verwandlung der
»Seele des Menschen zur ›Geistseele‹« 65 verlangte. Zum anderen
folgte aus dem Postulat der »Unsterblichkeit der individuellen Seele«
in Verbindung mit der Verwandlung der Seele in eine »Geistseele«,
dass »der menschliche Geist als dieser individuelle unsterblich« 66 sein
müsse. Im christlich bedingten Wandel des antiken anthropologi-
schen Dualismus ist also das Bestreben erkennbar, »die menschliche
Seele durch Geist zu definieren« 67, worin die Vorgeschichte einer
neuzeitlichen »Abschaffung der Seele« 68 gesehen werden kann 69, die

61 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Aristoteles: De anima II, 1; 412 a 20. –
Spaemann, Personen (1996), 272.
62 Ebd. 161.

63
Ebd.
64 Ebd.

65 Ebd. 162.

66 Ebd.

67 Ebd. 163.

68 Ebd. 164.

69 Die Verwandlung der Seele in eine Geistseele steht in einer deutlichen Parallele

zum christlichen Einfluss auf den Prozess der »Destruktion des Gedankens einer na-
türlichen Teleologie«: »Das erste Motiv dieser Destruktion kam aus der christlichen
Theologie. Deren Argument nahm dasjenige vieler Autoren des 20. Jahrhunderts vor-

540

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

durch die Reklamierung des Begriffs für die cartesische res cogitans
vollendet wird:
Der Seele wurde sozusagen von zwei Seiten her der Garaus gemacht.
Auf der einen Seite war da das ganze Gewicht, das die christliche Tra-
dition auf die Geistigkeit der Seele und auf ihre Unsterblichkeit legte.
Die Rede von der Seele der Tiere wurde dabei fast zu einer Äquivoka-
tion, während doch für Aristoteles Seelen gerade das waren, was
Mensch und Tier miteinander verbindet. Aber Tierseelen anzuneh-
men, wurde im 16. Jahrhundert auch von der Seite der neuen Natur-
wissenschaft und Naturphilosophie als abergläubisch abgetan. Um das
Funktionieren lebendiger Organismen zu verstehen, so sagte man, be-
darf es keiner »Formprinzipien« aristotelischer Art. Organismen müs-
sen als Maschinen begriffen und erklärt werden. Nur Menschen haben
Seelen. Und auch bei ihnen sind Seelen nicht Formkräfte ihrer organi-
schen Konstitution, sondern nur das Substrat ihres bewußten Er-
lebens: res cogitans. 70
Aufgrund dieser Vorgeschichte muss der Begriff der Seele aus neu-
zeitlicher Perspektive im Sinne einer Aktualisierung völlig neu be-
stimmt werden, um im Weiteren im Zusammenhang mit dem Person-
begriff eine Rolle spielen zu können. Die Frage, um die es dabei
zunächst geht, lautet: In welchem Zusammenhang macht sich die
Seele im neuzeitlichen Denken gerade als abwesende dadurch bemerk-
bar, dass sie eine Lücke hinterlassen hat, die nicht schließbar ist? Die
Wiederannäherung an den Begriff der Seele kann zunächst also nur
per viam negationis erfolgen. Auf der Grundlage der Beantwortung
dieser Frage kann im Sinne der eigentlichen Aktualisierung des See-
lenbegriffs danach gefragt werden, was der Begriff Seele als Prinzip
lebendiger Organisation für das Verständnis des Menschen über seine
Bestimmung als vernunftbegabtes Wesen hinaus beitragen kann.
Zum Verständnis der kritischen Haltung Spaemanns gegenüber
der neuzeitlichen Philosophie ist es wesentlich zu sehen, dass der an-
thropologische Dualismus durch die cartesische Neubegründung der
Philosophie nicht überwunden wurde, sondern ausgehend vom Dua-
lismus der res cogitans und der res extensa in der von Spaemann als
Zerfallsprodukt der Entteleologisierung interpretierten Dialektik von

weg: Zielgerichtetheit heißt Antizipation. Antizipation setzt Bewußtsein voraus. Des-


halb steckt das Ziel des Pfeiles nicht im Pfeil, sondern im Schützen.« – Ebd. 146. – Vgl.
Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam, 234–241.
70
Spaemann, Personen (1996), 164.

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8. Ontologie der Person

Transzendentalismus und Naturalismus 71 seine neuzeitliche Erschei-


nungsform fand. Diese These baut erstens auf der Beobachtung auf,
dass diese beiden Weltanschauungen wechselseitig der möglichen Re-
konstruktion durch die Gegenseite ausgeliefert sind, und zweitens auf
der Rückführung dieser komplementären Unselbständigkeit auf ein
beiden gemeinsames Verdrängtes: das teleologische Aussein-auf, also
Leben bzw. Seele. Wie der naturalistische Ansatz prinzipiell ein auto-
poietisches Organisationsprinzip als metaphysisches Konstrukt aus-
schließt, so der transzendentale Ansatz ein nicht daseinsrelativ auf
den Betrachter bezogenes Zentrum einer eigenen Umwelt im Bereich
seiner Objekte. Die neuzeitliche Form des anthropologischen Dualis-
mus bleibt also gerade dadurch indirekt auf den Begriff der Seele be-
zogen, dass die beiden antagonistischen Denkweisen ihn von ver-
schiedenen Seiten aufgrund fundamentaler Prämissen prinzipiell
ausschließen. 72 Beide Ansätze können sich stringent gegeneinander
behaupten, schlagen aber aufgrund der fehlenden Möglichkeit einer
Letztbegründung in ihr jeweiliges Gegenteil um, wobei der unauf-
haltbaren Dialektik der beiden Weltanschauungen nach Spaemann
die Leugnung des teleologischen Ausseins-auf und dieser wiederum
die auf Descartes zurückgehende Ausrichtung der neuzeitlichen Phi-
losophie an der certa cognitio zugrunde liegt.
Der Dualismus von res cogitans und res extensa hängt damit zusam-
men, daß Leben keine clara et distincta perceptio ist, sondern nur vom
bewußten Leben aus privativ bestimmt werden kann. Hinzu kommt,
daß die frühe neuzeitliche Philosophie mit dem Begriff der Finalität
auch den der Potentionalität zu eliminieren suchte. Nun können wir
aber über Leben nur angemessen sprechen, wenn wir damit potentiell
bewußtes Leben meinen, mit Erleben aber potentielle Intentionalität. 73
Eine teleologische Argumentation muss sich prinzipiell auf ein der
begrifflichen Vermittlung vorausliegendes Unmittelbares berufen,
das nur in der Selbsterfahrung gegeben ist bzw. sich nur einem Akt
der Anerkennung erschließt. 74 Wie oben im Zusammenhang mit
»Natürliche Ziele« dargelegt wurde, dienen teleologische Interpreta-

71 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
332.
72 Vgl. Abschnitt 6.1.5, Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre

Grenzen, 361–371.
73 Spaemann, Personen (1996), 66.

74
Vgl. Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 289.

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

tionen nie der kausalen Erklärung, weswegen ihnen auch keine stren-
ge Beweisbarkeit im wissenschaftlichen Sinn zukommen kann. 75
Gleichzeitig aber wurde gezeigt, dass Kausalforschung prinzipiell un-
geeignet ist, um natürliche Prozesse vollständig zu erklären. 76 Das
teleologische Denken kann gegenüber der Wissenschaft nicht mit
dem Anspruch auf ›Erklärung‹, sondern nur mit dem auf ›Verstehen‹
auftreten. 77 In »Personen« heißt es dazu:
Wem es zur Erklärung dafür, daß der Hund zum Fressnapf läuft, nicht
genügt, daß der Hund Hunger hat, der sieht sich allerdings auf einen
langen Weg verwiesen, den Aristoteles ebenso wie Kant für unendlich
und deshalb nicht wirklich für einen Weg der Erklärung hielten. Aber
die Wissenschaft ist dieser Weg. Prinzipiell ist nichts ihrer Erklärung
entzogen – außer das Erleben selbst. 78
Die Argumentation zur Erneuerung des teleologischen Denkens und
zur Aktualisierung des klassischen Begriffs der Seele muss in Bezug
auf den Zusammenhang von bewusstem Leben und Leben, von In-
tentionalität und Erleben die inneren Widersprüche des wissenschaft-
lichen Menschenbildes aufzeigen und ihm im Sinne der Umkehr der
Beweislast die eigenen spezifischen Erklärungspotentiale entgegen-
stellen. 79
Unmittelbare Folge des Ausfalls des Lebensbegriffs ist der für die
neuzeitliche Wissenschaft und Philosophie prägende »Dualismus des
Psychischen und des Physischen« 80, der »immer eine Herausforde-
rung zu dem Versuch seiner monistischen Aufhebung« 81 enthielt.
Nach dem Zusammenbruch der großen idealistischen Systeme ist es
in der »gegenwärtigen philosophischen Diskussion […] vorwiegend
der materialistische Monismus, der sich als Alternative zum Dualis-
mus präsentiert« 82. Die eigentliche Herausforderung für den univer-
salen Erklärungsanspruch des materialistischen Monismus sind Men-

75 Vgl. Teilkapitel 5.2., »Natürliche Ziele«: Natur in metaphysischer Perspektive,


215–218.
76 Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei

Kant und Nietzsche, die Ausführungen zum Verhältnis von kausalmechanischer und
teleologischer Naturbetrachtung bei Kant, 262–267.
77 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 273–276.

78 Spaemann, Personen (1996), 167.

79 Vgl. Abschnitt 5.2.7, Plädoyer für das teleologische Denken, 277–279.

80
Spaemann, Personen (1996), 57.
81 Ebd.

82
Ebd.

543

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8. Ontologie der Person

schen als geistige Subjekte: »Für den Materialismus ist das Mentale
ein bloßes Epiphänomen materieller Prozesse, das als solches aller-
dings eindeutig von dem basalen Phänomen unterscheidbar ist.« 83
Spaemann unterstreicht dabei, dass der Materialismus den Dualis-
mus, den er ablehnt, methodisch voraussetzt, indem er physikalische
Ereignisse und mentale Prozesse als zwei Sphären konstatiert, »die
unabhängig voneinander definierbar sind, um dann die mentale als
Funktion der physischen zu interpretieren« 84. Die entscheidende
Frage ist also gar nicht, ob es einen Dualismus des Psychischen und
Physischen gibt, sondern wie er interpretiert wird:
Der phänomenale Dualismus ist die Bedingung des ontologischen Mo-
nismus, eine notwendige, nicht eine hinreichende Bedingung. Denn
der Dualismus muß nicht monistisch aufgehoben werden, und es spre-
chen schwerwiegende Einwände gegen eine solche Aufhebung. Ob sie
möglich und vernünftig ist, darüber entscheidet weitgehend die Em-
pirie. 85
Spaemann wendet sich daher der Betrachtung konkreter Phänomene
und ihrer Differenzierung zu, um zunächst gegen ihre monistische
Aufhebung zu argumentieren und danach aus der Interpretation be-
stimmter Phänomene ein Argument für die notwendige ontologische
Vermittlung zwischen den beiden Seiten des Dualismus zu ent-
wickeln. Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen mentalen Zu-
ständen, propositionalen Einstellungen und intentionalen Akten. Un-
ter Letzteren werden »Akte des Meinens, Wissens, Beurteilens und
Wollens« 86 verstanden, zu ihnen sind menschliche Subjekte norma-
lerweise fähig. Propositionale Einstellungen sind »Annahmen über
das, was geschehen muß, damit ein gewünschter Effekt eintritt« 87;
sie können auch Tieren zugesprochen werden. 88 Mentale Zustände
schließlich bezeichnen psychische Prozesse »nichtintentionaler und
nichtpropositionaler Art«, beispielsweise »Schmerzen, Stimmungen
oder diffuse[…] emotionale[…] Erregungszustände[…]« 89. Spae-
mann betrachtet zunächst diese mentalen Zustände. Einerseits sind

83 Spaemann, Personen (1996), 58.


84 Ebd. 59.
85 Ebd.
86 Ebd. 62.
87
Ebd. 258.
88 Vgl. ebd. 68.
89
Ebd. 60.

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

sie »beschreibbar und definierbar ohne Bezug auf irgendeine physi-


kalische Begebenheit« 90; die Erfahrung beispielsweise von Schmerzen
schafft eine subjektive Wirklichkeit, die von keiner objektiven Erklä-
rung eingeholt werden kann. Dies bedeutet aber noch keine Wider-
legung des Reduktionismus:
Subjektives Erleben, so lautet die These des Epiphänomenalismus,
steht in strikter Eins-zu-eins-Relation zu objektiv beobachtbaren neu-
ronalen Prozessen. Diese Relation ist asymmetrisch. Die neuronalen
Prozesse wirken auf das Erleben. Es selbst wirkt auf diese Prozesse
nicht zurück. Es ist überhaupt irrelevant für irgendwelche physischen
Vorgänge in der Welt, bildet aber auch kein eigenes, autonomes Reich
von Ereignissen, da es vielmehr nur folgenlose Nebenerscheinung
jener physischen Vorgänge ist. 91
Auf dieser Ebene besteht zwischen dem Reduktionismus und seiner
Gegenposition ein theoretisches Patt. 92 »Die Diskussion um den on-
tologischen Status dieser Zustände, also um die Frage, ob es sich bei
der Sphäre des Mentalen um ein ens per se handelt, ist auf dieser
Ebene definitiv gar nicht entscheidbar.« 93 Daher wendet Spaemann
sich im nächsten Schritt der Betrachtung intentionaler Akte zu.
»Akte des Meinens, Wissens, Beurteilens und Wollens« 94 können im
Unterschied zu mentalen Zuständen nicht reduktionistisch auf zu-
grunde liegende physikalische Prozesse reduziert werden, weil ihre
intentionalen Gehalte wesentlich Bestandteile der vom Subjekt un-
abhängigen Wirklichkeit sind.
Wenn diese zu bedeutungslosen Epiphänomenen herabgestuft wer-
den, verschwindet eben die objektive Welt, die für uns überhaupt nur
kraft solcher Akte da ist. Und Analoges gilt für alle Akte des bewußten
Vorziehens und Ausseins-auf. […] Wo also theoretische oder prakti-
sche Intentionalität ins Spiel kommt, da wird der materialistische Re-

90 Spaemann, Personen (1996), 60.


91
Ebd. 61.
92 Vgl.: »Eine wissenschaftstheoretische Analyse könnte zeigen, dass die Hirnfor-

schung zum Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist nicht mehr beisteuern kann
als […] Korrelationsaussagen bzw. Korrelationsgesetze. […] Fortschritt in der Hirn-
forschung kann nur in allmählich immer genaueren und kleinteiligeren Korrelations-
behauptungen bestehen. […] Mithin trägt die Hirnforschung nichts zu einer definiti-
ven Lösung des philosophischen Leib-Seele-Problems bei.« – Tetens, Der Naturalis-
mus: Das metaphysische Vorurteil unserer Zeit?, 12–13.
93 Spaemann, Personen (1996), 60.

94
Ebd. 62.

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8. Ontologie der Person

duktionismus in jeder seiner Formen selbstwidersprüchlich. Intentio-


nalität kann überhaupt nicht adäquat als psychischer Zustand be-
schrieben werden. Zu seiner Definition gehört das, was in einem in-
tentionalen Zustand gemeint oder beabsichtigt ist. 95
Dem in den Akten theoretischer oder praktischer Intentionalität Ge-
meinten muss also der Status von Wirklichkeit zugestanden werden.
Inwiefern aber beinhaltet diese Feststellung ein Argument gegen den
Reduktionismus? Für diesen ist das intentional Gemeinte eine bloße
positive Gegebenheit. Es fragt sich jedoch, wie diese in die subjektive
Vorstellungswelt dessen gelangt, von dem die intentionalen Akte
ausgehen. Deren Subjekt denkt ja mit dem Gedanken des intentional
Gemeinten simultan die Differenz zwischen ihm und sich selbst.
Intentionalität ist daher nicht bloße positive Gegebenheit:
Gedanken sind selbst schon bestimmt durch Differenz zu dem, was
bloß ist. Diese Differenz kann nicht aus dem, was bloß ist, konstruiert,
Negativität nicht aus Positivität gewonnen werden, obgleich sie diese
voraussetzt. Darum können Maschinen nicht denken. Die Differenz
zu dem, was bloß ist, kann durch keine Simulation erreicht werden,
die diese Differenz nicht immer schon voraussetzt. Alles, was Maschi-
nen hervorbringen, sind positive Fakten in der Welt, die von lebendi-
gen Wesen als Zeichen gelesen und in Gedankeninhalte verwandelt
werden können. Das Zeichen »–« ist ebenso ein materielles Vorkomm-
nis in der Welt wie das Zeichen »+«. Erst, wo ein lebendiges Wesen
ihm eine bestimmte Bedeutung gibt, ereignet sich Negativität. 96
Das zentrale Argument besteht also darin, dass Intentionalität – nicht
nur die des Wollens, sondern auch die des Wissens – aus Negativität
und damit aus lebendiger Organisation hervorgeht: »Negativität, also
das Andere zum bloßen Sein, gibt es nur, wo es Leben gibt, das heißt,
wo es um etwas geht, und zwar ›immer schon‹, also nicht etwa erst
aufgrund einer Wahl, einer Zwecksetzung oder bewußten Wollens.« 97
Das lebendige Aussein-auf ist wesentlich vorbewusst und liegt allen
intentionalen Akten, auch dem Wissen zugrunde:
Wissen ist eine Weise des Erlebens. Jedem Erleben aber geht es um
etwas. Aussein-auf, Trieb ist die Grundstruktur des Erlebens. Durch
den Trieb aber wird eine doppelte Differenz konstruiert, die Innen-
Außen-Differenz einerseits, also eine Differenz, die die Raumwahr-

95
Spaemann, Personen (1996), 62
96 Ebd. 50.
97
Ebd. 56.

546

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8.2.2 Genauigkeit und Seele

nehmung begründet, und eine andere, die die Zeitwahrnehmung be-


gründet, die Differenz zwischen Schon und noch-nicht, zwischen An-
tizipation und dem in der Antizipation Antizipierten. 98
Ein ähnliches Argument hatte Spaemann zuvor bereits in dem 1984
erschienenen Aufsatz »Sein und Gewordensein. Was erklärt die Evo-
lutionstheorie?« entwickelt, in dem die Widerlegung des Reduktio-
nismus wesentlich mit der »Unableitbarkeit der Negativität« 99 be-
gründet wurde. Dem in »Personen« entwickelten Argument der
Nichtrekonstruierbarkeit der Intentionalität liegt die dort analysierte
zweite Stufe der Negativität »als Andersheit, als Nicht-ich« 100 zu-
grunde, 101 die wiederum in der ersten Stufe, der im Aussein-auf sich
öffnenden Innen-Außen-Differenz des Lebewesens fundiert ist.
Der »Zusammenhang von Intentionalität und seelischen Zu-
ständen« lässt sich in umgekehrter Richtung von den seelischen Zu-
ständen her deutlich machen, deren vorbewusstes Sein ontologisch
das Primäre ist, auch wenn für uns ihr Bewusstwerden primär ist
und ihr vorbewusstes Sein nur sekundär erschlossen werden kann.
Spaemann verdeutlicht dies am Beispiel des Hungers, der dem Be-
wusstsein des Hungers zugrunde liegt:
Er wird nicht aufgefunden wie ein Gegenstand in der Welt, sondern als
etwas, das ich habe. Und dieses Haben wird nun, im Bewußtwerden,
aktualisiert. War der Hunger vorher kein von mir gehabter? Es wäre
falsch, das zu sagen. Denn indem ich mir des Hungers bewußt werde,
entdecke ich ja nicht irgendeinen Hunger und mache ihn zu meinem,
so wie ich irgendein Huhn zu dem von mir gesehenen mache, sondern
ich entdecke, daß ich es bin, der Hunger hatte, schon ehe ich mir des-
sen bewußt war. Und nur dieses Hungers, der von Anfang an meiner
war, kann ich mir bewußt werden. 102
Während der Argumentationsgang von der Seite des intentional Ge-
meinten zu der Schlussfolgerung führte, dass das Denken von Wirk-
lichkeit lebendige Organisation voraussetzt, zeigt die Betrachtung
von der Seite der seelischen Zustände, warum diese als wesentlich

98 Spaemann, Personen (1996), 51. – Auf den Gedanken der ›doppelten Differenz‹
wird gegen Ende dieser Arbeit zurückzukommen sein. Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschlie-
ßende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 895–896.
99 Spaemann, Sein und Gewordensein (1984), 59.

100 Ebd. 62.

101
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 244.
102
Spaemann, Personen (1996), 64.

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8. Ontologie der Person

Vorbewusstes zwangsläufig nicht beweisbar sein können. Ausgehend


vom Dualismus des Psychischen und Physischen konnte somit am
Problem der Intentionalität die nicht schließbare Lücke gezeigt wer-
den, die der verlorene klassische Seelenbegriff hinterlassen hat. Eine
Aktualisierung dieses Begriffs verlangt, dass die konstitutive Be-
deutung des Prinzips lebendiger Organisation für das Verständnis
des Menschen als vernünftiges Lebewesen dargelegt wird. Wenn In-
tentionalität in seelischen Zuständen, also in der Negativität von le-
bendigem Seienden, fundiert ist, stellt sich die Frage, wie die An-
wesenheit des Seelischen im Vernünftigen konkret zu denken ist.
»Intentionalität ist nicht etwas Seelisches, sondern etwas Geistiges.
Sie gehört so wenig zur Innenwelt von Subjekten wie zur Außenwelt.
Sie begründet einen ›view from nowhere‹.« 103 Wenn der ›Blick von
nirgendwo‹ als Aufhebung der lebendigen Zentralität nicht als hypo-
stasierte Entität der res cogitans gedacht werden soll, ist im nächsten
Schritt nach der Präsenz des überschrittenen Seelischen im Vernünf-
tigen zu fragen.

8.2.3 Metaphysischer Realismus

Die Überlegungen in Teilkapitel 8.2 zu den negativen Voraussetzun-


gen von Spaemanns Personbegriff nahmen ihren Ausgang von der
cartesischen Neubegründung der Philosophie, zu der Spaemann, wie
im Rahmen dieser Arbeit schon oftmals gesehen wurde, ein aus-
gesprochen ambivalentes Verhältnis hat. Zum einen deutet Spae-
mann Descartes’ Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, wie oben in
Abschnitt 6.1.3 dargelegt wurde, 104 als Aktualisierung der aristote-
lischen Rede vom Sein durch eine spekulative Theorie der Selbst-
transzendenz. Zum anderen führt er die cartesische Theologisierung
der Ontologie auf die frühneuzeitliche Entteleologisierung und den
Wegfall des Lebensbegriffes zurück. Die in Abschnitt 8.2.1 nach-
gezeichnete Geschichte der Destruktion des Personbegriffs steht un-
ter diesen ateleologischen Denkvoraussetzungen, wohingegen die

103 Spaemann, Personen (1996), 63. – Vgl.: »The objective self that I find viewing the

world through T[homas] N[agel] is not unique: each of you has one. Or perhaps I
should say each of you is one, for the objective self is not a distinct entity. Each of us,
then, in addition to being an ordinary person, is a particular objective self, the subject
of a perspectiveless conception of reality.« – Nagel, The view from nowhere, 63–64.
104
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351.

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein, wie gesehen, als


metaphysisches Beiwerk fallen gelassen wurde. Um an sie anknüpfen
zu können, unterscheidet Spaemann zwischen den von Descartes frei-
gelegten Charakteristika der Person und ihrer diese sogleich wieder
verdeckenden Hypostasierung zur Entität eines abstrakten Herr-
schaftssubjekts, deren Ursache der Verlust des Lebensbegriffs ist. Als
erste Konsequenz aus diesen historischen Voraussetzungen des mo-
dernen Denkens wurde in Abschnitt 8.2.2 nach dem verlorenen Be-
griff der Seele und den Möglichkeiten gefragt, diesen in der Gegen-
wart philosophisch zu rehabilitieren und an das teleologische Denken
anzuknüpfen. Aus der Selbstwidersprüchlichkeit des Reduktionismus
ergab sich so der Hinweis auf eine unableitbare Negativität des leben-
digen Ausseins-auf, dessen anthropologische Konsequenz die Auf-
gabe einer Aktualisierung des Begriffs der Seele ist. Um deren Bedeu-
tung als lebendiges Organisationsprinzip für den Menschen als
vernünftiges Wesen zu entfalten, muss im nächsten Schritt an das in
Abschnitt 6.2.1 thematisierte metaphysisch-analoge Denken an-
geknüpft werden, das an der cartesischen Erneuerung der aristote-
lischen Rede vom Sein festhält, ohne eine Theologisierung der Onto-
logie vorzunehmen. 105 Wie dort dargelegt wurde, ist es gerade der
ausgefallene Mittelbegriff des Lebens, der im metaphysisch-analogen
Denken den Weg zum Sein ohne die Voraussetzung eines absoluten
Bewusstseins ermöglicht. Im nun folgenden Gedankengang soll als
Abschluss der die Erschließung des Personbegriffs vorbereitenden
Überlegungen einer ›negativen‹ Philosophie der innere Zusammen-
hang zwischen dem teleologischen Aussein-auf dieser Natur und dem
Sein, das nicht Begriff, sondern Korrelat eines Aktes der Anerken-
nung ist, weiter präzisiert werden. 106
Vorab ist also in Erinnerung zu rufen, wie Descartes durch den
Zweifelsbeweis die aristotelische Rede vom Sein erneuert. Descartes’
Ideal war eine auf univoken Begriffen aufbauende Wissenschaft. »Im
Rahmen solcher Begriffswissenschaft ist das Wort ›Sein‹ der abstrak-
teste aller Begriffe, der umfangreichste und inhaltsärmste. Er meint
›etwas überhaupt‹ und umfaßt alles, was möglicher Gegenstand einer
Intention ist.« 107 Zu einem solchen Begriff des Seins gelangt das Den-

105 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.


106
Die Ausführungen in diesem Abschnitt beziehen sich im Wesentlichen auf das
Kapitel »Transzendenz« in: Spaemann, Personen (1996), 71–90.
107
Spaemann, Personen (1996), 71–72.

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8. Ontologie der Person

ken durch »stufenweise Horizonterweiterung der Intentionalität


durch begriffliche Abstraktion« 108, also durch das Transzendieren
aller gegenständlichen Gegebenheit auf einen letzten Horizont hin.
Descartes, einer der Begründer der Philosophie aus reinen Begriffen,
hat allerdings auch am schärfsten die Grenzen ihrer Reichweite gese-
hen und den Weg für ein ganz anderes Verständnis von Transzendenz
offengehalten. Er wurde sich nämlich der Möglichkeit bewußt, daß
auch die unüberbietbare Evidenz der clara et distincta perceptio irre-
führen kann. Alle Evidenz ist und bleibt unaufhebbar jeweils die eige-
ne Evidenz, der eigene Zustand. Zwar gibt es außerhalb der Evidenz
keinen wie immer gearteten gangbaren Weg des Geistes. Die reductio
ad absurdum ist ein Zusammenbruch, aber sie gibt keine Gewißheit
des Gegenteils. 109
Wenn unter dieser Prämisse Gewissheit überhaupt nicht aus dem
Denken gewonnen werden kann, geht es um das Transzendieren des
Denkens selbst, d. h. um die Vorstellung eines Raumes, »den unser
Bewußtsein selbst nicht ausfüllt« 110 und der Platz öffnet für die Rede
vom Sein, das selbst nicht mehr Begriff ist. 111 Es geht um das Denken
von »Sein« als »Jenseits des Denkens«: »Dieser Gedanke hat gar kei-
nen eigenen Inhalt, keinen intentionalen Gehalt. Er gewinnt seine
Bestimmtheit nur durch eine doppelte Negation, die Negation der
Nichtigkeit bloßen Gedachtseins.« 112 Die Formel der doppelten Nega-
tion bringt eine zentrale Gedankenfigur Spaemanns, die, wie im Fol-
genden zu zeigen sein wird, für die Argumentation seiner Personphi-
losophie grundlegend ist, auf den Begriff. Diese Gedankenfigur kann

108 Spaemann, Personen (1996), 71.


109 Ebd. 72.
110 Ebd.

111 Es ist freilich deutlich, dass hier eine Äquivokation von ›Denken‹ vorliegt. ›Trans-

zendieren des Denkens‹ ist ein paradoxer Ausdruck, denn dieses Transzendieren ist
für ein selbstbewusstes Wesen nichts anderes als ein Akt des Denkens. Es geht hier
daher erstens um Denken als »stufenweise Horizonterweiterung der Intentionalität
durch begriffliche Abstraktion« – ebd. 71 –, zweitens aber geht es um ein Denken, das
den Horizont der Intentionalität selbst transzendiert und damit ›Sein‹ denkt, ohne es
zu einem Begriff zu machen. – Vgl. dazu die Überlegungen zum Begriff der Trans-
zendenz in Teikapitel 2.2. Dort wurde unterschieden zwischen einem intentionalen
Denken einerseits, das sich in einem Horizont bewegt, innerhalb dessen alles Gege-
bene auf das Interesse eines Lebewesens bezogen ist, und einem Transzendieren dieses
Horizonts durch die Vernunft andererseits, das selbst natürlich ist. – S. Teilkapitel 2.2,
Das Denken der Transzendenz und die Überwindung seiner Negativität, 55–67.
112
Spaemann, Personen (1996), 50.

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

am Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ entfaltet werden, und zwar in zwei
verschiedenen Deutungen. In der spekulativ-dialektischen Deutung
Descartes’ entspricht die erste Negation der zweiten cartesischen
Reflexionsstufe, dem unhintergehbaren, aber leeren ›dubito ergo
cogito‹ 113, also der Einsicht, dass Denken möglicherweise Idiosynkra-
sie ist und allein der Zweifel als Korrelat der »Nichtigkeit bloßen
Gedachtseins« gewiss bleibt. Die zweite Negation dagegen ergibt sich
bei Descartes aus der spekulativen Annahme eines absoluten Be-
wusstseins, durch die das Denken zu einem Vorkommnis in der Welt
wird, so dass ein Raum eröffnet ist, in dem es ein Jenseits des Denkens
gibt: Sein. »Descartes nennt diesen Raum das Unendliche. Es ist ein
Jenseits aller möglichen Gedanken und intentionalen Gehalte. Aber
nicht so, daß die Bewußtseinsinhalte einfach nur Vorkommnisse in
diesem Raum wären, ohne auf ihn selbst auszugreifen.« 114 Die carte-
sische Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein besteht ganz
wesentlich darin, dass mit ihm ein Jenseits des Denkens gedacht wird.
Dieser für Spaemann entscheidende Gedanke Descartes’ hebt seinen
Ansatz prinzipiell von jeder Transzendentalphilosophie und Phäno-
menologie ab und stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer
Philosophie der Person dar:
Das Wort »Sein« hat für Personen noch eine andere Bedeutung als die,
die es für »vernünftige Lebewesen« hat, nämlich die von »etwas über-
haupt«. Nur so ist der cartesische Zweifel möglich. Mit Bezug auf
etwas überhaupt als Inhalt unseres Bewußtseins hätte es keinen Sinn,
von einer möglichen Täuschung zu sprechen. Darum gehört es ja zu
Husserls Methode, Sein in dieser anderen Bedeutung auszuschalten
und Transzendenz in diesem Sinn zu suspendieren. Um den intentio-
nalen Gehalt des Bewußtseins zu zweifelsfreier Selbstgegebenheit zu
bringen, muß genau das suspendiert werden, was für Descartes Grund
des Zweifels an der Evidenz ist, die »Seinssetzung«. Descartes’ Ver-
dacht einer totalen Idiosynkrasie beruht ja noch auf einer solchen
Transzendenz, einem solchen Ausgriff auf einen Raum, der mit dem
des Bewußtseins nicht deckungsgleich ist und in dem dann das Be-
wußtsein ein sich möglicherweise irrendes Seiendes ist. Der Verdacht
setzt einen Realismus mit Bezug auf den Bereich des »Psychischen«
voraus. Das Psychische »gibt es«, und alle intentionalen Gehalte sind
möglicherweise nur Eigenschaften dieser psychischen Entität. Husserl
läßt auch diese Seinssetzung fallen. Die phänomenologische epoché

113 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 344.
114
Spaemann, Personen (1996), 72.

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8. Ontologie der Person

bedeutet die Rücknahme der Transzendenz des Bewußtseins mit dem


Ziel, das in der Evidenz Selbstgegebene rein als dieses selbst zu thema-
tisieren. Die suspendierte Transzendenz ist damit freilich nicht ver-
schwunden. Die Frage nach der »Seinsart«, dem ontologischen Status
des transzendentalen Bewußtseins, mußte den methodischen Ansatz
der Phänomenologie sprengen. 115
Die auf Descartes zurückgehende Alternative zum transzendental-
philosophischen Ansatz des neuzeitlichen Denkens setzt allerdings,
wie es scheint, jenen »substantialistischen Sprung« voraus, den Hus-
serl Descartes vorgeworfen hat. 116 Dieser Sprung besteht in der spe-
kulativen Setzung von Sein als Jenseits des Denkens: Die »Seins-
meinung [ist] deshalb nie so erfüllbar, daß Sein sich als solches als es
selbst zeigt. Denn Sich-Zeigen heißt eben, Inhalt des Sehens oder
Denkens dessen werden, dem sich etwas zeigt. Aber wie soll das In-
halt des Denkens werden, das als Jenseits dieses Denkens gemeint
ist?« 117 Vom Standpunkt der transzendentalen Reflexion aus geht
»die Transzendenz des Bewußtseins auf ein solches Jenseits seiner
selbst ins Leere«: »eine leere Reflexion auf die Tautologie, daß alle
Gegenstände des Bewußtseins eben Gegenstände des Bewußtseins
sind.« 118 Da der Schritt zum Sein hier nur durch eine Theologisierung
der Ontologie möglich war, war es schon im Descartes-Essay aus dem
Jahre 1987 Spaemanns Grundgedanke, die spekulativ-dialektische
Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹ durch eine meta-
physisch-analoge zu ersetzen. 119 Der Kern dieser Deutung besteht
darin, dass durch die analogen Aussageweisen des Seins als Leben
und Denken die Seinssetzung kein spekulativer Gedanke mehr ist,
sondern dass der zweite Schritt innerhalb der doppelten Negation –
die Negation der Nichtigkeit bloßen Gedachtseins – aus seiner Fun-
dierung im vorbewussten Erleben neu interpretiert werden kann. In
der metaphysisch-analogen Interpretation ist die erste Negation voll-
zogen durch die Entstehung der Innen-Außen-Differenz für ein le-
bendiges Wesen bzw. eines autopoietischen Systems und seiner als
teleologische Struktur fassbaren Seele. Im engeren Sinne geht es um
ein Lebewesen, das in seiner Selbstzentriertheit eine Umwelt aus-

115 Spaemann, Personen (1996), 73.


116 Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 146–147.
117
Spaemann, Personen (1996), 83.
118 Ebd. 74.
119
Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

grenzt, deren allgemeine Gegenständlichkeit für sein reflexives Be-


wusstsein auf den Status der Vorstellung für ein Subjekt reduziert
wird. Die zweite Negation besteht in der Transzendierung dieser In-
nen-Außen-Differenz und damit der Überwindung der Zentriertheit
und der ihr korrespondierenden Gegenständlichkeit alles Gegebenen
durch den im Denken eröffneten ›Blick von nirgendwo‹. Die so er-
reichte Position kann immer – entsprechend der cartesischen speku-
lativ-dialektischen Deutung – durch die Setzung eines absoluten Be-
wusstseins zu einer Entität hypostasiert und losgelöst von ihrer
natürlichen Grundlage abstrakt interpretiert werden. Für die auf me-
taphysisch-analogem Weg in der zweiten Negation erreichte Position
bleibt dagegen die im Begriff der Seele gefasste erste Negation kon-
stitutiv. Die Pointe der metaphysisch-analogen Deutung besteht ge-
rade darin, dass durch das Ineinandergreifen der lebendigen Selbst-
zentriertheit und ihrer vernünftigen Transzendenz Bewusstsein sich
als Funktion von Leben, das selbst schon auf Selbsttranszendenz an-
gelegt ist, und damit als Sein erfährt, indem es gleichzeitig der An-
erkennung von Sein als Jenseits des Denkens fähig wird. 120 Der
Schlüssel zum Sein aus dieser Perspektive ist, wie Spaemann an an-
derer Stelle mit Bezug auf Kants Opus postumum bemerkt, die »Ent-

120 Rudolf Langthaler spricht in Bezug auf die Seelenproblematik bei Spaemann von

einer »aporetische[n] Problemsituation« – Langthaler, Über »Seelen« und »Gewis-


sen«, 488 –, insofern es nicht gelinge, »›Seele‹ als ontologisch-konstitutives Prinzip
(›anima sensitiva‹) mit der ›Geistseele‹ (›anima intellectiva‹) um der zu bewahrenden
Einheit des Menschen willen zu ›vereinen‹«. – Ebd. 487. – Spaemanns Versuch, an die
aristotelische Vorstellung des animal rationale anzuknüpfen, scheitere am »neuzeit-
lich bestimmend gewordene[n] Prinzip ›Subjektivität‹« – ebd. 488: »Treten in diesem
Problemkontext mit Blick auf die menschliche Weltstellung (in ›Leiblichkeit‹ existie-
rendes ›Ich‹) dergestalt nicht problemgeschichtliche Konstellationen zutage, die be-
züglich der unumgänglichen fundamentalphilosophischen Voraussetzungsprobleme
prinzipiell über den Rahmen dieses ontologischen Ansatzes hinausweisen, jedoch
eben auch – mit gleichsam umgekehrten Richtungszeichen – in der neuzeitlichen
›Subjekt‹philosophie hartnäckig in Erscheinung treten? Werden in solcher Perspekti-
ve die ontologische ›Substanz‹philosophie sowie die neuzeitliche ›Ich‹philosophie
nicht als jene zwei aufeinander nicht rückführbaren, vielmehr wechselseitig über sich
hinausführenden Begründungsansätze erkennbar, die nur um den Preis ihrer gegen-
seitigen Ignorierung bzw. Vereinnahmung zu umgehen (bzw. ›aufzuheben‹) sind – ein
Problemgefüge, welches (wenngleich oftmals in verdeckter Gestalt) die europäische
Philosophie bis zur Gegenwart bestimmt?« – Ebd. 488–489. – Leitende These der hier
verfolgten Argumentation ist, dass ausgehend vom metaphysisch-analogen Denken
ein Zusammenhang von Teleologie und Personalität entwickelt werden kann, durch
den die von Langthaler beschriebene aporetische Problemsituation überwunden wer-
den kann.

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8. Ontologie der Person

deckung, dass dem transzendentalen Apriori die eigene Leiberfah-


rung als fundierend vorausgeht« 121.
Diese Deutung enthält im Kern die neuzeitliche Aktualisierung
des platonischen Gedankens, »der die Philosophie konstituiert« 122,
dass die Vernunft Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur
ist. 123 Die Aktualisierung besteht dabei darin, dass sie auf der über
Platon hinausgehenden Entdeckung des transzendentalen Apriori
aufbaut und dabei dieses Apriori als ein ›Für-uns‹ – aus der Sicht des
bewussten Lebewesens – von seiner Fundierung in einem ›An-sich‹
unterscheidet, zu dem, wie die Untersuchung des Zusammenhangs
von Intentionalität und seelischen Zuständen im vorangegangenen
Abschnitt zeigte, zwar kein zwingender Gedankengang führen kann,
ohne das jedoch, wie ebenfalls gesehen wurde, die von ihm abstrahie-
rende Argumentation sich in eine unaufhaltbare Dialektik verstrickt.
Unsere theoretische Einstellung ist eingebettet in einen Lebenszusam-
menhang, in dem es uns immer schon um etwas geht, das heißt in dem
wir »auf etwas aus sind«. Worauf sind wir aus? Worum geht es uns
letzten Endes? Was ist der äußerste Gegenstand unserer praktischen
Intentionen? Irgend etwas muß es geben, wovon wir die Wirklichkeit
und nicht den Schein wollen. Das nennt Platon »das Gute«. Aber
könnte dieses Gute nicht wiederum etwas »nur Subjektives« sein, ein
bestimmter Zustand des Subjektes, der auch durch wohltätigen Schein
herbeigeführt werden kann? 124
Die neuzeitliche Aktualisierung des Gedankens der Vernunft als Aus-
druck der Teleologie der menschlichen Natur ruft jene Verbindung
von theoretischer und praktischer Philosophie, von Ontologie und
Ethik in Erinnerung, die im siebten Kapitel im Zusammenhang mit
»Glück und Wohlwollen« als Aktualisierung der antiken εὐδαιμονία
Thema war. Das Erwachen zur Wirklichkeit, in dem das Selbst als
bewandtnisloses Umwillen hervortritt, bleibt, wie Spaemann dort

121
Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85. – Vgl. die Fortsetzung des Zitats an
dieser Stelle: »Die erste Erfahrung von Bewegung, so schreibt nun Kant, ist die Selbst-
bewegung. Leben rückt also von der Seite der Gegenständlichkeit nun auf die der
konstituierenden Subjektivität. Transzendentale Subjektivität ist nicht mehr das reine
›Ich denke‹, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können, sondern es wird zu
einem transzendentalen ›Ich lebe‹.« – Ebd.
122 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123.

123
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 389.
124
Spaemann, Personen (1996), 83–84.

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

analysierte, als Ereignis eines Richtungswechsels ambivalent und of-


fen für zwei gegensätzliche Deutungen: 125 die nihilistische Rück-
biegung auf die »Perspektive des Triebhanges« 126 oder die Entdeckung
des Selbstseins in einem reziproken interpersonalen Begegnungs-
geschehen, für die Spaemann den Begriff Wohlwollen bzw. amor
benevolentiae gebraucht. Die Aktualisierung des Gedankens, der die
Philosophie konstituiert, ist somit an das Begegnungsgeschehen ge-
knüpft. In »Personen« unterstreicht Spaemann diesen Zusammen-
hang:
amor extasim facit. 127 Die Liebe gilt nicht einem intentionalen Objekt,
dessen ontologischer Status in der Schwebe bleiben kann, sondern
dem Anderen, sofern er gerade nicht als intentionales Objekt gegeben,
sondern Selbstsein jenseits aller möglichen Gegebenheit ist. Intentio-
nale Objekte sind immer durch ihr Sosein definiert. Ihre Identität ist
stets qualitative Identität. Die Liebe aber gilt dem Anderen in seiner
numerischen Identität. 128
Dass das Erwachen zur Wirklichkeit bzw. zur Vernunft, in dem die
anthropologische Pointe des metaphysisch-analogen Denkens ge-
sehen werden kann, mit der »Ekstase der Liebe« 129 in engstem Zu-
sammenhang steht – ein im höchsten Maße unkantischer Gedanke –,
ist nur verständlich unter der Voraussetzung eines Kontinuums von
Leben und Bewusstsein. 130 Er bedeutet, dass die im Bereich der Inten-
tionalität verbleibende Vernunft die recurvatio auf die Zentriertheit
des Lebewesens bezeichnet, der das in der Teleologie der mensch-
lichen Natur liegende ursprüngliche Erwachtsein immer schon vo-
rausliegt: das Transzendieren des Bereichs der Intentionalität, durch
das sich Sein als Selbstsein erst zeigt.
Bereits in »Glück und Wohlwollen« wurde jedoch deutlich, dass
Spaemann in aristotelischer Tradition das Erwachen zur Wirklichkeit
nicht auf das Ekstatische eingrenzt. In diesem Sinne bemerkt er in
»Personen«:

125 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 470.


126 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
127 Spaemann verweist in der Anmerkung als Quelle auf: Pseudo-Dionysos Areo-

pagita: De divinis nominibus, IV § 13; PG 3, 712. – Ebd. 268.


128
Spaemann, Personen (1996), 85.
129 Ebd. 86.

130
Vgl. ebd. 169.

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8. Ontologie der Person

So gibt es auch die »Normalform« menschlicher Transzendenz, in der


das Sein des Anderen nicht im Erleben unmittelbar gegeben ist, aber
doch nicht verschwindet. Die Weise, wie das Selbstsein jedes Menschen
für den anderen wirklich zu sein beansprucht, ist die Anerkennung.
Wahrscheinlich muß jemand, um der Anerkennung jedes anderen fä-
hig zu sein, das Selbstsein eines anderen einmal unmittelbar erfahren,
das heißt Liebe erfahren und geliebt haben. Der Rest heißt Treue. 131
Gegenüber »Glück und Wohlwollen« geht es Spaemann in »Per-
sonen« darum, den Gedanken des Selbstseins von der unmittelbaren
Erfahrung bzw. der Wahrnehmungsevidenz zu lösen und zu verall-
gemeinern. Das interpersonale Begegnungsgeschehen kann so trans-
formiert werden in ein verfügbares Wissen: »Sein als Selbstsein
heißt: Sein ist wesentlich plural. Es gibt kein Kontinuum vom Wissen
des einen zum Wissen des Anderen, so wenig wie vom Schmerz des
einen zum Schmerz des Anderen. Aber es gibt das Wissen eines je-
den, daß dies so ist. Es gibt das Wissen, daß es den Anderen als An-
deren gibt.« 132 Dieses Wissen ist immer mit einem Akt der Freiheit
verbunden, dem »Verzicht auf die Bemächtigung« bzw. dem »Seinlas-
sen« 133, denn der »Andere ist nie in der zwingenden Unmittelbarkeit
des reinen Phänomens gegeben«, sondern in seinem qualitativen So-
sein. Von ihm als potentiellem intentionalen Gegenstand zu seinem
Selbstsein führt nur die der Überwindung der Selbstzentriertheit
analoge zweite Negation des Seinlassens. Für das Wissen um diesen
interpersonalen Zusammenhang führt Spaemann in »Personen« den
Begriff des metaphysischen Realismus ein:
Das Sein intentionaler Gegenstände ist ihr Gehabtsein durch Subjekte.
Das Selbstsein, auf das hin wir uns transzendieren, die andere Person,
steht zu uns in einer Beziehung der Gegenseitigkeit. Ich bin ebenso Teil
ihrer Welt, wie sie Teil der meinen ist. Ich bin für sie, wie sie für mich
ist, und es ist für mich, daß ich für sie bin und daß sie weiß, daß sie für
mich ist. In dieser Gegenseitigkeit gründet der metaphysische Realis-
mus, der für die Person konstitutiv ist und für den Intentionalität zwar
eine notwendige Bedingung, aber nicht auf sie reduzierbar ist. 134
Dass im metaphysischen Realismus der Seelenbegriff als unverzicht-
bare Voraussetzung der doppelten Negation eine bleibende Bedeu-

131 Spaemann, Personen (1996), 86–87.


132
Ebd. 75.
133 Ebd. 87.
134
Ebd. 87–88.

556

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

tung behält, wird auch daran deutlich, dass die im Verzicht auf Ob-
jektivierung sich ausdrückende Haltung der Anerkennung nicht nur
anderen Personen gilt, sondern das Verhältnis zur Welt insgesamt
charakterisiert.
Der »metaphysische Realismus«, der unser Verhältnis zu anderen Per-
sonen charakterisiert, läßt sich nicht auf dieses Verhältnis beschrän-
ken. Er ist vielmehr das, was menschliches In-der-Welt-sein von tieri-
schem prinzipiell unterscheidet. Er bezieht sich nicht nur auf
Personen, sondern auf alles Seiende, zumindest auf alles Lebendige.
Es gibt für den Menschen gar keine reinen Subjekt-Objekt-Verhält-
nisse. Beziehung zur Wirklichkeit ist immer zugleich ein Verhältnis
des »Mit-seins«. 135
Das Konzept des metaphysischen Realismus, der sein gedankliches
Zentrum hat im »Transzendieren der Erscheinung auf ein Seiendes
hin, das sich zeigt und sich zugleich verbirgt« 136, und damit einen
Grenzbereich philosophischer Möglichkeiten fokussiert, kann als
letztes Wort Spaemanns im Rahmen der Philosophie als bloßer Ver-
nunftwissenschaft verstanden werden. 137 Es geht in diesem Konzept
darum, an der cartesischen Aktualisierung der aristotelischen Rede
vom Sein ohne dessen spekulative Seinssetzung festzuhalten, indem
durch die Überwindung der cartesischen Fehldeutung wesentlicher
Charakteristika des Personseins das Fundament geschaffen wird für
eine Philosophie, die zwar nicht auf einer clara et distincta perceptio

135 Spaemann, Personen (1996), 88.


136 Ebd. 89.
137 Vgl. den Essay »Christentum und Philosophie der Neuzeit« (1995), in dem Spae-

mann Philosophie als »bloße Vernunftwissenschaft«, »bloße Theorie des Notwendi-


gen und des Möglichen« mit Bezug auf Schelling der Idee einer »positiven Philoso-
phie« gegenüberstellt, die sich »auf das Kontingent-Faktische einläßt« und »damit zu
einer Art spekulativem Empirismus« wird. – Spaemann, Christentum und Philoso-
phie der Neuzeit (1995), 85–86. – Vgl. auch: »[…] in der positiven Philosophie [geht
es] darum, daß das zu Bedenkende jenes ist, womit man es wirklich zu tun hat, d. h. sie
fordert den Eintritt in die praktische Beanspruchung des Denkens selbst«. – Buch-
heim, Eins von Allem. Die Selbstbescheidung des Idealismus in Schellings Spät-
philosophie, 103. – Und weiter: »Robert Spaemann hat einen derartigen Eintritt ins
beanspruchte Denken (was er ›erwachtes‹ oder ›aufmerksames‹ Denken nennt) erneut
gefordert, aufgezeigt und in seine ethische Konsequenzen entfaltet: Die ›Intuition des
Selbstseins‹, in welcher die Wirklichkeit sowohl in mir wie im Anderen ›uno actu‹
bemerkt und angenommen wird, hat nach ihm die besagte doppelte Valenz des Theo-
retischen und Ethischen […]; sie ist, ähnlich wie bei Schelling, der Augenaufschlag,
welcher das ganze Weltverhältnis des Menschen umprägt«. – Ebd. Fn. 76.

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8. Ontologie der Person

aufgebaut sein kann, aber auf der alternativen, nämlich personalen


Deutung der zwingenden Evidenz der Selbsterfahrung, die auch für
Descartes Ausgangspunkt war:
Die cartesische Reflexion enthält die Haben-Struktur, die für das Sein
von Personen charakteristisch ist und sich auf die Gesamtheit des So-
seins richtet. Die Person schafft eine Distanz zwischen sich als Subjekt
und allen ihren Bewußtseinsinhalten. […] Als solche »abstrakte« Ein-
heiten bilden Personen einen Raum. Personen haben das Personsein
nicht so miteinander gemeinsam wie Menschen das Menschsein. »Per-
son« ist kein Wesensmerkmal, sondern bezeichnet ein »individuum
vagum«, also die jeweilige Einzigkeit eines individuellen Lebensvoll-
zugs. »Person« ist deshalb ebenso wie »Sein« ein analoger Begriff. 138
An dieser Stelle erst erfolgt die Spezifikation der Begriffsart, auf die
hier im Sinne einer Propädeutik des philosophischen Ansatzes vor-
bereitet wurde. 139 Durch die Bestimmung von ›Person‹ als analogem

138 Spaemann, Personen (1996), 77.


139
Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. –
Buchheim und Noller versuchen den Gedanken eines analogen Begriffs zu umgehen,
indem sie Spaemanns Personbegriff als einen »Hybridbegriff« beschreiben: »Wesent-
lich für den Begriff der Person nach Spaemann ist die Zusammenführung zweier
begrifflicher Wurzeln in einem kombinierten oder, pejorativ ausgedrückt, Hybrid-
begriff: Zum einen ein die Natur der Person betreffender Sortalbegriff; zum anderen
(und zugleich) ein die Lebenssituation der Person betreffender Ordnungsbegriff. Jede
Person im ursprünglichen Sinne des Worts hat erstens eine Natur in einem noch zu
erläuternden Sinn und befindet sich zweitens ab ovo in einem Ordnungssystem, das
von Grund auf die Lebenssituation und dann sehr allgemein auch die Lebensform der
Individuen jener Natur bestimmt.« – Buchheim/Noller, Sind wirklich und, wenn ja,
warum sind alle Menschen Personen?, 150–151. – Buchheims und Nollers Vorschlag
ist insofern geeignet, den Spaemann’schen Personbegriff nachzuvollziehen, als durch
den auf die Lebensform bezogenen zweiten Teil des Begriffs eine teleologische Kom-
ponente in den Hybridbegriff aufgenommen wird. Mit dem Begriff der Lebensform
wird Normalität in Bezug auf eine bestimmte Art von Lebewesen bezeichnet. Vgl.:
»Das Äquivalent für Gesetzmäßigkeit in Kausalaussagen ist Normalität in teleologi-
schen Aussagen.« – Spaemann, Naturteleologie und Handlung (1978), 50. – In gewis-
sem Sinn kann daher durch den vorgeschlagenen Hybridbegriff Person als Verhalten
zum menschlichen Aussein-auf gedacht werden. Auf diese Weise wird jedoch der
Hybridbegriff wieder zu einer Soseinsbestimmung, auch wenn deren empirische Ba-
sis vergrößert ist und die Betrachtung des normalen Zusammenlebens der Vertreter
des Filiationsverbandes einbegriffen wird. Aber wie sehr durch eine solche Hybrid-
begriffsbildung das als Möglichkeit denkbare Sosein auch über die biologische Be-
stimmung hinaus erweitert werden kann, enthält dieses Verfahren doch einen reduk-
tionistischen Zug. Die Person verhält sich als ›Haben einer Natur‹ auch noch zu
diesem Hybridbegriff und kann somit durch ihn nicht erfasst werden. Dieses Problem
wird von Buchheim und Noller durchaus gesehen: »Spaemann hat die gemeinte Voll-

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

Begriff wird der zuerst in Abschnitt 6.2.1 explizierte Grundgedanke


des metaphysisch-analogen Denkens konkretisiert. 140 Was eine Per-
son ist, kann nur verstanden werden aus ihrem Verhältnis zu ihrer

zugsweise häufig beschrieben als ein ›Haben‹ ihres Wesens, aber nicht unmittelbar
›Sein‹ oder ›Sosein‹ von Personen: die Person ›habe‹ die charakteristische Natur zum
Beispiel von Mensch und ›sei‹ nicht bloß mit einem solchen Wesen identisch; und sie
›habe‹ auch das Leben (zu dem sie sich zugleich verhalten könne, darüber verfügen, es
sogar ›hingeben‹ könne für etwas oder jemand – im Unterschied zu allen Lebewesen,
die nicht Personen sind).« – Buchheim/Noller, a. a. O., 158–159. – Diese Beschrei-
bung, so die Autoren, sei »allerdings missverständlich« und könne »im Sinne Robert
Spaemanns sogar kontraproduktiv wirken« – ebd. 158: »Wenn man behauptet, dass
irgendein lebendiges Individuum insofern ›Person‹ ist, als ihm ein derartiger Exis-
tenzvollzug oder ein solcher modus existendi zukomme, dann erklärt man zugleich,
dass individuell Lebendiges, dem kein solcher Existenzvollzug zukommt, keine Person
ist. Wenn es aber (um diesen Einwand abzuweisen) etwa nicht deutlich zu explizieren
sein sollte, wann einem lebendigen Individuum ein solcher modus existendi denn
zukommt und wann nicht, dann ist die aufgestellte Behauptung sachlich leer und
bringt nichts ein für eine bessere Erkenntnis des Unterschieds zwischen ›etwas‹ und
›jemand‹ – wozu Spaemann in seinem Buch doch angetreten war.« – Ebd. 159. – Die
Missverständlichkeit Spaemanns, von der Buchheim und Noller sprechen, ergibt sich
aber erst daraus, dass sie Existenzvollzug als praktische Kategorie verstehen, während
Spaemann sie doch als ontologische Kategorie versteht, die sich ebenso auf Lebewesen
bezieht, die, solange sie lebendig sind, auch existieren. Person und Leben sind nach
Spaemann analoge Begriffe. Den Zusammenhang zwischen den Begriffen ›Person‹
und ›Leben‹ wiederum sehen Buchheim und Noller ebenso, indem sie zwei Bedeutun-
gen von ›Existenz‹ unterscheiden: »›Existenz‹ eines Lebewesens bedeutet zum einen,
dass es ein Wesen der und der Art und Beschaffenheit ›gibt‹ oder, anders gesagt, dass
mindestens eine Instanz von solcher Beschaffenheit vorkommt. […] Hier bedeutet
Existenz, dass der Begriff eines so und so zu charakterisierenden Lebewesens nicht
leer ist, sondern eine Erfüllung oder wirkliche Instantiierung hat. […] Aber der zweite
Sinn von ›Existenz‹ eines Lebewesens besteht darin, dass es nur solange und insofern
existiert, als es lebt oder lebendig ist.« – Ebd. 160. – Auch wenn dies der Sicht Spae-
manns völlig entspricht, hat sich nun das Problem lediglich verschoben auf den be-
grifflichen Status von ›Leben‹. Buchheims und Nollers Argumentation geht dahin,
Existenz als Lebendigsein durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Lebensform
zu bestimmen: »Die Antwort Spaemanns besteht […] darin zu sagen, dass eine ge-
wisse familiäre Lebensform, in die alle Personen von ihrer Entstehung an hineinver-
setzt werden, der allgemeine und nicht zu beseitigende Grund ihres Seins als Per-
sonen sei.« – Ebd. 164. – Den Begriff Lebensform definieren Buchheim und Noller
aber folgendermaßen: »Eine Lebensform ist […] ein durch charakteristische biogra-
phische Eckwerte begrenzter Korridor des Verhaltens von Populationen einer Sorte
von Lebewesen, der sowohl individuelle Ausnahmen zulässt als auch prinzipiell an
eine biographische Realisierung durch die zugehörigen Individuen geknüpft ist.« –
Ebd. 165. – Existieren als Lebendigsein wird somit doch wieder als eine Soseins-
bestimmung aufgefasst, so dass der Gedankengang zum Ausgangspunkt im Hybrid-
begriff der Person zurückgekehrt ist. Entscheidend ist somit die Frage, »ob Leben zum

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8. Ontologie der Person

Natur, die ihrerseits nur als Antizipation, also durch den analogen
Begriff ›Leben‹, zu begreifen ist. An dieser Stelle wird nun deutlich,
dass es der analoge Begriff ›Person‹ selbst ist, der die hier gesuchte
Aktualisierung der verlorenen Seele als autopoietisches Prinzip dar-
stellt. Die Person, die als Distanz zu ihrer Natur verstanden wird,
aktualisiert erst in ihrem Verhältnis zu dieser Natur die Bedeutung
des Begriffs ›Seele‹, die historisch verlorenging, als der entdeckte per-
sonale Standpunkt von seiner natürlichen Grundlage isoliert wur-
de. 141 Die Natur ist in ihrer teleologischen Struktur wesentlich durch
eine Negation gekennzeichnet, deren zweite Negation in der Persona-
lität jene teleologische Struktur im dreifachen Hegel’schen Sinn auf-
hebt: also überwindet, bewahrt und auf eine neue Stufe stellt. Inso-
fern Person ebenso wie Sein ein Jenseits des Begriffs ist, 142 kann, was

Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins meint«. – Spae-
mann, Personen, 80. – Wie im nächsten Teilkapitel gezeigt werden soll, gibt Spae-
mann auf diese Frage die klare Antwort, dass Leben selbst den Existenzvollzug be-
zeichnet. – Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und
Personalität, 590–591. – Unter dieser Prämisse wird Buchheims und Nollers Argu-
mentation aber zirkulär und es zeigt sich, dass ihr Versuch, die Rede von analogen
Begriffen zu vermeiden und mit dem Konzept eines Hybridbegriffs Spaemanns Per-
sonbegriff gerecht zu werden, scheitert.
140 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 377–379.

141 Karl-Heinz Nusser verfehlt nach meinem Dafürhalten in einem Aufsatz »Zu Ur-

sprung und Begründung des Begriffs der Person« den im vorangegangenen und vor-
liegenden Abschnitt entwickelten Zusammenhang. Nusser wirft Spaemann vor, »die
entscheidende ontologische Voraussetzung der Person, die individuierende Seele als
Form des Leibes, […] zugunsten transzendentalphilosophischer und phänomenologi-
scher Annahmen aufgegeben« zu haben. – Nusser, Metaphysischer Realismus oder
interaktionistische Anerkennung?, 75. – Zwar ist es richtig, dass Spaemann in »Per-
sonen« die Anerkennung als Normalform personaler Transzendenz bezeichnet; den-
noch bleibt die Anerkennung im analogen Begriff der Person fundiert. Nusser deutet
Spaemanns grundlegende These, dass ›Person‹ kein deskriptiver Ausdruck ist und
Personen keine qualitative Gegebenheit haben, so, dass die Person als »ein quasi ab-
solutes Zentrum« – ebd. 77 – und von Spaemann zudem solipsistisch gedacht werde,
»da die Gewißheit, selbst eine Person zu sein, nicht die Gewißheit der Existenz ande-
rer Personen einschließt« – ebd. 76. – Spaemanns hier rekonstruierte intensive Be-
mühung um den Begriff der Seele, seine Grundkonzeption der Person als ›Haben
einer Natur‹ und die daraus hervorgehende prinzipielle Pluralität der Personen wer-
den von Nusser nicht beachtet, was um so mehr verwundert, als er sich in diesem
Aufsatz mit Thomas von Aquin auf denselben Inspirator seines Person-Begriffs be-
zieht wie Spaemann.
142
Es sei am Rande auf die Präzisierung seines Gedankens hingewiesen, die Spae-
mann hier vornimmt. Zuvor war die Rede von einer Trias ›Sein – Leben – Erkennen/
Denken‹. Auch um den Gedanken von der cartesischen Fehldeutung des personalen

560

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8.2.3 Metaphysischer Realismus

die Person ist, erst in den Blick kommen, wenn ein Perspektivenwech-
sel vollzogen wird. Die Betrachtung der ›gehabten Natur‹, die in
diesem Abschnitt auf dem neuen Niveau des Personen-Buches noch
einmal nachvollzogen wurde, kann immer nur an den Punkt heran-
führen, an dem der Sprung zum Sein notwendig wird. Da aber Person
wie Sein ein analoger Begriff ist und ihre Thematisierung als ›Haben
einer Natur‹ diesen Sprung immer schon voraussetzt, stellt sich er-
neut die Frage, die in »Glück und Wohlwollen« durch die Ausrich-
tung auf die Wahrnehmungsevidenz ausgeklammert wurde: Wie ist
mit philosophischen Mitteln von der ›gehabten Natur‹ zum ›Haben
einer Natur‹ vorzudringen? Im vorliegenden Abschnitt wurde im
Rahmen bloßer Vernunftwissenschaft das letzte Wort gesprochen;
zu einer positiven Philosophie der kontingent-faktischen Person 143
führt jedoch kein direkter Weg. In »Personen« findet Spaemann, so
die These, die im folgenden Teilkapitel 8.3 entfaltet werden soll, die-
sen Übergang durch die Reflexion auf das historische Gewordensein
des Einheitspunktes von Ethik und Ontologie, der im Mittelpunkt
von »Glück und Wohlwollen« stand. Die Richtung der Untersuchung
weist eine Akzentverschiebung: Die Frage nach dem, was Personen
sind, wird gestellt als die Frage nach ihrer Entdeckung.

Ortes abzuheben, wird nun das dritte Glied nicht mehr als ›Erkennen/Denken‹ – wo-
runter auch die autonome Vernunft zu verstehen wäre –, sondern als ›Person‹ be-
zeichnet, deren unaufhebbare Relationalität in Bezug auf ihre Natur hier betont wur-
de. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 374–375, u. Abschnitt
8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 536.
143 Vgl. zur Vorstellung einer ›positiven‹ Philosophie bei Schelling bzw. Spaemann:

»Die Philosophie Schellings bedenkt […] das, was kontingenterweise ist. Als spekula-
tiver Empirismus nimmt sie dabei Grundstrukturen der Philosophie des Personseins
vorweg, die Spaemann entfaltet hat. Denn auch Spaemanns Philosophie des Person-
seins kann als ›spekulativer Empirismus‹ – als spekulative Ernstnahme und Durch-
dringung dessen, was unserer Erfahrung gegeben ist – verstanden werden: eine Phi-
losophie, die selbst positiv ist und darin die historische und transzendental
unableitbare Tat der Schöpfung ernst nimmt.« – Zaborowski, Göttliche und mensch-
liche Freiheit, 79. – Vgl. dazu auch Zaborowski, Metaphysik, Ethik und die Frage
nach Gott, besonders Abschnitt 1, Robert Spaemanns Philosophie als Erneuerung
des Denkens F. W. J. Schellings, 120–124.

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8.3 Die Entdeckung der Person

Eine fundamentale Gedankenfigur, die im Zuge der vorliegenden Un-


tersuchung von Spaemanns Werk nachgewiesen wurde, ist eine be-
stimmte Form des Rückbezugs auf das antike Denken, durch den die-
ses aktualisiert werden soll. Bereits die Analyse von Spaemanns
Betrachtung des amour-pur-Streits in den Studien über Fénelon führ-
te zu der These, dass ihre eigentliche philosophische Bedeutung in der
indirekten Erneuerung des antiken substanzontologischen Denkens
gesehen werden kann. 1 In »Natürliche Ziele« geht es Spaemann um
die Klärung der Bedingungen einer Wiederbelebung des klassischen
teleologischen Denkens in der Gegenwart und seiner philosophischen
Potentiale. In den Essays der 80er Jahre wurde der Gedanke der Ak-
tualisierung antiker substanzontologischer Vorstellungen program-
matisch, wobei Descartes, Leibniz und Whitehead für Spaemann zu
wesentlichen Referenzpunkten des neuzeitlichen Denkens werden.
Schließlich setzt sich Spaemann in »Glück und Wohlwollen« die Ak-
tualisierung des antiken εὐδαιμονία-Gedankens zum Ziel seines
»Versuchs über Ethik«. Das durch den Gedanken möglicher Aktuali-
sierung vorausgesetzte Verhältnis einer nicht vollständigen Entfrem-
dung des neuzeitlichen Denkens von seinen antiken Wurzeln wurde
von Spaemann zum ersten Mal in seinen Überlegungen »Über die
Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« explizit reflek-
tiert, 2 in denen er die für uns nur per viam negationis erschließbare
antike Rede vom Sein der unumkehrbaren Eröffnung des neuen Aus-
gangs der Philosophie vom Subjekt im neuzeitlichen Denken gegen-
überstellt. Die Problematik von »Personen« steht in engem Zusam-
menhang mit der Gedankenfigur der Aktualisierung antiken Den-
kens und geht doch über diese in einem wesentlichen Punkt hinaus.
Der Begriff der Person ist eine Entdeckung, die die klassische antike
Philosophie hinter sich lässt: »Nicht einmal Plato dachte das, was wir
mit diesem Begriff denken.« 3 ›Entdecken‹ bedeutet im allgemeinen
Sprachgebrauch, etwas in den eigenen Horizont zu integrieren, was

1 Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichtsphilosophische


Perspektive, 177–179.
2 Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.

3
Spaemann, Personen (1996), 27.

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8.3 Die Entdeckung der Person

außerhalb desselben lag, aber gleichwohl vorher schon da war. Bei der
Entdeckung der Person muss es um einen anderen Sinn von ›ent-
decken‹ gehen, da Personsein ein neuer Horizont ist, so dass die Per-
son durch ihre Entdeckung vielmehr erst entsteht. Gerade dieser spe-
zifische Sinn von ›entdecken‹ weist aber auch darauf hin, dass es eine
Art von Kontinuität zwischen dem als Person Entdeckten und dem
dieser Entdeckung Zugrunde- und Voraufliegenden geben muss:
Was als Person entdeckt wird, muss vorher schon dagewesen und
anders interpretiert worden sein. Der Begriff der Person bezeichnet,
wie sich im Verlauf der folgenden Untersuchungen nach und nach
zeigen wird, sowohl als Entdecktes eine Aktualisierung antiken Den-
kens 4 als auch als Entdeckung das Ereignis, aus dem die Notwendig-
keit neuzeitlicher Aktualisierungen sich erst ergibt und dessen Unter-
suchung dazu verhelfen kann, das Wesen solcher Aktualisierungen
zu verstehen. Die Entdeckung der Person ist der Paradigmenwechsel,
durch den die Anknüpfung an das antike Denken nur noch in der
Weise der Aktualisierung möglich wird, für die die Person selbst wie-
der paradigmatisch ist. Die Erhellung dieser Zweideutigkeit ist eine
wesentliche Aufgabe der folgenden Überlegungen.
Die Person kann daher Gegenstand zweier Arten der Betrach-
tung sein: einer systematisch orientierten und einer auf das Ereignis
der Entdeckung zielenden hermeneutischen Betrachtung. Die syste-
matisch orientierten Überlegungen sind im vorangegangenen Teil-
kapitel mit der Konzeption des metaphysischen Realismus an eine
Grenze gestoßen, über die mit den bislang zur Verfügung stehenden
Mitteln nicht hinauszugelangen ist. Ein neuer Ansatz der Überlegun-
gen ist daher möglich in der hermeneutischen Untersuchung des Er-
eignisses der Entdeckung der Person. In ihr geht es um die Analyse
historischer, also kontingent-faktischer Zeugnisse dieses Ereignisses
und der Geschichte der ersten Phasen seiner Verarbeitung im Den-
ken, die zu den Brüchen führt, die in Abschnitt 8.2.1 als Geschichte
der Destruktion des Personbegriffs thematisiert wurden. Die Verbin-
dung dieser hermeneutischen Betrachtungsweise mit der systema-
tisch orientierten wird sich dadurch herstellen lassen, dass das Ereig-

4 Der analoge Begriff ›Person‹ ist im Rahmen des metaphysisch-analogen Denkens


als eine Aktualisierung der aristotelischen Rede vom Sein zu verstehen, die Spaemann
zunächst unter den Bedingungen der Entteleologisierung in Descartes’ spekulativer
Theorie der Selbsttranszendenz entdeckte. – Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fort-
schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-ana-
loge Denken, 373–383.

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8. Ontologie der Person

nis der Entdeckung als das historische Gewordensein des Einheits-


punktes von Ethik und Ontologie ausgewiesen wird, als der in »Glück
und Wohlwollen« die Wahrnehmungsevidenz bezeichnet wurde.
Durch das Ineinandergreifen der hermeneutischen und der systema-
tischen Betrachtungsweisen, so die zentrale These dieses Teilkapitels,
kann die Problematik des Sprungs, die durch die Ausrichtung auf
Wahrnehmungsevidenz theoretisch nicht zu bewältigen war, über-
wunden und der metaphysische Realismus hermeneutisch in der per-
sonalen Vernunft und ihrem Verhältnis zur Wirklichkeit fundiert
werden. Dazu allerdings wird es notwendig, die im letzten Teilkapitel
vorläufig abgeschlossene systematische Bemühung um den Person-
begriff mit den Ergebnissen der hermeneutischen Untersuchung der
Entdeckung zu vermitteln.
Abschließend sei ein kurzer Ausblick auf die folgenden Schritte
gegeben. Zunächst wird am Leitfaden des Autonomiegedankens
Spaemanns vergleichende Betrachtung Homers, Platons, der Stoa
und des Neuen Testaments nachvollzogen, die als entscheidenden
Umbruch die Entstehung einer Distanz des Menschen zu seiner eige-
nen Natur ermittelt. Durch den Rückbezug auf zentrale Gedanken
aus »Glück und Wohlwollen« wird die Bedeutung dieses hermeneu-
tischen Befundes dargelegt. Ausgehend vom Begriff des Herzens als
›grundlosem Grund‹ wird die Entdeckung der Person als fundamen-
tale Wandlung des Verständnisses der Vernunft und ihres Verhält-
nisses zur Wirklichkeit interpretiert (8.3.1). Die der Entdeckung
zugrunde liegende anthropologische Erfahrung, zu der eine Herme-
neutik ihrer Spuren im spätantiken Denken führte, wurde bis an die
Schwelle der Neuzeit vor allem im Rahmen der christlichen Theo-
logie bzw. einer von ihr geprägten Philosophie reflektiert. Die spätere
philosophische Thematisierung des Begriffs der Person hat daher
einen Exkurs in die Trinitätslehre und die Christologie zur Voraus-
setzung, aus dem sich wesentliche Elemente auch des anthropologi-
schen Personbegriffs ergeben werden. Ausgehend von der Rekon-
struktion der theologischen Implikationen des Personbegriffs wird
die christliche Umformung der aristotelischen Metaphysik im Hoch-
mittelalter und der Gedanke vom Seinsakt als prinzipiellem Jenseits
des Begriffs betrachtet (8.3.2). Im dritten Schritt geht es um die an-
gekündigte Verbindung der hermeneutischen und der systematischen
Betrachtungsweisen unter Berücksichtigung der zuvor ermittelten
theologischen Implikationen. Eine erste Analyse der vielschichtigen
Synthese von Gedankenkomplexen in Spaemanns Personenphilo-

564

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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹

sophie wird dabei die Verbindung von Teleologie und Personalität


durchdenken. Die Deutung der Personalität als Steigerung des leben-
digen Ausseins-auf, durch die der sich entziehende Personbegriff in
einem Zusammenhang, der erst dem personalen Standpunkt gegeben
ist, denkbar wird, bereitet schließlich den Übergang zur Explikation
der eigentlichen Personenphilosophie im folgenden Teilkapitel
(8.3.3).

8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung:


Das Herz als ›grundloser Grund‹

Der Entwicklungsprozess, den Spaemann nachzeichnet und der von


Homer über Platon zur Entdeckung der Person führt, ist wesentlich
mit den Begriffen der Heteronomie, der Autonomie und einer von
dieser noch einmal unterschiedenen Freiheit verbunden. Für das Sta-
dium der Heteronomie steht der homerische Mensch als »Schauplatz
eines Wirkens von Mächten, über die er selbst nichts vermag« 5. He-
teronomie aber kann auch die Folge sein der Manipulation durch Re-
den, die aus Platons Sicht im Sinne des Kampfes für die Autonomie
des Menschen unabhängig von der gewählten Richtung der Be-
einflussung abzulehnen ist:
Die Rhetorik ist die Kunst, den Schein von Wahrheit zu erzeugen und
damit Menschen zu dem zu bewegen, was sie nicht wollen würden,
wenn sie die Wahrheit wüßten, zu dem also, was sie nicht wirklich
wollen. Nur, wer weiß, was er tut, tut, was er will. Und wenn Plato
aus seiner Stadt auch die gottbegeisterten Dichter vertreibt, so des-
halb, weil sie, auch wenn sie die Wahrheit sagen, nicht als Wissende
reden, sondern weil sie von einer Macht ergriffen wurden. Sie selbst
verfügen über kein Kriterium, um zu beurteilen, wohin diese Macht
sie führt. Weil das, was sie sagen, nicht ihre Rede ist, können sie diese
Rede auch nicht dem Scheidewasser des sokratischen Dialog[s] aus-
setzen, der die Reden auf ihre Wahrheit hin prüft. 6
Aus Platons Sicht führt zur Autonomie nur das Wissen der Wahrheit,
zu der der Mensch durch die Vernunft gelangt. »Autonomie heißt
Vernunftherrschaft. Die Vernunft aber ist das Gemeinsame, sie ist
das Organ der allen gemeinsamen Wahrheit. Das Einzelne, das Par-

5 Spaemann, Personen (1996), 27.


6
Ebd.

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8. Ontologie der Person

tikulare – insofern es dem Allgemeinen, der Idee entgegengesetzt


ist –, ist das Unwesentliche, Nichtige.« 7 Es wird also klar getrennt
zwischen dem Seelischen, das den Menschen vereinzelt und ihn mit
dem Tier verbindet, und dem Geistigen, in dem die individuelle Ver-
schiedenheit aufgehoben ist. Dass somit aus dem Wissen des Guten
für Platon notwendig das Tun des Guten folgt, bedeutet, wie oben im
Zusammenhang mit dem platonischen Intellektualismus dargelegt
wurde, 8 dass die Verkehrtheit von Handlungen sich immer nur aus
Unwissenheit erklären kann:
Die Vernunft ist das Organ des Allgemeinen. Wo sie regiert, ist der
Mensch frei. Aber warum regiert sie in vielen Menschen nicht? Sie ist
doch zum Regieren da. Die Antwort: »Weil der Mensch nicht will«, ist
bei Plato sinnlos. Jeder Mensch will das für ihn Gute. Und das für den
Menschen Gute ist nur das »Gute selbst«. Wenn er dies nicht will,
dann nur, weil er es nicht kennt. Warum kennt er es nicht? Hier be-
ginnt sich die antike Philosophie im Kreis zu drehen. 9
Eine letzte Steigerung des platonischen Autonomieideals, die durch
die Gleichsetzung von Weisheit und Einsicht in die Notwendigkeit an
den Punkt des dialektischen Umschlags zurück in Heteronomie ge-
langt, kann in der Philosophie der spätantiken Stoa gesehen werden:
»Es ist der Weise, und nur der Weise, der zur Freiheit gelangt.« 10
Dieser überwindet die »Partikularität der eigenen Natur« 11 durch
eine »universale oikeiosis, eine Identifikation des Ich mit dem Ganzen
der Welt« 12. Für Platon und in gesteigerter Form für die Stoa gilt, dass
die Autonomie des Weisen nicht in einem Akt der freien Entschei-
dung wurzelt, sondern im Wissen des Guten bzw. in der Erkenntnis
der Notwendigkeit. Das letzte Regulativ ist das Streben nach εὐδαι-
μονία, das selbst nicht mehr in Frage gestellt werden kann, wobei
allerdings die Feststellung, dass dies nicht möglich ist, bereits von
einem Standpunkt erfolgt, der den antiken Horizont transzendiert
hat.

7 Spaemann, Personen (1996), 28.


8 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompro-
miss, 435–445.
9 Spaemann, Personen (1996), 29.

10
Ebd. 212.
11 Ebd. 213.

12
Ebd. 214.

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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹

Den Bereich der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, sah die antike
im Mittelalter fortwirkende Tradition in dem Spielraum, den das Wol-
len von Zwecken bezüglich der Mittel eröffnet. Eudaimonia wurde als
»letzter Zweck« verstanden, aber dieser Zweck nicht als Gegenstand
einer möglichen Wahl. Ihn wollen wir vielmehr »von Natur«. Aber er
eröffnet einen Spielraum, der prinzipiell durch keine Nutzenfunktion
eingrenzbar ist, weil nämlich die Wahl der »Mittel« und die Interpre-
tation des Zweckes hier in eines fallen. Und in dieser Wahl entscheiden
wir zugleich darüber, wer wir sind. Oder sollen wir sagen: in ihr zeigt
es sich, wer wir selbst sind?
Die antike Philosophie hat diese Frage nie klar gestellt. Denn das
Stellen dieser Frage führt hinter den Begriff der physis als eines onto-
logisch Ersten zurück. 13
Aus antiker Sicht gibt es keine innere Distanz zur φύσις, also zur
eigenen Natur. Das Wirken der Vernunft ist unmittelbarer Ausdruck
der Teleologie der menschlichen Natur. 14 Die neue Erfahrung und
damit die Entdeckung einer solchen Distanz bezeichnen den Um-
bruch, um den es im Folgenden gehen wird. Als erstes Zeugnis des
›Ausbruchs‹ aus der geschlossenen Welt des antiken Denkens ver-
weist Spaemann auf ein Wort des Apostels Paulus, in dem dieser Be-
zug nimmt auf die stoische Weisheit: »›Wenn ich alle Weisheit hätte‹,
so schreibt er, ›wenn ich meine Habe den Armen austeilte und meinen
Leib zum Verbrennen hingäbe, hätte aber die Liebe nicht, so nützte es
mir nichts.‹« 15 Entscheidend für den zentralen Gedanken Spaemanns
ist es, den Perspektivenwechsel zu verstehen, der hier stattgefunden
hat. Paulus akzentuiert mit dem Begriff der Liebe gegenüber der
stoischen Weisheit eine Distanzierung von der eigenen Natur, die
dem antiken Denken fremd war und in einer inneren Umkehr be-
steht:

13
Spaemann, Personen (1996), 217.
14 Das Verständnis der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur
wurde von Spaemann als der Gedanke bezeichnet, »der die Philosophie konstituiert«.
– Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, und hier Ab-
schnitt 6.2.2, Der Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation
und Anerkennung, 389. – Auch die im aristotelischen Verständnis ›von außen‹ –
θύραθεν – in den Menschen hineinragende Vernunft bedeutet keine innere Distanz
zur φύσις, da der νοῦς ποιητικός die unmittelbare Erkenntnis der natürlichen Sub-
stanzen – also vor jeder Teilung der Welt in Subjekt und Objekt – ermöglicht. – Vgl.
Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333.
15 Spaemann, Personen (1996), 213. – Verweis in der Anmerkung auf die Quelle des

Zitats: 1 Kor 13,2 f. – Ebd. 273.

567

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8. Ontologie der Person

Der Stoiker ist zu allem bereit, wozu der Christ bereit ist, er braucht
dazu keine grundsätzliche Umkehr des Willen[s]. Es ist der natürliche
Wille zur Selbstbehauptung, der schließlich, durch die Einsicht ge-
leitet, zur kosmischen Ausweitung des Selbst, zur Überwindung der
Partikularität der eigenen Natur führt. Liebe dagegen im Sinn des
Neuen Testaments, agape, bedeutet nicht eine kosmische Ausweitung
der oikeiosis, der Aneignung der Welt durch das Selbst, sondern einen
radikalen Wechsel des Standpunkts, den Paulus mit dem Begriff des
»Sterbens« bezeichnet. 16 Dieser Wechsel bedeutet, daß der Andere als
der Andere – also nicht als »Teil meiner Welt« – mir ebenso wirklich
und wichtig wird, wie ich mir selbst bin. 17
Wenn also in dieser Zuspitzung die nach außen hin übereinstimmen-
den Handlungen des Stoikers und des Christen Ausdruck zweier un-
terschiedlicher innerer Haltungen sein können, muss noch einmal
nach der neuen Dimension gefragt werden, um die die antike Welt-
sicht erweitert wurde und durch die eine ihr unbekannte Differenzie-
rung in das Verhältnis des Menschen zur Welt hineingetragen wurde.
Die Antwort auf diese Frage muss ansetzen an der oben dargelegten
Bedeutung der Vernunft für die Antike als Organ des Allgemeinen.
Der fundamentale Umbruch zwischen Antike und Neuzeit zeigt sich
in der reflexiven Wendung des Denkens auf sich selbst und damit in
der Verwandlung der vormals allgemeinen Vernunft in ein indivi-
duelles Organ und dem zu ihr komplementären Hervortreten des
transzendenten Anderen:
Hier gibt es nicht eine universale oikeiosis, eine Identifikation des Ich
mit dem Ganzen der Welt, sondern statt dessen die Beziehung zu
einem unabänderlich Anderen. Und für diese Beziehung gibt es zwei
aufeinander in keiner Weise reduzierbare Möglichkeiten: die der
Selbstbehauptung und die der Selbsttranszendenz. Im einen Fall be-
hauptet der Mensch seine Zentralstellung, von der aus sich alle Be-
deutsamkeitsstrukturen funktional herleiten lassen, im anderen Fall
erkennt er an, daß es ein anderes oder viele andere Bedeutsamkeits-
zentren gibt, die sich nicht ineinander integrieren lassen und zu denen
er sich doch ebenso affirmativ wie zu sich selbst verhalten kann. 18
Im christlichen Kontext nahm die so entstandene Alternative die
Form von Gottesliebe oder Selbstliebe an: amor Dei usque ad con-

16 Spaemann verweist in der Anmerkung auf: Vgl. z. B. Kol 3,3. – Spaemann, Per-
sonen (1996), 273.
17 Ebd. 213.

18
Ebd. 214.

568

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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹

temptum sui oder cor curvatum in se ipsum, wie es bei Augustinus


bzw. in der augustinischen Tradition heißt. 19 Die Kluft zwischen An-
tike und Neuzeit, die sich in der Entstehung dieser Alternative aus-
drückt, besteht darin, dass es zwischen diesen beiden Möglichkeiten
keine Abwägung mehr gibt: »Die fundamentale Entscheidung darü-
ber, welcher der beiden Motivationen wir folgen, ist nicht eine ›Wahl‹.
Um zu wählen, bedarf es eines Grundes.« 20 Eine begründete Wahl
setzt den einheitlichen Raum der allgemeinen Vernunft voraus, des-
sen Überwindung der Entstehung der Alternative erst zugrunde liegt.
»Erst bei Augustinus wird klar ausgesprochen, daß es jenseits der
beiden amores nicht noch ein Drittes gibt, aus dem sich die Entschei-
dung zwischen den beiden Willensrichtungen ableiten ließe.« 21 Die
fundamentale Entscheidung zwischen den beiden amores muss also
in einer Dimension wurzeln, die die individuelle Vernunft transzen-
diert.
An dieser Stelle sollte, um die Bedeutung des Umbruchs, um den
es hier geht, weiter zu klären, der Bezug hergestellt werden zum vo-
rangegangenen Kapitel und zu Spaemanns »Versuch über Ethik«.
Den zentralen Begriff des Wohlwollens entwickelt Spaemann dort
ausgehend von dem als Erwachen zur Wirklichkeit interpretierten
Sichtbarwerden des ›bewandtnislosen Umwillens‹ des Menschen. 22
Dieses Hervortreten des Selbst bleibt als Ereignis eines Richtungs-
wechsels ambivalent und offen für zwei gegensätzliche Deutungen,
die nihilistische aus der Perspektive des Triebhangs und die den Be-
wandtniszusammenhang transzendierende, durch die die Wirklich-
keit des Anderen vermittelt im ›Bild‹ zu einem eigenen Zentrum der
Bedeutsamkeit wird. Das philosophische Organisationsprinzip von
»Glück und Wohlwollen« ist die als Einheitspunkt von Ethik und
Ontologie aufgefasste Wahrnehmungsevidenz. Zwischen den beiden
Deutungen gibt es keine Wahl, für die wieder Gründe angeführt wer-
den könnten; es gibt nur eine primäre Entscheidung zwischen der
Wahrnehmung von Selbstsein auf der einen Seite und dem Verschlie-
ßen der Augen vor diesem auf der anderen. Eine neuerliche Umkehr
aus dieser Abwendung heraus verdankt sich immer einer Befreiung
von außen, der eine innere Bereitschaft entgegenkommen muss. Im

19 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 214–215.


20
Ebd. 216.
21 Ebd. 218.
22
Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.

569

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8. Ontologie der Person

Sinne einer solchen Bereitschaft wurde der kantische Imperativ der


praktischen Vernunft als bewusste Umkehr durch eine sekundäre
Entscheidung verstanden. Dieser zielt damit auf die Wiederherstel-
lung der in der Wahrnehmungsevidenz gegebenen Perspektive, die
darum dem Imperativ immer schon fundierend vorausgeht. Die phi-
losophische Begründung dieses Ausgangspunktes wurde, wie ge-
sehen, in »Glück und Wohlwollen« ersetzt durch den Verweis auf
den Sündenfallmythos, aus dem der Gedanke eines ursprünglichen
Erwachtseins des Menschen abgeleitet wurde. Nach der hier vor-
gelegten Interpretation ist dies die Stelle, an der Spaemanns »Versuch
über Ethik« über seine Grenzen hinausweist und nach einer ontolo-
gischen Argumentation verlangt, die nun in »Personen« entfaltet
wird. An die Stelle der Begründungsfunktion des Mythos tritt nun
eine hermeneutische Deutung der geschichtlichen Entwicklung des
menschlichen Geistes, die darauf abzielt, den zentralen Gedanken
der Wahrnehmungsevidenz in ein ontologisches Koordinatensystem
einzuordnen. Für das Verständnis des entscheidenden Fortschrittes
der Argumentation, der in »Personen« zu finden ist, muss im Folgen-
den die ontologische Bedeutung des zentralen hermeneutischen Be-
fundes entwickelt werden.
Spaemann bezieht sich auf den Begriff des Herzens, der »in der
Geschichte der Philosophie als Sitz der Seele, des Lebens, des Denk-
und Gedächtnisvermögens« 23 gilt und im Neuen Testament »die Be-
deutung eines den Menschen verborgenen, nur Gott offenbaren Zen-
trums, in dem das innerste Wesen der Person beschlossen liegt« 24,
gewinnt. Das Herz – καρδία – wird mit dem Geist Gottes in Bezie-
hung gesetzt 25 und damit zur Instanz jener fundamentalen Entschei-
dung zwischen den beiden amores, die den individuellen Horizont
transzendiert:
Im Unterschied zur Vernunft, die per definitionem vernünftig, aber
manchmal eben unaufgeklärt und dann zu schwach zur Herrschaft ist,

23 Biesterfeld, Herz, in: HWPh III, col. 1100.


24 Ebd. 1104.
25 Vgl. z. B. Rö 1,21: »Denn obwohl sie von Gott wußten, haben sie ihn nicht als Gott

gepriesen noch ihm gedankt, sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedan-
ken, und ihr unverständiges Herz ist verfinstert.«, 2 Ko 1, 21–22: »Gott ist’s aber, der
uns fest macht samt euch in Christus und uns gesalbt / und versiegelt und in unsre
Herzen als Unterpfand den Geist gegeben hat.«, Gal 4,6: »Weil ihr nun Kinder seid,
hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber
Vater!«

570

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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹

regiert das Herz immer, aber es entscheidet selbst, von wem es sich
regieren lassen will. Aufgrund wovon entscheidet es? Aufgrund seines
Soseins, seiner »Natur«, für die es nichts kann? Nein, das Herz in
diesem Verständnis ist nicht Natur. Es gibt kein Sosein, keine qualita-
tive Bestimmtheit, die der Grund für die Abwendung vom Guten wä-
re, für die Liebe zur Finsternis. Das Herz ist grundloser Grund in
einem Sinn, für den es in der Antike kein gedankliches und begriff-
liches Äquivalent gibt. Die Identität des Herzens liegt tiefer als alle
qualitative Bestimmtheit. Was hier zum Ausdruck kommt, ist eine
anthropologische Entdeckung, weil es einer Erfahrung entspricht. 26
Dass das Herz tiefer als alle qualitative Bestimmtheit liegt, unter-
streicht erstens, dass es nicht Natur ist, sondern gerade eine Distanz
zu ihr ausdrückt. Das Herz wird dabei zweitens nicht zu einer neuen
Entität als Natur vor der Natur, sondern bleibt als grundloser Grund
ein Mittleres zwischen der Natur und dem Anderen. Drittens kann es,
wenn es einmal entdeckt ist, nicht nicht entscheiden, denn auch das
cor curvatum in se ipsum hat eine Entscheidung getroffen.
Dieser Begriff des Herzens ist nun der Begriff, der dem späteren der
Person zugrundeliegt. Er bedeutet so etwas wie die Entdeckung der
Person. Das wird noch unterstrichen dadurch, daß die Entscheidung
zwischen gut und böse, zwischen Licht und Finsternis nicht eine Ent-
scheidung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist,
die als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt, so daß der
johanneische Christus die eigentlich Sünde darin sieht, »daß sie nicht
an mich glauben«, und an anderer Stelle sagen kann: »Wenn ich nicht
gekommen wäre […], so hätten sie keine Sünde.« 27 Die Erkenntnis der
Wahrheit wird als personaler Akt des »Glaubens« gedacht. Die Wahr-
heit selbst erscheint nicht als das überindividuell Allgemeine, sondern
als konkretes Antlitz eines individuell Anderen. 28
Das Herz bedeutet insofern die Entdeckung der Person, als der Um-
bruch vom Verständnis der Vernunft als Organ des Allgemeinen
durch die reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz
zu einer personalen Vernunft führt, der ein gewandeltes Verhältnis
zur Wirklichkeit entspricht. Da dieser Gedanke nach der hier vor-
gelegten Interpretation als das gedankliche Zentrum von Spaemanns

26 Spaemann, Personen (1996), 29–30.


27 Kürzung des Zitats so in Spaemanns Text. – Vgl. Joh. 15,22: »Wenn ich nicht ge-
kommen wäre und hätte es ihnen gesagt, so hätten sie keine Sünde; nun aber können
sie nichts vorwenden, um ihre Sünde zu entschuldigen.«
28
Spaemann, Personen (1996), 30.

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8. Ontologie der Person

Personenphilosophie bezeichnet werden kann, muss seine Bedeutung


weiter entfaltet werden. Es geht um eine grundlegende Verwandlung
des Verhältnisses von menschlicher Individualität und vernünftiger
Allgemeinheit durch den Umbruch vom antiken zum neuzeitlichen
Denken:
Der Gegensatz Allgemeinheit – Individualität oder auch Klasse –
Element läßt zwar bei Plato für einen individuellen Menschen die
Möglichkeit offen, sich über seine bloße Individualität, sein bloßes
»Element-einer-Klasse-sein« zu erheben. Er kann das Wesen, das All-
gemeine selbst denken und so seine Partikularität überwinden. Was
Plato nicht denkt, ist, daß derjenige, der sich selbst »allgemein macht«,
damit zu einer höheren Weise des Seins kommt, als es das Allgemeine
selbst ist. Die in einem gerechten Menschen realisierte und konkreti-
sierte Gerechtigkeit ist mehr als die Idee der Gerechtigkeit, und der
Mensch, der für sein Vaterland stirbt, ist mehr als sein Vaterland. Als
Individuum ist er nur Teil seines Volkes. Aber indem er dieses Teilsein
realisiert, ist er eine Totalität, der gegenüber das Volk nur eine Abs-
traktion ist. Hegel hat hierfür den Begriff des »Einzelnen« bereit-
gestellt, der, weil er das Allgemeine als solches in sich aufgenommen
hat und realisiert, über dem Gegensatz von Besonderem und All-
gemeinem steht. Personen sind Individuen. Aber nicht so, daß sie
»Fälle« eines Allgemeinen sind, sondern so, daß sie als die jeweiligen
Individuen, die sie sind, auf individuelle, unverwechselbare Weise das
Allgemeine selbst sind. Sie sind nicht Teile einer übergreifenden
Ganzheit, sondern selbst Totalitäten, im Verhältnis zu denen alles Teil
ist. 29
Die ›höhere Weise des Seins‹, von der hier die Rede ist, also das ›Per-
sonsein‹, stellt im spezifischen Sinn eine Aktualisierung dar, die auf-
grund der anthropologischen Entdeckung der Person möglich wird.
Das bedeutet, dass diese Entdeckung und der durch sie initiierte Um-
bruch die Bedingungen der Möglichkeit jener Aktualisierungen des
antiken Denkens sind, die seit den 80er Jahren ein Hauptthema von
Spaemanns Philosophieren sind und die hier noch einmal knapp ins
Gedächtnis gerufen werden sollen. Die aristotelische Rede vom Sein
lässt in Bezug auf zentrale Begriffe wie οὐσία und εἶδος eine logisch-
ontologische Doppeldeutigkeit erkennen, die eigentlich eine Inter-
ferenzerscheinung zwischen dem neuzeitlichen, vom Subjekt aus-
gehenden Paradigma des Rezipienten und dem rezipierten antiken
Paradigma ist, dem diese Differenz von Subjekt und Objekt noch ver-

29
Spaemann, Personen (1996), 28–29.

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8.3.1 Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹

schlossen war. Um denken zu können, was auf eine uns verschlossene


Weise Aristoteles gedacht hat: Substantialität bzw. Sein, bedarf es
unter der Bedingung eines personalen Verhältnisses zur Wirklichkeit
der Eröffnung eines Jenseits des Denkens. Ontologie kann keine reine
Begriffswissenschaft mehr sein, da unter der Bedingung des Aus-
gangs vom Subjekt das Sein entweder verschwindet oder zu einem
Jenseits des Begriffs wird. Daher kann Spaemann Descartes’ Fort-
schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ als eine Aktualisierung der aristote-
lischen Rede vom Sein interpretieren, wobei der verborgene Hinter-
grund dieser Aktualisierung erst hervortritt, wenn die Entdeckung
der Person als Bedingung ihrer Möglichkeit erfasst wird. Erst die mit
der Entdeckung sich ereignende reflexive Wendung auf die Selbst-
transzendenz lässt ein Jenseits des eigenen Horizonts hervortreten,
auf das das Denken wieder ausgreifen kann. Auf neue Weise fügt sich
in diesen Kontext nun auch die Aktualisierung ein, um die es in
»Glück und Wohlwollen« wesentlich geht, nämlich das Wohlwollen
als aktualisierte εὐδαιμονία. Nachdem der Gedanke der εὐδαιμονία
unter der Bedingung des Ausgangs vom Subjekt, wie gesehen, das
Denken in Antinomien verstricken musste, stellt das Wohlwollen
jene Realisierung von Selbsttranszendenz dar, durch die mit dem Bild
des Anderen ein Jenseits des eigenen Horizonts erscheint und mit der
Person – wie zuvor mit dem Gedanken des Seins – ein Jenseits des
Denkens gedacht wird: »›Person‹ ist deshalb ebenso wie ›Sein‹ ein
analoger Begriff.« 30 Zur Person führt wie zum Sein aus der Perspek-
tive der Vernunft scheinbar nur ein Sprung. Das Neue des Gedankens
der Entdeckung ist nun, dass sie ein kontingentes geschichtliches Fak-
tum bezeichnet und dass damit das durch die Eröffnung des persona-
len Verhältnisses zur Wirklichkeit gesetzte Jenseits des Denkens von
einem spekulativen in einen hermeneutischen Gedanken verwandelt
wird: Die Entdeckung der Person hat faktisch stattgefunden und den
bleibenden Maßstab personaler Vernunft gesetzt. Die reflexive Wen-
dung auf die im Individuum instantiierte Vernunft entspringt der den
Horizont des Interesses des individuellen Lebewesens transzendie-
renden Offenheit. Dieses Entspringen gibt der personalen Vernunft
ihr Gepräge und erst in ihrer Rückbiegung auf den individuellen
Horizont des Interesses geschieht die Verwandlung in die autonome
Vernunft, von der aus es dann eines Sprungs bzw. einer μετάνοια
bedarf, um zur ursprünglichen Offenheit der personalen Vernunft

30
Spaemann, Personen (1996), 77.

573

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8. Ontologie der Person

zurückzugelangen. Sobald das personale Verhältnis zur Wirklichkeit


entdeckt ist, kann es im Sinne der mit dem Begriff des Herzens be-
zeichneten Zweideutigkeit des Selbstverhältnisses auch subjektivis-
tisch gedeutet und damit der personale Standpunkt solipsistisch zu-
rückgenommen werden. Aus dieser Rückbiegung führt immer nur
ein Sprung im Sinne einer sekundären Umkehr der Richtung heraus.
Durch das kontingente geschichtliche Ereignis der Entdeckung des
Herzens ist aber im Übergang von der Vernunft als Organ des All-
gemeinen zur personalen Vernunft die konstitutive Selbsttranszen-
denz mitgesetzt, durch die allein das Individuum als Person zur Tota-
lität wird und jene höhere Weise des Seins erreicht, von der hier die
Rede war. Auch wenn das personale Verhältnis zur Wirklichkeit je-
derzeit in einen Solipsismus zurückgenommen werden kann, bleibt
das kontingent-faktische Ereignis der Entdeckung möglicher Aus-
gangspunkt einer Ontologie und Philosophie der Person.

8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen


Theologie: Der Akt des Seins

Der erste Schritt der Annäherung an die Entdeckung der Person be-
stand in der Hermeneutik des im Begriff des Herzens sich konkreti-
sierenden neutestamentlichen Ausdrucks der dem antiken Denken
unbekannten Erfahrung, eine fundamentale Entscheidung in Bezug
auf das Verhältnis zur Welt treffen zu müssen. Um von dieser Erfah-
rung zur Entfaltung des Personbegriffs gelangen zu können, bedarf
es, wie Spaemann bemerkt, eines Exkurses in die Theologie:
Die Geschichte des Personbegriffs ist die Geschichte eines Umwegs,
dessen Vergegenwärtigung uns für eine Weile in den Kern der christ-
lichen Theologie führt. Was wir heute »Person« nennen, wäre ohne
die christliche Theologie unbenennbar geblieben und [–] da […] Per-
sonen ja nicht einfach natürliche Vorkommnisse sind – nicht in der
Welt. Das heißt nicht, daß seine Verwendung nur unter bestimmten
theologischen Voraussetzungen sinnvoll ist, wenngleich es denkbar
ist, daß das Verschwinden der theologischen Dimension auf die Länge
auch den Personbegriff wieder zum Verschwinden bringen würde. 31

31
Spaemann, Personen (1996), 26–27.

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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie

Zunächst ist es also wieder ein kontingentes historisches Faktum, dass


die geistige Auseinandersetzung mit dem Personbegriff in der Theo-
logie begann und über Jahrhunderte in ihr fortgeführt wurde, bevor
die anthropologische Reflexion des Begriffs einsetzte. Obwohl, wie
Spaemann betont, ein genuin philosophischer Personbegriff entfaltet
werden kann, 32 muss als Grundlage des Versuchs einer solchen Ent-
faltung zunächst die Vorgeschichte dieses Begriffs in der christlichen
Theologie nachvollzogen werden, um zu klären, welche hier ent-
wickelten Implikationen durch den philosophischen Begriff aufzu-
fangen sind. Oben wurde festgestellt, dass die fundamentale Ent-
scheidung des Herzens im christlichen Kontext »nicht eine Entschei-
dung gegenüber einer Idee, sondern gegenüber einer Person ist, die
als unhintergehbare Offenbarung der Wahrheit gilt«, und dass die
»Erkenntnis der Wahrheit […] als personaler Akt des ›Glaubens‹ ge-
dacht« 33 wird. Die Aussagen des Neuen Testaments über die Gottes-
sohnschaft Christi und die Erscheinung des Heiligen Geistes stellten
die frühchristlichen Theologen, die »bedingungslose Monotheisten«
waren, vor die »Aufgabe, die Einzigkeit Gottes so zu denken, daß sie
sich mit einem solchen Unterschied von Vater, Sohn und Pneuma als
einem innergöttlichen Unterschied vereinbaren ließ« 34. Die Lösung
dieser Paradoxie, zu der »Worte Jesu im Johannesevangelium« 35 ver-
helfen können, wurde von den frühchristlichen Theologen entwickelt
durch eine Synthese der jüdischen Schöpfungstheologie und der neu-
platonischen Philosophie, insbesondere Plotins Emanationslehre. Um
den grundlegenden Gedankengang wiederzugeben, zitiere ich eine
längere Passage:
An diesen Gedanken einer ewigen Emanation aus dem Einen knüpfen
offenkundig die christlichen Denker an, vor allem die des griechischen

32
S. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität,
583–599. – Auf die Einschränkung, die Spaemann am Ende der zitierten Textstelle
macht, wird zurückzukommen sein in Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personen-
philosophie zur Religion, 643–650.
33 Spaemann, Personen (1996), 30.

34 Ebd. 33.

35 Ebd. – Vgl.: »›Ehe Abraham war, bin ich.‹ Dieses ›Ich‹ Jesu wird im Prolog des

gleichen Evangeliums identifiziert mit dem Logos, vom dem es heißt: ›Im Anfang
war der Logos, der Logos war bei Gott und Gott war der Logos.‹ Und von diesem Logos
heißt es dann, er sei ›Fleisch‹ geworden.« – Ebd. – Spaemann verweist in Fußnoten auf
die Stellenangaben im Johannesevangelium: Joh. 8,58, Joh. 1,1 und Joh. 1,14. – Ebd.
266.

575

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8. Ontologie der Person

Ostens, Origenes und die Kappadokier. Aber in immer neuen Anläu-


fen geht die Bemühung dahin, diesen Gedanken tiefgreifend zu modi-
fizieren, und zwar so, daß eine radikale Zäsur angesetzt wird zwischen
den ersten beiden Emanationen und allen folgenden bis hin zur Mate-
rie. Diese folgenden werden nicht mehr als Emanationen verstanden,
die mit logischer und ontologischer Notwendigkeit eine aus der ande-
ren hervorgehen, sondern sie werden nun im Sinne der biblischen
Genesis als »Schöpfung« bezeichnet. Sie entspringen einem freien,
kontingenten Entschluß Gottes. Das Absolute, das Eine hat sich in
Freiheit, wenn auch von Ewigkeit her, entschlossen. Die Metapher
der Emanation, des Ausfließens aus der Gottheit, wird ersetzt durch
die des Herausrufens aus dem Nichts. Die Gottheit, um als Subjekt
von so etwas wie einer freien Entschließung gedacht werden zu kön-
nen, darf nun andererseits nicht als ein Eines gedacht werden, das in
sich keine Selbstvermittlung enthält. Sofern es so gedacht wird, geht
nämlich das Andere des Einen mit Notwendigkeit unmittelbar aus
diesem hervor. Der Logos ist diese erste Emanation, die es überhaupt
erlaubt, das Eine, als das Eine, zu wissen. Ohne sie kann das Eine sich
selbst nicht wissen. Aber nach Plotin weiß sich das Eine auch gar nicht.
Sein Gewußtwerden fällt bereits außerhalb seiner. Die christlichen
Denker denken das Eine als Gott, das heißt, sie denken es so, daß es
die Vermittlung in sich selbst hat, daß es also sich selbst weiß und sich
selbst affirmiert. Das aber bedeutet, sie denken die beiden ersten Ema-
nationen, die nicht den Charakter der freien Setzung, sondern den der
notwendigen Selbstvermittlung haben, nicht als Abstieg zu jeweils
geringerer Mächtigkeit, sondern als solche, in denen das Eine voll-
kommen bei sich bleibt, indem es das Andere seiner selbst in sich
selbst hat. Logos und Pneuma sind sozusagen dasselbe Eine noch ein-
mal, also nicht Instantiierungen des Oberbegriffs Gott, von dem es
nun drei Exemplare, also drei Götter geben würde. Das würde dem
biblischen Monotheismus widersprechen und den Begriff des Einen
aufheben. 36
Um den Gedanken der Schöpfung aus dem Nichts, die im Sinne von
Gottes Allmacht nicht aus einer Notwendigkeit, sondern dem freien
Willen Gottes hervorgehen muss, denken zu können, bedarf es einer
vorausliegenden Selbstvermittlung Gottes, für die der Gedanke der
Emanation bemüht wird. Logos und Pneuma sind als notwendige
Selbstvermittlung Gottes die ersten beiden Emanationen aus dem
Einen, die zusammen auch in der Selbstvermittlung eine Einheit
bilden. Die Zäsur nach der zweiten Emanation, aufgrund deren die

36
Spaemann, Personen (1996), 33–34.

576

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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie

weiteren Emanationen aus einem kontingenten Entschluss Gottes


hervorgehen, besteht wesentlich im Übergang von der notwendigen
Selbstvermittlung zur kontingenten Schöpfung. Die in diesem Ge-
danken enthaltene Paradoxie war bereits das Thema von Spaemanns
frühem Aufsatz »Zur Frage der Notwendigkeit des Schöpfungs-
willens Gottes« 37, in dem er zur Bezeichnung der Differenz von
menschlicher und göttlicher Perspektive den Begriff der necessitas
ex suppositione einführte: Die Schöpfung ist uns nur als kontingentes
Faktum gegeben; unter der Voraussetzung aber, dass Gott diese
Schöpfung will, muss sie als ›bedingt notwendig‹ gedacht werden.
Das ›ex suppositione‹ drückt, wie im dritten Kapitel bemerkt, 38 eine
Teilhabe an der göttlichen Perspektive seitens eines Wesens aus, das
sich selbst als kontingentes Sosein erlebt. Ein genuin philosophischer
Personbegriff wird diesen Gedanken der Teilhabe als nicht kontingen-
te Wahrnehmung kontingenten Seins zu denken versuchen müssen.
Hier soll die Aufmerksamkeit zunächst weiter auf die Auflösung der
genannten Paradoxie der Einheit Gottes und seiner Selbstvermittlung
gerichtet werden. Es ist noch einmal die Frage zu stellen, wie Gott
sich durch die ersten beiden Emanationen verdreifachen und gleich-
zeitig einer bleiben kann:
Die drei »Hypostasen« der Gottheit aber, wie die Griechen sagten,
sollten bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtig-
keit des Einen erlaubt keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere
Differenzierung, aufgrund deren diese Einheit nun als Prozeß der
Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung gedacht wird,
mit anderen Worten: als Leben. Das Eine ist nicht das Unaussprechli-
che, das bereits aufgehört haben muß, das Eine zu sein, wenn es aus-
gesprochen wird. Es wird nun gedacht als sich selbst aussprechend.
Diese innere Differenzierung darf nicht als qualitative gedacht wer-
den, so als seien die Hypostasen voneinander verschieden. In diesem
Fall würde ja der Ursprung sich im Logos nicht wirklich adäquat er-
kennen und aussprechen. Der Logos wäre irgendwie anders als der,
dessen Logos er ist. Im christlichen Verständnis ist er nicht anders,
sondern nur ein anderer, vom Vater nur unterschieden durch die
Asymmetrie der Relation: der Vater zeugt den Sohn, nicht der Sohn
den Vater. Im übrigen ist die Verschiedenheit eine rein numerische. 39

37
Vgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131.
38 Vgl. ebd. 129.
39
Spaemann, Personen (1996), 34–35.

577

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8. Ontologie der Person

Das Mittel, durch das es möglich wird, die numerische Unterschie-


denheit der qualitativ mit dem Einen übereinstimmenden ersten bei-
den Emanationen zu denken, ist der abstrakte Begriff der Hypostase,
»der soviel sagt wie ›selbständig Existierendes‹« 40. Im lateinischen
Westen wurde dieser Begriff von Tertullian »durch den weniger abs-
trakten und spekulativen der Person ersetzt« 41, der durch die spezi-
fische Verwendung seitens der Grammatiker, bei der »von jeder Ver-
schiedenheit der Personen« abgesehen wird und vom selben
Menschen »einmal in der ersten, ein andermal in der zweiten oder
dritten Person die Rede ist«, besonders geeignet erschien.
»Ein Wesen, drei Personen« wird schließlich die orthodoxe christliche
Formel; und zwar ein Wesen nicht im Sinn der »zweiten usia« des
Aristoteles, also im Sinn einer allgemeinen mehrfach instantiierten
Wesenheit, die gegen ihre Instantiierungen und erst recht gegen deren
Zahl gleichgültig ist, sondern im Sinn einer »ersten usia«, einer ein-
zigen »individuellen« Wesenheit, die in der Weise existiert, daß die sie
realisierenden »Personen« sie, diese Wesenheit, in einer bestimmten
Ordnung einander übergeben und in diesem Prozeß des »Sich-selbst-
gebens und -empfangens« ihre Wirklichkeit haben. Die Differenz der
Person zu ihrem Sosein, ihrer Wesenheit, hängt unmittelbar damit
zusammen, daß eine so verstandene Person nur in Relation zu anderen
Personen, also im Plural gedacht werden kann. 42
Die Formel von Gott als Wesen in drei Personen enthält mit dem
Gedanken der inneren Differenz der Personen zu ihrem Sosein und
dem der konstitutiven Pluralität wesentliche Implikationen, die von
einem genuin philosophischen Personbegriff aufgefangen werden
müssen. Noch näher an den anthropologischen Personbegriff heran
führt die Auseinandersetzung mit der zweiten Paradoxie, die die
frühchristlichen Theologen beschäftigte, nämlich die Auffassung
von »Jesus Christus als Inkarnation des ewigen göttlichen Logos und
zugleich als Menschen im wahren und eigentlichen Sinne« 43. Den
christologischen Streit zwischen Monophysiten und Dyophysiten be-
endeten die griechischen Kirchenväter durch die Formel, »Jesus
Christus habe zwei ›Naturen‹, die göttliche und die menschliche.« 44

40 Spaemann, Personen (1996), 35.


41 Ebd.
42
Ebd. 36.
43 Ebd.
44
Ebd.

578

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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie

Der göttliche Logos verhält sich also als Person einerseits zur gött-
lichen Wesenheit, andererseits noch einmal zu einer menschlichen
Natur:
Daß er ganz Mensch ist, mit menschlicher Seele, menschlichem Geist
und menschlichem Willen, wird nun so ausgedrückt, daß er eine
menschliche »Natur« besitzt. Dem zum Personbegriff komplementä-
ren Begriff des Wesens, der usia in der Trinitätslehre, entspricht nun
in der Christologie der Begriff der Natur, der physis.
Physis ist die usia, das Wesen endlicher Dinge, das heißt der-
jenigen Dinge, die dem Werden und Vergehen unterworfen sind. 45
Der Begriff der Natur als »allgemeine Form oder Wesenheit, durch
die die spezifische Differenz dieser Art von Substanz zu allen anderen
festgelegt ist« 46, diente im 6. Jahrhundert »Boethius zu seiner Defini-
tion des Personbegriffs, die für ein Jahrtausend maßgeblich bleiben
sollte. Danach ist Personalität die spezifische Weise ›rationaler Na-
turen‹, sich individuell zu konkretisieren: ›Persona est naturae ratio-
nabilis individua substantia‹.« 47 Spaemann weist darauf hin, dass
Boethius in dieser Definition »›substantia‹ offensichtlich im Sinn
von ›hypostasis‹ in Differenz zur Wesenheit, die er ›natura‹ nennt« 48,
verwendet. 49 Wesentlich ist, dass der »Sinn der Definition bei
Boethius […] ein ontologischer« 50 ist, der Begriff der Person bezeich-
net Selbstsein, das »in keiner möglichen Beschreibung adäquat dar-
gestellt werden kann« 51. Durch die christologische Vermittlung ent-
wickelte sich so aus einem abstrakten Begriff, der zunächst zur
Lösung des theologischen Problems der Trinität gebildet wurde, der
anthropologische Personbegriff, der offenbar gerade dadurch das
menschliche Selbstverständnis treffen kann, dass er keinen qualitati-
ven Bestand, sondern vielmehr eine erlebte Distanz zu diesem aus-

45
Spaemann, Personen (1996), 37.
46 Ebd. 38.
47
Ebd. – Spaemann verweist in der Anmerkung auf folgende Quelle des Zitats:
A. M. S. Boethius: Contra Eutychen et Nestorium, cap. 3,74. – Ebd. 265–266.
48 Ebd. 38.

49 Vgl.: »Was er mit Substanz meint, wird im gleichen Text dadurch expliziert, daß er

zwei Seiten später in der gleichen Definition ›substantia‹ durch ›subsistentia‹ ersetzt.
Subsistentia aber ist gleichbedeutend mit hypostasis.« – Ebd.
50 Ebd.

51
Ebd. – Vgl. zur Bedeutung der Definition des Boethius: Bexten, Was ist mensch-
liches Personsein?, Abschnitt 3.6.3, Boëthius’ Herleitung des Wortes ›persona‹, 132–
135.

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8. Ontologie der Person

drückt, und deshalb in der Lage ist, das neu Entdeckte, das mit dem
Begriff des Herzens gefasst wurde, zu bezeichnen.
Insofern die Person also eine Distanz zu ihrer Natur bezeichnet,
unterscheidet sich dieser Begriff grundlegend von dem, was für die
klassische Ausprägung der antiken Philosophie in der aristotelischen
Metaphysik ein Begriff sein kann. 52 Am Ende von Teilkapitel 8.2 wur-
de dieser Begriff als analoger spezifiziert. Zur Konkretisierung dieser
Spezifikation muss nach der Modifikation des begrifflichen Instru-
mentariums der klassischen Metaphysik gefragt werden, die notwen-
dig wurde, um einen Begriff wie den der Person denken zu können.
Der Wandel, um den es hier geht, ist wiederum wesentlich verbunden
mit dem Gegensatz antiker und christlicher Gottesvorstellungen:
Die »erste Substanz«, also das Einzelding, ist für Aristoteles das Sei-
ende schlechthin. Die »Form«, die es zu dem macht, was es ist, macht
auch, daß es ist. »Die Form gibt das Sein«, heißt es noch bei Thomas
von Aquin. 53 Sein heißt, wie auch bei Platon, wesensmäßig struktu-
riert sein, teilhaben an der Idee. Der platonische Demiurg ist kein
Schöpfer, sondern ein Gestalter. Er überführt das Chaos in geordnete
Formen. Daß ein vollständig so und so bestimmtes Einzelnes noch
einmal in einer inneren Differenz zu seinem Sein stehen, also sein
oder nicht sein kann, das ist ein Gedanke, der erst mit der biblischen
Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts möglich wird. Der Schöp-
fung folgt erst in einem zweiten Schritt die Überführung der amor-
phen Potentialität des »Tohu wa bohu« in Form und Bestimmtheit.

52
Vgl.: »Die Subsistenz in einer Natur ist nicht vom Aspekt des Wirklichseins, der
Existenz, zu trennen. Das Sein einer Person ist das Leben eines Menschen. Leben gibt
es aber nur als wirkliches, nicht als mögliches. Dagegen sind die Arten, auch die Art-
natur ›Mensch‹, mögliche Weisen des Soseins. Aristoteles war noch nicht mit dem
Gedanken der Kontingenz vertraut: Sosein und Dasein standen für ihn nicht in der
ontologischen Differenz, denn die Form, die den Dingen ihr Sosein verleiht, macht für
ihn auch, dass es ist. Das Seiende schlechthin ist für Aristoteles die erste Substanz.
Auf sie beziehen sich Entstehen und Vergehen, die immer nur Gestaltveränderung,
das Wechseln der Form, sein können. Das Fehlen des Schöpfungsgedankens ließ noch
nicht jene innere Differenz erkennen, die sich zwischen einem vollständig bestimm-
ten Einzelding und seinem Sein auftut. Das durch Seele und Leib vollbestimmte indi-
viduelle Wesen Mensch verhält sich für Thomas gegen Sein und Nichtsein noch ein-
mal indifferent. Anders die Person: Sie kann nie den Status des bloß Möglichen
besitzen. Sie hat entweder eine je-jetzige Existenz oder sie ist überhaupt nicht. ›Per-
son‹ nennen wir einen Menschen, sofern er aus dem Bereich des Idealen heraustritt
und als lebendiges Wesen zu existieren beginnt, denn das Wirklichsein der Person ist
immer Leben.« – Stickelbroek, Das cerebrale Subjekt, 211–212.
53 Vgl. Anmerkung Spaemanns: »Forma dat esse.« Thomas von Aquin, De princ. nat.

1 Nr. 339 f. – Spaemann, Personen (1996) 268.

580

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8.3.2 Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theologie

Das »forma dat esse« wird sozusagen noch einmal in Klammern ge-
setzt. Das Ganze aus Materie und Form ist für Thomas von Aquin
noch einmal ideell, eine individuelle Wesenheit. Jedes Individuum be-
sitzt eine solche ideelle Struktur, die sich gegen Sein und Nichtsein
indifferent verhält. Dem entspricht, daß für Thomas von Aquin jedem
Einzelwesen eine göttliche Idee entspricht. Diese Idee ist die Idee
eines Menschen, nicht die einer Person. Denn »Person« nennen wir
diesen Menschen, sofern er außerhalb Gottes, »extra causam«, exis-
tiert. Der Existenz haftet ein Moment unaufhebbarer Faktizität an,
die, wenn sie als geschaffene gedacht wird, dazu nötigt, Gott als Frei-
heit zu denken. 54
Die in der hochmittelalterlichen Theologie durchgeführte Transfor-
mation der aristotelischen Metaphysik, in der die Entdeckung der
Person begrifflich verarbeitet wird, besteht also wesentlich in einer
Verlängerung der klassischen Potenz-Akt-Lehre, durch die die aristo-
telische Form noch einmal in einer inneren Differenz zum Sein und
damit als potentiell gedacht wird. 55 Der Seinsakt wird so ἐπέκεινα
τῆς οὐσίας – jenseits des Wesens – als ein prinzipielles Jenseits des
Begriffs verstanden 56, dessen kognitive Erfassung erst durch die Ent-
deckung der Person möglich geworden ist: »Das Selbstverhältnis der
Person ist Ursprung und Paradigma des Kontingenzgedankens, den
erstmals der islamische Philosoph Avicenna als Differenz von Sosein
und Dasein artikulierte. Personen sind Wesen, die diese Differenz
unmittelbar erleben.« 57 Nur vom personalen Standpunkt als einer
Distanz zur eigenen Natur aus ist Kontingenz im Sinne des Auch-
anders-sein-Könnens wahrnehmbar. Im personalen Standpunkt
nimmt der Mensch damit in gewissem Sinn die Perspektive Gottes
ein. Da die Person – auch die menschliche – nur so gedacht werden
kann, dass sie in ihrem ›Selbststand‹ Gott gegenüber steht, 58 muss

54
Spaemann, Personen (1996), 79–80.
55 Vgl. zum Gedanken der Realdistinktion von esse und essentia bzw. zur Seinsakt-
lehre hier die Abschnitte 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschich-
te, 339, 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 349, 7.2.3, Ordo
amoris und ontologische Verzeihung, 488, u. 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion
des Personbegriffs, 533–534.
56 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 136, 160.

57 Ebd. 81.

58 Vgl.: Das Sein der Person »ist nicht intentionales Sein, Gewusstsein von Gott,

sondern wie das Sein Gottes Selbstsein, das aller Intentionalität zugrunde liegt. Also
nicht ein Traum Gottes. Personen sind Subjekte von Träumen, nicht Objekte. Es ist
Teilhabe am Sein Gottes selbst. Und weil das Sein Gottes selbst als plurales Personsein

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8. Ontologie der Person

Gott selbst als Ursprung der Freiheit gedacht werden, an der der
Mensch als Person partizipiert. Damit sind die wichtigsten Aspekte
der theologischen Vorgeschichte des Personbegriffs nachvollzogen
und die Voraussetzungen für seine genuin philosophische Konkre-
tisierung geschaffen. 59

verstanden wird, steht die endliche Person Gott so gegenüber, wie die göttlichen Per-
sonen einander gegenüberstehen. Und eben dieser Selbststand, eben diese Nichtiden-
tität mit Gott ist Teilhabe am Sein Gottes.« – Spaemann, Person und Wiedergeburt,
25.
59 Ausführlich untersucht die hier nur knapp beleuchtete Umformung der aristote-

lischen Metaphysik im Hochmittelalter Rolf Schönberger in seiner von Spaemann


betreuten, 1983 in München angenommenen Dissertation unter dem Titel »Die
Transformation des klassischen Seinsverständnisses. Studien zur Vorgeschichte des
neuzeitlichen Seinsbegriffs im Mittelalter«. Im Sinne der von Spaemann erwähnten
Einklammerung des ›forma dat esse‹ schreibt Schönberger: »Mit dem neuen Status
der forma als Teil des Wesens ist nun auch ein neuer Status für das Ganze, nämlich das
Wesen, gegeben: […] die forma ist nicht mehr von sich selbst her Seinsgrund; genau
dies hat ihr Aristoteles aber zugeschrieben. Auf dem Hintergrund einer creatio ex
nihilo, der weder eine ewige Materie noch eine ewige Formenwelt vorgegeben ist,
bedarf es einer Ursache unendlicher Mächtigkeit, wie sie nur dem ipsum esse sub-
sistens zukommen darf […]. Dieser Schöpferkraft entstammt auch die forma. […]
Daraus folgt als zweites: Im Verhältnis zu einer seinsstiftenden causa muß auch die
forma noch als passiv, als in Möglichkeit gedacht werden. Die Aktuierung der forma
gründet also zuletzt im Sein: ipsum esse est actualitas omnium rerum et etiam ipsa-
rum formarum. Damit ist eine Dissoziierung von forma und actus ausgesprochen, die
in ihrer Tragweite kaum überschätzt werden kann.« – Schönberger, Die Transforma-
tion des klassischen Seinsverständnisses, 279–280. – Mit Bezug auf die Realdistinkti-
on von esse und quidditas schreibt Schönberger: »Damit hat Thomas von Aquin die
aristotelische Lehre von der Ousia tiefgreifend modifiziert, indem er gleichsam in ihr
selbst eine Differenz ansetzt, die sie bei Aristoteles nicht aufwies. Das wichtigste Mo-
tiv dafür, um es nochmals zu benennen, ist die Integration des Substanzbegriffs in
eine Metaphysik der Schöpfung. Jener kann nur dann kein Fremdkörper bleiben,
wenn die Substanz die Züge ihres Geschaffenseins an sich trägt. Wohl nochmals einen
Schritt weiter weg von Aristoteles tut Thomas mit demjenigen Begriff, der jene Dif-
ferenz fassen soll: Partizipation. Was Aristoteles für eine nichtssagende Ausrede ge-
halten hatte, macht Thomas zum Grundbegriff seines Denkens – allerdings nicht
ohne am Ende auch diesen Begriff wiederum ›aristotelisch‹ zu interpretieren. […]
Wenn das Sein weder eine Resultante verschiedener Wesensinhalte noch ein Moment
an diesen selbst sein soll, dann liegt es nahe, die Differenz als ›Haben‹ zu denken,
zumal dann, wenn die Ursache dieses Habens nicht mehr als statisches Relatum ge-
dacht oder überhaupt im Dunklen bleiben soll, sondern dafür ein dator, ein aktiver
und personaler Grund der Teilgabe angesetzt wird. Dieser muß […] als Koinzidenz
von Sein und Wesen gedacht werden.« – Ebd. 265–266.

582

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

Die folgenden abschließenden Ausführungen zum Thema der Ent-


deckung der Person können nicht einfach kontinuierlich fortführen,
was bisher zur anthropologischen Entdeckung und ihrer Verarbei-
tung in der christlichen Theologie dargelegt wurde. Die Geschichte
der neuzeitlichen Philosophie ist nicht die einer Personenphilosophie,
sondern im Gegenteil eine Geschichte der Destruktion des Person-
begriffs. 60 Was Spaemann im Ausgang des 20. Jahrhunderts in sei-
nem Personen-Buch entwickelt, nimmt zwar eine Vielzahl von Tradi-
tionslinien in sich auf, stellt aber in einem solchen Maß eine originel-
le Synthese dieser Linien dar, dass er in der Gegenwartsphilosophie
als »erratischer Solitär« 61 erscheinen kann. Um im Folgenden eine
Vorstellung von dieser Synthese entwickeln zu können, müssen drei
Gedankenkomplexe zusammengeführt werden: erstens die kritische
Auseinandersetzung Spaemanns mit der neuzeitlichen Philosophie,
die seit dem dritten Kapitel Thema der hier vorgelegten Unter-
suchung seines Werks war; zweitens die sukzessive entwickelte me-
taphysische Konzeption Spaemanns, für die er im Personen-Buch die
Bezeichnung ›metaphysischer Realismus‹ findet; und drittens der im
Gedanken der Entdeckung fundierte Neuansatz des Denkens im
Begriff der Person, der als Schlussstein dient, durch den die meta-
physische Konzeption selbsttragend wird.
Der in Abschnitt 8.3.1 explizierte hermeneutische Deutungs-
ansatz der Entdeckung der Person stellt eine zweite Argumentations-
ebene gegenüber der systematisch orientierten ersten Ebene dar, die
in Teilkapitel 8.2 auf dem Reflexionsniveau des Personenbuchs er-
neut betrachtet wurde und im Konzept des metaphysischen Realis-
mus, in dem nur durch einen Sprung zur Person als Selbstsein zu
gelangen ist, ihre für Spaemann letztgültige Form gefunden hat. In-
sofern auf der hermeneutischen Deutungsebene dieselbe Person
durch die Entdeckung zu einer historischen Faktizität wird, kann
durch das Ineinandergreifen der beiden Argumentationsebenen die
Problematik des Sprungs überwunden werden, wenn es gelingt, die
Person als entdeckte so in die systematisch orientierte Argumenta-
tion einzubinden, dass die historische Faktizität der Entdeckung das
›Metaphysische‹ an Spaemanns Ansatz hermeneutisch fundieren

60 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
61
Cammann, »Ich war ein Chaot«, in: Die Zeit, Nº 19/2012.

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8. Ontologie der Person

kann. Durch ein solches Ineinandergreifen der beiden Argumenta-


tionsebenen müssen gleichzeitig die im letzten Abschnitt dargeleg-
ten, im Bereich der Theologie entwickelten Implikationen des Person-
begriffs – die nicht kontingente Wahrnehmung kontingenten Seins
und die konstitutive Pluralität – philosophisch aufgefangen werden.
Die mit dem Personbegriff verbundene Herausforderung besteht
vor allem darin, dass er sich dem begrifflichen Denken zu entziehen
scheint, wie im Rückgriff auf die Überlegungen zum Seinsakt am
Ende des vorangegangenen Abschnitts gezeigt werden kann. Etwas
in einem Begriff im engeren Sinn zu denken heißt, es als ein Mög-
liches zu denken, insofern seine Denkbarkeit nicht von seiner Ver-
wirklichung abhängig ist. ›Person‹ bezeichnet aber gerade die Ver-
wirklichung eines denkbaren Soseins. Die Person hat eine qualitativ
bestimmte Natur, wobei diese Beziehung als Akt des Seins nicht be-
grifflich denkbar ist. Es gibt daher keine möglichen Personen 62 und
kann auch im engeren Sinn keinen Begriff der Person geben. Eine
philosophische Denkbarkeit kann die Person nicht aus sich selbst,
sondern nur indirekt durch ihre Funktion in einem Zusammenhang
erhalten, der zu ihr in einer korrelativen Beziehung steht. Die Auf-
gabe der folgenden Überlegungen ist daher die Entfaltung desjenigen
Zusammenhangs, in dem die sich entziehende Person dadurch ge-
dacht werden kann, dass ihre Funktion in diesem Zusammenhang
gedacht wird. Das Problem des Sich-Entziehens wird durch die Be-
trachtung dieses Zusammenhangs metonymisch verschoben. In ihm
ist das Sich-Entziehende in seinen Wirkungen präsent, wobei die Per-
son selbst ihre Denkbarkeit als Organ der Wahrnehmung der Wir-
kungen dieses sich Entziehenden erhält. Dies setzt erstens voraus,
dass dieser Zusammenhang, wenn er den Personbegriff fundieren
soll, vor der Person bereits da gewesen und sie in ihn eingetreten sein
muss, und zweitens, dass, wenn es keine potentiellen Personen gibt,
dieser Zusammenhang gleichwohl durch die Entdeckung der Person
verwandelt worden sein muss. Die Funktion der Person muss daher
eine doppelte sein, insofern sie einerseits die reflexive Wendung auf
den ihr voraufgehenden Zusammenhang darstellt und andererseits
das auf diese Wendung folgende Überschreiten dieses Zusammen-
hangs, durch das dieser selbst im dreifachen Hegel’schen Sinn auf-
gehoben, also überwunden, bewahrt und auf eine neue Stufe gestellt
wird. Es muss daher zunächst der der Person voraufgehende Zu-

62
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 78.

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

sammenhang erfasst, zweitens das Eintreten der Person in denselben


vergegenwärtigt und drittens die mit der Person verbundene Ver-
wandlung des Zusammenhangs verdeutlicht werden.
Der Schlüsselbegriff der Spaemann’schen Philosophie ist ›Leben‹.
›Leben‹ bedeutet in seiner metaphysischen Konzeption ein nicht
rekonstruierbares und daher unvordenkliches Prinzip der Selbstent-
faltung von Sein. 63 Lebendiges Sein unterscheidet sich von nicht-
lebendigem durch eine nicht ohne petitio principii rekonstruierbare
Negativität. 64 Im Sinne des angekündigten Versuchs der Entfaltung
eines von einem Sich-Entziehenden konstituierten Zusammenhangs
soll daher die These durchdacht werden, wonach das lebendige Aus-
sein-auf Ursprung jener ontologischen Differenz zwischen Dasein
und Sosein ist, um die es in der Entdeckung der Person geht. Das
Leben auch von außerpersonalen Lebewesen geht nicht in einem qua-
litativ bestimmbaren Sosein auf, sondern ist wesentlich durch eine
innere Differenz zu diesem gekennzeichnet, wobei die Erfüllung des
Ausseins-auf ungeachtet der jeweiligen Einbettung in ökologische
Normalität 65 kontingent ist, auch wenn diese Kontingenz ihm selbst
nicht zu Bewusstsein kommt und nur für ein Wesen da ist, das selbst
über die Erfahrung von Kontingenz verfügt. 66 Eine innere Verbin-
dung zwischen der Teleologie und dem Personbegriff lässt sich somit
nachweisen, wenn die ontologische Differenz von Sosein und Dasein,
die im personalen Sein zu Selbstbewusstsein erwacht, schon im blo-
ßen Leben und a fortiori im Sein selbst angelegt ist. Die genuin phi-

63 Vgl. im Rahmen der Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem die Reflexion


der Bedeutung der aristotelischen Unterscheidung von finis quo und finis cuius in
Abschnitt 5.2.9, Versuch einer Schlussfolgerung, 286–291, und im Zusammenhang
mit der Darlegung des metaphysisch-analogen Denkens den Gedanken eines in der
teleologischen Struktur begründeten Transzendierens auf ein Diesseits des Bewusst-
seins, in Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 375–376.
64
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 50, u. Spaemann, Sein und Gewordensein (1984),
61.
65
Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 204–205, u. Spaemann, Personen
(1996), 54–55.
66 Vgl. die Bemerkung Spaemanns bereits in »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,

›existiert‹ und ›es gibt‹«: »In einem gewissen Sinne kann man sagen, dass das Leben
als Leben nicht kontingent ist: Leben macht ja das So-Sein des Lebendigen aus, wie
wir gesehen haben. Darum hat das Lebendige bloß als Lebendiges keine Kontingenz-
erfahrung. Vor ihm als von einem Kontingenten sprechen heißt: von ihm als ›Seien-
dem‹ sprechen, und dies können nur vernünftige Wesen, die einer echten Selbsttrans-
zendenz fähig sind.« – Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert«
und »es gibt« (2010), 46.

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8. Ontologie der Person

losophische Fundierung des aus der Theologie übernommenen Per-


sonbegriffs kann gelingen, wenn der Zusammenhang, in dem die Per-
son dadurch denkbar wird, dass ihre Funktion in diesem Zusammen-
hang denkbar ist, durch das Leben als unvordenkliches Prinzip der
Entfaltung von Sein konstituiert ist. Damit hängt die Möglichkeit
einer in sich konsistenten philosophischen Deutung des Person-
begriffs davon ab, dass Personalität als eine Steigerung des lebendigen
Ausseins-auf verstanden werden kann. Zunächst ist daher zu fragen,
wie Spaemann das Verhältnis der Begriffe ›Person‹ und ›Leben‹ zu-
einander genau bestimmt bzw. wie er das Personsein als Steigerung
des Lebendigseins begrifflich ausweisen kann, ohne dass diese Stei-
gerung als prädikative Erweiterung des Lebensbegriffs verstanden
wird. 67
Leben ist das Sein von Lebewesen, also auch von Menschen. Personen
sind also lebendige Menschen. Es gibt nicht ein eigenes vom Mensch-
sein unterschiedenes Sein von Personen, das zum Beispiel im Denken
oder in bestimmten Bewußtseinszuständen bestünde. Da es keine bloß
möglichen Personen gibt, kann die Existenz nicht etwas sein, das einer
Person zukommen oder nicht zukommen kann. Wirkliches Denken
unterscheidet sich ja von simuliertem Denken – also dem Denken
von Maschinen – dadurch, daß es als Denken erlebt wird. Bewußt er-
lebtes personales Leben ist für uns das Paradigma von Leben über-
haupt. Wir können, was nicht personales Leben ist, nur nach Analogie
personalen Lebens, also durch Subtraktion verstehen. 68
Was ›Person‹ bedeutet, wird also erklärt aus dem Begriff des ›Lebens‹,
wobei dieser uns wiederum gegeben ist als ›personales Leben‹. ›Per-
son‹ als das für uns Nächstliegende ist nur verstehbar durch ›Leben‹.
Spaemann betrachtet – in genauer Umkehrung der cartesischen
Hypostasierung des ›cogito‹ zur Entität einer unabhängigen Seelen-
substanz – den Zusammenhang zwischen beiden ausgehend von der
Seite des ›Lebens‹, wobei unser Zugang zu diesem ebenso wie der zum
›Sein‹ immer ein indirekter ist:

67 Vgl. die einführenden Bemerkungen zum Satz des Alltagsverstandes, wonach alle
Menschen Personen sind, und den aus ihm hervorgehenden begrifflichen Schwierig-
keiten in Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524. –
Vgl. zur Trias ›Sein – Leben – Person‹ Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus,
560–561, Fn. 142.
68
Spaemann, Personen (1996), 78.

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

Leben ist das gesteigerte, oder besser das ursprüngliche, paradigmati-


sche Sein. Sein ist ein Derivat von Leben. Den Begriff des Seins ge-
winnen wir ähnlich durch Subtraktion aus dem des Lebens wie den des
Lebens aus dem des erlebten bewußten Lebens. Bewußtes Leben ist
volles Sein. »Qui non intelligit, non perfecte vivit« 69, heißt es bei Tho-
mas, und man könnte in Analogie dazu sagen: »Qui non vivit, non
perfecte existit.« 70
›Leben‹, d. h. gesteigertes Sein als »Aussein-auf-Sein« 71, verwandelt
für das Lebewesen die Welt in Umwelt. 72 Das animal rationale erlebt
das Aussein-auf als Streben nach dem Guten, wobei es seine indivi-
duelle Partikularität in Richtung auf das Allgemeine überwinden
kann. 73 Worin aber besteht die entsprechende Komplexitätssteige-
rung gegenüber dem ›Leben‹, die sich im Begriff der ›Person‹ aus-
drückt? Diese Frage wirft Schwierigkeiten auf: »Ein Löwe existiert
nicht und lebt außerdem, sondern er existiert, indem er und solange
er lebt. Wir verfügen nicht über ein analoges Wort für das Sein von
Personen. Und wenn wir es einführen wollten, würde uns dies sofort
in eine kontroverse Situation führen.« 74 Spaemann denkt hierbei an
die »Schule Lockes«, die »das Sein von Personen gegenüber dem Sein
von Lebewesen ebenso ablöst und verselbständigt, wie wir das Sein
des lebendigen Lebewesens, also sein Leben gegenüber dem bloßen
Vorhandensein des Leichnams verselbständigen« 75. Eine Ablösung
des Seins von Personen vom Sein von Lebewesen führt, wie oben
mit Bezug auf Locke und Hume dargelegt wurde, in letzter Kon-
sequenz zur Aufhebung von personaler Identität. 76 Demgegenüber
geht es Spaemann um die Fundierung des Personseins im vorbewuss-
ten Erleben, die, wie oben gezeigt wurde, im Rahmen des metaphy-
sisch-analogen Denkens durch eine doppelte Negation erreicht wird.
Während der erste Schritt der Negation in der Entstehung der Innen-

69
Spaemann verweist als Quelle des Zitats auf: Thomas von Aquin: In Eth. ad Nic. lib.
IX, lect. 11, nr. 1902. – Spaemann, Personen (1996), 268.
70
Ebd. 80.
71 Vgl. ebd. 119, 168.

72 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 111, 119, 146, 229–230.

73 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 28.

74 Ebd. 40.

75 Ebd.

76 Vgl. zum Zusammenhang von Vernunft und Leben Abschnitt 7.2.1, Conditio hu-

mana, 457–467, und zur angedeuteten Konsequenz die Ausführungen zum Denken
Lockes und Humes in Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Person-
begriffs, 526–537.

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8. Ontologie der Person

Außen-Differenz für ein lebendiges Wesen bzw. eines autopoieti-


schen Systems und seiner als teleologische Struktur fassbaren Seele
besteht, führt zum analogen Begriff der Person in einem zweiten
Schritt der Negation das Transzendieren der Innen-Außen-Differenz
durch den im Denken eröffneten ›Blick von nirgendwo‹. 77 Insofern
für die in der zweiten Negation erreichte Position die erste Negation
konstitutiv bleibt, lässt sich Personsein nicht vom Lebendigsein ab-
lösen, sondern besteht in einem Verhältnis zu diesem. Die Komplexi-
tätssteigerung vom Begriff ›Leben‹ zum Begriff ›Person‹ besteht da-
mit in der reflexiven Wendung auf das, was als Aussein-auf in der
Natur immer schon vorausgesetzt ist, und im Transzendieren der In-
nen-Außen-Differenz, die Lebendiges zum Zentrum seiner Welt
macht, wodurch sich der ›Blick von nirgendwo‹ eröffnet.
Der teleologisches Denken und Personenphilosophie verbinden-
de Gedanke besteht also darin, dass das lebendige Aussein-auf als
metaphysisches Prinzip Personalität fundiert, wobei die Person selbst
die reflexive Wendung auf dieses Aussein-auf und sein Transzendie-
ren ist, durch das der teleologische Zusammenhang als Ausdruck der
ontologischen Differenz von Dasein und Sosein überhaupt erst be-
wusst wird. Dass dieser Argumentation eine gewisse Zirkularität an-
haftet, ist kein Argument gegen sie. Unter der Voraussetzung, dass
das Aussein-auf eine Präformation der ontologischen Differenz von
Dasein und Sosein ist, ist es ein folgerichtiger Gedanke, dass die Er-
kenntnis dieses Zusammenhangs nur durch die reflexive Wendung
eines Wesens denkbar ist, das, Aussein-auf bleibend, gleichzeitig die-
ses transzendiert, dass die im Aussein-auf angelegte ontologische
Differenz nur in seinem Transzendieren entdeckt werden kann. Der
Schritt vom Aussein-auf zur Personalität soll nun näher betrachtet
werden, um zu klären, wie das Eintreten der Person in den ihr vor-
aufgehenden Zusammenhang zu denken ist. Die reflexive Wendung
auf das Aussein-auf beschreibt Spaemann in »Glück und Wohl-
wollen« als das Sichtbarwerden des Selbst als ›bewandtnisloses Um-
willen‹. 78 Dieses »Erwachen zur Wirklichkeit« 79 entspricht der ›Ent-
deckung der Person‹, in der die »fundamentale Entscheidung« 80 fällt,

77 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 553.


78 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479, u. Spaemann, Glück und
Wohlwollen (1989), 123–128.
79 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124.

80
Spaemann, Personen (1996), 216.

588

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

ob eine Rückwendung in die bloße Natürlichkeit stattfindet oder die


Wirklichkeit einen Akt absoluter Selbsttranszendenz bewirkt. Der
zweiten Motivation zu folgen bedeutet, dass das natürliche Transzen-
dieren – also das lebendige Aussein-auf – selbst noch einmal trans-
zendiert wird. Dieses Transzendieren ist nicht mehr Natur – »das
Herz in diesem Verständnis ist nicht Natur« 81 – und doch ist es von
ihr nicht ablösbar, denn die »Person verfügt nicht über ein eigenes
Energiepotential, das sie gegenüber dem ›natürlichen‹ Potential akti-
vieren« 82 könnte. Diesen nur als Paradoxie fassbaren Zusammenhang
von Naturteleologie und Personalität hatte Spaemann bereits in »Das
Natürliche und das Vernünftige« antizipiert: »Vernunft ist nicht
identisch mit Natur. Aber erst das Vernünftige ist auch das An-den-
Tag-Kommen der Wahrheit über das Natürliche, und dieses An-den-
Tag-Kommen liegt selbst in der Teleologie der Natur.« 83 Die Weiter-
entwicklung dieses Gedankens in »Personen« kann auf folgende For-
mel gebracht werden: Das Aussein-auf wird durch die reflexive Wen-
dung an den Punkt geführt, an dem das natürliche Transzendieren
selbst transzendiert werden kann, indem der personale Ort erreicht
wird, der nicht mehr Natur und gleichwohl nur aus der Differenz zur
Natur bestimmbar ist, insofern in ihm das natürliche Aussein-auf
erinnert und in eine reflektierte Form überführt wird. Um dem in
dieser abstrakten Formel ausgedrückten Zusammenhang von Teleo-
logie und Personalität zwingende Evidenz zu verleihen, formuliert
Spaemann als advocatus diaboli einen Einwand, der nur vordergrün-
dig auf die reduktionistische These der Simulierbarkeit von Leben
anspielt, in dem es eigentlich, wie gezeigt werden soll, um den An-
fang einer Beweisführung geht, die auf eine epistemologische
Schlussfolgerung zielt:
Wenn das Sein von Personen das Leben von Menschen ist, welchen
Sinn hat es zu sagen, der Mensch in meinem Traum sei zwar ein
Mensch, aber nicht lebendig gewesen? Er war doch kein Toter. Der
Löwe im Kino ist doch offensichtlich lebendig, wenn er auch nicht
wirklich ist. Gehört nicht Leben noch zum Bereich des Phänomens,

81 Spaemann, Personen (1996), 29–30.


82 Ebd. 233.
83
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. – Vgl. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 389.

589

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8. Ontologie der Person

und können wir nicht auch mit Bezug auf Leben mögliches und wirk-
liches Leben unterscheiden? 84
Die Frage, die damit aufgeworfen wird, besteht darin, »ob Leben zum
Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses Soseins
meint« 85, ob es Eigenschaft eines Seienden oder Akt des Seins ist. Nur
im letzten Fall kann im Sinne des metaphysisch-analogen Denkens
das Sein der Person als Steigerung des Lebens gedacht und der aus
der Theologie übernommene Begriff der Person metaphysisch fun-
diert werden. Wenn ›Leben‹ nicht immer wirklich ist, sondern als
mögliches denkbar ist, scheitert die Fundierung des Personbegriffs
im lebendigen Aussein-auf. Auffällig ist nun aber, dass Spaemann
diesen Einwand des Reduktionismus in eine Form kleidet, in der mit
der Traumerscheinung und der Kinofiktion sehr spezifische Wahr-
nehmungsweisen in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt
werden. Offensichtlich geht es ihm gar nicht um den prinzipiellen
reduktionistischen Einwand, dass Leben nicht von seiner Simulation
zu unterscheiden ist, sondern um die Frage, ob diese spezifischen
Wahrnehmungsweisen zu dem reduktionistischen Schluss nötigen.
Diese Lesart wird dadurch bestätigt, dass er als Antwort auf die ge-
stellten Fragen nicht in eine Diskussion des Reduktionismus eintritt,
sondern vielmehr die Wahrnehmungsweise im Hinblick auf phäno-
menal gegebene Wirklichkeit untersucht. Seinem eigenen auf die
Beispiele der Traumerscheinung bzw. der Kinofiktion hinweisenden
Einwand stellt Spaemann folgende Differenzierung des Lebens-
begriffs entgegen:
Alles Lebendige gehört einer Art an und hat eine Gestalt. Biologische
Arten sind »Weisen« des Lebens, so wie generell Wesenheiten, So-
seinsformen, Weisen des Seins sind. Diese Weisen lassen sich von
ihrem Vollzug abstrahieren und als ideelle Wesenheiten denken, die
verwirklicht oder nicht verwirklicht sein können, so wie musikalische
»Weisen« von ihrer tatsächlichen Aufführung ablösbar und zum Bei-
spiel schriftlich fixierbar und reproduzierbar sind. Weisen des Seins
sind Möglichkeiten, Sein ist Wirklichkeit. Ein geträumtes oder im
Film gezeigtes Tier ist eine Weise des Lebens, mit Bezug auf die wir
fragen können, ob sie wirklich gelebt wird. Leben gehört zu ihrem
Begriff, aber wir können aus diesem Begriff nicht ihr wirkliches Ge-
lebtwerden ableiten. Auch ein bestimmter Löwe kann als Weise des

84 Spaemann, Personen (1996), 78–79.


85
Ebd. 80.

590

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

Lebens nur so aussehen, als ob er lebte. Leben als solches kann nicht
sein oder nicht sein. Es ist Sein. 86
Die hier entwickelte Unterscheidung zwischen ablösbaren Weisen des
Seins bzw. des Lebens und dem Leben bzw. dem Sein selbst blendet
den reduktionistischen Einwand aus und fragt stattdessen nach dem
Subjekt dieser spezifischen Wahrnehmungsweisen, für das die Unter-
scheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem von Bedeutung
ist. Wer erinnert Träume und schafft fiktive Welten? »Wer Wieder-
kehr in Träumen weiss,/ den dämmt kein sterbliches Gefüge« 87 –,
dichtete 1940 Gottfried Benn und fand damit einen Ausdruck für
den spezifisch personalen Zugang zur Welt. Durch die in der Selbst-
erfahrung fundierte Fähigkeit der Person, zu allem phänomenal Ge-
gebenen auf Distanz zu gehen, eröffnet sich ihr ein Spielraum des
Umgangs mit ›Weisen des Lebens‹, der im Sich-Beziehen auf Traum-
erscheinungen beginnt und in den fiktionalen Welten der Künste
ihren paradigmatischen Ausdruck findet. 88 Gegenüber dem phäno-
menal Gegebenen scheint daher ein Agnostizismus die einzige kon-
sequente Haltung zu sein. »Alles Qualitative, alles Phänomenale ist
simulierbar.« 89 Zugleich aber gilt, dass das Phänomenale über sich
hinausweisen kann auf etwas, »das sich zeigt und sich zugleich ver-
birgt« 90. Es gibt kein Kriterium, um das Wirkliche vom Unwirklichen
zu unterscheiden 91, sondern nur die Auflösung von Täuschungen,
also beispielsweise das Erwachen aus dem Traum oder das wiederkeh-
rende Bewusstsein, einen Kinofilm zu sehen. Hier erhält nun die Ent-
scheidung des ›Herzens‹, »welcher der beiden Motivationen wir fol-
gen« 92 – der »Selbstbehauptung« oder der »Selbsttranszendenz« 93 –,
ihre philosophische Deutung. Wenn man nicht die extreme Kon-
sequenz des Solipsismus wählt, 94 in der alles phänomenal Gegebene

86
Spaemann, Personen (1996), 80–81.
87 Benn, Gedichte in der Fassung der Erstdrucke, 293.
88
Vgl. im Kapitel »Fiktion« – Spaemann, Personen (1996), 91–101: »Menschen er-
weisen sich darin als Personen, daß sie die Welt der Zeichen vom Bezeichneten unter-
scheiden und deshalb über sie auf freiere Weise verfügen als über Dinge, die ohne uns
sind, wie sie sind.« – Ebd. 97.
89 Spaemann, Personen (1996), 88.

90 Ebd. 89.

91 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189–190.

92
Spaemann, Personen (1996), 216.
93 Ebd. 214.

94
Vgl.: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und bleibt eine metaphy-

591

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8. Ontologie der Person

als reines Für-mich aufgefasst wird, sondern etwas anerkennt, für das
gilt, dass man seinerseits zugleich für dieses ist, wenn man also Sein
in irgendeiner Form anerkennt, ergibt sich jene perspektivische Inver-
sion, um die es Spaemann in diesem Gedankengang geht. Die den
Solipsismus sprengende Anerkennung von Sein zwingt zu einer per-
spektivischen Umkehr, insofern das phänomenal Gegebene, über das
wir uns immer täuschen können, auf das hin betrachtet wird, was sich
in seinem Erscheinen verbirgt. Diese Sicht sprengt das subjekt-
philosophische Paradigma, das noch in der Rede vom Seinsakt wirk-
sam ist: 95
Die Vorstellung vom Sein als Akt, der einem Wesen zukommt, hat die
logische Schwierigkeit, immer schon die Wirklichkeit dessen voraus-
zusetzen, dessen Akt das Sein ist. So werden wir dazu geführt, umge-
kehrt Wesenheiten zu denken als »Weisen zu sein«. Endliches Sein ist
nur als Seinsweise. Die Weise hat nicht Sein, sondern das Sein hat
sie. 96
Durch die perspektivische Inversion wird die Wahrnehmung von
Substanzen unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjekt-Wech-
sels möglich. Dass das prinzipiell nicht phänomenal gegebene Sein die
von uns im Denken und Vorstellen ablösbaren Weisen des Seins hat,
dass dieses Nicht-Gegebene die Substanz der phänomenal gegebenen
Weisen zu sein ist, spiegelt in der Welt des Seienden bzw. nichtper-
sonalen Lebendigen die spezifisch personale Wahrnehmung in nega-
tiver Form wider, insofern die ablösbaren ›Weisen des Seins‹ mit der
›gehabten Natur‹ korrelieren, das personale ›Haben einer Natur‹ aber
mit der im Zeigen sich verbergenden Substanz. Diese Inversion der
Wahrnehmung ist die epistemologische Spur der Entdeckung der Per-
son, durch die sie präsent bleibt selbst in ihrer Abwesenheit. In dieser
Inversion zeigt sich das Eintreten der Person in den ihr voraufgehen-
den Zusammenhang des Ausseins-auf.

sische Entscheidung. Es ist die metaphysische Entscheidung.« – Spaemann, Über den


Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248.
95 Vgl.: »Allerdings sind alle diese Redeweisen paradox. Sie sprechen vom Existieren

wie von einer Tätigkeit, die von Subjekten ausgeübt wird. Aber um eine Tätigkeit
auszuüben, muß ein Subjekt ja schon existieren. Bei der ›Tätigkeit‹ des Existierens
scheint es vielmehr so zu sein, daß sie es ist, die das Existierende sein läßt. So daß
wir eher sagen können: das, was existiert, ist eine Weise zu sein.« – Spaemann, Per-
sonen (1996), 40.
96
Spaemann, Personen (1996), 82.

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

In der personalen Wahrnehmung von Seiendem und nichtper-


sonalem Lebendigen spiegelt sich die Selbstwahrnehmung der Per-
son. Ganz zu sich selbst kommen Personen jedoch erst im Ereignis
der interpersonalen Begegnung, in dem die Ablösbarkeit der ›Weisen
des Seins‹ vom Vollzug der Existenz vollständig überwunden wird:
»Von nichtpersonalem Leben unterscheidet sich personales Leben da-
durch, daß wir es nicht als ›Weise des Lebens‹ beschreiben können.« 97
Der prinzipielle Unterschied zu allem nichtpersonalen Leben, der
durch den eine rein numerische Identität bezeichnenden Person-
begriff gesetzt ist, besteht darin, dass dieser nur eine Distanz zu
einem Sosein ausdrückt und diese Distanz entweder ist oder nicht ist,
aber nicht simuliert werden kann. Es gibt nicht die Alternative zwi-
schen einem wirklichen und einem möglichen Jemand, sondern nur
die zwischen ›jemand‹ und ›etwas‹ : »Der Mensch, mit dem ich im
Traum zusammen war, bleibt nach dem Aufwachen das, was er war,
nämlich ein Mensch. Aber er war, wie sich zeigt, keine Person.« 98 Erst
in der wirklichen Begegnung von Personen ist der Mensch, wie Spae-
mann bereits in »Glück und Wohlwollen« schrieb, der »Ort der Er-
scheinung des Seins« 99. Die Person ist die Stufe der Entwicklung des
Seins, auf der das natürliche Aussein-auf-Sein transzendiert wird
und zugleich Sein in der »Wirklichkeit des Bildes« 100 zuallererst er-
scheint. Den ihr voraufgehenden teleologischen Zusammenhang
transzendiert die Person durch das Bewusstsein von Kontingenz, also
dadurch, dass sie ihren »Vollzug des Existierens« unterscheidet »von
dem, was da existiert« 101:
Nur Personen wissen von ihrer Kontingenz und, wenn sie sich in ihrer
Bedingtheit durch die Welt als ganze begreifen, von der Kontingenz
der Welt. Aber der Ort, von wo aus sie diese Kontingenz wahrnehmen,
kann weder dem Sosein noch dem Dasein zugeordnet werden. Per-
sonen sind nicht Wesenheiten, die darüber staunen zu existieren. Sie
sind überhaupt nicht Wesenheiten, sondern sie verhalten sich zu
ihrem Sosein. Sie erfahren gerade dieses ihr Sosein als kontingent.
Andererseits sind sie nicht das »Sein selbst«, das sich in endlichen
Weisen des Seins entäußert, sie sind nicht das Absolute, weil sie über-

97 Spaemann, Personen (1996), 81.


98 Ebd. 78.
99 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137. – Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor be-

nevolentiae, 475.
100 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.

101
Spaemann, Personen (1996), 40.

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8. Ontologie der Person

haupt nur sind, sofern sie ein Wesen, ein endliches Sosein, eine Natur
haben. Ihre Kontingenzerfahrung ist ein Blick von nirgendwo, Per-
sonalität eine Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolu-
tem und Endlichem. Dieser Indifferenzpunkt ist das, was wir Freiheit
nennen, also ein Nichtbestimmtsein durch das Gesamt dessen, was
jemand ist, und damit die Möglichkeit, alles zur »Weise« gewordene,
also die ganze Geschichte, erneut zu distanzieren, aber dies nicht aus
der positiven Kraft eines eigenen Energiepotentials oder einer eigenen
Struktur, von denen aus sich andere Präferenzen ergäben als diejeni-
gen, die in der eigenen Natur vorgezeichnet sind. Sonst wäre ja Frei-
heit selbst wieder eine Natur vor der Natur, ein Sosein, das Entschei-
dungen aus eigener Vollmacht determinierte. Der Indifferenzpunkt
der Freiheit ist der personale Ort, von dem aus es immer prinzipiell
möglich erscheint, das eigene Denken und Wollen könnte nur das ei-
gene Denken und Wollen als eine Idiosynkrasie sein. Nur zusammen
mit diesem Bewußtsein bleibt die Transzendenz in der Bewegung, die
auf Sein als das Jenseits des Gedankens geht. 102
Hier wird nun gleich durch eine Vielzahl von Varianten – ›Blick von
nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolu-
tem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt der Freiheit‹, ›personaler Ort‹
– der Punkt benannt, an den die doppelte Negation, das Transzendie-
ren des natürlichen Ausseins-auf geführt hat. Von diesem Punkt aus
enthüllt sich im Rückblick die ›Kontingenz der Welt‹, womit der An-
spruch verbunden ist, dass sich in diesem ›Blick von nirgendwo‹ die
Wahrheit auch des der Personalität voraufliegenden Zusammenhangs
noch enthüllt. Bevor die mit dem Eintreten der Person verbundene
Verwandlung dieses Zusammenhangs abschließend zu fassen ver-
sucht wird, sind noch einige Bemerkungen zur impliziten Auseinan-
dersetzung Spaemanns mit dem in Descartes’ Meditationen ent-
wickelten Neuansatz der Philosophie in dem zitierten Absatz zu
machen. Dass der ›personale Ort‹ mit der Möglichkeit des ›eigenen
Denkens und Wollens als Idiosynkrasie‹ verbunden wird, unter-
streicht noch einmal, dass Descartes, wie oben dargelegt wurde, in
seinem Ansatz wesentliche Charakteristika der Person freigelegt
hat. 103 Die Person sieht sich stets der Möglichkeit ausgesetzt, einer
Täuschung zu erliegen, wobei gerade dieses Bewusstsein Antrieb ist,
sich zum eigenen Sosein zu verhalten. Die nach Spaemann falsche

102
Spaemann, Personen (1996), 82–83.
103 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–527
u. 534–536.

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

Deutung dieser Charakteristika durch die Hypostasierung des per-


sonalen Ortes zur Entität eines geistigen ›Selbst‹ führt zu jener ›Na-
tur vor der Natur‹, die in den einführenden Überlegungen als ›unbe-
stimmte Bestimmtheit‹ bezeichnet wurde. 104 Die damit verbundene
cartesische Theologisierung der Ontologie vermeidet Spaemann, in-
dem der ›personale Ort‹ als Transzendieren der Innen-Außen-Diffe-
renz eines Lebewesens seine Fundierung in der Teleologie bewahrt,
auch wenn der Gedankengang mit der Bestimmung der Personalität
als ›Schwebe zwischen Absolutem und Endlichem‹ an eine Grenze des
philosophisch Denkbaren rührt. 105 Der implizite Hinweis auf einen
als ewige Selbstvermittlung, d. h. als Leben, gedachten Gott 106 ist je-
doch nicht konstitutiv für die genuin philosophische Argumentation,
in deren Mittelpunkt der Zusammenhang von Teleologie und Per-
sonalität steht, der nun als Fazit der Überlegungen in diesem Ab-
schnitt rekapituliert werden soll. Das Sich-Entziehende in dem Zu-
sammenhang, von dem eingangs die Rede war, in dem die Person
dadurch denkbar wird, dass ihre Funktion in ihm gedacht werden
kann, ist das ›Leben‹ als ›paradigmatisches Sein‹, das als Aussein-auf
auf analoge Weise in allen Lebewesen wirkt. 107 Bewusstes Leben ist

104 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 521.
105 Es geht bei dieser ›Schwebe‹ um die im Denken erreichbare Distanz zum gegebe-
nen, qualitativ bestimmbaren Sosein, die nicht in dem Sinn verfügbar ist, dass über sie
andere als rein negative Bestimmungen aufgestellt werden können. Eine Argumenta-
tion, die diesen Punkt als reine Idiosynkrasie herauszustellen versucht, verstrickt sich
in Widersprüche, da wir, wenn es sich um Idiosynkrasie handelte, davon nichts wissen
könnten, der Idiosynkrasiegedanke also selbst ein Argument für die Existenz dieses
Punktes ist. Jeder Versuch einer positiven Bestimmung dieses Punktes muss in ir-
gendeiner Weise mit dem Absoluten ein begrifflich Unverfügbares in die Argumen-
tation einbeziehen. Spaemanns Argumentation zeigt aber, dass ein solcher spekulati-
ver Gedankengang nicht notwendig ist, um im Rahmen philosophischer Reflexion
diesen Punkt zu erreichen. Jeder Versuch, das Ganze zu denken, müsste dagegen in
eine religiöse Reflexion führen. In diesem Sinne ist der Gedanke der ›Schwebe‹ an-
schlussfähig an das religiöse Denken, selbst aber ein genuin philosophischer Gedanke.
106
Vgl.: »Die drei ›Hypostasen‹ der Gottheit aber, wie die Griechen sagten, sollten
bloß numerisch unterschieden sein. Die unendliche Mächtigkeit des Einen erlaubt
keine Vervielfältigung, sondern nur eine innere Differenzierung, aufgrund deren die-
se Einheit nun als Prozeß der Selbstvermittlung, als ewiges Geschehen der Einigung
gedacht wird, mit anderen Worten: als Leben.« – Spaemann, Personen (1996), 34–35.
107 Wie oben im Kontext der aristotelischen Fassung der Teleologie bemerkt wurde,

darf dabei keinesfalls an einen universalteleologischen Zusammenhang gedacht wer-


den, dessen Behauptung vielmehr einen wesentlichen Schritt zur neuzeitlichen Ent-
teleologisierung darstellte. – Vgl. dazu Abschnitt 5.2.2, Aristoteles. Nüchterne Teleo-
logie in terminologischer Präzision, 229–230, u. Abschnitt 5.2.4, Die Teleologie und

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8. Ontologie der Person

volles Sein, das noch einer weiteren Steigerung fähig ist in der Per-
sonalität. Die Entdeckung der Person bedeutet, dass Vernunft nicht
länger Organ des Allgemeinen ist, sondern dass in der reflexiven
Wendung die Vernunft als individuelle ihrer selbst bewusst wird
und sie im Bewusstsein ihrer Partikularität eine Selbsttranszendenz
vollzieht, durch die das Allgemeine zuallererst personal gefasst wird,
also Personen selbst das Allgemeine werden, »Totalitäten, im Ver-
hältnis zu denen alles Teil ist« 108. Diese Steigerung zum ›personalen
Ort‹ bezeichnet keinen festen Standpunkt, sondern einen ›Blick von
nirgendwo‹, der sich nun zurück auf den teleologischen Zusammen-
hang richten lässt, in den die Person dadurch eingetreten ist, dass sie
ihn transzendiert und im dreifachen Sinn aufgehoben hat. Die Person
hat den teleologischen Zusammenhang überwunden, insofern ihr
Transzendieren der Natur selbst nicht mehr Natur ist. Sie bewahrt
den Zusammenhang, insofern sie über kein eigenes Energiepotential
verfügt, sondern Personalität nur ein Verhältnis zu dem von seiner
Verwirklichung unabhängigen, also als potentiell erlebten teleologi-
schen ›forma dat esse‹ ist. 109 Sie hebt den Zusammenhang drittens auf
eine neue Stufe, insofern im Transzendieren der Natur die Wahrheit
über das Natürliche erst zu Tage kommt. 110 Personalität ist ein Para-
digma der Weltwahrnehmung, das im interpersonalen Begegnungs-
geschehen erst ganz zu sich kommt, durch das aber, einmal entdeckt,
die Differenz zwischen dem gegebenen Sosein und dem im Erschei-
nen sich verbergenden Sein sich in Abstufungen auch im nichtper-
sonalen Lebendigen und im nichtlebendigen Seienden enthüllt. Die
Funktion der Person in dem durch sie verwandelten Zusammenhang
besteht sowohl darin, dass die im Sein angelegte ontologische Diffe-
renz erst durch sie zu Bewusstsein kommt, als auch darin, dass Sein in
ihr zuallererst als Sein in Erscheinung tritt. Denkbar wird ›Person‹
also nur zusammen mit ›Leben‹ und ›Sein‹ als analoge Begriffe, deren
Gemeinsamkeit die ontologische Differenz von Sosein und Dasein

ihre Umbildungen: Universalteleologie und invertierte Teleologie, 242–243. – Es geht


hier wesentlich um eine individualteleologische Konzeption.
108 Spaemann, Personen (1996), 29. – Vgl. dazu die Ausführungen in Abschnitt 8.3.1,

Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 570–574.


109 Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theo-

logie: Der Akt des Seins, 580–582.


110
Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, u. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 389.

596

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

bzw. Essenz und Existenz ist, die uns in der personalen Wahrneh-
mung als ›Blick von nirgendwo‹ gegeben ist, im nichtpersonalen
Lebendigen aber als Aussein-auf und im nichtlebendigen Seienden
als im Erscheinen sich verbergendes Sein Korrelat eines Aktes der
Anerkennung ist. 111
Die Ausführungen in diesem Abschnitt verfolgten das Ziel, die
genuin philosophische Denkbarkeit des aus der Theologie übernom-
menen Begriffs der Person darzulegen. Die von Spaemann für das
neuzeitliche Denken diagnostizierte »Personvergessenheit« 112 zeugt
nun davon, dass neben dieser theoretischen Problematik der Person-
begriff auch Thema der praktischen Philosophie ist. Schon in der Ein-
leitung zu diesem Teilkapitel war die Rede von der Doppeldeutigkeit
der Person, die als Entdecktes eine Aktualisierung des antiken Den-
kens und als Entdeckung das historische Ereignis bezeichnet, aus dem
sich die Notwendigkeit neuzeitlicher Aktualisierungen erst ergibt.
Für die praktische Philosophie stellt sich damit die Frage, wie die Per-
son als entdeckte latent sein kann, wie die Präsenz der Personalität zu
denken ist für diejenigen, die ihren Platz im Raum der Personen nicht

111 Da Eduard Zwierlein das Teleologiekonzept Spaemanns 1987 ohne Kenntnis des

Personen-Buchs und somit des hier explizierten Zusammenhangs der Ontologie der
Person durchdenkt, gelangt er zu einer prinzipiellen Deutungsschwierigkeit: »Der
Mensch sucht zunächst in einem kontinuierlichen, zäsurfreien Deutungsschema in
fortgesetzter Reflexion jede Erscheinung als teleologisch in Analogie zur Selbstwahr-
nehmung zu verstehen und verwendet also die menschliche Handlung tendenziell als
Schema einer paradigmatischen Universalextrapolation.« – Zwierlein, Das höchste
Paradigma des Seienden, 126. – Da diese Extrapolation nach Zwierlein an die Ein-
drucksqualität lebendiger Prozesse gebunden ist, liegt das Anorganisch-Tote jenseits
der Grenze möglicher Extrapolation: »Die genannte Extrapolationsgrenze scheint
Spaemann mit Hilfe des Gottesbegriffs überwinden zu wollen. Eine teleologische
Universalextrapolation müßte sich demnach für ihren abschließenden Verstehens-
horizont auf ein theologisches Teleologiekonzept gründen.« – Ebd. 127. – Unter der
Voraussetzung einer solchen theologisierenden Deutung der Spaemann’schen Teleo-
logiekonzeption ergibt sich dann für Zwierlein eine »Problemverdopplung«, da die
Einbeziehung des Gottesbegriffs zum klassischen Theodizee-Problem führen muss:
»Im Rückgriff auf den Gottesbegriff der Synthesis von Sein und Sinn würde sich der
Mensch daher den Verbund von Kausalität und Teleologie, die Problematik des An-
organisch-Toten und die Unbegreiflichkeit seiner eigenen Zweiheit begreiflich machen
wollen an Hand einer noch größeren Unbegreiflichkeit.« – Ebd. 129. – Der von Zwier-
lein konstatierte »logische Anthropomorphismus des teleologischen Verstehens« –
ebd. – kann nach meinem Dafürhalten nur überwunden werden, wenn Spaemanns
Teleologiekonzept mit der hier explizierten Ontologie der Person in Zusammenhang
gesetzt wird.
112
Spaemann, Personen (1996), 106.

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8. Ontologie der Person

wahrnehmen. Spaemann spricht vom »apriorischen Beziehungs-


raum« 113 der Personen, der sich mit dem Ereignis ihrer Entdeckung
eröffnet hat. ›Apriorisch‹ nennt er diesen deswegen, weil er aus der
Untersuchung der menschlichen Vernunft und ihres Weltzugangs
gewonnen ist, auch wenn er sich auf die Vernunft in einem bestimm-
ten Stadium ihrer Entwicklung – nach der Entdeckung der Person –
bezieht. Die Konstitution dieses ›apriorischen Beziehungsraums‹ be-
deutet, dass nach der Entdeckung der Person eine Öffnung zur Welt
aus individueller Sicht nur unter den Bedingungen der Personalität
möglich ist. Sie bedeutet nicht, dass diese Öffnung selbst erzwungen
wird oder dass es keine Alternative zum Eintritt in den personalen
Raum gibt. »Der Eintritt in den personalen Raum ist«, wie Spaemann
unterstreicht, »eine metabasis eis allo genos, also der Schritt in eine
ganz neue Art der Beziehung« 114. Es geht bei diesem Schritt um die
Negation der lebendigen Zentriertheit und die Wahrnehmung an-
derer Zentren der Bedeutsamkeit, die in einem reziproken Begeg-
nungsgeschehen Selbstsein auf beiden Seiten hervortreten lassen.
Als logische Konsequenz ergibt sich aus diesem Gedanken, dass die
μετάβασις im Sinne der Doppeldeutigkeit der Person als Entdecktes
und Entdeckung selbst doppeldeutig sein muss. Sie bezeichnet einer-
seits ein geschichtliches Ereignis, andererseits aber einen individuell
immer neu zu leistenden Schritt. Es gibt ein ursprüngliches Hervor-
gehen der Personen aus dem apriorischen Beziehungsraum und eine
immer wieder neu zu leistende Wahrnehmung des eigenen Ortes in
diesem Beziehungsraum. Das geschichtliche Ereignis der Entdeckung
ist die Entstehung des ›apriorischen Beziehungsraums‹ und des Ein-
heitspunktes von Ethik und Ontologie, der individuelle Eintritt in
diesen Raum dagegen bedeutet, auch wenn er nicht den Charakter
eines Bruches haben muss, 115 vom Ideal der certa cognitio aus be-
trachtet immer einen Sprung, da das ›esse‹ von Personen nicht in
ihrem ›percipi‹ aufgeht und die »Anerkennung von Selbstsein […]
immer ein Akt der Freiheit« 116 ist. Allerdings ergibt sich aus der her-

113 Spaemann, Personen (1996), 196.


114 Ebd. 197.
115 Vgl.: »Das muß nicht heißen, daß dieser Schritt den Charakter eines Bruches hat.

Schon die natürliche Egozentrik ist ja nicht egoistisch, sondern enthält eine Tendenz
zur Selbstüberschreitung. Der amor benevolentiae kann sich so unmittelbar aus dem
amor concupiscentiae entwickeln, daß der Eindruck eines Kontinuums entsteht.« –
Ebd. 197.
116
Ebd. 191.

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8.3.3 Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität

meneutischen Fundierung des hier dargelegten Zusammenhangs von


Personalität und Teleologie im Ereignis der Entdeckung nun auch
eine Rückwirkung auf dieses praktische Problem des Sprungs. Dass
das historisch-kontingente Faktum der Entdeckung der Person sich
philosophisch denken lässt als epistemologische Spur in der persona-
len, d. h. die extreme Konsequenz des Solipsismus vermeidenden
Weltwahrnehmung, 117 beruht auf der im Aussein-auf der lebendigen
Natur fundierten ontologischen Differenz, durch die sich ein analoger
Zusammenhang zeigt, der einen Rückschluss erlaubt von der per-
sonalen Selbsterfahrung auf die analogen Begriffe ›Leben‹ und ›Sein‹.
Die Analogizität der Begriffe von Sein, Leben und Person führt in
Verbindung mit der Fundierung des Personbegriffs im Ereignis der
Entdeckung die Überlegung an den Punkt, an dem die Beweisforde-
rung der certa cognitio suspendiert und der metaphysische Realismus
selbsttragend wird. Die Doppeldeutigkeit der Person als Entdeckung
und Entdecktes und der μετάβασις als geschichtliches Ereignis und
individuelle Aufgabe eröffnet damit, so das Ergebnis der Überlegun-
gen in diesem Teilkapitel, durch ihr eindeutiges Fundierungsverhält-
nis die Möglichkeit, die Problematik des Sprungs, an die seit dem
sechsten Kapitel das Nachdenken immer wieder herangeführt hat,
hinter sich zu lassen und ausgehend vom personalen Ort, dem ›Haben
einer Natur‹, Grundzüge einer positiven Philosophie zu entwickeln,
denen sich die Untersuchung im nun folgenden Unterkapitel zu-
wendet. 118

117 Mit Bezug auf die Ausführungen zum Problem des Sprungs im Bereich der prak-

tischen Philosophie – vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbst-
transzendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396–397 – lässt sich im Rückblick
folgern, dass die epistemologische Spur der Entdeckung der Person in der personalen
Wahrnehmung jene neuzeitliche Aktualisierung des aristotelischen θύραθεν-Gedan-
kens darstellt, deren Fehlen dort beklagt wurde. – Vgl. dazu auch Spaemann, Hirn-
forschung und Willensfreiheit (2009), 146–147.
118 Vgl. zum Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit in einer positiven Philosophie

und zu deren Aufgabe: »Um festzustellen, dass die Dinge so, wie sie die Vernunft
ableitet, tatsächlich existieren, ist die Vernunft auf die Erfahrung angewiesen. Aber
selbst, wenn sich die Dinge, so wie sie apriorisch als möglich erkannt worden sind, in
der Erfahrung verifizieren ließen, wären die Dinge in ihrem Dasssein nicht von der
Vernunft selbst hervorgebracht. Die Vernunft muss vielmehr erkennen, dass die in
ihrem Wirklichsein hervorgebrachten Dinge wiederum nur einer ursprünglicheren
Wirklichkeit entsprungen sein können, die jedenfalls nicht die Vernunft selbst ist.
Die Reflexion auf diese ontologische Differenz zwischen der Vernunft und einer sie
begründenden und nicht in ihr selbst aufgehenden Wirklichkeit führt die Vernunft
über sich selbst hinaus. Das Konzept der Vernunftwissenschaft, in der alles, was exis-

599

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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung

Im folgenden Teilkapitel wird die Reflexion des Verhältnisses des


Menschen zu seiner Natur auf einer Stufe fortgeführt, zu der ein
prinzipieller Perspektivenwechsel geführt hat. Die Perspektive der
Person als neuer Ausgangspunkt der Betrachtung ist fundiert im kon-
tingent-faktischen Ereignis der Entdeckung und die unerfüllbare For-
derung nach ihrer Rekonstruktion, die zum Problem des Sprungs ge-
führt hatte, dadurch überwunden. Das heißt nicht, dass sich an der im
Zusammenhang mit dem metaphysischen Realismus erörterten Pro-
blematik etwas geändert hätte: Das Denken kann sich selbst jederzeit
dadurch absolut setzen, dass es seine eigene Bedingtheit ignoriert und
die autonome Vernunft, von der zur Person immer nur ein Sprung
führt, zum Ausgangspunkt des Denkens macht. Dieses Denken ist
zwar, wie gesehen wurde, dadurch selbstwidersprüchlich, dass aus
der hypostasierten Entität des instantanen ›cogito‹ keine personale
Identität hervorgehen kann und sie sich gegenüber der ›gehabten Na-
tur‹ als komplementäres Zerfallsprodukt eines teleologischen Ver-
ständnisses des Menschen ausweisen lässt; nichtsdestoweniger kann
sich das Denken auf diese Weise immer aus dem personalen Zusam-
menhang herausreflektieren und so vom ›Haben einer Natur‹ auf die
Dialektik von autonomer Vernunft und ›gehabter Natur‹ zurückfal-
len. Nur der Verzicht auf diese Reflexion macht den folgenden Ge-
dankengang möglich. 1 Entscheidend ist, dass dieser Verzicht wieder

tiert, in der Vernunft begriffen ist, bedarf also selbst der Begründung in einer Wirk-
lichkeit, die das Wirklichsein der von der Vernunft erkannten Dinge und damit das
Wirklichsein der Vernunft selbst verbürgt.« – Meier, Transzendenz der Vernunft und
Wirklichkeit Gottes, 103. – In diesem Sinne gehen die Ausführungen des nächsten
Teilkapitels über die Problematik des Sprungs hinaus und von der Wirklichkeit der
Personen aus. Die Überlegung setzt als positive Philosophie »mit dem, was allem
Denken schlechterdings transzendent ist, neu ein«: »Sie setzt an mit der absolut au-
ßerhalb der Vernunft stehenden Wirklichkeit, die diese sich in ihrem Selbstvollzug
voraussetzen muss. Da in dieser Wirklichkeit nichts von der Potentialität der Ver-
nunft ist, kann sie nur als das bloß Seiende, das nur Existierende verstanden werden.«
– Ebd. 104.
1 Dabei kann allerdings aus dem Gedankengang selbst wieder eine Argumentation

entwickelt werden, die einen solchen Verzicht auf Reflexion nachträglich rechtfertigt.
– Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:
Gewissen und Versprechen, 613–624.

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8.4 Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung

wohl begründet ist, wobei die Begründung nicht deduziert werden


kann, sondern auf dem kontingent-faktischen Ereignis der Ent-
deckung aufbaut, das selbst für das Denken bedeutend wird. Die Per-
son kann – einmal geworden – in ihrer Genealogie gedacht werden.
Sich selbst als Person zu denken, heißt daher, den Zusammenhang zu
denken, aus dem sie hervorgeht. Dies war die Aufgabe von Abschnitt
8.3.3, in dem der Zusammenhang von Teleologie und Personalität
expliziert wurde. Eine Weiterführung dieser Überlegungen muss
den Weg bahnen zu einer positiven Philosophie der kontingent-fak-
tischen Person. Die Beantwortung der Frage, welche Gestalt eine sol-
che Philosophie konkret annehmen könnte, liegt jenseits der Mög-
lichkeiten dieser auf das Werk Spaemanns sich konzentrierenden
Arbeit. 2 Hier können lediglich Voraussetzungen geklärt werden
durch den Abbau von Barrieren des Denkens, die den Übergang zu
einer positiven Philosophie verhindern.
Zunächst soll der Ausgangspunkt der Überlegungen rekapitu-
liert werden. Die Person wird verstanden als ›Haben einer Natur‹.
Diese abstrakte Formulierung bringt die Distanz zur qualitativ be-
stimmten eigenen Natur zum Ausdruck, wobei diese Distanznahme
nicht aufgrund eines eigenen Energiepotentials erfolgt, durch das die
Person selbst zu einem Wesen würde. 3 Denn dieses müsste wieder
von einer Instanz gehabt werden und das Selbstverhältnis so in eine
Iteration führen. Vielmehr ist es die Natur selbst, die in ihrem Ange-
legtsein auf Selbsttranszendenz an einem bestimmten Punkt der
menschlichen Entwicklung diese Distanznahme zu sich selbst ermög-
licht, indem das natürliche Aussein-auf infolge der reflexiven Wen-
dung auf sich selbst zum personalen Ort hin transzendiert wird.
Dieser Ort bedeutet, wie oben gesehen, als ›Blick von nirgendwo‹,
als ›Schwebe zwischen Absolutem und Endlichem‹ die Entdeckung
eines Zentrums der Bedeutsamkeit, das mit der eigenen lebendigen
Zentralität nicht übereinstimmt. Was in »Glück und Wohlwollen«
zum ersten Mal klar beschrieben und in »Personen« in einen er-
weiterten ontologischen Rahmen gestellt wurde, ist der Vollzug der
Wahrnehmung des eigenen Ortes im apriorischen Beziehungsraum,

2 Am Ende dieser Arbeit werden in einem Ausblick einige Erwägungen angestellt, in


welche Richtung eine solche Philosophie entwickelt werden könnte. – Vgl. Abschnitt
12.3.2, Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition und ihre literarische
Verarbeitung, 916–920.
3
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82 u. 233.

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8. Ontologie der Person

der nur möglich ist in der simultanen Wahrnehmung der Orte ande-
rer Personen. Das ›Haben einer Natur‹ ist damit nur die subjektive
Bedingung der Möglichkeit von Begegnung. Die Entdeckung dieses
Habens kann in die curvatio zurückschlagen oder Gestalt annehmen
im Ereignis der Begegnung, das somit als eigentlicher Ausdruck die-
ses Habens erscheint. Daher ist es die Aufgabe der Untersuchungen
in diesem Teilkapitel zu zeigen, wie das Geschehen der Begegnung
möglich wird, wie sich dieses Geschehen gegenüber der Reflexion,
die ja keineswegs überwunden ist, erhalten kann und was sich
schließlich in diesem Geschehen ereignet, d. h. welche Verwandlung
der Mensch als Person durchläuft.
Vorab sei ein Ausblick auf die Gedankenschritte in diesem Teil-
kapitel gegeben. Zunächst wird nach der subjektiven Voraussetzung
des Eintritts in den apriorischen Beziehungsraum der Personen ge-
fragt, wobei sich diese Fragestellung als ebenso unbrauchbar für den
Zugang zum Ereignis der Begegnung erweisen wird wie der komple-
mentäre Versuch, von der Intersubjektivität einen Weg zur Subjekti-
vität zu finden. In einem zweiten Anlauf wird daher personale Sub-
jektivität als intersubjektives Vermitteltsein gedeutet, das, wie sich
zeigen wird, durch die Zeitlichkeit gestiftet ist. Deren nähere Betrach-
tung führt zur Freilegung einer Ambivalenz der Zeit, die für die Per-
son Entropieprinzip und zugleich Bedingung der Möglichkeit von
Identität ist (8.4.1). Im zweiten Schritt geht es unter Wiederaufnah-
me eines zentralen Themas der Studien über Fénelon um die Frage,
wie die Person als ›Haben einer Natur‹ gedacht werden kann, ohne
dass die Reflexion die konstitutive Distanz zu ihrer Natur aufhebt.
Die Kontextunabhängigkeit der Person wird dazu auf ihre epistemo-
logische und sittliche Bedeutung hin befragt und im apriorischen
Kontext von Personalität fundiert. Die im Durchgang durch die alle
Transzendenz einholende Reflexion erreichbare vermittelte Unmit-
telbarkeit fasst Spaemann im Begriff des Gewissens als Ausdruck der
Differenz zur eigenen Natur und damit die Person als ontologisches
Versprechen (8.4.2). Abschließend wird die Frage gestellt, die noch
hinter die Reflexion zurückgeht und auf den ersten Antrieb zielt, der
noch vor jedem konkreten Wollen steht. Um das Problem der Wil-
lensfreiheit angehen zu können, bildet Spaemann den von Harry
Frankfurt inspirierten Begriff des ›primären Wollens‹, mit dem die
Möglichkeit von Freiheit im Verhältnis der Person zu ihrer Natur
fundiert wird und der Gedankengang an die der Entdeckung der Per-
son zugrunde liegende Spontaneität des Herzens anknüpft. In der

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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis

Erörterung des Begriffs geht es um die Fragen, ob dieses Wollen wirk-


lich frei und eine Begegnung von Personen damit möglich ist und
welchen konkreten Einfluss dieses primäre Wollen auf das konkrete
menschliche Wollen hat (8.4.3).

8.4.1 Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der


Möglichkeit von Begegnung

Ausgangspunkt der Überlegungen in diesem Abschnitt ist die Frage,


wie das mit dem Gedanken des apriorischen Beziehungsraums vo-
rausgesetzte ursprüngliche Vermitteltsein der Personen aus der sub-
jektiven Perspektive gedacht werden kann bzw. welche Schwierig-
keiten sich aus dieser Perspektive ergeben. Auch wenn die philo-
sophische Denkbarkeit des personalen Standpunktes oben dargelegt
worden ist 4, muss noch einmal konkret nachgefragt werden, wie aus
der uns gegebenen subjektiven Perspektive zu ihm zu gelangen ist.
Das Problem besteht darin, dass das Personsein sich erst im Ereignis
der Begegnung realisiert, wohingegen der subjektive Akt der Selbst-
transzendenz nur die Bedingung der Möglichkeit der Begegnung ist.
Während dieser Akt als Bedingung noch gedacht werden kann,
scheint das durch ihn ermöglichte Ereignis der Begegnung durch die
Eröffnung eines Zusammenhangs, in dessen Zentrum nicht mehr das
eigene Subjekt steht, sich der Denkbarkeit prinzipiell zu entziehen. Es
hat also den Anschein, als ob die Realität der Personen, die in ihrem
korrelaten Vermitteltsein durch Begegnung – dem apriorischen Be-
ziehungsraum – besteht, sich dem Denken entzieht, obgleich, wie das
vorangegangene Teilkapitel gezeigt hat, die Person als konstitutiver
Grenzbegriff von Spaemanns Ontologie durchaus denkbar ist. Das
Vermitteltsein der Personen im Beziehungsraum selbst scheint durch
diese Ontologie nicht mehr gedacht werden zu können.
Die Möglichkeit einer Philosophie der Begegnung hängt von der
Lösung dieses Problems ab. Da der Ausgangspunkt des Gedanken-
gangs durch den eigenen unverwechselbaren Ort im apriorischen Be-
ziehungsraum und damit auch den subjektiven Zugang zu ihm nicht
zur Disposition steht, kann der Weg zur Lösung dieses Problems nur
durch eine Reflexion der Spezifik dieses Zugangs gefunden werden,

4 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität,


583–599.

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8. Ontologie der Person

die das immer schon intersubjektiv Vermittelte des vermeintlich sub-


jektiven Zugangs aufdecken und den unterstellten Gegensatz von
Subjektivität und Intersubjektivität als πρώτον ψεύδος dieser Pro-
blemstellung erweisen kann. Dazu soll zunächst die subjektive Ge-
gebenheitsweise der Person auf ihre verborgene Intersubjektivität
hin befragt werden, um auf diesem Weg die abstrakte Dialektik von
Subjektivität und Intersubjektivität durch den in »Glück und Wohl-
wollen« vorbereiteten Gedanken eines Kontinuums von Leben und
Bewusstsein zu überwinden. Auf dem neuen Niveau der Philosophie
der Person wird dieses Kontinuum von Leben und Bewusstsein an-
schließend auf der Grundlage des zeitlichen Selbstverhältnisses von
Personen beschrieben. Das Selbstverhältnis von Personen in der Zeit
ist die Voraussetzung der Möglichkeit interpersonaler Begegnung
und damit – im Sinne der ›Zeitgestalten‹ – auch der Überwindung
der Zeit als Entropieprinzip.
Wie aus dem Grundgedanken des ›Habens einer Natur‹ hervor-
geht, ist es »charakteristisch für Personen, daß sie Subjekte verschie-
dener und voneinander deutlich getrennter Aktarten sind« 5. Die Auf-
fassung von »Personen als kontinuierlichen Aktzentren« 6 deutet auf
dem Niveau der Philosophie der Person das Ereignis aus, das Spae-
mann in »Glück und Wohlwollen« als Erwachen zur Vernunft im
Transzendieren des vitalen Bedeutungszusammenhangs des Lebe-
wesens beschrieben hat. In »Personen« bemerkt er hierzu:
Wenn es aber dasselbe Subjekt sein soll, das denkt und will, das theo-
retischer und praktischer Intentionalität und diesem voraus noch der
Liebe, also einer Intentionalität des Vorziehens und Nachsetzens fähig
ist, und wenn diese Akte als unabhängige Variable auftreten, dann
muß das Subjekt dieser Akte ihnen gegenüber eine Selbständigkeit
besitzen, die ausschließt, daß es nur als deren aktuelle Funktion be-
griffen wird. Es muß als spontaner Anfang und als Selbstsein ver-
standen werden. 7
Die Akte der Person selbst lassen eine Unabhängigkeit von ihrer
eigenen Natur erkennen, die zur Frage nach dem Ursprung persona-
ler Spontaneität führt. Bereits in »Glück und Wohlwollen« beantwor-
tete Spaemann diese Frage mit dem im Gedanken der Repräsentation
des Unbedingten in der Weise des Bildes enthaltenen Verweis auf ein

5
Spaemann, Personen (1996), 67.
6 Ebd. 69.
7
Ebd.

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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis

reziprokes interpersonales Begegnungsgeschehen. 8 Analog dazu be-


tont er in »Personen«, dass »uns unser eigenes Personsein gar nicht
früher gegeben [ist] als das Personsein anderer« 9. Die subjektive Ge-
gebenheitsweise der Person erweist sich damit als bereits durch das
Begegnungsgeschehen konstituiert. Das Problem, um das es geht,
scheint damit aber nur von der Seite der Subjektivität auf die der
Intersubjektivität verschoben zu sein: Wenn das Begegnungsgesche-
hen solchermaßen als Ursprung personaler Spontaneität gesehen
wird, tritt das Subjekt als reine Disponibilität – also passiv – in dieses
Geschehen ein und die Begegnung entzieht sich aufgrund der fehlen-
den Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität weiterhin
der Denkbarkeit. Der Versuch, Begegnung zu denken, scheint sich
also in die Dialektik zweier unvermittelter Seiten – des Subjekts und
des Zwischen – zu verstricken, in der Spaemann das Muster erkennt,
wie Personalität in der Gegenwartsphilosophie gedeutet wird:
Was die Genese des Selbstverhältnisses betrifft, so haben wir es heute
im wesentlichen mit zwei Schulen zu tun. Die eine geht vom Faktum
der Intersubjektivität aus und will Subjektivität als sekundäres Phäno-
men aus jener entspringen lassen. Die andere hält das für unmöglich.
Subjektivität und Bewußtsein sind für sie die unhintergehbare Bedin-
gung jeder Art von interpersonaler Beziehung. Sie versucht, Selbst-
bewußtsein zunächst solipsistisch zu rekonstruieren. Der Streit ist,
wie mir scheint, nur beizulegen, wenn wir unterscheiden zwischen
einem unmittelbaren Innesein als Erleben einerseits und einem refle-
xiven Bewußtsein seiner selbst andererseits. Das heißt, er ist nur bei-
zulegen, wenn wir realisieren, daß Leben und Bewußtsein ein Kon-
tinuum bilden. 10
Die Vorstellung von Leben und Bewusstsein als Kontinuum hatte
Spaemann zuvor in »Glück und Wohlwollen« durchdacht, wo er den
Antagonismus von Leben und Vernunft im Kontext des Sündenfall-
mythos durch die Idee des ›ursprünglichen Erwachtseins‹ auflöste. 11
Die Dialektik der beiden in der Gegenwartsphilosophie vertretenen
Positionen, so der Kerngedanke der Wiederaufnahme dieser Über-
legungen in »Personen«, ist überhaupt nur die Folge eines vom Leben
bzw. der Natur abgelösten Vernunftbegriffs. Leben und Bewusstsein

8 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor be-

nevolentiae, 467–479.
9
Spaemann, Personen (1996), 193.
10 Ebd. 169.

11
Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 457–467.

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8. Ontologie der Person

als Kontinuum zu denken bedeutet dagegen, dass die Vernunft als


eine Form der Steigerung des lebendigen Ausseins-auf begriffen
wird, durch die eine Identität entsteht, die immer schon intersubjek-
tiv vermittelt ist, da Selbstbewusstsein als »zentripetale Wendung der
Subjektivität auf sich selbst« 12 immer schon durch einen Blick von
außen induziert ist. Dabei ist die Pointe des Gedankengangs, dass
Identität durch den Schritt zur Vernunft überhaupt erst denkbar
wird: »Erst indem der Mensch aufhört, unmittelbar mit seinem Er-
leben identisch zu sein, wird er ›mit sich identisch‹. Erst indem er
aufhört, bloß Beseeltes zu sein, gewinnt seine Seele eine eigene inne-
re Einheit, die Einheit meines Erlebens, ›meiner Seele‹.« 13 Identität ist
demnach intersubjektives Vermitteltsein. An die Stelle des Verweises
auf den Sündenfallmythos in »Glück und Wohlwollen« tritt hier also
die Fundierung im Ereignis der Entdeckung der Person. Das πρώτον
ψεύδος der Problemstellung, von der der Gedankengang hier seinen
Ausgang nahm, liegt darin, dass es falsch ist, von einer ›subjektiven
Perspektive‹ zu reden, von der aus das Sein der Personen im Bezie-
hungsraum zu begreifen wäre. Wenn der Ausgangspunkt der Über-
legungen somit neu gewählt werden muss, rücken zwei Aufgaben in
den Mittelpunkt: Zum einen muss gezeigt werden, worin die immer
schon geleistete intersubjektive Vermittlung des vermeintlich subjek-
tiven Zugangs zum personalen Beziehungsraum besteht. Zum ande-
ren muss das Ereignis der Begegnung dadurch in seiner Denkbarkeit
expliziert werden, dass eine intersubjektiv vermittelte Aktivität des
Subjekts gefunden wird, der etwas entgegenkommt, ohne dass das
Subjekt von diesem in reine Disponibilität verwandelt würde.
Zur Erschließung der immer schon intersubjektiv vermittelten
Personalität kann die Abgrenzung vom »anfänglichen, sich unmittel-
bar präsenten Selbst« 14 führen, das als zur Entität hypostasiertes in-
stantanes ›cogito‹ der cartesischen Neubegründung der neuzeitlichen
Philosophie zugrunde liegt. Wie oben dargelegt wurde, stellt dieses
›reine Subjekt‹ eine Abstraktion dar, der immer schon eine intersub-
jektiv vermittelte Wirklichkeit vorausliegt. 15 Wenn Descartes, wie
Spaemann bemerkt, mit dem Ausgang vom ›cogito‹ »den entschei-

12 Spaemann, Personen (1996), 169.


13
Ebd. 170.
14 Ebd. 114.
15
Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 527–528.

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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis

denden Zug dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 16 macht, ihn je-
doch sogleich falsch interpretiert, muss in der Vertiefung der Analyse
dieser Fehlinterpretation 17 an dieser Stelle die Frage interessieren,
welchen zentralen Aspekt der Konstitution personaler Identität Des-
cartes durch seine Abstraktion ausgeblendet hat. Die Antwort ist be-
reits im Begriff der Instantaneität enthalten: »Die Konstitution per-
sonaler Identität ist untrennbar von dem Prozeß des Sich-selbst-
äußerlich-werdens, vom Prozess der Selbstenteignung durch die
Zeit.« 18 Descartes interpretierte »das Haben der eigenen Natur als
Herrschaft« 19; die Zeit erscheint als ein Prinzip, das dieses Interesse
gerade untergräbt:
Zeitlichkeit […] bedeutet, daß Subjektivität im Aussein, im Ausgrei-
fen auf das, was sie noch nicht ist, sich selbst fortwährend zu Vergan-
genem, also zu einem Außen wird. Dieses Außen ist aber nicht von der
Art subjektloser Gegenständlichkeit, sondern selbst ein äußerlich ge-
wordenes Innen oder auch ein »inneres Außen«. Der erinnerte Hun-
ger, über den ich mit mir selbst ebenso wie mit anderen sprechen kann,
bleibt immer mein Hunger, obgleich ich jetzt, wo ich mich seiner ent-
sinne, nicht hungrig bin. Durch dieses Objektivwerden des Subjekti-
ven als des Subjektiven durch dessen Gewesensein wird es möglich,
daß Subjekte auch für andere als Subjekte objektiv sein können, und
das heißt, daß sie Personen sind. 20
Das Selbstverhältnis der Person als ›Haben einer Natur‹ bedeutet in
seiner zeitlichen Dimension durch die »intentio obliqua der Erinne-
rung« 21, dass sie sich selbst immerzu zu einem Anderen wird, den sie
dennoch als mit sich identisch weiß. Damit ist die Zeitlichkeit die
Voraussetzung dafür, dass überhaupt von der Wahrnehmung anderer
Personen die Rede sein kann. Diese Wahrnehmung kann nämlich
nicht auf bloßer Rezeptivität beruhen, denn »Selbstsein ist ja per de-
finitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist« 22. Person kann
immer nur das Korrelat eines Aktes der Anerkennung sein:

16 Spaemann, Personen (1996), 144.


17 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 534–536.
18 Spaemann, Personen (1996), 114.

19 Ebd. 145.

20 Ebd. 116.

21 Ebd. 116–117. – Vgl. »In der Erinnerung wird die intentio recta auf intentionale

Gehalte zur intentio obliqua. Indem ich mich des Erlebens erinnere, erinnere ich mich
zugleich, ja primär des Erlebten selbst.« – Ebd. 113.
22
Ebd. 193.

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8. Ontologie der Person

Sie setzt ein passives Gegebensein voraus. Der Andere muß mir in der
sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen »Mensch« gegeben sein, in
der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges gegeben ist. Sein Person-
sein aber ist wesentlich das nie Gegebene, sondern in freier Anerken-
nung Wahrgenommene. Der Doppelsinn des Wortes »wahrnehmen«
kommt hier zum Tragen. So sagen wir, daß wir die Interessen eines
Menschen wahrnehmen, wenn wir sie uns zu eigen machen und Drit-
ten gegenüber vertreten. Nur in diesem Sinn werden Personen »wahr-
genommen«. 23
Wenn jedoch die Semantik von ›wahrnehmen‹ in diesem Zusammen-
hang von ihrer sinnlichen Konnotation völlig gelöst würde, wären
Beziehungen zwischen Personen nur möglich in der abstrakten Form
der reinen Anerkennung ihrer Rechte. Daraus folgt, dass die Person
erst aus dem Verhältnis zu sich selbst in der Zeit allmählich die Fähig-
keit entwickeln kann, andere Personen in einem starken Sinn wahr-
zunehmen, das heißt über die bloße Anerkennung hinaus mit ihnen
in eine Beziehung treten zu können:
Das Sich-äußerlich-werden der Subjektivität als Zeitlichkeit ist also
die Bedingung der für Personen wesentlichen Intersubjektivität.
Wenn wir Intersubjektivität denken wollen, stehen wir ja vor dem
Problem, daß uns fremde Innerlichkeit nur in symbolischer Repräsen-
tation, also in Gestalt natürlicher Bestimmungen, aber gerade nicht als
Subjektivität gegeben ist. Alles, was mir ein anderer zukehren kann,

23
Spaemann, Personen (1996), 194. – Auf das »Paradox«, von dem Spaemann hier
spricht, dass Anerkennung einerseits eine Aktivität sei, der eine Rezeptivität voraus-
gehe, die Person aber nicht als Phänomen gegeben sei, geht Charles Larmore ein:
»Wenn Philosophen von Paradoxa sprechen, geht es meist darum, daß die analytische
Arbeit noch nicht weit genug getrieben worden ist. Zwei Meinungen können nicht
zugleich wahr und inkompatibel sein, und wenn sich beide als unausweichlich er-
weisen, dann sollte man zeigen, in welchem Sinne sie sich vereinbaren lassen. Das
tut Spaemann nicht.« – Larmore, Person und Anerkennung, 462. – Dem ist zu wider-
sprechen, da Spaemann durchaus zeigt, in welchem Sinn die beiden Aussagen sich
vereinbaren lassen. Vgl. die folgenden Ausführungen zum »Sich-selbst-äußerlich-
werden der Subjektivität«. – Larmores Missverständnis der Spaemann’schen Konzep-
tion scheint mir darauf zurückzuführen zu sein, dass er Spaemann in der Frage nach
der Genese des Selbstverhältnisses der Schule zuordnet, die Subjektivität als sekun-
däres Phänomen aus der Intersubjektivität ableiten will. – Vgl. Larmore, Person und
Anerkennung, 462. – Wie oben dargelegt wurde, verhilft der Gedanke des Kontinu-
ums von Leben und Bewusstsein aber zu der Einsicht, dass Subjektivität und Inter-
subjektivität als mit der Entdeckung gleichzeitig entstanden zu denken sind und die
Frage nach der Priorität einer der beiden Seiten das πρώτον ψεύδος dieser Überlegung
ist. – Vgl. in diesem Abschnitt, 603–604.

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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis

ist immer eine Außenseite. Die Kluft wäre unüberbrückbar, wenn end-
liche Subjekte nur instantan, als einzelne Bewußtseinsereignisse exis-
tierten. Diese könnten keine Außenseite haben. Eine solche Außen-
seite wäre vielmehr gerade das Gegenteil jedes »Innen«. Das Wort
»Repräsentation« wäre eine bloße Vokabel, mit der wir die Unüber-
brückbarkeit der Kluft verschleiern würden. 24
Der Gedanke der Repräsentation, der schon in den Essays der 80er
Jahre ein Schlüsselbegriff der metaphysischen Konzeption Spae-
manns war 25 und dort einen in den theologischen Bereich verweisen-
den Grenzbegriff philosophischer Reflexion bezeichnete, wird nun in
»Personen« durch die Reflexion auf das zeitliche Selbstverhältnis zur
Explikation des Ereignisses der Begegnung verwendet. Personale
Subjektivität kann überhaupt nur aus einem intersubjektiven rezi-
proken Zusammenhang begriffen werden, in dem es keine Priorität
von Ich oder Anderem gibt. Einerseits kann Subjektivität im Anderen
nur dadurch wahrgenommen werden, dass die eigene Subjektivität in
der Erinnerung zu einem Außen wird; andererseits aber liegt diesem
zeitlichen Selbstverhältnis immer schon ein internalisierter Blick von
außen zugrunde.
Bisher wurde die Zeitlichkeit thematisiert als »Bedingung der
für Personen wesentlichen Intersubjektivität« 26; für den abschließend
darzustellenden Zusammenhang wird die Zeitlichkeit ebenfalls eine
Rolle spielen, jedoch in einem gegenläufigen Sinn, insofern gezeigt
werden soll, dass es für die Person wesentlich ist, über der Zeit zu
stehen. Dieser Gedanke mag zunächst verwundern: Wie sollte die
Person als Haben einer endlichen Natur über der Zeit stehen? Im
Gegenteil ist es doch so, dass das »Sich-äußerlich-werden« der Sub-
jektivität, ohne das es Personalität überhaupt nicht gäbe, ihr eine Art
Entropiegesetz zugrunde legt: »Zeit ist die Bedingung des Objektiv-
werdens von Innerlichkeit und damit Bedingung endlicher Personali-
tät. Aber dieses Objektivwerden der Innerlichkeit bedeutet zugleich,
daß sie unwirklich wird.« 27 Was dabei unwirklich wird, ist allerdings
nur die Innerlichkeit; der Gedanke einer Überzeitlichkeit der Person
beruht darauf, dass sie, obzwar sie mit dieser Innerlichkeit ein Kon-

24 Spaemann, Personen (1996), 116.


25 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 395.
26 Spaemann, Personen (1996), 116.

27
Ebd. 118.

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8. Ontologie der Person

tinuum bildet, einen wesentlichen Schritt über sie hinaus darstellt.


Der »ontologische Ursprung von Zeit« 28 liegt im seiner selbst be-
wusst werdenden Aussein-auf eines Lebewesens: »Zeit entsteht, in-
dem Subjektivität sich Sein aneignet, indem Subjekte werden, was sie
sind, nämlich was sie von Natur aus sind. […] Ihrer selbst bewußt
sind Personen nur, indem sie sich des bereits Angeeigneten bewußt
sind, also ihrer Vergangenheit.« 29 Das Bewusstsein der Zeitlichkeit
gründet also in der Zentriertheit des Lebewesens, die durch das Er-
wachen zur Vernunft gerade überwunden wird. Aus der Sicht der
Person werden die Vorzeichen in der Deutung der Zeit geradezu um-
gekehrt. Die Zeit erscheint so nicht als depravierendes Prinzip, son-
dern als Bedingung der Möglichkeit von Identität: »Erst durch die
Erinnerung werden wir uns selbst enthüllt.« 30 Zur Erklärung dieses
Zeitverhältnisses der Person rekurriert Spaemann auf den theologi-
schen Hintergrund des Personbegriffs. Für den »dreipersonalen« Gott
muss die »Gleichzeitigkeit mit jeder erlebten Gegenwart« 31 an-
genommen werden: »Dieser Gedanke eines nichtzeitlichen Gewußt-
werdens des Zeitlichen sowie der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit mit
jedem Augenblick hat allerdings weitreichende Konsequenzen für
das Verständnis von Zeit. Sie verliert unvermeidlich ihre ontologi-
sche Realität.« 32 Spaemann bleibt an dieser Stelle in »Personen« eine
direkte Erläuterung schuldig, inwiefern dieser Rückbezug auf den
theologischen Personbegriff genuin philosophisch ausdeutbar ist. Im
Sinne der in Teilkapitel 8.3 vorgenommenen philosophischen Deu-
tung der theologischen Implikationen des Personbegriffs kann eine
solche Erwägung in die philosophische Argumentation einbezogen
werden, sofern es gelingt, für die theologischen Postulate – in diesem
Fall die wesentlich Überzeitlichkeit der Person im Beziehungsraum –
eine genuin philosophische Erklärung nachzureichen. 33 Die theologi-
sche Vorstellung des Aufbewahrtseins der endlichen Person im nunc
stans der göttlichen kann demnach in der philosophischen Deutung
durch das Begegnungsgeschehen zwischen den Personen ersetzt wer-

28 Spaemann, Personen (1996), 117.


29 Ebd.
30 Ebd.

31 Ebd. 120.

32 Ebd. 120–121.

33
Auf die religiöse Dimension des Personen-Buchs wird erst an späterer Stelle in
Form eines Nachtrags eingegangen werden. – S. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der
Personenphilosophie zur Religion, 643–650.

610

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8.4.1 Das personale Selbstverhältnis

den, das die Zeit vom Entropieprinzip in die Bedingung der Möglich-
keit ihrer Aufhebung verwandelt. Auch wenn Spaemann diese ge-
nuin philosophische Erklärung nicht explizit ausführt, geht eine sol-
che implizit aus den Folgerungen hervor, die er zieht:
Nun wäre der Unterschied zwischen den Augenblicken tatsächlich ein
wesenloser und Zeit ein pures Weggleiten von Sein, wäre die jeweilige
Gegenwart nicht mit Inhalt gefüllt. Es ist ja nicht »die Zeit«, die fließt,
sondern das wechselnd gestimmte und mit wechselnden Inhalten ge-
füllte Erleben. Personen sind nicht dem Aussein auf das stets ent-
gleitende Sein ausgeliefert, sondern können diese Inhalte aufeinander
beziehen, so daß sich eine Zeitgestalt ergibt. Die neutrale Zeit als un-
endlicher und unendlich teilbarer Fluß ist eine bloße Abstraktion. Die
Wirklichkeit besteht aus erlebten Inhalten von wechselnder Dauer.
Personen sind, indem sie solche Inhalte aufeinander beziehen, selbst
Zeitgestalten. 34
Der Begriff der ›Zeitgestalt‹ ist von zentraler Bedeutung für das Ver-
ständnis der Zeit als Bedingung der Möglichkeit ihrer Selbstauf-
hebung. Der phänomenale Gegebenheit suggerierende Begriff der
Gestalt steht als Metapher für das in der Begegnung sich ereignende
Aufeinanderbeziehen von erlebten Inhalten, das die Zeit als bloßes
Vergehen aufhebt. Den metaphorischen Charakter des Begriffs unter-
streicht Spaemann durch den Vergleich mit musikalischen Werken:
Paradigmatisch für eine Zeitgestalt ist die Musik. Die Elemente eines
Musikwerkes sind nicht einzelne Töne, sondern kleine Tonfolgen, de-
ren Länge in den Bereich der unmittelbaren Retention fällt, die also so
etwas wie eine ausgedehnte Gegenwart sind. Das ganze Stück als Ge-
stalt kann nur in bewußtem Erinnern und Aufeinanderbeziehen der
Elemente realisiert werden. Oft bedarf es dazu mehrerer Wieder-
holungen, vielleicht sogar einer theoretischen Beschäftigung mit dem
Werk. Was hier in der Zeit realisiert wird, ist etwas durchaus »Ideel-
les«, Zeitloses, das doch ohne Zeit gar nicht zu denken ist. 35
Es geht somit um eine fundamentale Ambivalenz der Zeit, in der sich
letztlich die beiden Aspekte der ›gehabten Natur‹ und des ›Habens
einer Natur‹ widerspiegeln. Als Entropieprinzip wird die Zeit wahr-
genommen vom Lebewesen, genauer gesagt aus der im Bewusstsein
fortwirkenden Perspektive der ihrer selbst bewusst gewordenen le-
bendigen Zentralität. Die Möglichkeit ihrer Aufhebung in der Bil-

34 Spaemann, Personen (1996), 121.


35
Ebd.

611

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8. Ontologie der Person

dung von Zeitgestalten ergibt sich aus der Distanz zu dieser Zentrali-
tät, in der sich das Personsein ausdrückt. Die Person steht zwischen
diesen beiden Zeitbegriffen: »Personen existieren zwischen dem Be-
wußtsein des ständigen Vernichtetwerdens durch die Zeit und dem
Bewußtsein der Nichtigkeit der Zeit selbst auf dem Hintergrund der
Idee eines Nunc stans.« 36 Die Ambivalenz der Zeit aus personaler
Sicht ist letztlich darin begründet, dass die Person als ›Haben einer
Natur‹ sich immer zwischen zwei konkurrierenden Zusammenhän-
gen bewegt, dem durch die natürliche Zentralität des Lebewesens ge-
setzten vitalen Zusammenhang und dem durch die Realisierung des
Personsein gegebenen Zusammenhang des personalen Beziehungs-
raums:
[…] die Befreiung vom Triebhang, die den Zusammenbruch des vita-
len Bedeutsamkeitszusammenhangs ermöglicht, gibt einem anderen
Zusammenhang Raum, der durch jenen ersten verdeckt wird. Das Ge-
fühl der Absurdität gehört diesem anderen Zusammenhang an, den
wir »Sinnzusammenhang« nennen. Dieser jedoch kann […] den vita-
len Bedeutungszusammenhang integrieren. Sinn ist im Bewußtsein
der Endlichkeit gehärtete Bedeutsamkeit. Und unter »Härtung« ver-
stehe ich die Selbstbehauptung und damit das Zeitloswerden einer Be-
deutsamkeit im Angesicht des Todes. 37
Der Antagonismus von Leben – ›Bedeutsamkeitszusammenhang‹ –
und Bewusstsein – ›Sinnzusammenhang‹ – kann überwunden, Leben
und Bewusstsein als Kontinuum begriffen werden, wenn durch die
interpersonale Begegnung die Integration des Bedeutsamkeitszusam-
menhangs in den Sinnzusammenhang gelingt. Die Person, die we-
sentlich in einer Distanz zu ihrer ›gehabten Natur‹ besteht, ist nicht
ebenso der Zeitlichkeit unterworfen wie diese Natur; sie kann sich
zwar nicht zu einer absoluten Überzeitlichkeit aufschwingen, bleibt
aber im Sinne der conditio humana Ausdruck einer fragilen Negen-
tropie: »Der Gedanke der Person ist der Gedanke, die eigene Existenz
als Gestalt zu verstehen, die sich nicht als invarianter Gegenstand
zeitlosen Wissens in der Zeit durchhält, sondern selbst eine Gestalt
von Zeit ist: Zeit-Gestalt.« 38 Trotz der intersubjektiven Vermittlung,
die jeder Personalität immer zugrunde liegt, geht die Subjektivität in

36 Spaemann, Personen (1996), 122.


37
Ebd. 128.
38 Ebd. 122. – Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christ-

lichen Theologie: Der Akt des Seins, 581–582, Fn. 58.

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

das Begegnungsgeschehen somit nicht als reine Disponibilität ein,


sondern als Speicher erlebter Inhalte, als eine Spontaneität, für die
das Begegnende wiederum von konstitutiver Bedeutung für ihre Ver-
wandlung in eine Zeit-Gestalt ist.

8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:


Gewissen und Versprechen

Die Frage, wie vom Begriff der Person zum Ereignis der Begegnung
zu gelangen ist, wurde zunächst so beantwortet, dass die Person
immer schon in der Begegnung steht, dass personale Identität als
Zeitgestalt Ergebnis eines Begegnungsgeschehens und damit die Be-
gegnung im Begriff der Person immer schon vorausgesetzt ist. Als
Medium der intersubjektiven Vermittlung personaler Identität er-
wies sich die Zeit, die als Entropieprinzip der Lebewesen für Personen
zur Bedingung der Möglichkeit ihrer Identität als Zeit-Gestalten
wird. Vorläufig ausgeklammert wurde in dieser Betrachtung das Pro-
blem der Reflexion, das Spaemann seit den Studien über Fénelon be-
schäftigt hat. Es besteht im Kontext der Philosophie der Person darin,
dass, so wie im amour-pur-Streit Gott durch die Reflexion in einen
Begriff verwandelt und die Liebe zu Gott auf das Motiv des Eigennut-
zes zurückgeführt wird, auch Personen als Jenseits des Begriffs von
der Reflexion wieder eingeholt werden und damit die Möglichkeit
eines ›Habens einer Natur‹ als Transzendieren des individuellen Inte-
ressenhorizonts in Frage gestellt wird. Die Möglichkeit einer Philo-
sophie der Person setzt daher voraus, dass der personale Standpunkt
die Reflexion selbst distanziert, indem das personale ›Haben einer
Natur‹ noch auf die rationabilis natura ausgedehnt wird. Die Aus-
einandersetzung mit diesem Problem erfordert eine Selbstthematisie-
rung des Denkens, die im Kontext von Spaemanns Ontologie der Per-
son anknüpft an die in Abschnitt 8.3.1 39 dargelegte Verwandlung der
menschlichen Vernunft und ihres Verhältnisses zur Wirklichkeit
durch das Ereignis der Entdeckung der Person. Die dort entwickelte
These, dass die Vernunft im antiken Verständnis als »Organ des All-
gemeinen« 40 mit der Entdeckung überwunden wurde durch eine per-

39
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 565–574.
40
Spaemann, Personen (1996), 29.

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8. Ontologie der Person

sonale Vernunft, soll im Rahmen der folgenden Überlegungen kon-


kretisiert werden. Dazu wird zunächst das dem antiken Denken
Fremde der personalen Vernunft durch den Begriff der Kontextunab-
hängigkeit expliziert. Die mit ihr verbundene Distanzierung der Per-
son von der Reflexion selbst wird danach anhand der Deutung des
Gewissens als eine zweite Unmittelbarkeit gefasst, bevor mit dem
Verständnis der Person als ›ontologisches Versprechen‹ die Konkreti-
sierung der personalen Vernunft und ihres Wirklichkeitsverhältnis-
ses abgeschlossen wird.
Die Vernunft als ›Organ des Allgemeinen‹ stiftet einen univer-
salen Kontext, in dem unter den Bedingungen des neuzeitlichen Aus-
gangs des Denkens vom Subjekt alles Seiende aufgrund seines So-
seins mit allem anderen Seienden kommensurabel wird. Dass aus
diesem universalen Kontext Leben als Selbstsein ausbricht, da es »in
seiner Objektivität nicht aufgeht« 41, ist der letztlich unbeweis- und
unwiderlegbare Grundgedanke, der im Mittelpunkt von Spaemanns
Philosophieren steht. Dieser Gedanke kann aus seiner bloßen Nega-
tivität nur herausgeführt werden, wenn es eine Art der Wahrnehm-
barkeit von Selbstsein aus der Außenperspektive gibt:
Ein Begegnendes als Lebendiges wissen heißt, es als Mitseiendes wis-
sen, das nicht in dem aufgeht, was es für mich ist. Solches Wissen setzt
allerdings mehr voraus als eigene Lebendigkeit, also Zentralität. Es
setzt voraus, daß ein Lebewesen seine eigene Zentralität transzendiert.
Das heißt: Personen wissen sich als lebendige Innerlichkeit neben an-
derer lebendiger Innerlichkeit, die ihrerseits einen eigenen Erfah-
rungskontext stiftet. 42
Wenn es den personalen Standpunkt voraussetzt, Begegnendes als
Lebendiges zu wissen, fällt von diesem Gedanken ein Licht zurück
auf die Wahrnehmung von Lebendigem unter den Bedingungen des
antiken Denkens. In »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹
und ›es gibt‹« bemerkte Spaemann bereits, dass Aristoteles’ Begriff
der Substanz »seinen Ursprung in der Erfahrung von Lebendigem«
hat, »die ihrerseits die Erfahrung eines Wesens voraussetzt, dem es,
um mit Heidegger zu sprechen, in seinem Sein um dieses selbst
geht« 43, wobei Aristoteles dies aber nicht reflektiere und nicht vom

41
Spaemann, Personen (1996), 134.
42 Ebd.
43
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 34.

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

Subjekt aus denke. Auch wenn die Erfahrung von Lebendigem somit
als Grundintuition aristotelischen Philosophierens gewertet wird,
impliziert diese noch nicht jenes Wissen, um das es hier geht und
das Spaemann der personalen Perspektive reserviert. Um die Diffe-
renz zwischen Personen und anderen Lebewesen – also auch Men-
schen vor der Entdeckung der Person – darzulegen, unterstreicht
Spaemann die rein numerische, radikal vereinzelnde Bedeutung des
Begriffs Person: 44
Wir nennen Menschen Personen, weil sie auf andere Weise als jene
Lebewesen, die es sonst gibt, das sind, was sie sind. Was sie sind, setzt
sich zusammen aus Eigenschaften, die sie größtenteils mit anderen
teilen. Die individuelle Kombination dieser Eigenschaften wird wahr-
scheinlich immer einzigartig sein. Aber was Personen zu Personen
macht, ist nicht ihre Einzigartigkeit, sondern ihre Einzigkeit. 45
Personen sind als Lebewesen mit bestimmten Eigenschaften para-
doxerweise über alle qualitativen Kontexte hinaus. Kontextunabhän-
gigkeit bedeutet Inkommensurabilität: »die Inkommensurabilität der
Person ist nichts anderes als die Inkommensurabilität des Seins als
›absoluter Position‹. Als Selbstsein, dessen Identität mit keiner quali-
tativen Bestimmtheit gleichgesetzt werden kann, entzieht es sich
jeder Definition durch einen Kontext.« 46
Welche konkrete Bedeutung hat die Inkommensurabilität der
Person, die aufhört, »bloß Teil zu sein«, und »selbst zur Totalität« 47
wird, in ihrem Daseinsvollzug?
Die eigentümliche Kontextunabhängigkeit, die sich, durch welche
Kontexte auch immer vermittelt, mit der Wahrnehmung der Person
verbindet, charakterisiert nun auch die Struktur und den Sinn ihrer
Äußerungen, ihr Sprechen und Handeln. Der Wahrheitswert mensch-
licher Rede und die sittliche Qualität menschlicher Handlungen be-
sitzen eine solche Kontextunabhängigkeit, aufgrund derer sie un-
mittelbar die sprechende und handelnde Person repräsentieren. 48

44 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 517–519.


45 Spaemann, Personen (1996), 175.
46 Ebd. 136. – Den Begriff der »absoluten Position« zur Bezeichnung der Existenz

entlehnt Spaemann bei Kant. – Vgl. den Hinweis Spaemanns auf die Quelle des Zitats
in der Anmerkung: I. Kant: Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration
des Daseins Gottes, Akademieausgabe Bd. II, 73. – Ebd. 270.
47 Spaemann, Personen (1996), 137.

48
Ebd.

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8. Ontologie der Person

Die jenseits aller Kontexte ihres Daseins bestehende Kontextunab-


hängigkeit der Person hat als vermittelte Unmittelbarkeit also eine
theoretische und eine praktische Bedeutung. Die theoretische besteht
darin, dass die Person »sich in ihrer Rede jederzeit als wahrheitsfähi-
ges Wesen« darstellen kann, dass »in jedem als Satz abgeschlossenen
Redeteil die Person als wahrheitsfähiges und auf Wahrheit bezogenes
Wesen präsent« 49 ist. Die Voraussetzung solcher Wahrheitsfähigkeit
der Person ist die »Kontextunabhängigkeit der Wahrheitswerte von
Sätzen in einer auf die Wirklichkeit bezogenen Rede«: »Diese ›Parzel-
lierung‹ von Sinn ist die Bedingung personaler Intersubjektivität, die
Bedingung wahrheitsfunktionaler Gespräche.« 50 Die praktische Be-
deutung der vermittelten Unmittelbarkeit für das personale Handeln
steht in direkter Analogie zur personalen Wahrheitsfähigkeit:
Diesen Charakter kontextunabhängiger Totalität finden wir wieder in
der sittlichen Handlung. So wie die menschliche Rede aus Sätzen be-
steht, deren Wahrheitswert unabhängig von den Kontexten ist, in die
diese Sätze eingehen, so ist die menschliche Lebenspraxis nicht ein
einfaches Kontinuum, das erst vom Ende her beurteilbar wäre, son-
dern sie besteht aus einzelnen Handlungen, die in sich selbst einen
abgeschlossenen Sinn haben. 51
Zum Sein der Person gehört somit wesentlich, dass sie auf theoreti-
scher Ebene die Wahrheit von Sätzen und auf praktischer Ebene die
Sittlichkeit ihrer Handlungen verantwortet, ohne dass diese Verant-
wortung im Sinne übergeordneter Kontexte an eine andere Instanz
delegiert werden könnte:
[…] die Region der Personalität ist durch keinen übergreifenden Kon-
text definiert und durch keinen Kontext ihrer Unbedingtheit zu berau-
ben. Sie konstituiert vielmehr ihrerseits einen Kontext der Anerken-
nung jenseits der Zeit und aller geschichtlichen Kontexte. Dieser
apriorische Kontext ist prinzipiell unendlich. Jede Person, ob sie den
anderen bekannt ist oder nicht, gehört ihm an. 52

49 Spaemann, Personen (1996), 139.


50 Ebd.
51 Ebd. 140.

52 Ebd. 142–143. – Der apriorische Kontext der Personen ermöglicht wieder die Ein-

heit des Guten und Schönen, also die einstellige Verwendung von ›gut‹, die bereits
von den Sophisten in Frage gestellt wurde und deren scheinbar endgültiger Verlust
unter den Bedingungen des neuzeitlichen Ausgangs des Denkens vom Subjekt zur
Deontologie führen musste: »Die Kriterien des Wahren und des Guten setzen diesen
unendlichen Horizont voraus. Gerade weil sie durch keinen endlichen Kontext de-

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

Der durch die Personalität konstituierte apriorische Kontext stellt die


konkrete Ausdeutung jenes Übergangs von der Vernunft als Organ
des Allgemeinen zur personalen Realisierung der Vernunft als Haben
einer rationabilis natura dar, die Spaemann in »Personen« gibt. Es
geht in ihr um die durch ein Gegenüber vermittelte Wendung der
Vernunft auf sich selbst, die nur in paradoxen Sätzen zu fassen ist.
Die Kontextunabhängigkeit entsteht in diesem Übergang gleichzeitig
mit dem Bewusstsein eines universalen Kontextes. In dem Augen-
blick, in dem durch den Ausgang vom Subjekt der universale Kontext
bewusst wird, erwacht das Bewusstsein für das sich diesem Kontext
Entziehende, wobei dieses Erwachen die Entstehung der Region der
Personalität ist.
Im Sinne der angekündigten Selbstthematisierung des Denkens
ist nun der Sachverhalt zu problematisieren, dass jede Vorstellung
personaler Kontextunabhängigkeit letztlich ein Gedanke bleibt und
somit durch die Reflexion in den universalen Kontext integriert und
damit aufgehoben wird. Für die Reflexion ist kennzeichnend, dass sie
über alle Grenzen hinausdringt und die Transzendenz selbst wieder
einholt:
Die Reichweite der Reflexion ist der Reichweite der Transzendenz pro-
portional. Was auch immer gedacht wird, wir können auf das Gedacht-
sein des Gedachten, auf das Gesehensein des Gesehenen reflektieren
und Wirklichkeit selbst immer wieder als »Bild« verstehen. Das neu-
zeitliche Denken hat sich in immer radikaleren Schritten in diese
Richtung bewegt. 53
Die Reflexion ist damit zumindest potentiell ein Prinzip, das zur kon-
stitutiven Selbsttranszendenz der Person in einen Widerspruch treten
kann, insofern sie die für Personalität konstitutive innere Differenz
immer wieder einholen kann. 54 Spaemann zeigt dies exemplarisch an
einer Reflexion über das richtige Leben und die Relativierung der
eigenen Interessenperspektive:

finierbar sind, qualifizieren sie wahre Sätze und gute Handlungen für jeden mög-
lichen Kontext. Sie werden durch keinen endlichen Kontext depotenziert, während
umgekehrt Sätze und Handlungen, die in ihrer Funktionalität für einen bestimmten
Kontext aufgehen, eben dadurch ihre Eignung verlieren, ohne Veränderung ihrer per-
sonalen Bedeutung in beliebige Kontexte transponierbar zu sein.« – Ebd. 143.
53
Spaemann, Personen (1996), 100.
54 Vgl. zu dieser Problematik Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion

und Transzendenz, 637–642.

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8. Ontologie der Person

Die Maßstäbe dieses richtigen Lebens lassen sich zwar aus einer Be-
trachtung der menschlichen Natur, der Gesetze des menschlichen Zu-
sammenlebens und aus den geschichtlich vorgegebenen Verpflichtun-
gen gewinnen. Aber der Verpflichtungscharakter folgt für eine Person
aus keinem dieser Inhalte. Zu all diesen kann sie ja reflektierend in
Distanz gehen. Von keinem dieser Inhalte geht eine instinktive Nöti-
gung aus. Wir selbst schaffen erst eine solche Nötigung, indem wir auf
die distanzierende Reflexion verzichten und eine Verantwortung für
uns selbst anerkennen. Im Gedanken der Verantwortung für sich
selbst realisiert sich die Person auf exemplarische Weise. Der Verzicht
auf distanzierende Reflexion ist ja nicht ein Rückfall in natürliche Un-
mittelbarkeit, sondern eine neue, die erst möglich wird dadurch, daß
der Mensch sich von allen Interessen, sowohl eigenen wie denen an-
derer, die sich für ihn unmittelbar geltend machen, distanziert. 55
Die Differenz zum eigenen Sosein, in der die Personalität wesentlich
besteht, realisiert sich daher für das animal rationale erst darin, dass
sich die Person als Differenz noch von der eigenen Reflexion begreift.
Doch was ist dieses ›Begreifen‹ anderes als wieder eine neue Refle-
xion? Ergibt sich auf diese Weise nicht eine Iteration, aus der sich
niemals eine Differenz zur Reflexion ergeben kann? Dass dem nicht
so ist, dass es sich nicht um eine Metareflexion handelt, die in die
Iteration führt, ist aufs engste mit der oben beschriebenen anthro-
pologischen Entdeckung der Person verbunden:
Die »Stimme«, die auch noch die primäre, interessenorientierte Refle-
xion distanziert und die wir »Gewissen« zu nennen gewohnt sind,
bringt nicht einen neuen Inhalt oder ein neues Interesse ins Spiel, das
mit den anderen in Konkurrenz träte. Sie so zu verstehen, wäre eine
»naturalistic fallacy«. Sie ist eine »Stimme von nirgendwo«, die dem
für die Person charakteristischen view from nowhere entspricht. 56
Ein naturalistischer Fehlschluss wäre es, die Stimme des Gewissens
als konkreten Inhalt zu verstehen, weil sie von diesen unabhängig ist
als Urteil über das, was sein soll. Die Gleichsetzung dessen, was sein
soll, mit konkreten Inhalten würde dieses Urteil tautologisch und da-
mit unmöglich machen. Mit dem Begriff des Gewissens ist die im
Hinblick auf das reflexive Selbstverhältnis entscheidende Konkre-
tisierung der Personalität benannt: »Gewissen zu haben, ist das ein-
deutigste Signum der Person. Es vereinzelt den Menschen radikal und

55 Spaemann, Personen (1996), 176–177.


56
Ebd. 177.

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

entreißt ihn zugleich jedem egozentrischen Individualismus.« 57


›Stimme von nirgendwo‹ kann das Gewissen nur sein, wenn es gerade
Ausdruck der Differenz zur eigenen Natur ist; und dennoch ist das
Gewissen ganz wesentlich das Vernehmen dieser Stimme durch diese
Natur. »Der formale Charakter des Gewissens bedeutet, daß das Ge-
wissen kein Orakel ist, das das sittliche Urteil irgendwie durch par-
tikulare Gesichtspunkte beeinflußt oder präjudiziert. Das Gewissen
beeinflußt dieses Urteil nicht, es ist dieses Urteil.« 58 Das Urteil des
Gewissens stellt keine Wahl zwischen verschiedenen Handlungs-
optionen dar; denn für diese Wahl bedürfte es eines Maßstabes, der
seinerseits wieder gewählt werden müsste, woraus sich die angedeu-
tete Iteration ergäbe. Das Gewissen trifft keine Entscheidung, son-
dern fällt ein Urteil, indem es Besonderes unter Allgemeines sub-
sumiert:
Der Gewissensspruch läßt sich rekonstruieren als Subsumtion des
eigenen Handelns unter eine Regel der sittlichen Vernunft, welche
ihrerseits in einer Werteinsicht fundiert ist, und zwar als eine Sub-
sumtion, die mit Aufforderungscharakter, mit einer »Stimme« ver-
bunden ist. Wichtig dabei ist, daß sich die »Stimme« nicht nur darauf,
einem solchen Subsumtionsurteil nun auch im Handeln zu folgen,
sondern auf das Urteil selbst bezieht. 59
In diesem Subsumtionsurteil des Gewissens zeigt sich die Kontext-
unabhängigkeit der Person in ihrer praktischen Bedeutung. Sie ver-
antwortet dieses Urteil, das »nicht selbst wieder aus einer Regel abge-
leitet werden« 60 kann, allein. Aus seinem formalen Charakter folgt
aber wiederum, dass das Gewissen nicht gefeit ist vor Irrtümern:
»Gerade weil es Wahrheit intendiert, kann es irren. […] Da das Ge-
wissen mit Anspruch auf Gültigkeit urteilt, kann es falsch urteilen.« 61
Und auch dies fällt wieder in den Bereich der Verantwortung des Ein-
zelnen: »Der Gewissensirrtum muß also selbst ein sittlicher und nicht
nur intellektueller Defekt sein« 62. Der sittliche Defekt besteht in
einem unvollkommenen Erwachtsein zur Wirklichkeit, im Paradox
der ›schuldhaften Unaufmerksamkeit‹, von dem oben im Zusammen-

57 Spaemann, Personen (1996), 178.


58 Ebd. 179.
59 Ebd. 182.
60
Ebd. 184.
61 Ebd. 186.
62
Ebd. 187.

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8. Ontologie der Person

hang mit »Glück und Wohlwollen« die Rede war. 63 Es ist somit das
Gewissen, das die Möglichkeit der inneren Differenz zur eigenen Na-
tur gegen die alle Transzendenz verschlingende Reflexion bewahrt. Es

63 Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio humana, 290. – Rudolf Langthaler kritisiert im Hin-
blick auf Spaemanns dargelegte Konzeption des Gewissens eine »Einebnung des
Unterschieds von ›Gewissen‹ und ›praktischer Urteilskraft‹« – Langthaler, Über
»Seelen« und »Gewissen«, 498 –: »In gebotener Rücksicht auf einige grundlegende
Differenzierungen Kants […] bleibt vor allem schon einmal zu fragen, ob denn Spae-
manns zitierte Behauptung, der zufolge ›das …, was Kant als Leistung der Urteilskraft
bezeichnet, … selbst bereits Sache des Gewissens‹ ist, nicht einen folgenschweren
Problemverlust begünstigt, als dies doch offenbar die Tragweite der grundsätzlichen
Differenz zwischen ›formaler und materialer Gewissenhaftigkeit‹, zwischen ›Gewis-
sen‹ und ›moralischer Urteilskraft‹ verkennt bzw. bewußt ignoriert. Die von Kant
behauptete Unmöglichkeit, in einem strengen – d. i. eigentlich moralischen – Sinne
von einem ›irrenden Gewissen‹ zu sprechen, verträgt sich ihm zufolge ohne weiteres
mit der Fehlbarkeit des zugrunde liegenden Urteils und der auch von ihm deshalb
festgehaltenen Unverfügbarkeit des moralisch Guten. All diese das berühmte Urteil
Kants über das ›irrende Gewissen‹ als einem ›Unding‹ berührenden Probleme und
Einsichten sind es mithin, die gegenüber Spaemanns Behauptung: ›Das Gewissens-
urteil verlangt ‘absolute Geltung’‹ […], doch wiederum skeptische Zurückhaltung
nahelegen, gleicherweise gegenüber seiner These: ›Gerade weil es [das Gewissen]
Wahrheit intendiert, kann es irren.‹ […] Spiegelt sich jene von Spaemann wohl zu
Unrecht vernachlässigte – unaufhebbare kantische Differenz von ›Gewissen‹ und
›praktischer Urteilskraft‹, neben der Charakterisierung des ›Gewissensirrtums‹ als
eines ›sittlichen Defekts‹, nicht auch darin wider, daß im Grunde doch nur ein jener
Differenz (und damit seiner Endlichkeit?) enthobenes ›Vernunftwesen‹ sich von den
im Sinne Spaemanns verstandenen Gewissensirrtümern ›befreit‹ wissen könnte? Be-
zeichnenderweise muß jedoch ›dem Gewissen – also [!] dem, was wir als das Gute
erkannt zu haben glauben – so ‘gewissenhaft’ wie möglich zu folgen‹, auch für Spae-
mann als die ›sicherste [!, und doch wohl auch als die einzige?] Weise‹ gelten, ›sich
von Gewissensirrtümern zu befreien«, zumal das Gewissen in dieser bleibenden
Spannung zur ›praktischen Urteilskraft‹ sich nicht selbst los wird (sich nicht ›auf-
geben‹ kann) – wäre denn andernfalls die aporetische Forderung eines ›Gewissens
des Gewissens‹ nicht unvermeidlich?« – Ebd. 496–497. – Langthaler übersieht nach
meinem Dafürhalten Spaemanns prinzipielle Abwendung von der deontologischen
Ethik kantischer Prägung. Bereits in »Glück und Wohlwollen« verknüpfte Spaemann
den Begriff des Gewissens mit der Wahrnehmungsevidenz: »Die theoretisch unent-
scheidbare Frage nach dem, was ›in Wahrheit ist‹, wird an jenem Punkt entschieden,
wo theoretische und praktische Philosophie, wo Metaphysik und Ethik ursprünglich
eins sind, im Gewissen. Ich darf den Anderen nicht als bloße ›Erscheinung‹ betrach-
ten, wenn ich mir des Anspruchs bewußt werde, der von seiner Wirklichkeit ausgeht,
und ich darf mich selbst nicht als bloße Erscheinung betrachten, wenn ich mich als
Adressat dieses Anspruchs erfahre. Andererseits kann ich dem Anspruch nur genügen
durch Handlungen, die sich auf den Anderen als Erscheinung richten, denn nur auf
diese kann ich überhaupt wirken.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 194. –
Wenn daher für Spaemann das Wohlwollen zur Aktualisierung der antiken εὐδαιμο-

620

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

»drängt den Menschen zur Einheit mit sich selbst, und zwar zu einer
Einheit, die zugleich Totalität ist, also nichts außer sich hat, wovon sie
nur Teil der Funktion wäre oder von wo aus betrachtet ihr Sinnhori-
zont relativiert würde« 64. Mit Bezug auf Kleists Erzählung vom »Ma-
rionettentheater« spricht Spaemann in diesem Zusammenhang von
einer »zweiten Unmittelbarkeit«, der »Unmittelbarkeit einer durch
das Gewissen aufgehobenen Reflexion« 65.
Die »Entdeckung des Gewissens« als die Erfahrung, dass »Ver-
nunft selbst konkret ist« 66, ist die Voraussetzung von Personalität, die
jedem interpersonalen Begegnungsgeschehen zugrunde liegt:
Das Eigentümliche der sittlichen Verpflichtung scheint gerade darin
zu liegen, daß sie eine bestimmte Reflexion trotz ihrer Möglichkeit
nicht zuläßt, eine Reflexion, mit der Personen sich aus jeder Verbind-
lichkeit herausreflektieren können. Der Verzicht auf diese Reflexion
scheint der eigentlich sittliche Akt zu sein. In diesem Verzicht nämlich
realisiert der Mensch sich als Person, das heißt als unhintergehbare
Bedingung der Reflexion selbst. Er übernimmt das Versprechen, das
er als Person schon ist. 67

νία wird, bedeutet dies, dass jede Person ihr Erwachtsein zur Wirklichkeit verantwor-
ten muss. An die Stelle des kategorischen Imperativs der praktischen Vernunft tritt
ein selbst wieder zu verantwortender ordo amoris als »gestufte Rangordnung inner-
halb des universalen Wohlwollens« – ebd. 146. – Nur indem die Person ihr Handeln
unter Regeln der sittlichen Vernunft subsumiert, distanziert sie sich von der relati-
vierenden Reflexion, folgt sie also dem Gewissen. Da sie in diesen Akten der Sub-
sumtion fehlbar ist, verbindet sich für Spaemann die absolute Geltung des Gewissens
ohne Widerspruch mit seiner Fehlbarkeit. Die kantische Unterscheidung zwischen
Form und Materie der Bestimmung der Handlung wird von Spaemann als abstrakt
und damit für die Orientierung im praktischen Handeln unzureichend durchschaut:
»Die Entdeckung des Gewissens ist die Entdeckung, daß Personen nicht bessere oder
schlechtere Instantiierungen einer gegen das Individuelle indifferenten Vernunft
sind, sondern daß Vernunft selbst konkret ist. Vernunft terminiert nämlich in Urtei-
len über Einzelnes.« – Spaemann, Personen (1996), 181–182. – Systematisch tritt
damit an die Stelle der Differenz zwischen Gewissen und Urteilskraft bei Kant für
Spaemann der Gegensatz zwischen ›schuldhafter Unaufmerksamkeit‹ und ›Erwacht-
sein zur Wirklichkeit‹.
64 Spaemann, Personen (1996), 185.

65 Ebd. 178. – Vgl. Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichts-

philosophische Perspektive, 172–174.


66 Spaemann, Personen (1996), 181–182.

67
Ebd. 237.

621

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8. Ontologie der Person

Die Person ist, wie Spaemann sagt, ein »ontologische[s] Verspre-


chen« 68, insofern sie wesentlich eine Differenz zur eigenen Natur ist,
durch die eine intersubjektive Verbindlichkeit hergestellt wird; diese
wiederum zeigt sich darin, dass Personen Wesen sind, »die verspre-
chen können. Das heißt, sie können selbst einen Zusammenhang mit
anderen Personen stiften, der dem Versprechenden gegenüber eine
Erwartung und einen Anspruch auf Erfüllung dieser Erwartung be-
gründet.« 69 Die Möglichkeit im alltäglichen Sinn zu versprechen ist
darin fundiert, dass »wir den Inhalt des Versprechens unmittelbar mit
jenem Versprechen verknüpfen, das wir als Person sind. Um jenes
Versprechen zu brechen, muß ich dieses brechen. Ich bringe mich als
Person zum Verschwinden.« 70 Durch diesen Gedanken wird verdeut-
licht, dass die oben thematisierte fundamentale Ambivalenz der Zeit 71
erst im interpersonalen Begegnungsgeschehen voll zu Tage tritt:
Die Unmittelbarkeit der Identität des beisichseienden Bewußtseins ist
ja, wie wir schon sahen, nur instantan, ohne zeitliche Erstreckung.
Unsere eigene Innerlichkeit wird uns als erinnerte äußerlich, aber als
Innerlichkeit. Wir können feststellen, daß wir inzwischen anders ge-
worden sind. Und mit Bezug auf das Bewußtsein können wir Anders-
werden als »Ein-anderer-Werden« verstehen. Damit allerdings wür-
den wir uns als Personen im Verhältnis zu anderen zum Verschwinden
bringen, denn für andere sind wir nur auf dieselbe Weise identifizier-
bar wie andere Dinge und Lebewesen in Raum und Zeit. Auch solche
Dinge werden ja ständig anders. Sie verändern sich. Und so verändern
sich auch Personen. 72
Hier ist die Rede von der Zeit als bloßer Prozessualität, als Entropie-
prinzip, das Personen als »Wesen, die versprechen können« 73, in Frage
stellt: »Im Bruch des Versprechens liegt das Scheitern der personalen
Identitätsstiftung, der Sieg der Entropie über die Freiheit.« 74 Die ei-
gentliche Bedeutung der Zeit im personalen Kontext besteht aber da-
rin, dass sie zum »Medium einer Gestalt« 75 und damit als Zeit gerade

68 Spaemann, Personen (1996), 251.


69 Ebd. 235.
70 Ebd. 241.

71 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit

von Begegnung, 609–613.


72 Spaemann, Personen (1996), 240.

73
Ebd. 235.
74 Ebd. 247.

75
Ebd. 122.

622

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8.4.2 Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens

überwunden wird. Diese Überwindung kann, wie gesehen, nicht ab-


solut sein, sondern ist als fragile Negentropie im Rahmen der conditio
humana zu denken:
»Entwicklung« [ist] nicht etwas, das der Person nur widerfährt, son-
dern etwas, das ihr in dem Maß widerfährt, wie sie sich diesem Wider-
fahrnis aussetzt.
Nun gehört zur Natur eines lebendigen Wesens Entwicklung.
Und da das Sein der Person im Haben einer Natur besteht, kann sie
sich diesem Gesetz der Natur nicht einfachhin entziehen. Aber sie
kann sich in dem Sinne zu ihm verhalten, daß sie diese Entwicklung
ihrer puren Naturwüchsigkeit entzieht und die dem höheren Gesetz
personaler Identität unterwirft. 76
Die Person nutzt die Zeit als Medium der Herausbildung der eigenen
Gestalt durch die Schaffung intersubjektiver Verbindlichkeit in Form
des Versprechens. Dadurch, dass sie die Verantwortung für sich selbst
wahrnimmt, indem sie den vitalen Bedeutungszusammenhang ihrer
Natur in einen intersubjektiv vermittelten Sinnzusammenhang inte-
griert, bringt sie sich als Zeitgestalt hervor.
Es ist nicht von ungefähr, daß diese Selbst-Inbesitznahme der Person
zugleich den Charakter der Selbstentäußerung hat. Versprechend, ge-
ben wir einen Teil von uns aus der Hand. Wir räumen anderen einen
Anspruch an uns ein. Aber nur so befreien wir uns vom Ausgeliefert-
sein an den Zufall unserer naturalen Befindlichkeit. […] Freiheit gibt
es deshalb nur durch den Eintritt in Lebenszusammenhänge, die durch
gegenseitige Ansprüche konstituiert sind, Ansprüche, die wir an-
erkennen oder die wir selbst gestiftet haben. 77
Die Herausbildung der Person als Zeitgestalt ist somit kein indi-
vidueller Werdegang, der nur akzidentell einer Unterstützung von
außen bedarf, sondern findet wesentlich statt im Geschehen der Be-
gegnung und ist in ihren Resultaten von den konkreten Begegnungs-
ereignissen abhängig. Diese Abhängigkeit besteht um so mehr, als der
Mensch das ontologische Versprechen, das er als Person ist, nie voll-
ständig halten kann, und daher wesentlich auf die Hilfe von außen
angewiesen ist:
Selbsttranszendenz mit Bezug auf andere Personen ist, so sahen wir,
das, wodurch Personen sich verwirklichen. Selbsttranszendenz, Über-

76 Spaemann, Personen (1996), 242.


77
Ebd. 245–246.

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8. Ontologie der Person

schreitung der vitalen Ichzentriertheit, wird dadurch ermöglicht, daß


der Mensch sich als von anderen anerkannt erfährt. Personen gibt es
nur im Plural. Und das gilt nun auch für die Wiedergewinnung jenes
»Weges«, auf dem sich Personen, solange sie leben, befinden und der
durch die curvatio in se ipsum, also durch Schuld, unterbrochen
wurde. Diese Unterbrechung bedarf, um beseitigt zu werden, der Hilfe
von außen. 78
Für diese Hilfe von außen, die Spaemann schon in »Glück und Wohl-
wollen« in der Möglichkeit »ontologischer Verzeihung« fundiert
sah, 79 findet sich in »Personen« der umgreifende Begründungs-
zusammenhang im Gedanken der Person als ›ontologisches Verspre-
chen‹. Das Fazit der Betrachtung in diesem Abschnitt besteht darin,
dass das personale ›Haben einer Natur‹ keineswegs nur als kognitive
Distanz verstanden werden kann. Die innere »Differenz ist uns ge-
läufig unter dem Titel der ›Reflexion‹. Aber Reflexion ist nur eine
ihrer Erscheinungsformen. Die Differenz bestimmt unser Dasein,
auch wenn wir nicht reflektieren. Sie ermöglicht die Reflexion, sie
beruht nicht auf ihr.« 80 Im nächsten Abschnitt ist nach der allgemei-
nen Bedeutung dieser Differenz, die nicht nur als Reflexion ein »In-
sich-Gehen«, sondern ebenso ein »Aus-sich-Heraustreten« 81 ist, zu
fragen.

78 Spaemann, Personen (1996), 248.


79
In ähnlicher Form findet sich dieser Gedanke schon in »Glück und Wohlwollen«.
Vgl.: »Die Vernunft eröffnet uns eine Dimension, von der wir zugleich erkennen, daß
sie von uns nicht ausfüllbar ist. Niemand ist vollkommen erwacht. Natürlichkeit ist
Unbewußtheit.« – Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 242. – Vgl. auch: »In der
›ontologischen‹ Verzeihung erlauben wir es dem anderen, das Versprechen nicht zu
halten, das er als vernünftiges Wesen ist.« – Ebd. 245. – Vgl. Abschnitt 7.2.3, Ordo
amoris und ontologische Verzeihung, 487–489.
80 Spaemann, Personen (1996), 23. – Vgl.: »Es fällt auf, dass Spaemann Vernunft und

Bewusstsein nicht zu den Phänomenen des Personseins zählt. Er eliminiert hier be-
wusst Zuschreibungen, die bei anderen Philosophen als Proprium der Person gekenn-
zeichnet werden.« – Meisert, Ethik, die sich einmischt, 209.
81
Spaemann, Personen (1996), 23.

624

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung:
Die Spontaneität des Herzens

Nachdem zunächst die intersubjektive Vermittlung der Personalität


durch das Begegnungsgeschehen anhand der Ambivalenz der Zeit als
reine Prozessualität und gleichzeitig »Medium einer Gestalt« 82 dar-
gelegt und danach die Unabhängigkeit des apriorischen Kontexts der
Personalität vom universalen Kontext der Vernunft anhand der Be-
griffe ›Gewissen‹ und ›Versprechen‹ in der personalen Differenz noch
zur eigenen Reflexion fundiert wurde, soll es im folgenden dritten
Schritt darum gehen, die innere Differenz der Person, die sich im
›Haben einer Natur‹ ausdrückt, so zu betrachten, dass noch hinter
die Reflexion zurückgegangen und nach ihrer primären Erschei-
nungsform gefragt wird, um auf diese Weise zur letzten Aussage zu
gelangen, die in Spaemanns Personenphilosophie über das Ereignis
der Begegnung gemacht wird. Bei dieser primären Erscheinungsform
der inneren Differenz geht es um einen »ersten, spontanen, nicht
mehr zu vergegenständlichenden Antrieb« 83, der Personalität we-
sentlich ausmacht:
Es handelt sich um das Phänomen, daß wir uns zu unseren Wünschen
und Willensakten noch einmal verhalten können. Wir können wün-
schen, bestimmte Wünsche zu haben oder nicht zu haben. Wir bewer-
ten nicht nur die Dinge entsprechend unseren Wünschen, sondern wir
bewerten unsere Wünsche. Wenn es uns gelingt, unsere Wünsche mit
dieser Bewertung in Einklang zu bringen, fühlen wir uns frei, wenn
nicht, erleben wir uns als ohnmächtig, so wie Süchtige oder Triebtäter,
die nicht wollen, was sie wollen. 84
Es geht bei dieser inneren Differenz also wesentlich um die Freiheit
der Person von ihrer Natur, genauer gesagt um das, was allgemein als
›Willensfreiheit‹ bezeichnet wird. Die Aufnahme dieses Begriffs in die
Erörterung der Personalität erfordert eine knappe Thematisierung
der Problematik des philosophischen Freiheitsbegriffs, im Zuge deren
die Vorstellung eines ›primären Wollens‹ entfaltet wird, an die an-
schließend zwei prinzipielle Fragen zu ihrer Konkretisierung gestellt
werden.

82
Spaemann, Personen (1996), 122.
83 Ebd. 23.
84
Ebd. 22.

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8. Ontologie der Person

Im Kapitel »Freiheit« schickt Spaemann, nachdem er zunächst in


einem historischen Abriss den Bedeutungswandel des Freiheits-
begriffs im Übergang vom antiken zum christlichen Denken beleuch-
tet hat 85, dem Versuch einer systematischen Begriffsanalyse eine
skeptische Bemerkung voraus:
Angesichts jahrhundertelanger Diskussionen, wie der um Existenz
oder Nichtexistenz der Willensfreiheit, – Diskussionen, bei denen der
Austausch der Argumente doch schließlich immer nur zu einem Patt
führt – ist zu vermuten, daß man die Frage falsch gestellt hat. Ver-
mutlich hat man den Gegenstand, um dessen Existenz oder Nichtexis-
tenz es geht, nicht angemessen bestimmt. 86
Zunächst legt Spaemann dar, dass es »hinsichtlich der Lösung des
Freiheitsproblems keine Vorteile« bietet, »ein ›Selbst‹ als Entität« 87
zu isolieren, »das für die Entscheidungen verantwortlich ist und mit
dem Gehirn des Menschen in Interaktion steht« 88, da das Problem
durch diese Isolierung lediglich verlagert wird; ebenso kann man im
Sinne des teleologischen Grundgedankens »den Menschen als ganzen
als eine Entität betrachten, die, wie jedes mit Trieb ausgestattete We-
sen, mit ihren Entstehungsbedingungen kein Kontinuum bildet, son-
dern sich von diesen Bedingungen emanzipiert hat« 89. Spaemann
geht es also um eine in der Natur fundierte Freiheit, 90 die nur denkbar
ist, wenn eine reduktionistische Sicht der Natur zurückgewiesen wer-
den kann. Ausführlich setzt sich Spaemann mit der »These des De-
terminismus, alle unsere intuitiven Entscheidungen, aber auch alle
Resultate des Überlegens und Abwägens seien durch neurophysio-
logische Abläufe eindeutig determiniert« 91, auseinander, wobei er
drei Gegenargumente entwickelt. 92 Erstens legt er die »reductio ad

85
Auf diesen historischen Abriss wurde hier Bezug genommen in Abschnitt 8.3.1,
Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser Grund‹, 565–574.
86
Spaemann, Personen (1996), 219.
87 Ebd. 220.

88 Ebd. – Spaemann verweist in einer Anmerkung auf John Eccles und Karl Popper:

The Self and Its Brain, Berlin 1977. Deutsch: Das Ich und sein Gehirn, München 1989,
130 ff. – Ebd. 267 u. 273.
89 Spaemann, Personen (1996), 220.

90 Vgl. Teilkapitel 2.3, Das Bewusstsein der Kontingenz und die Freiheit im Ereignis

der Begegnung, 68–82.


91 Spaemann, Personen (1996), 222.

92
S. Kapitel »Freiheit«, Abschnitt III. – Ebd. 222–227.

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung

absurdum des materialistischen Determinismus« 93 anhand des Ge-


dankens dar, dass diese Theorie, wenn sie wahr wäre, »selbst nur Aus-
druck des Soseins dessen, der sie vertritt,« wäre und somit »keinen
Anspruch auf Wahrheit erheben« 94 könnte. Zweitens zeigt er, dass
der »psychische Determinismus« 95 Gedanken und Wünsche mit Mo-
tiven verwechselt und seinen Erklärungsanspruch nur aufrechterhal-
ten könnte, wenn man »Motive, ehe sie motivieren, als unabhängige
Variable beobachten und dann das Resultat ihrer Interaktion voraus-
sagen« 96 könnte. Drittens leitet er aus der menschlichen Selbsterfah-
rung als »Erlebnis des Könnens« 97 die Folgerung ab, dass die »prinzi-
pielle Leugnung einer nicht wirklich gewordenen Möglichkeit« durch
den Determinismus unhaltbar ist. Das wenig überraschende Fazit die-
ser Auseinandersetzung mit dem Determinismus ist, dass er weder
beweis- noch widerlegbar ist, dass in jedem Fall aber »menschliches
Handeln nicht in naturalistischen Kategorien verstehbar ist« 98.
Die weitere Suche nach der angemessenen Bestimmung des
eigentlichen Gegenstandes des Freiheitsproblems wird befördert
durch eine Differenzierung verschiedener Bedeutungen von Willens-
freiheit. Auf der einen Seite geht es um »Entscheidungen, die das
Resultat eines Mit-sich-zu-Rate-gehens sind« 99, in denen sich der
antike Begriff von Freiheit erschöpft:
Den Bereich der Wahlfreiheit, des liberum arbitrium, sah die antike,
im Mittelalter fortwirkende Tradition in dem Spielraum, den das Wol-
len von Zwecken bezüglich der Mittel eröffnet. Eudaimonia wurde als
»letzter Zweck« verstanden, aber dieser Zweck nicht als Gegenstand
einer möglichen Wahl. Ihn wollen wir vielmehr »von Natur«. 100
Freiheit auf der anderen Seite in dem für den vorliegenden Zusam-
menhang entscheidenden Sinn geht aus jenem »radikalen Wechsel
des Standpunkts« 101 hervor, der oben als ›Entdeckung des Herzens‹
bzw. ›Entdeckung der Person‹ thematisiert wurde. Willensfreiheit im

93 Spaemann, Personen (1996), 223.


94 Ebd. 222.
95 Ebd. 223.

96 Ebd. 224.

97 Ebd. 225.

98 Ebd. 227.

99
Ebd. 221.
100 Ebd. 217.

101
Ebd. 213.

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8. Ontologie der Person

radikalen Sinn 102 gibt es erst für Personen. Zur theoretischen Aus-
einandersetzung mit ihr bezieht sich Spaemann auf den Aufsatz
»Willensfreiheit und der Begriff der Person« des amerikanischen Phi-
losophen Harry Frankfurt, 103 in dem dieser von »secondary volitions«
bzw. »Volitionen zweiter Stufe« spricht: 104
Es besteht eine sehr enge Beziehung zwischen der Fähigkeit, Volitio-
nen zweiter Stufe zu bilden, und einer weiteren für Personen wesent-
lichen Fähigkeit, die man oft für ein auszeichnendes Merkmal des
Menschseins gehalten hat. Nur weil eine Person Volitionen zweiter
Stufe hat, kann sie sich der Freiheit ihres Willens erfreuen oder auch
ihrer ermangeln. […]
Wenn wir fragen, ob eine Person einen freien Willen hat, dann
fragen wir nicht danach, ob sie in der Lage ist, ihre Wünsche erster
Stufe in die Tat umzusetzen. Das wäre die Frage, ob sie frei ist zu tun,
was ihr gefällt. Die Frage nach der Willensfreiheit betrifft nicht das
Verhältnis zwischen dem, was jemand tut, und dem, was er tun möch-
te, sondern sie betrifft die Wünsche selber. […]
Genauso wie die Frage nach der Freiheit einer Handlung darauf
zielt, ob sie auch die Handlung ist, die der Betreffende ausführen
möchte, so bezieht sich die Frage nach der Willensfreiheit darauf, ob
der Wille, den einer hat, der Wille ist, den er haben möchte. 105
Den Begriff der ›Volitionen zweiter Stufe‹ ersetzt Spaemann durch
»primäres Wollen« 106, in dem er den eigentlichen Gegenstand der
Auseinandersetzung mit dem Problem der Willensfreiheit erkennt:

102 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 227.


103 »Willensfreiheit und der Begriff der Person« (»Freedom of the Will and the Con-
cept of a Person«), übersetzt von Jens Kulenkampff, in: Peter Bieri (Hg.) (1981), Ana-
lytische Philosophie des Geistes, Frankfurt/M.: Athenäum, 287–302. – Zuerst er-
schienen in: The Journal of Philosophy 68 (1971), wiederabgedruckt, in: Harry
Frankfurt (1988), The Importance of What We Care About. New York: Cambridge
University Press, 11–25. – Vgl.: Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, 232.
104 Theo Kobusch bemerkt kritisch, dass Frankfurts Idee nicht so neu sei, wie sie

scheine: »Neuerdings ist das Sein der Person auch in der analytischen Philosophie
ein zentrales Thema. In souveräner Unbekümmertheit um das in der Geschichte der
Philosophie schon Erreichte thematisiert diese Richtung der Philosophie ganz tradi-
tionelle Probleme im Zusammenhang mit dem Personbegriff. So sieht es H. G. Frank-
furt als das Wesen der Person an, ›Volitionen zweiter Stufe‹ zu haben, d. h. einen
bestimmten Wunsch wollen zu können, ohne auch nur anzudeuten, daß z. B. Augus-
tinus in ›De libero arbitrio‹ die selbstreflexive Struktur des menschlichen Wollens
schon herausgearbeitet hatte.« – Kobusch, Die Entdeckung der Person, 17.
105 Frankfurt, Freiheit und Selbstbestimmung, 75–77.

106
Spaemann, Personen (1996), 218 u. 232.

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung

Die Frage nach der Freiheit im radikalen Sinn der Selbstbestimmung


stellt sich erst dort, wo wir, indem wir uns zu dieser oder jener Hand-
lung oder Unterlassung entschließen, zugleich darüber entscheiden,
wer wir sind und was wir »im Grunde wollen«: wo also über die »se-
condary volitions«, die ich das »primäre Wollen« nenne, selbst ent-
schieden bzw. neu entschieden wird. Erst in dieser Entscheidung wird
der Mensch im eigentlichen Sinn als Person sichtbar, weshalb die An-
tike eine solche Entscheidung auch nicht kannte. 107
Bevor Spaemann sich den Fragen widmet, ob dieses ›primäre Wollen‹
frei ist und ob es »wirklichen Einfluß auf das konkrete Wollen« 108 hat,
arbeitet er die wesentlichen Aspekte heraus, in denen sich die Akte
des ›primären Wollens‹ von »alltäglichen Entscheidungen, die den
Charakter einer Wahl nach gegebenen Kriterien haben« 109, unter-
scheiden:
Sie sind nicht Momente im Kontinuum des Lebens- und Bewußtseins-
stromes, sondern in ihnen wird entschieden über die Sinnrichtung
dieses Lebens im ganzen. Es wird entschieden darüber, ob der Mensch
sich als Person realisiert, indem er sich dieses Leben so aneignet, daß er
sich zugleich transzendiert auf eine Welt, die nicht definiert ist als die
eigene Umwelt, oder ob er in die natürliche Selbstzentriertheit außer-
personalen Lebens zurückfällt. 110
Zur Differenzierung dieser Akte, die »Zäsuren, die den Charakter von
Anfängen haben« 111, schaffen, ist zu unterscheiden zwischen solchen,
in denen ein Mensch sein Personsein neu realisiert, dem entgegen-
gesetzten Akt des Zurückfallens und drittens dem Akt, in dem das
bereits realisierte Personsein neu bestätigt wird:
Wenn es sich um »Umkehr«, um einen Wechsel der Richtung, han-
delt, ist dieser Charakter des Anfangs offenkundig; beim Rückfall in
die Selbstzentriertheit, der curvatio in se ipsum, handelt es sich da-
gegen nicht um einen Anfang, sondern um das Zurücksinken in ein
naturales Kontinuum. Umkehr bedeutet auch das Bleiben in einer
längst getroffenen sittlichen Vorentscheidung, das Bleiben in einer
Dimension, die immer den Charakter des »Anfangs« hat, also des im
Verhältnis zum naturalen Kontinuum Neuen. Der Grund für das

107 Spaemann, Personen (1996), 227.


108 Ebd. 218.
109
Ebd. 227.
110 Ebd. 227–228.
111
Ebd. 228.

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8. Ontologie der Person

»Bleiben in der Liebe« ist nie das Gesetz der Trägheit, sondern diesem
entgegengesetzt. 112
Dies könnte nun so verstanden werden, dass der Mensch jeweils die
Wahl hat zwischen zwei Optionen: dem ›naturalen Kontinuum‹ und
der Realisierung des Personseins. Damit aber würde der fundamen-
tale Unterschied zwischen dem ›primären Wollen‹ und der Wahlfrei-
heit verwischt. An dieser Stelle wird nun deutlich, dass der Begriff der
Willensfreiheit in Bezug auf diese Akte irreführend ist, denn die
»Entscheidung für die Grundrichtung des Wollens hat nicht selbst
den Charakter eines Willensaktes« 113: »Ein Willensakt bedarf eines
Motivs. Aber von welchem Motiv sollte die Entscheidung darüber,
was für mich ein Motiv ist, geleitet sein? Wir kämen hier in einen
unendlichen Regress.« 114 Das ›primäre Wollen‹ kann dagegen nur so
verstanden werden, dass sich in ihm eine Haltung ausdrückt. Diese
lässt sich »am besten, Max Scheler folgend, als Liebe und Haß be-
schreiben« 115. Dieser Gedanke schließt an Spaemanns Interpretation
der ›Entdeckung des Herzens‹ an, in der bereits mit Bezug auf Augus-
tinus von den beiden Richtungen der Liebe als amor Dei usque ad
contemptum sui oder cor curvatum in se ipsum die Rede war. 116 Was
bedeutet nun im Zusammenhang mit dem ›primären Wollen‹ Liebe
konkret?
Sie ist die Öffnung der Person in der spontanen Bejahung aller ande-
ren Mitglieder der apriorischen universalen Gemeinschaft von Per-
sonen. Diese Öffnung geht allen einzelnen Willensakten voraus. Sie
hat überhaupt nicht den Charakter des Wollens, sondern qualifiziert
unmittelbar das Sein der Person, aus dem alles Wollen hervorgeht. 117
Das ›primäre Wollen‹, so lässt sich folgern, zeigt sich entweder in
dieser Öffnung der Person oder aber darin, dass diese verweigert
wird. Die damit verbundene Entscheidung, die der Antike noch unbe-
kannt war, bezieht sich auf das Sichtbarwerden des Umwillen – des
finis cuius –, von dem zuerst in »Glück und Wohlwollen« die Rede

112 Spaemann, Personen (1996), 228.


113 Ebd.
114 Ebd.

115 Ebd.

116
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 568–569.
117
Spaemann, Personen (1996), 229.

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung

war, in Bezug auf das die Position des Nihilismus und die Zuwendung
zum Unbedingten in der Weise des Bildes unterschieden werden. 118
Somit ist die Grundlage gelegt für Spaemanns erste prinzipielle
Frage an das ›primäre Wollen‹ : »Ist dieses Wollen frei, beziehungs-
weise wie haben wir seine Freiheit zu denken?« 119 Die Bedeutung
dieser Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung die Möglich-
keit von Personen und damit von Begegnung abhängt.
Aber wenn die allem Willen vorausgehende Liebe selbst nicht den
Charakter des Wollens hat, wie können wir sie und damit die Person
hinsichtlich der Grundrichtung ihres »Herzens« »frei« nennen? Der
Begriff der Freiheit scheint sich eben doch zu reduzieren auf seinen
bescheidenen aristotelischen Sinn und nicht eine Verantwortung des
Menschen für das zu meinen, was dem Wollen die Grundrichtung
gibt, also die fundamentale Struktur seiner Motivationen. Der Gedan-
ke der Autonomie der Person scheint in Widersprüche zu führen. 120
Das eigentliche Problem an dieser Stelle besteht in der Interpretation
der Freiheit als Autonomie. Beide Begriffe werden oft synonym ge-
braucht, obwohl der Begriff Autonomie im genauen Wortsinn als
›Selbstgesetzlichkeit‹ wesentlich enger gefasst ist als Freiheit, die im
Sinne des interpersonal vermittelten ›Habens einer Natur‹ eine ge-
wisse Heteronomie in sich aufnehmen kann, auch wenn dieser Be-
griff zur Charakterisierung der Freiheit letztlich ebenso wenig
brauchbar ist wie der der Autonomie. Was also ist wesentlich die von
der Autonomie abzuhebende Freiheit?
Die Freiheit, die wir hier unterstellen, ist nicht »Willensfreiheit«. Sie
kann auch nicht als Autonomie verstanden werden. Freiheit ist, so
sahen wir zu Beginn, zuerst und vor allem Freiheit von etwas. Wovon
ist die Person frei? Sie ist frei von ihrer eigenen Natur. Sie hat diese
Natur, sie ist sie nicht. Sie kann sich frei zu ihr verhalten. Aber das
kann sie nicht von sich aus, sondern nur durch die Begegnung mit
anderen Personen. Erst die Bejahung anderen Selbstseins – als An-
erkennung, Gerechtigkeit, Liebe – erlaubt uns jene Selbstdistanz und
Selbstaneignung, die für Personen konstitutiv ist, also die »Freiheit
von uns selbst«. Diese Freiheit erlebt sich selbst als Geschenk. Sie ist
nur die emotionale und praktische Seite des Offenen, der »Lichtung«,
in die sich die Person gestellt sieht und in der sich ihr das Begegnende

118 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127, u. Abschnitt 7.2.2, Amor
benevolentiae, 470–471.
119 Spaemann, Personen (1996), 218.

120
Ebd. 229.

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8. Ontologie der Person

als es selbst zeigt, nicht nur als Element einer Umwelt, die durch die
Funktionalität des eigenen Organismus und der eigenen Interessen
definiert ist. Auch die Wahrheitsfähigkeit des Menschen ist das Ge-
genteil von Autonomie. Sie ist der Schritt ins Offene, der Schritt »ins
Freie«, wo sich uns Seiendes als es selbst zeigt. 121
Damit ist der Kerngedanke von Spaemanns Personenphilosophie klar
benannt. Die Freiheit von der eigenen Natur, in der die Person we-
sentlich besteht, gibt es nur durch die Begegnung, diese Freiheit ist
›Geschenk‹, durch sie erscheint Sein in dem doppelten Sinn, dass die
Person anderes Selbstsein wahrzunehmen vermag und dass sie sich
als Selbstsein realisiert. Der aus der Perspektive realisierten Person-
seins wahrnehmbare Anschein einer Wahlfreiheit ist eine Täuschung,
die sich aus der Möglichkeit des Rückzugs in die curvatio in se ipsum
ergibt:
Da wir das können, scheinen wir selbst sozusagen über der Unter-
scheidung von Gut und Böse zu stehen und »autonom« zwischen bei-
den wählen bzw. entscheiden zu müssen. Diese Entscheidung aber
scheint dann nicht noch einmal ein Motiv haben zu können.
Doch das ist eine Täuschung, und auf ihr beruhen die meisten
Antinomien, in die der Begriff der Willensfreiheit führt. Wir öffnen
uns nicht der Wirklichkeit in einem Entschluß. Wir erleben, daß sie
sich uns öffnet, und dieses Erlebnis ist schon der Anfang der Liebe. Es
gibt aber die Möglichkeit, sich dieser Erfahrung zu verweigern. Wir
finden uns immer schon im Offenen vor, aber auch immer schon mit
einer Tendenz der Verweigerung und des Rückzugs in uns selbst. 122
Die Unterscheidung zwischen Wahlfreiheit und ›primärem Wollen‹
impliziert notwendig, dass es für den Rückzug in uns selbst keinen
Grund geben kann. Vielmehr erfolgt dieser Rückzug aus dem »Wil-
len, der der eigenen Natur wieder jene Zentralstellung einräumt, die
doch durch den offenen Raum der Personengemeinschaft immer
schon relativiert ist. Dieser Wille, bloß natürlich sein zu wollen, ist
nicht natürlich, sondern grundlos und deshalb böse.« 123 Sich diesem
Willen zu überlassen, bedeutet, »den Grund zu verlassen und sich in
die Welt der Ursachen zurückzuziehen« 124. Dieser Rückzug ins natu-
rale Kontinuum ist schlicht faktisch und nicht mehr weiter erklärbar:

121 Spaemann, Personen (1996), 230.


122
Ebd. 230–231.
123 Ebd. 231.
124
Ebd.

632

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung

»Da das Böse das Grundlose ist, ist es das Unverstehbare.« 125 Wenn in
diesem Zusammenhang von ›Autonomie‹ die Rede ist, handelt es sich
in Wahrheit um ein gewissermaßen ›parasitäres‹ Verhalten, das von
der ihm voraufgehenden Realisierung personaler Freiheit lebt:
Freiheit als Autonomie ist die Freiheit zur grundlosen Weigerung, ins
Freie zu treten. Weil es diese Möglichkeit gibt, kann auch der Schritt
ins Freie selbst mit Autonomie assoziiert werden. Wer ihn tut, erlebt
ihn allerdings genau umgekehrt, nämlich, wie Platon, als ein Auf-
wachen zum Licht. Aufwecken aber kann man sich nicht selbst. 126
Bei dem Problem der ›Willensfreiheit‹ handelt es sich also »weder um
die ständigen überlegten Wahlakte aufgrund gegebener Motivationen
noch um die Entscheidung über die grundlegende Motivation
selbst« 127. Es handelt sich um eine Freiheit, die durch die menschliche
Selbsterfahrung verbürgt ist, die sich jedoch selbst immer nur als das
Geschenk eines Begegnungsgeschehens verstehen kann.
Damit kann abschließend zur zweiten prinzipiellen Frage über-
gegangen werden, die Spaemann an das ›primäre Wollen‹ stellt: »Hat
dieses Wollen wirklichen Einfluß auf das konkrete Wollen, oder han-
delt es sich nur um eine zwar vielleicht freie, aber folgenlose Refle-
xion, also um ohnmächtiges Wünschen?« 128 Die Bedeutung dieser
zweiten Frage besteht darin, dass von ihrer Beantwortung abhängt,
ob die Person ›selbstwirksam‹ ist, wobei diese Selbstwirksamkeit in
der Möglichkeit besteht, zu einer ›Zeitgestalt‹ zu werden. Jeder
Mensch kennt »Zustände der Nichtidentität, die als Unfreiheit erlebt
werden« 129, und es stellt sich somit die Frage, ob der Mensch über-
haupt wollen kann, was er will, oder ob er sich nur von seinem fak-
tischen Wollen und Tun distanzieren kann. An dieser Stelle rekurriert
Spaemann auf den Gedanken der »schuldhaften Unaufmerksamkeit«
aus »Glück und Wohlwollen«, demgemäß es ein »absichtliches Ver-
schließen der Augen« gibt, das aus einem unvollständigen Erwacht-
sein, also dem Befangensein im Triebhang hervorgeht. 130 Die in die-

125 Spaemann, Personen (1996), 231.


126 Ebd. 232.
127 Ebd.

128 Ebd. 218.

129
Ebd. 232.
130 S. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 243. – Vgl. Abschnitt 7.2.1, Conditio

humana, 463–464.

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8. Ontologie der Person

sem Begriff enthaltene Paradoxie findet nun in »Personen« ihre Auf-


lösung:
Wahrscheinlich ist das Problem der Willensfreiheit in dem hier er-
örterten Sinn ein Problem der Lenkung der Aufmerksamkeit. Die Per-
son verfügt nicht über ein eigenes Energiepotential, das sie gegenüber
dem »natürlichen« Potential aktivieren und in die Waagschale werfen
könnte. Was sie kann, ist, unabhängig von vitalen Notwendigkeiten
die Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand als Gedanken- und Vor-
stellungsinhalt zu lenken und sie bei diesem Inhalt länger zu halten,
als sie sich unwillkürlich dabei halten würde. 131
Spaemann zitiert in diesem Zusammenhang einen Satz des amerika-
nischen Psychologen und Philosophen William James (1842–1910)
und nennt die darin enthaltene These »das Einleuchtendste, was
zum Thema Willensfreiheit zu sagen ist« 132: »Es ist eine Idee, bei
welcher unser Wille einsetzt, eine Idee, die uns entgleiten würde,
wenn wir sie losließen, aber die wir nicht loslassen wollen. Daß die
Zustimmung erteilt werde zu der vollen Gegenwart dieser Idee, das
ist die einzige Leistung der Willensanstrengung.« 133 Die Antwort auf
die gestellte Frage besteht demnach darin, dass das ›primäre Wollen‹

131 Spaemann, Personen (1996), 232–233.


132 Ebd. 233.
133
James, Psychologie, Leipzig 1909, 453. – Das Zitat stammt aus dem 26. und letzten
Kapitel »Wille«. James betrachtet dort Leidenschaft und Vernunft als antagonistische
Kräfte. Mit Bezug auf die »Stimme der Vernunft« bemerkt er: »Der Mensch mit
starkem Willen jedoch ist derjenige, der ohne Wanken auf die noch leise Stimme hört,
und der, wenn die todbringende Überlegung kommt, ihr ins Auge schaut, ihr zu-
stimmt, sie festhält und bejaht, trotz der Fülle erregender Vorstellungen, die sich
dagegen erheben und die bestrebt sind, sie aus dem Bewußtsein zu drängen. Fest-
gehalten durch eine derartige entschlossene Anstrengung der Aufmerksamkeit, be-
ginnt das schwierige Objekt binnen kurzem anderes, was mit ihm übereinstimmt und
assoziiert ist, herbeizuführen und ändert schließlich den Bewußtseinszustand des be-
treffenden Menschen ganz und gar. Und mit dem Bewußtseinszustand ändert sich
auch die Handlungsweise, denn das neue Objekt, wenn es erst einmal den geistigen
Horizont sicher beherrscht, ruft unfehlbar seine eigenen motorischen Wirkungen
hervor. Die Schwierigkeit liegt nur darin, die Herrschaft im Bewußtsein zu gewinnen.
Während der spontane Drang des psychischen Geschehens ganz und gar nach anderer
Richtung geht, muß die Aufmerksamkeit festgehalten werden bei dem einen Objekt,
bis es zum mindesten eine Zunahme erfährt, so daß es sich selbst mit Leichtigkeit vor
dem Bewußtsein behaupten kann. Diese Anpassung der Aufmerksamkeit ist der fun-
damentale Willensakt.« – Ebd. 452–453.

634

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8.4.3 Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung

weder »unmittelbar auf das konkrete Wollen ein[…]wirken« noch


»selbst die Rolle des konkreten Wollens übernehmen« 134 kann.
Am ehesten kann es verglichen werden mit dem Verhältnis einer Re-
visionsinstanz zu den erkennenden Gerichten. Die Revisionsinstanz
kann die Urteile der unteren Gerichte aufheben, kann sie aber nicht
durch eigene Urteile ersetzen, sondern die Causa nur an die unteren
Gerichte zurückverweisen und damit die Aufmerksamkeit auf Ge-
sichtspunkte lenken, die nach Auffassung des Revisionsgerichts nicht
genügend berücksichtigt wurden. Die Revisionsinstanz der secondary
volitions kann eben dies tun. Und das ist es, was wir normalerweise
unter »Willensfreiheit« verstehen. 135
Die Metapher der Gerichtsinstanzen bringt die Wirkung des ›primä-
ren Wollens‹ sehr in die Nähe der oben beschriebenen Funktion des
Gewissens. Stärker noch als dort geht es hier aber um die in diesen
Akten zum Ausdruck kommende Distanz nicht nur zur Reflexion,
sondern zu allen intentionalen Regungen des Menschen. Die Ant-
wort auf die zweite prinzipielle Frage besteht somit darin, dass eine
Selbstwirksamkeit der Person, die die Voraussetzung der Bildung
einer Zeitgestalt ist, möglich ist durch die Ausrichtung auf Ideen, »die
selbst Grund der Aufmerksamkeit sind, die sich ihnen zuwendet« 136.
Spaemann zählt eine Reihe von Beispielen auf, deren Gemeinsames
es ist, dass »das Interesse, das uns veranlaßt, die Aufmerksamkeit auf
eine Idee zu richten, in der Wahrheit der Idee selbst begründet« ist:
»Sich ihrem Anspruch aussetzen, heißt, von sich selbst gerade los-
gelöst zu sein, also den naturwüchsigen Anspruch auf Autonomie
aufgegeben zu haben. Das erst erfüllt den Begriff personaler Frei-
heit.« 137

134 Spaemann, Personen (1996), 233.


135
Ebd.
136 Ebd. 234.
137
Ebd.

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8.5 Grenzen einer Philosophie der Personen

Der Gedankengang, der von einer ›negativen‹ Philosophie als Voraus-


setzung (8.2) über die ›Entdeckung der Person‹ als notwendige Ver-
mittlung (8.3) hin zur Entfaltung des ›Habens einer Natur‹ im per-
sonalen Begegnungsgeschehen (8.4) geführt hat, enthält in den
wesentlichen Grundzügen die Personenphilosophie Spaemanns, um
die es in diesem Kapitel geht. Auch wenn dieser Darstellung im Sinne
des roten Fadens der Argumentation nichts Wesentliches mehr hin-
zuzufügen ist, bedarf es dennoch zweier Nachträge. Der erste Nach-
trag betrifft die Frage, inwiefern das hier nachgezeichnete Verständ-
nis von Personalität angesichts aktueller Entwicklungen und
absehbarer Zukunftsperspektiven als realistisch bzw. zeitgemäß er-
scheinen kann. Spaemanns Personenphilosophie kann als Aufklä-
rungsphilosophie im besten Sinne des Wortes verstanden werden.
Die Idee der Kontextunabhängigkeit der Person, d. h. der Gedanke,
dass mit der Person »gegenüber der Dimension der Vernunft noch
eine tiefere Dimension entdeckt wurde« 1, ist von einer gewaltigen
Hochschätzung personaler Vernunft getragen. Das bedeutet jedoch
nicht, dass es sich hier um eine optimistische Philosophie handele,
denn Spaemann reflektiert sehr klar die Gefährdungen, denen die
Person gerade heute ausgesetzt ist und die einen Zusammenbruch
der personalen Vernunft und ein Verschwinden des Personbegriffs
durchaus denkbar machen. Diese Gefährdungen lassen sich wiederum
analysieren und es lassen sich ihre Wurzeln in unserer kulturellen
Tradition freilegen. Bereits in seiner »Einleitung« zu »Personen« be-
merkt Spaemann hierzu: »Gerade diese Tradition nämlich hat auch
die Voraussetzung für ihre eigene Destruktion ausgebildet, besonders
dadurch, daß sie Bewußtsein und Subjektivität vom Begriff des Le-
bens ablöste und isolierte.« 2 Damit ist die erste Grenze der Personen-
philosophie erreicht: ihr mögliches Scheitern an unverarbeiteten,
durch den technischen Fortschritt potenzierten Voraussetzungen un-
serer kulturellen Tradition, um die es in einem ersten Nachtrag gehen
wird (8.5.1). Eng mit dieser Thematik verbunden ist ebenso der zwei-
te Nachtrag, auch wenn er sich ihr aus einer anderen Perspektive zu-

1 Spaemann, Personen (1996), 199.


2
Ebd. 11.

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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz

wendet und damit einen anders gearteten Gedankengang eröffnet.


Die aufklärerischen Potentiale der Personenphilosophie können näm-
lich vor diesen Gefährdungen interessanterweise gerade durch die
Religion geschützt werden. Stärker noch als in »Glück und Wohlwol-
len« macht sich in »Personen« ein religiöser Subtext bemerkbar, der
auch in eine explizite Thematisierung der Religion übergeht. 3 Damit
aber ist die andere Grenze erreicht, um die es hier gehen soll. Im
Rahmen eines philosophischen Werkes sind religiöse Erwägungen
rechtfertigungsbedürftig. Sie sprengen nur dann den philosophischen
Rahmen nicht, wenn sie entweder durch genuin philosophische Ar-
gumentationen gestützt werden können oder ihre Aussagen sich auf
ein prinzipielles Jenseits der Philosophie beziehen, zu dem sich aber
aus der genuin philosophischen Argumentation eine spezifische An-
schlussfähigkeit ergibt. Aufgabe des zweiten Nachtrags wird es daher
sein, in diesem Sinn das Verhältnis von philosophischer Argumenta-
tion und religiösen Erwägungen, die ihrerseits knapp darzustellen
sein werden, zu klären (8.5.2).

8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz

Die Person wurde bestimmt als das ›Haben einer Natur‹. Sie ist einer-
seits nicht diese Natur, existiert aber andererseits auch nicht losgelöst
von dieser Natur. Man könnte somit sagen, dass das Wesen von Per-
sonalität gerade in einer konstitutiven Nichtidentität mit sich selbst
besteht.
Aber sind wir überhaupt je, was wir sind? Die Möglichkeit des Rollen-
spiels beruht darauf, daß wir – als Personen – immer schon eine Rolle
spielen. Die Identität eines Menschen ist einerseits diejenige eines na-
türlichen Dinges, eines Organismus. Als solcher ist er jederzeit von
außen reidentifizierbar. Aber diese basale natürliche Identität enthält
nur eine Vorgabe für den Weg einer Identitätssuche, die zugleich den
Charakter einer Identitätsstiftung hat. Person ist nicht das Resultat
dieser Stiftung, nicht das Ende dieses Weges, sondern der Weg selbst,
das Ganze einer Biographie, deren basale Identität ihrerseits biologisch
gesichert ist. Personen sind nicht Rollen, aber sie sind, was sie sind,
nur, indem sie eine Rolle spielen, das heißt sich auf irgendeine Weise
stilisieren. 4

3 Vgl. das Kapitel »Religion«. – Spaemann, Personen (1996), 102–110.


4
Ebd. 94.

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8. Ontologie der Person

Eine Vorform dieser Stilisierung kann in der von Spaemann in


»Glück und Wohlwollen« beschriebenen »Kontingenzreduktion der
von der Polis garantierten Normalität« 5 bei Aristoteles gesehen wer-
den. 6 Da der Mensch angesichts der conditio humana nur in Ausnah-
mefällen an der göttlichen εὐδαιμονία teilhaben kann, gibt die Polis
eine Lebensform vor, die eine auf das menschliche Maß reduzierte
εὐδαιμονία möglich macht. Analog zu diesem aristotelischen Kom-
promiss maß Spaemann in »Glück und Wohlwollen« Traditionen und
Sitten große Bedeutung auch für die Vermittlung der Unbedingtheit
des Wohlwollens als neuzeitlicher Aktualisierung der εὐδαιμονία
mit der Wirklichkeit menschlichen Handelns bei. 7 An diese Gedanken
knüpft Spaemann in »Personen« im Zusammenhang mit der von der
Person verlangten Stilisierung an:
Die Stilisierung bewegt sich in kulturell vorgeprägtem Rahmen. Die
Schwächung dieses Rahmens, die Depontenzierung von Tradition läßt
allenthalben das Bedürfnis nach »Selbstfindung«, »Selbsterfahrung«
usw. entstehen, ebenso wie die Bereitschaft zur Anpassung an diktato-
rische oder demokratische Totalitarismen. 8
Die Möglichkeit eines kulturell vorgeprägten Rahmens menschlicher
Entfaltung, der über die Entdeckung der Person hinweg Antike und
Neuzeit verbindet, ist darin begründet, dass das »Weltverhältnis des
Menschen […] symbolisch vermittelt« 9 ist. Die der kulturellen Wirk-
lichkeit, ja jedem Denken zugrunde liegende Sprache ist immer schon
Ergebnis dieser Vermittlung, weswegen die Sprache wesentlich eine
bildhafte, durch eine konstitutive Mehrdeutigkeit charakterisierte ist:
Der poetische Gebrauch der Worte ist der primäre gegenüber demje-
nigen, der mittels Definitionen die Ober- und Untertöne zugunsten
der Eindeutigkeit eliminiert. »Dichterisch wohnet der Mensch« – das
heißt: das kunstvolle Spiel mit Worten bewahrt die Freiheit eines
Weltverhältnisses, das wesentlich geschichtlich und nicht naturhaft
ist und in dem Eindeutigkeit nur ein Grenzfall im Interesse der Natur-
beherrschung darstellt. 10

5 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 81.


6 Vgl. Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristotelischer Kompro-
miss, 440–445.
7 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 203–207, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo

amoris und ontologische Verzeihung, 483–489.


8
Spaemann, Personen (1996), 94.
9 Ebd. 97.

10
Ebd. 98.

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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz

Gerade dieser ›Grenzfall‹ der Eindeutigkeit wurde mit dem Ideal der
certa cognitio von Descartes als Ausgangspunkt der Neubegründung
der Philosophie gewählt. Welche fatale Bedeutung der von der Natur-
grundlage abstrahierende Subjektbegriff für den Gedanken der Per-
son hatte, wurde oben dargelegt; 11 der erste Denker, der nach Spae-
mann die selbstgefährdenden Tendenzen der Moderne erfasst und
ihre Widersprüche durchdacht hat, war Jean-Jacques Rousseau, 12 auf
den auch im Zusammenhang mit der personalen Selbststilisierung
Bezug genommen wird:
Rousseau macht eine Rolle daraus, keine Rolle mehr zu spielen. Es ist
bezeichnend, daß er den natürlichen Menschen als sprachlosen und
kunstlosen Hominiden versteht. Menschwerdung ist gleichbedeutend
mit Entfremdung, weil mit Sprache und Arbeitsteilung Menschen ei-
nander in Rollen gegenübertreten, statt füreinander transparent zu
sein.
Die Frage ist allerdings, warum Rousseau seine »Bekenntnisse«
schreibt. Der arme Jean-Jacques ist natürlich eine Rolle wie jede ande-
re. Aber sie ist neu, weil sie erstmals den programmatischen Verzicht
auf jene Selbststilisierung dokumentiert, die für Personsein charakte-
ristisch ist. Der Mensch »in der ganzen Wahrheit der Natur« – das ist
der Mensch, dem das Personsein zu anstrengend geworden ist und der
eben daraus eine neue Rolle macht. 13
Die verschiedenen Anläufe Spaemanns zur Interpretation Rousseaus
konvergieren, wie oben gezeigt wurde, in dem Gedanken, dass die
Idee, »deren disjecta membra sich in Rousseaus Werk spiegeln« 14,
die der Naturteleologie ist. 15 Als πρώτον ψεύδος des Rousseau’schen
Denkens wurde das kontrafaktische Ideal der absoluten Identität be-
zeichnet, das sich in seinem hypothetischen Naturbegriff verbirgt.
Auf diese Rousseau-Deutung fällt nun aus der Perspektive von Spae-
manns Personenphilosophie ein neues Licht: »Aber die Person ist der
›homme double‹. Sie hat ihr Sein in einem Schein, den sie einzuholen
versucht, es sei denn, sie fällt in den Zynismus, der natürlich seiner-

11 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
12 Vgl. Teilkapitel 5.1, Rousseau: Natur in geschichtsphilosophischer Perspektive,
187–214.
13 Spaemann, Personen (1996), 95–96.

14
Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18.
15 Vgl. Abschnitt 5.1.5, Rosseaus ›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee,

211–214.

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8. Ontologie der Person

seits eine Rolle ist, aber eine antizivilisatorische.« 16 Dass Rousseau


»den Preis einer Akademie der Künste und Wissenschaften« für »die
epochale Absage an Künste und Wissenschaft« 17 erhielt, erlaubt einen
indirekten Rückschluss auf die Bedeutung der Kunst für den Person-
begriff: »In der Kunst stellt der Mensch den Schein als Schein hin, das
Spiel als Spiel. Er entzieht die Konstruktion der Welt der Realitäts-
kontrolle. Er entwirft mögliche Welten, unter denen die wirkliche nur
noch eine unter anderen ist, die nun selbst verfremdet wird.« 18 Kunst
als »Vorschein des Kommenden« ist somit die »Bedingung für ›Ge-
schichte‹« 19 und die programmatische Absage Rousseaus an die Kunst
Ausdruck eines Denkens, das die modernen Gefährdungen der Person
visionär antizipiert hat.
Rousseaus kontrafaktisches Ideal einer absoluten Identität mit
sich selbst als der Versuch, die Entzweiung als Signum der Moder-
ne, 20 die nun aus der Sicht der Personenphilosophie zugleich als Aus-
druck von Personalität erscheint, zu überwinden, führte zu unauflös-
baren Widersprüchen, zur »Paradoxie Rousseaus« 21, die sich sowohl
in seiner Existenz als auch in seinem Werk zeigte. In der Gegenwart
rückt dieses Ideal nach Spaemann durch »die neuere Technik und die
durch sie möglich gewordene Simulation von Bewußtsein« als »vir-
tuelle Realität« 22 erstmals in den Bereich der Möglichkeit:
»Virtual reality« kann nicht tatsächlich die Realität verdrängen. Was
sie verdrängen kann, ist die Kunst als Fiktion eines Anderen der Rea-
lität, die bewußt als Fiktion erlebt wird. An ihre Stelle kann sich eine
simulierte Realität setzen, die als Realität erlebt werden soll, weil be-
reits längst zuvor Realität, also Leben, technologisch, also nach dem
Modell seiner Simulation, verstanden wurde. Diese neue Form von
Fiktion versteht den Menschen radikal objektiv, also als Tier, das nicht
im Offenen der Welt lebt, sondern immer im Zentrum seiner ganz auf
es bezogenen Umwelt. Der Mensch scheint sich selbst als einem We-

16 Spaemann, Personen (1996), 96.


17
Ebd.
18 Ebd.

19 Ebd. 99.

20 Vgl. hierzu bereits den Ausgangspunkt der vorliegenden Interpretation von Spae-

manns Philosophie im Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Ge-


schichte, 97–101, in dem Joachim Ritters positive Umdeutung der Entfremdung im
Sinne der ›welthistorischen Gestalt‹ der Subjektivität thematisiert wurde.
21
Spaemann, Mensch oder Bürger (2008), 18. – Vgl. Abschnitt 5.1.5 Rosseaus
›Lösung‹ : Disjecta membra einer verlorenen Idee, 212.
22
Spaemann, Personen (1996), 100.

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8.5.1 Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz

sen der Transzendenz auf die Schliche gekommen zu sein. Aber auch
eine solche Selbstverstümmelung zeigt noch einmal, was der Mensch
ist. Er ist nicht unwiderruflich, was er ist. Und das heißt: er ist Per-
son. 23
Auch wenn diese Vorstellung noch den Charakter der Science-Fiction
hat und die Realität durch virtuelle Welten nur teilweise verdrängt
werden kann, muss noch einmal gefragt werden nach den spezi-
fischen Eigenschaften der Person, die diese Gefährdung möglich ge-
macht haben. Was heißt es, dass der Mensch »sich selbst als einem
Wesen der Transzendenz auf die Schliche« kommt?
Personen überschreiten, wie wir sahen, alle intentionale Gegenständ-
lichkeit auf ein An-sich. Transzendenz ermöglicht Reflexion auf die
Subjektivität aller intentionalen Gegenständlichkeit. Sie ist sozusagen
die andere Seite dieser Reflexion. Aber die Reflexion kann sich selbst
auf Transzendenz beziehen und sie sozusagen als eine bloß subjektive
Zuständlichkeit verschlingen. Auch Liebe kann als ein bloßes Gefühl
mit zufälligen und austauschbaren Gegenständen betrachtet werden
und »Sein« als ein bloßes Wort oder als intentionaler Gegenstand oder
»Seinsmeinung«, obgleich diese Meinung doch gerade ein Jenseits
alles Meinens meint. 24
Wie oben gesehen wurde, bedeutet ›Gewissen‹ bzw. der auf ihm be-
ruhende Charakter der Person als ›ontologisches Versprechen‹, dass
ein Verzicht auf die jeglicher Verbindlichkeit sich entwindende Refle-
xion möglich ist. 25 Auch wurde dargelegt, dass es keine ›Wahlfreiheit‹
gibt, der Stimme des Gewissens folgen zu wollen oder nicht, sondern
dass sich im Vernehmen dieser Stimme die Wirklichkeit uns öffnet,
wir uns dieser Erfahrung aber verweigern können. 26 Die Möglichkeit
dieser Verweigerung resultiert aus dem problematischen Verhältnis
von Transzendenz und Reflexion:
Das Gleichgewicht zwischen Transzendenz und Reflexion ist instabil.
Jede der beiden Bewegungen treibt die andere als komplementäre aus
sich hervor. Das Ausgreifen über alles Gegebene auf ein Gebendes, das
Ausgreifen über alles Gegenständliche auf ein Sich-Zeigendes, das sich

23 Spaemann, Personen (1996), 101.


24 Ebd. 99–100.
25 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:

Gewissen und Versprechen, 613–624.


26 Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die

Spontaneität des Herzens, 625–635.

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8. Ontologie der Person

zugleich als es selbst verbirgt, ist nur möglich, indem zugleich auf die
Gegenständlichkeit des Gegebenen, auf sein Für-mich-Sein reflektiert
wird. Jede der beiden Bewegungen aber hat die Tendenz, sich gegen-
über der komplementären als das ontologisch Grundlegende zu be-
haupten und die andere als bloßes Moment in sich zu integrieren und
aufzuheben. 27
Bei der ersten Bewegung geht es um den zentralen Gedanken Spae-
manns, den er zuerst in seiner Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹
zum ›sum‹ analysiert hat: Der Schritt zum Sein setzt die Transzen-
denz des Bewusstseins voraus. Die zweite Bewegung entsteht da-
durch, dass im Denken des Schrittes zum Sein die Selbsttranszendenz
erneut von der Reflexion eingeholt wird. In diesem dialektischen Ver-
hältnis von Transzendenz und Reflexion ist jene »Dialektik zwischen
Spiritualismus und Naturalismus« wiederzuerkennen, die Spaemann
in seinem Essay »Über den Begriff einer Natur des Menschen« aus
dem Jahr 1985 als neuzeitliche Form des anthropologischen Dualis-
mus interpretierte. 28 In »Personen« bemerkt er ergänzend hierzu:
»Man könnte auch von einer transzendenzlosen Reflexion und einer
reflexionslosen Transzendenz sprechen oder von einer Subjektivität,
die ihre Natürlichkeit desavouiert, und von einer Natur, der keine
spirituelle Dimension zuerkannt wird.« 29 Es geht um den Gegensatz
von Idealismus und Materialismus. »Vollendungen des Idealismus
sind versucht worden« 30 und wurden immer wieder aufgehoben.
»Der materialistische Monismus dagegen ist wesentlich unvollend-
bar« 31. Beide Vollendungen wären »gleichbedeutend mit der Ab-
schaffung des Menschen und dem Verschwinden der Person« 32. Per-
sonsein als ›Haben einer Natur‹, so die erste Schlussfolgerung aus
diesem ersten Nachtrag, ist wesentlich das Aushalten des instabilen
Gleichgewichts von Transzendenz und Reflexion. Personen können
aber nur eine begründete Aussicht auf eine künftige Fortexistenz
haben, wenn die hier angedeuteten Gefährdungen durch eine immer
wieder neu zu leistende Stabilisierung dieses Gleichgewichts gebannt
werden können.

27 Spaemann, Personen (1996), 102.


28 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
29 Spaemann, Personen (1996), 104.

30
Ebd.
31 Ebd.

32
Ebd.

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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion

Jeder Versuch, das Verhältnis von Transzendenz und Reflexion zu


denken, führt zu einer Zurücknahme der Transzendenz in die Refle-
xion. Aus dieser Dialektik der Transzendenz scheint es nur einen
Ausweg zu geben: »Immer schon präsent und als präsent gewußt ist
das Absolute in der Weise der Religion. […] Sein bleibt immer ›un-
vordenklich‹. Als dieses Unvordenkliche aber ist es im Gottesgedan-
ken präsent.« 33 Diese Reflexion über die Dialektik der Transzendenz
verknüpft Spaemann mit einer Reprise der für sein Denken zentralen
Deutung des cartesischen ›cogito sum‹ :
[…] Descartes, der die Philosophie erstmals ganz auf die Reflexion der
Subjektivität stellt, konnte sich der Wirklichkeit dieser Subjektivität
nur vergewissern im Durchgang durch den immer schon, nämlich in
der Religion, präsenten Gedanken Gottes. Wie die Subjektivität sich in
der Kunst eine Sphäre gibt, die den als Schein reflektierten Schein
gegen die Dialektik der Transzendenz, also gegen die Aufhebung in
Sein, schützt, so gibt sie sich in der Religion und nur in der Religion
Wirklichkeit, Substanzialität, ohne sich als Subjektivität durchstrei-
chen zu müssen. […] Im Gedanken Gottes und des Geschaffenseins
durch Gott kommt die Reflexion zum Stehen, indem sie sich selbst
als Sein begreift […]. 34
Dieser cartesische Gedankengang, den Spaemann schon früher als
»Theologisierung der Ontologie« bezeichnet hat, 35 scheint daher das
Modell eines Denkens zu sein, von dem ausgehend es allein möglich
ist, die Gefährdungen der Person abzuwenden:
Wenn Subjektivität religiös verstanden wird, kann sie als Person ver-
standen werden, also als Seiendes, das als Subjektivität ursprünglich
»gemeint« ist und sich einem solchen Gemeintsein verdankt. Die Un-
vordenklichkeit des Seins vernichtet das Denken in seiner Intention
auf Wahrheit, also auf Enthüllung von Sein, unter der Voraussetzung
nicht, daß das Unvordenkliche selbst als Subjektivität, also personal
gedacht wird. 36

33 Spaemann, Personen (1996), 103.


34 Ebd.
35
Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139, u. Abschnitt 6.1.3,
Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 348.
36
Spaemann, Personen (1996), 103–104.

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8. Ontologie der Person

Das Verhältnis der Subjektivität zum absoluten Bewusstsein eröffnet


bei Descartes einen Raum, der wesentlich die Grenzen dieser Subjek-
tivität überschreitet, auf den die Subjektivität jedoch insofern aus-
greifen kann, als sie sich durch dieses Jenseits als ein Seiendes in
diesem Raum begreift. Der in der theologischen Spekulation Des-
cartes’ eröffnete Raum ist das Modell des apriorischen Beziehungs-
raums der Personen, um den es Spaemann geht. Der im vorliegenden
Kapitel unternommene Versuch, Spaemanns Begriff der Person mit
genuin philosophischen Mitteln zu denken, bezieht sich maßgeblich
auf die alternative metaphysisch-analoge Deutung des Fortschritts
vom ›cogito‹ zum ›sum‹, in der es durch den Begriff des ›Lebens‹ und
damit die teleologisch verstandene Natur möglich wurde, mit genuin
philosophischen Mitteln zum Sein zu gelangen. Dieser metaphy-
sisch-analoge Ansatz stellt, wie zu zeigen versucht wurde, den we-
sentlichen Nexus dar, aus der Spaemanns Personenphilosophie ent-
wickelt ist. Wenn Spaemann dagegen im Zusammenhang mit der
möglichen Abwehr der Gefährdungen der Person auf die Religion
und die cartesische ›Theologisierung der Ontologie‹ verweist, stellt
sich die Frage, inwiefern dies einer Zurücknahme des genuin philoso-
phischen Anspruchs des von Spaemann entworfenen Personenden-
kens gleichkommt. 37
Zunächst ist eine wichtige Unterscheidung festzuhalten: Es gibt
auf der einen Seite die theoretische Frage, ob der auf einer anthro-
pologischen Entdeckung beruhende und in seiner theoretischen
Durchdringung wesentlich theologisch präformierte Begriff der Per-
son sich genuin philosophisch denken lässt; dieser Frage waren die
Überlegungen in Abschnitt 8.3.3 gewidmet. 38 Auf der anderen Seite
aber gibt es die praktische Frage, ob eine religiöse Haltung des Men-
schen nötig ist, um das Verhältnis von Transzendenz und Reflexion
und damit Personsein zu stabilisieren. Beide Fragen lassen sich von-
einander trennen, ohne dass ein gedanklicher Widerspruch entsteht.
Der theoretische Gedankengang erreichte, wie oben gesehen wurde,
in der Vorstellung von Personalität als »Schwebe […] zwischen Ab-

37 In diesem Sinne liest Ulrich Diehl in seiner Rezension Spaemanns Buch. Mit Bezug
auf »Spaemanns gelegentliche religionsphilosophische Passagen« wirft er ihm vor,
dass er der »philosophischen Kontroverse ausweicht, um sich seinen philosophie-
geschichtlichen und lebensphilosophischen Reflexionen zu widmen«. – Diehl, Wie
es ist, ein Jemand und kein Etwas zu sein?, 110.
38 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 583–599.

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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion

solutem und Endlichem« 39 eine Grenze des philosophischen Denkens.


Auch wenn der Gedankengang selbst durch die metonymische Bezie-
hung des Personbegriffs zum Begriff des Lebens, der seinerseits ein
im metaphysisch-analogen Denken vorausgesetztes Unvordenkliches
ist, diesseits dieser Grenze bleiben konnte, ist er durch die Vorstel-
lung der personalen ›Schwebe‹ zum Absoluten und damit zum Got-
tesgedanken hin geöffnet. Für die praktische Überlegung geht es hin-
gegen um die Frage, inwiefern der für die Personalität konstitutive
Bezug zum Absoluten eine religiöse Haltung des Menschen voraus-
setzt. Aber auch wenn sich in diesem Sinn die notwendige Unter-
scheidung einer theoretischen und einer praktischen Betrachtungs-
weise aus dem Zusammenhang selbst ergibt, muss doch, wenn die
Personenphilosophie insgesamt in ihrer Integrität bewahrt werden
soll, die religiöse Haltung des Menschen, um die es geht, mit der
genuin philosophischen Konzeption verbunden werden. Das bedeu-
tet, dass die religiöse Haltung sich als im Verhältnis der Person zur
Natur begründet erweisen muss, was nichts anderes heißt, als dass die
Natur dem Menschen nicht nur äußerlich Grenzen setzen muss.
Wenn der Mensch aber der »Freigelassene der Natur« 40 ist, ist zu
fragen, warum das Natürliche für ihn, dessen Handeln »nicht durch
seine Instinktorganisation vorgezeichnet« 41 ist, eine normative Be-
deutung haben sollte:
Die Religion gibt darauf eine Antwort, indem sie die Natur im ganzen
nicht als ein unhintergehbar Letztes, sondern als ein »Gehabtes« ver-
steht, als Schöpfung, aus deren teleologischen Strukturen für den
Menschen der Wille des Schöpfers ablesbar ist. Nur ein solcher per-
sonaler Wille kann für Personen Ursprung der Normativität eines
»von Natur Rechten« sein. 42
Aber auch wenn die Naturteleologie auf den Schöpfer bezogen wird,
scheint der Mensch sich von der normativen Bedeutung der Natur
doch dadurch zu emanzipieren, dass er seine Natur transzendiert, in-
dem er in dem durch die Freiheit von der Instinktorganisation er-
öffneten Raum eine kulturelle Wirklichkeit erschafft. Diese Freilas-

39 Spaemann, Personen (1996), 82.


40 Ebd. 105. – Es handelt sich hier um ein Zitat, Spaemann verweist in der Anmer-
kung auf: J. G. v. Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
1. Teil. Sämtliche Werke, hrsg. von B. Suphan, Bd. XIII, 146. – Ebd. 269.
41 Ebd.

42
Ebd.

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8. Ontologie der Person

sung aus der Natur ist jedoch nicht absolut; das menschliche Trans-
zendieren der Natur steht noch in einem bestimmten Verhältnis zu
der Bindung an die Natur, von der es sich distanziert, ohne sich ganz
lösen zu können:
Nur wenn er mehr und anderes als Natur ist, kann er Natur als Maß
erinnern. Nicht als natürliche, nur als religiöse können Grenzen für
den Menschen verbindlich sein. Aber die Grenzen, die die Religion
setzt, sind keine anderen, als es die natürlichen wären, wenn es solche
für Personen gäbe. Nicht als Natur ist Natur für den Menschen numi-
nos, sondern als göttliche Schöpfung. 43
Der Gedanke der Natur als ›Numen‹, als angedeuteter Wille Gottes,
enthält eine Paradoxie. Einerseits bedeutet das aus der Natur selbst
kommende Überschreiten der Natur, dass diese dem Menschen keine
feste Grenze setzen kann. Andererseits aber ist die Natur für den
Menschen das ›erinnerte Maß‹ der Überschreitung derselben. Der
Gedanke setzt somit eine Analogie zwischen natürlichen und religiö-
sen Grenzen voraus oder allgemeiner: zwischen dem Natürlichen und
dem Sittlichen. »Sobald wir es mit teleologischen Strukturen zu tun
haben, beginnt es, Falsches zu geben, nämlich das Verfehlen von
Zielen, und von dort an wird Natur prinzipiell sittlich relevant, ein
möglicher Bereich der Verantwortung und ein ›lesbarer Text‹, der für
Personen Handlungsorientierungen enthalten kann.« 44 Um die Fun-
dierung des Religiösen in der Natur philosophisch denken zu können,
muss die Metapher der ›Lesbarkeit der Natur‹ gedeutet werden.
Die Metapher konstatiert eine Vergleichbarkeit der Bereiche der
Natur und der Subjektivität. Das Verhältnis der Subjektivität zur Na-
tur ist nur dann etwas anderes als unbeschränkte Herrschaft – die
aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Natur in einen Selbstwider-
spruch führt –, wenn das Transzendieren der Natur in Analogie zum
teleologischen Aussein-auf derselben verstanden wird. Der Gedanke
einer solchen Analogie setzt ein Verständnis der Person voraus, nach
dem in ihr das natürliche Aussein-auf sich erstmals selbst denkt und
dadurch den Indifferenzpunkt der Freiheit erreicht, von dem aus ab-
solute Selbsttranszendenz möglich wird. 45 Zum Sein der Person als
›Schwebe‹ zwischen Endlichem und Absolutem führt also der Gedan-

43 Spaemann, Personen (1996), 106–107.


44
Ebd. 107.
45 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 593–597.

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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion

ke, dass in ihr der teleologische Naturzusammenhang, den sie trans-


zendiert, sich seiner selbst bewusst wird und damit zu sich selbst
kommt. Dies ist der Kern der alternativen metaphysisch-analogen
Deutung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹. Erst diese Analogie
zwischen natürlichem Aussein-auf und absoluter Selbsttranszendenz
macht die konjunktivische Wendung in der Bezeichnung der von der
Religion gesetzten Grenze als natürliche – »wenn es solche für Per-
sonen gäbe« 46 – verständlich. Diese Analogie zu denken bedeutet,
religiös gesprochen, auf der einen Seite das natürliche Aussein-auf
als göttliche Schöpfung, auf der anderen Seite den personalen Indif-
ferenzpunkt der Freiheit als Reflexion des eigenen Wollens aus der
Perspektive des Schöpfers zu denken. Für die Analogie gibt es somit,
auch wenn sie genuin philosophisch herleitbar ist, eine religiöse Aus-
sageweise, die für die Stabilisierung des Verhältnisses von Transzen-
denz und Reflexion wesentlich ist: »Religion ermöglicht es dem Men-
schen, sich als natürliches Wesen zu begreifen, ohne sich als Person
durchstreichen zu müssen, beziehungsweise sich als Subjekt zu be-
greifen, ohne seine Natürlichkeit als adiaphoron desavouieren zu
müssen.« 47 Das genuin philosophische Denken kann im Rahmen der
theoretischen Überlegungen bis an die Grenze der Religion heran-
führen, im Bereich praktischer Fragen der Lebensführung von Per-
sonen dagegen ist die Überschreitung dieser Grenze unvermeidbar,
wie abschließend an der Frage nach der ›Unsterblichkeit der Seele‹
gezeigt werden soll.
Der Gedankengang knüpft an den oben dargelegten Zusammen-
hang von seelischem Erleben und Intentionalität an. 48 Einerseits ist
seelisches Erleben nicht reduktionistisch aus materiellen Vorgängen
erklärbar:
Erleben kann zwar durch solche Vorgänge kausal induziert werden,
aber das so Verursachte oder Beseitigte gehört einer ganz anderen
Ordnung an als die Ursache. Und es gibt bis heute nicht die Spur eines
einleuchtenden Versuchs, diesen Zusammenhang aufzuklären. Wahr-
scheinlich ist ein solcher Versuch a priori, das heißt aus logischen
Gründen, zum Scheitern verurteilt. 49

46 Spaemann, Personen (1996), 107.


47
Ebd.
48 Vgl. Abschnitt 8.2.2, Genauigkeit und Seele, 545–548.
49
Spaemann, Personen (1996), 170.

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8. Ontologie der Person

Andererseits sind intentionale Akte als besondere Art seelischen Er-


lebens »nicht nur logisch unabhängig von physischen Ereignissen«,
sondern »können auch nicht von solchen als irgendwie kausal indu-
ziert gedacht werden« 50. Dieser Zusammenhang führt zunächst zu
der Schwierigkeit, dass intentionale Akte, deren Inhalte wesentlich
zeitlos sind – beispielsweise die Einsicht in einen mathematischen
Sachverhalt –, nicht mehr erlebt würden, wenn die Wesen, die sie
gedacht haben, nicht mehr existieren. Daraus ergibt sich, dass die
Zeitlosigkeit der gedachten Inhalte unter der Voraussetzung der
Sterblichkeit der Wesen, die sie gedacht haben, nur widerspruchsfrei
denkbar ist, wenn »das Absolute als Ort der Aufbewahrung« dieser
Inhalte, »also als Gott« 51 gedacht wird:
Der Gedanke des gänzlichen Verschwindens von Bewußtsein wäre
gleichbedeutend mit dem Verschwinden der Dimension des Gewesen-
seins, des futurum exactum. Das aber können wir nicht denken. Wir
vernichten die Gegenwart, wenn wir zu denken versuchen, das, was
jetzt geschieht, werde einmal aufhören, geschehen zu sein. 52
Aus diesem Ansatz eines Gottesbeweises 53 folgt keine zwingende
Aussage über eine Unsterblichkeit der Seele. Wie oben dargelegt wur-
de, ist für das Verständnis der Person jedoch eine Ambivalenz der Zeit
konstitutiv als Entropieprinzip einerseits, als Bedingung der Möglich-
keit ihrer eigenen Aufhebung andererseits. 54 Durch das in der Begeg-
nung sich ereignende Aufeinanderbeziehen von erlebten Inhalten
werden Personen zu ›Zeitgestalten‹ und als solche streben sie wesent-
lich nach der Überwindung der Zeit:
Der Gedanke der Unsterblichkeit der Seele ist der Gedanke, daß auch
die endliche Partizipation an Sinn, also Transzendenz, da sie keine
Funktion organischer Selbsterhaltung ist, mit dieser nicht zugrunde-
geht. Personen als Wesen der Transzendenz denken sich einerseits
notwendig als sterblich; und doch können sie offenbar sich selbst so
wenig wie andere Personen, die sich ihnen in spezifischer »Du-Evi-

50 Spaemann, Personen (1996), 170–171.


51 Ebd. 171.
52 Ebd.

53 Dieses Argument hat Spaemann später als ›Gottesbeweis aus dem futurum

exactum‹ näher ausgeführt. – Vgl. dazu Spaemann, Der letzte Gottesbeweis. – Auf
das Argument wird weiter unten näher eingegangen, s. Abschnitt 9.3.1, Der Gottes-
beweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube, 704–727.
54 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit

von Begegnung, 609–613.

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8.5.2 Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion

denz« zeigen, so denken, daß sie durch das zeitliche Ende einfach »ver-
nichtet« werden. Denn ihre Realität war gar nicht »in der Zeit«. Es ist
unmöglich, mit einem geliebten Menschen umzugehen, zu sprechen,
Blicke zu wechseln und gleichzeitig den Gedanken zu denken, dieser
Mensch werde demnächst einfach nicht mehr sein. Da wir wissen, daß
die Intentionalität unseres Lebensvollzugs nicht als Funktion unserer
organischen Selbsterhaltung verstehbar ist, können wir deren Fort-
dauer nach dem Tod denken. 55
Personsein bedeutet als ›Haben einer Natur‹ die Emanzipation vom
vitalen Bedeutungszusammenhang des Lebewesens mit seiner Zen-
tralität und die Stiftung eines die Zeit überwindenden Sinnzusam-
menhangs in der Selbsttranszendenz. Die Entfaltung dieses Sinn-
zusammenhangs folgt aus dem Sein von Personen als Schwebe
zwischen Endlichem und Absolutem und macht den Gedanken der
Überzeitlichkeit zum Postulat:
Wenn uns der Gedanke des Nicht-mehr-Existierens eines anderen
Menschen als unvollziehbar erscheint, dann nicht aufgrund der inten-
tionalen Struktur personalen Seelenlebens. Dies macht den Gedanken
der Unsterblichkeit nur möglich. Daß die Wirklichkeit dieser Möglich-
keit zu einem Postulat wird, folgt aus der Transzendenz der Person
und aus der damit zusammenhängenden kommunikativen Verfassung
personaler Existenz. 56
Personsein bedeutet ›Außer-sich-Sein‹, die Person findet ihre Identi-
tät in einem interpersonalen Begegnungsgeschehen, dessen Ereignis-
se immer schon Ausschnitte des zeitüberwindenden Sinnzusammen-
hangs sind. Die höchste Form dieses Geschehens ist die Liebe:
Die Liebe ist jene existenzielle Selbsttranszendenz, in der Geist und
Seele, Universalität und Erleben eins geworden sind. Die Transzen-
denz verwandelt das Erleben selbst. Es ist nicht mehr definiert durch
die vitalen Funktionen der Selbsterhaltung. In der Liebe wird die Seele
selbst zur Wirklichkeit des Geistes. […]
Die Unsterblichkeit der Seele ist ein Postulat der Liebe und ein
Postulat mit Bezug auf die Liebe, die ihr eigenes Ende nicht denken
will, weil sie es nicht denken kann, ohne ihre eigene Idee zu destru-
ieren. 57

55
Spaemann, Personen (1996), 171.
56 Ebd. 172.
57
Ebd. 173.

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8. Ontologie der Person

Personen können somit, so die Schlussfolgerung aus diesem zweiten


Nachtrag, ihr Personsein in der Öffnung für die Wirklichkeit nur voll
realisieren, wenn sie von einer religiösen Überzeugung durchdrun-
gen sind, die »keine Philosophie zwingend behaupten« 58 kann. Dies
bedeutet keine Zurücknahme des Versuchs einer Personenphiloso-
phie und keine nachträgliche ›Theologisierung der Ontologie‹. Spae-
manns gesamtes Philosophieren lebt ja gerade aus der Überzeugung,
dass das Unvordenkliche in der Philosophie von konstitutiver Bedeu-
tung ist. Das philosophische Denken führt mit dem Gedanken der
Person an die Grenze des Denkbaren heran, die Wirklichkeit der Per-
son aber führt mit dem aus ihr sich ergebenden Postulat der Unsterb-
lichkeit der Seele über die Grenze der Philosophie hinaus: »Sie kann
nur seinen Sinn aufklären und den Gedanken der Unmöglichkeit sei-
ner Erfüllung destruieren.« 59 Philosophie ist also nicht nur die nega-
tive Disziplin, die, wie in Kapitel 8.2 gezeigt, den Weg freilegen kann
zum Begriff der Person, sondern auch die positive, die, wie in Kapi-
tel 8.4 angedeutet, diesen Begriff in seiner Bedeutung entfalten kann.
Auf diesem Weg aber stößt sie, wie zuletzt gesehen, an Grenzen, die
nicht mehr überwindbar sind: »Die Philosophie muß es bei dem Pos-
tulat einer Unsterblichkeit der Seele bewenden lassen und kann dazu
nur mit Sokrates sagen: ›Es lohnt sich, es darauf zu wagen, daß man
glaube, es verhalte sich so. Denn es ist ein schönes Wagnis, und man
muß mit solcherlei sich gleichsam selbst besprechen.‹« 60

58 Spaemann, Personen (1996), 173.


59
Ebd. 173–174.
60 Ebd. 174. – Spaemann verweist in der Anmerkung als Quelle des Zitats auf: Platon:

Phaidon, 114 d. – Ebd. 272.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der
Person: Nähe als Ent-Fernung

Zu den wesentlichen Befunden des achten Kapitels gehört die Ein-


sicht, dass der analoge Begriff der Person erst denkbar wird, indem
seine Bedeutung in einem ihm voraufgehenden Zusammenhang ge-
dacht wird. Diese Bedeutung besteht darin, dass die Person durch ihre
reflexive Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz den Zu-
sammenhang, aus dem sie selbst hervorgegangen ist, indem sie ihn
überschreitet, zuallererst bewusst werden lässt. Personalität hebt die-
sen Zusammenhang im dreifachen Sinn auf, indem sie ihn über-
windet, bewahrt und auf eine neue Stufe stellt. Da Personsein das
›Haben einer Natur‹ bedeutet, das sich nicht zu einer Entität hypo-
stasieren lässt, ohne auf seine ›gehabte Natur‹ zurückzufallen, ist der
personale Standpunkt die Realisierung einer äußersten Möglichkeit
menschlichen Lebens, deren historisches Gewordensein zu unter-
scheiden ist von dem immer wieder individuell zu leistenden Schritt
in den apriorischen Beziehungsraum der Personen. Auch im Zustand
der Personvergessenheit bleibt der personale Standpunkt anwesend
als epistemologische Spur, die ausgehend von der Wahrnehmung im
Erscheinen sich verbergenden Seins die perspektivische Inversion er-
möglicht, durch die der Schritt in den Beziehungsraum wiederholt
werden kann.
Die im achten Kapitel entwickelte Ontologie der Person hat zwei
wesentliche Probleme offen gelassen. Erstens steht die Betonung der
Bedeutung des Zusammenhangs, aus dem die Person erst hervor-
gegangen ist, in einer Spannung zur Konzentration auf die personale
Perspektive in der bisherigen Betrachtung. Wenn die ontologische
Differenz von Dasein und Sosein den Seinsvollzug zumindest aller
Lebewesen charakterisiert, ist es in gewisser Hinsicht noch Ausdruck
einer anthropozentrischen Weltsicht, allein die personale Perspektive
in den Mittelpunkt zu stellen. Zweitens bleibt die Rede von der onto-
logischen Differenz, die aus der Selbsterfahrung der Personen abge-
leitet wird, eine äußerst abstrakte Redeweise, wenn sie auf das Exis-

651

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

tieren von nicht selbstbewussten Lebewesen bezogen wird. Aus den


Befunden des achten Kapitels ergibt sich somit die Aufgabe, die Vor-
stellung eines vom teleologischen Aussein-auf gestifteten Zusam-
menhangs, der erst durch die reflexive Wendung auf ihn selbst in der
personalen Perspektive zum Bewusstsein kommt, konkret auszu-
deuten. Diese Aufgabe knüpft an den im achten Kapitel dargelegten
paradoxen Gedanken an, dass der universale Kontext der Welt erst in
derselben reflexiven Wendung bewusst wird, durch den die personale
Kontextunabhängigkeit entsteht. 1 Die Person erscheint einerseits als
Bedingung des zum Bewusstsein kommenden universalen Kontexts,
andererseits als Sein, das aus diesem Kontext ausbricht. Wenn diese
Paradoxie nicht zu einer dualistischen Zwei-Welten-Lehre führen
soll, muss gezeigt werden, wie die mit dem ›Haben einer Natur‹ be-
zeichnete ontologische Differenz in einer Welt gedacht werden kann,
wie der universale Kontext und die Kontextunabhängigkeit in ihrem
Vermitteltsein, also das Kontinuum von phänomenaler Gegebenheit
und Interpersonalität, begreifbar zu machen sind.
Es geht bei dieser Aufgabe mit anderen Worten um die Vermitt-
lung zwischen dem personalen Standpunkt des ›Habens einer Natur‹
und der in der ›gehabten Natur‹ mit erfassten sinnlich gegebenen
Welt. Die leitende These dieses den zweiten Teil der vorliegenden
Arbeit abschließenden Kapitels besteht darin, dass Spaemann eine in
zwei kurzen programmatischen Texten unter den Oberbegriffen
›Ähnlichkeit‹ und ›Nähe‹ skizzierte Verallgemeinerung seiner Onto-
logie der Person in seinen späten Essays und Reden unsystematisch
auf verschiedenen Wegen verfolgt hat. Der Zusammenhang von Te-
leologie und Personalität, der das zentrale Thema des vorangegange-
nen Kapitels war, setzt voraus, dass die Welt uns entgegen Foucaults
Diktum eben doch ein ›lesbares Gesicht‹ zuwendet. 2 Um diese vom
interpersonalen Begegnungsgeschehen ausgehende allgemeine Les-
barkeit der Welt geht es Spaemann in seinen späten Überlegungen
aus den Jahren 1996 bis 2012. Bei den beiden erwähnten programma-
tischen Texten handelt es sich um einen 1996 zuerst veröffentlichten
Essay mit dem Titel »Ähnlichkeit« 3 und einen 13 Jahre später mit

1 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:


Gewissen und Versprechen, 616–617.
2 Vgl. Foucault, Die Ordnung des Diskurses, 34, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung

von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 390.


3 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 50–57. – Zuerst veröffentlicht in: Zeitschrift für

philosophische Forschung 50 (1996), 286–290. – Vgl. ebd. 57.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Bezug auf diesen Essay verfassten kurzen Zeitungsartikel mit dem


Titel »Nähe und Ferne« 4. Indem Spaemann in seinem Essay den Be-
griff der Ähnlichkeit als einen sowohl ontologischen als auch phäno-
menologischen ausdeutet, versucht er den in der Interpretation der
Person als ›Haben einer Natur‹ drohenden Dualismus durch die Sub-
sumtion der Ähnlichkeit unter den Begriff der Nähe zu umgehen, auf
die er in seinem späteren Selbstkommentar Bezug nimmt. Aus der
Idee der Subsumierung der Ähnlichkeit unter den Begriff der Nähe
werden sich hier wesentliche Anstöße für eine abschließende Fassung
der Philosophie der Begegnung ergeben, die über dieses Kapitel hi-
nausweisen.
Der Grund für Spaemanns Interesse an der Ähnlichkeit besteht
darin, dass diese einerseits auf phänomenal Gegebenes bezogen ist,
sie aber andererseits als ontologischer Begriff, also als ein Jenseits
des Begriffs gefasst werden muss: »Alles, was existiert, erinnert an
etwas anderes« 5, und weiter: »Erinnerung lässt eine Ent-Fernung,
also eine Nähe sichtbar werden, die aller Begrifflichkeit zugrunde
liegt und sich selbst doch dem Begriff entzieht.« 6 Zunächst wirft
Spaemann einen Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Begriff
der Ähnlichkeit in der Geschichte der Philosophie. Er weist darauf
hin, dass »die Philosophie diesem elementarsten aller ›Phänomene‹
vorwiegend auszuweichen versucht« 7 hat, indem sie sich stattdessen
auf »die Polarität von Identität und Differenz« 8 konzentriert hat.
D. h., sie hat die als Ähnlichkeit beschreibbare »Gemeinsamkeit des
Unterschiedenen […] entweder als Zusammengehörigkeit Verschie-
dener in der Identität einer übergreifenden Struktur zu fassen ver-
sucht oder als Anwesenheit eines identischen Moments im Verschie-
denen, als partielle Gleichheit« 9. Aus diesen ›Lösungen‹ des Problems
ging der »Universalienstreit um den ontologischen Status dieses
Identischen« 10 hervor. Die platonische Sichtweise führte dabei zum
Problem des χωρισμός, die aristotelische zur Frage nach der Identität

4 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59. – Zuerst veröffentlicht in: Die Zeit (Aus-

gabe 30. April 2009) im Rahmen einer Umfrage zum Tag der Arbeit am 1. Mai mit der
Fragestellung: »Woran arbeiten Sie gerade?« – Vgl. ebd. 59.
5 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 50.

6 Ebd. 57.

7 Ebd. 52.

8
Ebd.
9 Ebd.

10
Ebd.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

der Formursache in diskreten Dingen. 11 Die nominalistische Antwort


– »Es heißt nichts anderes, als dass Verschiedenes miteinander ähn-
lich ist, und basta« 12 – verstrickt sich, wie Spaemann mit Bezug auf
Russell darlegt, in einen unauflösbaren Widerspruch: »Wenn alle
Universalien auf die Ähnlichkeit individueller Entitäten reduzierbar
seien, dann bleibe doch Ähnlichkeit selbst ein irreduzibles Univer-
sale.« 13 Das antinominalistische Argument zielt also darauf, dass
wiederum verschiedene Ähnlichkeitsbeziehungen miteinander ver-
glichen werden können und deren Gemeinsamkeit nicht mit der Ähn-
lichkeit individueller Entitäten erklärt werden kann. 14 Dem »schlüpf-
rigen Gelände« 15, von dem, wie Spaemann bemerkt, Aristoteles in
diesem Zusammenhang sprach, konnte die Philosophie durch ihr
Ausweichen vor dem Phänomen der Ähnlichkeit somit nicht einfach
entkommen. Ähnlichkeit bleibt »eine Art ›Metaidee‹, ein epekeina tes
usias, ein ›Jenseits des Wesens‹ wie das platonische Gute, da ja alle
untereinander ähnlichen Entitäten nicht einfachhin ähnlich sind,
sondern ähnlich aufgrund bestimmter Gemeinsamkeiten und in be-
stimmten Hinsichten« 16. Als dasjenige, »was die Gemeinschaften der
untereinander Ähnlichen miteinander verbindet« 17, bleibt Ähnlich-
keit ein Phänomen, das sich hartnäckig seiner begrifflichen Erfassung
entzieht.
Spaemann deutet in den beiden genannten Texten an, wie auf
der Grundlage seiner Ontologie der Person im Sinne einer Verall-
gemeinerung derselben eine Lösung entwickelt werden könnte, durch
die das ›schlüpfrige Gelände‹ verlassen werden kann. Um diese Lö-
sung nachvollziehen zu können, muss man nun ›zu den Sachen
selbst‹ kommen. Spaemann betrachtet in seinem Essay zunächst die

11 Vgl. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 52–53.


12 Ebd. 53.
13
Ebd.
14 Vgl.: »Denn was die Gemeinsamkeit zwischen – sagen wir – der Ähnlichkeit von

Gedanken untereinander und der Ähnlichkeit von Blättern untereinander ausmacht,


ist offenbar nicht wieder die Ähnlichkeit eines Haufens Blätter mit z. B. der Ähnlich-
keit zwischen den beiden Relativitätstheorien von Einstein und Whitehead.« – Ebd.
15 Ebd. 52.

16 Ebd. 53. – Das ἐπέκεινα τῆς οὐσίας wurde von Spaemann zuvor thematisiert in:

Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (1985), 33, und in: Spaemann,
Personen (1996), wo er den Ausdruck durch die Übersetzungen »jenseits der kate-
gorial strukturierten Wirklichkeit« – ebd. 136 – bzw. »jenseits aller qualitativen Be-
stimmtheit« – ebd. 160 – übersetzt.
17
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 53.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Weise des Erinnerns an anderes durch Assoziation, die völlig subjek-


tiv sein kann, 18 um vor dem Hintergrund solcher kontingenter Ver-
knüpfungen durch eine Reflexion über die »natürliche Sprache«, die
»wesentlich metaphorisch« 19 ist, seinen zentralen Gedanken vorzu-
bereiten, dass Ähnlichkeit etwas Wirkliches ist, das sich nicht aus
einer subjektiven Weltsicht erklären lässt, sondern das – wie Sein –
überhaupt kein Begriff ist. 20 Was also ist Ähnlichkeitswahrnehmung?
Eine konkrete Wahrnehmung der Ähnlichkeit einfacher Qualitäten
beruht auf einer bestimmten Hinsicht, die mit einer anderen Ähn-
lichkeitswahrnehmung
allenfalls ähnlich, nicht aber durch ein identisches Universale verbun-
den ist. Es sind Hinsichten, die Ähnlichkeit begründet, und diese Hin-
sichten können allerdings wirklich identisch sein. Niemals ist das Rot
zweier roter Dinge genau dasselbe Rot. Aber was wir mit Farbe mei-
nen, wenn wir die Dinge hinsichtlich ihrer Farbe vergleichen, ist al-
lerdings immer genau dasselbe. Die identische Hinsicht eröffnet einen
qualitativen Raum, ein Kontinuum, innerhalb dessen eine spezifische
Art von Nähe und Ferne möglich wird. Solange das Kontinuum aller-
dings nur als Kontinuum besteht, gibt es nicht die Unterschiedenheit,
die die Voraussetzung von Ähnlichkeit bildet. Erst von verschiedenen,
diskreten farbigen Dingen sagen wir, dass sie durch ihre Farbe oder
dass ihre Farben einander ähnlich seien, so dass das eine an das andere,
das satte Gelb der Zinnien an Gewänder von Poussin erinnert. 21
Die Ähnlichkeitswahrnehmung steht also unter der doppelten Vo-
raussetzung, dass verschiedene, diskrete Dinge ausgewählt und diese
in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden. Spaemann unter-
streicht, dass dies ein wesentlich rezeptiver Vorgang ist: Ähnlichkeit
begründet Hinsichten, d. h. der Ähnlichkeitswahrnehmung liegt auf
der Seite des Wahrgenommenen etwas zugrunde, das die Hinsichten
dieser Wahrnehmung begründet, die ihrerseits einen qualitativen
Raum eröffnen. Einen komplexeren Fall stellt die »Ähnlichkeit von
Gestalten und Strukturen« dar,
die sich nicht auf Ähnlichkeit oder Gleichheit ihrer Teile zurückführen
lassen. Ein Gesicht, ein Ausdruck, ein Gedanke erinnern an andere

18 Vgl. Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 53.


19 Ebd. 56. – Vgl. ebd. 51–52.
20
Vgl. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«
(2010), 42.
21
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 54.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Gesichter, Ausdrücke, Gedanken. Es ist offenbar so, dass alles Seiende


einen solchen Raum qualitativer Nähe und Ferne eröffnet, in dem
auch das Fernste noch ein »Ent-ferntes«, d. h. ein, wenn auch minder,
Nahes ist. 22
Ähnlichkeit ist etwas, das sich im operationalisierbaren Resultat der
Wahrnehmung zeigt, indem es sich verbirgt. Zugrunde liegen kann
ihr die Spontaneität der Natur bzw. die eines die Natur nachahmen-
den menschlichen Schaffenstriebes. Natürliches Aussein-auf und
dessen Nachahmung in der menschlichen ποίησις gehen nicht in
ihrer phänomenalen Gegebenheit auf, sondern verweisen auf das,
was sich im Erscheinen verbirgt. Die Überlegungen zur Ähnlichkeit
knüpfen damit an den im achten Kapitel entwickelten Gedanken der
epistemologischen Spur der Entdeckung der Person an, die eine Inver-
sion der Wahrnehmung erfordert. 23 So ist Natur als natura naturata
ein potentiell unendlicher Speicher an wahrnehmbaren Ähnlichkeits-
beziehungen, die als von der im Erscheinen sich verbergenden natura
naturans gestiftet vorausgesetzt werden müssen. Was der Ähnlich-
keitswahrnehmung zugrunde liegt, was Ähnlichkeit also eigentlich
ist, entzieht sich der begrifflichen Erfassung. Dem kann man mit der
Haltung Goethes begegnen und das »schönste Glück des denkenden
Menschen« darin sehen, »das Erforschliche erforscht zu haben und
das Unerforschliche ruhig zu verehren« 24, oder mit der Haltung der
neuzeitlichen Wissenschaft, die danach strebt, »relevante von nicht-
relevanten Ähnlichkeitsbeziehungen zu unterscheiden« und diese
»allmählich durch wissenschaftliche Ordnungsprinzipien« 25 abzu-
lösen. 26 Diese ›Überwindung‹ der Ähnlichkeit bedeutet allerdings,

22 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 54.


23 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 592.
24 Goethe, Werke (HA), Bd. 12, 467 (Maximen und Reflexionen, Nº 718).

25
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 52.
26 Damit wird die Wissenschaft, wie Spaemann an anderer Stelle darlegt, »als ein

transzendentales Subjekt Bedingung dieser Objektwelt«. – Spaemann, Hirnforschung


und Willensfreiheit (2009), 159. – Auch in der »holistischen Interpretation Quines«,
in der »Wissenschaft eine Totalität [ist], die nichts außerhalb ihrer selbst zulässt«,
habe die Wissenschaft »sich an den Platz der transzendentalen Subjektivität von
einstmals gesetzt«. – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 323. – Das
»transzendentale Ich« kehrt, wie Spaemann hier weiter mit Bezug auf die naturalisti-
sche Theorie der Erkenntnis ausführt, »hinterrücks wieder, und zwar unter der Form
eines abstrakten Subjekts, genannt ›die Wissenschaft‹« – Ebd. 325.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

wie Spaemann bemerkt, »natürlich nicht die Eliminierung aus etwas


anderem als aus der Wissenschaft« 27, denn die der Ähnlichkeitswahr-
nehmung vorausgehende Begründung der Hinsichten, die in der »na-
türliche[n] Sprache« 28 ihren metaphorischen Widerhall findet, wird
durch diese Tendenz der Wissenschaft überhaupt nicht tangiert. Die
reduktionistische Sicht der Wissenschaft muss also immer schon von
dem ausgegangen sein, was sie im Sinne ihres Programms aufzulösen
bestrebt ist.
Diese erste Betrachtung von Phänomenen der Ähnlichkeit führ-
te somit zu einer Form jener Dialektik von Spiritualismus und Natu-
ralismus, die Spaemann als ein Signum der neuzeitlichen Philosophie
begreift. Hier geht es nicht um die Wiederaufnahme dieser Thematik,
sondern um die Einordnung dieser Konstellation in Spaemanns Über-
legungen zur Ähnlichkeit. Die systematische Alternative zur neuzeit-
lichen Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus bei Spaemann
ist das metaphysisch-analoge Denken. Genau dieses thematisiert
Spaemann in seinem Essay »Ähnlichkeit«, um im Gedankengang
über die dialektische Alternative hinauszukommen. Mit Bezug auf
Thomas Nagels Fledermaus-Gedankenexperiment rekurriert er auf
das Paradigma der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ : 29
Wenn wir sagen sollten, was denn das »Begehren« einer Fledermaus
sei, so können wir nur sagen: »etwas, das in einem entfernten Sinn
unserem Begehren ähnlich ist«. Nur über unser eigenes Begehren
wissen wir etwas durch unmittelbare Bekanntschaft, und wenn wir
fragen würden, was denn »Erfüllung« für ein Wesen ohne Zentralner-
vensystem, ja für eine subatomare Entität bedeutet, dann können wir
wiederum nichts anderes sagen. Die Rede wird dann zur Unkenntlich-
keit formalisiert. Aber der Anthropomorphismus in der Rede vom
»Sein« fällt uns nur deshalb nicht auf, weil die Formalisierung hier

27 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 56.


28
Ebd.– Vgl.: »Die natürliche Sprache ist im Unterschied zur Wissenschaftssprache
wesentlich metaphorisch. Sie eliminiert nicht, sondern eröffnet Ähnlichkeitsräume.
[…] Dass die Sprache ursprünglich poetisch ist und der Mensch ›dichterisch wohnt‹,
hängt damit zusammen, dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium unseres In-der-
Welt-Seins ist.« – Ebd. 56–57.
29 Vgl.: »[…] the fact that an organism has conscious experience at all means, basi-

cally, that there is something it is like to be that organism. […] fundamentally an


organism has conscious mental states if and only if there is something that it is like
to be that organism – something it is like for the organism.« – Nagel, What it is like
to be a bat?, 436.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

noch weiter vorangetrieben ist. Sein von etwas bedeutet Ähnlichkeit


mit unserem Dasein und mit allem anderen, oder es bedeutet nichts. 30
Wenn die Rede ist von unserer Ähnlichkeit mit einer Fledermaus,
dann geht es kaum um die Ähnlichkeit eines qualitativen Bestandes,
sondern darum, dass es irgendwie ist, eine Fledermaus zu sein, und
dass wir nur aus der Selbsterfahrung wissen, wie es ist, ein Mensch zu
sein. Die Ähnlichkeit zwischen uns und anderen Lebewesen und – in
spekulativer Fortführung – zwischen uns und unbelebtem Seienden
ist primär in unserem Selbstverhältnis begründet, dem ein analoges
Verhältnis anderer Lebewesen – und anderer Seiender – zu ihrer Na-
tur entspricht, darin also, »dass wir über Sein nur sprechen können
nach Analogie jenes Seienden, das wir sind und für das Sein Aus-
sein-auf-Sein heißt«. 31

30 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55–56.


31 Ebd. 55. – Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Thema der Analogie wird so-
mit im Rahmen der späten Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person auf eine
neue Stufe gehoben. Der Begriff gewann zunächst im Zusammenhang mit dem als
Alternative zum subjektphilosophischen Paradigma zu verstehenden metaphysisch-
analogen Denken in seinen Essays der 80er Jahre Bedeutung, insofern durch den
Rückbezug auf den verlorenen Begriff des Lebens der unabschließbaren Dialektik
der Subjektphilosophie entgangen werden sollte. – Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das meta-
physisch-analoge Denken, 373–383. – Zentral wurde die Kategorie des analogen Be-
griffs dann durch die grundlegende Trias ›Sein‹ ›Leben‹ ›Person‹ in der Ontologie der
Person. – Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561. – Die nun an-
stehende Verallgemeinerung der Ontologie der Person bedeutet im Hinblick auf das
Thema der Analogie, dass durch die Frage nach dem Ursprung der Analogizität die in
der Konzentration auf die personale Perspektive noch enthaltene Anthropozentrik
überwunden werden soll. Das so aufgeworfene Problem einer allgemeinen ›Analogia
entis‹ – vgl. Kluxen, Analogie, in: HWPh I, col. 225–226 – wird im Rahmen der vor-
liegenden Arbeit über den Begriff der Nähe zur abschließenden Fassung des Begriffs
der Begegnung führen. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum
›Urphänomen‹ der Begegnung, 889–910. – Am Rande sei hier auf die Nähe von Spae-
manns Ansatz zum Analogie-Verständnis bei Erich Przywara und Fernando Inciarte
hingewiesen. Przywara spricht in seiner 1932 erschienen Studie »Analogia entis« da-
von, »daß die Spanne zwischen Sosein (essentia) und Dasein (esse) das Wesen der
Analogie bilde«. – Przywara, Analogia entis, 149–150. – Ähnlich spricht Inciarte in
seiner 1973 erschienenen Studie »Eindeutigkeit und Variation« vom »nur analogisch
nachzuvollziehenden Gedanken der Entelecheia« – Inciarte, Eindeutigkeit und Varia-
tion, 185 – und betont, »daß der metaphysisch relevante Sinn von Sein zugleich als
Leben zu verstehen ist. Die Scholastik hat dafür eine Formel geprägt, die auf Aristo-
teles zurückgeht und die lautet: esse viventibus est vivere. Das eigentliche Sein der
Lebewesen ist Leben. Dabei ist zu berücksichtigen, daß als eigentliche Substanzen für
Aristoteles nur die Lebewesen (zoa) in Frage kommen und daß Substanz (ousia) nichts
anderes als eigentliches Sein besagt. Folglich ist ousia oder eigentliches Sein selbst

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Auf den ersten Blick versetzt das Paradigma der ›Es-ist-zu-sein-


Zustände‹ zurück in den Dualismus, in die mit dem ›Haben einer
Natur‹ drohende Zwei-Welten-Lehre. Die zentrale These, die sich in
dem Essay »Ähnlichkeit« mehr andeutet, als dass sie klar ausgespro-
chen würde, besteht aber gerade darin, dass die analoge Ähnlichkeit
etwa zwischen uns und der Fledermaus mit der qualitativen zwischen
distinkten, phänomenal gegebenen Entitäten ein Kontinuum bildet,
so dass das Paradigma der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ dazu dienen
kann, das Vermitteltsein der kontextunabhängigen Person mit dem
universalen Kontext begreifbar zu machen. Um dies im vollen Um-
fang verständlich machen zu können, bedarf es einer Reihe von
Schritten. Erstens muss ausgehend vom Paradigma der ›Es-ist-zu-
sein-Zustände‹, das eine wesentliche Bedeutung für die Vermittlung
der beiden Pole des Kontinuums hat, die phänomenologische Gege-
benheitsweise des Unsichtbaren thematisiert werden. Zweitens muss
der damit bezeichnete Zusammenhang theoretisch expliziert werden,
indem der Begriff der Nähe eingeführt und das Subsumtionsverhält-
nis der Ähnlichkeit unter die Nähe erläutert wird. Drittens muss, um
den so betriebenen Aufwand zu rechtfertigen, dargelegt werden, wel-
chen Erklärungswert dieser Gedankengang für das Verständnis des
Zusammenhangs hat, aus dem die Person hervorgeht und der selbst
erst durch die Person gedacht werden kann.
Die prinzipielle Bedeutung des Paradigmas der ›Es-ist-zu-sein-
Zustände‹ für eine mögliche Verallgemeinerung der Ontologie der
Person kann im Rückgriff auf »Personen« ausgehend vom erwähnten
Ausbrechen der Person aus dem universalen Kontext entfaltet wer-
den. Als ›Haben einer Natur‹ kommt die Person zu sich selbst erst in
der interpersonalen Begegnung. In der Begegnung aber wird ihr Vor-
kommen im Kontext der Welt, im universalen Raum des einander
Ähnlichen durchbrochen: »Menschen sind als Menschen mehr oder
weniger ähnlich. Als Personen sind sie nicht ähnlich, sondern gleich,
und zwar eben darin, daß sie jeweils einmalig und in ihrer Würde
inkommensurabel sind.« 32 Eine zentrale Einsicht von Spaemanns
Ontologie der Person bestand gerade darin, dass Personen sich zu
ihrer Natur verhalten, ihr eigenes ›So-und-So‹ transzendieren und
kontextunabhängig sind:

nichts anderes als Leben, Wirklichkeit des Lebens oder – man könnte auch sagen –
Lebensvollzug.« – Ebd. 235–236.
32
Spaemann, Personen (1996), 196.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Die Weise, wie Personen mit Personen umgehen, ergibt sich aus der
Weise, wie Personen einander gegeben sind. Wir verstehen diese Ge-
gebenheitsweise nicht, wenn wir sie vom Paradigma der Erkenntnis
natürlicher Dinge aus zu verstehen suchen. Sie ist vielmehr umge-
kehrt paradigmatisch für die Weise, wie uns natürliche Dinge gegeben
sind, nämlich so, daß sie in ihrem Gegebensein nicht aufgehen, daß
also ihr esse gerade nicht gleichbedeutend mit percipi ist, wie immer
wir dieses Mehr verstehen mögen. 33
Personsein ist kein qualitativer Bestand, sondern nur wahrnehmbar
in einem Akt der Anerkennung. Entscheidend ist es aber zu ver-
stehen, was es heißt, dass diese Nicht-Gegebenheit der Person umge-
kehrt paradigmatisch sein soll für unsere Wahrnehmung natürlicher
Dinge. Dass deren ›percipi‹ nicht mit ihrem ›esse‹ gleichbedeutend
sein soll, ist zunächst eine negative Aussage, die nur dadurch von
ihrer reinen Negativität befreit werden kann, dass im Hinblick auf
Naturdinge ›esse‹ und ›percipi‹ in ihrer Vermittlung gezeigt werden
können und eine phänomenale Spur des ›esse‹ nachweisbar wird. Die
Möglichkeit zu einer solchen Vermittlung ergibt sich wieder aus dem
Modell der Interpersonalität. Da Personen einander nicht qualitativ
gegeben sind, wäre die »Kluft« zwischen ihnen »unüberbrückbar« 34,
wenn sie nicht durch die Zeitlichkeit sich selbst objektiv würden: 35
»[…] da wir imstande sind, unsere eigene Innerlichkeit, unser eigenes
Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter dem
Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolge-
dessen auch mit dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel
machen.« 36 Aus diesem Selbstverhältnis geht die Fähigkeit zu einer
analogen Wahrnehmung anderer Lebewesen hervor, durch die die
objektivierende Beschränkung auf qualitative Bestände durchbrochen
wird:
Mit dem Auftreten von Trieb entstehen monadische Zentren des
Seins, die nicht primär Träger von Bedeutsamkeiten sind, sondern die
selbst Bedeutsamkeit stiften. Ein Begegnendes als Lebendiges wissen
heißt, es als Mitseiendes wissen, das nicht in dem aufgeht, was es für
mich ist. […] Wir können nie wissen, wie es ist, eine Fledermaus zu

33 Spaemann, Personen (1996), 191.


34 Ebd. 116.
35
Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 606–609.
36
Spaemann, Personen (1996), 135.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

sein. Die Innerlichkeit des Tieres behält für uns immer den Charakter
des Rätselhaften, nicht im Sinne eines zu lösenden Problems, sondern
im Sinn einer definitiven, weil wesentlichen Verborgenheit. 37
Die Kommensurabilität der aus dem universalen Kontext ausbre-
chenden Person mit anderen Lebewesen und dem Kontext der Welt
wird also durch das die ›gehabte Natur‹ mit dem ›Haben einer Natur‹
vermittelnde Selbstverhältnis der Person ermöglicht. Das Unsicht-
bare in anderen Lebewesen ist daher nicht bloß im Akt einer abstrak-
ten Anerkennung, sondern in einer phänomenalen Spur gegeben:
»Die Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen,
sind nicht pure Äquivokationen. Bestimmte Verhaltensweisen dieser
Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe verständlicher als auf
jede andere Weise.« 38 Der für das metaphysisch-analoge Denken kon-
stitutive Begriff des Lebens ermöglicht es, dass die Person, ohne ein
Sosein zu sein, im Kontinuum der phänomenal zugänglichen Welt
verbleibt und sich selbst mit dem phänomenal Gegebenen kommen-
surabel machen kann: »Seiendes als Seiendes bestimmen, heißt, es
unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst bestimmen. Ein
kritischer Anthropomorphismus ist die Bedingung jeder Onto-
logie.« 39 Gerade in dem mit dem Attribut ›kritisch‹ bezeichneten un-
überwindbaren Verdacht des idiosynkratischen Charakters dieses
Weltverhältnisses ist der mögliche Bezug auf die Wirklichkeit vo-
rausgesetzt.
In den Gedankengang hat sich somit eine merkwürdige Zwei-
deutigkeit des Ähnlichkeitsbegriffs eingeschlichen. Ging es zunächst
um Ähnlichkeit im Sinne qualitativer Beziehungen zwischen distink-
ten Entitäten, die in einer bestimmten Hinsicht betrachtet werden, so
ist in der Aussage, »dass Ähnlichkeit das fundamentale Medium un-
seres In-der-Welt-Seins ist« 40, eine Analogizität alles Seienden an-
gesprochen und es ist nicht direkt ersichtlich, wie diese beiden Be-
griffe der Ähnlichkeit zusammengehören sollen. Bereits der Essay
von 1996, in dem die verschiedenen Betrachtungsweisen der Ähnlich-
keit herausgearbeitet werden, schließt mit der Folgerung: »Eine Phi-
losophie der Ähnlichkeit müsste in eine Ontologie münden, deren

37 Spaemann, Personen (1996), 134–135.


38
Ebd. 135.
39 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55.
40
Ebd. 56–57.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Grundbegriffe die des Nahen und des Fernen, der Distanz und der
Ent-Fernung wären.« 41 In dem Selbstkommentar von 2009 konkreti-
siert Spaemann diese Schlussfolgerung:
Ich dachte damals, Ähnlichkeit sei ein elementarer, nicht unter ein
Allgemeineres subsumierbarer Begriff, wie der des Seins. Alles, was
ist, ist Anderem, was ist, ähnlich, sonst könnten wir von ihm nicht
sprechen und nicht wissen. Und es ist ein Irrtum, Ähnlichkeit als par-
tielle Identität und partielle Verschiedenheit zu verstehen. Es gibt aber,
wie mir dann aufging, einen elementareren Begriff, unter den der der
Ähnlichkeit subsumierbar ist: der Begriff der Nähe. Alles, was ist,
steht in Beziehungen der Nähe zu Anderem, was ist. 42
Zunächst hat sich damit das Problem nur verschoben und es muss
gefragt werden: Was ist Nähe? Das Wort hat primär räumliche Se-
mantik. 43 Da Spaemann aber räumliche Nähe – neben qualitativer,
zeitlicher und anderen Formen – als Spezialfall von Nähe versteht, 44
stellt er selbst die Frage: »Aber verstehen wir, was Nähe und Ferne
sind?« 45 Hier soll versucht werden, eine Antwort auf diese Frage zu
entwickeln, die sich am Zusammenhang der beiden hier betrachteten
programmatischen Texte mit der zuvor erörterten Ontologie der Per-
son orientiert. In »Personen« schrieb Spaemann im Hinblick auf das
Verhältnis der Person zur räumlich-zeitlichen Indexikalität ihrer ›ge-
habten Natur‹ :
Personen sind […] die archimedischen Punkte, von denen aus es allein
möglich ist, Raum- und Zeitstellen zu identifizieren, weil durch sie
allein »Hier« und »Jetzt« definierbar sind. Ein Hier und Jetzt gibt es
nur für Personen, also Lebewesen, die einerseits ein vitales Zentrum
bilden, von dem aus sich eine Perspektive ergibt, die aber andererseits
um diese Perspektivität und also die Relativität dieses Zentrums wis-

41
Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 57.
42 Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58.
43
Vgl. den Artikel »Nähe« im Deutschen Wörterbuch von Jacob und Wilhelm
Grimm, in dem drei Bedeutungen von »Nähe« aufgeführt werden, wobei die erste
durch die Anzahl der angeführten Textbelege klar dominiert: »1) das örtliche nahesein
oder etwas nahgelegenes«, »2) das nahestehen durch verwandtschaft« und »3) zeit-
liches nahesein oder herannahen«. – Deutsches Wörterbuch, s. v. Nähe, XIII,
col. 288–289.
44 Vgl. Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58–59.

45
Ebd. 59. – Weiter heißt es an dieser Stelle: »Ich würde es gerne verstehen. So
widme ich diese Zeilen als eine Flaschenpost demjenigen, der das Buch schreiben wird,
das ich gern geschrieben hätte.«

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sen und deshalb von »hier« im Unterschied zu »woanders« und von


»jetzt« im Unterschied zu »früher« oder »später« sprechen können. 46
Es geht dabei nicht um die bloße Verwendung lokal- und temporal-
deiktischer Adverbien, sondern um die in ihrem ›Definieren‹ sich er-
eignende Distanznahme zu einem lokal und temporal situierten Le-
bewesen. Die indexikalischen Ausdrücke ›hier‹ und ›jetzt‹ werden
demnach definierbar, indem sie transzendiert werden. Aus der Per-
spektive eines vitalen Zentrums gibt es eine Umwelt, in der alle Ob-
jekte auf dieses Zentrum bezogen bleiben, ohne dass die Relation
zwischen ihnen bewusst würde. 47 Nähe ist, auch wenn man von der
primären räumlichen Semantik abstrahiert, ein wesentlich relationa-
ler Begriff. Nähe ist Nähe zu etwas bzw. zu jemandem. Dieses rela-
tionale Verhältnis kann nur einem Wesen im Bewusstsein gegeben
sein, das mit sich nicht identisch ist, da es über seine eigene Indexika-
lität hinaus ist. Erst mit der Entdeckung der Person, also im Trans-
zendieren der Perspektivität des vitalen Zentrums, entsteht ein ›Blick
von nirgendwo‹ 48 und mit ihm das Bewusstsein der Relation, das
einen Begriff der Nähe ermöglicht, der über allen in der Perspektivi-
tät des Lebewesens fundierten Formen der Nähe – der räumlichen,
zeitlichen, qualitativen u. a. – steht. Personen sind daher die archime-
dischen Punkte außerhalb des universalen Kontextes der Welt, durch
deren Kontextunabhängigkeit paradoxerweise jener Kontext zualler-
erst als Kontext erfasst wird und die Person gerade als die ihn erfas-
sende in den Kontext wieder eingeht. Die kontextunabhängigen Per-
sonen machen sich, wie gesehen, durch ihr Selbstverhältnis wieder
kommensurabel mit dem im universalen Kontext Gegebenen. Bezie-
hungen der Ähnlichkeit innerhalb dieses Kontexts sind Ausdruck der
ontologischen Differenz von Sein und Sosein, die erst durch den
›Blick von nirgendwo‹ zu Bewusstsein gelangt, aber eine phäno-
menale Gegebenheit darstellt, die von diesem Bewusstsein nicht ab-
hängig ist. So wird klar, dass Ähnlichkeit als qualitative Nähe ein

46 Spaemann, Personen (1996), 175.


47 Dies gilt nicht allein für Lebewesen ohne Selbstbewusstsein, sondern auch für
menschliches Leben vor der Entdeckung der Person. Platonisch gesprochen ergibt
Nähe sich aus der Beziehung zum Guten, definiert das Gute Nähe. Aber auch hier ist
die Relation selbst dem Bewusstsein noch nicht gegeben, so dass die Bezeichnung des
Verhältnisses zum Guten als Nähe bereits die reflexive Wendung auf die Selbsttrans-
zendenz impliziert, die sich Platon noch nicht eröffnet hatte.
48 Spaemann, Personen (1996), 82. – Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Person-

begriff: Teleologie und Personalität, 594.

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Spezialfall der Nähe ist, dass die beiden Ähnlichkeiten, von denen die
Rede war, dieselbe Ursache haben und die vermeintliche Zweideutig-
keit des Ähnlichkeitsbegriffs in Wahrheit der Ausdruck unterschied-
licher Zugänge zur Wirklichkeit ist.
Die unternommene gedankliche Anstrengung hat also zu einer
Differenzierung geführt, durch die die spezifisch personale Perspek-
tive von einer vorpersonalen abgehoben werden kann, und es muss
erläutert werden, welchen indirekten Erklärungswert diese vorper-
sonale Perspektive in dem hier verfolgten Gedankengang hat. Die
personale Wahrnehmung von Ähnlichkeit als qualitative Nähe er-
laubt einen Rückschluss auf die Sicht vor der Entdeckung der Person
und die in ihr noch latente Dimension der Ähnlichkeitswahrneh-
mung. Ähnlichkeit zeigt sich auch einem Blick, dem das relationale
Verhältnis der Nähe nicht im Bewusstsein gegeben ist und der daher
Ähnlichkeit noch nicht als qualitative Nähe erkennen kann, obwohl
auch diese Wahrnehmung auf dasselbe Phänomen zielt wie die per-
sonale Wahrnehmung. Solche vorpersonale Ähnlichkeitswahrneh-
mung kann, da sie nicht vom Subjekt ausgeht, nur als unmittelbare
Wahrnehmung von Seiendem als Seiendem verstanden werden. Erst
indem diese Unmittelbarkeit im Ausgang vom Subjekt verloren ge-
gangen ist, Seiendes sich als Sosein zeigt und die Möglichkeit einer
Eliminierung von Ähnlichkeitsbeziehungen durch die Wissenschaft
entstanden ist, bietet sich die Möglichkeit, in der reflexiven Wendung
auf die Selbsttranszendenz und damit im bewussten Erfassen der Re-
lation der Nähe durch das phänomenal Gegebene hindurch im Sosein
das Seiende wahrzunehmen, das zunächst unmittelbar, und das heißt:
nicht als Seiendes gegeben war. Vor der Entdeckung der personalen
Perspektive konnte dieser Zusammenhang nicht erfasst werden,
konnte sich das Denken hier nur in jenem ›schlüpfrigen Gelände‹
bewegen, von dem oben die Rede war. Der Erklärungswert der Unter-
scheidung zweier Perspektiven besteht darin, dass sie, wenn beide
ungeachtet des Ereignisses der Entdeckung der Person, das als refle-
xive Wendung auf die Selbsttranszendenz eine Zäsur darstellt, in
einem durch das Aussein-auf gestifteten Kontinuum zu verorten
sind, in diesem Kontinuum vermittelt sein müssen. Die beiden Per-
spektiven – die der lebendigen Zentralität und die personale –, die
sich antagonistisch verhalten, sind theoretisch angenommene Grenz-
fälle, die in der Wirklichkeit immer als miteinander vermittelt ge-
dacht werden müssen. Die personale Perspektive kann sich nie voll-
ständig vom Interesse des Lebewesens, seiner ›gehabten Natur‹,

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lösen, 49 wie umgekehrt die Perspektive der lebendigen Zentralität nie


in der reinen Funktionalität der biologischen Selbsterhaltung auf-
gehen kann, sondern eine wenn auch nur rudimentäre Rezeptivität
für die ontologische Differenz von Sein und Sosein als integralen
Bestandteil enthalten muss. 50 Wenn somit in der personalen Perspek-
tive die vorpersonale immer schon erinnert wird, kann jene nur durch
diese voll verstanden werden. 51
Die Relation der Nähe zu etwas bzw. zu jemandem wird erst für
Personen denkbar, die sowohl über eine konkrete Perspektivität ver-
fügen als auch diese bewusst transzendieren, so dass Nähe für Per-
sonen paradoxerweise einerseits ihre räumliche Konnotation behält,
andererseits aber eine Bedeutung gewinnt, die räumliche und zeit-
liche Indexikalität hinter sich lässt. Nähe bezeichnet für Personen
eine Relation, die – wiewohl nicht denkbar ohne den Ausgang von
einer konkreten Raum-Zeitstelle – primär ontologische Bedeutung
hat: Nähe ist Sein. 52 Seinen eigentlichen ontologischen Ort hat die
Nähe in der interpersonalen Begegnung. Der Gedanke einer all-
gemeinen Lesbarkeit der Welt – und damit die Überwindung der in
der Ontologie der Person noch enthaltenen anthropozentrischen Per-
spektive, von der eingangs die Rede war – lässt sich erst durch die
Reflexion auf den kontinuierlichen Zusammenhang der beiden Per-
spektiven – der personalen und der lebendiger Zentralität – konkreti-
sieren, indem Formen der Nähe – wie Ähnlichkeit als qualitative – als
Nähe gedacht werden. Die Wahrnehmung von Ähnlichkeit ist, wenn
man die rein subjektive Assoziation ausgrenzt, Wahrnehmung der
ontologischen Differenz von Sein und Sosein. Im Hinblick auf alle
phänomenalen Gegebenheitsweisen der ontologischen Differenz be-

49 Vgl.: »Die reine Transzendenz wäre ihrer selbst nicht bewußt. Eine Person enthüllt
sich uns nur vermittelt durch eine Verbindung nicht einzigartiger Qualitäten.« –
Spaemann, Personen (1996), 86.
50 Auf diesen Gedanken wird zunächst in Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der

Evolution, 681–690, und danach in den abschließenden Überlegungen des dritten


Teils zurückzukommen sein, in denen von einem »kontemplativen Moment« die Rede
sein wird. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹
der Begegnung, 889–910.
51 Diese These ist eine Vorausdeutung auf das Gedankenexperiment in den abschlie-

ßenden Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, in dem versucht werden


wird, das Ereignis der Begegnung aus der vorpersonalen Perspektive zu denken.
52
An diese Feststellung wird im Rahmen der Schlussfolgerungen im dritten Teil an-
geknüpft werden. – Vgl. Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in
der Begegnung, 879–888.

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steht aber das Problem der umgekehrten Perspektive. Unter der Be-
dingung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt, unter der Bedin-
gung also des Verlusts der Unmittelbarkeit, kann das Sein sich ent-
weder im phänomenal Gegebenen verbergen oder dieses auf das Sein
hin transparent werden. Der Unterschied zwischen beiden Wahrneh-
mungen besteht in dem, was sich nicht zeigt, darin, dass einerseits die
Ähnlichkeit qualitativer Bestände erkannt und dabei das die konkrete
Hinsicht dieser Wahrnehmung Fundierende unsichtbar bleiben kann,
andererseits dagegen dieser Zusammenhang zwischen dem Fundie-
renden und seiner Erscheinung in der Ähnlichkeitswahrnehmung
mit erfasst werden kann. Der entscheidende Gedanke Spaemanns,
um den es in den beiden programmatischen Texten geht, lässt sich
also folgendermaßen zusammenfassen: In jeder nicht nur auf subjek-
tiver Assoziation beruhenden Ähnlichkeitswahrnehmung kann sich
das eine gemeinsame Hinsicht begründende Unsichtbare – als onto-
logische Differenz zwischen einem qualitativen Bestand und dem im
Erscheinen sich verbergenden Sein – enthüllen; ob es sich wirklich
enthüllt, hängt davon ab, ob der Betrachtende das phänomenal Ge-
gebene als bloße objektive Gegebenheit betrachtet oder er in der Di-
mension der Offenheit steht, in der andere Zentren der Bedeutsam-
keit ihm durch die phänomenal gegebenen Weisen des Seins hindurch
sichtbar werden.
Im Folgenden sollen einige unsystematische Wege nachvoll-
zogen werden, auf denen – nach der hier vorgelegten Interpretation
– Spaemann innerhalb des skizzierten programmatischen Rahmens
Versuche der Verallgemeinerung seiner Ontologie der Person unter-
nommen hat, durch die Beiträge zur allgemeinen Lesbarkeit der Welt
geleistet werden. Zunächst geht es dabei um die häufige Bezugnahme
auf die Scheler’sche Wertphilosophie in Spaemanns späten Essays, die
eine phänomenologische Erweiterung seiner philosophischen Kon-
zeption ermöglicht. Zugleich müssen in diesem Zusammenhang aber
auch Spaemanns kritische Auseinandersetzung mit Scheler und seine
über diesen hinausgehenden Ideen zu einer Wertphilosophie referiert
werden (9.1). Im zweiten Schritt steht der Begriff des Schönen im
Mittelpunkt, durch den zum einen Spaemanns naturphilosophisch-
teleologisches Denken durch die Annahme eines der Evolution vo-
rausliegenden Apriori der Schönheit und einer Selbstdarstellungsten-
denz der Natur um einen wesentlichen Aspekt erweitert wird. Zum
anderen eröffnen seine Überlegungen im Bereich der Ästhetik durch
den Gedanken simulierter Transzendenz eine weitere Möglichkeit zu

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

einer phänomenologischen Vermittlung von Grundgedanken der On-


tologie der Person (9.2). Schließlich muss noch einmal in diesem Ab-
schlusskapitel des zweiten Teils auf »das Ende des Denkens« 53, die
theologischen Überlegungen Spaemanns eingegangen werden, die
im betrachteten Zeitabschnitt besonders viel Raum einnehmen. In
»Nähe und Ferne« schrieb Spaemann: »Das absolut, das unendlich
Ferne ist nicht.« 54 Die Frage, wie das Absolute als eine Weise der
Nähe gedacht werden kann, führt über den Gottesbeweis aus dem
futurum exactum zu einer abschließenden Auseinandersetzung mit
der Polarität von Wissen und Glauben und zu dem Versuch, anhand
zweier später ›Summen‹ seines Werks noch einmal die Grund-
bestandteile der genuin philosophischen Argumentation Spaemanns
nachzuvollziehen (9.3).

53
Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),
136.
54
Spaemann, Nähe und Ferne (2009), 58.

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur
ontologischen Differenz im Wertbegriff

Der Philosoph und Soziologe Max Scheler (1874–1928), der in Spae-


manns Schriften vor 2000 nur gelegentlich erwähnt wird, 1 gewinnt in
dem skizzierten programmatischen Rahmen seines späten Denkens
eine neue Bedeutung. Im Essay »Europa – Wertegemeinschaft oder
Rechtsordnung« aus dem Jahr 2001 schreibt Spaemann:
Max Scheler, dieser geniale Außenseiter der phänomenologischen
Schule, hat Nietzsches Idee einer Ressentimentmoral, einer Umwer-
tung der Werte durch den Willen der Schwachen zur Macht, auf-
gegriffen, ihn aber phänomenologisch vertieft. Die christliche Liebes-
lehre ist für ihn Ausdruck äußerster Kraft und Souveränität, während
auf die neuzeitliche bürgerliche Moral Nietzsches Charakterisierung
der Ressentimentmoral zutrifft. Was Scheler aber vor allem gezeigt
hat, ist, dass so etwas wie Werte aus menschlichen Wertschätzungen
so wenig ableitbar sind wie Zahlen aus dem Rechnen. Zahlen liegen
dem Rechnen zugrunde, nicht umgekehrt. Werte den Wertschätzun-
gen, und nicht umgekehrt. 2
Die gründlichste Auseinandersetzung Spaemanns mit Schelers Wert-
philosophie findet sich in dem Essay »Daseinsrelativität der Werte« 3

1
Erwähnung findet Scheler beispielsweise in »Glück und Wohlwollen« – vgl. Spae-
mann, Glück und Wohlwollen (1989), 57, 183 – oder in »Personen« – vgl. Spaemann,
Personen (1996), 70, 178, 228. – Eine implizite Bezugnahme auf Schelers These der
Seinserfahrung als Widerständigkeitserfahrung liegt bereits in »Über die Bedeutung
der Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹« (1980/81) vor. – Vgl. Spaemann, a. a. O., 45. –
Auch wenn Scheler in »Personen« nur am Rande erwähnt wird und insbesondere im
Zusammenhang mit der Bildung des spezifischen Personbegriffs durch Spaemann
nicht auf ihn Bezug genommen wird, zeigt sich die Nähe seines Personbegriffs zum
Scheler’schen vor allem in der von diesem konstatierten »Übergegenständlichkeit«
der Person. – Vgl. Scherer, Person. III. Neuzeit, in: HWPh VII, col. 315. – Vgl. auch:
»[…] absolut ausgeschlossen ist es, daß die Person Gegenstand, sei es der von ihr
selbst vollzogenen, oder sei es der von einem anderen vollzogenen Vorstellung oder
Wahrnehmung wird. D. h. zum Wesen der Person gehört, daß sie nur existiert und
lebt im Vollzug intentionaler Akte. Sie ist also wesenhaft kein ›Gegenstand‹. Umge-
kehrt macht jede gegenständliche Einstellung (sei es Wahrnehmen, Vorstellen, Den-
ken, Erinnern, Erwarten) das Sein der Person sofort transzendent.« – Scheler, Der
Formalismus der Ethik und die Materiale Wertethik, 480–481.
2 Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 181.

3
Erschienen unter diesem Titel in: Chr. Bermes, W. Henckmann, H. Leonardy

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

aus dem Jahr 2000, dessen wesentliche Thesen im Folgenden ent-


wickelt werden sollen. 4 Spaemann geht es in diesem Essay erstens
um einen affirmativen Nachvollzug wesentlicher Grundgedanken
der Scheler’schen Wertphilosophie, zweitens um die Herausarbeitung
der wesentlichen Differenz zwischen ihr und seinem eigenen Denken
und drittens um eine spekulative Weiterentwicklung der Einsichten
Schelers in seinem eigenen Sinn.
Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die »Zweideutigkeit«,
mit der die »Einführung des Wertbegriffs in die Philosophie« 5 im
19. Jahrhundert verbunden war. Der Wertbegriff kann einerseits ver-
standen werden als »Kompensation eines Defizits« 6 oder andererseits
als »gedankliche und begriffliche Ausdifferenzierung mit theoretisch
bedeutendem Gewinn« 7. Der Gedanke der »Ausdifferenzierung« be-
zieht sich auf »die klassische Formel ›omne ens est bonum‹« 8 und
meint die durch die gedankliche Trennung von Seiendem und Gutem
möglich werdende Entdeckung von »Strukturen des Guten […], die
zuvor verborgen waren« 9. Das der ersten Alternative zugrunde lie-
gende Defizit dagegen besteht in der »neuzeitliche[n] Reduktion des
Seins auf bloßes Vorhandensein« 10, die dann kompensiert werden
muss, indem durch subjektive Wertung der »aus dem Sein eliminier-
te[…] Aspekt des bonum nun als ›Wert‹ sozusagen von außen wieder
an die Wirklichkeit« 11 herangetragen wird. Der öffentliche Diskurs
der Gegenwart ist dabei nach Spaemanns Überzeugung von der ›kom-
pensatorischen‹ Variante des Wertbegriffs bestimmt:
Hinter der Rede von Werten steht die vage Vorstellung, daß uns die
moderne, per definitionem materialistische Naturwissenschaft darü-
ber belehrt, was die Wirklichkeit ist. Menschliche Gesellschaften aber
brauchen, um gemeinsam leben, sich verständigen und handeln zu

(Hrsg.), Person und Wert. Schelers »Formalismus« – Perspektiven und Wirkungen,


Freiburg 2000, 29–46. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Grenzen, 145–160.
4 Darüber hinaus nimmt Spaemann auch in anderen späten Essays Bezug auf Scheler,

z. B. in: Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 190, Schönheit und Zweck-


mäßigkeit in der Natur (2004), 256, u. Wie konntest du nur tun, was du getan hast?
(2005), 228–229.
5 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 145.

6 Ebd.

7 Ebd. 146.

8 Ebd.

9
Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182.
10 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146.

11
Ebd.

669

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

können, darüber hinaus so etwas wie gemeinsame Wertschätzungen.


Da es keine objektiven Gründe für diese Wertschätzungen gibt, ist
deren oberstes Kriterium der faktische Konsens in einer bestimmten
Zivilisation und, in der westlichen Zivilisation, darüber hinaus die
Überzeugung von der Konsensfähigkeit für alle gutwilligen Men-
schen. 12
Dieses relativistische Wertverständnis geht jedoch einher mit der
»Verabsolutierung des eigenen, das heißt des spätbürgerlichen, indi-
vidualistischen Ethos der westlichen Zivilisation« 13, so dass »Uni-
versalismus und Eurozentrismus, Wertabsolutismus und Wertrela-
tivismus […] in den gegenwärtigen Debatten ständig ineinander« 14
umschlagen. Vor dem Hintergrund dieser Dialektik legt Spaemann
dar, wie Scheler die »Behauptung der Absolutheit der Werte und
ihrer Rangordnung einerseits, die Entdeckung der tiefgreifenden
Unterschiedlichkeit geschichtlicher Ethosformen andererseits« wider-
spruchsfrei zusammendenken kann. Seinen Einwand gegen die rela-
tivistische Deutung von Werten als »Projektionen subjektiver
Wertungen« 15 entwickelt Scheler aus »einer phänomenologischen
Analyse, die derjenigen Husserls analog ist«: »Die Analyse des Wer-
terlebens ergibt, daß Werte weder Produkte noch Ursachen, sondern
Gegenstände unseres Fühlens sind.« 16 Werte sind also weder unsere
subjektiven Setzungen noch eine von unserem Fühlen unabhängige
Realität, sondern haben ihr Sein in den werterschließenden Akten.
»›Omne ens est bonum‹, das kann werttheoretisch so ausgedrückt
werden: In allem, was ist, können immer wieder neue Qualitäten
durch entsprechende Akte des Fühlens zur Anschauung kommen.« 17
Gerade weil Schelers Wertbegriff »eine unendliche Vielzahl von Wer-
ten unter sich faßt« 18, kann er eine Pluralität denken von »geschicht-
lichen Wertordnungen, aus denen sich dann jeweils bestimmte Nor-
mensysteme ergeben« 19. Scheler geht also »nicht davon aus, daß alle

12 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146.


13
Ebd. 147.
14 Ebd. 148.

15 Ebd.

16 Ebd.

17 Ebd. 149–150. – Unter den ›Werten‹ versteht Scheler somit »genuine[…] Seins-

gegebenheiten, […] die uns wesentlich im Fühlen der Höher- oder Minderwertigkeit
unserer Strebensziele erkennbar werden«. – Schweidler, Max Scheler: Der Wert, in:
Spaemann/Schweidler (Hrsg.), Ethik. Lehr- und Lesebuch, 131.
18 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 146.

19
Ebd. 149.

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

Menschen, ungeachtet ihrer kulturellen Verschiedenheit, im Grunde


dasselbe schätzen und dasselbe verwerfen« 20. Wesentlich für seine
Auffassung ist die Verbindung eines Kulturrelativismus mit einem
Wertabsolutismus. Obwohl sich aber in verschiedenen »geschicht-
lichen Ethosformen« eine »Verschiedenheit von Interessen« zeigt,
vertritt Scheler »dezidiert die These, daß Ethosformen nur dann ge-
sellschaftliche Relevanz gewinnen, wenn das nützlich ist für die ba-
sale, gesellschaftsstabilisierende Bedürfnisbefriedigung« 21. Die durch
verschiedene Interessen und aus ihnen resultierende unterschiedliche
Kombinationen von Werteinsichten geprägten Ethosformen weisen
also einen analogen sozialen Selbsterhaltungsmechanismus auf, von
dem die ihm zugrunde liegenden Werte unabhängig sind: »Nützlich-
keit ist, so zeigt Scheler, nicht das Wesen der Werte, auch nicht der
gesellschaftlich geltenden, also nützlichen.« 22 Von diesem »Kultura-
lismus« 23 Schelers hebt sich das Selbstverständnis der spätbürger-
lichen westlichen Zivilisation dadurch ab, dass diese in ihrem Wert-
relativismus als analoges Motiv aller denkbaren Wertsetzungen das
Selbsterhaltungsstreben, also den Wert der Nützlichkeit erkennt: 24
»Indem allen anderen Epochen und Kulturen dieses ethische Kriteri-
um unterstellt wird, entpuppt sich der herrschende Relativismus als
Verabsolutierung der Moral der eigenen Gesellschaft, die sozusagen
die Wahrheit aller anderen zu sein beansprucht.« 25 Gegenüber diesem
auf »Kulturimperialismus« 26 hinauslaufenden Selbstverständnis der
westlichen Zivilisation verbindet Scheler und Spaemann die Idee, das
Selbsterhaltungsstreben als Schwundstufe eines ihm zugrunde lie-
genden ursprünglichen Strebens zu verstehen. Was Spaemann schon
in seinen Anfängen als Philosoph zum teleologischen Denken brach-
te, führte Scheler zur Ausbildung seiner Wertphilosophie. Um der
darin verborgenen Parallele näher kommen zu können, muss im
nächsten Schritt gefragt werden, was »Absolutheit der Werte für
Scheler bedeutet« 27.

20 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 149.


21 Ebd. 151.
22 Ebd. 152.
23 Ebd.
24 Vgl. ebd. 149.
25
Ebd. 149.
26 Ebd. 147.
27
Ebd. 153.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Der Gedanke der Absolutheit der Werte scheint in einem direk-


ten Widerspruch zu stehen zu ihrer Daseinsrelativität, die sich in dem
bereits erwähnten Sachverhalt ausdrückt, dass Werte zwar keine sub-
jektiven Setzungen sind, aber auch kein von den auf sie gerichteten
Akten unabhängiges Sein haben: »Werte ebenso wie Zahlen sind in-
tentionale Gegenstände, deren Sein das mögliche Gegenstand-Sein in
intentionalen Akten ist. Ohne den Bezug auf diese Möglichkeit hat es
so wenig Sinn, von Werten zu sprechen, wie es Sinn hat, ohne Bezug
auf mögliches Sehen von Farben zu sprechen.« 28 Was kann bei solcher
Relativität der Werte ihre Absolutheit bedeuten? Sie besteht darin,
dass Werte zwar nur in der Wahrnehmung gegeben sind, dass sie aber
eine absolute, d. h. von jeder subjektiven Wahrnehmung unabhängige
Geltung haben:
Das kann man sich am besten deutlich machen am Beispiel des Wertes
des Nützlichen. Das Nützliche ist ein Wert, der relativ ist in Bezug auf
alles Lebendige. Es gibt das, was dem Lebendigen zuträglich ist, wo-
durch es gefördert und erhalten wird, und es gibt das Schädliche als
dessen Gegenteil. Nun liegt auf der Hand, dass es keinesfalls Sache
irgendwelcher subjektiver Wertungen ist, was einem Menschen nützt
und was ihm schadet. Das Nützliche entspringt nicht irgendeiner Wer-
tung, sondern die Wertung bzw. Wertschätzung bezieht sich auf das
Nützliche und muss ihm bei Strafe des Untergangs entsprechen. Wer
etwas Schädliches für nützlich hält oder wer glaubt, den Wert des
Nützlichen überhaupt leugnen zu können, der wird die Wertstruktur
schmerzlich zu fühlen bekommen. 29
Daseinsrelativität gibt es also nicht in Bezug auf ein cartesisches Sub-
jekt als instantanes ›cogito‹, sondern in Bezug auf Lebewesen. 30 Werte

28 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 154.


29 Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182.
30
Auch das Subjekt der neuzeitlichen Naturwissenschaft ist keineswegs ein solches
cartesisches Subjekt: »Daseinsrelativ in diesem Sinne ist für Scheler die gesamte Welt
der neuzeitlichen Naturwissenschaft. Das abstrakte Design dieser Welt entspringt
dem menschlichen Willen zur Naturbeherrschung. Scheler schließt sich hier eng an
die pragmatische Deutung der Naturwissenschaft an. Die Wissenschaft reduziert ihre
Gegenstände auf Aspekte, mit deren Hilfe die Natur menschlichen Zwecken verfüg-
bar gemacht werden kann. Sie ist deshalb nicht etwa wertfrei, sondern unter dem
Aspekt möglichen Nutzens konstruiert und zur Gegebenheit gebracht. Dies ist der
Grund dafür, daß es keine naturwissenschaftliche Erklärung des Lebens geben kann.
Denn die Mechanismen, die hier für die Erklärung des Lebens herangezogen werden,
haben ihre Wirklichkeit nur relativ auf Leben und dessen Herrschaftswillen.« – Spae-
mann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156.

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

sind daseinsrelativ in dem Sinn, dass sie ihr Sein darin haben, »dem
Leben allererst Bedeutsamkeit zu geben beziehungsweise die Bedeut-
samkeitsstruktur des Lebendigen auszumachen und zu definieren« 31.
Dadurch, dass ein Lebewesen zu seiner Umwelt in eine Beziehung
tritt, entsteht die Relationalität, in der Werteinsichten möglich wer-
den, und erst im Transzendieren der eigenen Perspektivität durch ein
solches Lebewesen wird diese Relationalität und damit die Da-
seinsrelativität der möglichen Wertbeziehungen bewusst. 32 Die Ab-
solutheit der Werte ergibt sich daraus, dass das Lebewesen in die
Wertbeziehungen wesentlich rezeptiv eingeht. 33 Die in den Wertein-
sichten rezipierten Wirkungen der Welt können aber »nicht kausal
interpretiert werden im neuzeitlichen naturwissenschaftlichen Sinn
formal-mechanischer Kausalität« 34. Vielmehr verfügt »Scheler über
einen Begriff von Kausalität, den er selbst ›metaphysisch‹ nennt und
der nichts mit einem gesetzmäßigen Folgen nach Regeln zu tun hat«:
»Die wahre Welt ist nicht eine Welt von Gestalten, sondern von Kräf-
ten. Diese sind es, die real wirken und die Körperbilder ebenso wie
deren formalgesetzliche Kausalverknüpfung hervorbringen.« 35 Im
Zusammenhang mit dieser »Metaphysik der Kräfte bei Scheler«, die
»eng mit seiner Idee des ›Dranges‹ und ›Triebes‹ als Urwirklichkeit
verbunden ist« 36, kommt Spaemann auf den wesentlichen Differenz-
punkt zu sprechen, an dem er sich von Scheler trennt:

31 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 158.


32
Der hier angesprochene Zusammenhang des Lebewesens mit seiner Umwelt ist
zugleich Ansatz einer Moralbegründung, wie sie etwa in Philippa Foots »Die Natur
des Guten« vorliegt: »Meine allgemeine These ist, daß die moralische Beurteilung
menschlicher Handlungen und Dispositionen ein Fall einer Art des Bewertens ist,
die selbst gerade dadurch gekennzeichnet ist, daß sie Lebewesen betrifft.« – Foot,
Die Natur des Guten, 18. – Vgl. dazu auch Spaemanns Rezension dieses Buches:
»[…] was gut und böse ist, hat überhaupt nichts mit subjektivem Belieben zu tun,
sondern ist, wie für alles Lebendige, eine objektive, durch die artspezifische Lebens-
form vorgezeichnete Größe. Wenn das Belieben von dieser Größe zu sehr abweicht,
dann hat das, wie jeder Fehler, nachteilige Folgen.« – Spaemann, Wenn ein schlimmer
Zufall des Lebens uns das Glück raubt.
33 An dieser Stelle wird deutlich, wie der Scheler’sche Wertbegriff sich in den mit den

Begriffen ›Ähnlichkeit‹ und ›Nähe‹ gesetzten programmatischen Rahmen der späten


Aufsätze Spaemanns einfügt. Wertqualitäten bezeichnen Ähnlichkeiten von Gegen-
ständen der Wahrnehmung, die weder als Eigenschaften der Gegenstände noch als
subjektive Setzungen, sondern nur als ›ideale Objekte‹ verstanden werden können.
34
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156.
35 Ebd.

36
Ebd.

673

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Der Deutung der primären, nicht mehr daseinsrelativen Wirklichkeit


als Kraft entspricht es, daß die eigentlich ontologisch relevante Erfah-
rung, die Seinserfahrung schlechthin für Scheler, die Erfahrung von
Widerstand ist. In ihr macht sich Realität als eine von uns unabhängi-
ge empirisch geltend. Sie ist keine Soseinsgegebenheit, sondern eine
Art blinder Widerständigkeit, die sich unserem eigenen Drang, unse-
rer eigenen Daseinsentfaltung entgegensetzt. Ich halte diese These für
den tiefsten Irrtum dieses großen Phänomenologen. Scheler verstand
sehr genau die Grenze der Phänomenologie. Er verstand, daß das in-
tentionale Objekt Husserls durchaus indifferent ist gegen seine realis-
tische oder idealistische Deutung: entgegen Husserls eigener Meinung
und entgegen der Meinung der realistischen Phänomenologen, die
glaubten, Husserls »Sachen selbst« seien per definitionem Realien.
Aber mit seiner Deutung der Realitätserfahrung als Widerstands-
erfahrung versucht Scheler doch noch, einen phänomenalen Tat-
bestand als Realitätsindiz festzumachen. 37
Eine Grundüberzeugung Spaemanns ist dagegen, dass es »keine sinn-
liche Seinserfahrung« 38 gibt, sondern Sein »das Korrelat eines Aktes
der Anerkennung« 39 ist. Der methodische Ansatz der Phänomeno-
logie ist wehrlos gegen den Verdacht, bloße Idiosynkrasie zu sein bzw.
das Epiphänomen einer zugrunde liegenden materiellen Realität.
»Die Frage nach der ›Seinsart‹, dem ontologischen Status des trans-
zendentalen Bewußtseins,« bemerkte Spaemann daher in »Personen«,
»mußte den methodischen Ansatz der Phänomenologie sprengen.« 40
An die Stelle der Scheler’schen Seinserfahrung als Widerständigkeit
tritt bei Spaemann der Gedanke der Anerkennung:
Sein, von unserer Subjektivität schlechthin unabhängige Realität,
setzt spontane Transzendenz voraus, Überschreitung von Umwelt auf
Welt als den Inbegriff des anderen unserer selbst. Diese Transzendenz
ist – weit entfernt, Erlebnis des Irrationalen zu sein – der fundamen-
tale Akt der Vernunft. Aber Realität verhält sich zu diesem auf sie
gerichteten Akt nicht, wie sich intentionale Gegenstände zu den sie
erfassenden Akten verhalten. Denn das in diesem Akt Vermeinte ist
gerade das Jenseits aller intentionalen Gegenständlichkeit: dies aber
nicht im Sinn eines irrationalen Widerstandes, sondern im Sinne der
Anerkennung anderen Selbstseins. Und zwar in dem Bewußtsein, daß

37 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 156–157.


38
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2012), 45.
39 Ebd. 42.
40
Spaemann, Personen (1996), 73.

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

ich selbst für den anderen ein anderer bin, jenseits aller möglichen
Gegenständlichkeit für ihn. Jenseits aller möglichen Gegenständlich-
keit ist für Scheler nur das Sein der Person. Was Scheler meines Er-
achtens nicht sah, ist, daß das Sein von Personen nicht ein erkennt-
nistheoretischer Grenzfall ist, sondern das Paradigma für alle Er-
kenntnis von unabhängiger, selbständiger Wirklichkeit. 41
Die Seinserfahrung, die ihren eigentlichen Ort in der interpersonalen
Begegnung hat, ist für Spaemann in Abstufungen in der Wahrneh-
mung anderer Lebewesen und – als »erkenntnistheoretischer Grenz-
fall« 42 – in der Wahrnehmung »unlebendiger Materie« 43 möglich.
Der prinzipielle Einwand Spaemanns gegenüber Scheler, wonach die-
se Seinserfahrung keine sinnliche ist, sondern als Anerkennung der
›fundamentale Akt der Vernunft‹, ist gerade dadurch kein Einwand
gegen die Wertphilosophie selbst, als für Spaemann die Anerkennung
von Sein ebenso im Hinblick auf Lebewesen und unlebendige Materie
möglich ist wie für Scheler die Widerstandserfahrung. In dieser prin-
zipiellen Differenz ist also eine Übereinstimmung verborgen hin-
sichtlich der personalen Rezeptivität in Bezug auf Sein. Damit stellt
sich allerdings die Frage, wie Schelers ›Metaphysik der Kräfte‹, die
nicht nur seinem Gedanken der sinnlichen Seinserfahrung, sondern
auch der Möglichkeit von Werteinsichten zugrunde liegt, bei Spae-
mann so transformiert wird, dass er die durch Schelers Wertbegriff
ermöglichte Ausdifferenzierung von Strukturen des Guten ohne die
Konsequenz sinnlicher Seinserfahrung aufnehmen kann.
Im letzten Abschnitt des Essays »Daseinsrelativität der Werte« 44
unternimmt Spaemann zu dieser Frage den über Scheler hinaus-
gehenden Versuch, Grundgedanken seiner Wertphilosophie mit der
Ontologie der Person in ein Verhältnis zu setzen. Ausgangspunkt der
Überlegung ist eine ›Lücke‹ in Schelers Denken:
Wenn Werte nicht Produkte wertender Akte sind, sondern das, was
diese Akte erst ermöglicht und was sie definiert, und wenn doch um-
gekehrt Werte kein Sein haben unabhängig von der möglichen inten-
tionalen Gegenständlichkeit für wertnehmende Akte, dann stellt sich
allerdings ein neues Problem, das Scheler nicht ausdrücklich erörtert

41 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 157.


42
Ebd.
43 Ebd.
44
Abschnitt III, ebd. 158–160.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

hat, das sich aber aus seinen allgemeinen ontologischen Prinzipien


ergibt. 45
Die allgemeinen ontologischen Prinzipien, um die es geht, sind ers-
tens, »daß alles Daseinsrelative in einem absolut Realen gründet«,
woraus folgt, dass »überall dort, wo wechselseitige Relativität vor-
liegt, keines der Seienden real ist« und daher »ein Drittes angenom-
men werden« muss, »auf das die beiden einander wechselseitig bedin-
genden relativ sind«, und zweitens, dass »nur in einem Bewußtsein
[…] zwei ideale Inhalte in eine Relation zueinander treten« 46 können.
Das von Scheler nach Spaemann nicht erörterte Problem ist also
folgendes:
Wenn Akt und Aktgegenstand im Fall wertnehmender Akte streng
korrelativ aufeinander sind, dann kann keines der beiden als absolut
Seiendes betrachtet werden, im Verhältnis zu dem das andere daseins-
relativ ist. Beide müssen daseinsrelativ auf ein Drittes sein, das von der
Art des Bewußtseins sein muß. Was ist dieses Dritte? Und wie läßt es
sich vermeiden, daß dieses Dritte, das ja wiederum sein Sein in inten-
tionalen Akten hat, seinerseits eines Vierten beziehungsweise Fünften
bedarf und so in infinitum? 47
Spaemann vergleicht dieses Problem mit der für sein eigenes Denken
zentralen cartesischen Reflexion auf das ›cogito‹ und den Schritt zum
›sum‹, der bei Descartes mit der Theologisierung der Ontologie be-
zahlt wird. Nur durch die Annahme eines absoluten Bewusstseins
konnte Descartes jene unendliche Iteration vermeiden, wie sie sich
in ähnlicher Form aus der Betrachtung der Korrelation von Akt und
Aktgegenstand ergibt. Spaemanns alternative metaphysisch-analoge
Deutung des Schrittes vom ›cogito‹ zum ›sum‹ als doppelte Negation
einer Transzendenz des natürlichen Transzendierens führte letztlich
zu seinem Personbegriff. In Bezug auf das Scheler’sche Problem der
Daseinsrelativität fragt Spaemann daher:
Ist die Realität der Person als des Aktzentrums diejenige absolute Rea-
lität, die die korrelativen Entitäten Akt und Aktgegenstand ermög-
licht? Das scheint mir nicht der Fall zu sein. Die Person weiß sich
nämlich nicht als Grund der apriorischen Gegenstände ihrer Akte, sie
weiß sich nur als Zentrum ihrer Akte. Aber auch nicht als Grund die-

45
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 158.
46 Ebd.
47
Ebd.

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

ser. Denn die Akte haben ja ihren Grund in ihren Gegenständen. Das
ist in der These der Korrelativität impliziert. Die Person weiß auch von
diesen Gegenständen nur mittels ihrer Akte. 48
Die Person ist für Spaemann keine hypostasierte Entität, sondern,
wie oben gesehen, ›Blick von nirgendwo‹, ›Schwebe zwischen Sein
und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹, ›Indifferenzpunkt
der Freiheit‹. 49 Das heißt, die Person hat eine Natur, ohne diese Natur
mit ihrer qualitativen Bestimmbarkeit zu sein. Und doch ist dieses
›Haben einer Natur‹ nur im personalen Daseinsvollzug gegeben und
nicht als Entität objektivierbar. Die Person als ein sich dem Begriff
Entziehendes wurde überhaupt erst denkbar durch ihre Funktion in
einem ihr voraufliegenden teleologischen Zusammenhang. Als die-
sem Zusammenhang zugrunde liegend muss ein Aussein-auf, eine
fundamentale Selbsttranszendenz, angenommen werden, die durch
die Person, indem sie sich als aus ihm hervorgehend bewusst wird,
selbst noch einmal transzendiert wird. Die Korrelativität von Akt
und Aktgegenstand hat zur Voraussetzung, dass jene fundamentale
Selbsttranszendenz der Natur und ihr personales Transzendieren zu-
einander in einem analogen Verhältnis stehen. Beide gehen aus dem-
selben Aussein-auf hervor, das durch die reflexive Wendung auf sich
selbst im personalen Standpunkt paradoxerweise die Natur transzen-
diert und zugleich natürlich bleibt. Diese Paradoxie ist begründet in
der universalen ontologischen Differenz von Dasein (Sein) und So-
sein (Wesen), die sich als natürliches Aussein-auf primär zeigt, die
aber erst zu Bewusstsein gelangt im Transzendieren dieses Ausseins-
auf, das dann gleichwohl in der reflexiven Wendung auf sein Sosein
die ontologische Differenz auf einer neuen Stufe wiederholt. 50 Hier
stößt das Denken jedoch an eine Grenze, insofern die Instanz, die

48 Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 159.


49
Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 594.
50 Die Subsumtion der Ähnlichkeit unter die Nähe, von der einleitend die Rede war,

verweist auf denselben Zusammenhang. Die Ähnlichkeit einfacher Qualitäten beruht


auf Hinsichten, die von natürlichem Aussein-auf (oder seiner Nachahmung in der
menschlichen ποίησις) begründet werden. Die in ihm zum Ausdruck kommende
ontologische Differenz von Sosein und Dasein enthüllt sich als solche erst für die
Person, die über diese Differenz bewusst verfügt und im phänomenal gegebenen na-
türlichen Aussein-auf und den von ihm begründeten Hinsichten das Wirken des im
Erscheinen sich verbergenden Seins wahrnehmen kann.

677

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

diese Seiten koordinieren kann, prinzipiell jenseits des Gesichts-


kreises eines möglichen Denkens situiert sein muss:
Der Grund der Relation von Akt und Aktgegenstand, der ja, wie
Scheler sagt, von der Art des Bewußtseins sein muß, kann deshalb
nur als ein absolutes Bewußtsein, als intellectus archetypus gedacht
werden, dessen Identität nicht, wie die des endlichen cogito, leer ist,
sondern das die unendliche Fülle allen Wertgehaltes so in sich enthält,
daß es sie sowohl ist als auch weiß, und zwar so, daß Sein und Wissen
schlechthin zusammenfallen. Und das fühlende Wertnehmen end-
licher Personen muß deshalb als eine von diesem absoluten Wert-
wesen inspirierte Teilhabe an dieser Selbstgegebenheit gedacht wer-
den. Die Realität, auf die Akte und Aktgegenstände notwendig
daseinsrelativ sind, kann nur die absolute Realität sein, deren Bewußt-
sein nicht seinerseits intentional gedacht werden kann, weil sonst der
Verweis auf eine gründende Wirklichkeit sich, wie gesagt, unendlich
iterieren müßte. 51
Die metaphysische Denkbarkeit der Person und des durch sie bewusst
werdenden analogen Zusammenhangs ist fundiert im natürlichen
Aussein-auf, das heißt, in der universalen ontologischen Differenz
von Sein und Wesen. Gleichwohl ist der ›personale Ort‹ eine Grenze
des philosophisch Denkbaren, von dem aus sich der spekulative Ge-
danke eines als ewige Selbstvermittlung, d. h. als Leben, gedachten
Gottes ergibt. Der Gedanke des intellectus archetypus ist eine speku-
lative Annahme, der Weg, der vom teleologischen Aussein-auf über
das Transzendieren des von ihm fundierten Zusammenhangs in der
Person zu dieser Annahme führt, bleibt dagegen eine philosophische
Argumentation, die an ihre eigene Grenze führt. Gerade im Sinne
dieser philosophischen Argumentation muss aber gefragt werden,
wie die »von diesem absoluten Wertwesen inspirierte Teilhabe« der
Person an dem ihr voraufliegenden Zusammenhang von Sein und
Wissen philosophisch gedacht werden kann. Eben zu dieser Frage ver-
spricht die Wertphilosophie Antworten, insofern sie einen phäno-
menologischen Zugang zur Grenze der Philosophie selbst in Aussicht
stellt. Schelers Wertphilosophie kann aber nur dann zu einer Verall-
gemeinerung von Spaemanns Ontologie der Person beitragen, wenn
das »fühlende Wertnehmen« der Person, das von Scheler auf in der
Welt wirkende Kräfte bezogen wurde, konkret phänomenal aus-

51
Spaemann, Daseinsrelativität der Werte (2000), 159.

678

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9.1 Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im Wertbegriff

gedeutet werden kann ohne die Konsequenz einer sinnlichen Seins-


erfahrung. Um eine solche im Rahmen des Scheler’schen Wert-
begriffs sich bewegende Verallgemeinerung soll es im Folgenden aus-
gehend vom Begriff des Schönen gehen.

679

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9.2 Die Wahrnehmung des Seins im Schönen

Das Schöne aber ist nicht irgendeine Randverzierung


des Lebens, sondern sein eigentlicher Sinn. Es gibt
nichts Ernsteres, nichts, wofür es sich mehr lohnt, sich
anzustrengen, als das Schöne. Das Schöne ist das wahr-
haft Heilende, weil es das wahrhaft Wirkliche ist, der
splendor veri, der Glanz des Wahren, wie Thomas von
Aquin sagt.
Robert Spaemann, Erziehung zur Wirklichkeit 1

Die Möglichkeit der Wahrnehmung von Sein, das für Spaemann ein
Jenseits des Begriffs ist, ist begründet in dem personalen Vermögen,
Seiendes »unter dem Aspekt seiner Ähnlichkeit mit uns selbst« 2
wahrzunehmen. Dieses Vermögen hat seinen eigentlichen Ort im in-
terpersonalen Begegnungsgeschehen, das erst konkret wird durch
symbolische Repräsentation 3 von Innerlichkeit. Eben dadurch ist die
Begegnung von Personen aber paradigmatisch für die Gegebenheits-
weise natürlicher Dinge und ermöglicht die Wahrnehmung von Ähn-
lichkeit als qualitative Nähe außerhalb des Beziehungsraums der Per-
sonen. Die Person selbst wurde überhaupt erst denkbar als Paradigma
solcher Wahrnehmung, als Perspektive, der im Überschreiten des na-
türlichen Ausseins-auf dieses selbst im Gegenüber als das im Zeigen
sich Verbergende gegeben wird. 4 Die personale Wahrnehmung der
Spontaneität der Natur bzw. einer sie nachahmenden menschlichen
ποίησις legt frei, was im Zusammenhang mit der Wertphilosophie
als verborgene Strukturen des Guten bezeichnet wurde. 5 Die These
dieses Teilkapitels ist, dass eine konkrete phänomenale Ausdeutung

1
Spaemann, Erziehung zur Wirklichkeit (1987), 510.
2 Spaemann, Ähnlichkeit (1996), 55. – Vgl. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemei-
nerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung, 661.
3 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 116, u. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstver-

hältnis als Bedingung der Möglichkeit von Begegnung, 608.


4 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität,

592.
5
Vgl. Spaemann, Europa – Wertegemeinschaft oder Rechtsordnung? (2001), 182, u.
Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz im
Wertbegriff, 669.

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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

dieser Wahrnehmung am Begriff des Schönen entwickelt werden


kann. Dabei verfolgt Spaemann in seinen späten Essays zwei Wege.
Zum einen fragt er nach dem Schönen in der Natur, wobei er mit
Bezug auf das Evolutionsparadigma einen Vorschlag zur Vermittlung
desselben mit den Grundgedanken des teleologischen Denkens unter-
breitet. Gibt es, so lässt sich die Frage formulieren, ein der Evolution
zugrunde liegendes Apriori der Schönheit (9.2.1)? Neben diesen die
naturphilosophische Konzeption Spaemanns erweiternden Über-
legungen besteht der zweite in den späten Essays beobachtbare Weg
der Auseinandersetzung mit dem Begriff des Schönen in der Skiz-
zierung einer auf der dargelegten metaphysischen Konzeption auf-
bauenden Philosophie des künstlerischen Schaffens. Im Mittelpunkt
dieser Linie seiner Gedanken stehen die Fragen, was es heißt, dass die
Kunst die Natur nachahmt, und wie es erklärbar ist, dass Kunstwerke
Seinserfahrungen möglich machen (9.2.2).

9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

Die philosophisch ergiebigste Auseinandersetzung Spaemanns mit


dem Thema des Naturschönen ist in seinem zuerst 2004 erschienenen
Essay »Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur« 6 enthalten. Zu-
nächst stellt Spaemann hier die Frage, was wir eigentlich meinen,
wenn wir vom ›Schönen‹ sprechen:
»Schön« ist keine empirische Eigenschaft wie »rot«, »heiß« oder
»sechseckig«. »Schön« ist vielmehr ein sekundärer, ein »Reflexions«-
Begriff, den wir auf Sichtbares und Hörbares anwenden, das zuvor
bereits durch andere, primäre empirische Prädikate bestimmt ist, zum
Beispiel durch eine bestimmte Struktur, eine bestimmte Anordnung
von Teilen oder wie immer wir diese Eigenschaften bestimmen wollen,
aufgrund derer wir etwas »schön« nennen. 7
›Schön‹ ist also – ganz ähnlich wie ›Person‹ – ein Begriff, der auf ein
als ein So-und-so Bestimmtes angewandt wird, ohne ihm etwas hin-

6 Zuerst erschienen in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 18/2004,
Göttingen: Wallstein, S. 133–148. Wieder veröffentlicht in: Spaemann, Schritte über
uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 251–266. – Neben diesem Text neh-
men die folgenden Ausführungen Bezug auf eine Reihe weiterer Essays Spaemanns
zum Thema Ästhetik aus dem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts.
7
Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 251.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

zuzufügen, der also ein nicht-prädikatives Feld der Bedeutung eröff-


net. 8 Aufgabe der folgenden Überlegungen ist es, diese Art der Be-
deutung zu erschließen. Ein erster Schritt in diese Richtung ist der
Vergleich des Wortes ›schön‹ mit dem Wort ›gut‹, das ohne naturalis-
tischen Fehlschluss ebenso wenig als »empirische Eigenschaft« 9 ver-
standen werden kann. »Etwas gut nennen heißt, es zu betrachten un-
ter dem Aspekt der Erfüllung eines Strebens. Etwas schön nennen
heißt, es zu betrachten unter dem Aspekt des Gefallens, der Be-
jahung, der Freude bei seiner Betrachtung.« 10 ›Gut‹ ist also etwas,
wenn es zweckmäßig ist für ein Wesen, dem es um etwas geht, wo-
hingegen der Ausdruck ›schön‹ eine reine Affirmation eines phäno-
menal Gegebenen durch ein Lebewesen ist, das seine natürliche Zen-
tralität transzendiert hat. In der Philosophie Platons sind »das Gute
als einstelliges und als zweistelliges Prädikat, also das Schöne und das
Gute« identisch: »Das Zweckmäßige und das Schöne sind letzten
Endes ein und dasselbe.« 11 Hinter diesem Gedanken steht allerdings
das Verständnis der Vernunft als Organ des Allgemeinen, in dem es
keine in sich konsistenten partikularen Perspektiven geben kann.
Vom personalen Standpunkt aus bzw. unter der neuzeitlichen Vo-
raussetzung des Ausgangs vom Subjekt kann dieser Gedanke der
Identität des Schönen und Guten nur durch eine Überwindung der
partikularen Perspektive aktualisiert werden. Einen Ansatz zu dieser
Aktualisierung sieht Spaemann in Kants Begriff des ›interesselosen
Wohlgefallens‹, der »aus der französischen Moraldiskussion im 17.
und 18. Jahrhundert« stammt und »dort ein Synonym für reine
Liebe« 12 war:
Das »interesselose Wohlgefallen«, als dessen Objekt Kant das Schöne
definiert, hat die Eigentümlichkeit, einerseits ein subjektives Gefühl
zu sein, andererseits aber – im Unterschied zu anderen Weisen des
Sich-Wohlfühlens – einen objektiven Anspruch zu erheben, den An-
spruch, durch seinen Gegenstand gerechtfertigt zu sein, so wie ein
wahrer Satz durch seinen Gegenstand gerechtfertigt ist. Aber im Un-
terschied zu dieser Rechtfertigung geschieht die Rechtfertigung der
Freude am Schönen nicht begrifflich und argumentativ, sondern im
Grunde immer nur durch die Aufforderung an Andere, noch einmal

8 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524.


9 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 251.
10
Ebd. 255.
11 Ebd. 252.

12
Ebd. 264.

682

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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

genau hinzusehen oder hinzuhören in der Erwartung, der Andere wer-


de schließlich selbst den Grund zur Freude entdecken und dann viel-
leicht auch an einer Analyse dieses Grundes interessiert sein. 13
Von diesem Gedanken des ›interesselosen Wohlgefallens‹ führt ein
direkter Weg zur Wertphilosophie Schelers, der in Kant zwar im Hin-
blick auf die Fundierung der Ethik seinen wesentlichen Antagonisten
sah, 14 dessen Begriff der intentionalen Gefühle jedoch in der Kritik
der Urteilskraft als Verbindung von subjektivem Gefühl und objekti-
vem Anspruch im ›interesselosen Wohlgefallen‹ vorbereitet ist:
Das Empfinden des Schönen ist, was erst die Phänomenologie Max
Schelers thematisiert hat, ein intentionales Gefühl. In ihm wird etwas
wahrgenommen. Aber was wahrgenommen wird, ist nicht ein katego-
rial eindeutig bestimmtes Seiendes – das zu meinen wäre »naturalistic
fallacy« –, sondern im Schönen wird Sein als solches wahrgenommen
und zum Gegenstand der Freude. 15
Die in Schelers Wertbegriff implizierte Absolutheit verhindert jede
subjektivistische Deutung des Schönen und ermöglicht jene Über-
windung der partikularen Perspektive, die Bedingung einer Aktuali-
sierung der platonischen Identität von Gutem und Schönem ist. Über-
tragen in die Denkkategorien Spaemanns liegt dem Gedanken der
Schönheit als Wert eine doppelte Negation zugrunde: Die im leben-
digen Aussein-auf zum Ausdruck kommende Negativität wird ihrer-
seits negiert durch die aus der Selbsttranszendenz hervorgehende
Wahrnehmung eines anderen Zentrums der Bedeutsamkeit. Der
zweistellige Begriff des Guten wird im dreifachen Sinn aufgehoben
im einstelligen, also im Begriff des Schönen. Das nur Subjektive des
zweistelligen Begriffs wird aufgegeben, die Nützlichkeit für das Le-
bewesen wird bewahrt und mit dem einstelligen Begriff des Schönen
auf eine neue Stufe gehoben. Das Schöne als Wert kann nur als da-
seinsrelativ auf Personen verstanden werden, da diese im Akt der
Selbsttranszendenz zur Wahrnehmung von Seiendem als Seiendem
fähig sind. Dieser Gedanke scheint nun aber einen Widerspruch zu
beinhalten. »Es gibt keine sinnliche Seinserfahrung« 16, lautet ein
Grundsatz Spaemanns; mit Bezug auf das Schöne spricht er aber hier

13 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 256.


14 Vgl. Schweidler, Max Scheler: Der Wert, in: Spaemann/Schweidler (Hrsg.),
Ethik. Lehr- und Lesebuch, 130.
15 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 256–257.

16
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),

683

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

von einer sinnlichen Wahrnehmung von Sein. Um diesen schein-


baren Widerspruch aufzulösen, muss an die spezifische Negativität
der Schönheitserfahrung herangeführt werden.
Um das Phänomen des Schönen in der Natur in den Blick be-
kommen zu können, geht Spaemann zunächst vom ästhetischen As-
pekt menschlicher ποίησις aus. Warum diese Herangehensweise aus
menschlicher Perspektive sich nahelegt, erläutert er an anderer Stelle
in dem Essay »Was heißt: ›Die Kunst ahmt die Natur nach‹ ?«:
Ontologisch ist das Verhältnis der Ähnlichkeit natürlicher und künst-
licher Gebilde asymmetrisch. Diese ahmen jene nach und nicht umge-
kehrt. Das Bild gleicht dem Abgebildeten und nicht umgekehrt. Pros
hêmas, wie Aristoteles sagt, für uns, also gnoseologisch, ist die Ähn-
lichkeit aber eher eine wechselseitige. Wir verstehen natürliche Pro-
zesse nach Analogie solcher, die wir selbst in Gang setzen, nämlich
teleologisch, wir bewundern, wie »kunstvoll« die Natur arbeitet, um
dann wiederum die so verstandene Natur nachzuahmen. 17
Auch Tiere bringen künstliche Gebilde hervor, »z. B. Nester oder
Waben«, die »nicht natürlich in dem Sinne« sind, »dass sie eine eige-
ne physis hätten« 18. Die Gebilde des Menschen unterscheiden sich
von diesen einerseits dadurch, dass »Menschen Zwecke und Mittel
gedanklich trennen können« und »in der Wahl der Mittel frei« sind,
weswegen es »eine Kunstgeschichte« gibt, und andererseits dadurch,
dass das »Gebrauchsmittel« 19 für die Tiere im Gebrauch verschwin-
det. Nicht nur Kunstwerke, sondern auch von Menschen hergestellte
Gebrauchsgegenstände zeichnen sich dagegen dadurch aus, dass sie
als Seiende die in ihrer Herstellung verfolgte Zweckmäßigkeit über-
schreiten: »Der Krug soll nicht als etwas nur Zuhandenes sozusagen
im Gebrauch verschwinden, sondern er soll darüber hinaus zeigen,
was er ist, ja nicht nur, was er ist, sondern dass er ist: ein Ding.« 20

45. – Vgl. Teilkapitel 9.1, Die Ausdifferenzierung des analogen Weltzusammenhangs


im Wertbegriff, 674.
17 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 325–326.

18 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 269.

19 Ebd. 270.

20 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 257. – Dass diese

Besonderheit vom Menschen hervorgebrachter Gebrauchsgegenstände Anlass zu


Missverständnissen sein kann, wird an folgender Bemerkung Kruse-Ebelings deut-
lich: »Dass die Ausdehnung des teleologischen Denkens auf unbelebtes Seiendes nicht
unbedingt eindeutig ist, zeigt der Umstand, dass Spaemann selbst in Glück und Wohl-
wollen auch noch künstlich geschaffenen Gegenständen, Artefakten, einen Rest von

684

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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

Mit Bezug auf die funktionalistische Architektur des Bauhauses be-


merkt Spaemann: »Das Zeigen der Funktion ist etwas, das über die
Funktion hinausgeht.« 21 Der in diesem Zeigen zum Ausdruck kom-
mende Überschuss ist der ›Mehrwert‹, durch den Spaemann Schön-
heit definiert:
Schön ist das, was es wert ist, um seiner selbst Willen angeschaut oder
angehört zu werden. Es mögen sich mit dem Zeigen des Schönen vie-
lerlei Zwecke verbinden, Verkaufsinteressen, sexuelle Interessen,
Machtinteressen. Entscheidend ist, dass diese Zwecke nicht unmittel-
bar erreicht werden, sondern auf dem Umweg über das interesselose
Wohlgefallen bei demjenigen, durch welchen der das Schöne Zeigende
seinen Zweck erreichen will. 22
Entsprechend der erwähnten ontologischen Priorität natürlicher
Gebilde vertritt Spaemann nun die These, dass die Natur in ihren
Gebilden einen analogen Überschuss im Sinne einer »Überdetermi-
nation« 23 hervorbringt, der sich einer funktionalistischen Deutung
entzieht. Damit wird der Bezug zu Spaemanns ontologischem Grund-
gedanken, dass Sein ein Jenseits des Begriffs ist, hergestellt. Die on-
tologische Differenz von Dasein und – begrifflich bestimmbarem –
Sosein zeigt sich primär in natürlichen Gestalten als Schönheit. Das
Naturschöne dient demnach nicht der Erhaltung, sondern ist Aus-
druck eines primären Schönheitstriebes, der sich sekundär mit be-
stimmten Funktionen verbinden kann. 24 Diese These scheint im di-

Subjektivität zugesteht, während er diesen Gedanken in späteren Aufsätzen zu ver-


werfen scheint.« – Kruse-Ebeling, Liebe und Ethik, 369. – Schon in »Glück und
Wohlwollen« ging es Spaemann um dieselbe Eigenschaft von Gebrauchsgegenstän-
den, die er in seinem Spätwerk schließlich als ›fingiertes Selbstsein‹ bestimmt. – Vgl.
Abschnitt 9.2.2, Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein, 696.
21 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 260.

22 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 257.

23
Ebd. 258.
24 In diesem Kontext könnte der oben – vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realis-

mus, 558–560, Fn. 139 – thematisierte Begriff der Lebensform von Buchheim und
Noller Bedeutung gewinnen. Der Begriff der Lebensform wurde von ihnen zur Erklä-
rung des Personbegriffs herangezogen, ist jedoch geeignet, eine Analogizität zwischen
menschlichen und nicht-menschlichen Lebensformen erkennbar werden zu lassen:
»Die Form des Lebens, in die ein Wesen mit seiner Existenz eintritt, ist zugleich hoch-
gradig allgemein und stark umgebungsabhängig und liegt deshalb vor allem bei den
anderen Artgenossen, die sie schon vorher hatten, sowie an den Bedingungen der
›Nische‹ und des ›Habitats‹, in welche der Existenzeintritt erfolgt.« – Buchheim/Nol-
ler, Sind wirklich und, wenn ja, warum sind alle Menschen Personen?, 164. – Ver-
schiedene Lebensformen könnten so als die spezifische Art beschrieben werden, wie

685

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

rekten Widerspruch zu stehen zum Grundgedanken der Evolutions-


theorie, wonach »etwas so ist, wie es ist, weil es so am vorteilhaftesten
ist – wenn wir nämlich Selbstbehauptung und Verbreitung der eige-
nen Gene als Ziel eines jeden Lebewesens betrachten« 25. Gegen diesen
Einwand beruft sich Spaemann selbst auf Forschungsergebnisse aus
dem Bereich der Biologie:
[…] der Basler Zoologe Adolf Portmann hat in minutiösen Unter-
suchungen gezeigt, dass die raffinierte Oberflächenzeichnung bei Fi-
schen, Vögeln und Reptilien weit über das hinausgeht, was sich funk-
tional aus dem Selektionsvorteil erklären lässt. Um bestimmte, zum
Beispiel kreisförmige Muster auf den Flügeln von Vögeln hervor-
zubringen, bedarf es einer genauen Abstimmung der Färbung jeder
einzelnen Feder auf die Färbung der jeweils anschließenden, und zwar
so, dass sich als Resultat dann eine Kreisform ergibt. Die einzelnen
Zwischenschritte der Evolution in dieser Richtung hätten gar keinen
Selektionsvorteil. Der reduktionistische Funktionalismus argumen-
tiert hier einfach zirkulär. Er weist auf die Tatsache hin, dass die Weib-
chen die Pracht der Zeichnung bei den Männchen durch Zuwendung
belohnen. Und er versucht nachzuweisen, dass die Pracht der Zeich-
nung korreliert mit biologischen Vorzügen der betreffenden Männ-
chen. Aber was wird dadurch bewiesen? Warum dieser komplizierte
und verschlüsselte Umweg, um die biologischen Vorzüge zur Erschei-
nung zu bringen? Denn die Relation zwischen den Vorzügen und die-
ser Form der Darstellung ist ja ganz kontingent, sie ist rein symboli-
scher Natur, und sie ist nicht ökonomisch. 26
Portmann konstatiert daher eine »Selbstdarstellungstendenz alles Le-
bendigen«, die »nicht so etwas wie eine experimentell überprüfbare
Hypothese, sondern sozusagen eine allem Experiment vorausliegende
Aussage über unsere Wahrnehmung von Leben als Leben« 27 ist.

die ontologische Differenz von Wesen mit unterschiedlichen natürlichen Vorausset-


zungen zum Ausdruck gebracht wird.
25 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 253.

26
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 335–336. – Vgl.
in: Portmann, Aufbruch der Lebensforschung, das Kapitel »Gestaltung als Lebens-
vorgang«, besonders 163–187.
27 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258. – Vgl.: »We-

sen mit Weltbeziehung sind nicht nur lebende Maschinerien, die stoffwechseltreibend
tätig sind, ja um dieses Stoffwechsels willen recht eigentlich da wären. Sie sind allem
voran Wesen, die sich in ihrer Eigenart darstellen, wobei diese Selbstdarstellung zu-
nächst gar nicht auf Sinnesorgane bezogen werden muß.« – Portmann, Aufbruch der
Lebensforschung, 54. – Vgl. auch: »Weltbeziehung durch Innerlichkeit und Selbstdar-
stellung in der Erscheinung sind in dieser Sicht die zwei obersten Kennzeichen des

686

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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

Spaemann weist darauf hin, dass Portmanns Auffassung nicht im


prinzipiellen Widerspruch zur Evolutionstheorie steht, sondern nur
zu einem aus ihm abgeleiteten Wissenschaftsparadigma: »Denn Dar-
win selbst hielt eine darwinistische Erklärung des Schönen in der Na-
tur für unmöglich. Er hielt Schönheit und entsprechend den Sinn für
Schönheit für ein Apriori, das in der Evolution eine Funktion besitzt,
aber dessen Entstehung aus der Evolution so wenig herleitbar ist wie
die Gesetze der Geometrie.« 28 Spaemann illustriert diesen Vergleich
mit der Geometrie anhand des folgenden Beispiels: »Die Sechseck-
form und ihre Gesetzmäßigkeiten liegen ja aller Anwendung dieser
Form, zum Beispiel in den Bienenwaben, voraus. Die Anwendung ist
vermutlich evolutionär erklärbar, aber nicht die Gesetze der Form, die
hier Anwendung finden.« 29 Der Gedanke einer Selbstdarstellungs-
tendenz des Lebens und eines der Evolution zugrunde liegenden
Apriori der Schönheit ist aufs engste verbunden mit dem teleologi-
schen Denken, das – wie schon seine Problematisierung in Kapitel 5
gezeigt hat – weder beweis- noch widerlegbar ist. Hier geht es nicht
um eine Wiederaufnahme der Auseinandersetzung mit dem Reduk-
tionismus, sondern es sollen im Folgenden die naheliegende An-
nahme eines solchen Apriori auf seine Bedeutung hin durchdacht
und im Sinne der Umkehr der Beweislast die Ergebnisse dieser Re-
flexion der reduktionistischen Sichtweise gegenübergestellt werden.
Die Thematisierung der Begriffsart des Schönen, mit der die
Überlegungen begonnen wurden, führte zu dem Ergebnis, dass es
sich bei diesem Begriff um einen Reflexionsbegriff bzw. einen trans-
zendentalen Begriff handelt:
Sein – gut sein, wahr sein, eines sein und schön sein – sind in der
aristotelischen Tradition die sogenannten transzendentalen Begriffe,
die nicht eine bestimmte Klasse von Gegenständen aussondern, son-
dern unter verschiedenen Aspekten jeweils auf alles, was ist, reflektie-
ren. Die Extension dieser Begriffe ist also gleich. Und das heißt: Inso-
fern etwas ist, ist es möglicher Gegenstand interesselosen, das heißt
uneigennützigen Wohlgefallens. 30

Organismus, denen der Stoffwechsel, die Erhaltung, Regulation, Fortpflanzung und


Entwicklung als Glieder der Verwirklichung sich unterordnen.« – Ebd. 185.
28
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 336–337.
29 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 260–261.

30
Ebd. 262.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Wenn es ein der Evolution zugrunde liegendes Apriori der Schönheit


gibt, handelt es sich dabei um »eine transzendentale Bestimmung, die
ebenso wie die Gesetze der Mathematik aller Evolution vorauf-
liegt« 31. Im Unterschied zu diesen kann Schönheit aber nicht aus rei-
nen Verstandesbegriffen deduziert werden, sondern wird die trans-
zendentale Bestimmung der Schönheit auf ein zuvor als ein So-und-
so Bestimmtes angewendet, indem mit diesem Begriff eine bestimmte
Wirkung des Wahrgenommenen bezeichnet wird. ›Schönheit‹ kann
dementsprechend – ähnlich wie ›Person‹ – nur aus einem Zusammen-
hang heraus bestimmt werden, indem die Frage gestellt wird, was sich
in der Wahrnehmung von Schönheit ereignet. Das Ereignis besteht
darin, dass ein intentionales Gefühl im Sinne Schelers zu einem Er-
kenntnisakt führt, in dem der Reflexionsbegriff des ›Schönen‹ auf den
objektiven Gehalt des Gefühls angewandt wird. Worin aber besteht
nun dieser objektive Gehalt des intentionalen Gefühls, das der Schön-
heitswahrnehmung zugrunde liegt? Welches nicht-prädikative Feld
der Bedeutung wird in dieser Wahrnehmung eröffnet?
Wenn es auch unmöglich ist, eindeutige, operationalisierbare Krite-
rien für Schönheit anzugeben, so können wir doch Bedingungen um-
schreiben, unter denen sich uns etwas als schön präsentiert, das heißt
als ein Zentrum von Bedeutsamkeit, das uns zur Selbsttranszendenz
herausfordert. Friedrich Cramer 32 hat in seinem Buch über das Schöne
in der Natur die These vertreten, Schönheit zeige sich immer auf der
Grenze des Übergangs vom Chaos zur Ordnung oder von der Ord-
nung zum Chaos. Das würde heißen: Schönheit ist Erscheinung leben-
diger Gestalt. Denn Leben ist weder Chaos noch definitive, sozusagen
kristallinische Ordnung. Leben ist eine Ordnung, die in jedem Augen-
blick dem Chaos abgerungen ist, und auch dies nur eine Weile, denn
am Ende siegt die Entropie. 33
Das an der Natur, was uns veranlasst, den Begriff des Schönen auf es
anzuwenden, ist etwas Prozessuales: abgerungene Ordnung, die ein
ephemeres Zu-sich-selbst-Kommen lebendigen – also durch Negati-
vität gekennzeichneten – Ausseins-auf darstellt. Dabei handelt es sich
um keine certa cognitio, denn die Wahrnehmung von Lebendigem als
Lebendigem, von Selbstsein als Selbstsein ist immer ein freiwilliger

31 Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 372.


32
Spaemann bezieht sich hier auf Cramer/Kaempfer, Die Natur der Schönheit. Zur
Dynamik der schönen Formen (1992).
33
Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 263.

688

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9.2.1 Schönheit als Apriori der Evolution

Akt der Anerkennung. Aber »das im ethischen Sinn Schöne, das Zu-
rücktreten vor dem Selbstsein, wird dadurch ermöglicht, dass sich
Selbstsein als Selbstsein darstellt. Lebendiges hat die elementare Ten-
denz, sich als lebendig darzustellen.« 34 Die bewusste Wahrnehmung
des Naturschönen kann daher gefasst werden als personale Anerken-
nung von anderem Selbstsein auf der subpersonalen Ebene. Das in
der Schönheitswahrnehmung eröffnete nicht-prädikative Feld der
Bedeutung ist das in der Selbstdarstellung von Lebendigem phäno-
menal erfahrbare Selbstsein anderer Zentren der Bedeutsamkeit, die
Weise der Erscheinung der ontologischen Differenz auf einer vor-
bewussten Stufe.
Die aus der Gegenüberstellung dieser Grundgedanken zur Be-
deutung eines Apriori der Schönheit in der Natur mit der reduktio-
nistischen Sicht sich ergebende Beweislastfrage lässt sich demnach
folgendermaßen stellen:
Hat es Sinn, natürlichen Lebewesen oder einer sie hervorbringenden
Allnatur eine Tendenz zuzusprechen, sich selbst als schön, das heißt
als sehenswert und hörenswert zu präsentieren? Und zwar jeweils
ihresgleichen? Wir müssen, so scheint mir, diese produktionsästheti-
sche Frage, um sie beantwortbar zu machen, in eine rezeptionsästheti-
sche umformulieren: Gibt es, ungeachtet der Zwecke, denen das Schö-
ne dient – und die gibt es ja auch in der menschlichen Kunst –, gibt es
so etwas wie ein kontemplatives Verhalten? 35 Gibt es so etwas wie
Freude an etwas, nicht bloß Lust durch etwas? Gibt es also so etwas
wie einen intentionalen Gehalt eines Wohlgefühls und nicht nur eine
Kausalursache? 36
Noch allgemeiner formuliert lässt sich fragen, ob »es in der außer-
menschlichen Natur nicht nur Schönheit, sondern auch einen Schön-
heitssinn« gibt bzw. ob »die Tendenz von Lebewesen, sich darzu-
stellen, noch andere Adressaten als den Menschen« 37 hat. Die ver-
neinende Antwort des Reduktionismus bedeutet, dass der Mensch
als Lebewesen mit Selbstbewusstsein in der Natur völlig isoliert ist
und »Erkennen und Wollen nur sich selbst missverstehende Funktio-
nen überlebensdienlicher Anpassung sind«, womit eine Theorie, die

34 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 259.


35 Diese Frage wird im Rahmen der abschließenden Überlegungen zum ›Urphäno-
men‹ der Begegnung wieder aufgegriffen werden. – Vgl. Teilkapitel 12.2, Abschlie-
ßende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung, 889–910.
36 Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 263–264.

37
Ebd. 266.

689

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

diese These vertritt, sich selbst aufhebt, »da sie selbst nun nur noch
ein Stadium gelungener Anpassung ist, also nicht unter wahrheits-
funktionalem Aspekt betrachtet und beurteilt werden darf« 38. Die
nicht beweisbare These eines Apriori der Schönheit in der Natur da-
gegen bedeutet, dass die in der personalen Perspektive erlebbare on-
tologische Differenz von Sosein und Dasein als Überschuss überall in
der lebendigen Natur und – als erkenntnistheoretischer Grenzfall –
auch in der Welt des nicht lebendigen Seienden wahrgenommen wer-
den kann. Der im Kontext der Ontologie der Person entwickelte Ge-
danke eines teleologischen Zusammenhangs, in den die Person ein-
tritt, indem sie ihn transzendiert, gewinnt durch die Annahme eines
Apriori der Schönheit eine phänomenale Fundierung, die eine grund-
legende Verallgemeinerung dieser Ontologie ermöglicht. Darüber hi-
naus findet der für diese Ontologie zentrale Zusammenhang von Te-
leologie und Personalität durch den in einem Apriori der Schönheit
fundierten lebendigen Selbstdarstellungstrieb eine weitere Stützung.
In diesem Sinne bemerkt Spaemann in »Ritual und Ethos«:
Die Rituale des Tierreichs beweisen nicht, dass die menschliche Ritua-
lisierung des Lebens eine verborgene biologische Funktion erfüllt. Sie
können ebenso gut als Hinweis darauf verstanden werden, dass das
Leben selbst darauf angelegt ist, sich darzustellen, und dass diese Dar-
stellung missverstanden wird, wenn sie als bloße Funktion der Selbst-
erhaltung und Arterhaltung verstanden wird. Diese Selbstdarstellung
wird dann, gerade weil sie keine Erhaltungsfunktion erfüllt, beim
Menschen zum Träger von transzendenten Bedeutungen. Sie stellt
nicht mehr nur den Darstellenden dar, sondern wird zur Repräsenta-
tion seines Ursprungs. 39
Auch hier ist der religiöse Gedanke so aus der Naturphilosophie ent-
wickelt, dass er eine Grenze darstellt, über die hinaus nur spekulative
Gedanken führen, an die heran aber mit genuin philosophischen Mit-
teln gelangt wurde.

38 Spaemann, Wahrheit und Freiheit (2009), 314.


39
Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 372.

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

Mit Bezug auf die menschliche Nachahmung der Natur wurde oben 40
bereits bemerkt, dass auch vom Menschen hervorgebrachte Ge-
brauchsgegenstände durch Variation der Gestaltungsmittel über die
in ihrer Herstellung verfolgte Zweckmäßigkeit hinaus etwas darstel-
len. Von solchen überdeterminierten Gebrauchsgegenständen ist eine
andere Gruppe von Gegenständen zu unterscheiden:
Die Überdetermination, die das Gebilde als ein Selbstseiendes jenseits
seines Gebrauchs erscheinen lässt, kann sich nun aber verselbständi-
gen und so das Gebilde vom Gebrauch ganz lösen und zum reinen
Kunstding werden lassen. Dabei spielt der kultische Gebrauch eine
eigene Rolle. Er ist es eigentlich, der die Autonomie des Kunstwerks
entstehen lässt. 41
Bei der Erzeugung von Kunstschönem handelt es sich um die Sonder-
form menschlicher ποίησις, »die nicht auf Beherrschung im Dienst
unserer Selbstbehauptung zielt, sondern darauf, etwas einfach vor
uns hinzustellen« 42, und die im Unterschied zum Naturschönen we-
sentlich geschichtlich ist. Vor dem Hintergrund der geschichtlichen
Entwicklung dieser ποίησις geht es Spaemann insbesondere um ihre
spezifisch personale Form, deren Untersuchung eine weitere Diffe-
renzierung der Ontologie der Person erlaubt. Verschiedene konkrete
Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst deutet Spaemann aus-
gehend vom Maßstab des Schönen als einstelligem Guten als Re-
aktionen auf die geschichtliche Entfaltung eines szientistischen Den-
kens und als Symptome der mit ihm einhergehenden Gefährdung der
Personalität. Ausgangspunkt der geschichtlichen Betrachtung des
Kunstschönen ist Platon:
Platon hat über das Problem der Nachahmung als Erzeugung von
Schein als erster nachgedacht. Er wollte dieser Fähigkeit hierzu nicht
zubilligen, Kunst zu heißen. Es ist nicht techné, sondern empeiria,
Fertigkeit, Knowhow. Kunst ist die Fähigkeit, die Erscheinung von
etwas hervorzubringen durch Hervorbringung dessen, was natür-
licherweise Grund dieser Erscheinung ist. Also z. B. im anderen eine
Überzeugung bewirken durch Vermittlung des Wissens, das diese
Überzeugung legitimiert. Diese Fähigkeit ist fachspezifisch. Wer Ma-

40
Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 684–685.
41 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 271.
42
Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 307.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

thematik lehren kann, kann nicht mittels derselben Kunst Biologie


lehren. Rhetorik aber ist die Fähigkeit, Überzeugungen zu bewirken,
ohne dass der Rhetor Fachkenntnisse besitzt, er weiß nur, wie man
Menschen etwas glauben macht. Und so betrachtet Platon auch die
Naturnachahmung des Malers. Er muss kein Botaniker, Zoologe, An-
thropologe oder Geologe sein, um Blumen, Pferde, Menschen oder
Berge zu malen. Er muss nur beobachten, wie all dies aussieht. Darum
steht der Maler niedriger als der Techniker, der von den Sachen selbst
etwas verstehen muss. Wenn die Natur aus Abbildern der Ideen be-
steht, dann macht der Maler nur Abbilder von Abbildern. Seine Pflan-
zen wachsen nicht im Sinne einer genesis eis usian. Sie entstehen
kunstlos durch Farbauftrag, entsprechend empirischen Regeln für die
Erzeugung von Schein. 43
Von dieser platonischen Verachtung der Illusionskunst heben sich im
antiken Denken selbst schon Aristoteles und später die Neuplatoniker
durch eine prinzipiell andere Interpretation der Erzeugung von
Schein ab:
Aristoteles spricht von der Möglichkeit der Kunst, nicht bloß Zufällig-
Faktisches, sondern Allgemeines als das Wesentliche sichtbar zu ma-
chen. Und die Neuplatoniker sahen den Künstler eben deshalb auf
einer Ebene mit der natura naturans: Er blickt, wie diese, auf die Idee,
und seine Produkte haben deshalb nicht nur den gleichen Rang wie
Naturdinge, sondern sogar höheren, weil sie nicht bewusstlos Ab-
bilder von Ideen hervorbringen, sondern Abbilder als Abbilder, d. h.
als Bilder, die bereits in der Intention gemacht sind, an die Urbilder
und vor allem an das Urbild des Schönen zu erinnern, was man von
den natürlichen Gegenständen nicht sagen kann. 44
Ein weiterer wesentlicher Schritt noch über dieses Verständnis von
Kunst als Nachahmung der natura naturans hinaus ist mit der Ver-
breitung der jüdischen Schöpfungsidee durch das Christentum ver-
bunden. Der »platonische Demiurg ist ein Nachahmer« und auch
der unbewegte Beweger des Aristoteles ist gleich ewig mit der Welt,
die »in ihm ihren Grund« 45 hat. Der jüdisch-christliche Gedanke
einer Erschaffung der Welt aus dem Nichts ist beiden unbekannt:
»Es gibt bei den Griechen gar keinen Ausdruck für das Schöpferi-
sche.« 46 Erst durch die philosophische Verarbeitung der Schöpfungs-

43 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 332.
44
Ebd. 332–333.
45 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 312.
46
Ebd.

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

idee wurde dann im späten Mittelalter der Begriff der Möglichkeit,


der bei Aristoteles die Wirklichkeit vorhergeht, ins Unendliche aus-
geweitet. 47 Mit der damit einhergehenden Befreiung vom Maß der
Natur, durch die die Grenzen des für die Griechen möglichen Den-
kens überschritten werden, »eröffnet sich für die Kunst ein Raum der
Innovation, der bis dahin undenkbar war« 48. In der jüdisch-christ-
lichen Schöpfungslehre sieht Spaemann somit die wesentliche Voraus-
setzung der Geniepoetik des 18. Jahrhunderts. Das Genie »arbeitet
nicht nach Regeln, aber ebenso wenig willkürlich, sondern mit einer
inneren Notwendigkeit, und zwar so, dass es selbst Regeln aufstellt
und Maßstäbe setzt« 49. Der Künstler in diesem Verständnis ahmt
nicht nach, sondern konspiriert mit dem Schöpfer, indem er Neues
erschafft:
Der Gedanke schöpferischer Innovation durch Kunst wird übrigens
literarisch erstmals nicht von einem Künstler, sondern von einem
Handwerker vorgebracht, und zwar in dem Dialog »De mente« von
Nicolaus Cusanus im 15. Jahrhundert. In diesem Dialog tritt als Ge-
sprächspartner eines Philosophen und eines Rhetors ein Löffelschnit-
zer auf. Dieser Mann erklärt den beiden gelehrten Herren, dass seine
Kunst nicht Nachahmung der Natur sei – in der Natur gibt es keine
Löffel –, sondern Nachahmung der ars infinita, der unendlichen
Kunst Gottes, und zwar insofern diese Kunst originär schöpferisch sei.
Dem Löffel liege nämlich nicht eine ewige Idee zugrunde – coclear
extra mentis nostrae ideam non habet exemplar –, sondern er sei eine
originäre Erfindung, die in keinem natürlichen Gegenstand ihr Vor-
bild habe, wie die Werke der bildenden Kunst. 50
Die Idee der Kunst als Nachahmung des Schöpfers scheint aber einen
wesentlichen Punkt des Schöpfungsgedankens auszublenden: »Das
Spezifische der biblischen Schöpfungsidee liegt darin, dass Gott ins
Sein ruft, dass die Welt ihm die Existenz verdankt. Der irdische Her-
steller von irgend etwas bringt nichts ins Sein. Er verändert nur, was

47 Vgl. Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 313.
48 Ebd. 314. – Voraussetzung dieses Innovationsschubs für die Kunst war freilich die
Aufhebung des Bilderverbots durch die Auffassung Jesu als legitimes Bild Gottes,
durch die auch die künstlerische Darstellung des Menschen als »Bild und Gleichnis
Gottes« legitimiert wurde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere
(2005), 268.
49 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 314.

50
Ebd. 314–315.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

bereits ist.« 51 Wenn die Rede von der Kunst als Schöpfertum berech-
tigt sein soll, muss daher eine tiefer liegende Analogie zwischen
künstlerischem Schaffen und der Erschaffung der Welt aus dem
Nichts gefunden werden. Für den Aufweis dieser Analogie bedarf es
allerdings eines Umwegs, dessen Notwendigkeit im Nachhinein eine
Erklärung finden wird.
Die Entstehung dieses Begriffs von Kunst als Schöpfung kann,
wie sich aus Spaemanns Gedankengängen in seinen späten Essays zur
Ästhetik ergibt, nur vor dem Hintergrund der antiteleologischen
Wende des neuzeitlichen Denkens verstanden werden. Die Inversion
der Teleologie, die Spaemann bereits in seinen Studien über Fénelon
untersuchte, zeigte sich in der bürgerlichen Ontologie des 17. Jahr-
hunderts darin, dass für die von jeder Transzendenz abgeschnittene
menschliche Natur Reflexion prinzipiell Ausdruck eines egoistischen
Interesses ist. Unter dieser Voraussetzung ist jede Liebe – ob zu an-
deren Menschen oder zu Gott – nicht Ausdruck einer Selbsttranszen-
denz, sondern interessegeleitet, also letztlich selbstsüchtig. Wie in
Kapitel 4 dargelegt wurde, vertrat Leibniz im amour-pur-Streit ge-
genüber Fénelon eine Gegenposition, 52 auf die Spaemann hier im
Kontext der Entstehung des modernen Kunstbegriffs Bezug nimmt.
Leibniz war der Überzeugung, dass die menschliche Natur zu un-
eigennütziger Liebe fähig ist:
Jedes Mal, wenn Leibniz seinen Begriff von uneigennütziger Liebe
erläutert, wählt er als Beispiel das Verhältnis eines Menschen zu
einem Bild – meist ist es ein Bild von Raffael. Leibniz’ Definition der
Liebe lautet: Delectatio in felicitate alterius – Freude am Glück des
Andern 53. Nun ist aber doch ein Bild keiner felicitas fähig – was Leib-
niz ausdrücklich zugibt. Aber das tut nichts, denn für Leibniz ist Glück
nur die subjektive Form, Vollkommenheit zu erleben. Wer ein Bild, so
schreibt er, wegen seiner Wertsteigerung im Handel schätzt, von der
er zu profitieren beabsichtigt, liebt nicht eigentlich, weil er nur den
eigenen Vorteil sucht. Wenn er aber das Bild erwirbt nur der Freude
wegen, die er daran hat, es zu betrachten, »cela repondroit au pur

51 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316.
52 Vgl. Abschnitt 4.3.2, Ablehnung der Vermittlungsversuche: Leibniz und Male-
branche, 158–161.
53
In einer Fußnote verweist Spaemann als Quelle des Zitats auf: Z. B. G. W. Leibniz,
Brief an Magliabecchi v. 3./13. Juni 1698. – Spaemann, Perspektive und View from
nowhere (2005), 277.

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

amour«. Kants »interesseloses Wohlgefallen« hat hier seinen Ur-


sprung, »amour désintéressé« als delectatio in perfectione alterius. 54
Bezeichnend ist, dass Leibniz die uneigennützige Liebe als ›Freude an
der Vollkommenheit des Anderen‹ gerade am Beispiel eines Kunst-
werks illustriert. Eine Verbindung dieses leibnizschen Gedankens zur
Philosophie Kants – dem späten »Sieg des ›Fénelonismus‹« 55 – zeigt
sich darin, dass in ihr das Moment der Freude »dann in die Ästhetik
abgewandert« ist, während für die Ethik »nur der reine gute Wille« 56
bleibt. Die ästhetische Reflexion, so lässt sich folgern, gewinnt damit
eine kompensatorische Bedeutung angesichts einer nihilistischen
Entwertung aller möglichen Gegenstände des Denkens. 57 Die Kunst
erscheint als ein Refugium, dessen Bedeutung nun näher betrachtet
werden muss.
Der in der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts entfaltete Gedan-
ke der Kunst als Schöpfung gewinnt dadurch seine Berechtigung, dass
im Kunstwert etwas geschaffen wird, das sich von seinen Entste-
hungsbedingungen emanzipiert:
Wenn es die Definition von Schöpfung war, dass durch sie nicht nur
Rekomposition von Materie geschieht, sondern Stiftung von Selbst-
sein, das für sich selbst ein Zentrum von Bedeutsamkeit ist, dann ver-
stehen wir, was es heißt, dass der Künstler schöpferisch ist. Was er vor
uns hinstellt, ist selbst ein Zentrum von Bedeutsamkeit. Es wird be-
trachtet »um seiner selbst willen«, eine Formel, die wir sonst nur ge-
brauchen, um das Verhältnis des Menschen zum anderen Menschen
zu bezeichnen. […] Menschen können Selbstsein normalerweise nicht
machen, sondern nur zeugen und gebären, nämlich andere Menschen,
vor denen sie dann, wenn sie sie hervorgebracht haben, nur staunend
stehen können. Machen könnte das niemand. Künstlerische Produk-
tion ist ein Machen, das doch zugleich von der Art der Zeugung ist. 58

54
Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 275.
55 Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 59. – Vgl. Teilkapitel 4.4, Fénelons
Niederlage und sein Fortwirken, 168.
56 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 276.

57 Vgl.: »Das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu haben, so beschreibt

Kant das Ziel des Projektes einer Kritik der reinen Vernunft. Ein nihilistisches Projekt,
könnte man sagen. […] Kleist ist daran zerbrochen. Er fühlt sich nach der Lektüre der
›Kritik der reinen Vernunft‹, wie er schreibt, ›tief in seinem heiligsten Inneren ver-
wundet‹. ›Ach Wilhelmine‹, so fährt er in seinem Brief fort, ›mein einziges, mein
höchstes Ziel ist gesunken und ich habe nun keines mehr.‹« – Spaemann, Karl Jaspers’
Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 224.
58
Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 318.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

In der Kunst bringt der Mensch »Analoga zu physei onta« hervor:


»Dinge, die sich nicht einfach definieren durch das, was sie uns je-
weils bedeuten, sondern die einen Anspruch an uns stellen, ihnen
gerecht« 59 zu werden. Das Kunstwerk kann damit an die Stelle des
anderen Menschen treten:
Die echte Transzendenz des rationalen Wesens auf einen in keiner
Weise durch das eigene Interesse definierten Anderen wird spielerisch
simuliert durch die Freude am Kunstschönen, das sich zwar erst im
Betrachterblick konstituiert, aber eben paradoxerweise als ein solches,
das in sich selbst ruht, ja von dem ein Anspruch ausgeht wie von dem
Torso Apolls in Rainer Maria Rilkes Gedicht, der Anspruch: Du musst
dein Leben ändern. 60
Der Fähigkeit zu einer solchen Wahrnehmung des Kunstwerks liegt
also unser Verhältnis zu anderem Lebendigem, insbesondere zu per-
sonalem Leben zugrunde, bei dem wir unterscheiden, was es für uns
und was es an sich ist. Was aber ist das Kunstwerk an sich?
Die Beziehung zum Kunstwerk ist paradox. Sie ist sozusagen simulier-
te Transzendenz, man könnte auch sagen: Einübung in Transzendenz,
denn in Wirklichkeit hat ja das Kunstwerk kein Selbstsein, sondern
existiert nur so lange, wie Menschen es wahrnehmen. Es ist Sein für
uns. Aber nicht im funktionalen Sinn, so als hätten wir von dem Werk
etwas anderes als das zu erleben, was es ist. So ergibt sich das Paradox:
Das Kunstwerk ist nicht, wie der andere Mensch, Selbstsein im eigent-
lichen Sinne des Wortes, aber es ist auch nicht bloßes Sein für uns,
relativ auf uns. Wir können es nur auf die paradoxe Formel bringen:
Es ist Selbstsein für uns, fingiertes Selbstsein. 61
Ästhetische Wahrnehmung ist »Einübung in Selbsttranszendenz« 62,
weil das Kunstwerk ein Selbstsein fingiert, das sich zu seiner mate-
rialen Grundlage – Farben, Tönen, Wörtern –, die qualitativ be-
stimmbar ist, verhält wie die Person zu ihrer gehabten Natur. Der
Übergang von der Wahrnehmung eines als eines So-und-so Be-
stimmten zur Wahrnehmung von Selbstsein wird in der ästhetischen
Rezeption simuliert und gewissermaßen eingeübt. Gerade weil das
Kunstwerk nur simuliertes Selbstsein ist, hat diese Art der Wahrneh-
mung besondere Bedeutung für die Fähigkeit der Wahrnehmung von

59 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 340.
60
Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 265.
61 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 319.
62
Ebd.

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

Selbstsein auf der subpersonalen Ebene: für die Wahrnehmung von


nicht bewusstem Lebendigem und nicht lebendigem Seiendem als
Selbstsein. Die Paradoxie des Kunstwerks bringt die Eigenart per-
sonaler Seinswahrnehmung modellartig zur Anschauung: Das
Kunstwerk »hat kein Selbstsein, aber es wirkt, als hätte es Selbstsein.
Um zu wirken, müsste es schon sein. Aber es ist nur als ein so und so
Wirkendes.« 63 Das ist nun nichts anderes als eine Paraphrase der im
vorangegangenen Kapitel untersuchten Besonderheit der personalen
Seinswahrnehmung. Ausgehend von der These, dass Leben nicht
zum Sosein des Lebendigen gehört, sondern dessen Existieren
meint, 64 wurde die personale Seinswahrnehmung vom subjektphi-
losophischen Paradigma abgehoben, das noch in der Rede vom Seins-
akt wirksam ist. 65 Vermittelt durch die personale Selbsterfahrung
werden die phänomenal gegebenen Weisen zu sein zur Erscheinung
der sich verbergenden Substanz. Immer bleibt dabei der Idiosynkra-
sieverdacht, die Gefahr, dass man sich über das phänomenal Gegebene
täuscht. Zugleich hält dieser Verdacht die Bewegung der Transzen-
denz im Gang, die zum im Erscheinen sich verbergenden Sein führen
kann. Diese Bewegung nun kann am Kunstwerk in besonderer Weise
eingeübt werden. Das Kunstwerk ist ein qualitativ bestimmbares
materielles Kompositum, das als eine ›Weise zu sein‹ erscheint, die
eine perspektivische Inversion erfordert. Solange das Kunstwerk als
›Weise zu sein‹ betrachtet wird, bleibt sein Organisationszentrum
verborgen, hat die eigentliche ästhetische Rezeption noch nicht
begonnen. 66 Diese setzt erst ein, wenn das materielle Kompositum
umgekehrt als Erscheinung eines sich verbergenden Zentrums der
Bedeutsamkeit gesehen wird. Es handelt sich dabei um dieselbe In-
version der Wahrnehmung, die als epistemologische Spur der Ent-
deckung der Person bezeichnet wurde. Von dieser Spur wurde gespro-
chen, weil zum Sein überhaupt nur agnostisch das Lesen der Spur des
Unsichtbaren im phänomenal Gegebenen führen kann, über das man
sich immer täuschen kann. Der Unterschied zwischen der Wahrneh-
mung eines Kunstwerks und der von anderem Selbstsein liegt nicht
darin, dass jenes uns nur als Weise des Seins gegeben ist – dies gilt für

63 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 271.


64 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 80–81.
65 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 592.
66 Das Verständnis dessen, was angemessene ästhetische Rezeption bedeutet, setzt

Spaemann allerdings ohne weitere Kommentare voraus.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

beide gleichermaßen –, sondern darin, dass dieses von einem wirk-


lichen Selbstsein gehabt wird, während es beim Kunstwerk nur ein
fingiertes ist. »Das Paradox des Kunstwerks liegt darin, dass wir es
einerseits nur angemessen auffassen, wenn wir es gerade nicht auf
uns und auf irgendwelche ästhetischen Bedürfnisse beziehen, son-
dern es als ein eigenes Zentrum der Welt, als ein an sich selbst Seien-
des auffassen: also gerade nicht als Schein. Andererseits aber ist es ja
Schein.« 67 Von hier aus ergibt sich nun im Rückblick die Erklärung
für den Umweg über die antiteleologische Wende des neuzeitlichen
Denkens, der notwendig war, um die Analogie zwischen dem künst-
lerischen Schaffen und der Erschaffung der Welt aus dem Nichts frei-
zulegen. Die Fähigkeit, Kunst in diesem Verständnis produzieren und
rezipieren zu können, ist ein Signum der Person: »An der ästheti-
schen Wirkung des Kunstwerks können wir ein spezifisches Merkmal
der Personalität ablesen: die Distanz zu unserer eigenen Natur, das
Selbstverhältnis, die Fähigkeit, sich zu dem eigenen Fühlen, Denken
und Wollen noch einmal fühlend, denkend und wollend verhalten zu
können.« 68 Diese spezifisch personale künstlerische Ausdrucksform
hat sich herausgebildet vor dem Hintergrund einer neuzeitlichen
Entwicklung, die oben als »Geschichte der Destruktion des Person-
begriffs« untersucht wurde, 69 wobei an dieser Stelle die Frage offen
bleiben muss, ob ein solches Verständnis der Kunst sich ohne ihre
kompensatorische Funktion in der Neuzeit überhaupt entwickelt hät-
te. Jedenfalls führt das Paradox der Kunst in diesem neuzeitlichen
Verständnis, in dem Bilder »zu Symbolen von Wirklichkeit, zu Sym-
bolen des physei on werden« 70 und in dem die Kunst die Aufgabe der
»Symbolisierung der Natur« 71 übernimmt, zu der in der neuzeit-
lichen Erkenntnistheorie und Ethik notorischen Frage, wie »Selbst-
transzendenz zu denken« 72 ist, auf die im Sinne der explizierten
Ontologie der Person mit Verweis auf die Inversion der Wahr-
nehmung geantwortet werden muss, in der sich die epistemologische
Spur der Entdeckung der Person zeigt.
»Kunst ist«, bemerkte Spaemann in »Personen«, »– im Unter-
schied zum ›Nach-denken‹ der Philosophie – Vorschein des Kommen-

67 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 272.


68 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 331.
69 Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
70
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 340.
71 Ebd. 333.
72
Ebd. 340.

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

den« 73. Die »Virtualisierung der Realität« 74, von der Spaemann in
Bezug auf unsere Gegenwart spricht, wurde von der Kunst seit der
frühen Neuzeit antizipiert. Zum Abschluss dieser Überlegungen über
das Kunstschöne sollen hier die wichtigsten Gedanken Spaemanns
über die Entwicklungen in der neuzeitlichen Kunst 75 zusammen-
gefasst werden. Bei der Betrachtung der Bildenden Kunst von der
Renaissance bis zur Gegenwart beobachtet Spaemann zwei Bewegun-
gen, die zueinander in einem dialektischen Verhältnis stehen. Beide
Bewegungen stehen in engem Zusammenhang mit dem Paradox der
neuzeitlichen Kunst, also der Erschaffung eines fingierten Selbst-
seins. In der ersten Bewegung wird dieses Paradox in dem Sinne ver-
schoben, dass das im Kunstwerk fingierte Selbstsein auf seinen Ur-
heber zurückbezogen wird. 76
Den Versuchen der frühen Neuzeit, sich dem Paradox der Transzen-
denz durch das selfish system zu entziehen, entspricht in der Bilden-
den Kunst eine analoge Tendenz, die Tendenz, die Kunst zu entlasten
vor dem Anspruch, das Wirkliche als es selbst symbolisch zu ver-
gegenwärtigen. Was sie stattdessen darstellt, ist bewusst und aus-
drücklich der Schein, zunächst die Zentralperspektive eines indivi-
duellen Betrachters, dann die subjektive optische Impression, und
schließlich der freie, von allem gegenständlichen Bezug befreite Aus-
druck freier Imagination. 77
Durch die Entdeckung der Zentralperspektive in der Renaissance-
Malerei als erstem Schritt der Entlastung der Kunst ist das Bild »ein
sich seiner selbst bewusst gewordener Blick«, durch den »die Indivi-
dualität des Künstlers erst jene überragende Bedeutung« gewinnt,

73 Spaemann, Personen (1996), 99.


74 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 214.
75 Die Rede ist hier allerdings nur von der Bildenden Kunst; in ihrer Kohärenz ver-

gleichbare Überlegungen zur Musik oder Literatur finden sich bei Spaemann nicht.
76 In Spaemanns Essay »Perspektive und View from nowhere« aus dem Jahr 2005

spricht er in diesem Zusammenhang davon, dass durch diese Bewegung das Paradox
beseitigt werde. – Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273. –
Dies scheint mir übertrieben, da somit auf »die europäische Malerei von Giotto bis
Monet, also die Epoche, in der die Entdeckung der Zentralperspektive die Erzeugung
von Illusion ermöglicht«, die Charakterisierung als fingiertes Selbstsein nicht mehr
zuträfe. – Vgl. ebd. – In dem zwei Jahre später veröffentlichten Essay »Was heißt: ›Die
Kunst ahmt die Natur nach‹?« findet Spaemann eine weniger starke Formulierung,
die nicht auf eine Beseitigung des Paradoxes, sondern auf eine Verschiebung hinweist.
– Vgl. dazu das folgende Zitat aus diesem Essay.
77
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

»die ihr seit der Renaissance zukommt« 78. Beim zweiten Schritt, dem
Übergang zu subjektiver optischer Impression, denkt Spaemann an
die französischen Impressionisten, vor allem an Cézanne, beim drit-
ten, der freien Imagination, an Kandinsky und Paul Klee. 79 Der in
diesen Schritten sich entfaltende »Prozess der Subjektivierung ist
allerdings dialektisch« 80, insofern er in die zweite Bewegung über-
geht, in der das Paradox auf paradoxe Weise wiederkehrt: 81 »Wenn
aber die äußere Welt ganz in ihrer Wahrnehmung verschwindet,
dann verschwindet auch die Differenz von Sein und Schein. Der
Schein selbst ist das Sein. Esse est percipi – sein heißt Wahrgenom-
men-Werden.« 82 Innerhalb dieser zweiten Bewegung unterscheidet
Spaemann noch einmal zwei Erscheinungsformen, einerseits einen
Kult der Originalität, andererseits eine neue Sakramentalisierung
der Kunst. Bei der ersten Form denkt er an Kunstwerke, bei denen
»nur noch der Rahmen und das Wissen, dass dieser Rahmen von
einem Menschen um diesen Ausschnitt gelegt wurde«, sie als solche
erkennbar machen bzw. an Kunstgegenstände, denen man nicht an-
sieht, ob es sich »um beiläufig herumstehende Utensilien handelt
oder um Teile einer Ausstellung« 83:
Je subjektiver die Kunst der Neuzeit wird, je weniger sie sich als Sym-
bol der Wirklichkeit des physei on versteht, desto wichtiger wird nun
auf einmal das Bild als singuläre Realität, als »Original«, und das Be-
wusstsein, dass dieses konkrete Bild aus der Hand »eines bestimmten
Künstlers«, also eines konkreten lebendigen Wesens stammt. 84
Weit davon entfernt, solche Kunst für eine bloße Provokation des
Betrachters zu halten, versucht Spaemann eine philosophische Erklä-
rung. Wenn »die herrschende szientistische Weltanschauung das
Analogat der Naturnachahmung, nämlich eine teleologisch verstan-
dene Natur, zum Verschwinden gebracht hat« und alle natürlichen
Gestalten »zu Durchgangsstadien eines ziellosen Evolutionsprozesses

78
Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 273.
79 Vgl. Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274, u. Ders., Was
heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 341–342.
80 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274.

81 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 343.

82 Spaemann, Perspektive und View from nowhere (2005), 274.

83 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 344. – Konkret

spricht Spaemann von »einigen Putzgeräten, die in einem Museum beieinander-


stehen«. – Ebd.
84
Ebd. 343.

700

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9.2.2 Das Kunstschöne als simuliertes Selbstsein

geworden« sind, kann Kunst »nicht physis als Gestalt, sondern Natur
als ein[en] Prozess, in dem Gestalten nur Stadien auf einem Weg
sind« 85, nachahmen. Daher werden die »Spuren seiner Entstehung«
nicht getilgt, sondern »das Werk besteht oft nur aus den Spuren eines
produktiven Prozesses« 86. Bei der zweiten Form innerhalb dieser
Gegenbewegung geht es um eine Art der Kunst, die in einer zuneh-
mend »virtuellen Welt« versucht, »die verlorene Wirklichkeit als un-
sichtbare zu vergegenwärtigen« 87. Als Beispiele solcher Kunstwerke
nennt Spaemann »das Verpacken großer Gebäude durch das Ehepaar
Christo, bei denen das Bewusstsein von Wirklichkeit durch Unsicht-
barmachen eines Dinges geweckt werden soll« 88, den »aus einer
eigens hierfür hergestellten Kaiserkrone« 89 umgeschmolzenen gol-
denen Osterhasen von Beuys und vor allem die Werke von Walter
de Maria, etwa den »tausend Meter lange[n] Stab aus Edelstahl, den
er anlässlich einer Documenta in Kassel in ein vorher hergestelltes
Bohrloch versenkte« 90. Die Gemeinsamkeit dieser sehr verschiedenen
Kunstwerke sieht er darin, dass der Kunst als Reaktion »auf die zu-
nehmende Virtualisierung der Welt« 91 damit paradoxerweise die
Aufgabe eines Erinnerns zufällt, »das nicht mehr begrifflos durch
Bilder geschieht« 92:
Wo die Bilder verstellen, was von sich selbst ist und aufgeht, d. h.
Natur, da fällt der Kunst die Aufgabe zu, karge Zeichen als Spuren zu
hinterlassen, die den, der ihnen nachgeht, an den Ort führen, wo
Sehen, Hören und Fühlen entspringen. Also an den Ursprung von
Leben. Sehen aber ist unsichtbar, Hören unhörbar und Tasten untast-
bar. Nachahmung der Natur: Das heißt das Unsichtbare nachahmen,
das die fundamentale Realität ist. 93
Die Kunst scheint damit »an die Stelle des Sakraments zu treten« 94
und »die Rolle der Repräsentation der Wirklichkeit, des Seins« zu

85
Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345.
86 Spaemann, Das Gezeugte, das Gemachte und das Geschaffene (2006/7), 316.
87 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215.
88 Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 345.
89 Ebd. 346.
90 Ebd.
91 Ebd.
92
Ebd. 347.
93 Ebd.
94
Ebd. 346.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

übernehmen, »das sich in die Unsichtbarkeit zurückgezogen hat« 95.


Spaemanns Auseinandersetzung mit dem Kunstschönen belegt also
einerseits in der Rekapitulation geschichtlicher Entwicklungen die
Gefährdung der Person, die im vorangegangenen Kapitel thematisiert
wurde. 96 Andererseits lässt sie die Kunst als Prüfstein der Ontologie
der Person und als Gebiet möglicher Einübung in Selbsttranszendenz
und in die personale Perspektive auf Seiendes erscheinen.

95
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 215.
96Vgl. Abschnitt 8.5.1, Gefährdungen der Person: Reflexion und Transzendenz, 637–
642.

702

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9.3 Das Absolute als eine Weise der Nähe

Im hier betrachteten letzten Abschnitt der Entfaltung des Spae-


mann’schen Denkens nehmen Stellungnahmen zu einem philo-
sophisch-theologischen Randbereich bzw. zu religiösen Fragen erheb-
lichen Raum ein. In seinen genuin philosophischen Texten wiederum
artikuliert sich der Anspruch, Philosophie als Metaphysik und damit
das »jenseits der Grenze des Wissbaren dem Denken« 1 Aufgehende
als ihren integrativen Bestandteil zu verstehen. Das Vorwort zur
zweibändigen Ausgabe seiner Essays und Reden trägt den Titel: »Ver-
suche, das Ganze zu denken« 2 und diese Textsammlung selbst den auf
David Humes’ Feststellung: »We never really advance a step beyond
ourselves« anspielenden Titel »Schritte über uns hinaus«. Der The-
matisierung des Absoluten, die seit dem ersten Kapitel der hier vor-
genommenen Deutung von Spaemanns Werk ein Leitmotiv war,
kommt in diesem letzten Abschnitt noch einmal besondere Bedeu-
tung zu. Wenn Philosophie sich mit einer solchen thematischen Aus-
richtung nicht übernehmen soll, bedarf es zum einen der schlüssigen
Begründung, warum das Absolute unverzichtbarer Bestandteil phi-
losophischen Nachdenkens ist, und zum anderen des Aufweises sei-
ner spezifischen Kompetenz, dieses als seinen Gegenstand betrachten
zu dürfen. Dieser zweifachen Aufgabe sind die abschließenden Ab-
schnitte der Untersuchung von Spaemanns Werk gewidmet, wobei
es das Ziel der Darlegungen sein wird zu zeigen, dass die genuin phi-
losophische Konzeption Spaemanns, die in den vorangegangenen Ka-
piteln entwickelt wurde und durch die Ontologie der Person zu ihrer
Gestalt gefunden hat, in der Lage ist, das Thema des Absoluten so zu
integrieren, dass es als eine Weise der Nähe Thema des philosophi-
schen Nachdenkens ist. Zunächst wird dazu das Argument Spae-
manns für die Existenz Gottes aus dem futurum exactum der Ver-
nunft kritisch geprüft, um ausgehend von diesem Argument die
doppelte Codierung von Spaemanns Denken – im Sinne der beiden
möglichen Ausgänge des Denkens vom lebendigen Aussein-auf einer-

1 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2009), 219.


2
»Versuche, das Ganze zu denken. Anstelle eines Vorworts« – Es handelt sich dabei
um den geringfügig ergänzten Text der Einleitung in die »Philosophischen Essays«
von 1983.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

seits, von Gott als dem Ende des Denkens andererseits 3 –, die sich im
Verlauf der vorliegenden Untersuchung seines Werks immer deut-
licher abzeichnete, darzulegen. Die für Spaemanns Denken charakte-
ristische Bestimmung des Verhältnisses von Wissen und Glaube lässt
sich, wie zu zeigen sein wird, nur durch einen Gedankengang deutlich
machen, in dem durch die Reflexion des Verhältnisses von antikem
und neuzeitlichen Denken auf die Entdeckung der Person als his-
torisch-kontingenter Fundierung von Spaemanns Ontologie rekur-
riert wird (9.3.1). Abschließend werden in der Bewegung einer Ge-
genprobe zwei späte Texte Spaemanns, die als ›Summen‹ seines
Philosophierens gelesen werden können, analysiert und verglichen,
um die Tragfähigkeit der vorgelegten Deutung zu prüfen. In diesen
Texten geht es im Unterschied zur Thematik des vorangegangenen
Abschnitts um die genuin philosophische Gestalt von Spaemanns
Denken, die im Sinne des erläuterten Gedankens der doppelten Co-
dierung nicht im Widerspruch zu seinen theologischen und religions-
philosophischen Überlegungen steht, sondern im Sinne der hier un-
ternommenen Deutung des philosophischen Werks Spaemanns als
deren Fundierung erwiesen werden kann (9.3.2).

9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum:


Wissen und Glaube

Die Bezeichnung ›Gottesbeweis‹ für sein Argument aus dem futurum


exactum der Wahrheit für die Existenz Gottes relativiert Spaemann
selbst mit folgender Bemerkung: »Genau genommen ist ein rationa-
les Argument dafür, etwas zu glauben, nicht dasselbe wie ein Beweis.
Pascals ›Wette‹ war ein Argument, an Gott zu glauben. Kants ›Postu-
lat‹ war ebenfalls ein solches Argument. Mein Argument sollte in
dieser Reihe gesehen werden.« 4 In diesem Argument geht es Spae-
mann um den Hinweis auf den aus seiner Sicht unauflösbaren Zu-
sammenhang zwischen der Existenz Gottes und der Wahrheitsfähig-
keit des Menschen: »Auch das Vertrauen in die Vernunft ist ein

3 In einem Interview aus dem Jahr 2007 bezeichnet Spaemann als »das Ende des
Denkens« »die Einsicht: Gott ist«. – Vgl. Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendi-
gen und das Ende des Denkens (2008), 136.
4 Vorwort (2007), in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 7. – Vgl. zu Pascals ›Wette‹ :

Zwierlein, Inwiefern an Gott zu glauben vernünftig ist, 83–92.

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

Glaube, ein Glaube, der mit dem Glauben an Gott eng zusammen-
hängt.« 5 In seinem zusammen mit Spaemanns Vortrag »Die Ver-
nünftigkeit des Glaubens an Gott« veröffentlichten Essay mit dem
Titel »Gott denken« fasst Rolf Schönberger das Argument Spae-
manns in folgenden Schritten zusammen:
I. Alle Tatsachenwahrheiten sind ewige Wahrheiten.
II. Jede Gegenwart ist die Vergangenheit einer künftigen Gegen-
wart.
III. Der ontologische Status dieser ewigen Wahrheiten besteht weder
in einer Wirkung noch im Erinnertwerden, sondern im Gewusst-
werden. Es ist somit einem absoluten Bewusstsein, also Gott,
gegenwärtig. 6
Schönberger weist darauf hin, dass Spaemann für dieses Argument
keine »unabweisbare Evidenz in Anspruch nimmt«, sondern »von
einem ›Postulat‹« 7 spricht. Offenbar besteht im Hinblick auf diesen
epistemologischen Status des Arguments jedoch eine erhebliche
Unklarheit. In einer sehr scharfsinnigen Analyse von Spaemanns Ar-
gument weist Thomas Buchheim auf eine weiter unten zu themati-
sierende Inkonsistenz desselben hin und folgert, dass die Wahrheits-
fähigkeit des Menschen, die für Spaemann nur zusammen mit dem
Glauben an Gott gegeben ist, unabhängig von einem solchen Zusam-
menhang behauptet werden kann. Der Zurückweisung von Spae-
manns Argument misst er dabei eine prinzipielle Bedeutung bei:
Dies halte ich im übrigen auch deshalb für wichtig, weil ein Dissens
über die Wahrheit des Gottesglaubens unter uns Menschen nicht dazu
führen sollte, den, der Gottes Existenz mit Wahrheitsanspruch leug-
net, einer Inkonsistenz bezichtigen zu können. Vielmehr ist die Leug-
nung Gottes mit Wahrheitsanspruch konsistent und kann allein des-
halb als Verstocktheit des Herzens Sünde sein. Wäre das Argument aus
dem futurum exactum der Wahrheit triftig, dann wäre ein wahrheits-
liebender, seine Überzeugung bekennender Atheist eine contradictio
in adiecto und umgekehrt: Der, der Gottes Existenz einräumt, wäre
jemand, der expliziert, was er unter »Wahrheit« verstehen möchte. 8
Wenngleich meines Erachtens dieser Einschätzung Buchheims im
Hinblick auf die Möglichkeit wahrheitsliebender Atheisten vollauf

5 Vorwort (2007), in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 7.


6
Schönberger, Gott denken, in: Spaemann, Der letzte Gottesbeweis, 117.
7 Ebd.
8
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 51.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

zuzustimmen ist, muss der in dieser Schlussfolgerung implizierte


Vorwurf eines gewissen Zelotismus an die Adresse Spaemanns irri-
tieren. Im »Vorwort« zu seiner Essaysammlung »Das unsterbliche
Gerücht« spricht dieser von der Bedeutung der Innen- und der Au-
ßenperspektive auf menschliche Einstellungen:
Die Welt ist pluralistisch und war es immer. In einer pluralistischen
Welt aber konkurrieren unvermeidlich Innen- und Außenperspektive
miteinander. Wer Leute tanzen sieht, aber die Musik nicht hört, der
versteht die Bewegungen nicht, die da vollführt werden. Und wer den
christlichen Glauben nicht teilt, wird geneigt sein, ihn durch etwas
anderes als durch die Wahrheit seines Gegenstandes zu erklären. Ver-
stehen wird er den Gläubigen letzten Endes nicht. Wer in der Innen-
perspektive lebt, hält sich an die Worte des heiligen Paulus: »Der geist-
erfüllte Mensch urteilt über alles, ihn aber vermag niemand zu
beurteilen.« (1 Kor 2,15)
Wer aber unfähig ist, sich in die Außenperspektive zu versetzen,
von denen aus die christliche Religion eine Weltsicht unter anderen
ist, der wird zum Sektierer oder Fanatiker, der sich gegen die Univer-
salität der Vernunft verschließt. Der christliche Glaube beansprucht
die gleiche Universalität wie die Vernunft. Ja, er verlangt von der Ver-
nunft, hinter ihrem Begriff nicht zurückzubleiben, und konstatiert,
daß sie dahinter zurückbleibt, wenn sie die Frage nach Gott ausspart.
Aber er weiß auch, daß das Urteil des »geistlichen Menschen« als uni-
verselle, jegliche Außenperspektive integrierende Wahrheit erst am
Ende aller Zeiten offenbar werden wird. 9
Buchheims Interpretation der von Spaemann in seinem Argument
verfolgten Absicht schließt jene Außenperspektive auf die Religion
aus – denn ihre Wahrheit wäre ja nach seiner Lesart, wenn das Argu-
ment funktionieren würde, eine bewiesene –, womit Spaemann in die
Nähe jener »Sektierer oder Fanatiker« gerückt wird, von denen er
selbst in kritischer Distanzierung spricht. Wie weiter unten gezeigt
werden soll, ist Buchheims Widerlegung dessen, was er als Spae-
manns Argument darstellt, zwar vollkommen zutreffend; allerdings
verkennt er nach meinem Dafürhalten die wesentliche Prämisse von
Spaemanns Gedankengang, obwohl er in der Einleitung seines Auf-
satzes auf deren prinzipielle Bedeutung für ein argumentum ad ho-
minem, das Spaemanns Beweis ja sein soll, ausdrücklich hinweist. 10

9
Vorwort (2007), in: Spaemann, Das unsterbliche Gerücht, 8–9.
10Vgl.: »Ein argumentum ad hominem ist ein Argument, das von einer Prämisse
ausgeht, die der Hörer des Arguments gerne für wahr halten möchte, weil sie etwas

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

Durch die Rekonstruktion dieser Prämisse kann der Widerspruch


zwischen Spaemann und Buchheim in der Frage nach Gott dahin-
gehend aufgelöst werden, dass die Konsistenz der Leugnung Gottes,
die Buchheim betont, die Ablehnung jener Prämisse impliziert, durch
die für Spaemann menschliche Wahrheitsfähigkeit mit dem Glauben
an Gott verbunden ist. Für das im Weiteren zu entwickelnde Ver-
ständnis dieser spezifischen Prämisse Spaemanns ist es sinnvoll, das
Argument aus dem futurum exactum zunächst zur Seite zu legen und
grundsätzlich nach dem Verhältnis von Wissen und Glaube im Den-
ken Spaemanns zu fragen, um danach auf der Grundlage dieser Ver-
hältnisbestimmung das Argument noch einmal prüfen und Buch-
heims kritische Stellungnahme korrekt einordnen zu können.
Die bei weitem aussagekräftigste Stellungnahme Spaemanns im
hier betrachteten Zeitraum zum Verhältnis von Wissen und Glaube
findet sich in dem zur Feier des 125. Geburtstags von Karl Jaspers
2008 gehaltenen Vortrag »Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen
Glaubens« 11. Die grundsätzliche Gedankenbewegung in diesem Vor-
trag besteht darin, dass Spaemann ausgehend von der modernen Ab-
grenzung von Glauben und Wissen, für die Jaspers als Beispiel stehen
kann, zurückgeht auf die Begriffe von Wissen und Glaube bei Platon,
um danach in der zwischen Platon und Jaspers aufweisbaren »Be-
griffsverschiebung« 12 die für Spaemann selbst problematische Vo-
raussetzung des neuzeitlichen Denkens zu ermitteln, vor deren Hin-
tergrund ein alternatives Vernunftverständnis erwogen wird, für das
die Grenze zwischen Glauben und Wissen gegen Jaspers – und in
gewissem Sinn mit Platon – anders gezogen wird. Im Folgenden soll

ausdrückt, was ihn selbst betrifft und auszeichnet – hier: ein freies und wahrheits-
fähiges Wesen zu sein. Wer möchte das im Ernst nicht? Dennoch ist auch ein solches
argumentum ad hominem eben ein Argument, d. h. es soll beweisen oder den betref-
fenden Menschen aus logischen Gründen zwingen – wenn er dies, was er sich selbst
zuschreiben möchte, für wahr halten will – etwas Weiteres, d. h. irgendwelche Folge-
rungen ebenfalls zu akzeptieren. Will er die Folgerungen nicht akzeptieren, so darf er
nicht mehr ohne Selbsttäuschung an der Prämisse festhalten. Deshalb bedarf auch ein
argumentum ad hominem einer durchsichtigen und genau festlegenden Form – an-
hand deren seine Voraussetzungen und Schlüssigkeit diskutierbar werden.« – Buch-
heim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 38.
11 Festvortrag an der Universität Oldenburg am 9. Juli 2008 zur Feier des 125. Ge-

burtstags von Karl Jaspers. Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Deutsche Philosophie
57/2 (2009), 249–258. Wieder abgedruckt in: Spaemann, Schritte über uns hinaus.
Gesammelte Reden und Aufsätze I, 214–232.
12
Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 231.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

dieser Gedankengang in seinen wesentlichen Schritten nachvollzogen


werden. Wie also grenzt Jaspers Glauben von Wissen ab?
Jaspers nennt die kognitive Beziehung zum Absoluten »Glaube« und
unterscheidet sie damit von der kognitiven Beziehung zu innerwelt-
lichen Gegenständen, die er Wissen nennt. Beide Formen haben ihre
Art von Gewissheit, weil in beiden Formen Subjektivität in ganz ver-
schiedener Weise am Werk ist: Einmal als das, was Jaspers »Bewusst-
sein überhaupt« nennt. Das Subjekt ist ein anonymes, ein »man« oder
»die Wissenschaft«. Im anderen Fall ist das Subjekt das, was Jaspers
»Existenz« nennt, das heißt ein menschliches Individuum, das sich als
mögliche Freiheit versteht und damit als Adressat eines unbedingten
Anrufs der Gottheit, in der sie gründet. 13
Es handelt sich also einerseits um Wissen im Sinne der certa cognitio,
andererseits um die Erfahrung, »dass jenseits der Grenze des Wiss-
baren dem Denken etwas aufgeht und hell wird, das dem Dasein erst
seinen Sinn gibt« 14. Spaemann betont die prinzipiell positive Haltung
Jaspers zum Wissen in diesem Sinn: »Wir müssen im Bereich des
Wissbaren mit den Methoden wertfreier Wissenschaft so weit gehen
wie möglich, und das heißt immer weiter, denn der Prozess der For-
schung ist unabschließbar. Er führt nie zu einer Rekonstruktion des
umgreifenden Ganzen.« 15 Gerade durch diese unaufhebbare Be-
schränktheit wissenschaftlicher Forschung »werden wir an den Punkt
geführt, wo der Absprung möglich ist – möglich, nicht zwingend.
Zwingendes Wissen gibt es nur innerhalb der Welt der Objekte. Der
Absprung ist Sache der Freiheit.« 16 Die Motivation für den Absprung
besteht darin, dass »wir uns nur so als Freiheit, als Selbstsein, in der
Sprache von Jaspers als ›mögliche Existenz‹ begreifen können« 17.
Durch diesen Absprung öffnet sich nach Jaspers dem, der ihn freiwil-
lig tut, das Transzendente, insofern sich schon die Freiheit zum Ab-
sprung – »Freiheit kommt in der Immanenz der wissenschaftlich aus-
gelegten Welt nicht vor« 18 – einem Grund verdankt, der nicht Natur
ist: »Jaspers schreibt diesem transzendenten, göttlichen Grund Wil-
len zu und ein prinzipielles Geneigtsein zum Guten.« 19 Allerdings

13 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 226.


14 Ebd. 219.
15 Ebd. 217.
16 Ebd. 218.
17
Ebd. 220.
18 Ebd.
19
Ebd.

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

sind für Jaspers alle Aussagen über das Transzendente »unvermeid-


lich immer vergegenständlichend, weil wir als endliche Wesen der
Entgegensetzung von Subjekt und Objekt nicht entrinnen« 20, und
müssen daher immer wieder zurückgenommen werden.
Vor dem Hintergrund dieser für das neuzeitliche Bewusstsein
repräsentativen Abgrenzung von Glauben und Wissen bei Jaspers re-
kurriert Spaemann nun auf den Wissensbegriff Platons:
Man könnte diesen Begriff enger als den modernen nennen oder auch
weiter. Weiter, weil er sich auf Ewiges bezieht, enger, weil er sich nur
auf Ewiges bezieht und weil er, zweitens, ein Identischwerden von
Wissendem und Gewussten meint, das zwar Descartes noch einmal
dem Denken vindiziert, das aber Jaspers im Gefolge des Christentums
für den Glauben reserviert. 21
Wissen im eigentlichen Sinn gibt es für Platon »nur dort, wo das
megiston mathema, das größte Denkbare und Wissbare gewusst
wird: die Idee des Guten, oder, wie Platon sagt, das Gute selbst« 22.
Dieses Wissen kann nicht gelehrt werden, »es kann auch nicht auf
die übliche objektive, die Existenz aus dem Spiel lassende Weise ge-
wusst werden. Man kann es nicht wissen, ohne es zu wollen.« 23 Bevor
auf die Bedeutung Descartes’ in diesem Zusammenhang, auf die
Spaemann anspielt, eingegangen werden kann, soll dieser Wissens-
begriff noch etwas stärker konturiert und in ein Verhältnis zu dem
Jasper’schen gesetzt werden. Mit Bezug auf Sokrates’ »Kosmologie
als Hintergrund einer großen Erzählung über das Schicksal der Seele
nach dem Tod« 24 im Phaidon und das »Wagnis« 25, diese Erzählung zu
glauben, fragt Spaemann:
Was ist hier Gegenstand des Wagnisses und des Glaubens? Es ist nicht
die Unsterblichkeit der Seele und nicht die Überzeugung von der letzt-
endlichen Identität des Seins und des Guten. Darüber kann uns phi-
losophisches Nachdenken belehren, und dieses Nachdenken kann zu
dem führen, was in einem emphatischen Sinn Wissen heißt. Dort aber,
wo diese Grundeinsicht sich als Vorstellung konkretisiert, da haben

20 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 222.


21 Ebd. 226–227.
22 Ebd. 229.

23 Ebd. 230.

24
Ebd. 227.
25 Ebd. – Vgl. Platon, Phaidon, 114 d. – Spaemann verweist hier versehentlich auf:

116 b.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

wir es mit Erzählungen zu tun, die wir mit Jaspers »Chiffren« nennen
können. Sie sind es wert, dass man sich an sie hält, denn in ihnen wird
das Wahre anschaulich. Aber diese Anschauung ist nicht die Sache
selbst und deshalb eine Sache der Selbstüberredung zum Glauben. 26
Während die Einsicht in die Unsterblichkeit der Seele für Platon aus
dem μέγιστον μάθημα, der Idee des Guten, hervorgeht und also ein
Wissen ist, sind konkrete Erzählungen, die diese Einsicht für den
Menschen illustieren, Inhalte eines Glaubens. Diese Unterscheidung
ist für Jaspers bedeutungslos, insofern das, was für Platon im eigent-
lichen Sinn Wissen bedeutet, für ihn selbst Gegenstand eines Glau-
bens geworden ist:
Es hat hier offenbar von Platon bis zu Jaspers eine Begriffsverschie-
bung stattgefunden. Dieses durch Studium von Mathematik und
Ideenlehre indirekt vorbereitete Ergriffensein der Existenz durch das
megiston mathema, das Platon Wissen im Sinne von absolutem Wis-
sen nennt, ist das, was bei Jaspers Glaube heißt. Offensichtlich handelt
es sich hier formal um eine Transformation des Glaubensbegriffs, an
deren Beginn die israelitischen Propheten, vor allem aber das Neue
Testament stehen. Beide Elemente des platonischen Wissens finden
sich hier im Begriff des Glaubens wieder: die alles Verstandesmäßige
übersteigende Größe des Gegenstandes, und die Intensität des Er-
griffenseins der Person, die z. B. Paulus schreiben lässt: »Nicht mehr
ich lebe, sondern Christus lebt in mir.« Allerdings findet mit dem bib-
lischen Glaubensbegriff eine Diastase zwischen Weltwissen und Glau-
ben statt, die wir auch bei Jaspers finden. 27
Mit der Diastase bzw. Spaltung von Weltwissen und Glaube ist jene
Reduktion des Wissens auf die »kognitive[…] Beziehung zu inner-
weltlichen Gegenständen« 28 im Sinne der certa cognitio eines Sub-
jekts gemeint, von der mit Bezug auf Jaspers’ Wissensbegriff die Rede
war: »die Welt der neuzeitlichen Wissenschaft ist eine methodisch
geschlossene Welt geworden, deren Studium möglich ist etsi Deus
non daretur, als ob es Gott nicht gäbe.« 29 Die naturalistische Welt-
erklärung und der im Absprung von ihr mögliche philosophische
Glaube Jaspers’ sind für Spaemann eine Erscheinungsform jener spe-
zifisch neuzeitlichen Dialektik von Naturalismus und Spiritualismus,

26 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 227.


27
Ebd. 231.
28 Ebd. 226.
29
Ebd. 231.

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

deren Entstehung der Prozess der Entteleologisierung zugrunde liegt.


Spaemanns gesamtes philosophische Schaffen steht im Zeichen des
Versuchs, diese frühneuzeitliche Vorentscheidung zu revidieren und
durch eine Rückkehr zum teleologischen Denken eine Alternative zu
dieser Dialektik zu finden.
In diesem Sinn knüpft er an Platons Wissensbegriff an, um zu
prüfen, ob sich aus der Verbindung der natürlichen und der spirituel-
len Seite des Menschen eine solche Alternative und damit eine andere
Abgrenzung von Wissen und Glauben finden lässt. 30 Im »Phaidon«
heißt es mit Bezug auf die erwähnten, das höchste Wissen illustrie-
renden Erzählungen, dass es zu ihnen zwei Alternativen gibt: »ein
›festeres Fahrzeug‹ […] oder aber einen göttlichen Logos, also eine
Offenbarung.« 31 In dieser Alternative deutet sich eine andere Grenz-
ziehung zwischen Wissen und Glauben an und es lohnt sich, zunächst
nach dem hier angezielten Begriff des Wissens zu fragen:
Aber was ist das »festere Fahrzeug«, dessen Möglichkeit Platon an-
deutet, ohne es mit dem göttlichen logos zu identifizieren? Ist es die
Philosophie? Aber die Philosophie scheint doch nur in jener argumen-
tativen Prüfung von Meinungen zu bestehen, die zu einer für eine
verantwortliche Lebensführung ausreichenden Plausibilität führt, also
eben nicht zu der Gewissheit, die wir Wissen nennen. 32
Mit dem, was ›wir Wissen nennen‹, ist hier das neuzeitliche Ideal der
certa cognitio gemeint und es stellt sich die Frage, ob der platonische
Begriff, für den »Wahrheit zur Definition des Wissens« gehört, das
»nicht als mentaler Zustand beschrieben werden kann« 33, aus neu-
zeitlicher Sicht aktualisierbar ist. Für Platon gibt es, wie Spaemann
betont, »kein Wissen des Wissens. Die Reflexion des subjektiven Be-
wusstseins auf sich geht ins Leere. Bewusstsein ist, wie Platon sagt,
immer Bewusstsein von etwas.« 34 Genau an dieser Stelle bezieht
Spaemann sich nun auf den oben bereits erwähnten Descartes, der

30 Vgl.: »Bereits Platon hat […] dem Eros eine heuristische Funktion zugewiesen.
Und Spaemann bemerkt, dass der Begriff der Erkenntnis aus kulturgeschichtlicher
Perspektive keineswegs identisch ist mit Descartes’ certa cognitio, der die Erkenntnis
des Lebendigen aus methodologischen Gründen verschlossen bleiben muss.« – Stark,
Das Verhältnis von Natur und Vernunft, 115.
31 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 228.

32
Ebd. 229.
33 Ebd.

34
Ebd.

711

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

»im Cogito ein solches Wissen des Wissens zu finden« 35 versuchte.


Zwar brauchte Descartes, um »vom Innen des ›Ich denke‹ zum Bei-
der-Welt-Sein zu kommen, […] die Idee Gottes« 36, doch er aktuali-
sierte mit dem Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ jenes »Identischwer-
den von Wissendem und Gewussten« 37, das Spaemann als Charakte-
ristikum des platonischen Wissensbegriffs bezeichnet. Der Schritt
von Platon zu Descartes besteht in der Ablösung der auf das μέγι-
στον μάθημα gerichteten Vernunft als Organ des Allgemeinen durch
einen personalen Zugang zur Vernunft, in dem auf die Partikularität
der eigenen Perspektive reflektiert wird. Zur systematischen Be-
deutung dieser cartesischen Gedankenfigur für Spaemann gehört,
wie in dieser Arbeit immer wieder gesehen wurde, die metaphy-
sisch-analoge Umdeutung ihrer spekulativ-dialektischen Struktur.
Der Kern dieser Umdeutung ist der personale Akt der Selbsttrans-
zendenz, in dem der Schritt über die Gegenständlichkeit der Welt
hinaus im Transzendieren der Zentralität eines Lebewesens dadurch
vollzogen wird, dass ein anderes Zentrum der Bedeutsamkeit –
Selbstsein – erscheint. Als aktualisiertes μέγιστον μάθημα erscheint
in dieser Perspektive das Unbedingte in der Weise des Bildes, das
Spaemann zunächst in »Glück und Wohlwollen«, danach in »Per-
sonen« in den Mittelpunkt seines Denkens rückte. In »Personen« be-
zeichnete Spaemann den Punkt, an dem der Mensch ein nicht kon-
tingentes Verhältnis zu seiner kontingenten Natur entdeckt und die
ontologische Differenz von Dasein und Sosein erlebt, als »Schwebe
zwischen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem« 38.
Gerade diese Metapher des Schwebens taucht, worauf Spaemann
selbst hinweist, 39 bei Jaspers auf zur Bezeichnung des Geistes-
zustands, in dem die wieder zurückzunehmenden Aussagen über das
Transzendente möglich werden. Spaemann spricht in diesem Zusam-
menhang aber anders als Jaspers nicht von einem Glauben, sondern
von »Kontingenzbewusstsein« 40. Bis zum personalen Standpunkt
führt nach Spaemann ein philosophisches Wissen, das, wie in Ab-

35 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 229.


36 Ebd.
37 Ebd. 226.

38 Spaemann, Personen (1996), 82.

39
Vgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223.
40 Ebd. – Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82–83, u. Abschnitt 8.3.3, Der philosophi-

sche Personbegriff: Teleologie und Personalität, 593.

712

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

schnitt 8.3.3 gezeigt, 41 die Prämisse impliziert, dass Personen mit an-
deren Lebewesen ein Aussein-auf verbindet, und das im personalen
Daseinsvollzug – der ›Schwebe‹ – an seine Grenze gelangt. Zu diesem
Wissen gehört daher auch noch die Ahnung des Absoluten, dessen
konkrete Ausformung dann Gegenstand des Glaubens ist. In der
Selbsttranszendenz als fundamentalem Akt der Personalität aktuali-
siert sich der platonische Begriff des Wissens, wodurch die geläufige
Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben in Frage gestellt wird:
Es ist aber nun zur Sache eines philosophischen Glaubens geworden,
dass wir etwas wissen können und nicht nur bei uns selbst bleiben,
wenn wir mit einem guten Freund ein Glas Wein trinken und dabei
wissen, dass wir nicht das Konstrukt des Anderen und der Andere
nicht das unsere ist. Platons Begründungsfunktion des absoluten Wis-
sens für jede Art von Wahrheit scheint an Aktualität Karl Jaspers zu
übertreffen. Aber Jaspers hatte gute Gründe, dieses absolute Wissen
»Glauben« zu nennen. 42
Den Anderen für wahr zu halten, entspringt einer Evidenz der Wahr-
nehmung, von der Spaemann in »Glück und Wohlwollen« ausgeht;
und doch ist damit kein evidentes Wissen im Sinne der certa cognitio
verbunden: »Die Entscheidung gegen den Solipsismus aber ist und
bleibt eine metaphysische Entscheidung. Es ist die metaphysische
Entscheidung.« 43 Den Begriff ›Wissen‹ für diese Entscheidung in An-
spruch zu nehmen und damit die Philosophie – statt sie auf die Funk-
tion der argumentativen Prüfung von Meinungen zu reduzieren – als
›festeres Fahrzeug‹ zu betrachten, setzt jene Aktualisierung des plato-
nischen Denkens voraus, die in der Entdeckung der Person fundiert
werden kann und die als epistemologische Spur in jeder den Solipsis-
mus überwindenden Seinswahrnehmung anwesend bleibt. Durch
diese Fundierung im historisch-kontingenten Ereignis der Ent-
deckung ist die neuzeitliche Grenzziehung zwischen Wissen und
Glaube korrigierbar. Ohne diese Fundierung bleibt es bei den ›guten
Gründen‹, die Jaspers hatte, dieses Wissen einen Glauben zu nennen.
Insgesamt wiederholt Spaemann in seinem Vortrag über Jaspers da-
mit die Gedankenbewegung, die hier zunächst im sechsten Kapitel
rekonstruiert wurde. Aus dem neuzeitlichen Denken geht Spaemann

41 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-


tät, 590.
42 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 232.

43
Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248.

713

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

zurück auf das antike Denken als Inspirationsquelle einer Aktualisie-


rung, für die Descartes ihm ein wesentlicher Angelpunkt ist, der sei-
nerseits einer Modifikation bedarf, in der sich der unverwechselbare
Spaemann’sche Ansatz – das metaphysisch-analoge Denken bzw. der
metaphysische Realismus – erkennen lässt. Der ›Sprung‹ in diesen
Ansatz ist dabei kein Glaubensakt, sondern ein Wissen, das im his-
torisch-kontingenten Ereignis der Entdeckung der Person fundiert
ist. 44
Nach diesem Exkurs in die Verhältnisbestimmung von Wissen
und Glauben kann der Gedankengang nun zu Spaemanns Argument
aus dem futurum exactum der Wahrheit zurückkehren. Es liegt auf
der Hand, dass dieses Argument keine Bedeutung hat, wenn man
einen Begriff der Vernunft als »ein durch vielfältige Selektion erprob-
tes Anpassungsorgan, dessen Funktionen mit so etwas wie Wahrheit
nichts zu tun haben« 45, zugrunde legt. Spaemanns Feststellung, dass
»Gottesbeweise […] sämtlich an dem, was Logiker eine petitio prin-
cipii nennen« 46, kranken, trifft ohne Einschränkung auch auf sein Ar-
gument zu. Es muss also an dieser Stelle die oben erwähnte Prämisse

44 Die Aktualisierung des platonischen Wissensbegriffs enthält – um an dieser Stelle


auf die Zusammenhänge mit dem programmatischen Rahmen dieses Kapitels hin-
zuweisen – die epistemologische Voraussetzung zu dem, was zunächst als ›Nähe‹
und danach anhand der Scheler’schen Wertphilosophie und der Seinswahrnehmung
im Schönen expliziert wurde. Die Scheler’sche Wertphilosophie, die Werte als ›mate-
riale Qualitäten‹ behauptet, die weder subjektiv gesetzt noch empirisch bestimmbar
sind, kann selbst als ein Ausdruck des aktualisierten platonischen Wissensbegriffs
verstanden werden. Der Hybridbegriff des ›Werts‹ – Hybridbegriff, da er einerseits
im Unterschied zur Person nicht immer wirklich, sondern als möglich denkbar, ande-
rerseits aber im Unterschied zu Gegebenem nicht in seinem Sosein empirisch be-
stimmbar ist – setzt den ›personalen Ort‹, die metaphysische Entscheidung gegen
den Solipsismus und damit die Aktualisierung des platonischen Wissensbegriffs vo-
raus. Werte beziehen sich auf Qualitäten als Ausdruck der ontologischen Differenz.
Sie sind nur in der Wahrnehmung gegeben, haben aber eine von der subjektiven
Wahrnehmung unabhängige Bedeutung, die phänomenal als Schönheitswahrneh-
mung gegeben ist. Die Hierarchisierung von Werten setzt die Kontextunabhängigkeit
von Personen voraus. Nur Personen, die über die ontologische Differenz bewusst ver-
fügen, können Qualitäten in der Relation von Nähe und Ferne verorten und auf sie
gerichtete Werte hierarchisieren. Aus der personalen Selbsttranszendenz ergeben sich
Vorzugsregeln für den aktualisierten Zugang zum μέγιστον μάθημα. Eine reflexive
Wendung auf die natürliche Selbsttranszendenz vollziehen nur Personen. Ganz zu
sich selbst kommen Personen daher erst im Ereignis der interpersonalen Begegnung
durch die Wahrnehmung von Selbstsein, denn Nähe ist Sein.
45 Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 232.

46
Spaemann, Der letzte Gottesbeweis (2007), 27.

714

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

des argumentum ad hominem, das Spaemann als ›Gottesbeweis‹ vor-


trägt, zunächst genau benannt werden. Was bedeutet die metaphysi-
sche Entscheidung gegen den Solipsismus, die sich selbst als Wissen
versteht? Jaspers’ Metapher des Schwebens, die für ihn den Glauben
bezeichnet, wurde von Spaemann als Kontingenzbewusstsein über-
setzt. 47 Das Bewusstsein der Kontingenz wiederum ist Ausdruck der
Differenz von Dasein und Sosein. 48 Diese ontologische Differenz ist
in der Selbsterfahrung der Person gegeben. Wie die Ausführungen in
Abschnitt 8.3.3 ergeben haben, ist dieses Selbstverständnis der Per-
son aber darin fundiert, dass eine analoge Differenz von Dasein und
Sosein auch alles nicht bewusste Lebendige und a fortiori jedes nicht
lebendige Seiende kennzeichnet und sie somit ebenso wie Person
»eine Existenzweise, ein modus existentiae, nicht ein qualitativer Be-
stand, sondern dessen spezifischer individueller Vollzug« 49 sind. Die
personale Wahrnehmung von Sein im Sinne der ontologischen Dif-
ferenz steht immer unter Idiosynkrasieverdacht, gleichzeitig ist die
prinzipielle Bestreitung ihrer Möglichkeit selbstwidersprüchlich 50, so
dass sie weder beweis- noch widerlegbar ist. Durch den unauslösch-
lichen Verdacht der Idiosynkrasie »bleibt die Transzendenz in der Be-
wegung, die auf Sein als das Jenseits des Gedankens geht« 51. Das
Theorem der ontologischen Differenz ist die positive Fassung der
Spaemann’schen Grundüberzeugung, wonach Sein kein Begriff – also
nicht ein als Mögliches Denkbares –, sondern das Korrelat eines Ak-
tes der Anerkennung ist. 52 Leben des Lebendigen – und a fortiori Sein
des Seienden – gehört nicht auf die Seite des Soseins, sondern auf die
des Daseins. Die Annahme, dass die als Personalität erlebbare onto-
logische Differenz allem Seienden zukommt, ist demnach die gesuch-
te Prämisse, die Spaemanns Argument aus dem futurum exactum
zugrunde liegt. Aus personaler Perspektive müsste die Prämisse so
formuliert werden, dass eine Wahrnehmung von Sein, also der onto-
logischen Differenz von Dasein und Sosein, die primär in der per-
sonalen Selbsterfahrung gegeben ist, zumindest auch in phänomenal
gegebenem Lebendigem ohne Selbstbewusstsein möglich ist. Auf die-

47 Vgl. Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philosophischen Glaubens (2008), 223.
48 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 39, 79, 81.
49 Ebd. 39.

50 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 595, Fn. 105.


51 Spaemann, Personen (1996), 83.

52
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

ser Grundlage soll nun erstens die Widerlegung des Arguments


durch Buchheim kritisch betrachtet werden, bevor zweitens eine das
in ihr enthaltene Missverständnis korrigierende Reformulierung des
Arguments unter Einbeziehung der genannten Prämisse versucht
wird. Abschließend geht es dann um eine Einordnung des Arguments
in den Gesamtzusammenhang von Spaemanns Denken.
Buchheim unterscheidet in seinem bereits zitierten Aufsatz
»Erkannt, aber nicht aufbewahrt« zwei Formen des Spaemann’schen
Arguments, einerseits das »Argument aus dem futurum exactum des
›Immer-gewesen-Seins‹ von Sachverhalten (ohne Behauptung der
Wahrheit)«, andererseits das aus dem »futurum exactum des
›Immer-wahr-gewesen-Seins‹ einer jeden erkannten Wahrheit« 53.
Buchheim ist der Auffassung, dass die zweite Form gegenüber der
»aus ziemlich naheliegenden Gründen« zurückzuweisenden ersten
die »aussichtsreichere[…] Fassung des Arguments« 54 ist. Dem ist in-
soweit zuzustimmen, als die erste Form, wie im Folgenden gezeigt
werden soll, auch unter Berücksichtigung der erläuterten Prämisse
einer spekulativen Zusatzannahme bedürfte, damit das Argument
schlüssig wäre. Für die erste Form des Arguments – Buchheim be-
zieht sich dabei unter anderem auf eine Textstelle aus »Personen« 55
– rekonstruiert er folgende Gedankenstruktur:
1) Wir wissen uns selbst in der Gegenwart als wirklich Seiende ge-
genüber von anderem Wirklichen. (Ausgangsthese, die wir von
uns selbst für wahr halten möchten.)
2) Etwas Wirkliches, das wir jetzt als wirklich erfassen, wird immer
der Fall gewesen sein. (Konstitutionsthese, wonach das Präsens
von Wirklichkeit die Bejahung eines unbegrenzten futurum
exactum einschließen muß.)
3) ›Gewesen sein‹ kann etwas nur, insofern es auch nach seinem
Vergehen die Vergangenheit einer zukünftigen Gegenwart ist.
(Transfer-These, wonach das Vergangene als Gewesenes für alle
Zukunft erhalten bleiben wird.)

53 Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 38–39.


54 Ebd. 39.
55 S.: »Das futurum exactum ist die Form der Verewigung. Indem alles Präsentische

zugleich ein solches ist, das gewesen sein wird – und zwar für immer und ewig –,
gehört es immer schon der Dimension des Zeitlosen an. Als Künftiges wird es gegen-
wärtig, als Gegenwärtiges wird es zum Vergangenen, aber als Vergangenes wird es für
alle Zukunft bleiben.« – Spaemann, Personen (1996), 130. – Vgl. auch Buchheims
Verweise in den Fußnoten 4, 5 und 6 auf weitere Textstellen bei Spaemann. – Buch-
heim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 39–40.

716

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

4) Vergangenheit einer späteren Gegenwart zu sein, heißt, aus die-


ser Gegenwart als Gewesenes erinnert zu werden. (Bewahrungs-
these, wonach das Erhaltenbleiben des Gewesenen ein es er-
innerndes Bewußtsein erfordert.)
5) Alle menschliche Gegenwart ist endlich und wird einmal nicht
mehr sein. (Endlichkeitsthese.)
Konklusion:
Daß etwas für uns in der Gegenwart im vollen Sinne wirklich ist, er-
fordert strenggenommen die Unterstellung eines ewigen Bewußt-
seins, in dem alles Vergangene als Erinnertes aufbewahrt bleibt. 56
Buchheim gesteht in seinem Kommentar des Arguments Spaemann
die Thesen (1), (2) und (5) zu, erhebt aber Einspruch gegen die Thesen
(3) und (4). 57 Gegen die »Transfer-These« (3) wendet Buchheim ein,
dass »Zeitlichkeit […] zum prädikativen Charakter des Sachverhalts,
nicht zur Weise seines Stattfindens oder Nichtstattfindens« 58 gehöre.
Bei Spaemann unterstellt die »Transfer-These« nach Buchheim, dass
das temporale Prädikat des Gewesenseins eine Aussage über die »Mo-
dalität seines Seins« 59 desjenigen macht, worauf das Prädikat sich be-
zieht, und zwar in dem Sinn, dass durch das temporale Prädikat eine
Überzeitlichkeit dieses Gegenstands ausgedrückt wird. Diesen An-
spruch weist Buchheim zurück mit der Feststellung: »Alle temporalen
Termini in Aussagen welcher Art auch immer müssen in einer Be-
deutungsanalyse dieser Aussagen auf die behaupteten Sachverhalte
bezogen werden, nicht ihr behauptetes oder behauptbares Sein.« 60
Mit anderen Worten bedeutet dies, dass temporale Prädikate sich auf
das Sosein eines Seienden beziehen und nicht auf sein Dasein. Gegen
die »Bewahrungsthese« (4) stellt Buchheim heraus, dass »gewesen zu
sein weder eine notwendige, noch eine hinreichende Bedingung dafür
[ist], eine ewige Aufbewahrtheit dafür zu fordern« 61:
Gewesensein ist daher, wie diese Argumente zeigen, unabhängig da-
von, ob es die Vergangenheit einer späteren Gegenwart ist oder nicht.
Gewesen zu sein fügt dem, was etwas ist und nicht ist (und später war
und nicht war), nicht das Mindeste hinzu. Es gibt also keinen ›Trans-

56 Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 39–40.


57 Vgl. ebd. 40–44.
58 Ebd. 41.
59
Ebd.
60 Ebd. 41–42.
61
Ebd. 42.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

fer‹ des Gewesenseins in die Zukunft durch das betreffende Seiende


selbst. 62
Daher, so schließt Buchheim, müssen die »Sätze (3) und (4) […] in
dieser Form des Arguments zurückgewiesen werden« 63.
Aus dem Kontext von Spaemanns »Personen« könnte man nun
folgendermaßen gegen diesen Einwand zu argumentieren versuchen:
Spaemann sieht eine fundamentale Ambivalenz der Zeit, in der sich
die beiden Perspektiven der ›gehabten Natur‹ und des ›Habens einer
Natur‹ widerspiegeln. 64 Diese Ambivalenz resultiert aus dem Dualis-
mus des »vitalen Bedeutsamkeitszusammenhangs« 65 einerseits, für
den die physikalische Zeit als Prinzip der Entropie gilt, und des
»Sinnzusammenhang[s]« 66 andererseits, der sich erst im Transzen-
dieren jenes Horizonts erschließt und in dem die physikalische Zeit
dadurch überwunden wird, dass »sie zum Medium einer Gestalt
wird« 67:
Der Übergang von der vitalen Bedeutsamkeit zum Sinn ist der Über-
gang vom Präsens ins futurum exactum. Das futurum exactum ist die
Form der Verewigung. Indem alles Präsentische zugleich ein solches
ist, das gewesen sein wird – und zwar für immer und ewig –, gehört es
immer schon der Dimension des Zeitlosen an. 68
Temporale Prädikate beziehen sich für Spaemann zwar auf das Sosein
eines Seienden; durch das personale ›Haben einer Natur‹ werden sol-
che temporale Prädikate aber in einen Sinnzusammenhang gebracht,
der sich der Zeit als Medium bedient und als »Zeit-Gestalt« 69 das
Existieren des Soseins bezeichnet. Man könnte also als Reaktion auf
Buchheims Einwand gegen die ›Transfer-These‹ für Personen in An-
schlag bringen, dass die Vorstellung einer personalen ›Zeit-Gestalt‹
sich nicht auf einen Sachverhalt, sondern auf ihr Sein bezieht. Aller-
dings ist auch dann zuzugeben, dass sich aus der Personalität noch

62
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44.
63 Ebd.
64 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit

von Begegnung, 611.


65 Spaemann, Personen (1996), 128.

66 Ebd.

67 Ebd. 122.

68
Ebd. 130. – Dies ist eine der Aussagen aus »Personen«, die Buchheim als erste
Fassung des Arguments bezeichnet.
69
Ebd. 122.

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

kein Transfer des Gewesenseins in die Zukunft ergibt. Zeit-Gestalt zu


sein bringt die Person zwar in eine Distanz zu ihrem kontingenten
Sosein; aber ihr Kontingenzbewusstsein könnte, auch wenn es keine
Täuschung ist, immer noch innerhalb des naturalistischen Paradig-
mas als evolutionär dysfunktionaler Kollateralschaden der zerebralen
Entwicklung gesehen werden, durch den eine folgen- und bedeu-
tungslose kontemplative Einstellung ermöglicht wird. Um vom Be-
wusstsein der Kontingenz zum Aufbewahrtsein zu gelangen, müsste
Spaemanns Kennzeichnung des ›personalen Ortes‹ als ›Schwebe zwi-
schen Sein und Wesen, zwischen Absolutem und Endlichem‹ 70 durch
eine spekulative Aussage über dieses Absolute ergänzt werden, durch
die sich erst der Transfer des Gewesenseins in die Zukunft ergäbe.
Auch die Berücksichtigung der oben erläuterten Prämisse könnte die-
sen Mangel des Arguments in dieser Form nicht beheben.
Buchheims Widerlegung der zweiten Form des Arguments, die
er aufgrund des Einbezugs der Wahrheit, die »kein temporales Prä-
dikat« 71 ist, für leistungsfähiger hält, ist in sich stimmig, verfehlt
jedoch, wie nun gezeigt werden soll, Spaemanns argumentum ad
hominem durch Übergehen der erläuterten Prämisse. Buchheim gibt
die Struktur des Arguments in folgender Weise wieder:
1) Uns ist es in der Gegenwart möglich zu erkennen, was wirklich
der Fall ist. (Ausgangsthese, die wir von uns selbst für wahr hal-
ten möchten = Prämisse a)
2) Erkennen wir, was wirklich der Fall ist, so ist die Behauptung des
erkannten Sachverhalts wahr. (Explikation von (1), bezogen auf
einen angenommenen Fall)
3) Die wahre Behauptung eines Sachverhalts impliziert, daß das
mit ihr Ausgesagte immer wahr gewesen sein wird, auch wenn
der Sachverhalt selbst nicht mehr besteht. (Konstitutionsthese,
wonach Wahrheit zu einer Zeit in der Gegenwart Wahrheit für
alle Zukunft voraussetzen muß = Prämisse b)
4) Wahrheit ist zu definieren als »adaequatio rei et intellectus«.
(Standarddefinition der Wahrheit nach Thomas von Aquin und
anderen = Prämisse c)
5) Alles Wahre auch in beliebig ferner Zukunft impliziert gegebene
Adäquatheit zwischen einem ausgesagten Sachverhalt und
einem Aussage formulierenden Intellekt. (Korrespondenzthese
als Folgerung aus (4))

70 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82.


71
Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

6) Aller menschliche Intellekt wird einmal vergangen sein. (End-


lichkeitsthese = Prämisse d)
Konklusion:
Indem wir in der Gegenwart mit vollem Ernst die Wahrheit eines er-
kannten Sachverhalts behaupten, müssen wir annehmen, daß das
Wahrsein des Behaupteten nicht nur für uns, sondern für einen ewi-
gen Intellekt feststeht. 72
Nach Buchheim besteht der Vorzug dieser Form des Arguments da-
rin, dass mit dem Wahrsein, das »immer einen Modus des Seienden«
ausdrückt, im Unterschied zur ersten Form ein funktionierendes
Transferprinzip gegeben sei, »um das, was stattfindet, über die Zeit,
in der es stattfindet, hinauszuhieven« 73. Buchheims Kritik an dem
Argument in dieser Form kann folgendermaßen expliziert werden.
Spaemann nehme in Satz (2) »eine für das Argument zwar notwen-
dige, aber in der Sache gleichwohl unbegründete Einengung des
Wahrheitsverständnisses« 74 vor. Wahrheitsaussagen sind, so betont
Buchheim, nicht grundsätzlich von einer Erkenntnis abhängig, son-
dern können durch eine bestimmte Form der Aussage ausgezeichnet
sein:
Wahr ist nämlich nicht nur das, was jemand, der einen Sachverhalt
erkannt hat, mit behauptender Kraft aussagt. Sondern wahr ist unter
Umständen auch eine Aussage, die ohne behauptende Kraft und ohne
Erkenntnis des Sachverhalts formuliert oder ausgesprochen wird; und
zwar ist entweder diese Aussage oder ihre Verneinung wahr und des-
halb unter allen Umständen eine Disjunktion von jeder wohlformu-
lierten Aussage mit ihrer Verneinung (Bivalenzprinzip). Diese Eigen-
art des Wahren darf nicht übersehen werden, weil es dann offenkundig
nur eine Frage der Formulierung, nicht aber der Erkenntnis ist, ob
Wahres gesagt wird oder nicht. 75
Buchheim unterscheidet also zwei Bedeutungen von Wahrheit, zum
einen »das intendierte Formalobjekt aller Arten von Erkenntnis oder
Erfassung dessen, was ist«, zum anderen »Wahrheit im instrumentel-
len Sinn« 76. Nach dieser Begriffsklärung fragt Buchheim nach der
genauen Bedeutung des in Satz (3) aufgestellten Gedankens: »das

72 Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 44–45.


73 Ebd. 45.
74
Ebd. 46.
75 Ebd. 46–47.
76
Ebd. 47.

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

von einer (wahren) Behauptung Ausgesagte wird immer wahr ge-


wesen sein« 77. Gemäß den beiden Bedeutungen der Wahrheit unter-
scheidet er die nicht notwendige Spaemann’sche Explikation dieses
Satzes, die auf dem Verständnis von Wahrheit als Formalobjekt auf-
baut, von der seiner Meinung nach einzig zutreffenden Explikation,
nach der »die Formulierung des Sachverhalts eine Bedingung für die
Implikation möglicher Wahrheit« 78 ist. Insofern der Gedanke der
Wahrheit »Konvenienz zwischen einer Sache (dem betreffenden
Sachverhalt) und einer ihr entsprechenden Formulierung im Intel-
lekt« 79 impliziert, wird nach Buchheim »der im Argument verborge-
ne Irrtum sehr schnell offenkundig« 80. Er besteht nämlich in der Ver-
wechslung des »begrifflichen Zusammenhang[s] zwischen dem
Begriff der Wahrheit und formulierten Sachverhalten« und einer
»Existenzimplikation« 81. Dass ein jetzt wahrer Sachverhalt, wann
immer er in der Zukunft von einem Intellekt gedacht wird, in dessen
Denkakten immer wahr gewesen sein wird, erlaubt nicht den Schluss,
der bei Spaemann mitgedacht ist, dass es immer einen Intellekt geben
muss, der diesen wahren Sachverhalt denken wird. »Also ist das Aus-
gesagtwerden oder Formuliertwerden die Bedingung für die Fixie-
rung dessen, dem Wahrheit zukommen kann.« 82 Spaemanns Argu-
ment scheitert nach Buchheim an dieser Einsicht, die zeigt, dass wir
uns auch ohne den Schluss auf einen ewigen Intellekt »legitimerweise
als wahrheitsfähige Wesen verstehen« 83 können:
Weil das Argument aus dem futurum exactum der Wahrheit von der
uns möglichen Erkenntnis des Wahren ausgeht, d. h. den Begriff der
Wahrheit als intendiertes Formalobjekt zugrundelegt, anstatt als mög-
liches Prädikat von bestimmt formulierten Sachverhalten, entsteht
leichter die Suggestion, man benötige, um Wahrheit in ferner Zukunft
anzunehmen, einen sie dann noch erkennenden Verstand. Dies ist in-
dessen nicht der Fall, sondern das einzige, was man braucht, ist eine
meiner jetzigen äquivalente Formulierung des Sachverhalts. Daß (zu
beliebiger Zeit) eine äquivalente Formulierung des Sachverhalts an-
gebbar ist, ist aber ganz und gar unabhängig davon, ob es zu irgend-

77 Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 47.


78 Ebd. 49.
79 Ebd. 48.
80 Ebd.
81
Ebd. 49.
82 Ebd.
83
Ebd. 51.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

einer Zeit einen Verstand gibt, der diese Formulierung bereitstellt.


Schon meine jetzige Formulierung des Sachverhalts ist als logische
Form die gesamte Äquivalenzklasse solcher Formulierungen zu be-
liebiger Zeit, falls nicht der Psychologismus in der Logik wieder seinen
Einzug halten soll. So beweist meine heutige äquivalente Formulie-
rung die Formulierbarkeit des Sachverhalts für alle Zeiten, egal, ob es
jemand gibt, der dies dann durchführt oder nicht. 84
Spaemanns Argument scheitert nach Buchheim also auch in dieser
Form, wobei das zentrale Problem hier die Unterstellung einer Exis-
tenzimplikation für einen rein begrifflichen Zusammenhang ist.
Diese Widerlegung des Arguments in seiner zweiten Form durch
Buchheim ist in ihrer logischen Gedankenführung stringent und
schlüssig. Dass sie Spaemanns argumentum ad hominem nicht ge-
recht werden kann, lässt sich durch den Rückbezug auf die erläuterte
Prämisse zeigen. Die oben thematisierte Aktualisierung des plato-
nischen Wissensbegriffs, für die der Akt der Selbsttranszendenz auf
das Sein hin konstitutiv ist, muss bereits in der Ausgangsthese (1)
mitbedacht werden. Dort geht es mit der Erkenntnis dessen, was
wirklich der Fall ist, nicht um ein logisches Verhältnis, sondern um
ein ontologisches: »Sein ist […] kein Begriff, sondern das Korrelat
eines Aktes der Anerkennung.« 85 Die logisch einwandfreie Widerle-
gung von Spaemanns Argument gelang, wie gesehen wurde, durch
den ausdrücklichen Ausschluss der Existenzimplikation, die durch
die erläuterte Prämisse unterlaufen wird. Nach ihr liegt nämlich der
wahren Behauptung eines Sachverhalts eine Wahrnehmung von Sein
als Jenseits des Begriffs zugrunde. Wenn die Möglichkeit einer sol-
chen Wahrnehmung von Sein in Satz (1) als Prämisse aufgenommen
wird, verliert Buchheims Widerlegung des Arguments ihre Strin-
genz. Der Einwand gegen Satz (2) kann unter Hinweis auf Spae-
manns in der Prämisse behauptetes Wahrheitsverständnis als Wahr-
nehmung von Sein zurückgewiesen werden. Mit Bezug auf Satz (3)
kann die Spaemann’sche Explikation, dass wahre Behauptungen sich
auf ein Sein als Jenseits des Begriffs beziehen, verteidigt werden. Aus
dem Argument in seiner zweiten Form folgt damit unter Berücksich-
tigung der Prämisse in der Tat: Wenn es irgendwie ist, eine Fleder-
maus zu sein, existiert Gott. Das heißt, dass das Existieren ihres uns
denkbaren Soseins nicht nur ›erkannt‹, sondern eben doch ›auf-

84 Buchheim, Erkannt, aber nicht aufbewahrt, 49–50.


85
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.

722

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

bewahrt‹ ist. Der somit behauptete Zusammenhang zwischen Wahr-


heitsfähigkeit und Gottesglauben steht insofern nicht im Wider-
spruch zur Konsistenz der Leugnung Gottes, die Buchheim zurecht
bewahrt wissen will, als durch die Prämisse die Wahrheitsfähigkeit
um eine Zusatzannahme ergänzt wird. Spaemann denkt Wahrheits-
fähigkeit im Sinne des metaphysischen Realismus. Somit gilt aller-
dings durchaus, dass die konsistente Leugnung Gottes auch die Ab-
lehnung dieser Weltsicht impliziert.
Sein argumentum ad hominem bezeichnet Spaemann selbst als
einen »Gottesbeweis, der sozusagen nietzsche-resistent ist« 86. Spae-
manns Auseinandersetzung mit Nietzsche in diesem Sinn reicht weit
zurück in die Vergangenheit. Im Zusammenhang mit der Geschichte
des teleologischen Denkens wurde die unikale Bedeutung Nietzsches
für das philosophische Denken bereits thematisiert. 87 Die Besonder-
heit Nietzsches besteht für Spaemann in der Radikalität eines Den-
kens, durch das das Denken selbst »in der Dimension eines ontologi-
schen Irrtums« 88 verortet wird. Schon in »Natürliche Ziele« wiesen
Spaemann und Löw darauf hin, dass Nietzsche selbst den inneren
Widerspruch seiner Philosophie erkannte, der darin besteht, dass er
zur Artikulation der Einsicht in die Absurdität der Welt noch der
Sinnstrukturen der menschlichen Sprache bedurfte: »Ich fürchte,
wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glau-
ben …« 89 In »Der letzte Gottesbeweis« knüpft Spaemann erneut an
Nietzsche an, und es stellt sich die Frage, inwiefern seine Auseinan-
dersetzung mit ihm hier ein neues Niveau erreicht hat. »Was Nietz-
sche prinzipiell in Frage stellte,« schreibt Spaemann, »war die Wahr-
heitsfähigkeit der Vernunft und damit der Gedanke von so etwas wie
Wahrheit überhaupt.« 90 Auf diese Herausforderung des Denkens
kann nicht mehr direkt durch eine Argumentation geantwortet wer-
den: »Wenn einmal der Gedanke, im Absurden zu leben, aufgetaucht
ist, dann ist die bloß erkenntnistheoretische reductio ad absurdum
keine Widerlegung mehr.« 91 Worum es Spaemann in seinem argu-

86 Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 31.


87 Vgl. in Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei
Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ateleologischen Teleologie und dem Ende
des Denkens bei Nietzsche, 268–272.
88 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 166.

89
Nietzsche, Werke, Bd. 6, Götzendämmerung, 78.
90 Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 27.

91
Ebd. 29.

723

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

mentum ad hominem wesentlich geht, ist zu zeigen, dass es bei der


Antwort auf die mit dem Namen Nietzsches bezeichnete Herausfor-
derung um einen komplexen Zusammenhang geht, über den insge-
samt geurteilt werden muss. Rolf Schönberger bestimmt diesen Zu-
sammenhang in seinem Kommentar zu Spaemanns Gottesbeweis wie
folgt: »Wahrheit, Sinn, Personalität und eben auch die Gottesidee bil-
den eine Konfiguration, die man nur insgesamt bejahen oder bestrei-
ten kann.« 92 Angesichts dieser Konfiguration stellt Schönberger eine
Frage, die auf das hier thematisierte Verhältnis von Glaube und Wis-
sen zielt:
Die Frage ist freilich, ob diese Bejahung, die in der Tat den rationalen
Operationen vorausliegt, die Form eines Glaubens haben muss. Denn
dieser Glaube steht seinerseits vor der Alternative, ein begründeter
oder ein unbegründeter Glaube zu sein. Im ersten Fall ist seine ratio-
nale Form schon bestätigt; im zweiten Fall beziehen wir uns wenigs-
tens negativ auf eine solche. Es scheint daher, dass wir von Sinn bzw.
Bedeutung bereits dann reden müssen, wenn wir von Bewusstsein re-
den. Es ist »etwas«, von dem wir schlechterdings nicht absehen kön-
nen. Sinn scheint eine Dimension zu sein, in der wir als bewusste
Wesen immer schon uns bewegen und sind. 93
Schönbergers Erwägung ist meines Erachtens nur in der Hinsicht
nicht zuzustimmen, als er darin eine »Alternative zu Spaemanns Vor-
schlag« 94 zu erkennen meint. Spaemann spricht in dem von Schön-
berger kommentierten Text ausdrücklich von der »Welt von Bedeu-
tung und Sinn, die mit dem Leben auftaucht« 95. Vom teleologischen
Aussein-auf führt bei Spaemann eine direkte Linie über die Persona-
lität zum Argument für die Existenz Gottes. Im Sinne der angestell-
ten Überlegungen zum Verhältnis von Wissen und Glaube bei Spae-
mann handelt es sich bei der zu bejahenden Konfiguration durchaus
um den Inhalt eines Wissens in diesem spezifischen Sinn. Der Sinn
des argumentum ad hominem ist letztlich, dass die im lebendigen
Aussein-auf fundierte personale Selbsterfahrung nur dann keine
Selbsttäuschung ist, sondern Wahrheitsfähigkeit im Sinne des Aktes
der Selbsttranszendenz bedeutet, wenn als Ende des Denkens eine

92 Schönberger, Gott denken, 112.


93
Ebd.
94 Ebd.
95
Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 25.

724

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9.3.1 Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und Glaube

Instanz angenommen werden kann, die dem lebendigen Aussein-auf


selbst zugrunde liegt.
Zum Abschluss dieses Abschnittes soll noch eine letzte grund-
sätzliche Überlegung zum Verhältnis von Wissen und Glauben bei
Spaemann angestellt werden. In mehreren Texten bezieht er sich auf
neuere musikwissenschaftliche Untersuchungen zu den Violinsona-
ten Johann Sebastian Bachs:
Die Musikwissenschaftlerin Hertha [sic] Thoene hat vor einigen Jah-
ren in der Violinsonate g-moll von Bach folgende Doppeltcodierung
entdeckt: Wenn man ein bestimmtes, von der Kabbala beeinflußtes
formales Schema von Buchstaben und Zahlen zugrundelegt – das Ver-
fahren nannte sich ›Gemantia‹ –, dann tritt plötzlich der alte Rosen-
kreuzerspruch entgegen: Ex Deo nascimur, in Christo morimur, per
spiritum sanctum reviviscimus. Die Sonate ist eine wundervolle Mu-
sik. Die Musikalität ihrer Konfiguration von Noten reicht vollkom-
men, um zu der Gewißheit zu gelangen, man habe verstanden, warum
Bach sie so und nicht anders niederschrieb. Wer aber, einem Gerücht
folgend, vermutet, daß hier noch etwas verborgen sein könnte, und
den Versuch macht, nach einer weiteren Botschaft zu suchen, dem tritt
auf einmal eine neue, ungeahnte Dimension dieser Musik vor
Augen. 96
Spaemann zieht diesen Vergleich mit der ›Doppelcodierung‹ von Mu-
sikwerken heran, um zu verdeutlichen, dass eine im Sinne des Natu-
ralismus wissenschaftliche Deutung der Welt nicht im Widerspruch
zu einer religiösen Deutung derselben Welt stehen muss. Man kann
diesen Gedanken der Doppelcodierung aber auch auf Spaemanns
Denken selbst, zumal in dem hier betrachteten Zeitabschnitt bezie-
hen. Theologische und philosophische Gedanken stehen in diesem
Abschnitt bei Spaemann oft so nebeneinander, dass sich in ihnen ver-
schiedene Interpretationen auf denselben Sachverhalt beziehen. Dies
sei am Beispiel des Selbstseins verdeutlicht. Der Kern der Ontologie
der Person ist eine Wahrnehmung von Selbstsein, das per definitio-
nem nicht als Phänomen gegeben ist. 97 Der Schritt über sich hinaus
zum Anderen in der Begegnung kann als zentrales Thema von Spae-
manns Philosophie angesehen werden. Die »Entscheidung gegen den
Solipsismus« nennt er dabei eine »metaphysische«, und zwar »die

96
Spaemann, Deszendenz und Intelligent Design (2006), 63–64. – Die Musikwissen-
schaftlerin, von der die Rede ist, heißt Helga Thoene.
97
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 193.

725

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

metaphysische Entscheidung« 98. An einer anderen aus demselben


Zeitraum stammenden Textstelle spricht Spaemann mit Bezug auf
diese von einem theologischen Gedanken:
Daß Subjekte als Subjekte »in Wahrheit sind«, ist eins mit der Be-
hauptung, daß sie als Subjekte erkennbar und erkannt sind. Daß sie
also nicht neben ihrer Innenseite auch eine Außenseite haben, son-
dern daß ihre Innenseite als Innenseite nicht nur für sie selbst ist.
Diese Behauptung aber ist tatsächlich eine theologische Behauptung,
oder sie ist sinnlos. Sagen »ich bin« heißt sagen »Gott ist« oder: »Sein
selbst ist von der Weise der Innerlichkeit«. (Die christliche Trinitäts-
lehre besagt, daß das Objektivsein des Für-sich-Seins die Struktur des
absoluten Seins selbst ist.) 99
Es ist nach meiner Überzeugung nicht sinnvoll, philosophische Aus-
sagen Spaemanns gegen theologische Aussagen auszuspielen und
umgekehrt. Vielmehr scheint es mir so zu sein, dass es sich hier um
zwei Betrachtungsweisen derselben Gegenstände handelt. In einem
Interview aus dem Jahr 2007 antwortete Spaemann auf die Frage nach
dem Kerngedanken seiner Philosophie:
Mir geht es vor allem um zwei Einsichten. Die eine betrifft die Natur
des Lebendigen. Mit dem Lebendigen tritt etwas in die Welt, das aus
Nichtlebendigem nicht herleitbar ist. Was ist das? Es ist das, was ich
mit Hegel Negativität nenne. Negativität ist aus Positivität, Minus aus
Plus, Schmerz aus bloßem Vorhandensein nicht herleitbar. Lebendiges
ist nicht einfach Faktizität, sondern Aus-sein-auf. Damit gibt es für
Lebendiges die Differenz zwischen dem Richtigen und dem Falschen,
dem Gelingen und Mißlingen, dem Guten und dem Schlechten. Das
bedeutet: es gibt eine fundamentale Ähnlichkeit zwischen uns und
allem, was lebt. Natur ist nicht nur Objekt unserer Herrschaft, son-
dern »Mitsein«. Und es scheint mir für die Zukunft unserer Gattung
entscheidend zu sein, daß diese Einsicht wiedergewonnen wird.
Die andere zentrale Einsicht ist das Ende des Denkens. Es ist die
Einsicht: Gott ist. Es gibt das andere Ende des Denkens: die materialis-
tische Annahme, Denken sei nur ein materieller Prozeß, und wir seien
nicht, für was wir uns halten: wahrheitsfähige, freie Wesen. Dieses
Ende ist Zusammenbruch. Das andere Ende bedeutet die Gründung
des Denkens in unvordenklichem Licht. Nur diese Gründung rechtfer-
tigt – das hat Nietzsche gesehen – das Vertrauen in unsere Vernunft.
Glaube und Vernunft sind so wenig Gegensätze, daß vielmehr Ver-

98 Spaemann, Über den Begriff einer Natur des Menschen (2002), 248.
99
Spaemann, Gottesbeweise nach Nietzsche (1998), 48.

726

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

nunft selbst auf einem Glauben beruht. Descartes hat uns belehrt, daß
wir auch am Evidentesten zweifeln können. Aber sogar der Zweifel
setzt Gott voraus. Denn er setzt voraus, daß es einen Wahrheitsraum
gibt, der nicht identisch ist mit dem Raum unseres Bewußtseins. Die-
sen Raum aber gibt es nur, wenn es Gott gibt. 100
Im Sinne dieses Selbstkommentars kann man zwei Richtungen der
Denkbewegung bei Spaemann unterscheiden. Einerseits geht er aus
von dem in der Selbsterfahrung gegebenen lebendigen Aussein-auf
und gelangt vom teleologischen Denken am Ende zur Personalität, in
der eine für seine Ontologie selbst konstitutive Grenze des philoso-
phischen Denkens erreicht wird, – konstitutiv deswegen, weil an die-
ser Grenze sich das Ende des Denkens mit dem Ausgangspunkt beim
lebendigen Aussein-auf berührt. Andererseits ist dieses antizipierte
Ende des Denkens – »die Einsicht: Gott ist« – der Beginn einer gegen-
läufigen Denkbewegung, die wieder beim Gedanken der Schöpfung
ankommt. Zum Selbstverständnis dieses Denkens gehört, dass diese
beiden Betrachtungsweisen durch ihren identischen Gegenstand in
seiner doppelten Codierung kongruent sind. Und das heißt, dass es
die genuin philosophische Möglichkeit gibt, ausgehend von der
menschlichen Selbsterfahrung durch rationale Operationen an die
Grenze des Denkens zu gelangen. Dieser genuin philosophischen
Richtung seiner Denkbewegung wendet sich nach diesem Versuch
einer Verhältnisbestimmung von Wissen und Glaube der letzte Ab-
schnitt der vorliegenden Untersuchung von Spaemanns Werk zu.

9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

Im Mittelpunkt des letzten Abschnitts der Untersuchung von Spae-


manns Werk stehen zwei späte Texte, die mit einigem Recht als
›Summen‹ seines Philosophierens gelesen werden können. Es handelt
sich dabei zum einen um den im Jahr 2000 zuerst veröffentlichten
Essay »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« 101, der auch den auf

100 Spaemann/Nissing, Die Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008),

135–136.
101 Zuerst erschienen in: Was heißt »wirklich«? Unsere Erkenntnis zwischen Wahr-

nehmung und Wissenschaft (= Sonderdruck der Vortragsreihe in der Bayerischen


Akademie der Schönen Künste), Waakirchen-Schaftlach 2000, 13–34. Wieder abge-
druckt in: Nissing (Hrsg.), Grundvollzüge der Person, 13–35, und in: Spaemann,
Schritte über uns hinaus. Gesammelte Reden und Aufsätze II, 188–215.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

ein Symposion anlässlich des 80. Geburtstags Spaemanns im Jahr


2007 zurückgehenden Beiträgen des Sammelbands »Grundvollzüge
der Person« vorangestellt ist. 102 Ausgehend von der These, dass es
kein Kriterium gibt, »um das Wirkliche vom Unwirklichen zu unter-
scheiden« 103, und der Beobachtung, dass in der Entwicklung des neu-
zeitlichen Denkens Wirklichkeit zunehmend verdrängt wird durch
ihre Simulation, sucht Spaemann hier nach einem alternativen Zu-
gang zur Wirklichkeit, zu dessen Freilegung er kursorisch eine Reihe
zentraler Gedanken seines Philosophierens rekapituliert. Der zweite
Text mit dem Titel »Die zwei Interessen der Vernunft« entstammt
Spaemanns 2012 veröffentlichter Autobiographie in Gesprächen
»Über Gott und die Welt«. Mit einer Ausnahme beginnen alle Kapitel
dieses Buches mit einer Frage Stephan Sattlers an Spaemann. Das
zehnte und letzte Kapitel dagegen ist ein in sich geschlossener phi-
losophischer Essay, dessen Positionierung an dieser Stelle dem Text
bereits besonderes Gewicht verleiht. Ausgehend von verschiedenen
Erscheinungsformen des neuzeitlichen Dualismus von Naturalismus
und Spiritualismus führt Spaemann hier deren »Dialektik, in welcher
jede Position unbewusst und unfreiwillig in die entgegengesetzte Po-
sition umschlägt« 104, auf den in der Neuzeit in Vergessenheit gerate-
nen inneren Zusammenhang zweier fundamentaler Interessen der
menschlichen Vernunft zurück. Im Zuge der Darstellung dieser bei-
den Interessen und der Explikation ihres Zusammenhangs rekapitu-
liert Spaemann, ähnlich wie in dem ersten Text, kursorisch eine Reihe
zentraler Gedanken seines Philosophierens. Die Betrachtung dieser
beiden gut zehn Jahre auseinanderliegenden Texte fügt inhaltlich der
Untersuchung von Spaemanns Werk in dieser Arbeit kaum etwas
hinzu. Der Sinn dieser vergleichenden Betrachtung besteht darin zu
zeigen, dass in beiden Texten bei unterschiedlichen leitenden Frage-
stellungen jeweils dieselbe philosophische Grundkonzeption erkenn-
bar wird. Es geht dabei im Wesentlichen um den Zusammenhang des
Lebensbegriffs – also des teleologischen Denkens – mit dem Begriff

102 Vgl.: »Die grundlegende Bedeutung, die unserem Selbstverständnis als Personen
für unseren Zugang zur Wirklichkeit überhaupt zukommt, entfaltet Robert Spae-
mann in seinem Beitrag Wirklichkeit als Anthropomorphismus, der zugleich als
›Summe‹ seiner Philosophie der Person verstanden werden kann«. – Vorwort von
H.-G. Nissing, in: Nissing (Hrsg.), Grundvollzüge der Person, 8. – Vgl. auch Seit-
schek, Grundvollzüge der Person [Rezension], 592.
103 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189.

104
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 322.

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

der Personalität in der im achten Kapitel explizierten Bedeutung. Die


kursorische Betrachtung dieser beiden Begriffe und ihres Zusammen-
hangs in den beiden Essays schließt als notwendige Implikationen die
Thematisierung der Entteleologisierung und der möglichen Erneue-
rung des teleologischen Denkens, der Verhältnisbestimmung von
Personalität und lebendiger Zentralität und der Spezifik der persona-
len Wahrnehmung auch in Bezug auf Lebendiges bzw. Seiendes ein.
Darüber hinaus erlauben die beiden Texte aus der Perspektive des
Spätwerks einen Rückblick auf Spaemanns Auseinandersetzung mit
der Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung, die sich wie ein
roter Faden durch sein Werk und dessen Untersuchung in der vor-
liegenden Arbeit zog. Wie ich im Folgenden darlegen möchte, finden
sich in den beiden genannten Texten in großen Zügen die hier expli-
zierten inneren Zusammenhänge der Philosophie Spaemanns wieder.
Ein Leser, der durch einen dieser Texte Bekanntschaft mit dem Werk
Spaemanns macht, wird diese Zusammenhänge sicher nicht in ihrer
Komplexität begreifen können; dennoch geben beide Texte durch die
in ihnen enthaltenen Kernthesen der Spaemann’schen Philosophie
und seine philosophiehistorischen Verortungen ein gültiges Netz an
Orientierungspunkten, von denen aus eine vertiefende Beschäftigung
mit den verschiedenen Bereichen seines Denkens möglich ist. Nach
der Darlegung der mit den Grundüberzeugungen seines Philosophie-
rens verbundenen Parallelen beider Texte sollen die Intentionen des
Autors im Hinblick auf die unterschiedlichen Kontexte der beiden
Essays verglichen und ein Fazit der vergleichenden Analyse gezogen
werden.
Der fundamentale Begriff von Spaemanns Philosophie ist ›Le-
ben‹. Diesen Begriff bilden wir ausgehend »von unserer Erfahrung
des realisierten Könnens eines Wesens, das auf etwas aus ist« 105:
»Leben, das heißt Aus-Sein-auf-etwas, Streben nach etwas, wenigs-
tens Streben danach zu sein. Ein lebendes Wesen verstehen heißt
seine Tendenz verstehen.« 106 Von größter Bedeutung ist es festzu-
halten, dass dieser Begriff ein Unvordenkliches ist, d. h. dass jedem
Denken dieses Begriffs eine Erfahrung zugrunde liegt:
Wenn wir uns dessen bewusst werden, dass wir in heiterer Stimmung
sind, dass wir Hunger oder leichte Kopfschmerzen haben, erleben wir
diese Stimmung, diesen Hunger oder diese Kopfschmerzen als etwas,

105 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 203.


106
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

das wir schon hatten, ehe es uns zu Bewusstsein kam. Gefragt, was
denn der Hunger war, ehe er uns bewusst wurde, können wir natürlich
nicht antworten. Denn nur der bewusste Hunger ist uns bewusst. Und
doch ist es Teil dieses Bewusstseins, dass der Hunger schon vorher da
war und dass er durch das Bewusstwerden erst in ein neues Stadium
eintritt. Vorher war er etwas Ähnliches wie der bewusste Hunger: der
bewusste Hunger abzüglich des Bewusstseins. Das kann ich nur nega-
tiv ausdrücken, aber ich kann dafür keine positive Formulierung
finden. 107
Der einzig mögliche Zugang zum Leben im Bewusstsein besteht in
der gedanklichen Operation einer Subtraktion, in der vom bewussten
Vollzug der Selbsterfahrung oder von wahrgenommenen Lebensvoll-
zügen anderer Wesen auf ein ihm zugrunde liegendes Unvordenk-
liches geschlossen wird: »Was Ursprung, Selbstheit und Spontaneität
heißt, können wir nur wissen, weil wir uns selbst als Selbstsein erfah-
ren.« 108 Was die philosophiehistorische Bedeutung des Lebensbegriffs
anbelangt, bezieht Spaemann sich in beiden Texten auf »die klassische
Trichotomie« 109 von Sein, Leben und Denken und auf die Deutung
von Bewusstsein als Steigerung von Leben bei Thomas von Aquin. 110
Der Wegfall des Lebensbegriff und damit der »programmatische[…]
Verzicht auf jede Teleologie in der Naturbetrachtung« 111 am Beginn
der Neuzeit wird in beiden Texten in Zusammenhang gebracht mit
Francis Bacon. 112 Als Resultat dieses Umbruchs wird jeweils auf den
cartesischen Dualismus verwiesen:

107 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 200.


108 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 343.
109 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208. – Vgl. Spaemann,

Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333.


110 In beiden Texten zitiert Spaemann dasselbe Zitat, einmal auf Deutsch: »›Wer nicht

erkennt,‹ schreibt Thomas von Aquin, ›der lebt nicht vollkommen, sondern hat nur
ein halbes Leben.‹« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208,
– einmal auf Latein: »So kann Thomas sagen: Qui non intelligit, non perfecte vivit,
sed haben dimidium vitae«. – Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012),
340.
111 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202.

112 Vgl.: »Bacon erklärte, solche Betrachtungen seien unfruchtbar wie gottgeweihte

Jungfrauen. Die Zeit, in der man gottgeweihte Jungfrauen schätzte, war für Bacon
vorbei.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202, – und:
»Francis Bacon dagegen verabschiedete die causa finalis ganz allgemein ›tamquam
virgo Deo consecrata, quae nihil parit‹, wie eine gottgeweihte Jungfrau, die nichts
gebiert. Er schätzte gottgeweihte Jungfrauen offenbar nicht. Sie sind nicht produktiv.
Um die Natur zu beherrschen, ist es eher lästig, die inneren Tendenzen natürlicher

730

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

Res cogitans und res extensa haben nichts mehr gemeinsam. Denn der
Begriff, der sie vergleichbar macht, ist verschwunden: der Begriff des
Lebens. Die alte Trias Esse – vivere – intelligere wird reduziert auf den
Dualismus Sein – Bewusstsein. Leben ist für Descartes ein unklarer,
ein diffuser Begriff. Entweder ist das Lebewesen ein bewusstes Sub-
jekt, oder es gehört zur Welt der res extensa, zur Welt der trägen
Objekte. 113
Der cartesische Dualismus liegt nach Spaemann dem »anthropozen-
trischen Denken[…] der neuzeitlichen Wissenschaft« 114 und damit
der »Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus« 115 zugrunde,
die die wesentlichen Bezugspunkte der kritischen Seite von Spae-
manns Philosophie sind.
Der zweite Hauptbegriff der Spaemann’schen Philosophie ist
›Person‹, der, wie gesehen, ohne prädikative Bedeutung von Men-
schen – nicht zwangsläufig ausschließlich von ihnen – ausgesagt wird
und in diesem Fall eine Distanz zur menschlichen Natur ausdrückt:
Personen geben einander zu verstehen, dass sie selbst noch etwas jen-
seits dessen sind, als was sie sich zeigen. Der Schmerz des Anderen ist
nicht mein Schmerz. Zu einer absoluten Gewissheit aber wird uns
diese Differenz dort, wo wir selbst diejenigen sind, zu denen und über
die gesprochen wird. Ich mag mir einbilden, der Andere sei nur mein
Traum. Ich kann von mir nicht denken, ich sei nur der Traum des
Anderen. 116
Wie in »Personen« spricht Spaemann in »Die zwei Interessen der
Vernunft« von der »exzentrischen Position« 117 und dem »view from
nowhere« 118, die die innere Distanz der Person zur eigenen Natur
zum Ausdruck bringen, 119 »denn indem wir einen Elan verspüren,
einen spontanen Impuls, spüren wir gleichzeitig die Möglichkeit,

Wesen zu verstehen. Es genügt, die Gesetze ihres Funktionierens zu verstehen.« –


Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335.
113
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333–334. – Vgl. auch: Spae-
mann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208.
114 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 201.

115 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 322.

116 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 198.

117 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 328.

118 Ebd. 327.

119
Auch wenn Spaemann in diesem Text stets vom ›Menschen‹ und nicht dezidiert
von der ›Person‹ spricht, geht es hier im Sinne der Distanzierung von der eigenen
Natur um das, was bei ihm sonst als Person bezeichnet wird.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

uns auf diesen Impuls zu beziehen, ihn freiwillig in unseren Willen


aufzunehmen oder uns von ihm zu distanzieren« 120. Die Distanz zur
eigenen Natur ist das Ergebnis der für die Bedeutung der Personalität
zentralen »Selbsttranszendenz« 121, deren höchster Ausdruck Liebe
ist:
Wir können es »Liebe« nennen, wenn wir darunter die Bewegung ver-
stehen, mit dem das Andere für mich wirklich wird. Fieri aliud in-
quantum aliud, das Andere als das Andere werden, so lautete eine
tiefsinnige Definition von Erkenntnis bei Johannes a Sancto Thoma,
einem spanischen Thomisten des 17. Jahrhunderts. Aber aus dieser
Definition ergibt sich auch die Differenz zwischen jener Art von Be-
gierde und dem, was die Alten amor benevolentiae nannten, Wohl-
wollen, wohlwollende Liebe, die Leibniz definierte als delectatio in
felicitate alterius – »Freude am Glück des Anderen«. 122
Damit ist bereits die prinzipielle Pluralität von Personen angespro-
chen, auf die Spaemann in »Wirklichkeit als Anthropomorphismus«
explizit hinweist, wobei auch der theologische Ursprung des Begriffs
in der christlichen Trinitätslehre thematisiert wird. 123 Die Person als
eine sich prinzipiell entziehende gewinnt ihre Denkbarkeit erst in
einem Zusammenhang, für den Spaemann hier die Begriffe »Begeg-
nung« 124 bzw. »Beziehung« 125 wählt: »Jede Person ist für sich wirk-
lich, weil sie für sich das Ganze der Beziehung realisiert, in der sie
a priori zu allen anderen Personen steht: die Beziehung der Anerken-
nung.« 126

120 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 344. – An dieser Stelle be-

zieht Spaemann sich auch wie in »Personen« auf die ›secondary volitions‹ Harry
Frankfurts.
121 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204, 211, 214, und

Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 323, 339.


122 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 339–340. – Vgl.: »Diejenige

Öffnung für Wirklichkeit, die der Wirklichkeit vollständig adäquat ist, nennen wir
Liebe. Valentin Tomberg hat Liebe definiert als das Wirklichwerden des Anderen für
mich. In jener Liebe, die in der Sprache der Tradition amor benevolentiae hieß, hört
der Andere auf, Umwelt für mich zu sein, also ein vielleicht wichtiger Gegenstand, an
dem ich hänge und der für mich große Bedeutung hat. In der Liebe realisieren wir,
dass der Andere ebenso wirklich ist wie wir selbst, und wir lernen uns selbst als Teil
der Welt des Anderen sehen, so wie er Teil unserer Welt ist.« – Spaemann, Wirklich-
keit als Anthropomorphismus (2000), 207.
123 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 196–197.

124
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341.
125 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 213.

126
Ebd. 211.

732

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

Wie sich in der hier vorgelegten Untersuchung der Entfaltung


von Spaemanns Denken gezeigt hat, ist ein Schlüssel zum Verständ-
nis seiner Intention die Verbindung von Teleologie und Personali-
tät, 127 weswegen ihr hier auch besondere Aufmerksamkeit geschenkt
werden soll. In »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« weist Spae-
mann auf den Zusammenhang der Personalität mit dem cartesischen
Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹ hin:
Was fügt denn dieses sum, dieses »ich bin«, dem cogito, der Feststel-
lung »ich denke«, hinzu? Es fügt hinzu, dass mein »ich denke« nicht
nur ein »ich denke, dass ich denke, dass ich denke« und also nur für
mich wahr ist, sondern dass diese meine Subjektivität eine objektive
Wirklichkeit ist – und das meinen wir mit Personen: Eine objektive
Wirklichkeit, die für jedes wahre Urteil maßgebend ist. 128
Spaemann thematisiert hier nur sehr verknappt seine Distanzierung
von der cartesischen Hypostasierung des ›cogito‹ zu einer unabhän-
gigen Entität. Dass der »Raum der Wirklichkeit«, wie er hier fest-
stellt, nur dann »größer ist als der Raum meines Bewusstseins«,
»wenn es noch andere Wesen gibt, für die es wahr ist, dass ich Be-
wusstsein habe« 129, impliziert bereits die alternative, sich von der
cartesischen Theologisierung der Ontologie distanzierende meta-
physisch-analoge Deutung des Schrittes zum ›sum‹, ohne dass diese
verschiedenen Deutungen und ihr Zusammenhang mit der neuzeit-
lichen Entteleologisierung hier explizit benannt würden. Implizit
wird im Rahmen des Essays der fundamentale Zusammenhang des
Ausseins-auf mit der Personalität sehr wohl ausgedrückt, insofern
betont wird, dass die Anerkennung anderen Selbstseins das Transzen-
dieren des lebendigen Ausseins-auf voraussetzt:
Sein im Sinne von Wirklichkeit ist nicht ein empirisches Datum. Es
zwingt sich nicht auf. Um es zu realisieren, bedarf es eines freien Aktes
der Vernunft. Das muss nicht ein ausdrücklicher und reflektierter Akt
sein, aber in diesem Erlebnis steckt schon Freiheit: die Möglichkeit,
meine Zentralstellung aufzugeben und zu sehen, dass es außerhalb
meiner ein Selbstsein gibt, das nicht durch Objektsein für mich de-

127 Vgl. insbesondere Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie

und Personalität, 583–599.


128 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 194.

129
Ebd.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

finiert ist. Nur in einem Akt der Anerkennung ist die Person als Per-
son gegeben. 130
Auch in »Die zwei Interessen der Vernunft« vergleicht Spaemann die
Perspektive des Tieres, für das »alles, was ihm begegnet, Umwelt und
als solches Träger unveränderlicher Bedeutungen« 131 ist, mit der des
Menschen, der »als nicht definitiv angepasstes Wesen […] sich
immer schon dessen bewusst [ist], dass andere Wesen von Tendenzen
bestimmt sind, die sich nicht durch die Weise definieren, wie sie uns
erscheinen« 132. Dabei betont er den Zusammenhang zwischen der
Personalität und der lebendigen Zentralität, die durch sie transzen-
diert wird: »Die conditio humana ist weder rein biologisch noch rein
spirituell. Die natürliche Ordnung wird nicht außer Kraft gesetzt,
sondern in einen vernünftigen ordo amoris transformiert.« 133 Seine
eigentliche Bedeutung erhält dieser Zusammenhang in der persona-
len Wahrnehmung von nicht bewusstem Lebendigem und nicht le-
bendigem Seiendem. Die im Transzendieren der lebendigen Zentrali-
tät anerkennbare »Gegebenheitsweise anderer Personen« ist »das
Paradigma für die Gegebenheit von Wirklichkeit überhaupt« 134:
Wir beanspruchen nicht, wissen zu können, wie es ist, eine Fleder-
maus zu sein. Aber wir setzen voraus, dass es irgendwie ist, eine Fle-
dermaus zu sein, während es nicht irgendwie ist, ein Auto oder ein
Computer zu sein. Das heißt, wir erkennen der Fledermaus »Sein«
zu. Dieses Sein, das sie mit uns gemeinsam hat, heißt »Leben«. »Le-
ben«, schreibt Aristoteles, »ist das Sein der Lebewesen«. Leben, wie
wir es selbst erfahren, ist nicht ein bestimmter komplexer Zustand
von Materie. Ich erfahre mich nicht als Zustand von etwas, das nicht
Mensch ist. Der Mensch ist, um mich wieder aristotelisch auszudrü-
cken, lebendige Substanz, also eigentliche und primäre Wirklichkeit,
von der vielerlei Zustände existieren können, die aber selbst nicht Zu-
stand, sondern basaler Träger und Inbegriff von Zuständen ist. Und so
auch, nehmen wir an, die Fledermaus. Wir billigen ihr Leben, also
Selbstsein zu. 135
Was die menschliche Person mit der Fledermaus verbindet, ist das,
»was der Bedeutung des Wortes physis zugrunde liegt«: »Aristoteles

130 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 199.


131 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 337.
132 Ebd. 338.
133
Ebd. 328.
134 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 197.
135
Ebd. 198–199.

734

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

hat eine Definition von physis gegeben, die Lebewesen als Paradigma
für Substanzen benutzt, das heißt als Paradigma für Seiendes, das
etwas an sich selbst ist.« 136 In beiden Essays wiederum beruft Spae-
mann sich auf Whitehead – den »wohl bedeutendste[n] Metaphysiker
unseres zu Ende gegangenen Jahrhunderts« 137 – und dehnt die per-
sonale Wahrnehmung von Selbstsein auf den Bereich des nicht leben-
digen Seienden aus:
Wir wissen schon nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein. Wie es ist,
ein Elementarteilchen zu sein, wissen wir noch weniger. Aber White-
head geht davon aus, dass es irgendwie sein muss, falls wir berechtigt
sind von Wirklichkeit zu sprechen. Denn Wirklichkeit ist nie nur Ob-
jektivität für Subjekte und nie bloß inhaltslose Subjektivität. »Wirk-
lich« nennen wir etwas nur, wenn es eine – wenn auch noch so rudi-
mentäre – Art von Subjektivität hat, und wenn diese Subjektivität
einen objektiven Gehalt hat, wenn sie etwas »erlebt«. 138
Im Zusammenhang mit dieser Anerkennung von Seiendem über-
haupt – also auch von nicht Lebendigem – als Sein und damit als eine
Art von Selbstsein spricht Spaemann von der »letzte[n] Vorausset-
zung der Philosophie, die wir nicht ihrerseits noch einmal begründen
können« 139. Diese Unmöglichkeit stellt, wie gesehen, 140 dann keinen
Mangel mehr dar, wenn die Forderung nach einer solchen Begrün-
dung als ein sekundärer Gedanke erkannt wird, der erst möglich wird
durch die Rücknahme der personalen Perspektive, in der Sein als
Selbstsein immer schon gegeben ist und die ihrerseits als historisch
gewordene ein kontingentes historisches Faktum ist, das keiner Be-
gründung bedarf.
Beide Essays enthalten neben diesen die Kohärenz des Spae-
mann’schen Denkens begründenden Gedankenkomplexen auch zahl-
reiche Reflexe seiner Auseinandersetzung mit der Geschichte der
Philosophie, die sich wie ein roter Faden von der Dissertation über
de Bonald bis in seine letzten Publikationen verfolgen lässt. Am An-
fang der vorliegenden Untersuchung seines Werkes stand die Zeit-
diagnose der ›Entzweiung‹, aus der die programmatische Aufgabe

136 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 343.


137 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 209.
138 Ebd. 209–210.

139
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 341.
140 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 583–599.

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

der Philosophie, »die Zusammengehörigkeit des Entzweiten ins Be-


wusstsein zu heben« 141, abgeleitet wurde. In einem kursorischen
Überblick soll gezeigt werden, wie diese in den vorliegenden Unter-
suchungen verfolgte Programmatik 142 sich in den hier betrachteten
Essays spiegelt. Auch in ihnen lässt sich die charakteristische doppelte
Gedankenbewegung Spaemanns aus dem neuzeitlichen Denken zu-
rück in die klassische Antike mit dem Ziel einer Aktualisierung anti-
ker Gedanken unter den Bedingungen der Gegenwart beobachten.
Punkt der Abstoßung ist der »programmatische[…] Verzicht auf jede
Teleologie« 143, jene Wende, die sich im 16. Jahrhundert vollzieht und
einen 2000 Jahre bestehenden Konsens im europäischen Denken in
Frage stellt. 144 Der Rückbezug auf »die Alten« 145 aus unserer Perspek-
tive ist überhaupt nur möglich aufgrund einer unveränderlichen an-
thropologischen Basis, dem Verständnis des »Menschen als Bedürf-
niswesen«, dem die Aufgabe gestellt ist, »die natürliche Welt in eine
kulturelle zu transformieren« 146. Bleibende Quelle der Inspiration ist
die Antike aufgrund ihrer Vermittlung der beiden Bedeutungen der
Natur: »Einmal die Bedeutung der Entfaltung, des Wachstums, aus-
gehend von einem inneren Prinzip, und zweitens die Bedeutung einer

141 Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 110.


142 In den ersten drei Kapiteln der Untersuchung von Spaemanns Werk im zweiten
Teil dieser Arbeit war der philosophiegeschichtliche Aspekt klar dominierend: Aus-
gehend von der erwähnten Diagnose einer Krise der Philosophie in der Gegenwart
standen mit de Bonald – Teilkapitel 3.2 –, Fénelon – Kapitel 4 – und Rousseau – Teil-
kapitel 5.1 – drei Denker im Mittelpunkt, die ›auf dem Boden der Entzweiung‹ die
Frage nach der Möglichkeit menschlicher Selbstvervollkommnung unter den Bedin-
gungen der Moderne gestellt haben. Auch die Auseinandersetzung mit der Geschichte
und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens – Teilkapitel 5.2 – verfolgte das
Ziel, im Rückgang hinter die neuzeitliche Dialektik von Spiritualismus und Natura-
lismus ein Fundament freizulegen, von dem aus sie überwindbar sein könnte. In den
zentralen Kapiteln 6 bis 8 der vorliegenden Untersuchungen trat neben die philo-
sophiegeschichtliche Betrachtung eine Systematisierung der Befunde einer sich all-
mählich abzeichnenden Spaemann’schen Ontologie. Dennoch waren jeweils wichtige
Teilkapitel – 6.1, 7.1, 8.2 – der Weiterführung der philosophiegeschichtlichen Be-
trachtung der ersten Kapitel gewidmet, in der es nun neben Platon, Aristoteles und
Thomas vor allem um Descartes, die Empiristen und Kant ging. Auch im vorliegenden
neunten Kapitel wurde diese Linie in der Auseinandersetzung mit Schelers Wert-
philosophie und den Betrachtungen zur Ästhetik fortgeführt.
143 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 202.

144
Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333 u. 341.
145 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 205.

146
Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 336–337.

736

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

artspezifischen Struktur.« 147 Das Natürliche und das Vernünftige


wurden als zwei Aspekte einer Sache betrachtet, Kultur als die Form,
in der die menschliche Natur zu sich selbst kommt: »Bewusstsein galt
als Steigerung von Leben.« 148 Ab dem 16. Jahrhundert wird Natur
dagegen zu einem Allbegriff, zum Objekt der unvermittelt ihr gegen-
überstehenden neuzeitlichen Wissenschaft. 149 Die fatale Konsequenz
der damit freigesetzten Dialektik besteht darin, dass der Mensch sich
selbst zum Anthropomorphismus werden muss, 150 wodurch seine
Existenz theoretisch und praktisch in Frage gestellt wird. Spaemann
versteht seine Philosophie als an der Antike orientierter Gegenent-
wurf, wobei Aktualisierung antiker Gedanken keine anachronistische
Bezugnahme bedeutet. Vielmehr kann im Begriff der Person, die ihr
Sein in der Begegnung hat, eine Aktualisierung des antiken, an der
φύσις orientierten Verständnisses der Substanz gesehen werden, ge-
rade weil dieser Begriff in der Antike unbekannt war. Durch die
»Selbstrelativierung und Selbsttranszendenz […], die jede Person zu
etwas Absolutem macht« 151, kann das Verständnis der Natur mit
ihren zwei Bedeutungen in einer Art erneuert werden, die jenseits
der antiken Denkmöglichkeiten liegt:
Erst im Durchgang durch die Emanzipation mit Bezug auf physis
kommt die physis des Menschen zu sich selbst. Das Paradigma der
physis im aristotelischen Sinn ist genau diese Qualität des Menschen,
aufgrund deren er die physis überschreitet. Diese paradoxe Struktur
müssen wir im Sinn behalten, wenn wir von so etwas wie einer Natur
des Menschen sprechen. 152
Die spezifisch neuzeitliche Überordnung der unbedingten Würde des
Menschen über den Wert des Lebens 153 kann als personale Aktuali-
sierung der antiken Unterscheidung von ζῆν und εὖ ζῆν verstanden
werden. 154 Der aus der conditio humana sich ergebende Auftrag einer

147 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 342.


148
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 208.
149 Vgl. ebd. 200–201.

150 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204. – Denselben Ge-

danken äußert Spaemann auch in »Die zwei Interessen der Vernunft«. Vgl. Spae-
mann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 335.
151 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 211.

152 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 344.

153
Vgl. ebd. 328–329.
154 Vgl.: »Der indirekt konstituierte Zusammenhang zwischen Natur und Würde des

Menschen ist wesentlich ein geschichtlicher: Das Distinktionskonzept der Natur

737

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

»schöpferische[n] Transformation des Gegebenen« 155 hat sich von der


Orientierung am ζῷον πολιτικόν in der antiken Ethik zum Projekt
einer personalen Selbstvervollkommnung verschoben, das jedoch »in
einer Epoche sich zurückziehender Wirklichkeit« 156 akut gefährdet
ist.
Nachdem gezeigt wurde, wie in beiden Essays die für Spaemanns
Denken zentralen Begriffe ›Leben‹ und ›Personalität‹ sowie deren
Zusammenhang thematisiert und in diesem Kontext die Auseinan-
dersetzung Spaemanns mit der Philosophie in ihrer geschichtlichen
Entwicklung knapp rekapituliert wird, sollen beide Texte auf die spe-
zifischen Intentionen Spaemanns hin befragt werden, die über diesen
allgemeinen Rahmen hinausgehen. In »Wirklichkeit als Anthropo-
morphismus« steht im Mittelpunkt ein Begriff der ›Wirklichkeit‹,
der Idiosynkrasie ausschließen soll und damit das Transzendieren
des eigenen Bewusstseins bezeichnet. Dieser den Solipsismus über-
windende Wirklichkeitsbegriff ist ein metaphysischer, weswegen
Spaemann von einem »metaphysischen Realismus« 157 spricht, für
den, wie gesehen, 158 die Erfahrung der interpersonalen Begegnung
zum Paradigma der Wirklichkeitswahrnehmung überhaupt wird.
Wirklichkeit bezeichnet – im Sinne der ontologischen Differenz –
Dasein im Unterschied zum als Möglichkeit denkbaren Sosein; Da-
sein aber ist uns gegeben in der Selbsterfahrung der Person, die ihrer-
seits denkbar wird durch ihre Funktion in dem Zusammenhang, in
dem die ontologische Differenz in allem Seienden durch sie wahr-
genommen wird. Wirklichkeit erscheint in dem Sinn als Korrelat
eines Glaubensaktes bzw. eines Aktes der Anerkennung, als es kein
positives Kriterium für sie geben kann 159 und somit der metaphysi-
sche Zweifel an ihr immer eine Denkmöglichkeit bleibt. Die Pointe
der zentralen These des Essays, wonach Wirklichkeit nur als Anthro-
pomorphismus verstanden werden kann, besteht darin, dass allein die
Frage nach einem Kriterium für Wirklichkeit bereits das Verlassen
des personalen Standpunkts und damit die Absolutsetzung des auto-
nomen Bewusstseins – seine Hypostasierung zur Entität – voraus-

musste verschwinden, damit es in der Substanz des Würdebegriffs neu erstehen und
dieser an seine Stelle treten konnte.« – Schweidler, Über Menschenwürde, 49.
155 Vgl. Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 337.

156 Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 214.

157
Ebd. 194.
158 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 548–561.

159
Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 189–190.

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

setzt, die Spaemann dem neuzeitlichen Denken vorwirft, das mit dem
Begriff des Lebens den Gedanken der Naturteleologie aufgegeben
hat. 160 Wenn personales Bewusstsein als Steigerung von Leben ver-
standen wird, dann ist seine Wirklichkeit der Akt der Selbsttranszen-

160 Walter Schweidler konstatiert in seinem Aufsatz »Die Sicherheit des Zweifels«

mit Bezug auf die These der Wirklichkeit als Anthropomorphismus: »Sinn und Inhalt
dieser These lassen sich nur von dem philosophischen Ort her verstehen, an dem sie
ihre Bedeutung gewinnt. Dieser Ort ist wesentlich der des metaphysischen Zweifels,
der gegen alle Kriterien für die Differenz zwischen Wirklichem und Unwirklichem
gerichtet ist.« – Schweidler, Die Sicherheit des Zweifels, 60. – Wenn meine hier
vorgelegte Deutung der Zusammenhänge zutreffend ist, ist dieser These nur bedingt
zuzustimmen. Richtig ist, dass für uns – das heißt unter der für das neuzeitliche
Denken geltenden Voraussetzung der Entteleologisierung – der metaphysische Zwei-
fel ein Ausgangspunkt sein kann, der allerdings, wie Schweidler weiter völlig zutref-
fend ausführt, sich als Scheinproblem erweist: »Wir können die These, dass unser
Zugang zur Wirklichkeit möglicherweise Schein sei, als These nur formulieren, kön-
nen also nur beanspruchen, mit ihr im Recht zu sein, wenn wir den Schein dergestalt
explizieren, dass die Explikation bereits Form und Faktum unseres Wirklichkeits-
zugangs voraussetzt und somit dem zu Explizierenden widerspricht. Damit ist der
philosophische Ort aufgewiesen, an dem auch Spaemann die anthropomorphistische
Pointe seines Wirklichkeitsverständnisses expliziert. Man könnte ihn den Zeitort
nennen, den innerhalb von allem, das ich zu erleben vermag, mein eigenes Leben
einnimmt.« – Ebd. 65. – Damit beruft sich Schweidler auf die personale Selbsterfah-
rung gegenüber dem abstrakten metaphysischen Zweifel und gelangt so zu einer
folgerichtigen Hierarchisierung in Bezug auf das Denken einerseits, das Denkbare
andererseits: »Wir verfügen über die Differenz zwischen Wirklichem und Nichtwirk-
lichem nicht auf eine Weise, die es uns erlauben würde, sie im Philosophieren auf
alles, was dabei in Frage stehen kann, zu applizieren, sondern wir vollziehen diese
Differenz nach als die Grenze, welche die Wirklichkeit unseres Erlebens als ihren
Zeitort umschreibt; und wir tun dies, wie in allem, was wir tun, auch im Philosophie-
ren dergestalt, dass es einen Punkt gibt, an dem nicht das, was wir denken, darüber
entscheidet, ob sie, sondern an dem sie darüber entscheidet, ob das, was wir denken,
wirklich gedacht werden kann.« – Ebd. 67. – Schweidler verkennt aber nach meinem
Dafürhalten, dass der metaphysische Zweifel für Spaemann vor allem ein Punkt des
Abstoßung ist und dass es ihm bei der Frage, – wiederum mit den Worten Schweidlers
– »worin jene mit unserem Dasein gegebene Beziehung besteht, die in jeder Frage, die
wir nach ihr stellen könnten, immer schon vorausgesetzt ist« – ebd. 63 –, um die noch
die Personalität selbst fundierende Teleologie geht, die Schweidler zwar im zweiten
und dritten Teil des Aufsatzes thematisiert, ohne dabei aber dieses Fundierungsver-
hältnis in den Blick zu bekommen. Die Unterscheidung also zwischen dem Ort, an
dem für uns diese These Bedeutung gewinnt – dem metaphysischen Zweifel –, und
dem eigentlichen Ort der These selbst – dem teleologisch fundierten Zusammen-
hang –, die meines Erachtens für Spaemann von prinzipieller Bedeutung ist, wird,
soweit ich sehe, von Schweidler ausgeblendet, weswegen die eigentliche Pointe der
These von der Wirklichkeit als Anthropomorphismus auch außerhalb seines Ge-
sichtskreises zu liegen scheint.

739

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

denz, durch den es sich auf Wirklichkeit bezieht – fieri aliud inquan-
tum aliud – und selbst wirklich wird. Dass Wirklichkeit nur als An-
thropomorphismus zu verstehen ist, wird zu einer Tautologie, wenn
Menschsein gegenüber anderen Lebewesen als Überschreitung der
lebendigen Zentralität und Personsein als reflexive Wendung auf die-
ses Überschreiten verstanden wird. Tiere haben eine Umgebung, aber
sie kennen keine Wirklichkeit. Wirklichkeit entsteht erst durch den
Menschen und sein Transzendieren der natürlichen Zentralität. Wird
der Begriff des Anthropomorphismus dagegen kritisch verwendet,
also eine unzulässige Übertragung der Selbsterfahrung auf gegen-
ständlich Gegebenes beanstandet, ist dieser Zusammenhang bereits
aufgekündigt; Bewusstsein wird dann als unabhängige Entität ver-
standen, die einer Welt bloßer Objekte gegenübersteht. Diese Positi-
on führt in die Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus und
für den Menschen zu der Konsequenz, sich selbst zum Anthropomor-
phismus zu werden und folgerichtig die Überwindung seiner selbst
etwa durch eine künstliche Intelligenz wollen zu müssen. Sie ist aber
darüber hinaus selbstwidersprüchlich, da der Vorwurf des Anthropo-
morphismus der Weltwahrnehmung eine Variante des Idiosynkrasie-
gedankens ist, der nur von einem Wesen gedacht werden kann, das
immer schon über der Idiosynkrasie steht. Wenn das Denken, das
genealogisch auf Lebensäußerungen als deren Steigerung zurück-
führbar ist, die an einer Stelle die Möglichkeit eröffnet hat, auf Dis-
tanz zur eigenen Naturgrundlage zu gehen, diese Distanz absolut
setzt, sich als autonom, also unabhängig von seiner Natur versteht,
gerät es in einen inneren Widerspruch, insofern es leugnet, was ihm
voraufging und wovon es abhängig bleibt. Die im nicht durchführ-
baren metaphysischen Zweifel sich zeigende Selbstwidersprüchlich-
keit des zur unabhängigen Entität hypostasierten Bewusstseins ver-
steht Spaemann als epistemologische Spur der Entdeckung der
Person, in der durch die reflexive Wendung auf die Selbsttranszen-
denz der personale Standpunkt immer schon erreicht ist, so dass nur
eine sekundäre Bewegung in die Position führen kann, von der aus
der metaphysische Zweifel möglich wird. Die epistemologische Spur
besteht in dem Bewusstsein, dass alles Gegebene, wenn es keine sub-
jektive Täuschung ist, auf ein Sein verweist, das sich im Erscheinen
verbirgt, in dessen Anerkennung das Subjekt aus dem Solipsismus
heraustritt und sich als Sein sichtbar macht. Diese Anerkennung aber,
das steht fest, ist ein freiwilliger Akt, der verweigert werden kann.
Die Verweigerung führt in die Perpetuierung des Widerspruchs in

740

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

der Dialektik des neuzeitlichen Denkens, der Akt der Anerkennung


führt entweder in den Glauben – Descartes’ Theologisierung der
Ontologie – oder den Ausgang des Denkens vom lebendigen Aus-
sein-auf. Von der Verweigerung zum freien Akt der Anerkennung
führt kein Argument, sondern, wie Spaemann in »Glück und Wohl-
wollen« festgestellt hat, eine μετάνοια. 161 Wenn Leben Personalität
aus sich entlässt, dann ist Leben zwar Voraussetzung der Person, als
Entlassene ist sie selbst aber nicht mehr Natur, sondern Freiheit von
der Natur, wobei jene per definitionem nicht aus dieser abgeleitet
werden kann. Natur kann, wie Spaemann an anderer Stelle sagte,
nur erinnert werden. 162 Teil dieser Erinnerung ist freilich auch das
Ereignis der Entdeckung, durch das doch zumindest ein hermeneuti-
sches Argument für den metaphysischen Realismus gegeben ist. In
»Wirklichkeit als Anthropomorphismus« ist einerseits das für Spae-
mann grundlegende argumentative Gefüge angedeutet; andererseits
aber zeigt sich ein an vielen Stellen durchbrechender appellierender
Charakter, der stärker auf die μετάνοια als auf die komplexe Argu-
mentation zielt. 163
In dem Essay »Die zwei Interessen der Vernunft« geht Spae-
mann in ähnlicher Weise aus von der Kritik am neuzeitlichen Den-
ken, in diesem Fall konkret vom Dualismus von Naturalismus und
Spiritualismus. Insofern Spaemann Philosophie als einen »bios, eine
Lebensweise« 164 bezeichnet, traut er ihr prinzipiell zu, eine Position
»außerhalb oder oberhalb dieses Dualismus« 165 finden zu können.
Um diese Position zu umreißen, beruft er sich auf eine Stelle aus der
»Kritik der reinen Vernunft« 166, in der Kant zwei unterschiedliche
Interessen des Menschen als Grund des Konflikts zwischen zwei

161 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113 u. 127.


162
Vgl. Spaemann, Die Aktualität des Naturrechts (1973), 78.
163 Vgl. u. a. die Invektiven auf die »virtuelle Realität« – Spaemann, Wirklichkeit als

Anthropomorphismus (2000), 189 –, das drastische Fallbeispiel des Patienten, in Be-


zug auf den die »scientific community« zu einem »Konsens über das Falsche« kommt
– ebd. 192–193 –, den Angriff auf den Empirismus und dessen Konsequenzen im
Bereich der Ethik – ebd. 205 –, den Verweis auf das »archaische Denken« – ebd. 208–
209 – oder Spaemanns hier auch in Abschnitt 9.2.2 thematisierte Gedanken zur zeit-
genössischen Kunst – ebd. 214–215.
164 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 333.

165
Ebd. 322.
166 Vgl.: »Im dritten Abschnitt des Kapitels über die Antinomien der reinen Vernunft

in seiner ›Kritik der reinen Vernunft‹ unterbricht Kant den Gedankenfaden durch eine

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

Weltanschauungen ausmacht, 167 und versucht, »die kantische Defini-


tion der beiden Interessen zu reformulieren und nach ihrem anthro-
pologischen Fundament zu fragen« 168. Durch diese Reformulierung
stellt Spaemann, wie nun gezeigt werden soll, den für sein Philoso-
phieren zentralen Zusammenhang von lebendigem Aussein-auf und
Personalität dar. Das erste Interesse, »das wir mit allen anderen Lebe-
wesen teilen«, ist das an der Selbstbehauptung in der Welt bzw. an
»Beherrschung« 169. Gerade der Mensch als »nicht mit hinreichenden
Mitteln zur Sicherung seines Überlebens« ausgestattetes »Mängel-
wesen« 170 ist auf eine kulturelle Transformierung seiner Umwelt an-
gewiesen. Während Tiere »egozentrisch« 171 sind, insofern die Welt
für sie nur Umwelt und das Interesse an deren Beherrschung ihr ein-
ziges Interesse ist, 172 gibt es für den Menschen noch »ein ganz anders-
artiges Interesse« 173, nämlich das zu verstehen: »Verstehen heißt:
nachvollziehen können. Und nachvollziehen kann ich nur das mir
Ähnliche.« 174 Ähnlichkeit bedeutet dabei, wie zu Anfang dieses Kapi-
tels festgestellt wurde, 175 nicht Ähnlichkeit des qualitativen Bestan-
des, sondern dass andere Wesen sich ähnlich zu ihrer Natur verhal-
ten, wie wir es als Personen zu unserer tun. Das zweite Interesse der
Vernunft bezeichnet also die mit der Personalität verbundene refle-
xive Wendung auf das lebendige Aussein-auf – also auf die natürliche
Grundlage des ersten Interesses – und das bewusste Transzendieren
desselben auf das Sein hin. Dass die beiden Interessen in gewissem
Sinn antagonistisch sind – »Das Interesse am Verstehen, das in die
Anerkennung mündet, ist dem permanenten Interesse an Herrschaft

Reflexion über ›das Interesse der Vernunft in diesem ihrem Widerstreite‹. Es handelt
sich für Kant um den Konflikt zwischen ›Dogmatismus‹ und ›Empirismus‹.« – Spae-
mann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 329.
167 Vgl.: »Die beiden Interessen, die dem modernen Dualismus zugrunde liegen, sind

anthropologische Konstanten.« – Ebd. 336.


168 Ebd. 331.

169
Ebd. 336.
170 Ebd.

171 Ebd. 337.

172 Vgl.: »In der außermenschlichen Natur gibt es nur ein einziges Interesse. Es ist

definiert durch die teleologische Struktur von Lebewesen. Es gibt die Tendenz, sich zu
erhalten, sich zu entfalten, seine Natur zu realisieren.« – Ebd. 331.
173 Ebd. 336.

174
Ebd. 337.
175 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:

Nähe als Ent-Fernung, 658.

742

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9.3.2 ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich

entgegengesetzt« 176 –, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass beide


Interessen dieselbe natürliche Wurzel haben und das zweite »gene-
tisch als eine Funktion des ersteren interpretiert werden« 177 kann.
Doch trotz dieser Abkunft wird in der kulturellen Entwicklung »das
anfänglich sekundäre Interesse autonom« 178, so dass »jeder Versuch,
das Interesse am Verstehen als Funktion von Selbstbehauptung zu
interpretieren, zum Scheitern verurteilt« 179 ist. Die beiden letzten
Aussagen scheinen in einem direkten Widerspruch zu stehen, solange
die genetische Betrachtungsweise, wonach personales Selbstsein
durchaus natürliche Bedingungen hat, nicht von der geltungstheo-
retischen unterschieden wird, der zufolge jedes Selbstsein Emanzipa-
tion von seinen Entstehungsbedingungen ist. Die funktionalistische
Interpretation übersieht, dass das zweite Interesse nicht ein kausal
erklärbares Produkt des ersten ist, sondern dass in dem zweiten Inte-
resse die Natur in ihrem Aussein-auf – dem ersten Interesse – zu sich
selbst kommt und die bewusste Selbsttranszendenz die Überschrei-
tung eines natürlichen Transzendierens ist, die die Natur sowohl hin-
ter sich lässt als auch in dieser Bewegung selbst noch Natur erinnert.
Oder mit den Worten Spaemanns: »Erst im Durchgang durch die
Emanzipation mit Bezug auf physis kommt die physis des Menschen
zu sich selbst.« 180 Dieser Gedanke ist nur als Paradoxie fassbar, inso-
fern das zweite Interesse, das sich vom ersten löst und von der Natur
aus sich entlassen wird, nur dann nicht auf das erste Interesse zurück-
fällt, wenn die Distanz zur eigenen Natur nicht zur unabhängigen
Entität hypostasiert wird, sondern als Transformation begriffen wird,
die das erste Interesse sowohl überwindet als auch bewahrt. Es geht
um »das Paradox eines Interesses an dem, was nicht auf mein Interes-
se bezogen und nicht durch mein Interesse definiert ist« 181. Den Zu-
sammenhang der beiden Interessen stiftet das teleologische Denken.
Ohne den Begriff des Lebens als Aussein-auf steht das menschliche
Subjekt einer Welt reiner Objekte gegenüber, so dass das zweite Inte-
resse an der Beheimatung in der Welt umschlägt in eine Abart des
ersten Interesses, ein Herrschaftsinteresse, das durch seine absolute
›Außerhalbbefindlichkeit‹ immer die Erinnerung an das zweite Inte-

176 Spaemann, Die zwei Interessen der Vernunft (2012), 338.


177 Ebd. 336.
178 Ebd. 339.
179
Ebd. 340.
180 Ebd. 344.
181
Ebd. 340.

743

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9 Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person: Nähe als Ent-Fernung

resse präsent halten muss, ohne die Kluft zwischen dem Subjekt der
Herrschaft und der ihm gegenüberstehenden Welt der Objekte über-
winden zu können. Genau dies beschreibt die Dialektik von Natura-
lismus und Spiritualismus, von der der Essay ausgegangen ist.
Beide Essays thematisieren somit in der Tiefenstruktur ihrer
Argumentationen denselben Zusammenhang von Teleologie und Per-
sonalität in ihrer geschichtlichen Entfaltung, der für Spaemanns
Philosophieren zentral ist. Die Fragen nach der in der Gegenwart
zusehends sich entziehenden Wirklichkeit einerseits und dem Dualis-
mus von Naturalismus und Spiritualismus andererseits als Punkten
der Abstoßung von der im Zeichen der Entteleologisierung stehenden
neuzeitlichen Denktradition durch eine sich als βίος verstehende Phi-
losophie geben in beiden Essays die Zugänge und Richtungen vor, wie
die zugrunde liegende Tiefenstruktur die Gedankengänge der je-
weiligen Fragestellung entsprechend organisiert. Dabei zeigen beide
Essays noch einmal, dass es in ihnen um denselben Zusammenhang
geht, der oben in der Auseinandersetzung mit dem Gottesbeweis aus
dem futurum exactum thematisiert wurde, mit dem Unterschied
allerdings, dass Spaemann in diesen Texten allein von der philosophi-
schen Codierung seines Denkens spricht. Gerade sie sind meiner
Meinung nach geeignet, noch einmal die vom allgemeinen Sprach-
gebrauch abweichende, oben dargelegte Abgrenzung von Wissen
und Glauben bei Spaemann zu verdeutlichen und die sowohl metho-
dische als auch inhaltliche Spezifik seines Philosophierens in großen
Zügen zu demonstrieren.

744

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Dritter Teil

Perspektiven der
Philosophie der Begegnung

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

Dem Begriff der ›Perspektive‹ kam im Nachvollzug der sukzessiven


Entfaltung einer Philosophie der Begegnung im Werk Robert Spae-
manns im zweiten Teil dieser Arbeit vom Anfang bis zum Ende eine
leitmotivische Bedeutung zu. Dabei lassen sich verschiedene Dimen-
sionen des Begriffs unterscheiden. Bereits im dritten Kapitel wurde
mit Bezug auf das necessarium ex suppositione die Differenz zwi-
schen menschlicher und göttlicher Perspektive thematisiert, 1 die sich
im Verlauf des zweiten Teils – konkretisiert als partikulare bzw. uni-
verselle Perspektive 2 – zu einer entscheidenden Gedankenfigur in der
Philosophie Spaemanns entwickelte. Zunächst jedoch spielte der Be-
griff als geschichtsphilosophische Perspektive eine wichtige Rolle zur
Bezeichnung der wissenschaftlichen Methodik Spaemanns in seinen
Studien über Fénelon. 3 In den ersten Kapiteln des zweiten Teils ge-
wann daher die Thematisierung der Untersuchungsperspektive im
Nachvollzug der Spaemann’schen Gedankenentwicklung zunehmend
an Bedeutung. 4 Im sechsten Kapitel kam mit der Unterscheidung
einer antiken und einer neuzeitlichen bzw. modernen Perspektive
ein Aspekt hinzu, der für die Entfaltung von Spaemanns Denken
von grundsätzlicher Bedeutung ist. 5 Eine weitere zentrale Dimension
des Begriffs war die Differenzierung der Innen- und Außenperspek-
tive insbesondere im Zusammenhang mit »Glück und Wohlwollen« 6
und die daraus hervorgehende Unterscheidung der Perspektive des
Triebhangs und der personalen Perspektive, die im Mittelpunkt von
Kapitel 8 stand. Der Topos einer Umkehr der Perspektive, der zuerst
im Zusammenhang mit Spaemanns Essaysammlung »Das Natürliche
und das Vernünftige« thematisiert wurde, 7 gewann als prinzipieller
Perspektivenwechsel im Übergang zur Perspektive der Person in Teil-
kapitel 8.4 entscheidende Bedeutung für die Explikation der Philo-
sophie der Begegnung. 8 Es erscheint daher im Rückblick nicht über-

1
Vgl. Teilkapitel 3.3, Das Absolute an sich und quoad nos, 126–131.
2 Vgl. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris und ontologische Verzeihung, 479–489.
3
Vgl. insbesondere Teilkapitel 4.5, Zur wissenschaftlichen Methodik: Die geschichts-
philosophische Perspektive, 172–179.
4 Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318.

5 Vgl. insbesondere Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.

6 Vgl. insbesondere Abschnitt 7.1.2, Platonischer Intellektualismus und aristote-

lischer Kompromiss, 435–445, u. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eu-


dämonismus und Pflichtethik, 445–455.
7
Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 394.
8
Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 600–635.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

trieben zu behaupten, dass mit ›Perspektive‹ ein Schlüsselbegriff des


zweiten Teils der vorliegenden Arbeit benannt ist. Da dieser im Rah-
men des zweiten Teils nicht explizit reflektiert worden ist, soll der
dritte Teil mit dieser Reflexion beginnen, aus der, wie im Folgenden
gezeigt werden soll, sich zugleich die Aufgaben der abschließenden
Untersuchungen entwickeln lassen.
Der Begriff ›Perspektive‹ – »lat. perspectiva von perspicere mit
dem Blick durchdringen, deutlich sehen« 9 –, der von Leibniz in die
Philosophie eingeführt wurde, 10 war »bis zum Beginn der Renais-
sance und darüber hinaus, denn diese Zurechnung hält noch bis ins
19. Jh. an« 11, ein Begriff der Geometrie. Als »Übersetzung des gr.
ὀπτικὴ τέχνη« 12 bezeichnete er »eine Geometrie der Projectionen« 13.
Die philosophische Aneignung des Begriffs wurde ab dem 15. Jahr-
hundert in der Bildenden Kunst durch die Entdeckung der – erst spä-
ter so bezeichneten – Zentralperspektive vorbereitet, durch die »das
Bild der Malerei als Darstellung eines planen Schnitts durch die Seh-
pyramide« 14 begriffen wird. Dabei ist es wesentlich hervorzuheben,
dass die Malerei auch vor dieser Entdeckung perspektivisch war. Wie
G. E. Lessing bemerkte, kann die Zeichenkunst »nie ohne Perspektiv
sein, und das geringste was der Zeichner vorstellt, kann er nicht an-
ders als perspektivisch vorstellen. Den Alten in diesem Verstande die
Perspektiv absprechen, würde wahrer Unsinn sein. Denn es würde
ihnen nicht die Perspektiv, sondern die ganze Zeichenkunst abspre-
chen heißen, in der sie so große Meister waren.« 15 Dass nach der Ent-
deckung der Zentralperspektive die Möglichkeit prinzipiell in Frage

9 König, Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch I. Philosophie; Theologie; Geis-


tes- und Naturwissenschaften, in: HWPh VII, col. 363.
10 Vgl.: »G. W. Leibniz führte den Begriff der Perspektive bzw. den mit ihm verbun-

denen Begriff des Standpunktes in die Philosophie ein […]. Im § 57 seiner ›Monado-
logie‹ wird Perspektivität sozusagen zur Grundstruktur der den einzelnen Monaden
mit ihren notwendig verschiedenen Standpunkten vorgegebenen Welt«. – Ebd.
col. 365.
11
Ebd. col. 363.
12 Ebd. col. 364. – Verweis in Anmerkung [3] auf die Quelle des Zitats: G. Boehm:

Stud. zur Perspektivität (1969) 11. – Ebd. col. 373.


13 Ebd. col. 364. – Verweis in Anmerkung [2] auf die Quelle des Zitats: G. S. Klügel:

Mathemat. Wb. I/3 (1808) 801 f. – Ebd. col. 373.


14 Kambartel, Perspektive, Perspektivismus, perspektivisch II. Kunst, in: HWPh VII,

col. 375.
15
»Briefe, antiquarischen Inhalts. Neunter Brief« – Lessing, Werke, Bd. 6, Kunst-
theoretische und kunsthistorische Schriften, 215. – Vgl. König, a. a. O. [Fn. 9],
col. 364.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

gestellt ist, sich in ein älteres perspektivisches Wahrnehmen hinein-


versetzen zu können, dem die Reflexion auf die Perspektive noch un-
bekannt war, entspricht der in Abschnitt 6.1.1 dargelegten Schwierig-
keit, sich aus der Perspektive der Subjektphilosophie in ein Denken
hineinzuversetzen, dem die Teilung der Welt in Subjekt und Objekt
noch nicht gegeben war. Der Beginn der Neuzeit markiert somit
einen grundlegenden Wandel im Verständnis der Perspektive:
»›[…] Die Teilung der Geschichte der Perspektive in zwei Abschnitte
vollzieht sich in der Ablösung der alten perspectiva communis oder
naturalis durch die perspectiva artificialis oder pingendi. Die ältere
scientia perspectiva versteht sich als eine ars bene videndi, die sich
mit dem richtigen Sehen, seinen Gesetzen, Problemen der optischen
Täuschung und dgl. befaßt‹.« 16 Die Perspektive »als ›perspectiva arti-
ficialis‹ geht indessen ›in die Wesensbestimmung der neuen Kunst
und als ›Perspektivität‹ in das Zentrum des philosophischen Denkens
ein, wo sie die Art und Weise, wie sich der Mensch in der Welt be-
stimmt, neu formulieren hilft‹.« 17 Die perspectiva artificialis kann so-
mit als eine in Analogie zur cartesischen Neubegründung der Phi-
losophie stehende reflexive Wendung auf das Subjekt begriffen
werden, durch die der Begriff der Perspektive dann selbst Eingang in
die Philosophie findet und in dieser allmählich eine universale Ver-
breitung erlangt:
Natürlich kann man nun versuchen, die folgenden philosophischen
Entwürfe sozusagen aus der Perspektive des Standpunktes bzw. seiner
orientierenden Kraft zu beurteilen. Insofern z. B. Kant betont, daß die
Philosophie, will sie Wissenschaft sein, den Menschen auf einen seiner
menschlichen Denksituation angemessenen Standpunkt verweisen
muß, erhält »erst von ihm ab die Rede vom Standpunkt ihre radikale
Bedeutung«. 18
Dabei führt die »Beurteilung philosophischer Systeme unter dem Ge-
sichtspunkt der Perspektive« allmählich zu einer Verwendung des

16 König, a. a. O. [Fn. 9], col. 364. – Verweis in Anmerkung [7] auf die Quelle des
Zitats: G. Boehm, [Stud. zur Perspektivität (1969)] 12. – Ebd. col. 373.
17 Ebd. col. 365. – Verweis in Anmerkung [10] auf die Quelle des eingefügten Zitats:

G. Boehm, [Stud. zur Perspektivität (1969)] 12 f. – Ebd. col. 373.


18 Ebd. col. 367. – Verweis in Anmerkung [26] auf die Quelle des eingefügten Zitats:

Vgl. F. Kaulbach: Der Begriff des Standpunktes im Zus. des Kant. Denkens. Arch.
Philos. 12 (1963/64) 45; vgl. W. T. Krug: Allg. Handwb. der philos. Wiss.en 2 (1827,
ND 1969) 253, der das Stichwort ›P.‹ nicht führt, s. v. ›Gesichts-Punct‹. – Ebd. col. 373.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

Begriffs »im pejorativen Sinne« 19, die dann in Nietzsches Relativis-


mus – es »giebt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivi-
sches ›Erkennen‹« 20 – kulminiert.
Im Hinblick auf das Problem der Perspektive ist die neuzeitliche
Philosophie also von einer eigenartigen Ambivalenz gekennzeichnet.
Einerseits ist sie als Subjektphilosophie prinzipiell perspektivisch an-
gelegt, andererseits strebt sie als »Philosophie des ›allgemeinen‹ Sub-
jekts oder des ›Bewußtseins überhaupt‹« 21 nach der Überwindung der
bloß individuellen Perspektive. Die Entdeckung der Perspektive – also
die reflexive Wendung auf die Perspektivität menschlicher Wahrneh-
mung – ermöglicht eine scheinbare Überwindung der Perspektivität
durch die Bewusstseins- bzw. Transzendentalphilosophie, in der von
der Perspektive eines konkreten Individuums abstrahiert und An-
spruch auf eine aperspektivische Sicht der Welt überhaupt erhoben
wird. Die Subjektphilosophie, die radikal die Perspektive des denken-
den Individuums in den Mittelpunkt stellt, prätendiert also gleichzei-
tig, einen Standpunkt frei von aller Partikularität gefunden zu haben,
der von jedem beliebigen Individuum eingenommen werden kann.
Der Relativismus, der im Denken Nietzsches seinen wohl wirkungs-
mächtigsten Ausdruck gefunden hat, kann als dialektische Gegen-
bewegung gegenüber der universalistischen Anmaßung des aper-
spektivischen Rationalismus verstanden werden. Einen Standpunkt
oberhalb dieser Dialektik von Rationalismus und Relativismus nahm
im frühen 20. Jahrhundert Ortega y Gasset ein, 22 der als Entdecker
des Perspektivismus in der Philosophie bezeichnet werden kann. 23 In
seiner kleinen Schrift »Die Aufgabe unserer Zeit« aus dem Jahr
1923 24 interpretiert Ortega den Rationalismus cartesischer Prägung
als eine künstliche Loslösung des Denkens vom Leben, 25 durch die
die fundamentale Tatsache ausgeblendet werde, dass die »Vernunft
[…] nur eine Form und Funktion des Lebens« und die »Kultur […]

19 König, a. a. O., [Fn. 9], col. 367.


20 Nietzsche, Werke, Bd. 5, Zur Genealogie der Moral, 365. – Vgl. König, a. a. O.
[Anmerkung 9], col. 367.
21 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 245.

22 Vgl. König, a. a. O. [Fn. 9], col. 367–368.

23 Vgl. E. R. Curtius, Einführung, in: Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 9–

20, hier 17–20.


24 Die deutsche Übersetzung von Helene Weyl erschien 1928.

25
Vgl. Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 42–47.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

ein biologisches Werkzeug« 26 sei. Die »Maler des Quattrocento«, die


die Zentralperspektive entdeckten, lassen nach Ortega dieselben
»Züge von Primitivität« erkennen, die auch die neuzeitliche, in der
cartesischen Tradition stehende Subjektphilosophie erkennen lässt:
»Bis heute war alle Philosophie utopisch. Jedes System vermaß sich,
für alle Zeiten und alle Menschen zu gelten.« 27 Diesen ›Utopismus‹ 28
der neuzeitlichen Philosophie versucht Ortega durch den Hinweis zu
korrigieren, dass »die Annahme eines Standpunktes […] eine reflek-
tierende, theoretische Haltung voraus[setzt]«, ein »Prinzip«, das »der
biologischen Spontaneität, dem bloßen Leben des Lebens« 29 diametral
entgegengesetzt ist. Nur in der begleitenden Reflexion auf seine prin-
zipielle Perspektivität kann von einem individuellen Standpunkt aus
Anspruch auf Wahrheit erhoben werden:
Die kosmische Wirklichkeit ist so beschaffen, daß sie nur in einer be-
stimmten Perspektive zur Gegebenheit kommen kann. Die Perspekti-
ve ist eine der Komponenten der Wirklichkeit. Sie ist nicht ihre Ver-
zerrung; sie ist ihr Ordnungsschema. Eine Wirklichkeit, die von allen
Standpunkten gleich aussieht, ist ein Nonsens.
Den gleichen Gesetzen wie die dingliche Schau folgen die übri-
gen Arten des Erschauens. Jede Erkenntnis geschieht von einem
Standpunkt. Spinozas species aeternitatis, den überalligen, absoluten
Standpunkt gibt es nicht; er ist ein fiktiver, abstrakter Standpunkt.
Wir zweifeln nicht, daß er ein nützliches Werkzeug für gewisse Be-
dürfnisse der Erkenntnis ist; aber man darf nicht vergessen, daß man
von ihm aus nie das Wirkliche sieht. Der abstrakte Gesichtspunkt ver-
mittelt nur Abstraktionen. 30

26 Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 72.


27 Ebd. 106.
28 Vgl.: »Es war ein hartnäckiger Irrtum, daß die Wirklichkeit an sich, unabhängig

vom Standpunkt des Beschauers, eine eigene Physiognomie haben sollte. Es ist klar,
daß nach dieser Theorie jede Wahrnehmung, da sie in einem bestimmten Standpunkt
gewonnen wird, von jenem absoluten Anblick abweichen und darum falsch sein
musste. Aber die Wirklichkeit bietet wie die Landschaft unendlich viele Perspektiven,
die alle gleich wahr und gleichberechtigt sind. Falsch ist allein die Perspektive, die
behauptet, die einzige zu sein. Anders gewandt: falsch ist die Utopie, die Wahrheit,
die nicht Wahrheit ›für‹, die vom ›nirgendwo Ort‹ gesehen ist. Der Utopist – und
utopisch war der Rationalismus im letzten Grunde – irrt am meisten, denn er ist der
Mensch, der seinem Standpunkt nicht treu bleibt und von seinem Platz desertiert.« –
Ebd. 105–106.
29 Ebd. 73–74.

30
Ebd. 104.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

Daher verlangt Ortega im Sinne einer »Lehre vom Standpunkt«,


»daß innerhalb des Systems die vitale Perspektive, aus der es hervor-
ging, deutlich ausgesprochen wird« 31. Ortegas Perspektivismus be-
ansprucht damit nicht weniger, als das Programm eines neuen Typs
der Philosophie zu sein, die über der Dialektik von Rationalismus und
Relativismus steht: »Die reine Vernunft ist durch eine vitale Ver-
nunft zu ersetzen, mittels welcher die reine in die Wirklichkeit ein-
tritt und Beweglichkeit und Veränderungsfähigkeit erhält.« 32
Perspektivität kann also im Sinne Ortegas als Bedingung der
Möglichkeit menschlicher Wahrnehmung bezeichnet werden. Eine
aperspektivische Wahrnehmung wäre nur in einem absoluten Be-
wusstsein möglich. Allerdings muss die Perspektivität als Bedingung
der Möglichkeit der Wahrnehmung dem Menschen nicht immer
schon bewusst geworden sein; nur deshalb kann die Perspektivität
entdeckt werden als etwas, was schon vor seiner Entdeckung da war.
Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen zur Geschichte der Per-
spektivität und ihrer Bedeutung für die Philosophie kann die Verbin-
dung verdeutlicht werden, die zwischen der Reflexion auf den Begriff
der Perspektive und der im zweiten Teil dieser Arbeit untersuchten
Philosophie der Begegnung besteht. Spaemanns Ablehnung der car-
tesischen Hypostasierung des ›cogito‹ zur unabhängigen Entität, 33 auf
die seine Distanzierung von der Transzendentalphilosophie letztlich
zurückgeht, kann im Sinne der Fundierung des ›ich denke‹ im ›ich
lebe‹ als ein philosophisches Bekenntnis zur leiblichen Situiertheit
und damit zur konkreten Perspektive des Individuums verstanden
werden. Zum anderen aber führt in Spaemanns Denken erst die Über-
windung der »Perspektive des Triebhanges« 34 zur Philosophie der
Person. Der in der interpersonalen Begegnung sich realisierende Akt
der Selbsttranszendenz wird von Spaemann als »Umkehr der Per-
spektive« 35 bezeichnet. Hierbei handelt es sich um die nur als Paradox
fassbare Loslösung von der Perspektive der natürlichen Zentralität,
die dennoch nicht in die abstrakte Aperspektivität der Transzenden-
talphilosophie übergeht. Zur Erklärung dieses Paradoxes verweist

31 Ortega y Gasset, Die Aufgabe unserer Zeit, 106.


32 Ebd.
33 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 115, u. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der De-

struktion des Personbegriffs, 527.


34 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

35
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 129.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

Spaemann auf die »Wirklichkeit des Bildes« 36, das nicht als Schnitt
durch die Sehpyramide, nicht als Objekt für ein Subjekt verstanden
werden kann: »Es als Bild wahrnehmen heißt sein Zeigen wahrneh-
men, sich von ihm etwas zeigen lassen.« 37 Das Bild ist konkret und
zugleich vom situierten Ich unabhängig, seine Wahrnehmung ist eine
Umkehr der Perspektive, die als Aktualisierung der perspectiva natu-
ralis verstanden werden kann. Denken lässt sich diese Aktualisierung
nur als das Paradox einer Perspektive, die keine Perspektive ist. Es
handelt sich um eine Position, die in dem bei Ortega angedeuteten
Sinn über der für das neuzeitliche Verständnis von Perspektive cha-
rakteristischen Dialektik von Rationalismus und Relativismus steht,
da die interpersonale Vermittlung individueller Perspektiven in dem
Kontinuum von Leben und Bewusstsein fundiert ist. Diese Position
setzt, wie die Ausführungen im zweiten Teil gezeigt haben, den Ge-
danken der Anerkennung von Selbstsein voraus, der für Spaemann
nur ein Sonderfall der Anerkennung von Sein schlechthin ist. Mit
Putnam kann man hier kritisch von »der ›externalistischen Perspek-
tive‹ des metaphysischen Realismus« sprechen, »wonach die Welt aus
einer feststehenden Gesamtheit geistesunabhängiger Gegenstände
besteht«, der er seine ›internalistische‹ Auffassung gegenüberstellt,
nach der ›Wahrheit‹ »so etwas wie (idealisierte) rationale Akzeptier-
barkeit« 38 ist. Eine zentrale Frage der abschließenden Überlegungen
dieser Arbeit wird darin bestehen, wie aus dem Gedanken der Ent-
deckung der Perspektive ein Argument für die externalistische Auf-
fassung entwickelt werden kann.
Wenn nun im abschließenden Teil der vorliegenden Arbeit von
den ›Perspektiven der Philosophie der Begegnung‹ die Rede sein soll,
handelt es sich hier gegenüber den Gedankengängen des zweiten Teils
einerseits um eine Metareflexion, insofern andere Sichtweisen der-
jenigen Sachverhalte untersucht werden, um die es der im zweiten
Teil entfalteten Philosophie der Begegnung ging, womit diese sich
dem philosophischen Diskurs stellt. Wenn aber andererseits diese
Metareflexion unter dem Begriff der Perspektive gefasst wird, der

36 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.


37 Ebd.
38
König, a. a. O. [Fn. 9], col. 371. – Verweis in Anmerkung [70] auf die Quelle des
eingefügten Zitats: H. Putnam, Vernunft, Wahrheit und Gesch., hg. J. Schulte
(1982) 75. – Ebd., col. 374.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

im zweiten Teil dieser Arbeit eine die Dialektik von Rationalismus


und Relativismus hinter sich lassende Umdeutung erfahren hat,
scheint damit eine Vorentscheidung über die Diskursregeln getroffen
zu sein, insofern mögliche Positionen im Diskurs an einem bestimm-
ten Begriff von Perspektive gemessen werden. Die Philosophie der
Begegnung könnte dann, wenn sie konkurrierenden Positionen im
philosophischen Diskurs der Gegenwart gegenübertritt, nur in sich
selbst eintreten und sich damit dem Diskurs entziehen. Das ist aber
offensichtlich nicht der Fall, da die Philosophie der Begegnung ohne
weiteres in einen Diskurs etwa mit dem internen Realismus Putnams
eintreten kann. Dennoch ist es richtig, dass die Philosophie der Be-
gegnung die Akzeptanz zumindest einer Regel zur Bedingung eines
sinnvollen Diskurses machen muss, dass nämlich Positionen im Dis-
kurs sich als Perspektiven verstehen lassen müssen, auch dann, wenn
sie selbst nicht hierauf reflektieren. Aus dieser Bedingung folgt kon-
kret, dass jede mögliche Position daraufhin befragt wird, wie weit sie
in der Lage ist, die conditio humana, also das antagonistische Verhält-
nis von Leben und Vernunft im Menschen und die Fundierung der
Vernunft in der menschlichen Natur, zu bedenken. Gerechtfertigt ist
das Aufstellen dieser Bedingung dadurch, dass die grundsätzliche Per-
spektivität menschlicher Wahrnehmung jede Positionierung im Dis-
kurs als einen Lebensvollzug ausweist. Eine transzendentale Hypo-
stasierung des ›cogito‹ zur unabhängigen Entität wird freilich durch
diese Diskursregel unterlaufen, da durch sie diese Entität auf die kon-
krete perspektivische Wirklichkeit zurückbezogen wird, aus der sie
abstrahiert wurde.
›Perspektiven der Philosophie der Begegnung‹ kann als doppelter
Genitiv verstanden werden. Einerseits geht es um Aussichten, die
diese Philosophie eröffnet, andererseits um verschiedene Weisen die-
se zu betrachten. In den ersten beiden Kapiteln des dritten Teils stehen
solche Betrachtungsweisen, im dritten Kapitel dann die eröffneten
Aussichten im Mittelpunkt. Im zehnten Kapitel geht es zunächst um
Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk, die sich in der jüngeren
Forschungsliteratur finden lassen. Anhand von drei ausgewählten
Veröffentlichungen – Holger Zaborowskis englischsprachiger Mono-
graphie »Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person«
(2010), Rolf Schönbergers Aufsatz »Das Sein des Sinnes« (2016)
und Andrzej Kucińskis umfassender Studie »Naturrecht in der Ge-
genwart« (2017) – sollen alternative Perspektiven auf Spaemanns Ge-
samtwerk nachvollzogen und anhand der im zweiten Teil entfalteten

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

Deutung auf ihre Leistungsfähigkeit bzw. auf mögliche blinde Flecken


hin befragt werden.
Im elften Kapitel soll der Blick geweitet und der philosophische
Diskurs der Gegenwart ohne thematische Beschränkung auf das
Werk Robert Spaemanns, jedoch mit Wahrung des Fokus auf die in
diesem Werk thematisierten Gegenstandsbereiche einbezogen wer-
den. Der Schwerpunkt der vorliegenden Arbeit liegt weit eher in der
theoretischen als in der praktischen Philosophie, auch wenn, wie ge-
sehen, 39 für Spaemann beides letztlich untrennbar ist. Die beiden
Hauptfelder der theoretischen Philosophie, um die es im zweiten Teil
der vorliegenden Arbeit ging, waren die Geschichte des teleologi-
schen Denkens und die Philosophie der Person. Mit seinem Plädoyer
für eine Erneuerung des teleologischen Denkens steht Spaemann
weit abseits der herrschenden Diskurse in der Philosophie der Gegen-
wart. Wenn also philosophische Gegenwartsdiskurse hier einbezogen
werden sollen, die eine Schnittmenge mit Spaemanns Denken bieten,
so kann innerhalb der theoretischen Philosophie die Rede nur sein
von der Person, die aktuell ein Thema von großer Virulenz darstellt.
Am Beispiel von drei deutschsprachigen Publikationen – Theo Ko-
buschs »Die Entdeckung der Person« (1993), Dieter Sturmas »Phi-
losophie der Person« (1997) und Michael Quantes »Person« (2007) –
sollen alternative Perspektivierungen desjenigen Phänomenbestands
betrachtet werden, der im Mittelpunkt eines großen Teils von Spae-
manns Schriften steht. Grundgedanken der genannten Publikationen
sollen zunächst nachgezeichnet werden, bevor durch eine verglei-
chende Analyse Gemeinsamkeiten mit der Philosophie der Begeg-
nung sowie Unterschiede zu ihr benannt und Bewertungen der kon-
kurrierenden Ansätze versucht werden.
Nach diesen notwendigen Betrachtungen von außen kehrt der
Gedankengang schließlich im zwölften Kapitel zur Perspektive der
Philosophie der Begegnung zurück, um offen gebliebene Fragen zu
beantworten, eine Schlussfolgerungen aus dem Gedankengang der
vorliegenden Studien zu ziehen und einen Ausblick auf mögliche
Weiterentwicklungen zu geben. Da die diachrone Untersuchung von
Spaemanns Denken im zweiten Teil dieser Arbeit notwendigerweise
Fragen dazu offen lassen musste, wie später gefundene Einsichten

39
Vgl. die in »Glück und Wohlwollen« mehrmals wiederholte Aussage, wonach es
keine Ethik ohne Metaphysik gebe: Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11,
132, 150.

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Perspektiven der Philosophie der Begegnung

sich zu früheren Gedanken verhalten, zu denen sie in Beziehung ste-


hen, soll es hier zum einen um eine rückläufige Klärung der Zusam-
menhänge gehen, die noch stärker die Funktion des Sachverhalts der
Begegnung als Organisationsprinzip von Spaemanns Denken erwei-
sen kann. Zum anderen soll im Zuge abschließender Überlegungen
zum ›Urphänomen‹ der Begegnung die ontologische Bedeutung der
Begegnung letztgültig gefasst werden. Dazu wird der Gedankengang
an die einleitende Reflexion zum Begriff der Perspektive anknüpfen
und eine Fundierung des Begriffs der Begegnung im Präreflexiven
versuchen. Schließlich wird im Sinne eines Ausblicks die Frage nach
den Potentialen der Philosophie der Begegnung gestellt, indem Per-
spektiven ihrer Weiterentwicklung und konkrete Anknüpfungspunk-
te in der Philosophie des 20. Jahrhunderts schlaglichtartig beleuchtet
werden.

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10 Alternative Perspektiven auf
Spaemanns Gesamtwerk

In der vorliegenden Arbeit wird versucht, unter dem Titel ›Philoso-


phie der Begegnung‹ eine Gesamtdeutung von Spaemanns Werk zu
bieten. Daher werden im folgenden Kapitel als Folien des Vergleichs
diejenigen Arbeiten aus der Forschungsliteratur über Robert Spae-
mann herangezogen, die explizit oder implizit einen ähnlichen An-
spruch erheben und sich ausdrücklich auf die theoretische Philo-
sophie Spaemanns beziehen. 1 Die erste umfangreiche Studie zum
Gesamtwerk Spaemanns ist die auf einer im Jahr 2001 an der Uni-
versität Oxford eingereichten Dissertation basierende 2010 publi-
zierte englischsprachige Monographie Holger Zaborowskis »Robert
Spaemann’s Philosophy of the Human Person. Nature, Freedom, and
the Critique of Modernity«. Im ersten Kapitel dieser Arbeit äußert
Zaborowski sich mit Bezug auf den amerikanischen Philosophen
Arthur Madigan zum Desiderat einer Gesamtdeutung von Spae-

1
Verzichtet wird daher auf eine ausführliche Darstellung der umfangreichen, im Jahr
2014 erschienenen Arbeit Stefan Meiserts »Ethik, die sich einmischt. Eine Unter-
suchung der Moralphilosophie Robert Spaemanns«. Zwar unternimmt auch Meisert
einen diachronen Gang durch das Werk Spaemanns, der eigentliche Fokus seiner Auf-
merksamkeit liegt dabei aber eindeutig auf der praktischen Philosophie. – Vgl.: »Die
Aufgabe, das gesamte Schrifttum Spaemanns zu erfassen, steht offensichtlich auch
nach der umfassenden Studie von Stephan Meisert aus dem Jahre 2014 noch aus.
Meisert, dessen Dissertation viele Aspekte von Spaemanns Philosophie berührt, be-
handelt primär ethische Fragen.« – Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41. –
Verzichtet wird ferner auf eine ausführliche Darstellung der 2015 erschienenen Ar-
beit »Alles, was ist, ist auf etwas aus. Die schöpfungstheologischen Prämissen der
Philosophie Robert Spaemanns« Damian Pietrowskis. Aufgrund ihrer eindeutig theo-
logischen Ausrichtung kann diese Arbeit ebenfalls nicht den Anspruch einer philoso-
phischen Gesamtdeutung von Spaemanns Werk erheben. – Vgl.: »So sagt Pietrowski
2015: Das Gesamtwerk wurde ›bisher weder chronologisch noch systematisch ana-
lysiert‹ und ›niemand hat sich bisher der Mühe unterzogen, die Genese und Systema-
tik der vielen Einzelbeiträge des Autors zu erschließen‹. [Pietrowski, Alles, was ist
(2015), 10.] Auch Pietrowski nahm diese Aufgabe im Übrigen nicht in Angriff.« –
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

manns Werk und dem Verhältnis seines eigenen Beitrags zu dieser


Aufgabe:
Arthur Madigan wrote in his brilliant review article of Spaemann’s
Philosophische Essays that »if Spaemann himself, or someone thor-
oughly familiar with his work, were to weave from his many studies
a single connected narrative, its wealth of detail and persuasive power
might win for Spaemann’s insights and arguments the wider attention
and closer scrutiny that they certainly deserve«. What Madigan de-
manded still needs to be accomplished. A first step towards a compre-
hensive account of Spaemann’s philosophy, its sources, the standpoints
against which his thought is directed, and the implications of his
œuvre will be taken in this book. 2
Dieser im Gestus der Bescheidenheit angekündigte erste Schritt bie-
tet, wie im ersten Teil dieses Kapitels gezeigt werden soll, einen wich-
tigen Überblick über zentrale Themenfelder des Spaemann’schen
Denkens bei deutlich spürbarer theologischer Ausrichtung der
Studie 3 (10.1).
Der zweite Text, auf den hier Bezug genommen werden wird,
basiert auf dem Vortrag »Das Sein des Sinnes. Die Philosophie Robert
Spaemanns im Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts« des
Spaemann-Schülers 4 Rolf Schönberger auf einer Tagung über die
Philosophie Robert Spaemanns am 7./8. November 2014 an der Phi-
losophisch-Theologischen Hochschule St. Pölten, der 2016 in dem
von Josef Kreiml und Michael Stickelbroeck herausgegebenen Sam-
melband »Die Person – ihr Selbstsein und ihr Handeln. Zur Philoso-
phie Robert Spaemanns« veröffentlicht wurde. Trotz seines ver-
gleichsweise geringen Umfangs liefert Schönbergers Aufsatz, wie im
zweiten Teilkapitel gezeigt werden soll, einen von theologischer Ver-
einnahmung freien Versuch einer Gesamtschau des Spaemann’schen
Denkens, in der gegenüber der Arbeit Zaborowskis insbesondere das
Verhältnis von Naturteleologie und Personalität zuallererst mit phi-
losophischen Mitteln versucht wird zu durchdenken (10.2).

2 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 20. – Quelle

des eingefügten Zitats: Madigan, Arthur, Robert Spaemann’s »Philosophische


Essays«, in: Review of Metaphysics 51 (1997), 1 (Sept 1997), 105–132, hier: 132.
3 Wissenschaftlich betreut wurde die Arbeit vom britischen Moraltheologen Oliver

O’Donovan, erschienen ist sie in der Reihe »Oxford Theological Monographs«.


4 Vgl. Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 212, u. Spaemann/Nissing, Die

Natur des Lebendigen und das Ende des Denkens (2008), 129.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

An dritter Stelle wird Bezug genommen auf die 2016 als Disser-
tation an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität
Bonn eingereichte und 2017 unter dem Titel »Naturrecht in der Ge-
genwart. Anstöße zur Erneuerung naturrechtlichen Denkens im An-
schluss an Robert Spaemann« erschienene umfangreiche Studie
Andrzej Kucińskis, die am Leitfaden der Naturrechtsthematik in
ihrem zweiten Kapitel eine diachrone Untersuchung von Spaemanns
Werk enthält. Im Hinblick auf die ausstehende Gesamtdeutung dieses
Werks äußert Kuciński nach einer einleitenden Darstellung von
Spaemanns Denken sich ähnlich bescheiden wie zuvor Zaborowski:
Wie an verschiedenen Stellen der dargestellten Kurzpräsentation
deutlich wurde, entzieht sich das Spaemann’sche Denken einer ein-
fachen Systematik. Viele Arbeiten zu Spaemann weisen deshalb auf
den bisherigen Mangel einer Gesamtschau seiner Philosophie hin.
Auch diese Arbeit steht nicht unter dem Anspruch, den bekannten
Mangel zu beheben, obwohl die hier gewählte Fragestellung einen er-
weiterten Horizont und die Beschäftigung mit allen grundlegenden
Werken Spaemanns erforderlich machte. 5
Auch wenn Kucińskis Arbeit eine theologische Ausrichtung und
zudem mit dem gewählten Schwerpunkt des Naturrechts eine Ver-
schiebung in den Bereich der praktischen Philosophie erwarten lässt,
gehört sie schon durch die Gründlichkeit seiner Auseinandersetzung
mit Spaemanns Werk zu den Texten, die am ehesten das Potential
einer Gesamtschau der theoretischen Philosophie Spaemanns er-
kennen lassen. Im dritten Teilkapitel sollen die allgemeinen Erträge
dieser Arbeit und ihre Grenzen im Hinblick auf die notwendige Ge-
samtschau dargestellt werden (10.3).

5
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 41.

759

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10.1 Holger Zaborowski: »Robert Spaemann’s
Philosophy of the Human Person«

10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne

Der Ausgangspunkt von Zaborowskis Untersuchung ist die Diagnose


einer mit der Krise der Moderne verbundenen Krise der Philosophie, 1
vor deren Hintergrund Spaemanns Werk Auswege aufzuzeigen ver-
spreche. 2 In einer ersten allgemeinen Betrachtung von Spaemanns
Denken bringt er dessen Konzept des metaphysischen Realismus mit
den Bestrebungen der Phänomenologie, auf die ›Sachen selbst‹ zu-
rückzugehen, 3 durch den Hinweis in Verbindung, dass es Spaemann
in diesem Konzept wesentlich um das Selbstverständliche gehe, 4 das
in der Moderne allerdings in Erinnerung gebracht werden müsse. 5
Zentrale Aufgabe der Philosophie sei es demnach, die in der Moderne
in einen dialektischen Gegensatz geratenen Seiten von Natur und
Freiheit auf eine neue Art zu versöhnen:
What is in an eminent sense the self-evident that we did once know
and, strictly speaking, always already know though very often without
being aware of it? Philosophy is, in Spaemann’s view, primarily the
free recollection of nature. Freedom and nature, he believes, are related
to one another in such a way that freedom acknowledges as its own
what is naturally right and self-evident. 6

1 Vgl. Kapitel 1 »Philosophy in a time of crisis« bzw. Teilkapitel 1.1 »The crisis of
modernity«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person,
1–9.
2 Vgl. Teilkapitel 1.2 »Robert Spaemann’s Christianly informed criticism of moderni-

ty«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 9–18.


3
Vgl.: »Wir wollen uns schlechterdings nicht mit ›bloßen Worten‹, das ist mit einem
bloß symbolischen Wortverständnis zufrieden geben. […] Wir wollen auf die ›Sachen
selbst‹ zurückgehen.« – Husserl, Logische Untersuchungen, Zweiter Theil, Unter-
suchungen zur Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis, 7.
4 Vgl. z. B.: »Auf das Selbstverständliche kann man nur hinweisen, man kann es nicht

eigentlich sagen. […] Wenn dennoch vom Selbstverständlichen immer wieder die
Rede sein muß, so nur deshalb, weil es immer wieder bestritten wird.« – Spaemann,
Moralische Grundbegriffe (1982), Vorwort, 7.
5 Vgl. Kapitel 2 »Conversation, recollection, and the search for happiness: Spae-

mann’s understanding of philosophy«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philo-


sophy of the Human Person, 24–85.
6
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 57.

760

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10.1.1 Christlich inspirierte Kritik der Moderne

Der von Beginn an als Prämisse in Zaborowskis Untersuchung zum


Ausdruck kommende Glaube an die Verbindung von Natur und
Freiheit steht für seine Überzeugung, dass der subjektphilosophische
Standpunkt einerseits und die wissenschaftliche Objektivität ande-
rerseits in einen harmonischen Zusammenhang gebracht werden
können.
Die konkrete Untersuchung des Spaemann’schen Denkens voll-
zieht Zaborowski in vier Schritten. Im ersten Schritt geht es um
Spaemanns Kritik am Projekt der Moderne. Am Leitfaden der sieben
im Essay »Ende der Modernität?« 7 formulierten Kennzeichen der
Moderne expliziert Zaborowski die Hauptlinien von Spaemanns Ge-
genwartskritik, um danach auf die neuzeitliche Transformation der
Erbsündenlehre als Schlüssel zu Spaemanns Verständnis der Mo-
derne zu sprechen zu kommen: 8
Yet if we put Spaemann’s analysis of modernity into a wider context
and explicate what is implicit to it we can see that the fundamental
flaw of modernity is its misunderstanding of the fall and its attempt,
if the fall is, in however transformed a way, recognized at all, autono-
mously to overcome it. In contrast to the modernistic approach to the
doctrine of original sin, the orthodox version shows why human life is
characterized by a fundamental rupture and alienation between nature
and freedom that cannot be overcome dialectically, but can only be
healed by an act of divine intervention. 9
Ausgehend von dieser religiös fundierten Diagnose des Zustands der
Moderne wendet Zaborowski sich im zweiten Schritt Spaemanns Dis-
sertation über de Bonalds Philosophie und die Dialektik des Anti-
Modernismus zu, die er mit Spaemann als eine untaugliche Abwehr-
strategie gegenüber den Fehlentwicklungen der Moderne qualifi-
ziert. 10
Im dritten Schritt thematisiert Zaborowski Spaemanns Philoso-
phie der Person bzw. des Selbstseins, in denen er den Schlüssel zu
Spaemanns Denken und zur Überwindung der Krise der Moderne

7 Spaemann, Ende der Modernität (1986), 232–260.


8 Vgl.: »Although it is often implicit, the issue of how one conceives of original sin is
one of the leading questions of Spaemann’s analysis of modernity.« – Zaborowski,
Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 130.
9 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 132.

10
Vgl. Kapitel 4 »Society, philosophy, and religion: Spaemann and the dialectic of
anti-modernism«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Per-
son, 136–177.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

vermutet: »To speak of persons, Spaemann argues, thus recalls a view


of the individual that calls into question the opposition of nature and
freedom, of facts and norms, and of self-preservation und self-trans-
cendence.« 11 Den Schlüssel zum Personbegriff sieht er dabei in der
menschlichen Selbsterfahrung:
Whoever thinks that all that is, is what is actually the case – that is to
say, whoever utterly dismisses a teleological view of reality – contra-
dicts himself, for he himself, as a person, is always more than what is
actually the case, and this is evident even given the very fact that he is
making a counter-intuitive statement. 12
Von größter systematischer Bedeutung ist somit für Zaborowski die
Verbindung von Teleologie und Personalität: »without the notion of
life, personal identity cannot be adequately conceived.« 13 Der Begriff
des Lebens kommt dabei im personalen Selbstsein erst zu sich selbst,
so dass die Personphilosophie schließlich als höchste Disziplin des
Denkens erscheint: »Hence, the philosophy of Selbstsein can be con-
sidered prima philosophia with ethical, ontological, and epistemolo-
gical implications.« 14
Die bis hierhin offen gebliebene Frage, was nach Zaborowski
zwischen den Seiten der Natur und der Freiheit vermittelt und die
Philosophie des Selbstseins als prima philosophia ermöglicht, beant-
wortet Zaborowski im vierten und letzten Schritt, indem er die von
Spaemann betriebene Aussöhnung von Christentum und Philosophie
als Möglichkeit zur Überwindung der Fehlentwicklungen der Moder-
ne herausstellt. 15 Die von Spaemann entwickelte Philosophie bringt
Zaborowski dabei – mit Verweis auf eine Bezugnahme Spaemanns
selbst 16 – in Verbindung mit Schellings Projekt einer positiven Phi-
losophie: »Schelling’s solution lies in a ›speculative empiricism‹ – a
›new beginning of philosophy‹, as Spaemann points out – the main
feature of which is that it reflects upon the factual and the contin-

11
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 207.
12 Ebd. 202.
13 Ebd. 198.

14 Ebd. 219.

15 Vgl.: »This examination will lead us to his idea of truly post-modern philosophies

and his recollection of a relation between nature and freedom that not only is recon-
cilable with Christianity but truly overcomes the shortcomings of modernity.« – Ebd.
235.
16 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 85–86, u. Ab-

schnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 557, u. Fn. 137.

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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis

gent.« 17 Somit kommt Zaborowski zu folgendem Fazit seiner Unter-


suchung des Spaemann’schen Werks: »A speculative empiricism of
Selbstsein is therefore the alternative that Spaemann proposes to
modernity and its dialectic of objectivism and subjectivism.« 18 Die
Thematisierung von Selbstsein bzw. Person führt nach Zaborowski
in die Religionsphilosophie. 19 Es gibt zu ihr zwar einen genuin phi-
losophischen Zugang; um sie voll zu verstehen, bedarf es jedoch der
Überwindung des rein philosophischen Standpunkts in einer reli-
giösen Umkehr. 20

10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis

Das große Verdienst der Studie Zaborowskis scheint mir darin zu


bestehen, dass er wohl als erster die zentrale Bedeutung der Verbin-
dung von Naturteleologie und Personalität im Denken Spaemanns
herausgearbeitet hat. An diesem Punkt muss aber die Kritik an seiner
Vorgehensweise ansetzen. Nach einer Antwort auf die Frage, wie man
von der Naturteleologie bzw. vom Begriff des Lebens zur Personalität
bzw. zum Selbstsein gelangen kann, sucht man in seiner Studie ver-
gebens. Zwar unterstreicht Zaborowski, dass Leben das Sein von Per-
sonen sei; 21 in welchem Verhältnis aber Leben – etwa nicht selbst-

17 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251. – Vgl.:


»Philosophie beansprucht, ›positiv‹ zu werden in dem Sinne, wie die kontingente
Wirklichkeit selbst von der Philosophie gedacht werden soll. Philosophie wird damit
zu einer Art spekulativem Empirismus.« – Spaemann, Christentum und Philosophie
der Neuzeit (1995), 86.
18 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251–252.

19 Vgl.: »The examination of Robert Spaemann’s philosophy of Selbstsein has led us

to his philosophy of religion.« – Ebd. 233.


20
Vgl.: »Yet his philosophical analysis implies that this statement can be understood
initially, though not fully, from a purely philosophical point of view. Spaemann would
not deny that a full understanding of what it implies to speak of the glory of reality
can only arise if the theological origin and dimension of this notion is taken into
account, and if one acknowledges that God is ›an ‘unpreconceivable’ unity of Being
and meaning‹.« – Ebd. 220.
21 Vgl.: »[…] the notion ›life‹, which is, as Spaemann argues with reference to Aris-

totle, the being of the persons«. – Ebd. 185. – Zaborowski zitiert hier ungenau. An der
Stelle aus »Personen«, auf die er verweist, heißt es: »Leben ist vielmehr, wie Aristo-
teles schrieb, ›das Sein des Lebendigen‹. Personen sind Lebewesen. Ihr Sein und ihre
Identitätsbedingungen sind die von Lebewesen jeweils einer bestimmten Art.« –
Spaemann, Personen (1996), 11.

763

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

bewusstes oder nicht personales – zum personalen Selbstsein steht,


diese für Spaemanns Denken zentrale Frage wird von Zaborowski
ausgeklammert. Allenfalls eine implizite Antwort kann man, und
diese sogar sehr deutlich, aus seiner Studie entnehmen: Der innere
Zusammenhang von Naturteleologie und personalem Selbstsein ist
in der religiösen Vorstellung der Schöpfung verbürgt. 22 Eine solche
Lesart kann sich auf Spaemanns Werk stützen, in dem, wie im zwei-
ten Teil immer wieder gesehen wurde, theologische Überlegungen –
wie zum Ursprung des Personbegriffs 23 – philosophisch angeeignet
wurden und religiöse Intuitionen – etwa der Gedanke einer Verant-
wortung für sich selbst 24 – über die Grenze des philosophisch Denk-
baren hinausgeführt haben. Allerdings scheint mir Zaborowski mit
dieser Vorgehensweise dem von ihm selbst formulierten Anspruch,
philosophische und theologische Schichten im Denken Spaemanns
trennen zu wollen, nicht gerecht zu werden:

22 Explizit ausgesprochen ist dieser hier implizit bleibende Gedanke in einer anderen
Arbeit Zaborowskis. In »Göttliche und menschliche Freiheit. Robert Spaemanns Phi-
losophie des Personseins und die Möglichkeit einer Kriteriologie von Religion« (2008)
schreibt Zaborowski: »Spaemann verweist in seinen philosophischen Überlegungen
zu Religion auf die Tatsache der Schöpfung oder des Gemeint- und Geschaffenseins.
Das mag zunächst verwundern, scheint sich hiermit doch ein theologischer oder reli-
giöser Begriff in den philosophischen Gedankengang eingeschlichen zu haben. Daher
stellt sich die Frage, ob Spaemann hier die Grenzen zur Theologie oder positiven
Religion hin überschreitet. Eine genauere Interpretation seiner Philosophie zeigt,
daß dies nicht der Fall ist. Er geht zwar ausdrücklich vom Paradigma der christlichen
Religion aus, argumentiert aber nicht innerhalb dieses Paradigmas in einer Weise, die
selbst als religiös oder theologisch bezeichnet werden müßte. Wir haben es hier weit
eher mit dem Fall zu tun, daß Theologie und Philosophie dieselben Themen bedenken,
ohne daß dies methodisch vorher koordiniert worden wäre, – etwa in dem Sinne, daß
der Begriff oder die Sache der Schöpfung oder des ›Gemeintseins‹ a priori der Theo-
logie zu- und der Philosophie abgesprochen würde. Denn Spaemann verwendet den
Schöpfungsbegriff in Personen in sehr formaler und theologisch oder religiös nicht
näher spezifizierter (aber daher in einem zweiten Schritt spezifizierbarer) Hinsicht.
Die Frage, ob wir Wirklichkeit als Schöpfung verstehen oder nicht, wird nicht mit
Bezug auf die Autorität etwa eines bestimmten religiösen Textes beantwortet, son-
dern mit Bezug auf die philosophisch relevante Frage, ob wir überhaupt Wirklichkeit
(und damit auch uns selbst) verstehen wollen. Und bei diesem Bemühen um ein Ver-
ständnis von Wirklichkeit hilft dem Philosophen ein lernbereiter Dialog mit der
Theologie oder positiven Religion und der Versuch, die theologisch-dogmatischen
Gehalte ins Philosophische zu übersetzen, soweit dies überhaupt möglich ist.« –
Zaborowski, Göttliche und menschliche Freiheit, 71.
23
Vgl. Abschnitt 8.3.2, Die Verarbeitung der Entdeckung in der christlichen Theo-
logie: Der Akt des Seins, 574–582.
24
Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 501–508.

764

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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis

Spaemann’s criticism of modernity is […] ultimately informed by a


Christian point of view, though it can also be appreciated in purely
philosophical terms. It is, however, important to point out that he
would resist the tendency to confuse philosophy with theology, be-
cause it leads either to a corrupt theology or to substandard philoso-
phy. His philosophy appeals to human reason and may well provide
Christianity with »foundations«, though it does not presuppose Chris-
tian theology in any way. 25
Wie im zweiten Teil dieser Arbeit zu zeigen versucht wurde, gibt es
durchaus einen Weg, um mit genuin philosophischen Mitteln von der
Naturteleologie zur Personalität zu gelangen. Die für diesen Weg
grundlegenden Reflexionen Spaemanns über das Verhältnis von
Leben und Vernunft besonders in »Das Natürliche und das Vernünf-
tige« und in »Glück und Wohlwollen«, jener Nexus also, von dem
Spaemann sagt, es sei »der Gedanke, der die Philosophie konsti-
tuiert« 26, findet bei Zaborowski jedoch keine Beachtung. Auch im
Rahmen der ausführlich von ihm betrachteten Kritik der Moderne 27
vermisst man die Thematisierung ihrer für Spaemanns Denken zen-
tralen philosophischen Fundierung im cartesischen Neuansatz der
Philosophie. Die ausführlich wiedergegebene Kritik Spaemanns an
der als Dialektik von Spiritualismus und Naturalismus interpretier-
ten Moderne geht philosophisch ins Leere, wenn nicht die aus seiner
Descartes-Interpretation hervorgehende Alternative eines metaphy-
sisch-analogen Denkens expliziert wird. Aus dieser Lücke ergibt sich
auch, dass seine an sich zutreffende Charakterisierung von Spae-
manns Philosophie als ›Erinnerung‹ (recollection) der klassischen
Philosophie 28 wenig Einsichten hervorbringt über die große Bedeu-
tung, die die Aktualisierungen vor allem platonischer und aristote-
lischer Gedanken für Spaemanns Denken besitzen. 29

25 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 18.


26
Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123. – Vgl. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 242.
27 Vgl. Kapitel 3 »The dialectic of Enlightenment: Spaemann’s critique of modernity

and its dialectic«. – Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Per-
son, 86–135.
28 Vgl. die Abschnitte des zweiten Kapitels »Philosophy and recollection« und »Re-

collection versus historicism«. – Ebd. 43–47 bzw. 47–52.


29 Diese wird von Zaborowski allenfalls angedeutet. Vgl.: »It may be that the pheno-

menological character of Spaemann’s philosophy (his attempt to go back to the ›things

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

Dass Zaborowski Spaemanns Argumentation verkürzt wieder-


gibt und theologisch überformt, soll an zwei konkreten Beispielen
verdeutlicht werden. Wie oben ausgeführt wurde, 30 mündet Zabo-
rowskis Wiedergabe von Spaemanns Kritik am Projekt der Moderne
in einer ausführlichen Thematisierung des Sündenfall-Mythos. 31 Da-
bei wird der Eindruck erzeugt, dass dieser Mythos für Spaemann eine
Art universales Erklärungsinstrument für die Krise der Moderne und
zugleich Inspirationsquelle für deren mögliche Überwindung ist:
The doctrine of original sin makes a more fundamental statement
about the character of both nature and freedom as fallen and in need
of redemption. Redemption, however, is a gift and needs to be prayed
for. It cannot be achieved autonomously. This is why the modern
transformation of the doctrine of original sin fails, turning inhumane
and irrational, as Spaemann compellingly shows. 32
Rein formal ist angesichts dieser Schlussfolgerung zu fragen, ob die
zweifache Erwähnung des Sündenfalls in »Glück und Wohlwollen« 33
und die Tatsache, dass Spaemann später noch einen Essay zu diesem
Thema verfasst hat, 34 ausreichen, um diesem Mythos ein solch enor-
mes Gewicht in Spaemanns Denken einzuräumen. Triftiger aber ist
der Einwand, dass, wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit ver-
sucht wurde zu zeigen, 35 der Verweis auf den Sündenfallmythos in
»Glück und Wohlwollen« eine Lücke in der philosophischen Argu-
mentation Spaemanns darstellt, um deren Schließung sich Spaemann
insbesondere in »Personen« bemüht hat. Schon in »Glück und Wohl-
wollen« taucht der Verweis auf den Mythos im Kontext einer noch
unvollständigen anthropologischen Theorie auf, bei der es um die
»Selbstzentriertheit der natürlichen Lebendigkeit« 36 und ihre Über-
windung im Personsein geht. Philosophisch eingeholt wird diese Pro-

themselves‹) allows him to bridge the gap between ancient and modern philosophy.« –
Ebd. 35, Fn. 48.
30 Vgl. Abschnitt 10.1.1, Christlich inspirierte Kritik der Moderne, 760–763.

31 Vgl. Teilkapitel 3.5 »The transformation of the doctrine of Original Sin«. – Zabo-

rowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 129–135.


32 Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 133.

33 Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113 u. 244.

34 Vgl. Spaemann, Über einige Schwierigkeiten mit der Erbsündenlehre (1991), 185–

211.
35 Vgl. Abschnitt 7.3.2, Ontologische Fragen und Perspektiven, 505.

36
Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 113.

766

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10.1.2 Zur Kritik der Perspektive Zaborowskis

blematik in Spaemanns Personenphilosophie, 37 in der der Mythos


keine explizite Rolle mehr spielt.
Häufig nimmt Zaborowski in seiner Studie Bezug auf Schelling
und dessen Projekt einer ›positiven Philosophie‹, in deren Tradition er
Spaemanns Denken wesentlich verortet. 38 Diese in der vorliegenden
Arbeit im Grundsatz geteilte 39 These besagt, dass die nur mit dem
Möglichen, dem Notwendigen und dem Unmöglichen beschäftigte
negative Philosophie dadurch erweitert wird, dass das geschichtlich
Kontingente zum Gegenstand einer positiven Philosophie wird. In
Anlehnung an den Essay »Christentum und Philosophie der Neu-
zeit« bezeichnet Zaborowski Spaemanns Philosophie daher in seinem
Fazit als ›spekulativen Empirismus‹. 40 Eine konkrete Ausdeutung die-
ses Gedankens sucht man in Zaborowskis Studie – von allgemeinen
Hinweisen auf die im Schöpfungsgedanken fundierte ›Unvordenk-
lichkeit‹ des Seins abgesehen 41 – jedoch vergeblich. Das für Spaemann
zentrale Ereignis der Entdeckung der Person, durch das die neuzeit-
liche Diastase von Subjekt und Objekt als Rückzug aus einer ur-
sprünglichen Offenheit verstanden werden kann, spielt bei Zabo-
rowski keine Rolle.
Zaborowskis Studie stellt somit einerseits eine überaus ver-
dienstvolle Gesamtschau des Spaemann’schen Denkens dar, verfehlt
aber andererseits den selbst gesetzten Anspruch, 42 die Komplexität
der philosophischen Gedankengänge Spaemanns nachzuzeichnen.
Die Verbindung von Naturteleologie und Personalität, die hier als
Schlüssel zum Verständnis seines Werks herausgestellt wurde, wird
von Zaborowski zwar erfasst, jedoch im Wesentlichen theologisch in-
terpretiert, so dass die philosophische Deutung der Kohärenz dieses
Denkens in den Hintergrund tritt.

37
Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser
Grund‹, 569–570.
38 Vgl. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 12, 40–

41, 61, 228–229, 243, 250–252.


39 Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 557, u. Fn. 137.

40 Vgl. Spaemann, Christentum und Philosophie der Neuzeit (1995), 86, u. Zabo-

rowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 251.


41
Vgl.: »Being is ›unpreconceivable‹, it is, in Schelling’s view, freely created.« –
Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 228.
42
Vgl. Zaborowski, Robert Spaemann’s Philosophy of the Human Person, 18.

767

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10.2 Rolf Schönberger: »Das Sein des Sinnes«

10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen

Rolf Schönberger liefert in seinem Essay »Das Sein des Sinnes« einen
freien Gang durch Spaemanns Gedankenwelt mit einer hohen argu-
mentativen Dichte auf engem Raum, der im Folgenden kurz nach-
gezeichnet werden soll. Ausgangspunkt der Überlegungen ist der Be-
griff des Sinns, der im Zeichen des neuzeitlichen Subjekt-Objekt-
Dualismus dem Begriff des Seins gegenübertritt und zu der Frage
führt, ob Sinn im Sein vorgefunden oder umgekehrt in dieses hinein-
gelegt wird. Um Spaemanns Position deutlicher konturieren zu kön-
nen, skizziert Schönberger zunächst die Positionen anderer, ihm vo-
rangegangener Denker: »Es scheinen im Falle des in Frage stehenden
Zusammenhangs von Sein und Sinn vier Gestalten in Frage zu kom-
men: Martin Heidegger, Nicolai Hartmann, Karl Jaspers und schließ-
lich Alfred North Whitehead.« 1 Heidegger und Hartmann werden
von Schönberger als die Antipoden gekennzeichnet, als die schon
Spaemann sie in einem Vortrag 1957 dargestellt hatte: 2
Ist bei Heidegger der Sinn einzig auf das Verständliche bezogen, wird
er bei Hartmann umgekehrt unabhängig von Verständlichkeit auf be-
stimmte Qualitäten der Erfahrung beschränkt. Aber wie hängt beides
zusammen? Das lässt sich naturgemäß nicht von einer dieser Be-
schränkungen aus verständlich machen. Wenn diese Disparatheit also
überwunden werden muss, dann scheint man den Sinn mit dem Sein
in Verbindung bringen zu müssen. Der Sinn von Sein und das Sein des
Sinnes müssen, so scheint es, zur Einheit gebracht werden. 3
Jaspers und Whitehead haben beide auf ganz unterschiedliche Weise
einen solchen Versuch unternommen, wobei, verkürzt gesprochen,
jener eine allzu allgemeine, dieser hingegen eine allzu konkrete Ver-
sion dieser Einheit vorschlägt. 4 Vor diesem Hintergrund beginnt

1 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 15–16.


2 S. Spaemann, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte (1959), 81–113,
bes. 87–97, u. Teilkapitel 3.1, Philosophie zwischen Metaphysik und Geschichte, 97–
101.
3
Schönberger, Das Sein des Sinnes, 23.
4 Vgl. ebd. 24–28. – S. auch zu Jaspers: Spaemann, Karl Jaspers’ Idee eines philoso-

phischen Glaubens (2009), 214–232, u. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem:

768

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10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen

Schönberger die konkrete Untersuchung von Spaemanns Denken, die


bei der Idee der Teleologie ansetzt und zunächst zur Frage nach dem
Verhältnis von Mensch und Natur führt:
Der Mensch ist Teil der Natur. Daher kann er ein angemessenes
Selbstverständnis nicht unabhängig von einem adäquaten Verständnis
der Natur erreichen. Es stellt sich allerdings dann natürlich die Frage,
was Natur heißt, aber da dies nichts anderes heißt als zu fragen, wie
man Natur verstehen muss, führt dies am Ende auf die beiden Fragen,
was Verstehen überhaupt heißt und was der Mensch ist, zu dessen
Sein es gehört, von sich und seiner Welt ein Verständnis zu haben. 5
Um den mit diesem Fragenbündel aufgefächerten Problemhorizont
angehen zu können, wendet Schönberger sich der Frage nach der
Naturteleologie als möglicher Verbindung zwischen Mensch und Na-
tur zu. Zur »Begründung der Teleologie« 6 führt er mit Verweis auf
verschiedene Schriften Spaemanns vier Argumente an: a) die hart-
näckige Zielverfolgung von Lebewesen, b) das finalistische Moment
in Begriffen wie Bewegung oder Kausalität, c) das von der Natur-
wissenschaft per definitionem ausgeblendete Selbstsein und d) die
innere Widersprüchlichkeit materialistischer Theorien. Argument c)
kommt in dieser Aufzählung besondere Bedeutung zu, insofern hier
Selbstsein wesentlich in der Lebendigkeit fundiert und diese aus-
drücklich als ein Jenseits des Begriffs qualifiziert wird:
Die Zweckausrichtung lebendiger Wesen wird nicht bloß als allge-
meines Strukturmerkmal gefasst. Das ist zwar möglich und sinnvoll,
aber betrifft nur das eine Moment im Begriff des Lebens, nämlich das
strukturelle. Diese Bestimmungen sind wie alle prädikativen Bestim-
mungen indifferent gegenüber der Alternative wirklich oder un-
wirklich. Im Begriff des Lebens kann aber davon nicht vollständig
abgesehen werden. Denn zum Lebendigsein gehören nicht nur Funk-
tionen, sondern ebenso und nicht weniger elementar das Funktionie-
ren. Wenn dies aber nur als das Funktionieren konkreter Wesen vor-
kommen kann und offenkundig eben nicht als allgemeines Lebendig-
sein, dann wird die Bedeutung dieser Wirklichkeit für die Teleologie
wohl einsichtig. 7

Wissen und Glaube, 704–727, u. zu Whitehead: Spaemann, Whitehead oder: Welche


Erfahrungen lehren uns die Welt verstehen? (1983), 171–188, u. Abschnitt 6.1.5,
Whitehead: Eine moderne Philosophie der Natur und ihre Grenzen, 361–371.
5
Schönberger, Das Sein des Sinnes, 31.
6 Ebd. 37–42.

7
Ebd. 40.

769

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

Der sich hier andeutende analoge Begriff des Lebens wird im Folgen-
den im Übergang zur »Verständigung über die Formen des Ver-
stehens« 8 vertieft. Leben ist, so führt Schönberger aus, »nach Aristo-
teles ein Begriff wie viele andere, nämlich wie viele andere Grund-
begriffe unseres Denkens, von denen gilt, dass sie vielfältig ausgesagt
werden« 9. Dass die Natur als ›unseresgleichen‹ zu verstehen ist, kann
nicht über eine begriffliche »Verknüpfung von Gemeinsamkeit und
Unterschied« 10 plausibel gemacht werden, sondern nur im »Ausgang
von der Selbsterfahrung«, die »die Möglichkeitsbedingung für das
Verstehen überhaupt« 11 ist: »Welt- und Selbstverständnis sind des-
halb keine äquivoken Weisen von Verstehen, weil der Mensch sich
nicht einzig aus dem Gegensatz zur Welt verstehen kann.« 12 Die bei-
den Seiten des Seins und des Sinns werden somit vermittelt durch
den analogen Begriff des Lebens: »Man kann nur, so seine These, Sein
und Denken als ein Verhältnis der Analogie denken, wenn der Le-
bensbegriff dies vermittelt.« 13 An dieser Stelle gelangt Schönberger
nun zum entscheidenden Problem seiner Spaemann-Deutung, inso-
fern die Vernunft aus dem angedeuteten analogen Verhältnis aus-
zubrechen scheint:
Aber damit ist eben der Gedanke noch nicht zu seiner vollständigen
Gestalt gebracht. Er liegt vielleicht sogar auf des Messers Schneide,
denn Spaemann denkt ja auf der anderen Seite Leben als Zentriertsein,
das Lebendige als Mittelpunkt seiner Welt, wohingegen die Vernunft
gerade dieses Zentriertsein überwindet dadurch, dass der andere als
einer wahrgenommen bzw. anerkannt wird, der seinerseits eine Um-
welt hat, zu der ich gehöre. Darin liegt offenkundig eine Schwierig-
keit, denn es scheint sich entweder eine solche Gradualität des Seins
denken zu lassen oder ein Gegensatz. Was sich gegensätzlich verhält,
kann keine analog verfasste Stufe sein: Analogie oder Gegensatz. 14
Um dieses Problem lösen zu können, versucht Schönberger die Span-
nung zwischen Vernunft und Leben konkret zu fassen, indem er mit
Bezug auf Ausführungen Spaemanns aus »Personen« darlegt, dass

8 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 42.


9 Ebd. 44.
10 Ebd. 45.

11 Ebd. 46.

12
Ebd. 47.
13 Ebd. 49.

14
Ebd. 50.

770

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10.2.1 Die Teleologie der Einzelwesen und der Bezug zum Ganzen

Lebewesen zwar in ihrer Umgebung Bedeutsamkeiten stiften, es mit


ihnen selbst aber keine Bewandtnis hat. 15 Gegen den daraus resultie-
renden drohenden Bedeutungsverlust der lebendigen Person, die sich
eben dieser Tatsache bewusst wird, führt Schönberger nun den Ge-
danken des Selbstseins an:
Aber der Verdacht, mit der Rückgewinnung der Bedeutsamkeit auf der
Ebene der lebendigen Wirklichkeit sei diese ihrer Relativität wegen
auch schon wieder verloren, kann sich nur sozusagen auf den halben
Gedanken beziehen. Denn der entscheidende und zentrale Spae-
mann’sche Begriff des Lebendigen war ja der des Selbstseins. Man
kann also nicht diese in gewissem Sinne absolute Größe wieder auf-
geben, wenn man die Relativität der Bedeutung einräumt. Darin ist
gerade keine bloße Bezüglichkeit gedacht, sie wird vielmehr gerade
negiert. 16
Indem die lebendige Person zu dem Bewusstsein gelangt, in dem ihre
aus der Lebendigkeit herrührende Bedeutung sich relativiert, eröffnet
sich nach Schönberger eine »umfassendere[…] Perspektive«, in der
ein »Bezug […] auf das Ganze« 17 hergestellt wird. An dieser Stelle
sieht er jedoch die Grenze des theoretischen Denkens überschritten:
»Der Sinn des Ganzen wird daher nicht positiv begründet, sondern im
Begriff der Handlung selbst vorausgesetzt« 18. Im Sinne dieser Über-
schreitung des theoretischen Denkens spricht Schönberger im Ab-
schlusskapitel seines Essays mit Verweis auf ähnlich lautende Zitate
Spaemanns aus jüngeren Aufsätzen 19 davon, dass »Personalität und
Natur im Schöpfungsbegriff« 20 versöhnt werden und gelangt zu fol-
gendem Schlusswort: »Gerade im Selbstsein liegt es ja selbst, dass es
erst in einem nicht mehr rein theoretischen Akt zugänglich wird.
Dies ist der Akt der Anerkennung.« 21

15 Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 52–53, u. Spaemann, Personen (1996),
128 u. 134–135.
16 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 53.

17 Ebd. 54.

18 Ebd. 55.

19 Vgl. Spaemann, Die Vernünftigkeit des Glaubens an Gott (2007), 30, u. Spaemann,

Hirnforschung und Willensfreiheit (2009), 164.


20 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 56.

21
Ebd. 59.

771

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers

Schönberger entwirft in seinem Essay mit souveränem philosophi-


schem Überblick den Kontext der Philosophie des 20. Jahrhunderts,
in dem er Spaemann ausgehend von der Frage nach dem Sinn von
Sein überzeugend verortet. In einer eindringlichen Darstellung ent-
faltet er die für Spaemanns Philosophieren grundlegenden Fragen,
die sich aus dessen Anknüpfung an das teleologische Denken der klas-
sischen Philosophie ergeben. Das zentrale Problem seiner Spaemann-
Deutung scheint mir an der Stelle erreicht zu sein, an der er versucht,
die spezifisch personale Realisierung eines teleologisch verfassten
Lebewesens zu denken. Er tut dies in Abschnitt 6 »Sinn und Be-
deutung« seines Essays 22 in Anlehnung an die Kapitel »Kontext-
unabhängigkeit« und »Tod und Futurum exactum« aus Spaemanns
»Personen«. Der Gedanke, dass für ein selbstbewusstes Lebewesen
Bedeutsamkeit sich relativiert, führt ihn hier über den Begriff des
Selbstseins zu einem Bezug auf »das Ganze« 23, in dem die theore-
tische Perspektive prinzipiell überwunden wird. Mit diesem Argu-
mentationsschritt scheint mir seine Darstellung der Spaemann’schen
Gedanken hinter das eigene Niveau bis zu dieser Stelle zurückzu-
fallen. Bemerkenswert ist, was Schönberger hier gerade nicht sagt.
Die von ihm zitierte Textstelle aus dem Kapitel »Kontextunabhängig-
keit« – »Mit dem Auftreten von Trieb entstehen monadische Zentren
des Seins, die nicht primär Träger von Bedeutsamkeiten sind, sondern
die selbst Bedeutsamkeit stiften« 24 – hat in Spaemanns Text folgende
unmittelbar anschließende Fortsetzung:
Ein Begegnendes als Lebendiges wissen heißt, es als Mitseiendes wis-
sen, das nicht in dem aufgeht, was es für mich ist. Solches Wissen setzt
allerdings mehr voraus als eigene Lebendigkeit, also Zentralität. Es
setzt voraus, daß ein Lebewesen seine eigene Zentralität transzendiert.
Das heißt: Personen wissen sich als lebendige Innerlichkeit neben an-
derer lebendiger Innerlichkeit, die ihrerseits einen eigenen Erfah-
rungskontext stiftet. 25

22 Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 52–55.


23
Ebd. 55.
24 Ebd. 52. – Quelle des Zitats: Spaemann, Personen (2012), 134.
25
Spaemann, Personen (2012), 134.

772

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10.2.2 Zur Kritik der Perspektive Schönbergers

Das hier angesprochene natürliche Transzendieren der lebendigen


Zentralität, das für Spaemanns Konzeption der Personalität grund-
legend ist, wird merkwürdigerweise von Schönberger nicht thema-
tisiert. An der Stelle, an der er den »Gedanken der Relativität der
Bedeutung« erreicht, aus der hervorzugehen scheint, dass es »Be-
deutung nur für selbst Bedeutungsloses« 26 gibt, liegt der systemati-
sche Ort des Übergangs von der Teleologie-Thematik zu Spaemanns
spezifischem Konzept der Personalität. Die primär aufschlussreiche
Textstelle zu diesem Übergang findet sich bei Spaemann im Kapitel
»Wohlwollen« aus »Glück und Wohlwollen«, in dem er zuerst das
durch den Anderen vermittelte Hervortreten des Selbst als »be-
wandtnisloses Um-willen« 27 thematisiert. 28 Dieses Hervortreten ist
gleichbedeutend mit dem Erscheinen des Anderen als »Bild des Unbe-
dingten« 29, auf das der im Mittelpunkt von Spaemanns »Versuch über
Ethik« stehende Gedanke praktischer Wahrnehmungsevidenz be-
zogen ist. In dieser Wahrnehmungsevidenz ist auch der Bezug auf
»das Ganze der Wirklichkeit« 30 in der Handlung fundiert, auf die
Schönberger sich im Anschluss selbst mit Bezug auf »Glück und
Wohlwollen« bezieht. 31 Die zuvor zitierten Textstellen aus »Per-
sonen« bauen im Kontext dieser beiden Hauptwerke Spaemanns,
wie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit versucht wurde zu zei-
gen, auf den genannten Gedanken aus dem Kapitel »Wohlwollen« aus
»Glück und Wohlwollen« auf. Erst die Anerkennung des Anderen im
Akt der Selbsttranszendenz stiftet den personalen Zusammenhang,
der seinerseits nur aus dem teleologischen Denken heraus verständ-
lich ist, insofern Personalität reiner Ausdruck der ontologischen Dif-
ferenz ist, die sich in allen Phänomenen natürlicher Zweckhaftigkeit
bereits ausdrückt. Diese ontologische Differenz, derzufolge wirk-
liches Leben nur als Akt und nicht als Weise des Seins bzw. des Le-
bens verstanden werden kann, thematisiert Schönberger, wie oben
gesehen, selbst im Rahmen seiner »Begründung der Teleologie«. Das
oben bereits hervorgehobene Argument c), das auf diese ontologische

26 Schönberger, Das Sein des Sinnes, 53.


27 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 124.
28 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.

29 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

30 Ebd. 196.

31
Schönberger zitiert eine Textstelle aus dem Kapitel »Handlung und Systemfunk-
tion«. Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 55, u. Spaemann, Glück und Wohl-
wollen (1989), 196–197.

773

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

Differenz zielt, scheint mir aber bei Spaemann ein Gewicht zu haben,
dem Schönberger durch die Einbindung in die dortige Aufzählung
nicht gerecht werden kann. Systematisch hängt es vielmehr mit der
Analogizität von Sein, Leben und Bewusstsein zusammen, die Schön-
berger im Anschluss in seiner »Verständigung über die Formen des
Verstehens« entwickelt hat. Dieser Zusammenhang hätte klarer zur
Sprache gebracht werden können durch die Reflexion auf das Ver-
hältnis des personalen Lebens zu der von Schönberger rekonstruier-
ten Naturteleologie.
Zusammenfassend ist also zu konstatieren, dass Schönberger in
seinem weitgehend überzeugenden Nachvollzug der teleologischen
Konzeption Spaemanns bis an die Grenze der Personenphilosophie
gelangt. Das Mitsein wird von ihm nur im Sinne des Handlungs-
begriffs bzw. einer prinzipiellen Überwindung der theoretischen Ein-
stellung thematisiert. Das für die Philosophie der Begegnung ent-
scheidende Weiterdenken der Teleologie-Konzeption in Richtung
personaler Selbsttranszendenz und die daraus sich ergebenden
grundlegenden Konstellationen im apriorischen Beziehungsraum
der Personen werden von Schönberger nicht reflektiert.

774

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10.3 Andrzej Kuciński: »Naturrecht in der
Gegenwart«

10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός

Die Bezugnahme auf Kucińskis umfangreiche Studie »Naturrecht in


der Gegenwart« macht eine intentio obliqua bei ihrer Darstellung im
vorliegenden Zusammenhang notwendig. Kucińskis Anliegen ist eine
grundlegende Revision der Geschichte des Naturrechtsbegriffs einer-
seits, der Versuch einer Erneuerung naturrechtlichen Denkens in der
Gegenwart andererseits, für dessen Realisierung das philosophische
Werk Robert Spaemanns von Kuciński als wesentliche Inspirations-
quelle ausgewählt wird. Der erste Teil der Arbeit, der dem Begriff, der
Geschichte und der Kritik des Naturrechtsdenkens gewidmet ist, ist
hier nicht von Interesse. Die Aufmerksamkeit gilt im Folgenden ins-
besondere den ersten drei Kapiteln des zweiten Teils seiner Arbeit, 1 in
der eine Gesamtbetrachtung der Philosophie Spaemanns unternom-
men wird als Grundlage der anschließend gestellten Frage nach der
möglichen Erneuerung des Naturrechtsdenkens vor dem Hinter-
grund wesentlicher im Diskurs der Gegenwart präsenter Ethik-
modelle. Neben dem für den Autor leitenden Interesse an der Frage
des Naturrechts werden in der folgenden Darstellung auch seine Er-
wägungen zur Ersetzung der Aussagen- durch die Prädikatenlogik 2
ausgeblendet, da sie zur hier interessierenden theoretischen Philo-
sophie Spaemanns nichts beitragen. Die folgende Darstellung orien-
tiert sich somit an den Kapitel 2.1 bis 2.3 der Arbeit Kucińskis unter
den Oberbegriffen Naturteleologie, Mensch und Person.
Die Thematisierung des für Spaemanns Philosophie grundlegen-
den teleologischen Denkens in Kapitel 2.1 »Naturteleologische Be-
trachtung des Lebendigen« 3 fügt Kuciński in einen »noch grund-
legenderen Horizont« ein: »den der Unterscheidung von Sein und
Schein, von Wirklichkeit und ihrer Simulation« 4, in dem die »Seins-

1 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 231–426.


2 Vgl. ebd. Abschnitt 1.5.5, Perspektive für ein konkretisierungsfähiges Naturrecht:
ein logisch-theoretischer Paradigmenwechsel?, 220–229, u. Abschnitt 2.5.8, Die Per-
spektive einer logisch-theoretischen Fortführung des Naturrechtsdenkens, 565–567.
3 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 231–302.

4
Ebd. 231. – Kuciński bezieht sich dabei auf: Spaemann, Wirklichkeit als Anthropo-

775

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

frage als metaphysischer Horizont der Deutung von Mensch und


Welt« 5 gestellt wird. Im Mittelpunkt dieser vorgelagerten Betrach-
tung steht Spaemanns Text »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹,
›existiert‹ und ›es gibt‹« 6, dessen knappe inhaltliche Rekapitulation
Kuciński zu folgendem Fazit kommen lässt:
Spaemann kommt auf diese Weise zum Schluss, dass die ihre Wahr-
heit selbst verbürgende Substanzialität der bloß auf das Denken fixier-
ten Subjektivität vorausgeht, und damit behauptet er auch den Primat
einer teleologisch orientierten Ontologie vor der »zum Begriff des
Subjektes und des Gegenstandes, nicht zum Begriff des Seins« 7 ge-
langenden Transzendentalphilosophie. 8
Der »Ort der Erscheinung des Seins« 9 ist die menschliche Person,
insofern »die Transzendierung der eigenen Bewusstseinsinhalte in
der Gleichursprünglichkeit von Selbsterfahrung und Wahrnehmung
des Anderen zustande kommt« 10. Für die menschliche Perspektive gilt
demnach, »dass der Begriff des Seins nur durch den Bezug zum Leben
gewonnen werden kann und dieses wiederum paradigmatisch im
menschlichen Leben als bewusstem Leben erlebt wird« 11. Vor dem
Hintergrund dieser allgemeinen Explikation der leitenden Fragestel-
lung und des metaphysischen Horizonts der Untersuchung beginnt
Kuciński dann eine im Wesentlichen an der Gedankenentwicklung
von »Natürliche Ziele« 12 orientierte Wiedergabe der Grundlagen des
teleologischen Denkens, der Geschichte seiner Überwindung und des
Spaemann’schen Plädoyers für seine Erneuerung, die eine Rückkehr
zum klassischen Lebensbegriff impliziert: »Der Lebensbegriff kehrt
somit zurück an die Stelle zwischen Sein und Denken, aus der ihn
der neuzeitlich-cartesianische Dualismus zwischen res extensa und

morphismus (2000), 188–215 – vgl. Abschnitt 9.3.2, ›Summen‹ des Spaemann’schen


Denkens im Vergleich, 727–744 – und unterstreicht die fundamentale Bedeutung der
Unterscheidung zwischen Wirklichem und Unwirklichem für den philosophischen
Ansatz Spaemanns. – Ebd. 232–233.
5 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 232.

6 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010),

27–49. – Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 324–331.


7 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 44.

8 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 236.

9 Ebd. 238. – Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 137.

10
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 237.
11 Ebd. 238.

12
Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005).

776

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10.3.1 Die Zuspitzung des τέλος auf θεός

res cogitans verdrängt hat.« 13 Den Hinweis Spaemanns und Löws auf
die konstitutive Bedeutung des »Unbedingten« für die »teleologische
Deutung« 14 der Phänomene bezeichnet Kuciński als eine in die Onto-
logie eingebaute »Sicherung« 15, durch die in einer erneuerten Teleo-
logie eine »religionsphilosophische Entscheidung zugunsten der ab-
soluten Begründungsinstanz« 16 falle.
Im Mittelpunkt des Kapitels 2.2 »Anthropologische Grundlage
des Naturrechts: die Teleologie der menschlichen Natur« 17 steht der
Naturbegriff einerseits in einer geschichtlichen, andererseits in einer
ontologischen bzw. metaphysischen Betrachtung. 18 Auf der ge-
schichtlichen Ebene geht es um die im 16. Jahrhundert entstandene
Antithese von Natur und Gnade, die in der Folge aufkommende Dia-
lektik des Naturbegriffs und Spaemanns intensive Auseinanderset-
zung mit Rousseau, wie sie im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit
detailliert nachgezeichnet wurden. Auf der metaphysischen Ebene
stehen der teleologische Naturbegriff Spaemanns und die Frage nach
dessen Erneuerbarkeit in der Gegenwart im Mittelpunkt. Das Schlüs-
selzitat aus Spaemanns Essay »Natur« 19, wonach »das Bleiben in der
Natur gegen die Natur ist« 20, kommentiert Kuciński wie folgt:
In diesem Konzept kommen die verschiedenen Gebrauchsweisen des
Naturbegriffs durch Spaemann zur Sprache: Die menschliche Natur
ist die spezifische Form des Menschen, Naturwesen zu sein. Und im
Menschen überschreitet sich die Natur auf ein Mehr hin, verstanden
als μέθεξις, Teilhabe am Göttlichen, wobei diese ihre Eigenschaft aris-
totelisch-thomanisch in der teleologischen Verfassung aller Natur-
wesen grundgelegt ist. 21
Stark akzentuiert Kuciński somit in seiner Betrachtung des Natur-
begriffs die theologische Deutung der Teleologie: »Die Zuspitzung
des τέλος auf θεός ist für Spaemann die letzte Bedingung einer sinn-
vollen Naturteleologie überhaupt.« 22 Von diesem theologisch kon-

13
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 299.
14 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 242.
15 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 280.
16 Ebd. 302.
17 Ebd. 303–341.
18 Vgl. Kapitel 5, Die Spur des Absoluten in der Natur, 185–318.
19 Spaemann, Natur (1973), 19–40.
20
Ebd. 32–33.
21 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 312.
22
Ebd.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

notierten Naturbegriff gelangt Kuciński zum »Sprung der Ver-


nunft« 23, der zum amor benevolentiae führt, und zum »metaphysi-
schen Realismus mit seiner in die Äußerlichkeit übergehenden Inner-
lichkeit von zielbestimmten, lebendigen Wesen« 24. Entscheidend für
seine Deutung des Naturbegriffs im Allgemeinen und des Begriffs
der menschlichen Natur im Besonderen ist dabei der christliche
Bezug:
Erstrebt man also konkrete Hinweise auf die inhaltliche Füllung der
menschlichen Natur, so ist man durch Spaemann auf das Gewicht re-
ligiöser Weltbetrachtung verwiesen, insbesondere auf das Christen-
tum als die von ihm bevorzugte Religion, die verschiedene Dimensio-
nen des Humanum integriert. Das setzt jedoch voraus, dass sich das
Christentum nicht wie eine beliebige Weltanschauung unter anderen
relativiert. 25
Der »Verpflichtungscharakter der menschlichen Natur« lässt sich, so
Kuciński, ontologisch nur durch die Existenz »eines göttlichen Ge-
setzgebers« begründen, »der hinter der Natur steht und auf den sie
zurückzuführen ist« 26.
Kapitel 2.3 »Personendenken als Affirmation des Mensch-
lichen« 27 beginnt Kuciński mit dem programmatischen Satz: »Das
Personendenken Spaemanns ist ein Konvergenzpunkt seiner ontolo-
gischen, anthropologischen und ethischen Überlegungen, die man auf
den folgenden gemeinsamen Nenner bringen könnte: Aufwertung
des Humanum unter Hervorhebung seiner Besonderheit.« 28 Nach
Kuciński geht Spaemanns Personenbegriff aus der zuvor betrachteten
Teleologie des Lebendigen und der menschlichen Natur hervor. Spae-
mann binde daher mit seiner Personenphilosophie »die Anthropo-
logie an die Metaphysik zurück, wenn er behauptet, dass die Trias
Körper – Seele – Geist dem klassischen Zusammenhang von Sein –
Leben – Bewusstsein entspricht« 29. In Bezug auf die theoretische Phi-
losophie Spaemanns ist an dieser Stelle nach dem genauen Profil der
Besonderheit zu fragen, die die Person aus der Natur heraushebt.

23 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 319.


24 Ebd.
25 Ebd. 332.
26 Ebd. 335.
27
Ebd. 342–426.
28 Ebd. 342.
29
Ebd. 366.

778

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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis

Diese »differentia specifica des Menschen als Person« 30 fasst Kuciński


folgendermaßen zusammen:
Die Besonderheit der Personen liegt darin, dass sie auf eine andere Art
und Weise sind, was sie sind, als andere Wesen sind, was sie sind – sie
sind nämlich mit ihrem Sosein nicht identisch. Aus der Einmaligkeit
und Einzigkeit der Person ergibt sich ihre Bezeichnung als nomen dig-
nitatis, der die Unantastbarkeit impliziert. Personen sind nicht instan-
tane Realisierungsformen des Allgemeinen, sondern das Allgemeine
selbst. Die Besonderheit der Person liegt außerdem darin, dass sie sich
zu ihrer Natur verhalten und sie ggf. verneinen kann, obwohl ihre
Selbstrealisierung nur innerhalb der Grenzen der Natur möglich ist. 31
Seine aus der Naturteleologie hergeleitete Bestimmung des Unter-
scheidungsmerkmals der Person relativiert er, indem er eine »nicht-
religiöse Begründung« 32 von Personalität im Sinne der theologischen
Dimension der Teleologie ausdrücklich ausschließt. Darin erblickt er
jedoch keine Schwäche der philosophischen Konzeption Spaemanns,
da dieser »den philosophischen Bezug auf das Unbedingte zur Er-
klärung des Personengeheimnisses nicht exklusiv, sondern inklusiv
betrachtet, sprich einen philosophischen Weg einschlägt, den er auch
einem Konfessionslosen zuzumuten scheint« 33. Spaemann argumen-
tiert somit nach Kuciński philosophisch im Hinblick auf Phänomene,
deren nichtreligiöse Interpretation selbstwidersprüchlich wäre.

10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis

Kucińskis Darstellung des Spaemann’schen Denkens zeugt von einer


großen Vertrautheit mit dessen Schriften und besticht durch ihre
Gründlichkeit in dem Versuch, diese im Sinne einer einheitlichen
Lesart zu ordnen und auszuwerten. Allerdings ist diese einheitliche
Lesart sehr deutlich von einem religiösen Geist durchdrungen und es
ist kritisch nach der Angemessenheit dieser Lesart in Bezug auf ihren
Gegenstand zu fragen. Kuciński spricht mit Bezug auf das Denken
Spaemanns von einer »Theologisierung der Philosophie« 34, ohne die

30 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 357.


31 Ebd. 424.
32
Ebd. 417.
33 Ebd. 418.
34
Ebd. 421.

779

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

Frage zu reflektieren, ob diese Sicht der Eigenart von Spaemanns


Denken oder einer konkreten Deutung zuzuschreiben ist, für die Ku-
cińskis Arbeit selbst als Beispiel stehen kann. Die Frage nach der An-
gemessenheit von Kucińskis Deutung im Hinblick auf das Werk
Spaemanns, die nicht gleichbedeutend ist mit der nach der hier nicht
in Abrede gestellten inneren Kohärenz seiner Ausführungen, kann
durch eine allgemeine und zwei konkrete Beobachtungen beant-
wortet werden.
Die allgemeine Beobachtung besteht darin, dass Kuciński we-
sentliche Aspekte von Spaemanns Denken ausblendet und regel-
mäßig die philosophische Durchdringung der Zusammenhänge durch
ein Ausweichen auf theologische Positionen ersetzt. Wie etwa lässt
sich in Bezug auf die Teleologie-Thematik die durchaus sehr kritische
Betrachtung der Theologisierung der Teleologie bei Thomas von
Aquin durch Spaemann und Löw 35 mit der von Kuciński konstatier-
ten »religionsphilosophischen Entscheidung zugunsten der absoluten
Begründungsinstanz« 36 vereinbaren? In der Sache jedenfalls geht es
den Autoren von »Natürliche Ziele« um nicht eliminitavistisch redu-
zierbare Phänomene der lebendigen Natur, in Bezug auf die sie die in
der Geschichte der Philosophie hervorgebrachten Deutungsversuche
rekapitulieren, wobei die theologische Deutung durch ihre innere
Tendenz zur Selbstliquidierung von ihnen zumindest als problema-
tisch gekennzeichnet wird. Wie lässt sich weiter Spaemanns dezidiert
naturphilosophische Deutung der Person als ›Haben einer Natur‹ mit
Kucińskis Lesart verbinden, wonach vor uns das »religionsphiloso-
phische Plädoyer Spaemanns für die Annahme eines […] absoluten
Wesens« liege, das »die Personalität im Sinne der Geschöpflichkeit
samt der Normativität der menschlichen Natur begründet« 37? Wie
in Abschnitt 8.5.2 des zweiten Teils der vorliegenden Arbeit gezeigt
wurde, 38 führen zwar praktische Fragen der Lebensführung von Per-
sonen nach Spaemann zwangsläufig in den Bereich der Religion, im
Bereich der theoretischen Überlegungen dagegen entwickelt Spae-
mann eine genuin philosophische Argumentation, die mit dem Be-
griff der Person an die Grenze des Denkbaren gelangt. Diese sehr

35 Vgl. Abschnitt 5.2.3, Thomas von Aquin: Wie die Kunst in die Natur hineinkam,
234–241.
36 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 302.

37
Ebd. 426.
38 Vgl. Abschnitt 8.5.2, Das Verhältnis der Personenphilosophie zur Religion, 643–

650.

780

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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis

klare und für Spaemanns Intentionen nach meinem Dafürhalten we-


sentliche Unterscheidung wird durch Kucińskis Deutung eingeebnet.
Die Kehrseite seines Ausweichens auf theologische Positionen
besteht darin, dass Kuciński im Rahmen seiner genuin philosophi-
schen Argumentationen wesentliche Zusammenhänge von Spae-
manns Denken verkennt oder so verkürzt, dass sie nur wiederum
durch eine theologische Stützung denkbar sind, was nun an zwei Bei-
spielen gezeigt werden soll. Im Abschnitt 2.1.1 »Die Seinsfrage als
metaphysischer Horizont der Deutung von Mensch und Welt« 39 ver-
sucht Kuciński auf wenigen Seiten zu erläutern, wie Spaemann von
der ›Seinsfrage‹ zur Person als ›Paradigma des Seins‹ gelange. Es geht
um die mit dem ›metaphysischen Realismus‹ verbundene Frage, wie
der aristotelische Substanzbegriff neuzeitlich aktualisiert bzw. wie ein
Jenseits des Begriffs gedacht werden kann. Um diese Verbindung von
»Denken und Sein« 40 zu zeigen, bezieht Kuciński sich auf Spaemanns
Untersuchung des Fortschritts vom ›cogito‹ zum ›sum‹, wobei er sich
allerdings nur auf die Überlegungen aus »Über die Bedeutung der
Worte ›ist‹, ›existiert‹ und ›es gibt‹«, nicht auf die wesentliche Diffe-
renzierung der Deutung dieses Schrittes im Descartes-Essay aus dem
Jahre 1987 bezieht. 41 Die Bedeutung des Fortschritts vom ›cogito‹
zum ›sum‹ versteht Kuciński nun so, dass »das Bewusstsein, das ›Ich
denke‹ sagt, […] das Maß seiner Wahrheit nicht an dem absoluten
Bewusstsein des Genius malignus, sondern in sich selbst« 42 findet.
Damit ist nach Kuciński die »ihre Wahrheit selbst verbürgende Sub-
stanzialität« 43 der Person freigelegt, die in einem »Akt der Anerken-
nung« 44 von anderen wahrgenommen wird. Völlig unklar bleibt in
diesem Argumentationsgang, wie aus der solipsistischen cartesischen
Reflexion zu einer Pluralität von Personen zu gelangen ist, wie die
Position des absoluten Bewusstseins von anderen Lebewesen einge-
nommen werden kann. In der ausführlichen Analyse des besagten
Schrittes in der vorliegenden Arbeit 45 wurde gezeigt, dass Descartes

39 Vgl. Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 232–238, u. Abschnitt 10.3.1, Die


Zuspitzung des τέλος auf θεός, 775–779.
40 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 235.

41 Vgl. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.

42 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 235.

43 Ebd. 236.

44
Ebd. 235.
45 Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes: Der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351,

u. Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

zwar durch eine »Theologisierung der Ontologie« die Dialektik zum


Stehen bringen und die res cogitans als Substanz der cogitationes
denken kann, dass zum Gedanken der »Anerkennung eines fremden
Vernunftwesens« 46 aber nur eine sich bewusst von Descartes distan-
zierende metaphysisch-analoge Interpretation dieses Schrittes führen
kann. 47 Da Kuciński diesen Zusammenhang nicht sieht, ist er folge-
richtig in seiner Deutung des Schrittes vom Denken zum Sein zu
eben jener Theologisierung der Ontologie gezwungen: »Der Primat
des Seins mündet bei Spaemann in seine Letztbegründung im Gottes-
gedanken.« 48 Damit ist aber die philosophische Antwort Spaemanns
auf die Seinsfrage ausgeblendet.
Ausgehend von dem für Spaemann zentralen Gedanken einer
»metaphysischen Trias Sein – Leben – Bewusstsein« 49, die als analoge
Begriffe im Sinne einer Stufenfolge zu denken sind, betont Kuciński:
»Das Sein der Personen ist das Leben.« 50 Von zentraler Bedeutung für
eine Ontologie der Person ist, wie oben gesehen, 51 die Frage, wie Per-
sonsein als Steigerung des Lebendigseins gefasst werden kann, ohne
dass diese Steigerung als prädikative Erweiterung des Lebensbegriffs
verstanden wird. Kucińskis Antwort auf diese Frage hebt nach mei-
nem Dafürhalten die philosophische Kohärenz von Spaemanns Onto-
logie der Person auf. Mit Bezug auf ein Zitat aus »Personen« schreibt
Kuciński:
»Person wäre dann jemand, der das, was er ist, auf andere Weise ist, als
andere Dinge oder Lebewesen sind, was sie sind.« 52 In diesem Sinne ist
der Mensch Person, weil sein Verhältnis zu seinem Menschsein anders
ist als z. B. das Verhältnis des Hundes zu seinem Hundsein: Der
Mensch hört auf zu existieren, wenn er stirbt und er verändert sich

46 Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 132. – Vgl. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 393.
47 Mit verantwortlich für die meines Erachtens nicht haltbare Deutung des Zusam-

menhangs bei Spaemann durch Kuciński scheint mir zu sein, dass er den später ent-
standenen Essay »Das Sum in Descartes’ Cogito Sum« hier nicht berücksichtigt, der
die in dem früheren Text Spaemanns angedeuteten Zusammenhänge erst zu voller
Klarheit gebracht hat.
48 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 236.

49 Ebd. 424.

50 Ebd. 423.

51
Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-
tät, 585–588.
52
Spaemann, Personen (1996), 15.

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10.3.2 Zur Kritik der Perspektive Kucińskis

nicht bloß in eine nächste Gestalt des einzigen Substrats, das solchen
Wandlungen zugrunde liegt. Denn er ist nicht unmittelbare Realisie-
rung eines Artbegriffs wie der Hund. 53
Dass der Hund, wenn er stirbt, sich demnach nur verändert in eine
andere Gestalt des Substrats, widerspricht ausdrücklich dem aristote-
lischen Gedanken, um den es Spaemann geht. Auf derselben Seite
von »Personen«, aus der Kuciński hier zitiert, heißt es über den Hund
weiter: »Wenn er nicht bellt, fährt er doch fort zu existieren. In dem
Augenblick aber, in dem er aufhört, ein Hund zu sein, sagen wir, er ist
nicht mehr.« 54 Auch der Hund hört also auf zu existieren, wenn er
stirbt, auch wenn er im Unterschied zum Menschen eine unmittel-
bare Instantiierung seines Artbegriffs ist. Eine falsche Aussage
enthält daher auch die unmittelbare Fortsetzung der hier zitierten
Textstelle bei Kuciński: »Die menschliche Identität hat also die Be-
sonderheit, dass der Mensch nicht mit seinem Sosein identisch ist.« 55
Diese Nicht-Identität mit seinem Sosein aber gilt erklärtermaßen
auch für den Hund. Spaemanns Antwort auf die Frage, »ob Leben
zum Sosein des Lebendigen gehört oder aber das Existieren dieses
Soseins meint«, die »über die Wahrheit des Satzes, Leben sei das Sein
der Person« 56, entscheidet, ist eindeutig: »Leben als solches kann
nicht sein oder nicht sein. Es ist Sein.« 57 Wie im zweiten Teil der vor-
liegenden Arbeit gezeigt wurde, lässt sich der Gedanke der Analogi-
zität von Sein, Leben und Person und damit die genuin philosophi-
sche Fundierung des Personbegriffs nur aufrechterhalten, wenn
Leben auf die Seite des Existierens gehört. 58 Der Unterschied zwi-
schen dem Menschsein und dem Hundsein liegt nach Spaemann viel-
mehr darin begründet, dass
wir das Verhältnis des Menschen zu seinem Menschsein anders den-
ken als das Verhältnis des Hundes zum Hundsein. Wir denken hier ein
Verhältnis, also eine innere Differenz, die wir in den anderen Fällen

53
Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 356–357.
54 Spaemann, Personen (1996), 15.
55 Kuciński, Naturrecht in der Gegenwart, 357. – Vgl. auch: »Die Besonderheit der

Personen liegt darin, dass sie auf eine andere Art und Weise sind, was sie sind, als
andere Wesen sind, was sie sind – sie sind nämlich mit ihrem Sosein nicht identisch.«
– Ebd. 424.
56 Spaemann, Personen (1996), 80.

57
Ebd. 81.
58 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 590–591.

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10 Alternative Perspektiven auf Spaemanns Gesamtwerk

nicht denken, wo wir ein Individuum als Exemplar einer Art identifi-
zieren. Der Mensch ist offenbar nicht auf die gleiche Weise Mensch,
wie der Hund Hund ist, nämlich als unmittelbare Instantiierung sei-
nes Artbegriffs. 59
Bei diesem Unterschied geht es aber nicht um Identität oder Nicht-
Identität mit dem Sosein, sondern um das ›Haben einer Natur‹, über
das der Hund nicht verfügt. Dieses spezifische Verhältnis der Person
zu ihrer Natur verwechselt Kuciński also mit der ontologischen Dif-
ferenz von Existenz und Sosein bzw. Wesen, die nach Spaemann zu-
mindest auf alle Lebewesen zu beziehen ist. Die für den Zusammen-
hang von Teleologie und Personalität bei Spaemann wesentliche
Auffassung des Lebens als Existenz wird somit von Kuciński nicht
erfasst. Die Reservierung der ontologischen Differenz für die Person
lässt so einmal mehr die Frage aufkommen, wie die philosophischen
Elemente seiner Argumentation Bestand haben sollten ohne den
theologischen Rahmen, der ihre Defizite überdeckt. Mit diesem Rah-
men aber steht und fällt Kucińskis Spaemann-Deutung, die wesent-
lich in einer Theologisierung seiner philosophischen Positionen be-
steht.
Festzustehen scheint mir zumindest soviel, dass, wenn Kucińskis
stark theologisch orientierte Lesart als dem Werk Spaemanns vollauf
angemessen bezeichnet werden müsste, Spaemanns Denken folge-
richtigerweise im philosophischen Diskurs auch in Zukunft keine
sehr bedeutende Rolle spielen dürfte. Aus dieser Lesart würde näm-
lich – ungeachtet der zitierten Absicht Kucińskis, sie auch den Kon-
fessionslosen zumuten zu wollen – eine klare Vorentscheidung spre-
chen, durch die dieses Denken sich zumindest in einem Randbereich
des philosophischen Diskurses verorten lassen würde. Da Spaemann
selbst aber in seinen Texten sehr klar unterschieden hat zwischen
genuin philosophischen Argumentationen und religiösen Erwägun-
gen, 60 scheint es mir im Sinne dieser philosophischen Argumentatio-
nen selbst geboten, gegen seine theologische Vereinnahmung phi-
losophisch zu argumentieren.

59 Spaemann, Personen (1996), 16.


60 Vgl.: »Bei all seinen Äußerungen bleibt Spaemann dem Grundsatz treu, betont
sachlich zu argumentieren und den Pfad der Dominanz des philosophischen Argu-
ments nicht zu verlassen. Zum Ausgangspunkt seines Denkens nimmt Spaemann an
keiner Stelle den betont ›gläubigen‹ Menschen, sondern den ›Freund der Weisheit‹,
der das vernunftgeleitete Argument in den Vordergrund stellt.« – Breuer, Moral-
theologie im Lichte der Philosophie Robert Spaemanns, 214.

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11 Die Philosophie der Person im
philosophischen Diskurs der Gegenwart

Der Begriff der Person kann als ein Schlüsselbegriff der Gegenwarts-
philosophie bezeichnet werden. Ausgehend von ihm eröffnet sich die
Möglichkeit, die Stellung Spaemanns im philosophischen Diskurs der
Gegenwart zu untersuchen, da in den Diskussionen um den Person-
begriff zugleich zentrale Themenfelder seines Denkens berührt wer-
den. Michael Quante nennt »exemplarisch vier große Bereiche«, in
denen die Person eine bedeutende Rolle spielt:
– das Leib-Seele- oder Körper-Geist-Problem,
– das Freiheitsproblem,
– das Problem des Selbstbewusstseins,
– das Problem der Begründung der Ethik. 1
»Der Begriff der Person«, so Quante, »lässt sich als eine Art Knoten-
punkt ansehen, in dem sich diese vier klassischen Fragen der Philo-
sophie – neben einigen anderen – berühren und durchdringen.« 2 In
nicht geringem Maß bezeichnen diese vier Fragen aber auch die Pro-
grammatik des Spaemann’schen Philosophierens. Der Einheitspunkt
eines Denkens, das, wie bereits in der Einleitung zum zweiten Teil
dieser Arbeit betont wurde, 3 das Erinnern an das Gewordensein von
philosophischen Gedanken 4 als seine Aufgabe begreift, kann um so
mehr mit dem Begriff der Person benannt werden, als in ihm, wie
Dieter Sturma bemerkt, ein Kristallisationspunkt der neuzeitlichen
Philosophie gesehen werden kann: »Retrospektiv läßt sich in der Ge-
schichte der Philosophie der Neuzeit geradezu von einem Projekt der
Philosophie der Person sprechen, an dem oftmals unbemerkt und mit

1 Quante, Person, 5.
2
Ebd.
3 Vgl. die Einleitung zum zweiten Teil, 88–89.
4
Spaemann, Über Gott und die Welt (2012), 164.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

unterschiedlicher Intensität eine Vielzahl von Philosophen mit-


gewirkt haben« 5. Die unscharfen Grenzen dieses Projekts der Phi-
losophie sind freilich mit einer Offenheit des mit dem Begriff der
Person eröffneten Fragehorizontes verbunden. Denn die »Entdeckung
der Person begann«, wie Theo Kobusch bemerkt, »zu bestimmter
Zeit, aber sie ist noch nicht abgeschlossen« 6. Personale Identität, auf
die wir uns im Alltag wie selbstverständlich berufen, entpuppt sich,
sobald das philosophische Nachdenken sich ernsthaft auf sie einlässt,
als ein Schlüsselproblem, das die Gegenwartsphilosophie, wie mit
Verweis auf Derek Parfit gezeigt werden kann, in ein Dilemma führt:
Entweder, so argumentiert Parfit, hält man an der Voraussetzung fest,
daß für jede gegenwärtige Person A und jede zukünftige Person B ent-
scheidbar sein muß, ob B dieselbe Person ist wie A oder eine andere
Person, dann muß man sich angesichts der üblichen fiktiven Beispiele
allerdings auf die Konsequenz einstellen, Personen als separate Entitä-
ten gegenüber Körpern, Gehirnen und auch Sequenzen psychischer
oder physischer Ereignisse aufzufassen, was einem Rückfall in den
Cartesianismus gleichkäme; oder aber man entscheidet sich dafür, die
personale Identität zurückzuführen auf eine irgendwie ausgezeichnete
Form psychischer oder physischer Kontinuität, in diesem Fall jedoch
hat man die Konsequenz zu gewärtigen, daß der Begriff der Identität
einer Person angesichts extrem gewählter fiktiver Beispiele obsolet
wird. 7
Ziel der folgenden vergleichenden Betrachtungen ist es, den im zwei-
ten Teil der Arbeit entwickelten personenphilosophischen Ansatz
einer Philosophie der Begegnung in ein Verhältnis zu alternativen
Sichtweisen zu setzen. Hierzu wurden drei Arbeiten zur Philosophie
der Person ausgewählt, durch die ein breites Spektrum von Positio-
nen berücksichtig werden kann.
Bei der ersten Arbeit handelt es sich um die 1993 in erster Auf-
lage veröffentlichte Studie »Die Entdeckung der Person. Metaphysik
der Freiheit und modernes Menschenbild« 8 von Theo Kobusch, in der
eine eindeutig christlich orientierte Sicht des Personbegriffs ent-

5 Sturma, Philosophie der Person, 27.


6 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 11.
7 Vgl. Schütt, Person, in: HWPh VII, col. 321. – Verweis in Anmerkung [15] auf:

Parfit: Reasons and persons (Oxford 1984) 199 ff. – Ebd. 322. – Vgl.: Part Three,
Personal Identity, in: Parfit, Reasons and Persons, 199–347.
8 Zweite durchgesehene und um ein Nachwort und um Literaturergänzungen er-

weiterte Auflage 1997.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

wickelt wird. 9 Kobuschs Arbeit hat einen überwiegend philosophie-


historischen Schwerpunkt. Ausgehend von der scholastischen Phi-
losophie des 13. Jahrhunderts zeichnet er den Prozess der Entdeckung
über die Jahrhunderte hinweg nach. Indirekt ergeben sich aus dieser
genealogischen Untersuchung durchaus auch Ansätze zu einer sub-
stantiellen Bestimmung des Personbegriffs, die eine vergleichende
Analyse mit Spaemanns Ontologie der Person und eine kritische
Würdigung erlauben (11.1).
Da die aktuelle Diskussion um den Personbegriff von Vertretern
der analytischen Philosophie insbesondere aus dem angelsächsischen
Sprachraum beherrscht wird, wurden zwei weitere Arbeiten aus-
gewählt, die diesen Bereich explizit berücksichtigen bzw. sogar zu
ihrem Schwerpunkt machen. Zum einen handelt es sich dabei um
Dieter Sturmas 1997 in erster Auflage erschienene »Philosophie der
Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität« 10.
Sturma geht es in seiner Studie um die systematische Freilegung
eines nichtreduktionistischen, gleichwohl naturalistischen Person-
begriffs, den er in der Auseinandersetzung mit den wesentlichen phi-
losophiehistorisch bedeutsamen Konzeptionen insbesondere Lockes
und Kants und den neueren Positionen der analytischen Philosophie
entwickelt. Dabei entwirft er ein System von Thesen, das es erlaubt,
einen detaillierten Vergleich mit Spaemanns Personenontologie
durchzuführen und Folgerungen aus dem Vergleich ihrer Argumen-
tationen zu ziehen (11.2).
Bei der dritten hier ausgewählten Studie handelt es sich um
Michael Quantes 2007 in erster Auflage erschienene Monographie
»Person« 11. Wie Sturma verfolgt Quante einen systematischen, bei
ihm aber nahezu ausschließlich an der englischsprachigen Literatur
orientierten Ansatz, in dem er ausgehend von der Position Lockes
und den ihr gegenüber vorgebrachten Einwänden die wesentlichen
Erträge der analytischen Philosophie einbezieht, um als Schlussfolge-
rung ein eigenständiges Konzept der Einheit der menschlichen Person
zu entwickeln. Quantes systematische Bearbeitung eines klar de-
finierten Fragenapparates, die hier knapp nachvollzogen werden soll,

9 Zur weiteren Klärung einiger in der »Entdeckung der Person« offen bleibender Zu-
sammenhänge wird darüber hinaus noch auf eine zweite Publikation Kobuschs, die
Studie »Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität« aus dem Jahr
2006, Bezug genommen.
10 Zweite unveränderte Auflage 2008.

11
Zweite um ein Vorwort erweiterte Auflage 2012.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

bietet anschließend die Grundlage einer vergleichenden Analyse mit


dem im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit stehenden Ansatz (11.3).
Das leitende Interesse der folgenden Untersuchungen besteht in
der Bestimmung des exakten Ortes, den Spaemanns Ansatz im Spek-
trum dieser sehr heterogenen Beiträge zur Personenphilosophie ein-
nimmt. Während Kobusch auf Spaemann Bezug nimmt, wird dieser
weder in der Studie Sturmas noch in der Quantes auch nur erwähnt.
Dennoch – oder vielmehr: gerade deswegen – soll hier der Frage nach-
gegangen werden, inwiefern bzw. wodurch Spaemann in diesem
Spektrum einen Beitrag leistet, der gegenüber den dargestellten kon-
kurrierenden Positionen einen Anspruch auf stärkere Beachtung im
philosophischen Diskurs der Gegenwart erheben kann. Die Resultate
dieser Untersuchungen werden die Grundlage der abschließenden
Betrachtungen im folgenden Kapitel bilden.

788

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11.1 Theo Kobusch: »Die Entdeckung der Person«

Die Kobuschs Philosophie der Person zugrunde liegende Überzeu-


gung besteht darin, dass es zwei Typen von Metaphysik und dement-
sprechend zwei verschiedene Metaphysiktraditionen gibt: einerseits
die »aristotelische Naturdingontologie« 1, »Metaphysik der Natur-
dinge« 2 bzw. kurz »Dingmetaphysik« 3 und andererseits die »Meta-
physik der Freiheit« 4 bzw. »Metaphysik des inneren Menschen« 5. In
der »Einleitung« zur »Entdeckung der Person« kündigt Kobusch an:
Die folgenden Ausführungen legen eine bisher verborgene große me-
taphysische Tradition offen: die Tradition der Metaphysik der Freiheit.
Sie lassen sich terminologisch leiten von dem Begriff des »moralischen
Seins«, der durch die Jahrhunderte das vom naturhaften Sein und an-
deren Seinsarten unterschiedene Sein der Freiheit bezeichnet. Die
Geschichte dieser Form der Metaphysik, die im 13. Jahrhundert be-
ginnt und alsbald das Geistesleben des Kontinents in Atem hielt, ist
die Geschichte der Freiheit des modernen Menschen. 6
Der wesentliche Grund für diese Unterscheidung ist, dass der Mensch
als Freiheitswesen mit den Mitteln der traditionellen Metaphysik
nicht zu erfassen sei, »daß die den entia moralia eigene Seinsweise
nicht im Sinne der traditionellen Substanzontologie nach dem Sub-
stanz-Akzidens-Schema begriffen werden kann« 7. Der konkurrieren-
de Typus der Metaphysik muss nach Kobusch also keineswegs als
Gegenentwurf konstruiert werden, sondern blickt bereits auf eine

1 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 21.


2 Ebd. 13.
3 Ebd. 22.

4
Ebd.
5 Kobusch, Christliche Philosophie, 138.

6
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 19.
7 Ebd. 62. – Vgl. dazu auch: »Die aristotelische Metaphysik ist eine Metaphysik der

äußeren Dinge, insofern die allgemeinen ontologischen Strukturen durch eine meta-
physische Analyse der Naturdinge aufgedeckt werden. Die Metaphysik nach christ-
lichem Verständnis dagegen ist nicht eine theoretische, allgemeine Seinslehre oder
eine abstrakte Gotteslehre, sondern eine Metaphysik des inneren Menschen.« – Ko-
busch, Christliche Philosophie, 139. – Vgl. ebenso: »In der aristotelischen Metaphy-
sik dreht sich alles um den Gegenstand der Metaphysik, während das Subjekt ganz
außerhalb der Betrachtung bleibt. Hier aber haben wir es mit einer Metaphysik des
Subjekts zu tun.« – Ebd. 145–146.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

reiche Geschichte zurück, in der er aber lange vom traditionellen Ty-


pus überlagert war und sich erst im 20. Jahrhundert von seinem Ein-
fluss befreien konnte.
Im Folgenden soll zunächst Kobuschs Begriff der ›Dingmetaphy-
sik‹ als Folie seines alternativen Metaphysikbegriffs erläutert werden,
wobei auch die angedeuteten Interferenzerscheinungen zwischen bei-
den Metaphysiktypen und die Stoßrichtung der Metaphysikkritik des
19. und 20. Jahrhunderts thematisiert werden (11.1.1). Anschließend
wird in großen Zügen die Geschichte der Metaphysik der Freiheit in
Kobuschs Darstellung nachvollzogen. Dabei wird in Bezug auf ihre
Vorgeschichte auch Kobuschs spätere Publikation »Christliche Phi-
losophie« 8 berücksichtigt (11.1.2). Im nächsten Schritt wird versucht,
aus der genealogischen Analyse Kobuschs Material für eine substan-
tielle inhaltliche Bestimmung der Metaphysik der Freiheit zusam-
menzutragen (11.1.3), bevor auf dieser Grundlage eine vergleichende
Analyse mit der Spaemann’schen Personenphilosophie durchgeführt
wird, in der Gemeinsamkeiten beider Denker sowie die wesentlichen
Differenzpunkte benannt werden sollen (11.1.4). Abschließend wird
versucht, auf der Grundlage des durchgeführten Vergleichs durch
eine kritische Würdigung das aus der Perspektive der Philosophie
der Begegnung wesentliche Problem der Konzeption Kobuschs zu be-
nennen (11.1.5).

11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der


Metaphysik der Freiheit

Die von Kobusch als »unzeitgemäß« 9 verurteilte Form der Meta-


physik ist keineswegs pauschal mit der antiken Metaphysik gleich-
zusetzen. Platon wird aus der Kritik ausdrücklich ausgenommen, in
»Christliche Philosophie« wird die platonische Philosophie sogar ex-
plizit als Grundlegung der Metaphysik der Freiheit bezeichnet. 10 Zu-

8 S. 787, Fn. 9.
9 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 13.
10 Vgl.: »Doch es ist nicht diese Ontologie des inneren Menschen, die das Zentrum

und eigentümliche Merkmal der christlichen Lehre bildet. Vielmehr ist diese, in der
platonischen Philosophie grundgelegt, auch bei vielen Neuplatonikern integrierender
Bestandteil einer Theorie vom Menschen. Was jedoch die christliche Philosophie in
diesem Zusammenhang über den Platonismus hinausgehend leistet, ist die Erkennt-
nis vom grundlegenden und umfassenden Charakter der Lehre vom inneren Men-

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11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit

rückgewiesen wird allein, und das in aller Schärfe, die aristotelische


Metaphysik. Es ist daher für das Verständnis der Position Kobuschs
und die kritische Auseinandersetzung mit ihr entscheidend zu ver-
deutlichen, welchen Begriff der aristotelischen Metaphysik er voraus-
setzt und auf welche ihrer Aspekte sich seine Kritik konkret richtet.
Zunächst sei die diesbezügliche Schlüsselstelle aus der »Entdeckung
der Person« zitiert:
Die aristotelische Metaphysik ist in Wirklichkeit ja eine Dingonto-
logie, denn ihre Prinzipien sind alle im Hinblick auf die Dinge der
Natur gewonnen (Form und Materie, Sein und Wesen usw.). Zudem
hat Aristoteles selbst den Gegenstandsbereich der Metaphysik eng be-
grenzt auf das substantielle Sein, die ihm als solchem zukommenden
Bestimmungen und die äußeren und immanenten Prinzipien und Ur-
sachen. Denn ausdrücklich wird das akzidentell Seiende und das sog.
veritative Sein, d. h. das Wahrsein oder Falschsein der Sätze (ὂν ὡς
ἀληθές), dessen Ort die diskursive Vernunft ist, aus dem Gegen-
standsbereich der Metaphysik ausgeklammert. Von beiden Seinsarten,
dem akzidentellen wie dem intramentalen veritativen Sein, sagt Aris-
toteles, sie seien auf die »übrige Gattung des Seienden«, also auf das
substantielle Sein zurückführbar und offenbarten nicht eine eigene
»Natur des Seienden«. Damit wird der ontologische Eigencharakter
des gedachten Seins geleugnet, und die Untersuchung allein auf das
»äußere« und selbständige, d. h. das substantielle bzw. das kategorial
faßbar Seiende gelenkt. Man kann hinzufügen, daß damit auch das
später sog. ens morale, das auf dem menschlichen Willen als seiner
Ursache beruht, nicht zum Objektbereich der aristotelischen Meta-
physik gehört. Das ergibt sich aus der Bemerkung in der Metaphysik,
daß der »Wille nicht ohne das diskursive Denken« sei, denn damit wird
zwar nur implizit, aber doch evidentermaßen ausgesagt, daß τὰ κατὰ
προαίρεσιν genauso wie das veritative Sein nicht eigentlicher Gegen-
stand der Metaphysik sein können. Auf diese Weise bleibt das sub-
stantielle Sein der Naturdinge als eigentlicher Gegenstand der Meta-
physik aristotelischer Prägung übrig. 11
Es geht Kobusch also wesentlich um die aristotelische Metaphysik als
Substanzontologie, in der als Substanzen Naturdinge aufgefasst wer-
den. Seine Kritik bezieht sich vor allem darauf, dass Aristoteles ge-
dachtes Sein, womit Kobusch auf menschliche Subjektivität abzielt,

schen. Hier wird die Innerlichkeit erstmals als Prinzip gedacht.« – Kobusch, Christ-
liche Philosophie, 69.
11
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 27–28.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

aus dem Gegenstandsbereich seiner Metaphysik ausschließt. In Be-


zug auf diese Kritik an Aristoteles wäre zu fragen, ob es nicht ana-
chronistisch ist, von Aristoteles einen Subjektbegriff zu verlangen,
den er noch nicht haben konnte. Kobusch selbst bemerkt in »Christ-
liche Philosophie« im Hinblick auf die Spezifik des antiken Denkens:
»Die Griechen hatten lange Zeit kein Bewußtsein von dem, was wir
heute – dabei der Terminologie des Deutschen Idealismus folgend –
das endliche Bewußtsein als den Inbegriff aller intellektiven und af-
fektiven Tätigkeiten nennen, die als das Subjektive einer objektiven
Wirklichkeit gegenüberstehen.« 12 Auf diese Vorreflexivität und die
hier zu Tage tretende Problematik der Bezugnahme Kobuschs auf
Aristoteles wird im Abschnitt 11.1.4 im Zusammenhang mit Spae-
mann zurückzukommen sein. Zunächst ist festzuhalten, dass es in
Kobuschs Verständnis diese aristotelische Dingmetaphysik ist, die
der gesamten neuzeitlichen Metaphysikkritik – etwa in der Variante
Nietzsches – zugrunde liegt:
Metaphysik – das ist der Glaube an eine »Hinterwelt«, das Beharren
auf einem absoluten Standpunkt, es ist die Denkart, die das Unbeding-
te, Eine, Gewisse, Seiende und Gott, den »vernichtendsten und lebens-
feindlichsten aller Gedanken« bejaht, die vom Ding, der Substanz,
dem Individuum, dem Ich als einem fundamentum inconcussum aus-
geht und dabei einen großen Glauben an die Grammatik bezeugt. 13
Die neuzeitliche Metaphysikkritik ist nach Kobusch insoweit berech-
tigt, als sie sich auf die aristotelische Form der Metaphysik bezieht,
die bis zu Nietzsche und noch über ihn hinaus vorherrschend ge-
blieben ist. Die Persondefinitionen des Boethius und Richards von
St. Viktor 14 stehen nach Kobusch ebenso in dieser Tradition wie das

12 Kobusch, Christliche Philosophie, 72. – Kobusch legt hier dar, dass den Griechen
ein »Begriff für das spezifisch menschliche, das heißt das endliche Bewußtsein« fehlte,
und betrachtet den Unterschied zwischen den bei ihnen vorhandenen Begriffen und
diesem Bewusstsein: »Hier aber soll die Rede sein von dem der Wirklichkeit gegen-
überstehenden, spezifisch menschlichen Bewusstsein. Die Stoiker haben dafür den
Terminus ›Epinoia‹ geprägt.« – Ebd.
13 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 12.

14 Vgl.: »Auch die berühmte Persondefinition des Boethius: Persona est naturae ra-

tionabilis individua substantia, ist nur unter der Voraussetzung der so verstandenen
aristotelischen Ontologie zu verstehen. Bei Boethius […] wird Person ontologisch
und metaphysisch wie ein Naturding angesehen und behandelt. Aber auch die Be-
stimmung des Richard von St. Viktor erscheint in ihrer Einseitigkeit, indem sie der
logischen Ordnung allein zuzugehören scheint.« – Ebd. 28.

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11.1.1 Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der Freiheit

scholastische Verständnis der Gnade als Akzidens 15 und Hegels Lehre


vom sittlichen Sein als intersubjektive Realität. 16 Mit ihrer Ab-
hängigkeit von aristotelischen Denkweisen hat sich nach Kobusch
die Philosophie selbst den Weg zu einer Metaphysik der Freiheit ver-
stellt, obwohl eine alternative Form der Metaphysik seit dem
13. Jahrhundert gegeben war:
Das intramentale objektive Sein einer Sache aber ist nach der aus-
drücklichen Festlegung Wilhelms von Ockham ein »extrapraedica-
mentale«, das heißt es ist ein außerhalb der aristotelischen Katego-
rienordnung Liegendes. Das zeigt einmal mehr, was die aristotelische
Metaphysik in Wahrheit ist: eine Dingmetaphysik, deren Kategorien
für das Sein des Geistigen nicht hinreichen. Deswegen mußte Augus-
tinus auf den Plan treten. 17
Vor dem Hintergrund dieses Verständnisses der aristotelischen Me-
taphysik und ihrer Nachwirkungen bis hinein in das 20. Jahrhundert
soll nun die Geschichte der alternativen Tradition der Metaphysik der
Freiheit betrachtet werden.

15
Vgl.: »Obgleich auf diese Weise die scholastische Philosophie die gegenüber dem
Naturhaften eigene ontologische Würde des Personalen und damit verbunden des
gnadenhaften Seins zur Geltung bringt, hat sie sich gleichwohl nicht ganz lösen kön-
nen von der aristotelischen Naturdingontologie. Denn auch hier, bei den Vertretern
einer Ontologie des esse morale, ist jener sonst hundertfach belegbare Satz zu finden,
der eine Aussage über die Seinsweise der Gnade ist: dicendum quod gratia est acci-
dens. Kann aber wirklich – diese Frage muß wohl an die scholastische Philosophie
kritisch gerichtet werden – die Andersartigkeit des gnadenhaften Seins gegenüber
dem naturhaften gemäß der Aussage des Bonaventura (esse gratuitum est alterius
generis quam esse naturale) verstanden werden, wenn die Gnade doch als ein akzi-
dentelles Sein gedacht wird? Der Rahmen, innerhalb dessen das Problem der Gnade,
d. h. die Frage nach dem Ermöglichungsgrund endlicher Freiheit behandelt wird,
bleibt so offenkundig die Substanzontologie, die aber von ihrem Ursprung und ihrer
eigentlichen Bestimmung her die Ontologie der Naturdinge ist. Diesen Rahmen zu
sprengen blieb der neuzeitlichen Philosophie vorbehalten.« – Ebd. 54.
16 Vgl.: »Hegel stellt die Einheitlichkeit und Durchgängigkeit seiner Lehre vom sitt-

lichen Sein als intersubjektive Realität durch den Gebrauch des alten Substanz-Akzi-
dens-Schemas selbst in Frage.« – Ebd. 171.
17
Kobusch, Christliche Philosophie, 95.

793

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit

Kobusch beansprucht für sich mit der »Geschichte der Metaphysik


der Freiheit, die bisher noch nicht erzählt oder geschrieben wurde,« 18
von ihm aber in der »Entdeckung der Person« zumindest in Grund-
zügen dargelegt wird, eine Pioniertat. Der eigentliche Beginn dieser
Geschichte liegt nach Kobusch im 13. Jahrhundert:
Will man den Ursprung unseres modernen Freiheitsbegriffs ausfindig
machen, so wird man in der Geschichte der Philosophie weit zurück-
geführt. Genauer gesagt: bis in die erste Hälfte des 13. Jh. Denn hier
wird im Rahmen der Christologie zum ersten Mal das Sein der
menschlichen Freiheit für die Metaphysik thematisch und zwar unter
dem von nun an einschlägigen Leitbegriff des »moralischen Seins«. Da
aber das »moralische Sein« das Sein der Person ausmacht, liegt hier
auch der Ursprung des modernen Person-Begriffs. 19
Als ersten Vertreter der neu entstehenden Disziplin der Metaphysik
der Freiheit nennt Kobusch Alexander von Hales (1185–1245), der
zuerst in aller Deutlichkeit die »drei Seinsbereiche des Naturhaften,
Rationalen und Moralischen« 20 unterschieden und damit wesentlich
dazu beigetragen habe, dass »im 13. Jh. die erste selbständige, regio-
nale Ontologie des moralischen Seins, dessen ontologischer Grund
nichts anderes als die menschliche Freiheit ist« 21, entstanden sei. Zur
Vorgeschichte der Metaphysik der Freiheit vor dem 13. Jahrhundert
äußert Kobusch sich in der »Entdeckung der Person« nur knapp. Er
erwähnt, dass schon »Augustinus – ohne den Begriff zu gebrauchen –
eine Metaphysik des naturhaften, logischen und moralischen Seins
etabliert« 22 habe, so dass die »Ontologie des esse morale, die […] in
der Christologie des 13. Jh. durchbricht, […] als die abschließende,
reflektierte Form einer langen Entwicklung anzusehen« 23 sei. Aus-
führlicher geht Kobusch auf diese Vorgeschichte in »Christliche Phi-
losophie« ein, wo er die Vorstellung eines »präexistente[n] Christen-
tum[s]« mit »Protochristen in anderen Kulturen« aufgreift und etwa
davon spricht, dass im Sinne der »anima naturaliter christiana« 24

18 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 22.


19 Ebd. 23.
20 Ebd. 25.
21 Ebd.
22
Ebd.
23 Ebd. 29.
24
Kobusch, Christliche Philosophie, 57.

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11.1.2 Die Geschichte der Metaphysik der Freiheit

»schon Sokrates eine partiale Erkenntnis Christi gehabt habe« 25 und


das Christentum in einem weiten Sinn »die älteste Philosophie« 26 sei.
Als »das eigentliche Zentrum der Metaphysik des moralischen
Seins« benennt Kobusch »die franziskanisch-bonaventurianische
Tradition, in der die Eigentümlichkeiten des genus moris durch einen
systematischen Vergleich mit dem genus naturae zu Bewußtsein
kommt« 27. Die Bedeutung des spanischen Theologen Suárez (1548–
1617) besteht nach Kobusch darin, »das wichtigste Bindeglied zwi-
schen der mittelalterlichen Scholastik und der Deutschen Schulphi-
losophie und der daran anschließenden Kritischen Philosophie« 28 zu
sein. Der deutsche Naturrechtsphilosoph Samuel von Pufendorf
(1632–1694), dessen Anliegen es war, »die gesamte praktische Phi-
losophie auf ein neues Fundament zu stellen«, verlieh der »bis in
seine Zeit namenlosen Disziplin, die sich mit den entia moralia be-
faßt, erstmals eine eigene Bezeichnung« 29: »Ethica universalis« 30.
Doch erst bei Immanuel Kant erhielt »nach über fünfhundert Jahren
[…] die Disziplin, die sich mit den entia moralia befaßt, den ihr ei-
gentümlichen Namen« 31: »Metaphysik der Sitten oder Metaphysik
der Freiheit« 32, womit »ihr status nascendi eigentlich erst beendet« 33
ist. Kant stellte nach Kobusch »die Lehre von den entia moralia […]
auf das Fundament der kritischen Philosophie« 34 und hat »erstmals
den Menschen als Person, als Freiheitswesen, den Menschen als Men-
schen in seinem ›absoluten Wert‹ gesehen« 35. Als »eigentliche[n]
Mittler zwischen der mittelalterlichen esse morale-Tradition und
dem modernen Freiheitsverständnis« hebt Kobusch Jean-Jacques
Rousseau hervor: »Das Wesen des Menschen besteht in seinem sitt-
lichen Sein, d. h. in seiner Freiheit – so wiederholt er die These dieser
großen Tradition –, aber Freiheit meint jetzt den Austritt aus dem
Naturzustand, das In-Beziehung-Treten zu anderen Menschen, das

25 Kobusch, Christliche Philosophie, 44.


26
Ebd. 51.
27 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 39.
28 Ebd. 55.
29 Ebd. 70.
30 Ebd. 71.
31 Ebd. 93.
32 Ebd. 95.
33
Ebd. 99.
34 Ebd. 133.
35
Ebd. 138.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

gesellschaftliche Sein.« 36 In diesem Sinne gehören für Kobusch die


amerikanische und die französische Revolution, allgemein »die Ge-
schichte, soweit sie Freiheitsgeschichte ist, mit zum Gegenstands-
bereich der Metaphysik der Freiheit« 37. Dabei sind die Menschen-
rechtserklärungen »der archimedische Punkt, um den sich die Frei-
heitsgeschichte dreht« 38.
Im 19. Jahrhundert bringt Hegel in seiner Rechtsphilosophie
»zum ersten Mal die Unterscheidung zwischen Willkür und Freiheit
zur Geltung« 39. Die »historische Bedeutung der Hegelschen Willens-
metaphysik« sieht Kobusch darin, dass Freiheit zuerst als »intersub-
jektive Realität« 40 und das Recht als »Anerkennungsverhältnis von
Personen« 41 gedeutet wird. Im Verlauf des Jahrhunderts brach sich
dann zunehmend die auf Christian Thomasius (1655–1728) zurück-
gehende »These vom Primat des Willens« 42 vor dem Intellekt Bahn,
die zu »Schopenhauers Fundamentalkritik am Personbegriff« 43 führ-
te. Da die Person für ihn zur Welt der Erscheinung gehört, ist sie
»selbst ›nie frei‹ […], obwohl und weil sie die Erscheinung eines
freien Willens ist« 44. Nietzsche fungierte dann als der »eigentliche
Multiplikator dieser Kritik« 45, wobei seine nachhaltig das 20. Jahr-
hundert bestimmende »Kritik an der Metaphysik überhaupt« 46 der
Metaphysik der Freiheit indirekt die Möglichkeit eröffnete, sich vom
Erbe der Substanzontologie zu lösen:
Gleichwohl etablierte sich im 20. Jh. eine philosophische Tradition, die
sich des Problems der entia moralia annahm, ohne jedoch die traditio-
nelle Vorherrschaft der Substanzontologie anzuerkennen. Ein neuer
Metaphysik-Typ entsteht. Diese neue Metaphysik versucht, die entia
moralia zu entsubstantialisieren und somit das Sein der Freiheit völlig
von den Kategorien des dinghaften Seins zu befreien. 47

36
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 117.
37 Ebd. 101.
38
Ebd. 106.
39 Ebd. 161.
40 Ebd. 164.
41 Ebd. 170.
42 Ebd. 175.
43 Ebd. 183.
44 Ebd. 187.
45
Ebd.
46 Ebd. 204.
47
Ebd. 204–205.

796

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11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit

Als Vertreter dieses neuen Denkens nennt Kobusch unter anderem


das »dialogische Denken«, die »französische Phänomenologie« 48 so-
wie die »moderne Anthropologie« 49. Seinen historischen Längs-
schnitt zur Geschichte der Metaphysik der Freiheit beschließt
Kobusch mit einem Blick auf die »gegenwärtige Krise des Person-
begriffs als Folge eines Reduktionismus« 50, in der er diese gesamte
Tradition in Frage gestellt sieht.

11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit

Aufgrund der philosophiehistorischen Orientierung der »Entdeckung


der Person« und des Fehlens einer systematischen Betrachtung der
Metaphysik der Freiheit können Aspekte zu ihrer inhaltlichen Be-
stimmung nur aus verstreuten Textbelegen zusammengetragen wer-
den. Kobusch unterstreicht die zentrale Bedeutung der Freiheit für
diese Metaphysik:
Der unendliche Wert der durch die Erlösungstat Christi geadelten
menschlichen Person liegt in der Freiheit. Sie ist als das personkonsti-
tuierende Wesenselement von allem Dinghaften dieser Welt unter-
schieden. […] Während alle endlichen Dinge möglicher Gegenstand
einer wertenden Schätzung sind, entzieht sich die Freiheit als solche
und damit auch die Person jeglicher Art einer Schätzung. 51
Die Frage, wo diese Freiheit, die die antike Welt so nicht kannte, her-
kam, führt bei Kobusch immer wieder zu dem Verweis auf die Religi-
on. Die »Bewegung des menschlichen Willens« ist »ihm von einem
höheren, dem göttlichen Willen, eingegeben« 52. Kobusch spricht von
der »Gnade« als dem »transzendenten Ermöglichungsgrund mensch-
licher Freiheit« 53:
Die Gnade erfüllt deswegen im Bereich des Moralischen dieselbe
Funktion wie die substantielle Form im Bereich der Naturdinge. Wie
diese nämlich dem Ding die vervollkommnende Form und damit das
Sein verleiht und somit das Prinzip aller naturhaften Tätigkeiten dar-

48 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 16.


49 Ebd. 223.
50 Ebd. 263.
51
Ebd. 31.
52 Ebd. 44–45.
53
Ebd. 52.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

stellt, so ist die Gnade »die Form und Vollkommenheit im moralischen


Sein und das Prinzip aller moralischen Tätigkeiten«. Sie ist aber zu-
gleich als die Glückseligkeitsvermittlerin auch der letzte Zweck aller
Handlungen und erfüllt so dieselbe Funktion im Bereich des esse mo-
rale wie die substantiale Form bei den Naturdingen. 54
Neben der religiösen Fundierung ist die in ihrer geschichtlichen Ent-
wicklung sich allmählich entfaltende intersubjektive Verwirklichung
der Metaphysik der Freiheit von zentraler Bedeutung. Bei Suarez
taucht die Begründung der Wirklichkeit des Moralischen im »An-
erkanntwerden« 55 auf, die ihre Vollendung findet in Kants Verständ-
nis der Freiheit als Autonomie:
Die Freiheit der Autonomie, das ist der letzte Grund aller Gesetze und
Sittlichkeit, allen Rechts und jeglicher Tugend. Indem Kant das Sollen
selbst, d. h. alle Arten der Pflicht, auf das Prinzip der Autonomie als
den Ermöglichungsgrund des Wollens überhaupt gründet, vollzieht er
die eigentlich kritische Wende in der Moralphilosophie. 56
Wesentliche Korrekturen der kantischen »Metaphysik der Sitten«
thematisiert Kobusch im Zusammenhang mit den als Reaktion auf
die Fundamentalkritik Nietzsches an der Metaphysik entstehenden
neuen Strömungen in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zu nen-
nen sind die »Ansicht von der Unableitbarkeit des Du« 57 in der Dia-
logphilosophie: »Was die Substanz für die Welt der Natur bedeutet,
das ist das Du für die praktische und historische Welt – eine schlecht-
hin unverzichtbare Kategorie.« 58 Ebenso zu nennen sind die »Inter-
pretation der ›Person‹ im Sinne des Als-Seins« 59 bei Löwith und das
mit Plessners Rollenbegriff verbundene Menschenbild: »Der Homo
absconditus, der unergründliche Mensch, ist die ständig jeder theo-
retischen Festlegung sich entziehende Macht seiner Freiheit, die alle
Fesseln sprengt.« 60 Über diese historischen Modifikationen hinweg
ist jedoch die Fundierung im Gottesbegriff eine Konstante der von

54 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52–53. – Quelle des eingefügten Zitats nach
Anmerkung 124 bzw. 123: Matthaeus ab Aquasparta, Qu. disp. de gratia, 4, 104.
55 Ebd. 63.

56 Ebd. 138.

57 Ebd. 226.

58 Ebd. 227.

59
Ebd. 236.
60 Ebd. 253. – Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: H. Plessner, Über einige

Motive der philosophischen Anthropologie GS VIII, 134.

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11.1.3 Zur inhaltlichen Bestimmung der Metaphysik der Freiheit

Kobusch dargestellten Metaphysik der Freiheit. Das ens morale grün-


det in der Anerkennung, obwohl es nicht von der kontingent-fak-
tischen Anerkennung anderer Menschen abhängig ist:
Also setzen wir ein absolutes, unendliches Subjekt voraus, das als die
Freiheit selbst andere freie Wesen will und setzt, d. h. sie in ihrer Frei-
heit anerkennt. Wir sprechen sinnvoll von der allem, was Menschen-
antlitz trägt, zukommenden Würde im Sinne eines absoluten oder un-
endlichen Wertes, insofern wir es als von einem unendlichen, Freiheit
schenkenden Subjekt, d. i. Gott, geliebt und – unabhängig von äußeren
und inneren Mißständen – in seiner Freiheit respektiert wissen. 61
Eine gewisse systematische Konkretisierung seiner Konzeption einer
Metaphysik der Freiheit kann in seiner späteren Publikation »Christ-
liche Philosophie« gefunden werden. Die »Alternative zum aristo-
telischen Metaphysikbegriff« 62 nennt er hier in Anlehnung an Ori-
genes »Epopteia« bzw. »inspectiva« 63:
Die aristotelische Metaphysik ist eine Metaphysik der äußeren Dinge,
insofern die allgemeinen ontologischen Strukturen durch eine meta-
physische Analyse der Naturdinge aufgedeckt werden. Die Metaphy-
sik nach christlichem Verständnis dagegen ist nicht eine theoretische,
allgemeine Seinslehre oder eine abstrakte Gotteslehre, sondern eine
Metaphysik des inneren Menschen. 64
Der in der »Entdeckung der Person« betonte Gedanke einer intersub-
jektiven Fundierung der Freiheit tritt hier in den Hintergrund: »[D]er
Geist des Menschen ist in seiner lebensweltlichen Gegebenheit gar
nicht in der Lage, sein wahres Selbst zu erkennen. Er muß erst an sich
selbst arbeiten, um zu sich zurückkehren zu können. Zunächst näm-
lich und immer schon ist er an die äußere Welt verfallen« 65. In dieser

61
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 261.
62 Kobusch, Christliche Philosophie, 16.
63
Ebd. 139. – Vgl.: »Das Wort ist der Terminologie der Mysterien von Eleusis ent-
nommen. Nach der Reinigung, dann der ersten Einweihung, wird der Myste in die
›Betrachtung‹ (ἐπόπτεια) der kultischen Symbole eingeführt: das ist die höchste
Weihe. […] In der späteren platonischen Tradition wird die Epopteia ein Teil der Phi-
losophie, und zwar deren höchste Stufe. Das geschieht im Rahmen einer Einteilung
der Philosophie, deren zu durchlaufende Phasen die Ethik (Reinigung), die Physik
(Initiation) und die Metaphysik (Epopteia) sind.« – Hadot, Epopteia, in: HWPh II,
col. 599.
64 Kobusch, Christliche Philosophie, 139.

65
Ebd. 144.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

späteren Fassung wird Kobuschs Metaphysik der Freiheit somit ganz


dezidiert zu einer »Metaphysik des Subjekts« 66.

11.1.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Kobuschs


und Spaemanns

Zum Zweck des Vergleichs der Positionen Kobuschs und Spaemanns


soll die Reihenfolge der hier vorgenommenen Darstellung der
Grundgedanken Kobuschs umgekehrt und zunächst auf die Aspekte
der inhaltlichen Bestimmung und erst danach auf die philosophie-
geschichtliche Betrachtung der Entdeckung eingegangen werden. Ko-
busch thematisiert in seinem Nachtrag zur zweiten Auflage der »Ent-
deckung der Person« unter dem Titel »Die Tradition des ens morale
und die gegenwärtige Krise des Personbegriffs« 67 Charles Taylors
»The Sources of the Self«, Paul Ricœurs »Soi-même comme un au-
tre« und Robert Spaemanns »Personen« und bemerkt zu ihnen:
Das Anliegen der esse morale-Tradition, die uns sozusagen den Per-
sonbegriff in die Moderne übergeben hat, scheint am ehesten in diesen
drei Werken, dem von Ch. Taylor, P. Ricœur und R. Spaemann ge-
wahrt zu sein. Sie sind in der jüngsten Zeit die lautesten und über-
zeugendsten Stimmen, die gegen die Abschaffung der Person den un-
reduzierbar eigenständigen Charakter des Moralischen überhaupt und
seiner Grundlage, der Person, im besonderen geltend machen. 68
Wenn im Folgenden die Positionen Kobuschs und Spaemanns etwas
genauer verglichen werden sollen, liegt der Fokus ausschließlich auf
dem Thema der Person. 69 Die wesentliche Gemeinsamkeit beider

66 Kobusch, Christliche Philosophie, 146.


67
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 263–280.
68 Ebd. 277. – Taylors Kritik an der von ihm auf Descartes zurückgeführten ›desenga-

gierten Vernunft‹, die »einer Anschauung des Subjekts Glaubwürdigkeit verliehen


[hat], wonach dieses ein unsituiertes, ja punktförmiges Selbst ist« – Taylor, Quellen
des Selbst, 887 –, steht in deutlicher Parallele zu Spaemanns Kritik des neuzeitlichen
Denkens. Demgegenüber geht es Taylor um den »Versuch einer erinnernden Wieder-
gewinnung« dessen, was er als »moralische[…] Ontologie« bezeichnet. – Ebd. 27. –
Zu Ricœur vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs,
528, Fn. 11.
69
Nicht eingegangen werden kann an dieser Stelle etwa auf die unterschiedlichen
Deutungen Rousseaus, Schopenhauers und anderer Denker durch Kobusch und Spae-
mann.

800

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11.1.4 Vergleichende Analyse

Positionen dürfte in der Betonung der Freiheit für das Verständnis


personalen Seins liegen, 70 die sich bei Spaemann im ›Haben einer
Natur‹ ausdrückt. Kobusch bemerkt dazu:
[…] das neue bedeutende Buch von R. Spaemann Personen [ist] eine
Argumentation gegen die Eliminierung der Wer-Frage bzw. für den
bleibenden ontologischen Unterschied zwischen »jemand« und »et-
was«. Es gibt keinen gleitenden Übergang von »etwas« zu »jemand«.
Begründet wird das durch die These, die sich wie ein roter Faden durch
das ganze Buch zieht: Nur Personen »haben eine Natur«, d. h. sie kön-
nen eine Distanz zu sich selbst herstellen und sich in ein Verhältnis zu
dem, was sie betrifft, setzen. Von daher erscheinen alle jene Merk-
male, die R. Spaemann, aus dem reichen Schatz abendländischer An-
thropologie sammelnd, als Merkmale der Person ausmacht, wie die
Schmerzempfindung, die Intentionalität, die Fähigkeit zur Selbst-
transzendenz usw., in einem neuen Lichte. 71
Ausgehend von dieser grundsätzlichen Übereinstimmung kann die
Aufmerksamkeit auf die in ihr verborgene entscheidende Differenz
zwischen den Konzeptionen Kobuschs und Spaemanns gelenkt wer-
den. Die Begründungszusammenhänge personaler Freiheit und damit
zugleich der Würde des Menschen nämlich sind bei beiden Denkern
völlig unterschiedlicher Art. Mit Bezug auf Spaemanns Essay »Über
den Begriff der Menschenwürde« 72 schreibt Kobusch:
Ganz richtig erklärt Spaemann, daß der Gedanke der Würde ein »fun-
damental ethischer« ist, dessen theoretische Begründung nur in einer
»metaphysischen Ontologie« 73 gefunden werden kann bzw. in einer
transzendental-pragmatischen Überlegung, dergemäß die »biolo-
gische Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens allein es sein darf, die
jene Minimalwürde begründet, welche wir Menschenwürde nen-
nen«. 74 Die »metaphysische Ontologie«, an der diese Gedanken über
den Begriff der Menschenwürde orientiert sind, ist offenkundig die
platonisch-aristotelische, die in der spätantiken Phase de[n] Begriff
de[r] »Würde« auf alles Seiende, gestaffelt nach der Seinsmächtigkeit
des einzelnen Seienden, angewandt hat. Übereinstimmend mit dieser

70 Wie Spaemann bezieht sich auch Kobusch – verbunden mit einer Spitze gegen die
analytische Philosophie – in diesem Zusammenhang auf Frankfurts »secondary voli-
tions«. – Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung:
Die Spontaneität des Herzens, 628, Fn. 104.
71 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 276–277.

72
Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), 77–106.
73 Vgl. Ebd. 106.

74
Vgl. ebd. 94.

801

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

platonischen Konzeption erklärt Spaemann: »Würde hat zu tun mit


Seinsmächtigkeit« 75 und deswegen kann der Begriff auch auf Tiere
oder Dinge angewandt werden.
So aber wird man der Bedeutung des Kantischen Begriffs der
Würde des Menschen im Sinne eines absoluten Wertes nicht gerecht.
Dieser Begriff stammt in der Tat aus einer »metaphysischen Onto-
logie«, aber nicht aus der platonisch-aristotelischen, sondern vielmehr
aus der Metaphysik der Freiheit bzw. der Ontologie des moralischen
Seins – wie oben gezeigt wurde. […] Gerade, wenn mit R. Spaemann
die biologische Zugehörigkeit zur Spezies homo sapiens als das Krite-
rium für das Menschsein des Menschen, d. h. für die Menschenwürde
angesehen wird, muß auf diese Tradition der Metaphysik der Freiheit
hingewiesen werden. 76
Auf die Fundierung in unterschiedlichen Metaphysiktraditionen wird
weiter unten eingegangen; hier sei zunächst festgehalten, dass Ko-
busch sich gegen die in Spaemanns Gedanken der Person als ›Haben
einer Natur‹ zum Ausdruck kommende starke Bindung des Freiheits-
gedankens an die φύσις in ihrer teleologischen Verfasstheit wendet.
In engem Zusammenhang hiermit steht die sehr unterschiedliche Be-
wertung des kantischen Autonomiebegriffs, der für Kobuschs Kon-
zeption einer Metaphysik der Freiheit, wie gesehen, von zentraler
Bedeutung ist, wohingegen Spaemann in »Glück und Wohlwollen«
die Autonomie in der deontologischen Ethik als eine nur »schein-
bare« herausstellt, die »auf eine destruktive Weise« vom Eudämonie-
gedanken »wieder eingeholt« 77 wird. Die entscheidende Differenz
zwischen beiden besteht also in der Bedeutung der Naturteleologie
für Spaemann, die für Kobusch keine Rolle spielt. Indirekt drückt sich
diese Differenz im systematischen Stellenwert des Gottesgedankens
in beiden Konzeptionen aus. Während in Spaemanns Ontologie der
Person der Verweis auf das Absolute als Grenze des Denkens in der
phänomenologischen Beschreibung des personalen Standpunkts er-
folgt, ist Gott in Kobuschs Argumentation Grundlage und Garant
seines Personbegriffs. Das Fehlen einer aus der Naturteleologie ent-
wickelten genuin philosophischen Argumentation bei Kobusch
scheint eine solche Theologisierung seiner Metaphysik unvermeidbar
zu machen. Der bei Spaemann aus der Naturteleologie im personalen

75 Vgl. Spaemann, Über den Begriff der Menschenwürde (1985), 85.


76
Kobusch, Die Entdeckung der Person, 258–259.
77 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 30. – Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernika-

nische Wende des Eudämonismus und Pflichtethik, 454–455.

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11.1.4 Vergleichende Analyse

Kontext hervorgehende Schlüsselgedanke der Begegnung hat eine


gewisse Entsprechung in Kobuschs Überlegungen zur Bedeutung des
Intersubjektiven: »Individuelle Freiheit ist überhaupt nur möglich in
der Welt der Beziehung. Menschliche Freiheit ist Intersubjektivi-
tät.« 78 Der Eindruck einer schwachen Vermittlung dieses Gedankens
mit Kobuschs Grundkonzeption in der »Entdeckung der Person« wird
aber bestätigt durch sein Zurücktreten in »Christliche Philosophie«,
deren Bekenntnis zur Metaphysik des inneren Menschen bzw. des
Subjekts im Gegensatz steht zu Spaemanns prinzipieller Pluralität
der Personen.
Im Kontext der philosophiegeschichtlichen Perspektive ist zu-
nächst zu bemerken, dass beide Autoren von der Entdeckung der Per-
son sprechen. Auch nehmen beide – wenngleich mit sehr unterschied-
lichen Akzentsetzungen – Bezug auf die Theologie der Hochscholastik,
insbesondere die Auseinandersetzung mit der Trinitätslehre und der
Christologie. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal beider sind,
wie oben bereits bemerkt wurde, die unterschiedlichen Metaphysik-
traditionen, auf die sie sich beziehen. Mit Bezug auf Spaemanns
Grundgedanken vom ›Haben einer Natur‹ bemerkt Kobusch kritisch:
Allerdings muß dabei berücksichtigt werden, daß das Bewußtsein von
dem qualitativen Unterschied zwischen Jemand und Etwas, d. h. zwi-
schen Person und Sache nicht schon immer vorhanden, sondern zu
bestimmter Zeit entstanden ist. Mögen Ansätze dazu in der plato-
nischen und stoisch-augustinischen Lehre vom inneren Menschen,
im neutestamentlich-augustinischen Begriff des »Herzens« und
sonstwo erkennbar sein, bewußt wird dieser Unterschied erst dann,
wenn das Sein des Personalen oder Sittliches als eine eigene Ordnung
gegenüber dem Sein der Natur, des Artifiziellen usw. ontologisch etab-
liert wird. Das geschieht aber erst im 13. Jh. Gerade der markante Satz,
den R. Spaemann der Vorstellung von einer »potentiellen Person« mit
Recht entgegenhält: »Aus etwas wird nicht jemand« setzt schon eine
gegenüber der Dingontologie etablierte Ontologie des Personalen vo-
raus. 79
Mit dem Begriff des »Herzens« spielt Kobusch auf die hier in Ab-
schnitt 8.3.1 nachvollzogene Hermeneutik der Entdeckung bei Spae-
mann an. 80 Das ›Herz‹ ist für Spaemann ein ganz wesentliches Binde-

78 Kobusch, Die Entdeckung der Person, 232.


79
Ebd. 277.
80 Vgl. Abschnitt 8.3.1, Die Hermeneutik der Entdeckung: Das Herz als ›grundloser

Grund‹, 565–574.

803

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

glied zwischen der Natur und der Person, das Kobusch im Sinne sei-
ner theologischen Fundierung der Person ablehnt. 81 Dennoch dürfte
Spaemann meines Ermessens Kobusch zugestehen, dass die geistige
Erfassung des Personbegriffs im vollen Umfang erst in der Hochscho-
lastik stattfand. Um aber den wesentlichen Differenzpunkt zwischen
Spaemann und Kobusch zu verstehen, muss zurückgegangen werden
auf dessen oben thematisierte Bezugnahme auf Aristoteles. 82 Dort
wurde bereits darauf hingewiesen, dass der an Aristoteles gerichtete
Vorwurf einer fehlenden Berücksichtigung der Subjektivität als ana-
chronistisch bezeichnet werden kann. Nach meinem Dafürhalten
würde Spaemann nicht in Abrede stellen, dass es sich bei der Meta-
physik des Aristoteles um eine Dingontologie handelt. Er betont aus-
drücklich, dass sie »nicht vom Subjekt« ausgeht, sondern »vielmehr
das Subjekt selbst als natürliche Substanz« 83 fasst. Dass Spaemann
und Kobusch sich dennoch an der Deutung des Aristoteles so nach-
haltig scheiden, ist darin begründet, dass nach Kobusch jede spätere
Bezugnahme auf ihn durch das substanzontologische Schema auf den
Ausschluss der Subjektivität festgelegt ist bzw. Subjektivität nur mit
Begriffen gedacht werden kann, die der Substanzontologie fremd
sind, während es zu den grundlegenden Intuitionen der Philosophie
Spaemanns gehört, von einer Aktualisierbarkeit der aristotelischen
Substanz und des teleologischen Denkens auszugehen. 84 Die direkte
Folge dieser gegensätzlichen Aristoteles-Deutung ist, dass Spaemann
eine relative Kontinuität von Aristoteles über Boethius zu Thomas
von Aquin ungeachtet der Entstehung des Kontingenzbewusstseins
sieht, während Kobusch die aristotelische Metaphysik diametral der
Metaphysik der Freiheit gegenüberstellt und diese unvermittelt im
13. Jahrhundert einsetzen lässt bzw. von allgemeinen Präformationen
des christlichen Denkens in der Antike und dem frühen Mittelalter

81
In »Christliche Philosophie« wird allerdings deutlich, dass Kobusch das Herz eben-
falls als eine Präformation der im 13. Jahrhundert aufkommenden Metaphysik des
inneren Menschen versteht: »Als Abbild Gottes hat der Mensch wie dieser etwas Un-
ergründliches. Dieses Unergründliche nennt Augustinus auch das ›Herz‹. Der Her-
zensmensch, das heißt der innere Mensch ist der homo absconditus.« – Kobusch,
Christliche Philosophie, 143.
82 S. Abschnitt 11.1.1, Die ›Dingmetaphysik‹ als Hintergrund der Metaphysik der

Freiheit, 791.
83 Vgl. Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«

(2010), 34. – Vgl. Abschnitt 6.1.1, Das Problem der Antikenrezeption, 327.
84 Vgl. Teilkapitel 6.1, Das philosophiehistorische Projekt der Erneuerung der antiken

Substanzontologie, 323–371.

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11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs

spricht. Auch die grundverschiedenen Deutungen der Entwicklung


nach dem 13. Jahrhundert sind in den gegensätzlichen Beurteilungen
der aristotelischen Metaphysik begründet. Während für Kobusch die
hier in Abschnitt 11.1.3 zusammengefassten Entwicklungsschritte bis
hin zu Kants »Metaphysik der Sitten« im Vordergrund stehen, ist das
große Thema Spaemanns bekanntlich die Entteleologisierung, wobei
die neuzeitliche Destruktion des Personbegriffs von ihm ursächlich
auf diese zurückgeführt wird. 85 Selbst ihre divergierende Nietzsche-
Deutung zeigt noch dieselbe Wurzel, insofern dessen Denken von
Spaemann als Vollstreckung der Entteleologisierung durch eine »ate-
leologische Teleologie« 86, von Kobusch dagegen als Überwindung der
am substanzontologischen Schema festhaltenden Metaphysik ver-
standen wird. Sowohl die systematisch als auch die philosophie-
historisch orientierte vergleichende Betrachtung der Konzeptionen
Kobuschs und Spaemanns führt also zum teleologischen Denken als
wesentlichem Punkt der Differenz, der sich letztlich aus ihren grund-
verschiedenen Einstellungen zur Metaphysik des Aristoteles her-
leitet.

11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs

Kobusch geht es in seiner Personenphilosophie offensichtlich um


denselben Phänomenbereich wie Spaemann, auch wenn er ein in
entscheidenden Punkten anderes Narrativ zur Erklärung seiner Vor-
geschichte, Entstehung und Entwicklungsgeschichte entwirft. Ab-
schließend soll es um die Fragen gehen, wie bedeutsam diese Unter-
schiede sind und mit welchen Kriterien eine Wertung dieser als
Alternative zur Philosophie der Begegnung sich anbietenden Konzep-
tion vorgenommen werden kann.
Mit dem Titel einer ›Metaphysik der Freiheit‹ prätendiert Ko-
busch, einen philosophischen Beitrag zur Diskussion um die Person
geliefert zu haben. Es muss allerdings kritisch gefragt werden, ob er
angesichts der dargelegten Rolle des christlichen Glaubens in seiner
Konzeption diesem Anspruch gerecht werden kann oder nicht viel-

85Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der Destruktion des Personbegriffs, 526–537.
86
Vgl. im Abschnitt 5.2.6, Die Auseinandersetzung mit dem Teleologieproblem bei
Kant und Nietzsche, die Ausführungen zur ateleologischen Teleologie und dem Ende
des Denkens bei Nietzsche, 268–272.

805

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

mehr durch den Verweis auf Gott an zentralen Stellen seiner Argu-
mentation eine Theologisierung der Philosophie betreibt. In dem hier
unternommenen Versuch eines Nachvollzugs der Geschichte und des
Wesens dieser Metaphysik der Freiheit wurde deutlich, dass die plötz-
lich auftauchende Freiheit auf Gott als ihren Ursprung zurückgeführt
wird und seine Gnade den »transzendenten Ermöglichungsgrund
menschlicher Freiheit« 87 bildet. Ein wesentlicher Unterschied zwi-
schen dem aristotelischen ›unbewegten Beweger‹ und dem von Ko-
busch vorausgesetzten christlichen Gott besteht darin, dass letzterem
ein bestimmter Geschichtswille zugeschrieben werden muss, da er die
Freiheit dem Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt offenbart
hat. Die von Kobusch ins Gespräch gebrachte Metaphysik hängt von
diesem Offenbarungsgeschehen vollständig ab. Auch wenn diese
Abhängigkeit von Kobusch selbst möglicherweise nicht als ein Pro-
blem angesehen wird, stellt dies meines Erachtens die philosophische
Bedeutung seiner Metaphysik der Freiheit in Frage. Gerade im Ver-
gleich mit Kobuschs personenphilosophischer Konzeption kann deut-
lich werden, dass Spaemann eine genuin philosophische Argumenta-
tion entwirft, auch wenn er auf die Grenze des Denkbaren reflektiert,
während Kobusch durch die unverhohlene Bezugnahme auf Gott an
zentralen Stellen seiner Argumentation Philosophie mit Theologie
vermischt.
Nach der in dieser Arbeit vorgelegten Deutung der Spae-
mann’schen Personenphilosophie kann dieser der Theologisierung
der Ontologie dadurch entgehen, dass er die Personalität in der
Naturteleologie fundiert sein lässt. Auch wenn für Kobusch, wie ge-
sehen, die Naturteleologie im Kontext seines Projekts einer Meta-
physik der Freiheit keine Rolle spielt, soll an dieser Stelle an die ein-
gangs formulierte Diskursregel erinnert werden, unter der der
Vergleich der Positionen hier stehen soll, und an Kobuschs Konzep-
tion die Frage gerichtet werden, wie weit sie in der Lage ist, die con-
ditio humana, also das antagonistische Verhältnis von Leben und Ver-
nunft im Menschen und die Fundierung der Vernunft im Leben, zu
denken. In der »Entdeckung der Person« schreibt Kobusch:
Während das naturhaft Gute oder Schlechte die Art der Beziehung
eines Aktes eines Naturdings zu dem ihm eingeschriebenen Natur-
oder Wesensgesetz bezeichnet, betrifft das moralisch Gute oder Böse

87Kobusch, Die Entdeckung der Person, 52, u. Abschnitt 11.1.3, Zur inhaltlichen
Bestimmung der Metaphysik der Freiheit, 505.

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11.1.5 Zur Kritik der Perspektive Kobuschs

die Art der Beziehung zwischen einer Freiheit zu einer anderen. Diese
grundsätzliche Verschiedenheit zwischen Natur und Freiheit oder zwi-
schen den Seinsarten des ens naturae und ens morale bzw. volunta-
rium hat am deutlichsten der Dominikaner und spätere General seines
Ordens Hervaeus Natalis ausgedrückt, der Zeitgenosse und Gegner
des Durandus: »Das naturhaft Tätige (agens naturale) macht solches
und so, wie es ist …, aber das frei Tätige (agens voluntarium) macht
nicht solches, wie es selbst ist, sondern wie es selbst sein will«. 88 Das
bedeutet, daß das ens naturae immer an ein vorgegebenes, eingegebe-
nes Wesen gebunden bleibt, während das ens morale oder ens volun-
tarium sein eigenes Wesen erst selbst konstituiert. 89
Durch diesen Gedanken der – auf göttliche Gnade angewiesenen –
Selbstkonstitution des Freiheitswesens, das von seiner Natur in
einem absoluten Sinn getrennt ist, wird die Fundierung der Vernunft
im Leben geleugnet. Kobusch fällt damit in den cartesianischen Dua-
lismus und eine erneuerte Metaphysik des allgemeinen Subjekts zu-
rück, von der aus es unmöglich ist, den Weg zum konkreten Anderen
zu finden. Dabei erscheint die Selbstkonstitution des Freiheitswesens
als jene Hypostasierung des Selbst zur unabhängigen Entität, die
durch die Bedingung eines Diskurses, in dem jede Position, auch
wenn sie selbst nicht darauf reflektiert, sich als Perspektive verstehen
lassen muss, als mögliche Position ausgeschlossen wurde.

88 Kobusch verweist als Quelle des Zitats auf: Vgl. Hervaeus Natalis, In I Sent., d. 41,
p.2, a.3, 179bB.
89
Ebd. 45. – Berthold Wald, der ebenso wie Spaemann sein Verständnis der Persona-
lität ausgehend von der aristotelischen Ontologie und ihrem zentralen Begriff einer
lebendigen Substanz entwickelt, bezeichnet mit Bezug auf Thomas von Aquin die
personale Öffnung für die Wirklichkeit und die Intersubjektivität als »interne Modi-
fikationen dieser Substanz«. Im Gegensatz zu Kobusch betont Wald dabei den unauf-
hebbaren Zusammenhang des substanzontologischen und des moralischen Aspekts
der Personalität: »Für Thomas liegt darum in der Inkommunikabilität der geistigen
Akte, worin die Person zugleich ihr natürliches Sein realisiert oder auch verfehlt, die
höchste Auszeichnung der Person. Demgegenüber bleibt der Gegensatz von Freiheit
oder Natur, ens morale oder ens naturale, nicht bloß abstrakt, sondern verkürzt das
Sein der Person auf reine Subjektivität.« – Wald, Substantialität und Personalität.
Philosophie der Person in Antike und Mittelalter, 180–181.

807

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11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«

Gegenstand des folgenden Unterkapitels ist Dieter Sturmas 1995 ein-


gereichte Habilitationsschrift »Philosophie der Person«, deren we-
sentliche Grundgedanken nachvollzogen und anschließend in ein
Verhältnis zu der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Philoso-
phie der Begegnung gestellt werden sollen. Schon ein erster verglei-
chender Blick auf Spaemanns »Personen« einerseits, Sturmas etwa
gleichzeitig entstandene »Philosophie der Person« andererseits lässt
einen signifikanten Unterschied in den Schreib- und Denkweisen bei-
der Autoren erkennen. Ganz im Gegensatz zu der oben thematisier-
ten, 1 nur schwer systematisierbaren Essayistik Spaemanns baut Stur-
ma seinen Gedankengang in einer strengen Systematik auf, wobei er
Grundsätze der nicht-reduktionistischen Philosophie der Person [G–
…], Sätze, die eine im Text untersuchte Position ausdrücken […–S],
und im Text verteidigte Thesen […–T] im laufenden Text numerisch
ausweist und dieses Gefüge von fünf Grundsätzen, 56 Sätzen und 44
Thesen in einer Liste im Anhang noch einmal synoptisch zusammen-
fasst. 2 Hinter diesen sehr unterschiedlichen Physiognomien des Geis-
tes verbergen sich, wie in gewissem Sinne gegen Schopenhauer zu
zeigen versucht wird, 3 bemerkenswert weit gehende Parallelen zwi-
schen den Personenphilosophien beider Denker.
Sturmas Ausgangspunkt ist die in der Philosophie »noch nicht
bewältigte[…] Subjektproblematik«, die sich im Kontext des Begriffs
der Person durch die Frage konkretisieren lässt, »ob vernünftige In-
dividuen in ihren Bewußtseinszuständen und Handlungsverläufen
auf signifikante Weise selbst präsent sind« 4. Aus dieser Frage ergibt
sich für Sturma ein erster Hinweis auf den systematischen Ort des
Nachdenkens über Personen in der Philosophie:
Wenngleich die Philosophie der Person aus philosophiegeschichtlichen
Gründen noch über kein disziplinäres Profil verfügt, läßt sich ihr Ort
im System philosophischer Disziplinen bestimmen. Er liegt in der Ver-

1 Vgl. Kapitel 8, Ontologie der Person, 511.


2 Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 357–361.
3
Vgl. Schopenhauer, Sämtliche Werke, Bd. 5, Über Schriftstellerei und Stil, § 282,
605–606.
4
Sturma, Philosophie der Person, 25.

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11.2 Dieter Sturma: »Philosophie der Person«

bindung von theoretischer und praktischer Philosophie, also in jenen


Hauptzweigen der Philosophie, die sich trotz einiger Überbrückungs-
versuche seitens der philosophischen Ästhetik bis in die Gegenwart
schroff gegenüberstehen. 5
Bei den erwähnten philosophiegeschichtlichen Gründen ist an jenen
Dualismus – die problematische Vermittlung von Natur und Freiheit
– zu denken, der im vorangegangenen Teilkapitel im Zusammenhang
mit Kobuschs »Entdeckung der Person« thematisiert worden ist. In
der Philosophie der Neuzeit sieht Sturma eine »sich […] verstärkende
Tendenz zur Philosophie der Person«, die allerdings
in ihren ausdrücklichen Ausprägungen weitgehend auf die neuere
angloamerikanische Philosophie beschränkt ist – sieht man einmal
von der theologischen Traditionslinie und einigen wenigen Werken
kontinentaleuropäischer Philosophen ab, die in den neueren Dis-
kussionszusammenhängen zudem kaum Berücksichtigung gefunden
haben. 6
Sturmas Ansatz kann man vor diesem Hintergrund als den Versuch
charakterisieren, Positionen der analytischen Philosophie zu denen
der klassischen Philosophie der Neuzeit in ein Verhältnis zu setzen.
Die eingangs von ihm formulierten Grundsätze, die seinen Gedan-
kengängen als Prämissen zugrunde liegen, kann man in zwei Grup-
pen teilen, deren erste sich auf den Satz beziehen lässt, von dem die
Erschließung der Personenontologie Spaemanns oben ihren Ausgang
genommen hat, den Satz nämlich, wonach alle Menschen Personen
sind. 7 Sturma bezieht eine dezidierte Gegenposition:
[G–1] Die Grenzen personaler Existenz und die Grenzen mensch-
lichen Lebens fallen nicht zusammen.
[G–2] Die Erfüllung der Kriterien entwickelter Personalität hängt
nicht von moralischer Wechselseitigkeit ab: Personen sind auch
denjenigen gegenüber zu moralischem Respekt verpflichtet, die
über kein Selbstbewußtsein und keinen praktischen Subjekt-
gedanken verfügen.
[G–3] In seiner entwickelten Form impliziert personale Existenz
Selbstbewußtsein und einen praktischen Subjektbegriff. 8

5 Sturma, Philosophie der Person, 27.


6
Ebd. 28.
7 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524.
8
Sturma, Philosophie der Person, 37.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Während [G–2] und [G–3] mit der Auffassung Spaemanns überein-


stimmen, drückt sich in [G–1] eine wesentliche Differenz aus, auf die
weiter unten zurückzukommen sein wird. Die zweite Gruppe von
Grundsätzen bringt einen »entschiedenen Nicht-Reduktionismus«
zum Ausdruck, der bereits aus »der theoretisch unbefangenen All-
tagserfahrung, deren Semantik den unhintergehbaren Bedeutungs-
hintergrund der Philosophie der Person bildet« 9, hervorgeht:
[G–4] Es gibt einen philosophisch bedeutungsvollen Begriff der Per-
son, der über einen irreduziblen Eigensinn verfügt.
[G–5] Die Schwierigkeiten und Gegenläufigkeiten der Semantik des
Begriffs der Person sind Ausdruck der epistemologischen Irre-
duzibilität des personalen Standpunkts. 10
Aus dieser epistemologischen Irreduzibilität des personalen Stand-
punktes, die die wesentliche Prämisse der Studie bezeichnet, ergibt
sich zugleich das Programm seiner philosophischen Untersuchungen
und der Aufbau ihrer Darstellung im Folgenden.
Aus dem in [G–4] ausgedrückten Nicht-Reduktionismus geht
zunächst die Notwendigkeit einer Reduktionismuskritik hervor,
»denn die Argumentationsverfahren müssen sich kriteriell und be-
gründungstheoretisch so gestalten lassen, daß der Reduktionismus
der radikalen Subjektkritik, der für personale Bestimmungen im
strikten Sinne gar keinen Raum lassen will, rechtfertigungsfähig zu-
rückgewiesen werden kann« 11. Diese Zurückweisung entfaltet Stur-
ma anhand einer personalen Theorie des Selbstbewusstseins (11.2.1).
In einem zweiten Schritt soll der »komplizierte[…] Prozess [der] kul-
turgeschichtlichen Herausbildung« 12 des Begriffs der Person in Stur-
mas Perspektive, die ganz erheblich von der bereits betrachteten Ver-
sion Kobuschs abweicht, nachvollzogen werden. Auch wenn Kobusch
von Sturma nicht erwähnt wird, kann doch eine implizite Bezugnah-
me auf ihn in der Bemerkung über den Begriff der Person vermutet
werden, »daß seine Bedeutung nicht einfach entdeckt worden ist, son-
dern sich über komplizierte Begriffstransformationen konstituiert
hat« 13. Wesentliche Stufen dieses Prozesses – Locke, Leibniz, Kant –

9 Sturma, Philosophie der Person, 39.


10 Ebd.
11
Ebd. 28.
12 Ebd. 35.

13
Ebd.

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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein

sollen in Sturmas Deutung knapp betrachtet werden (11.2.2). Schlüs-


selbegriffe der wesentlichen inhaltlichen Entfaltung seiner Philoso-
phie der Person sind neben ›Kontingenz‹ und ›Zeit‹ ›Lebensplan‹ und
›Externalisierung‹ bzw. ›Selbsterweiterung‹. An ihrem Leitfaden sol-
len Sturmas wesentliche Thesen referiert und seine Schlussfolgerun-
gen wiedergegeben werden (11.2.3). Auf der Grundlage dieser werk-
immanenten Betrachtung wird anschließend ein Vergleich zwischen
Sturmas Philosophie der Person und der Personenontologie Spae-
manns bzw. der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Philosophie
der Begegnung möglich. Vor dem Hintergrund eines prinzipiellen
Gegensatzes beider sollen hier weitgehende Parallelen aufgezeigt
und der intendierte Phänomenbereich verglichen werden (11.2.4).
Abschließend wird versucht, den Ansatz Sturmas als Philosophie der
Person einer kritischen Wertung zu unterziehen, wobei zwei Proble-
me angesprochen werden, die sich im Nachvollzug der Agumentatio-
nen zeigen werden (11.2.5).

11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein

Im Sinne des erwähnten Ausgangs von der theoretisch unbefangenen


Alltagserfahrung wirft Sturma zunächst einen Blick auf die neben-
einander bestehenden Überzeugungen einer durchgehenden kausalen
Erklärbarkeit von Ereignissen in der Welt und der Gegebenheit von
Entscheidungsfreiheit im menschlichen Handeln:
Der Glaube an die kausale Regelmäßigkeit von Ereignissen, aus dem
der physikalische Determinismus seine Plausibilität gewinnt, zählt
zum weitgehend unbezweifelten Bestand der Alltagserfahrung, zu
dem sinnfälligerweise aber auch die Überzeugung gehört, daß Per-
sonen prinzipiell die Urheber ihrer Handlungsgeschichten seien und
zum jeweiligen Zeitpunkt auch anders hätten handeln können. Die
Alltagserfahrung geht insofern mit der Determinismusproblematik
überaus widersprüchlich um. Allerdings wird der Widerspruch in der
Regel nicht erlebt oder bemerkt und hat daher kaum praktische Viru-
lenz. 14
Die philosophische Betrachtung der Determinismusproblematik be-
ginnt Sturma mit der Prüfung der Konsistenz des physikalischen De-
terminismus, durch die leicht die »aporetische Struktur seiner dog-

14
Sturma, Philosophie der Person, 62–63.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

matischen Irreflexivität« 15 nachgewiesen werden kann. Damit ist ein


Argument gegen den Physikalismus, nicht aber gegen einen univer-
salen Determinismus vorgebracht: »Epistemologische und metho-
dische Einwände treffen den Ansatz des Determinismus, aber nicht
die Sachverhalte, deren Theorie zu sein, er vorgibt.« 16 Es bleibt dabei,
dass mit der Vorstellung personaler Freiheit ein zunächst unbegrün-
deter Anspruch erhoben wird, der gegenüber der Vorstellung eines
universalen Determinismus rechtfertigungsbedürftig ist:
Die nicht-reduktionistische Philosophie der Person hat sich die
schwierige Problemstellung aufzubürden, ihre grundsätzlichen Be-
stimmungen, die der semantischen Ausgangssituation nach nicht auf
physikalistische Kausalitätsverhältnisse reduziert werden können, on-
tologisch zu rekonstruieren, andernfalls wäre sie durchgängig dem Pa-
ralogismusverdacht ausgesetzt. 17
Die naheliegende philosophische Versuchung, eine schlechthinnige
Unabhängigkeit des Bereichs personalen Erlebens von der Welt der
Ereignisse im Sinne eines »metaphysischen Parallelismus« 18 zu be-
haupten, wird von Sturma nicht in Betracht gezogen: »Der Eindimen-
sionalität des ontologischen Reduktionismus kann rechtfertigungs-
fähig nicht mit naiven Theorien dualistischer Weltverdopplungen
begegnet werden.« 19 Als Alternative hierzu bietet sich die interne
Entfaltung einer Gegenposition zur Ontologie des Physikalismus an,
indem in einem einheitlichen ontologischen Raum Sachverhalte auf-
gewiesen werden, die in ihr nicht vorkommen können:
Die methodische Zirkularität und Inkonsequenz des »harten« Physi-
kalismus ist für sein theoretisches Konzept allerdings noch nicht letal.
Kann jedoch gezeigt werden, daß aufgrund dieser Defizite Sachverhal-

15 Sturma, Philosophie der Person, 66. – Vgl.: »Der physikalische Determinismus


muß einen epistemologischen Standpunkt unterstellen, der der Bestimmung nach
ein archimedischer Punkt jenseits von Raum und Zeit zu sein hätte, auf den die Be-
stimmungen und Determinationsgesetze nicht angewandt werden können, die seinen
Voraussetzungen zufolge universell gelten sollen. Der Blick des physikalischen De-
terminismus auf die Welt kann der theoretischen Konstruktion nach weder innerhalb
noch außerhalb der Welt plaziert werden. Liegt er innerhalb der Welt, wird die uni-
verselle Gültigkeit bzw. perspektivenlose Objektivität nicht erreicht, liegt er außer-
halb der Welt, ist er kein Standpunkt möglicher Erkenntnis.« – Ebd.
16 Ebd. 67.

17
Ebd. 68.
18 Ebd. 75.

19
Ebd.

812

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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein

te, deren Faktizität nicht sinnvoll zu bestreiten ist, konstruktiv ver-


stellt oder unterschlagen werden, wird eine Lücke im geschlossenen
System des Physikalismus aufgerissen, auf die er theorieimmanent
nicht mehr reagieren kann und die seinen Totalitarismus zum Zer-
springen bringen muß. 20
Auf der Suche nach solchen Sachverhalten weist Sturma, worauf spä-
ter im Rahmen des Vergleichs mit der Position Spaemanns zurück-
zukommen sein wird, mit Verweis auf Thomas Nagel die Bedeutung
von ›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ in diesem Zusammenhang zurück. 21
Nach Sturma taugt Nagels ›Fledermausargument‹ nicht als Einwand
gegen den Reduktionismus, da durch die »bloße Exposition einer par-
tikularen Perspektive« 22 keine Geltungsansprüche erhoben werden,
die vom Physikalismus ungerechtfertigterweise ausgeblendet wer-
den: »In reduktionismuskritischen Argumentationen kann der objek-
tive Standpunkt jedoch nicht aufgegeben werden, ohne damit zu-
gleich die entscheidende begründungstheoretische Voraussetzung zu
verlieren.« 23 Im Unterschied zu Nagel sieht Sturma also das Potential
für eine reduktionismuskritische Argumentation allein im Verweis
auf die »Perspektive der Person« 24, d. h. auf die »interne Struktur

20 Sturma, Philosophie der Person, 76–77.


21 Vgl.: »Nagel bestreitet, daß mentalen Zuständen ohne Bedeutungsverlust eine
physikalistische Beschreibung gegeben werden kann. Seinen Vorbehalt führt er mit
Hilfe eines Gedankenexperiments aus, in dem das Problem aufgeworfen wird, ob die
Frage, ›What is it like to be a bat?‹ auf theoretisch bedeutungsvolle Weise beantwortet
werden kann. Fledermäuse haben ein von Menschen unterschiedenes Wahrneh-
mungsvermögen, das empirischen Beschreibungen und Verallgemeinerungen zu-
gänglich ist. Von Fledermäusen kann mit Sicherheit gesagt werden, daß sie aufgrund
ihres spezifischen Wahrnehmungsapparates Ereignisse und Gegenstände in Raum
und Zeit anders als Menschen identifizieren. Darüber hinaus müssen ihnen aber auch
Formen mentaler Zustände wie Hunger, Schmerzen und Angst zugeschrieben wer-
den, und solche Zustände weisen sie wiederum als Lebewesen aus, die biologische
Dispositions- und Verhaltensähnlichkeiten mit dem animal rationale teilen. Dieses
Erfahrungsszenario erzwingt für Nagel den Schluß, daß Fledermäusen ein spezi-
fischer subjektiver Charakter zugeschrieben werden muß, der als subjektiver Charak-
ter mit konzeptualen Mitteln nicht auf den Begriff gebracht werden kann. Nach dem
Verlauf von Nagels Argument ist es vor allem die gänzlich anders geartete Wirklich-
keitsauffassung, die einer Konzeptualisierung entgegensteht. Ein ›Es-ist-zu-sein-Zu-
stand‹ hat danach eine subjektive Qualität, die per definitionem konkreteren, über
begriffliche Expositionen hinausgehenden Zugriffen verschlossen sein soll.«– Ebd. 77.
22
Ebd. 80.
23 Ebd. 79.

24
Ebd. 81.

813

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

von Erlebniszuständen einer Person« 25, die nach Sturma prinzipiell


durch Reflexivität gekennzeichnet sind. In Bezug auf diese spricht
Sturma von einem »ontologischen Unvollständigkeitsargument« 26:
»Die Erlebnisperspektive ist der Riß in der Ontologie des Physikalis-
mus, die noch nicht durch den partikularen Standpunkt zum Zer-
springen gebracht wird, sondern erst durch die reflexive Partikulari-
tät von Personen.« 27 Es ist wichtig festzuhalten, dass auf diese Weise
sowohl naturalistische als auch spiritualistische Vorstellungen zu-
rückgewiesen werden:
Der Begriff der innerweltlichen Transzendenz ist eine Reflexionsfigur,
der zufolge die Beschreibung der raumzeitlichen Welt von episte-
mischen Differenzierungen zwischen den Weisen der Existenz und
den Weisen ihrer Erkennbarkeit beherrscht wird. Ontologie und Epis-
temologie der Person lassen sich entsprechend nicht eindeutig auf-
einander abbilden. Der Umstand, daß bei der philosophischen Analyse
personalen Lebens Ontologie und Epistemologie der Person nur par-
tiell zur Deckung gebracht werden können, widerspricht der Wahrheit
des physikalistischen Reduktionismus und der des noumenalen Dua-
lismus gleichermaßen. 28
Sturma bezieht somit zwischen »monistischen und dualistischen
Theorieperspektiven« 29 eine vermittelnde Position, indem er eine
nicht-eliminative Variante des Physikalismus – »[13–T] Die Eigen-
schaften von Personen und die Eigenschaften von Ereignissen sind
verschieden« 30 – mit einem epistemischen Dualismus – »[14–T] Per-
sonen haben Erlebnisse in der Welt der Ereignisse« 31 – verknüpft.
Somit ergibt sich ein durchaus mit Schwächen behaftetes Konstrukt:
Das ontologische Konzept der nicht-reduktionistischen Philosophie
der Person ist dem Verlauf des reduktionismuskritischen Arguments
nach ein komplementäres Theorieverhältnis von nicht-eliminativem
Ereignismonismus und epistemischem Dualismus, das gleichermaßen
durch partielle Vereinbarkeiten und Unbestimmtheiten ausgezeichnet
ist. 32

25 Sturma, Philosophie der Person, 82.


26 Ebd. 83.
27 Ebd. 82.
28 Ebd. 85.
29 Ebd. 86.
30
Ebd.
31 Ebd.
32
Ebd. 88.

814

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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein

Auch wenn dies »als methodisch und explikativ unbefriedigend emp-


funden werden« 33 mag, sieht Sturma hierin eine dem Sachverhalt
angemessene Beschreibung, die er durch Ansätze wie »Feigls ›double
knowledge theory‹, Davidsons Anomaliethese sowie Nagels ›dual
aspect theory‹« 34 bestätigt sieht. Sein Fazit der Reduktionismuskritik
lautet in Thesenform: »[15–T] Weil Erlebnisse keine Ereignisse sind
und Erlebnisse und Ereignisse wechselseitig aufeinander wirken, sind
Erlebnisse und Ereignisse verschiedene Bestandteile eines einheit-
lichen ontologischen Raums.« 35
Die Erlebnisperspektive der Person, die den »Riß der reduktio-
nistischen Ontologie« bildet, ist wesentlich ein »Reflexivitätsphäno-
men« 36, dessen eingehende Untersuchung Sturma mit der Betrach-
tung von Descartes’ Zweifelsbeweis beginnt. Descartes ist nach
Sturma auf der Suche nach einem fundamentum inconcussum des
Denkens auf die »prinzipielle Infallibilität der Selbstgewißheit seines
Subjekts« 37 gestoßen: »Die infallible Selbstgewißheit ist Ausdruck
des Sachverhalts, daß das unmittelbare Bewußtsein der eigenen Exis-
tenz keinen deskriptiv identifizierbaren Referenten enthält.« 38 Auch
wenn Descartes dann doch »ein referentielles Korrelat der Selbst-
gewißheit im metaphysischen Raum substantialer Reifizierungen
auszumachen« versucht und damit »das unmittelbare Bewußtsein
der eigenen Existenz paralogistisch in einen Satz über eine Seelen-
substanz verwandelt« habe, bleibt nach Sturma unbenommen, »daß
Descartes die theoretische Situation nach der philosophischen Ent-
deckung der Selbstgewißheit und vor der substanzegologischen Rei-
fizierung der res cogitans zutreffend beschrieben hat« 39. Genau auf
diese Situation komme es für eine Philosophie der Person an:
Die Unabhängigkeit der Selbstgewißheit, die von Descartes nicht hin-
reichend analysiert worden ist und ihn letztlich zu den unberechtigten
Reifizierungen der res cogitans geführt hat, ist für die Philosophie des
Selbstbewußtseins von entscheidender Bedeutung, weil sie auch los-
gelöst von Descartes’ substanzegologischen Spekulationen theoreti-

33 Sturma, Philosophie der Person, 89.


34 Ebd. 93.
35 Ebd. 94.
36 Ebd. 97.
37
Ebd. 101.
38 Ebd.
39
Ebd.

815

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

sches Gewicht beanspruchen kann und überdies mit einem hohen re-
duktionismuskritischen Potential ausgestattet ist. 40
Das Selbstbewusstsein zeichnet sich als Phänomen dadurch aus, dass
es »in seiner Qualität auf keinen anderen Fall intentionalen Bewußt-
seins reduzierbar und hinsichtlich seiner Instantiierung offensichtlich
selbstgenügsam ist« 41. Das Problem, das sich aus dieser Phänomen-
beschreibung ergibt, besteht darin, dass das Selbstbewusstsein, wenn
es nicht als referentiell gedacht werden kann, auch »nicht als reflexi-
ver Zustand angesehen werden« 42 könnte. Dies hätte für die »reduk-
tionismuskritischen Intentionen der Philosophie der Person« 43 zur
Folge, dass sich aus dem »Faktum der Erlebnisperspektive […] keine
bewußtseinsphilosophischen Sachverhalte in der Gestalt episte-
mischer Selbstverhältnisse« 44 ableiten ließen und das Projekt einer
Philosophie der Person im Anfangsstadium gescheitert wäre. Daraus
folgert Sturma:
Die interne Verbindung von Erlebnisperspektive und epistemischem
Selbstverhältnis läßt sich nur mit Hilfe eines Begriffs des Selbst-
bewußtseins rekonstruieren, der die Bestimmungen der Selbstver-
trautheit und Reflexion bewußtseinsphilosophisch zusammenhalten
und unmittelbar auf die Erlebnisperspektive der Person beziehen
kann. Nur auf diese Weise kann das reduktionismuskritische Projekt
der Philosophie der Person in einen konstruktiven Begriff der Selbst-
bestimmung überführt werden. 45
Mit Bezug auf Wittgensteins Privatsprachenargument legt Sturma
dar, »daß eine bestimmte Form epistemischer Selbstverhältnisse als
private Sprache aufgefaßt werden kann« 46, dass es also eine Sprache
der Subjektivität gibt – »[22–T] Subjektive Bestimmungen haben
ihre eigene Grammatik und Objektivität« 47 –, »denn ich bin derjeni-
ge, der über das faktische Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und
insofern auch über den Wahrheitswert dieser Beziehungen entschei-
det« 48. Mit Bezug auf Descartes lässt sich somit »die bewußtseinsphi-

40 Sturma, Philosophie der Person, 101–102.


41 Ebd. 102.
42 Ebd. 106.
43 Ebd.
44 Ebd.
45 Ebd. 107.
46
Ebd. 116.
47 Ebd. 115.
48
Ebd. 118.

816

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11.2.1 Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein

losophische Formel ›ich denke‹ mit der Sprache der Subjektivität in


einen internen Zusammenhang bringen« 49: »Der Satz ›ich denke‹
kann nur deshalb als private Sprache auftreten, weil er den Satz ›ich
existiere‹ immer schon enthält. Der Kern der epistemischen und exis-
tentiellen Privatsprache ist insofern nicht der Satz ›ich denke‹, son-
dern das wechselseitige Implikationsverhältnis von ›ich denke‹ und
›ich existiere‹.« 50 In diesem Implikationsverhältnis besteht eine ge-
genläufige epistemologische und ontologische Hierarchisierung: »In
systematischer Hinsicht führt dabei der Weg von der Selbstgewißheit
und dem bewußtseinsphilosophischen Vorrang des ›ich denke‹ vor
dem ›ich existiere‹ zur bewußten Erfahrung des ontologisch voraus-
gesetzten ›ich existiere‹.« 51 In den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit
rückt so die »eigentümliche Semantik des Existenzbegriffs« 52, der
»den Zustand bzw. Modus eines Gegenstandes in Raum und Zeit«
bezeichnet, »und es ist dieses Existenzverhältnis, das im Selbst-
bewußtsein bewußt wird« 53. Sturma spricht von einer »Doppelper-
spektive« des Selbstbewusstseins, in der »das Subjekt des Bewußt-
seins sowohl für sich selbst als auch für das einzustehen hat, was zu
Bewußtsein kommt« 54. Diese Doppelperspektive drängt dazu, das
Selbstbewusstsein nach dem Subjekt-Objekt-Modell oder nach einem
Gegenmodell, das »die Reflexivität und Referentialität des Selbst-
bewußtseins zum Verschwinden« 55 bringt, zu betrachten: »Von dieser
Theoriealternative hat sich gezeigt, daß sie mit Hilfe der privaten
Sprache des ›ich denke‹ und der Semantik des Existenzbegriffs um-
gangen werden kann.« 56 Die damit angezeigte Lösungsoption lässt
sich noch einmal aus zwei Perspektiven beleuchten, einerseits der
des ›ich denke‹ : »Das Subjekt des Selbstbewußtseins kann sich als
Subjekt nicht bewußt werden, zu Bewußtsein kommt immer nur das
objektivierbare Ich, das kein Ich im ursprünglichen Sinne, sondern
ein selbstreferentieller Sachverhalt ist.« 57 Andererseits aus der des
›ich existiere‹ : »Die Begriffe der Doppelstruktur des Selbstbewußt-

49 Sturma, Philosophie der Person, 116.


50 Ebd. 121.
51 Ebd. 125.
52 Ebd. 136.
53 Ebd.
54 Ebd. 138.
55
Ebd. 139.
56 Ebd.
57
Ebd. 141.

817

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

seins und der reflektierten Distanz besagen, daß Personen sich aus der
gegebenen Unmittelbarkeit ihres Lebens vermittels ihres selbstrefe-
rentiellen Bewußtseins lösen können.« 58 Nach Sturma findet die »re-
duktionismuskritische Argumentationsperspektive der Philosophie
der Person schließlich ihren systematischen Abschluß« darin, dass
»die reflektierte Positionalität des Bewußtseins der eigenen Existenz
immer schon den Stellenwert eines praktischen Verhältnisses zur
Welt« 59 gewinnt. Es hat sich somit eine »subjektivitätstheoretische
Ausdeutung« 60 der konstatierten Differenz zwischen Ereignissen
und Erlebnissen ergeben:
Das unerwartete Ergebnis der Ausdeutung besteht darin, daß sich
schon in der subjektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibili-
tätsarguments die Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses ab-
zeichnen, das dadurch zustandekommt, daß die exklusive ontologische
Position einer Person unmittelbar in ihre selbstreferentiellen Bewußt-
seinszustände eingeht. 61
Das für »die Philosophie der Person entscheidende[…] Fazit« zieht
Sturma in den Thesen: »[35–T] Personen verändern partiell die Welt
der Ereignisse« und »[36–T] Personen verändern sich als Personen in
der Welt der Ereignisse.« 62

11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person

Die philosophisch relevante Geschichte des Personbegriffs lässt Stur-


ma mit dessen Fundierung durch John Locke und der sich auf sie
beziehenden Kritik durch Gottfried Wilhelm Leibniz beginnen: 63
Die Rekonstruktion von Lockes und Leibniz’ Positionen zur persona-
len Identität hat für die Grundlegung der Philosophie der Person ent-

58
Sturma, Philosophie der Person, 144.
59 Ebd. 145.
60 Ebd. 146.

61 Ebd.

62 Ebd.

63 Die für Kobusch zentrale Fundierung in der scholastischen Philosophie des

13. Jahrhunderts streift Sturma nur flüchtig. Mit Bezug auf die trinitätstheologische
Formel »tres personae – una substantia« bemerkt er, dass sie der »Sache nach […]
nichts anderes als das offene Eingeständnis einer nicht zu lösenden Problematik« sei.
– Vgl. ebd. 47.

818

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11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person

scheidende Bedeutung. Ihre Analysen errichten nicht nur einen syste-


matischen Rahmen für die Philosophie der Person, sondern bringen
auch thematische Bereiche der theoretischen und praktischen Philo-
sophie einander näher. 64
Ausgangspunkt der Überlegung ist Lockes gegen den cartesischen
Ansatz gerichtetes Bemühen, »sich durch begriffliche Ausgrenzun-
gen des Substanzproblems zu entledigen« 65. Seine »Theorie perso-
naler Identität« geht aus von der »Exposition eines Identifizierungs-
kriteriums für die Gegenstände oder Sachverhalte, von denen
Identität ausgesagt werden soll«:
Das Kriterium ist die exklusive raumzeitliche Position des intentiona-
len Korrelats von Identifizierungsprozessen und seines dadurch ge-
setzten Anfangs in Raum und Zeit. Verschiedene Identitätsbegriffe
sind danach auf ein- und denselben Gegenstand anwendbar, wenn sie
sich nach Maßgabe dieser Kriterien unterscheiden lassen. Diese defini-
torische Festsetzung gewinnt bei Locke entscheidende Bedeutung bei
der semantischen Differenzierung zwischen den Begriffen des Men-
schen und der Person.
Mit der für das Problem personaler Identität überaus wichtigen
kriteriellen Vorklärung ist die Frage nach dem principium individua-
tionis bereits beantwortet. Locke bestimmt als Individuationsprinzip
die raumzeitliche Existenz des jeweiligen Individuums:
[37–S] Die Position einer Entität in Raum und Zeit konstituiert onto-
logisch ihre Identität. 66
Nachdem der Begriff der Substanz ausgegrenzt und für den Begriff
des Menschen so ein empirisches Identifizierungskriterium gegeben
worden ist, bleibt das Problem der Bestimmung des Begriffs der Per-
son. Als »ausdrückliche Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie
der Person« zitiert Sturma Lockes knappe Formel: »a thinking intel-
ligent Being, that has reason and reflection, and can consider itself, as
itself, the same thinking thing in different times and places; which it
does only by that consciousness which is inseparable from thinking,

64 Sturma, Philosophie der Person, 151.


65 Ebd. 155–156. – Vgl.: »Locke geht davon aus, daß jede Person sehr wohl eine Sub-
stanz habe, nur sei sie eben nicht erkennbar. Aufgrund dieser erkenntniskritischen
Einschränkung, die ontologisch zunächst keine Konsequenzen hat, muß Locke in ers-
ter Linie als egologischer Agnostizist und weniger als egologischer Skeptiker gelten.«
– Ebd. 196.
66
Ebd. 159.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

and, as it seems to me, essential to it« 67. Die wesentlichen Unterschei-


dungsmerkmale für den Begriff der Person sind somit »Reflexivität
und Identität des Selbstbewußtseins« 68. Sturma weist auf das prinzi-
pielle Problem dieses Definitionsversuchs hin:
Die Schwierigkeit des semantischen Zugriffs besteht darin, daß den
eigenen methodischen Vorgaben nach die abstrakte Idee »Person« als
Quasi-Artbegriff vorausgesetzt werden muß. Es unterbleibt jedoch
der Nachweis, wie in gerechtfertigter Weise »Person« eine Art be-
zeichnen kann, und das dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen,
daß eine definitorische Überschneidung mit dem Terminus »Mensch«
bestenfalls künstlich vermieden werden könnte. Lockes Versuch, diese
Schwierigkeit dadurch zu umgehen, daß er das vernünftige Indivi-
duum durch eine definitorische Setzung in eine organische und per-
sonale Existenz aufteilt, macht das definitorische Dilemma nur offen-
kundig. Der Begriff der Person wird nicht diskursiv oder explikativ
eingeführt, sondern als spezifizierter Terminus bereits von vornherein
vorausgesetzt. Die semantische Setzung läßt aber keinen theoreti-
schen Gewinn kenntlich werden. In der ungeklärten Definitionslage
des Begriffs »Person« muß vielmehr die erste gewichtige Begrün-
dungslücke in Lockes Theorie personaler Identität gesehen werden. 69
Ein weiteres Problem erkennt Sturma in Lockes »Koextensionalitäts-
these« 70, der Behauptung also, dass personale Identität »so weit rei-
che, wie sich das Bewußtsein der jeweiligen Person retrospektiv in
ihre Vergangenheit erstrecke« 71. Ohne eine »konstitutive Synthesis-
theorie des Bewußtseins«, betont Sturma, muss diese These zu einem
»vitiöse[n] Zirkel« 72 führen:
Locke denkt sich die interne Struktur des inneren Sinns nach Maßgabe
des reflexionstheoretischen Modells der Selbsttransparenz, und er
macht dabei keinen Unterschied zwischen mentalen Akten und men-
talen Zuständen. Es ist für ihn offensichtlich nicht vorstellbar ge-
wesen, daß eine Person sich in einem Bewußtseinszustand befinden
kann, ohne sich auch zugleich bewußt zu sein, sich in diesem Bewußt-
seinszustand zu befinden. Locke gerät auf diese Weise in die Zirkel der

67 John Locke, An Essay concerning Human Understanding, 225 [II. 27 § 9]. – Vgl.
Sturma, Philosophie der Person, 164.
68 Sturma, Philosophie der Person, 164.

69 Ebd.

70
Ebd. 165.
71 Ebd. 167.

72
Ebd.

820

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11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person

Reflexionstheorie, denn reflektierte Bewusstseinszustände sollen ihm


zufolge nur durch die zusätzlichen Reflexionsakte des »internal sense«
zustande kommen können, und durch diese zusätzlichen Reflexions-
akte wird der für die Reflexionstheorie des Bewußtseins typische re-
gressus in infinitum in Gang gesetzt. 73
In dieser »Zirkularität des retrospektiven Bewußtseins« sieht Sturma
»die zweite Begründungslücke in Lockes Theorie personaler Identi-
tät« 74. Aus dieser ergibt sich als dritte Begründungslücke das Pro-
blem, »daß der zeitliche Sinn personaler Identität, also das Vermögen
über kurzzeitige Gedächtnislücken hinweg sich seiner Identität be-
wußt werden zu können, nicht verständlich gemacht werden kann« 75.
Durch diese »drei Begründungslücken in Lockes Theorie personaler
Identität« wurde nach Sturma »im Gegenzug eine substanzphiloso-
phisch orientierte Kritik hervorgerufen« 76, innerhalb deren er vier
Argumentationstypen unterscheidet. 77 Von Bedeutung im hier ver-
folgten Zusammenhang sind vor allem das »Reflexionsargument«,
das »Identität als das logisch und zeitlich Frühere« ausweist – »[38–S]
Dem Bewußtsein der Identität muß die Identität der Person vorher-
gehen« 78 – sowie das »Selbstreferentialitätsargument«, das im Mit-
telpunkt von Leibniz’ Locke-Kritik steht:
Das Selbstreferentialitätsargument stellt den Problemkomplex der
philosophischen Synthesistheorie in den Mittelpunkt der Theorie per-
sonaler Identität. Seine gleichermaßen konstruktive und kritische
Zielrichtung ist der Nachweis, daß der empirischen Erscheinungsweise
von zeitlichen Veränderungsprozessen ein empirisch nicht ableitbarer
Identitätsprozeß zugrunde liegen muß:
[40–T] Personale Identität ist ein selbstreferentieller und empirisch
nicht identifizierbarer Veränderungsprozeß über die Zeit hin-
weg. 79

73
Sturma, Philosophie der Person, 158.
74 Ebd. 167.
75 Ebd. 168.

76 Ebd. 169.

77 Vgl.: »Systematisch läßt sich die substanzphilosophische Kritik an der empiristi-

schen bzw. empiristisch akzentuierten Theorie personaler Identität in vier Argumen-


tationstypen unterscheiden: in das Reflexions-, das Qualitäts-, das Selbstreferentiali-
täts- und das Kontinuitätsargument.« – Ebd.
78 Ebd.

79
Ebd. 174.

821

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Will man also unter Berücksichtigung der berechtigten Kritik an Lo-


ckes Ansatz dessen »Versuch, personale Identität konzeptionell aus
einem Bewusstseinsbegriff zu entwickeln« 80, weiterführen, muss die
»diskriminatorische Funktion des Begriffs der Person in Abgrenzung
zum biologischen Klassifikationsbegriff des Menschen« 81 näher be-
trachtet und das »Spannungsverhältnis der Sätze« 82 »[37–S] Die Po-
sition einer Entität in Raum und Zeit konstituiert ontologisch ihre
Identität« 83 und »[44–S] Bewußtsein konstituiert personale Identi-
tät« 84 untersucht werden:
Mit den philosophischen Analysen personaler Identität tritt – ähnlich
wie im Fall des Selbstbewußtseins – eine Doppelstruktur personaler
Existenz zutage. Während sich eine Person in Selbstverhältnissen auf
ihre Präsenz in Raum und Zeit bezieht […] oder zu ihrer Position in
Raum und Zeit verhält […], begegnet ihr die eigene Identität als
etwas, das gegeben und zugleich offen für selbstreferentielle oder
fremdbestimmte Veränderungen ist:
[45–T] Personen beziehen sich auf ihre Identität als eine gegebene
und herzustellende Identität. 85
Die Doppelstruktur personaler Existenz fasst Sturma als »Verbindung
von Indexikalität und Idealität« 86. Einerseits ist der »Ort einer Person
in Raum und Zeit« ontologisch festgelegt und »kann anhand von in-
dexikalischen Ausdrücken durchgängig identifiziert werden«, ande-
rerseits gehört es »zu den Eigenschaften personalen Lebens, daß sein
Subjekt das räumlich und zeitlich Gegebene reflektierend überschrei-
ten kann« 87. Diese hier als ›Idealität‹ gefasste personale Fähigkeit zur
Selbsttranszendenz impliziert die Thematisierung des Anderen.
Locke selbst bereits sah sich nach Sturma in seinem »Essay concerning
Human Understanding« zu einer »phänomengerechte[n] Korrektur«
seiner Argumentation veranlasst, insofern er im Übergang zu einer
moralphilosophischen Verwendung des Begriffs der Person die »mit
dem Standpunkt der dritten Person gesetzten interpersonalen An-

80 Sturma, Philosophie der Person, 169.


81 Ebd. 180.
82 Ebd. 187.
83 Ebd. 159.
84 Ebd. 185.
85
Ebd. 187.
86 Ebd. 204.
87
Ebd.

822

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11.2.2 Zur Geschichte des Begriffs der Person

erkennungsverhältnisse« 88 einzubeziehen begann, wodurch er freilich


in einen Widerspruch zu seiner Koextensionalitätsthese geriet, inso-
fern die Person dann unabhängig von der Extension ihrer Erinnerung
als Subjekt zurechenbarer Handlungen aufgefasst wird. Einen ent-
scheidenden Schritt über Locke hinaus tat in dieser Hinsicht Kant in
dem Gedanken, »daß der Zurechenbarkeitsgedanke noch nicht aus
der Identität des Selbstbewußtseins, sondern erst aus der moralischen
Selbstgesetzgebung folgt« 89. Der Gedanke der Selbstgesetzgebung
beinhaltet angesichts der Doppelstruktur personaler Existenz das
Problem, »daß Moralität nur vom subjektiven Standpunkt aus ge-
dacht werden kann, der Gedanke moralischer Autonomie aber nur
unter der Voraussetzung des impersonalen Standpunkts konstruier-
bar ist« 90. Die Verwirklichung von Autonomie hat daher zur Voraus-
setzung, »daß sich eine Person von ihrer empirischen Bestimmtheit
löst und in praktischen Selbstverhältnissen vom subjektiven zum im-
personalen Standpunkt übergeht« 91. In Thesenform lautet der Ge-
danke wie folgt: »[52–T] Autonomie ist das reflexive Verhältnis der
subjektiven Perspektive zum impersonalen Standpunkt.« 92 Daher ist
nach Sturma der kategorische Imperativ »nicht nur der Schritt vom
Selbst zum Anderen, sondern vor allem auch der Schritt vom Selbst
zur Person« 93. Mit diesem Gedanken sind die wesentlichen Entfal-
tungsschritte in der von Sturma entworfenen Geschichte des Begriffs
der Person nachvollzogen. Die Betonung der praktischen Selbstver-
hältnisse im Übergang vom Selbst zur Person verdeutlicht, dass es in

88 Sturma, Philosophie der Person, 191.


89 Ebd. 207.
90 Ebd. 211. – Unter dem »impersonalen Standpunkt« versteht Sturma eine hypothe-

tische Annäherung an die der Person in ihren praktischen Selbstverhältnissen auf-


gegebene Verbindung von Indexikalität und Idealität. Mit Bezug auf den kategori-
schen Imperativ bemerkt Sturma: »Obwohl einige Formulierungen Kants und eine
Vielzahl rezeptionsgeschichtlicher Urteile das Gegenteil nahelegen, muß der Begriff
der Impersonalität immer als unter dem indexikalischen Vorbehalt stehend aufgefaßt
werden. Standpunkte setzen Subjekte voraus, weshalb es einen impersonalen Stand-
punkt im unmittelbaren Wortsinn gar nicht geben kann. Im moralphilosophischen
Kontext ist ein impersonaler Standpunkt dementsprechend immer ein Standpunkt
individueller Personen. Dieses Bestimmungsverhältnis hat die komplizierte semanti-
sche Situation zur Folge, daß der Begriff der Impersonalität referentiell niemals ein-
lösbar ist und als Annäherungsbestimmung nur eine Tendenz ausdrücken kann.« –
Ebd. 205.
91
Ebd. 212.
92 Ebd. 213.

93
Ebd. 206.

823

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

der Weiterführung der Gedanken vor allen Dingen um die »Person


als Handelnde« 94 gehen wird.

11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung

Um in der philosophischen Durchdringung der »Bestimmung des


doppelten Selbst, die das Reflexionsverhältnis des personalen Stand-
punkts strukturell auf den Begriff bringt« 95, einen weiteren Schritt
gehen zu können, wendet Sturma sich dem Thema der Selbsttäu-
schung zu. Dieser ist genau dann bedeutend für eine Philosophie der
Person, »wenn er sich auf selbstreferentielle Tendenzen und Disposi-
tionen von Personen über die Zeit hinweg bezieht« 96. In diesen unter-
liegen Personen der Möglichkeit nach Selbsttäuschungen, insofern es
einen »Zusammenhang von unbewußten Formierungsprozessen und
expliziten Bewußtseinszuständen« 97 geben kann. In diesem Kontext
bezieht Sturma sich auf »Schellings naturphilosophische Geschichte
des Selbstbewußtseins« 98. Die Bedeutung seiner »Konzeption eines
Unbewußten des Bewußtseins« 99 besteht darin, dass sie als »eine Ver-
sion der ›dual aspect theory‹, die der Intention nach naturphilosophi-
schen Monismus und epistemischen Dualismus aufeinander be-
zieht« 100, verstanden werden kann:
Obwohl in subjektiver Perspektive die Differenz von Selbstbewußt-
sein und seiner naturbestimmten Vorgeschichte als eminenter Unter-
schied erscheint, ist in naturphilosophischer Hinsicht immer nur von
einer Welt auszugehen: »Was außer dem Bewußtseyn gesetzt ist, ist
dem Wesen nach eben dasselbe, was auch im Bewußtseyn gesetzt
ist.« 101
Es geht damit um eine »Relativierung von Subjektivität im relationa-
len Sinne« 102, also durch den Bezug auf ihre eigene Natur, mit einer

94
Sturma, Philosophie der Person, 218.
95 Ebd. 220.
96 Ebd. 231.

97 Ebd. 233.

98 Ebd.

99 Ebd.

100 Ebd. 235.

101
Ebd. 234. – Quelle des eingefügten Zitats nach Sturma: Schelling, Sämtliche Wer-
ke, X, S. 229.
102
Ebd. 236.

824

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11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung

erkenntniskritischen Implikation: »Weil sich epistemischen Selbst-


verhältnissen bestenfalls ein Teilbereich menschlicher Individualität
öffnet, können die Konstitutionsprozesse menschlicher Individualität
und Subjektivität nicht analytisch aufgeklärt werden.« 103 In Thesen-
form drückt Sturma diese Gedanken folgendermaßen aus:
[65–T] Die Bereiche des Unbewußten des Bewußtseins und der re-
flektierten Zustände des Bewußtseins gehen entwicklungs-
geschichtlich auseinander hervor.
[…]
[66–T] Die Bereiche des Unbewußten des Bewußtseins und der re-
flektierten Zustände des Bewußtseins sind strukturell ähn-
lich. 104
Aus dem Zusammenhang der beiden Thesen ist nach Sturma zu fol-
gern, dass das »bewußtseinsphilosophische Faktum des Unbewußten
[…] das Vorliegen eines besonderen Selbstverhältnisses an[zeigt], das
wesentlich durch Präreflexivität bestimmt wird.« 105 Da sich die Be-
zugnahme auf dieses »immer schon interpretierend bzw. interpretiert
vollzieht«, muss dem Präreflexiven ein »kognitiver Gehalt« 106 zu-
erkannt werden.
Die durch solche Kontexterweiterung reflektierte Relativierung
der Subjektivität steht in engem Zusammenhang mit dem Begriff der
Kontingenz, in dem »sich semantisch das Problemsyndrom der Frage
nach dem Subjekt personalen Lebens« 107 zusammenzieht. Allgemein
bezieht dieser Begriff sich »auf Sachverhalte, Gegenstände und Ereig-
nisse, die in Raum und Zeit zwar existieren, aber eben nicht auf not-
wendige Weise« 108. Im Hinblick auf Personalität gewinnt der Begriff
besondere Bedeutung:
Gegenüber allen anderen Formen kontingenter Existenz weist per-
sonales Leben die Eigentümlichkeit auf, sich der Kontingenz des eige-
nen endlichen Daseins bewußt werden zu können. Personen sind
grundsätzlich in der Lage, sich als kontingent zu thematisieren, das
heißt, sie existieren als selbstreferentielle Kontingenz. 109

103 Sturma, Philosophie der Person, 240.


104 Ebd. 241–242.
105 Ebd. 243.
106 Ebd. 250.
107
Ebd. 254.
108 Ebd. 257.
109
Ebd.

825

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Da personale Kontingenzerfahrung immer mit Zeitlichkeit verbun-


den ist, führt Sturma die Begriffe der »Zeitneutralität« und der »aus-
gedehnten Gegenwart« ein, die für das Ausgreifen des Subjekts auf
Vergangenheit und Zukunft im Bewusstsein stehen: »Für Personen
ist Zeit die Dimension des Bewußtseins der eigenen Kontingenz, die
mit Hilfe von zeitneutralen Einstellungen reflektierend überschritten
werden kann.« 110 Eine solche Relativierung der eigenen Kontingenz
ist in der personalen »Fähigkeit, reflektierte Kontinuitäten über die
Zeit hinweg zu etablieren« 111, begründet. Kontingenz und Kontinui-
tät stehen daher für Personen in einem unauflöslichen Zusammen-
hang, so dass gleichermaßen gilt: »[79–T] Im Fall personaler Existenz
gibt es keine Kontingenz ohne Kontinuität« und »[80–T] Im Fall per-
sonaler Existenz gibt es keine Kontinuität ohne Kontingenz« 112. Das
personale Kontingenzbewusstsein, das somit Kontinuität erst ermög-
licht, führt in der reflexiven Wendung an eine Grenze, die Sturma
mit dem Begriff der Existentialität benennt:
Existentialität ist für die Person ein irreduzibler Sachverhalt, weil sie
sich selbst gegenüber keine kontingente Einstellung einnehmen
kann […]. Obwohl Personen in der Gestalt reflektierter Endlichkeit
keine Bedingung der Existenz der raumzeitlichen Welt sind, gäbe es
ohne ihre subjektiven Perspektiven keine Erfahrung von dieser Welt,
und das ist ein nicht-kontingentes Faktum personaler Existenz. 113
Aus der Unmöglichkeit, eine kontingente Einstellung zu sich selbst
einzunehmen, ergibt sich die Vorstellung eines »Lebensplans« als
»selbstreferentielle Vereinheitlichung von Handlungsgeschichten« 114.
Damit ist nicht die »konkrete Formulierung von inhaltlichen Lebens-
zielen« 115 gemeint, sondern »eine allmähliche Annäherung an die
Vernunft durch bestimmte Negation, durch allmähliche Reduzierun-
gen von Heteronomie« 116. Die in der Vorstellung eines vernünftigen
Lebensplans durch ihre Übertragbarkeit auf andere Subjekte impli-
zierte Anerkennung anderer Personen – die »moralische Externalisie-

110 Sturma, Philosophie der Person, 279.


111 Ebd. 283.
112 Ebd.
113 Ebd. 294.
114
Ebd. 298.
115 Ebd. 302.
116
Ebd. 303.

826

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11.2.3 Kontingenz, Lebensplan und Selbsterweiterung

rung« 117 – wird von Sturma anhand der sozialphilosophischen Kon-


zeptionen Sartres und Levinas’ thematisiert. 118 Im Unterschied zum
Ansatz Levinas’ bleibt Sturmas Konzeption des Anderen eindeutig in
der moralischen Selbsterfahrung fundiert:
Die Anwesenheit anderer Personen in der subjektiven Perspektive der
einzelnen Person vollzieht sich kognitiv und praktisch als eine selbst-
referentielle Beziehung auf Entitäten, denen auf unmittelbare Weise
der gleiche Status zugebilligt wird wie der, den sich das Subjekt selbst
zuschreibt, und in diesem Gegenseitigkeitsverhältnis subjektiver Per-
spektiven enthüllt sich eine wesentliche Bestimmung des eigenen per-
sonalen Standpunkts:
[91–T] Im Fall personaler Existenz ist moralische Erfahrung mora-
lische Selbsterfahrung.
Satz [91–T] behandelt die subjektive Perspektive auch in praktischer
Hinsicht als Sonderfall. Die Bezugnahme auf die eigene Perspektive
wie auf die anderer Personen unterscheidet sich grundsätzlich von her-
kömmlichen Fällen äußerer Reflexion, und diese Differenz ist bei den
Bewertungen des Verhältnisses von theoretischer und praktischer Phi-
losophie kaum berücksichtigt worden. 119
Von großer Bedeutung für Sturmas Philosophie der Person ist seine
»Erklärung des Zustandekommens des Schritts des Selbst zum Ande-
ren« 120. Orientiert an der kantischen Philosophie vertritt er die These,
dass dieser Schritt als »Sprung« 121 bestimmt werden muss. Der »dis-
kontinuierliche Übergang des Selbst zum Anderen« ist demnach in
den sehr unterschiedlichen »moralpsychologischen Dispositionen« 122
von »Eigennutz« und »Selbstinteresse« 123 begründet. Während Eigen-
nutz für eine einseitig egoistische Haltung steht, schließt das Selbst-
interesse moralische Externalisierungen ein. Sturma spricht von
einer »holistischen Konzeption menschlichen Bewußtseins« 124: »Der
systematische Kerngedanke der holistischen Konzeption ist der der
Identität über die Zeit hinweg, die sich im Fall personaler Existenz

117 Sturma, Philosophie der Person, 305.


118 Vgl. ebd. 306–309.
119 Ebd. 309–310.
120 Ebd. 325.
121 Ebd. 327.
122
Ebd.
123 Ebd. 328.
124
Ebd. 332.

827

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

als zeitliche Selbsterweiterung äußert.« 125 Das vernünftige Selbst-


interesse steht somit als Selbsterweiterung in einem Gegensatz zu
einer bloß individualistischen Perspektive: »[101–T] Der Fluchtpunkt
des vernünftigen Selbstinteresses ist die Selbsterweiterung der Per-
son als Person.« 126 Nur durch Schritte zu einer solchen Erweiterung,
die sich auf »das Unbewußte und Emotive«, auf »Selbstverhältnisse
über die Zeit hinweg«, auf »die Anerkennung anderer Personen« und
auf »die Kontingenz des eigenen Lebens« beziehen können, kann
nach Sturma das »Potential[…] personalen Lebens« 127 ausgeschöpft
werden.

11.2.4 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Sturmas


und Spaemanns

Ebenso wie in dem Vergleich der Positionen Kobuschs und Spae-


manns kann auch hier zunächst vorausgesetzt werden, dass sowohl
Sturma als auch Spaemann denselben Phänomenbereich, nämlich im
Bewusstsein ihrer Freiheit lebende Personen im Blick haben. Eine
weitere auffällige Gemeinsamkeit beider Denker kann in der offen
zutage tretenden antireduktionistischen Stoßrichtung ihrer Argu-
mentationen erblickt werden. Dabei lehnt Spaemann, der das Neben-
einander von Naturalismus und Spiritualismus immer wieder als Sig-
num des modernen Denkens kritisch reflektiert hat, ebenso wie
Sturma eine dualistische Weltverdopplung zur Rettung des in Frage
stehenden Phänomenbestands ab. Wie Sturma geht es Spaemann um
die interne Entfaltung einer Gegenposition. 128 Der in dieser Entfal-
tung allerdings auftretende prinzipielle Gegensatz zwischen Sturma
und Spaemann kann zunächst ausgehend von dem von beiden thema-
tisierten Fledermausargument Thomas Nagels thematisiert werden.
Wie oben gesehen, betrachtet Sturma dieses Argument als prinzipiell
ungeeignet für die Explikation der Reduktionismuskritik, die nach
seiner Überzeugung ausschließlich von der Perspektive der Person
aus argumentieren kann. 129 An dieser Stelle sei noch einmal an die

125 Sturma, Philosophie der Person, 333.


126 Ebd.
127
Ebd. 354.
128 Vgl. ebd. 75.
129
Vgl. Abschnitt 11.2.1, Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein, 813.

828

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.
11.2.4 Vergleichende Analyse

Bedeutung dieses Arguments im Denken Spaemanns erinnert. Für


Spaemann ist die Wahrnehmungsevidenz im Hinblick auf andere Le-
bewesen, die Sturma mit dem Begriff der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹
fasst, im Gegensatz zu diesem durchaus ein Argument zur Explika-
tion der Reduktionismuskritik. Dieses basiert allerdings auf seiner
Überzeugung, wonach eine Wahrnehmung von Sein – und Leben –,
die ein Verhältnis der Anerkennung begründet, möglich ist. 130 Spae-
mann widerspricht also Sturmas Einschätzung, wonach ›Es-ist-zu-
sein-Zustände‹ aufgrund der Partikularität der Perspektive, die in
ihnen angesprochen ist, nicht Ausgangspunkt einer verallgemeiner-
baren Argumentation sein können. Für Spaemann sind sie Ausdruck
von Lebendigkeit, die uns als personale Subjekte mit anderen Lebe-
wesen – auch solchen, die nicht über Selbstbewusstsein verfügen, –
verbindet. Damit ist keineswegs gesagt, dass Spaemann den »qualita-
tiven Unterschied von ›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ und Erlebnissen«,
auf dem Sturma zurecht besteht, leugnen würde. Wie im zweiten Teil
dieser Arbeit versucht wurde zu zeigen, ist wohl das zentrale Theo-
riestück von Spaemanns Philosophie in der Argumentation zu sehen,
durch die die personale Perspektive als reflexiv gewendetes Aussein-
auf gedeutet wird. 131 Der qualitative Unterschied zwischen beidem ist
aber nach Spaemann nicht ohne die in ihm enthaltene Gemeinsam-
keit verständlich. Und genau in diesem Punkt widerspricht er Sturma
entschieden. Was somit Spaemann von Sturma trennt, ist das teleo-
logische Denken, das für jenen von zentraler Bedeutung ist, für die-
sen dagegen keine Rolle spielt. Nach dieser vorgängigen Klärung
könnte man nun annehmen, dass die Personenphilosophien Spae-
manns und Sturmas aufgrund dieser gegensätzlichen Prämissen
völlig verschiedene Wege gehen müssen. Das Frappierende des Ver-
gleichs beider besteht aber darin, dass sich ganz im Gegenteil sehr
weit reichende Parallelen und Übereinstimmungen in beiden An-
sätzen nachweisen lassen, auch wenn sich in diesen die gegensätz-
lichen Prämissen immer wieder zu erkennen geben. Diese These soll
im Folgenden in einigen Gedankengängen erläutert werden.
Der cartesische Zweifelsbeweis ist für Spaemann und Sturma
gleichermaßen von großer Bedeutung im Rahmen ihrer Argumenta-

130 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 198–199, u. Ab-


schnitt 9.3.2, ›Summen‹ des Spaemann’schen Denkens im Vergleich, 734.
131 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personali-

tät, 583–599.

829

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

tionen. Den Schritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, den Spaemann als
»Theologisierung der Ontologie« 132 deutet, wertet Sturma als »unbe-
rechtigte[…] Reifizierungen der res cogitans« 133. Während Spae-
mann jedoch versucht, eine alternative metaphysisch-analoge Deu-
tung dieses Schrittes ins Gespräch zu bringen, 134 die für sein Denken
von zentraler Bedeutung ist, und somit an dem Schritt selbst festhal-
ten will, geht Sturma einen Schritt zurück zur »theoretische[n] Si-
tuation nach der philosophischen Entdeckung der Selbstgewißheit
und vor der substanzegologischen Reifizierung der res cogitans« 135.
Auf diese Situation nimmt Spaemann in »Personen« Bezug und
spricht dort davon, dass Descartes in ihr »den entscheidenden Zug
dessen, was Personsein heißt, sichtbar« 136 gemacht habe. Sturma ver-
sucht aus ihr seinen Begriff der Person zu entwickeln und kommt im
Kontext der Überlegungen über eine ›private Sprache‹ zu einem Ge-
danken, mit dem er sich der Position Spaemanns weiter annähert. 137

132 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.


133
Sturma, Philosophie der Person, 102.
134 Vgl. Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 137, u. Abschnitt 6.2.1,

Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.


135 Sturma, Philosophie der Person, 101.

136 Spaemann, Personen (1996), 144. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der De-

struktion des Personbegriffs, 528.


137 Vgl. dazu einerseits folgende Bemerkung Sturmas: »Andere Personen können sich

zwar in öffentlicher Sprache mit Hilfe von propositionalen Einstellungen auf meine
Bewußtseinszustände beziehen, aber die Grenzen der öffentlichen Sprache sind nicht
die Grenzen der Erfahrbarkeit meiner Bewußtseinszustände. Die bewußtseinsphiloso-
phische Durchlässigkeit der öffentlichen Sprache ist auch unter der Voraussetzung
sprachanalytischer Kriterien erkennbar, denn ich bin derjenige, der über das faktische
Vorliegen meiner Bewußtseinszustände und insofern auch über den Wahrheitswert
dieser Beziehungen entscheidet. Bereits daraus kann sprachanalytisch abgeleitet wer-
den, daß mir ein epistemisches Selbstverhältnis unterstellt werden muß.« – Sturma,
Philosophie der Person, 118. – Vgl. dazu andererseits folgende Bemerkung Spae-
manns: »Schmerzen Empfinden und Hören sind subjektive Ereignisse. Aber sie sind
zugleich streng objektiv und absolut in dem Sinne, dass sie zwar nur von einem Men-
schen erlebt werden, dass die Tatsache dieses Erlebens aber eine Wirklichkeit ist, die
für das Urteil aller Menschen verbindlich ist, die überhaupt darüber urteilen. Dass ich
Schmerzen habe, kann zwar nur ich mit letzter Sicherheit wissen, aber das heißt nicht,
dass es nur wahr für mich wäre. Wenn jemand sagen würde: ›Ich erlebe dich anders,
als du dich erlebst. Für mich hast du keine Schmerzen‹, so würde ich ihm antworten:
›Es kommt überhaupt nicht darauf an, wie du oder sonst jemand mich erlebt oder
welche wissenschaftlichen Feststellungen jemand über mich trifft. Die Wahrheit über
meine Schmerzen kann nur ich wissen. Aber diese Wahrheit ist deshalb nicht eine
Wahrheit nur für mich, sondern für jeden‹.« – Spaemann, Wirklichkeit als Anthropo-
morphismus (2000), 193.

830

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11.2.4 Vergleichende Analyse

Wie oben gezeigt wurde 138, kann das ›ich denke‹ nach Sturma deshalb
als private Sprache aufgefasst werden, weil es ein »wechselseitige[s]
Implikationsverhältnis von ›ich denke‹ und ›ich existiere‹« 139 gibt.
Wenn somit nach Sturma das ›ich denke‹ schließlich als »Ausdruck
einer spezifischen Lebensform« 140 erscheint, nähert er sich damit fak-
tisch der Fundierung des ›ich denke‹ im ›ich lebe‹ an, das den zentra-
len Gedanken des von Spaemann vorgeschlagenen metaphysisch-
analogen Denkens bildet. Die »Doppelperspektive des Selbstbewußt-
seins«, von der Sturma spricht, in der »sich das Subjekt des Bewußt-
seins auf sich als raumzeitliches Wesen bezieht« 141, unterscheidet sich
nicht prinzipiell von Spaemanns Konzeption der Person als ›Haben
einer Natur‹. Spaemanns Gedanke ist, dass die Person ihre natürliche
Zentriertheit transzendiert und so den personalen Ort erreicht, der
zwar über kein eigenes Energiepotential verfügt, also ganz aus der
transzendierten Natur lebt, gleichzeitig aber eine solche Distanz zu
dieser Natur bedeutet, aus der heraus personale Freiheit denkbar
wird. Faktisch beschreibt Sturma dieselbe Konstellation mit anderen
Begriffen: »Personales Leben ist insofern durch die strukturelle Ge-
genläufigkeit gekennzeichnet, daß in ihm Indexikalität und Idealität
bzw. ontologische Festlegung und praktische Offenheit unauflöslich
aufeinander bezogen sind.« 142 Diese Deutung personalen Lebens be-
dingt bei Sturma auch die »Verbindung von theoretischer und prakti-
scher Philosophie«, in der er den Ort einer Philosophie der Person im
»System philosophischer Disziplinen« 143 erkennt. Was Spaemann
schon in »Glück und Wohlwollen« als unlösbare Verbindung von
Ethik und Metaphysik bezeichnet, 144 findet daher der Sache nach sei-
ne Entsprechung in Sturmas Feststellung, »daß sich schon in der sub-
jektivitätstheoretischen Entfaltung des Irreduzibilitätsarguments die
Umrisse eines praktischen Selbstverhältnisses abzeichnen« 145.
Lockes Theorie personaler Identität, die für Sturma die »aus-
drückliche Grundlegung der neuzeitlichen Philosophie der Person« 146

138 Vgl. Abschnitt 11.2.1, Reduktionismuskritik und Selbstbewusstsein, 817.


139 Sturma, Philosophie der Person, 121.
140 Ebd. 126.
141 Ebd. 139.
142 Ebd. 204.
143 Ebd. 27.
144
Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 11, 132, 150.
145 Sturma, Philosophie der Person, 146.
146
Ebd. 164.

831

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

darstellt, wird von Spaemann als philosophiegeschichtlich bedeut-


samer Ausdruck des »Bruch[s] mit dem klassischen Personverständ-
nis« 147 gewertet. Diese gegensätzlichen Einordnungen sollten aber
nicht darüber hinwegtäuschen, dass Sturma und Spaemann in ihrer
Kritik am Ansatz Lockes, die Sturma freilich sehr viel detaillierter
ausführt, grundsätzlich ebenso übereinstimmen wie in der Be-
wertung der Gegenposition, die Leibniz vertreten hat, 148 und ihrer
Bedeutung. Der Unterschied besteht freilich darin, dass Spaemann
die Gedankenbewegung von Descartes über Locke zu Hume unter
den Vorzeichen einer Krise des Personbegriffs betrachtet, also einen
teleologisch konnotierten Begriff voraussetzt, während für Sturma
Locke den eigentlichen Beginn einer »kontingente[n] Konstitutions-
geschichte« des Begriffs der Person durch »komplizierte Begriff-
stransformationen« darstellt. Einen deutlichen Gegensatz kann man
eher in der Bewertung Kants in den Kontexten der Personenphiloso-
phien beider Denker ausmachen. Für Sturma ist Kants Begriff der
Autonomie als »das reflexive Verhältnis der subjektiven Perspektive
zum impersonalen Standpunkt« 149 – ähnlich übrigens wie für Ko-
busch – in systematischer Hinsicht der Abschluss der Herausbildung
des Personbegriffs. Dagegen vertritt Spaemann im Hinblick auf die-
sen Begriff der Autonomie bei Kant eine skeptische Position, da für
ihn die bei Kant vollzogene Auflösung des Zusammenhangs von Mo-
ralität und Eudämonie der conditio humana selbst widerspricht 150,
weswegen er in seiner Konzeption des Wohlwollens Moralität durch
den Gedanken der interpersonalen Begegnung wieder mit dem Ge-
lingen des Lebens verbindet. 151 Diese an der Bewertung des kanti-
schen Autonomiekonzepts zutage tretende deutliche Differenz zwi-
schen Spaemann und Sturma wird allerdings wieder dadurch
relativiert, dass Sturma mit Bezug auf »Schellings naturphilosophi-
sche Geschichte des Selbstbewußtseins« 152 seine eigene Position da-
hingehend modifiziert, dass er gegen Kant der menschlichen Natur
wieder eine größere Bedeutung einräumt:

147 Spaemann, Personen (1996), 150.


148 Vgl. ebd. 151–152.
149 Sturma, Philosophie der Person, 213.

150 Vgl. Abschnitt 7.1.3, Kopernikanische Wende des Eudämonismus und Pflicht-

ethik, 445–455.
151 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479.

152
Sturma, Philosophie der Person, 233.

832

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11.2.4 Vergleichende Analyse

Das gattungs- und individualgeschichtliche Entstehen reflektierter


Existenz ist ein bewußtloser Vorgang, der keineswegs in dem Augen-
blick zum Stillstand kommt, in dem eine Person in die Dimension
reflektierter Existenz eintritt. Das Unbewußte ist nicht nur Grundlage
personaler Existenz, sondern auch integraler Bestandteil ihres Be-
wußtseins. Weil das reflexionsfähige Bewußtsein zumindest in natur-
philosophischer Hinsicht von seinen materiellen Bedingungen nicht
grundsätzlich verschieden ist, müssen die naturbestimmten Kontexte
in die Reflexionsprozesse miteinbezogen werden. Wo das nicht ge-
schieht, liegt eine sich verabsolutierende Reflexion vor, die sich von
ihren Kontexten und damit von ihrer Geschichte isoliert. Nach Schel-
ling tritt in der endlichen Reflexion nur ein sehr eingegrenzter Bereich
menschlicher Existenz zutage, der für sich allein keinesfalls als Grund-
lage von Selbsterkenntnisprozessen dienen kann. […] Das subjektivi-
tätstheoretische Resultat von Schellings naturphilosophischer Theorie
des Unbewußten kann in der Formel »kein Selbstverhältnis ohne Na-
turverhältnis« zusammengefaßt werden. 153
Diese von Sturma eingebrachte Rückbindung an die Natur steht in
einem Spannungsverhältnis zu seinem Ausgang vom instantanen
›cogito‹ unter Verzicht auf den Schritt zum ›sum‹. Insofern er nun
die ›sich verabsolutierende Reflexion‹ – Spaemann spricht im selben
Zusammenhang von der Versuchung, »diese abstrakte, alle inhalt-
lichen Bestimmungen distanzierende Identität als Entität zu hyposta-
sieren und sie das ›Selbst‹ zu nennen« 154 – klar ablehnt, nähert er sich
faktisch dem Spaemann’schen Verständnis der Person als ›Haben
einer Natur‹ sehr stark an.
Diese faktische Nähe seiner Philosophie der Person zu der Spae-
manns soll abschließend noch schlaglichtartig an einigen bei beiden
Denkern zu findenden Schlüsselbegriffen gezeigt werden. Der Begriff
der Kontingenz, der in der mittelalterlichen Philosophie zur Unter-
scheidung von Wesen und Existenz bedeutsam wurde, spielt, wie im
zweiten Teil dieser Arbeit gezeigt wurde, für Spaemanns Begriff der
Person eine zentrale Rolle. Seine Feststellung, dass das Kontingenz-
bewusstsein wesentlich die personale Perspektive ausmacht, 155 findet
sich in vergleichbarer Form bei Sturma wieder, bei dem es heißt, dass

153
Sturma, Philosophie der Person, 235.
154 Spaemann, Personen (1996), 115.
155
Vgl. ebd. 82.

833

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Personen »als selbstreferentielle Kontingenz« 156 existieren. 157 Die


»Dimension des Bewußtseins der eigenen Kontingenz« ist für Stur-
ma die Zeit, die »mit Hilfe von zeitneutralen Einstellungen reflektie-
rend überschritten werden kann« 158, woraus sich dann seine Vorstel-
lung eines Lebensplans als »Ideal eines in Selbstverhältnissen
geführten Lebens« 159 ergibt. Dieser Zusammenhang von Kontingenz
und Zeit wird von Spaemann ganz ähnlich gefasst, für den die »neu-
trale Zeit als unendlicher und unendlich teilbarer Fluß […] eine bloße
Abstraktion« ist, vor deren Hintergrund Personen sich als »Zeit-
gestalten« 160 abheben. Auch wenn die Bedeutung des Anderen für
das Zustandekommen solcher Zeitgestalten bei Spaemann einen prin-
zipiell anderen Stellenwert hat, als dies bei Sturma der Fall ist, ge-
braucht auch dieser wie Spaemann den Begriff der Anerkennung,
um das spezifische Verhältnis von Personen untereinander auszudrü-
cken. 161 Schließlich spricht Sturma auch – ähnlich wie Spaemann 162 –
vom »Schritt des Selbst zum Anderen als Sprung« 163, ohne allerdings
eine mit der Ontologie der Person bei Spaemann vergleichbare Kon-
zeption zu entwickeln, durch die diese Sprungproblematik sich nach-
träglich überwinden ließe.

11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas

Der kursorische Nachvollzug der wesentlichen Argumentationen


Sturmas und die vergleichende Analyse mit dem Ansatz Spaemanns
kann nach meinem Dafürhalten auf zwei ernst zu nehmende Proble-

156 Sturma, Philosophie der Person, 257.


157 Vgl.: »[82–T] Personen können keine kontingente Einstellung zu sich selbst ein-
nehmen.« – Ebd. 293.
158
Ebd. 279.
159 Ebd. 298.

160
Spaemann, Personen (1996), 121.
161 Vgl.: »Die moralische Anerkennung der anderen Person unterscheidet die Ge-

meinschaft der Personen von einem Ameisenstaat.« – Sturma, Philosophie der Per-
son, 314.
162 Vgl.: »Man kann eine Naturgeschichte des amor benevolentiae konstruieren. Sie

führt sozusagen in unendlicher Approximation an ihn heran. Aber am Ende bleibt


immer ein Sprung, ein plötzlicher Wechsel der Position […].« – Spaemann, Das Na-
türliche und das Vernünftige (1986/87), 130, u. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von
Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und Anerkennung, 396.
163
Sturma, Philosophie der Person, 327.

834

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11.2.5 Zur Kritik der Perspektive Sturmas

me in Sturmas Philosophie der Person aufmerksam machen. Zum


einen steht seine dezidierte Ablehnung der »noumenale[n] Deutung
der Person« 164 im Sinne einer »Zweiweltentheorie«, wonach die Per-
son »lediglich ein anderes Subjekt im fensterlosen metaphysischen
Raum wäre« 165, in einer unauflösbaren Spannung zu seiner Entschei-
dung, ausschließlich von der »Perspektive der Person« 166 aus argu-
mentieren zu wollen. Diese Spannung findet ihren Ausdruck darin,
dass er auf dieser Grundlage durch die privatsprachliche Verankerung
des ›ich denke‹ im ›ich existiere‹ sowie die naturphilosophische Relati-
vierung des kantischen Autonomiegedankens letztlich bei einem in
der Natur fundierten Begriff der Person anlangt, die im Rückblick
seinen kategorischen Ausschluss der ›Es-ist-zu-sein-Zustände‹ als In-
strument einer personenphilosophischen Argumentation fragwürdig
erscheinen lässt. Hier ist kritisch zu fragen, wie angesichts der von
Sturma so stark betonten Bedeutung des Unbewussten die von ihm
durchgehaltene starre Gegenüberstellung der Welten der Personalität
und des nichtpersonalen Lebens aufrechterhalten werden kann.
Zum anderen fällt im Vergleich seiner Konzeption mit der Spae-
manns auf, welche Schwierigkeiten es ihm bereitet, von der zunächst
solipsistisch konzipierten Person zum Anderen und damit zur Inter-
personalität zu gelangen. Er benötigt hierzu den aus Kants Begriff der
Autonomie entwickelten Gedanken des hypothetischen impersonalen
Standpunkts und die Bestimmung eines vom Eigennutz abzuheben-
den Begriffs des Selbstinteresses. Aber auch in der so erreichten Per-
spektive ist die »moralische Ferne«, die durch »Anerkennung anderer
Personen« 167 überwunden werden kann, nur eine mögliche Option
der Selbsterweiterung unter anderen. Die Möglichkeit der Anerken-
nung anderer Personen bleibt dabei in einer selbstreferentiellen Be-
ziehung verankert. Hier ist kritisch zu fragen, inwieweit mit dem
»unvermeidlichen ›Kantianismus‹ des Begriffs des vernünftigen Le-
bensplans« 168, von dem Sturma spricht, personale Selbsttranszendenz
und das Ereignis der Begegnung überhaupt erfasst werden können.
Ganz deutlich jedenfalls scheint mir im direkten Vergleich der An-

164 Sturma, Philosophie der Person, 84. – Sturma lehnt diese Deutung ab, da es ihm,

wie in Abschnitt 11.2.1 gezeigt wurde, um die interne Entfaltung einer Gegenposition
zur Ontologie des Physikalismus geht.
165 Ebd. 83.

166
Ebd. 81.
167 Ebd. 354.

168
Ebd. 299.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

sätze Sturmas und Spaemanns zu sein, dass dieser aufgrund seiner


teleologischen Prämisse den Weg zum Anderen gar nicht suchen
muss – »Personen gibt es nur im Plural« 169 –, während jener im
Wesentlichen bei der Singularität der Person stehen bleibt, von der
aus er nur mit großem argumentativem Aufwand den Gedanken der
Anerkennung anderer Personen begründen kann.
Beide Probleme lassen sich in letzter Konsequenz zurückführen
auf Sturmas eingangs thematisierten ersten Grundsatz: »[G–1] Die
Grenzen personaler Existenz und die Grenzen menschlichen Lebens
fallen nicht zusammen.« 170 Aus ihm ergibt sich sowohl die Not-
wendigkeit der dezidierten Abhebung der Personalität von der bio-
logischen Spezies als auch die nicht überwindbare Abstraktheit ihrer
Bestimmung, in der der Schritt zur Interpersonalität zwar voraus-
gesetzt, aber nicht überzeugend begründet ist. Spaemanns Ausgangs-
punkt, wonach alle Menschen Personen sind, zeigt vor diesem Hin-
tergrund seine genuin philosophische Leistungsfähigkeit.

169 Spaemann, Personen (1996), z. B. 144.


170
Sturma, Philosophie der Person, 37.

836

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11.3 Michael Quante: »Person«

Im dritten Teilkapitel geht es um Michael Quantes 2007 in erster


Auflage in der Reihe »Grundthemen Philosophie« erschienene Mo-
nographie »Person«. Wie es ähnlich oben im Zusammenhang mit
Sturma festgestellt wurde, unterscheidet sich Quantes Art zu denken
und zu schreiben signifikant von Spaemanns Essayistik, wobei die
Eigenart von Quantes Studie in der systematischen Bearbeitung
dreier Grundfragen und der Prüfung möglicher kombinatorischer
Varianten der mit Bezug auf die zentrale Frage nach der personalen
Identität aufgestellten Kernthesen besteht. Noch stärker als Sturma
konzentriert Quante sich in der Auswahl der Forschungsliteratur
zum Thema Person auf Beiträge der angloamerikanischen Literatur.
Bereits die erste Grundfrage weist auf den Abstand des hier
gewählten Ansatzes zu Spaemanns Denken hin: »Aufgrund welcher
Eigenschaften und Fähigkeiten gehört eine Entität zur Klasse oder
Art der Personen?« 1 Nach Spaemann ist »die Rede von einer Klasse
der Personen, obgleich logisch einwandfrei, […] ontologisch unange-
messen« 2, weswegen auch Eigenschaften sich ihm zufolge nicht auf
die Personalität selbst beziehen können. 3 Quantes erster Schritt da-
gegen ist die Benennung solcher Eigenschaften im Rahmen einer »de-
skriptiv-sortale[n] Verwendung des Begriffs ›Person‹« 4. Die zweite
Grundfrage, deren Beantwortung am meisten Raum gewidmet wird,
lautet: »Unter welchen Bedingungen handelt es sich bei einer Entität
zu einem Zeitpunkt um genau eine Person und zu zwei verschiedenen
Zeitpunkten um ein und dieselbe Person?« 5 Es fällt auf, dass Quante
in dieser auf personale Identität zielenden Frage den Begriff der Iden-

1
Quante, Person, 8.
2 Spaemann, Personen (1996), 25.
3 Vgl.: »Das Phänomen des Versprechens wirft ein besonders eindeutiges Licht auf

das, was wir ›Person‹ nennen. Die Nichtlokalisierbarkeit des ›ursprünglichen Verspre-
chens‹ in der Zeit weist darauf hin, daß Menschen einander zwar aufgrund bestimm-
ter Eigenschaften als Personen ansehen, daß aber Personalität keine dieser Eigen-
schaften ist, sondern diesen allen als vorausliegend gedacht wird und daß sie selbst
nur in der Weise ihrer Anerkennung gegeben ist.« – Ebd. 238.
4 Quante, Person, 18.

5
Ebd. 8.

837

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

tität vermeidet. Hierzu ist eine für den weiteren Gedankengang wich-
tige Begriffsdifferenzierung Quantes zu beachten:
Die Relation der Identität ist nicht mit Bezug auf die raumzeitliche
Existenz konkreter Entitäten definiert, sondern stellt eine logische Re-
lation dar. Bei dem »ist« in der Aussage »A ist numerisch identisch mit
B« handelt es sich nicht um das präsentische »ist« (im Sinne »Jetzt ist
es hell«), sondern um eine zeitlose Aussage (im Sinne »2 plus 2 ist 4«).
Daraus allein ergibt sich schon, dass mit der Frage nach den Bedingun-
gen, die gegeben sein müssen, damit eine Entität zu einem Zeitpunkt
genau eine Entität ist, und mit der Frage nach den Bedingungen, die
gegeben sein müssen, damit es sich bei einer Entität zu verschiedenen
Zeitpunkten um ein und dieselbe Person handelt, nicht nach der Iden-
tität von Personen gefragt wird. Nennen wir, da wir den Begriff der
Identität für numerische Identität reservieren wollen, die Bedingun-
gen dafür, dass eine Entität zu einem Zeitpunkt genau eine Person ist,
Bedingungen für synchrone Einheit. […] Nennen wir die Bedingun-
gen dafür, dass eine Entität zu zwei verschiedenen Zeitpunkten ein
und dieselbe ist, Bedingungen für diachrone Einheit. […] Es ist un-
zulässig, die Eigenschaften der Relation Identität ohne weiteres Argu-
ment zu übertragen auf die Relation der synchronen oder die Relation
der diachronen Einheit. 6
In der zweiten Grundfrage geht es damit zunächst um die Unterschei-
dung zwischen den Fragen nach der synchronen und der nach der
diachronen Einheit der Person. In der dritten Grundfrage kommt der
Begriff der ›Identität‹ (in Anführungszeichen) dennoch in Bezug auf
die Person vor; diese lautet: »Wie ist die ›Identität‹ einer Person im
Sinne eines evaluativ-normativen Selbstverständnisses struktu-
riert?« 7 Quante betont, dass »›Identität‹ in diesem Sinne wenig zu
tun hat mit numerischer Identität« 8. Es geht bei dieser Begriffsver-
wendung um die inhaltliche Ausdeutung des Begriffs der Person, um
»Persönlichkeit und biografische[s] Selbstverständnis« 9.
Im Folgenden wird zunächst die Antwort Quantes auf die erste
Grundfrage und auf die zweite bis zu seinem skeptischen Fazit, wo-
nach es »keine Einheitsbedingungen für Personen« 10 gibt, nachvoll-
zogen (11.3.1). Danach werden im Rahmen seines Übergangs zum

6 Quante, Person, 9–10.


7 Ebd. 8.
8
Ebd. 11.
9 Ebd.

10
Ebd. 102.

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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität

»biologischen Ansatz[…]« 11 die Überlegungen zur zweiten Grund-


frage zu Ende geführt und seine Ansätze zur Beantwortung der drit-
ten Grundfrage referiert (11.3.2). Darauf aufbauend wird die mit dem
biologischen Ansatz verbundene Annäherung Quantes an Spae-
manns Denken im Hinblick auf Parallelen und Differenzen analysiert
(11.3.3). Den Abschluss des Teilkapitels bildet der Versuch einer kri-
tischen Wertung der Personenphilosophie Quantes unter Einbezie-
hung der hier als Leitlinie dienenden Konzeption der Philosophie der
Begegnung (11.3.4).

11.3.1 Eigenschaften von Personen und


die Frage personaler Identität

Quante führt in einer Übersicht sechs Bedingungen der Personalität


auf, die er in zwei Gruppen (1–3 und 4–6) aufteilt. Die Bedingungen
der ersten Gruppe sind interdependent und notwendig, die der zwei-
ten interdependent und hinreichend:
1. Personen sind rational
2. Personen sind Subjekte propositionaler Einstellungen
3. Personen sind Objekte einer spezifischen Einstellung
4. Personen können die (in 3 genannte) spezifische Einstellung er-
widern
5. Personen können kommunizieren
6. Personen verfügen über Selbstbewusstsein sowie ein aktivisches
und evaluatives Selbstverhältnis 12
Person ist demnach für Quante ein »Bündelbegriff, der eine offene
Liste von konstitutiven Kriterien für Personalität enthält« 13. Mit Be-
zug auf die zweite Bedingung betont Quante, dass »die Zuschreibun-
gen propositionaler Einstellungen niemals nur mittels einer rein be-
obachtenden bzw. rein auf kausale oder funktionale Zusammenhänge
ausgerichteten Erkenntnishaltung des zuschreibenden Subjekts er-
folgen kann, sondern vielmehr einer Art hermeneutischer Grund-
haltung bedarf« 14. Diese Grundhaltung, die im Weiteren noch von

11 Quante, Person, 105.


12
Ebd. 24.
13 Ebd. 33.
14
Ebd. 25.

839

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Bedeutung sein wird, nennt Quante »Teilnehmerperspektive« 15. Mit


Bezug auf die sechste Bedingung spricht Quante von einer »erstper-
sönliche[n] propositionale[n] Einstellung zweiten Grades« 16, die den
secondary volitions Frankfurts entspricht. In einem ersten Fazit zur
Bestimmung der Klasse der Personen resümiert Quante drei Ent-
scheidungen, die in seiner Kriterienliste impliziert sind:
• Subjekt phänomenaler Bewusstseinszustände zu sein ist weder
eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Persona-
lität.
• Menschsein ist weder eine notwendige noch eine hinreichende
Bedingung für Personalität.
• Personalität konstituiert sich in einem reziproken Interpreta-
tions- und Anerkennungsmodus (Personalität ist eine sozial-rela-
tionale Bestimmung). 17
Mit der ersten Entscheidung wird die Relevanz des Vorliegens von
›Es-ist-zu-sein-Zuständen‹ für die Zusprechung von Personalität be-
stritten; 18 durch die zweite und die dritte Entscheidung wird das bio-
logische Zuordnungskriterium durch eines der Kooptation ersetzt.
Die Frage nach der personalen Identität thematisiert Quante
ebenso wie Sturma ausgehend von Locke: »Man kann ohne Übertrei-
bung sagen, daß sowohl Lockes Ansatz selbst als auch die zentralen
Einwände und die damit verbundenen Alternativen bis heute die phi-
losophische Landkarte, in die das Problem der ›Identität‹ eingezeich-
net ist, maßgeblich prägen.« 19 Im Sinne der oben thematisierten Be-
griffsdifferenzierung zeigt Quante, dass Locke das Einnehmen einer
bestimmten »Raum-Zeit-Stelle als Bedingung der synchronen Ein-
heit« 20 auffasst und unter Identität die durch vergleichende Tätigkeit
des Verstandes festgestellte »diachrone Einheit von Entitäten« 21 ver-
steht. Quante weist auf den Sachverhalt hin, den auch Spaemann
thematisiert, 22 dass Locke die Einheit von Prozessen bzw. Bewegung,

15 Quante, Person, 26.


16 Ebd. 29.
17 Ebd. 31.

18 Vgl.: »Dies bedeutet zuerst einmal, dass nicht alle Lebensformen, die zu Lust- und

Schmerzempfindungen fähig sind, zum Kreis der Personen zählen.« – Ebd. 32.
19 Ebd. 35.

20
Ebd. 39.
21 Ebd. 38.

22
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 149.

840

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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität

da »sie keine zeitliche Ausdehnung haben« 23, mit seinen Denkkate-


gorien nicht erfassen kann. Daher sind für ihn lebendige Organismen
durch den »Austausch von Partikeln unter Bewahrung des funktiona-
len Zusammenhangs« bestimmt; da dies ebenso auf Artefakte zu-
trifft, kann er »den Prozesscharakter des Organismus von dem Kör-
per als der materiellen Basis dieses Prozesses nicht genügend« 24
unterscheiden. In diesem Sinne ist auch »die Einheit des Menschen
als Unterfall des Organismus […] die Einheit eines zweckmäßig or-
ganisierten Körpers von bestimmter Gestalt« 25, so dass die Einheits-
bedingungen von Menschen und Personen von Locke unterschieden
werden. Um Lockes Bestimmung des Begriffs der Person zu erarbei-
ten, bezieht Quante sich auf dasselbe Zitat Lockes aus dem § 9 des
27. Kapitels von Buch II des »Essay concerning Human Understand-
ing« – einen »der berühmtesten und folgenreichsten Definitionsvor-
schläge der Philosophiegeschichte« 26 –, das bereits oben im Zusam-
menhang mit Sturma zitiert wurde. 27 Quante weist darauf hin, dass
Locke die von ihm getrennten ersten beiden Grundfragen vermischt,
d. h. die »Angabe der Bedingungen der Personalität« mit der »Ana-
lyse personaler Einheit« 28 verbindet. Der wichtigste Gedanke des
Definitionsvorschlags und die zentrale Bestimmung der Einheit der
Person ist ihre Fähigkeit sich zu erinnern:
Entscheidend ist es, dass es sich hierbei um ein konstitutives, nicht um
ein bloß epistemisches Kriterium handelt. Durch das erstpersönliche
Erinnern wird die Einheit zwischen dem damaligen Handlungs- oder
Erlebnissubjekt und dem aktualen Subjekt des Erinnerns hergestellt,
nicht etwa nur entdeckt. Es gibt, so muss man Lockes These von der
Autonomie der Kriterien der Einheit der Person verstehen, keine jen-
seits des Selbstbewusstseins liegende Tatsache, welche als Wahrheits-
bedingung für die in der erstpersönlichen propositionalen Einstellung
zweiter Stufe konstituierte Einheit fungiert. 29
Im nächsten Schritt betrachtet Quante drei »zeitgenössische Ein-
wände« gegenüber dem Vorschlag Lockes, die »die gegenwärtige Dis-

23 Quante, Person, 39.


24 Ebd. 40.
25 Ebd.

26 Ebd. 43.

27 Ebd. – Vgl. Sturma, Philosophie der Person, 164, u. Abschnitt 11.2.2, Zur Ge-

schichte des Begriffs der Person, 819–820.


28 Quante, Person, 43.

29
Ebd. 45.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

kussion und Theoriebildung nachhaltig geprägt haben« 30. Zunächst


wird durch das »Transitivitätsproblem« 31 Lockes »Erinnerungskrite-
rium« 32 problematisiert, 33 bevor zweitens durch das »Zirkularitäts-
problem« 34, das oben im Zusammenhang mit Sturmas Ansatz bereits
thematisiert wurde, 35 gezeigt wird, dass Lockes Erinnerungskriterium
immer schon die diachrone Einheit der Person voraussetzt. 36 Beide
Einwände stellen also »Lockes Forderung, die Einheit der Person
müsse vollständig erstpersönlich konstituiert sein« 37, in Frage. Als
dritten Einwand bezieht Quante sich unter der Überschrift »Selbst-
bewusstsein als Substanz der Person« 38 auf Leibniz’ Monadologie, in
der durch die Monade als »innere[s] Unterscheidungsprinzip« der
Dinge eine »notwendige Bedingung für Individuation und Einheit« 39
behauptet wird. Die Bedeutung dieses Einwandes ist darin zu sehen,
dass so einerseits gegen das Locke’sche Erinnerungskriterium ein ein-
faches Prinzip personaler Einheit ins Spiel gebracht wird, das anderer-
seits entgegen der Ausblendung dieses Aspekts bei Locke in einer zu-
grunde liegenden Substanz fundiert sein muss.
Um von dieser philosophiehistorischen Betrachtung zu einer
systematischen Analyse des Problems übergehen zu können, zerlegt
Quante Lockes Definitionsvorschlag in drei Kernthesen:
• Erstpersönlichkeitsthese (E-These): Die Einheit der Person ist
ausschließlich im Selbstbewusstsein konstituiert und vollständig
im Selbstbewusstsein epistemisch zugänglich.

30 Quante, Person, 46.


31 Ebd. – Im Grundsatz geht es bei diesem Problem um die Möglichkeit, dass durch
einander überlappende Erinnerungsräume einer Person Ereignisse aus vergangenen
Räumen der späteren Person nicht mehr bewusst gegeben sein können, obwohl sie ihr
gegeben waren in Phasen, an die sie sich noch erinnert.
32
Ebd.
33 Quante bezieht sich hier auf Reids berühmtes Gedankenexperiment vom »brave

officer«. – Ebd. 46–49.


34 Ebd. 49. – Bei diesem Problem geht es im Grundsatz um den Idiosynkrasie-Ver-

dacht in Bezug auf Erinnerungen, der nur durch eine bereits vorausgesetzte diachrone
Identität ausgeräumt werden kann, wobei dieser Gedanke seinerseits wieder unter
Idiosynkrasie-Verdacht steht und so weiter ad infinitum.
35 Vgl. Abschnitt 11.2.2, Zur Geschichte des Begriffs der Person, 820–821.

36 Vgl. Quante, Person, 49–52.

37
Ebd. 58.
38 Ebd. 52.

39
Ebd. 54.

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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität

• Unabhängigkeitsthese (U-These): Personale Einheit ist un-


abhängig von der Identität einer selbstbewusstseinstranszenden-
ten Substanz.
• Komplexitätsthese (K-These): Es gibt eine informative, d. h.
nicht zirkuläre Analyse personaler Einheit, d. h. konstitutive
(und nicht nur epistemische) Kriterien personaler Einheit. 40
Locke schlägt vor, »die diachrone Einheit der Person ausschließlich in
das Selbstbewusstsein der Person zu verlagern« (E-These), blendet
dabei »die Frage nach dem Wesen der zugrunde liegenden Sub-
stanz« 41 aus (U-These) und versucht, mit dem »Erinnerungskrite-
rium« die personale Einheit als ein »komplexes Phänomen« 42 zu ana-
lysieren (K-These). Ausgehend von dieser Analyse des Locke’schen
Arguments entwirft Quante eine tabellarische Übersicht 43 über die
acht möglichen kombinatorischen Varianten der Annahme bzw. Ab-
lehnung dieser Kernthesen, aus der er die Methodik seines weiteren
Vorgehens ableitet:
Aus Gründen der argumentativen Ökonomie ist es sinnvoll, zuerst die
Erstpersönlichkeitsthese zu überprüfen. Lassen sich gegen diese An-
nahme gravierende Bedenken formulieren oder, wie im Folgenden be-
hauptet, sogar zwingende Einwände vorbringen, dann fallen neben der
ursprünglichen Konzeption von Locke auch die erste, zweite und fünf-
te Option weg. 44
Da außerdem aus der Negation der E-These die Negation der U-The-
se folgt – »Ohne die Erstpersönlichkeitsthese lässt sich nur dann
sinnvoll von der Einheit der Person sprechen, wenn man eine selbst-
bewusstseinstranszendente Substanz postuliert« 45 – bleiben anschlie-
ßend nur noch zwei kombinatorische Varianten übrig, die bei Vernei-
nung der Erstpersönlichkeitsthese die Komplexitätsthese entweder
bejahen oder verneinen. Bevor diese Alternative näher betrachtet
wird, sollen zunächst die erwähnten zwingenden Einwände referiert
werden, die nach Quante gegen die Erstpersönlichkeitsthese spre-
chen.

40 Quante, Person, 58–59.


41 Ebd. 57.
42 Ebd. 58.
43
Vgl. ebd. 61.
44 Ebd. 60.
45
Ebd. 59.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Quante stellt zunächst eine Liste mit vier Annahmen auf, die die
»Grundidee der erstpersönlich-einfachen Theorie personaler Identi-
tät« umreißen:
• Die diachrone Identität von Personen ist nicht reduzierbar auf
empirisch beobachtbare Relationen.
• Empirische Kriterien personaler Identität sind lediglich episte-
mische, keine konstitutiven Kriterien.
• Konstitutiv für die diachrone Identität von Personen sind syn-
chrone und diachrone Einheitsrelationen, die vollständig in der
erstpersönlichen Perspektive erfassbar sind.
• Die Identität der Person ist damit ein basales und essenziell in der
erstpersönlichen Selbstbezugnahme konstituiertes Faktum.46
Um die in diesen Annahmen vertretene Position noch stärker in ihren
Konturen hervortreten zu lassen, fragt Quante anschließend nach
ihrer direkten diskursiven Gegenposition. Aus einer Leugnung der
konstitutiven Bedeutung der erstpersönlichen Perspektive folgt dem-
nach der Wechsel in die Beobachterperspektive. Auch für die »Grund-
idee dieser beobachterperspektivischen Theorie personaler Einheit«
führt Quante die wesentlichen Annahmen an:
• Die diachrone Einheit von Personen ist reduzierbar in dem Sin-
ne, dass sie durch empirisch beobachtbare Kontinuitätsrelationen
konstituiert wird.
• Die synchrone und diachrone Einheit von Personen ist ein kom-
plexer Anwendungsfall von Persistenz, d. h. der Einheit von
raum-zeitlich ausgedehnten Entitäten zu einem Zeitpunkt und
über die Zeit hinweg.
• Die Einheit von Personen ist weder epistemologisch noch kon-
stitutiv an die erstpersönliche Perspektive gebunden.
• Die Identität der Person ist damit zwar ein reales, aber weder ein
außerordentliches noch ein unanalysierbares Faktum. 47
Quante sieht nun ein zentrales Problem der Diskussion um den Be-
griff der Person darin, dass der beobachterperspektivische Theorietyp,
der »sich auf rein kausale und funktionale Zusammenhänge be-
schränkt und dabei weder die erstpersönliche Perspektive einnimmt
[…] noch evaluative oder normative Zusammenhänge erfasst« 48, auf-

46
Quante, Person, 63.
47 Ebd. 64.
48
Ebd.

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11.3.1 Eigenschaften von Personen und die Frage personaler Identität

grund kontraintuitiver Tendenzen von vornherein ausgeschlossen


wird.
Um dieses Defizit der gesamten Debatte in unserer Untersuchung zu
beheben, werden wir im Folgenden die Beweislasten umkehren, die
Grundlagen und basalen Intuitionen der erstpersönlich-einfachen Po-
sition prüfen sowie zeigen, dass Theorien dieses Typs mit einem für sie
unlösbaren Problem konfrontiert sind. 49
Dieses unlösbare Problem besteht darin, dass die »alltägliche Konzep-
tion der diachronen Einheit von Personen […] Lücken in der erstper-
sönlichen Selbstbezugnahme« 50 einschließt und daher die »diachrone
Einheit menschlicher Personen nicht ohne Rückgriff auf konstitutive
externe, die erstpersönliche Perspektive transzendierende Krite-
rien« 51 behauptet werden kann. Die Erstpersönlichkeitsthese ist da-
mit zu verwerfen, auch wenn die antithetische beobachterperspek-
tivische Theorie kontraintuitiv erscheint.
Nach der angekündigten Systematik der Vorgehensweise Quan-
tes bleibt demnach die Prüfung der verbliebenen Alternative der bei-
den Theorietypen, die sich durch die Annahme oder Ablehnung der
Komplexitätsthese unterscheiden. Das Merkmal der komplexen
Theorien besteht darin, dass sie »die Einheit der Person als ein kom-
plexes Phänomen auffassen, welches sich mittels basalerer Elemente
explizieren lässt«, wobei »komplexe Ansätze die Orientierung an der
Beobachterperspektive« 52 auszeichnet. Seine Option für die An-
nahme der Komplexitätsthese begründet Quante wie folgt:
Der entscheidende Vorteil, den wir durch die Ablehnung der Erstper-
sönlichkeitsthese erlangen, liegt in der intersubjektiven Überprüf-
barkeit der Wahrheitsbedingungen, die unseren Identitätsaussagen
mit Bezug auf die personale Einheit zugrunde liegen. Dieser kann aber
nur genutzt werden, wenn man die Komplexitätsthese akzeptiert. 53
Ansätze, die dies nicht tun, sind »für die Rekonstruktion und die Be-
gründung unserer ethischen Praxis ungeeignet, da sie dieser Praxis
keine intersubjektiv zugängliche Begründungsbasis zur Verfügung
stellen können« 54. Folgerichtig beschränkt sich Quante auf komplexe
49 Quante, Person, 65.
50 Ebd. 77.
51 Ebd. 78.
52
Ebd. 81.
53 Ebd. 82.
54
Ebd.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

Theorien und versucht, »Einheitsbedingungen für Personen als sol-


che« 55 zu finden. Der Versuch einer Widerlegung des Zirkularitäts-
einwands schlägt jedoch fehl, da »unser alltägliches Erinnerungskon-
zept impliziert, dass mentale Episoden einen Träger haben« 56; als
solcher käme aber nur ein menschlicher Organismus in Frage, womit
die Frage nach den Einheitsbedingungen für Personen als solche
schon verfehlt wäre. Damit kommt Quante zu einem skeptischen Fa-
zit seiner bis dahin durchgeführten Untersuchung, indem er zwei
offenbar nicht überwindbare theoretische Schwierigkeiten benennt.
Zum einen führt die Festlegung der komplexen Theorien »auf die
Beobachterperspektive und damit auf eine rein kausal-funktionale
Analyse« 57 zu der Feststellung, dass die »Frage nach der Struktur
der Persönlichkeit […] einen kategorial anderen Zugriff« 58 verlangt:
»Die erforderlichen evaluativen Kriterien sind in der Beobachterper-
spektive weder methodologisch zugelassen noch inhaltlich zu er-
fassen. Dies ist die erste Schwierigkeit, von der schwer zu sehen ist,
wie sie im Rahmen der komplexen Theorien gelöst werden kann.« 59
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich daraus, dass in komplexen Theo-
rien »der Begriff der Person als ein konstitutives Sortale« verwendet
wird und durch dieses Bedingungen festlegt werden, die »Menschen
nicht zu allen Zeitpunkten ihrer diachronen Existenz« 60 erfüllen.
Daraus ergibt sich ein Dilemma: Wenn gilt, dass eine raum-zeitliche
Entität A und eine raum-zeitliche Entität B nicht zu den gleichen
Raum-Zeitpunkten zu existieren beginnen oder zu existieren auf-
hören, dann kann es sich bei A und B nicht um ein-und-dasselbe Indi-
viduum handeln (dies gilt zumindest in komplexen Ansätzen). Wenn
wir sowohl Menschsein als auch Personsein als konstitutive Sortale
ansetzen, die uns Bedingungen der Einheit liefern, dann führt dies zu
einem Substanzdualismus von Mensch und Person. 61
In diesen beiden Schwierigkeiten zeigt sich nach Quante eine »erste
Unterbestimmtheit der Lösungsvorschläge, die sich innerhalb des
komplexen Ansatzes auf die Frage nach der Einheit der Person ent-

55 Quante, Person, 82.


56 Ebd. 89.
57 Ebd. 98.
58 Ebd. 99.
59
Ebd.
60 Ebd.
61
Ebd.

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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform

wickeln lassen« 62. Ein weiteres Problem sieht er in der »exzessive[n]


Verwendung von Gedankenexperimenten« 63 in der einschlägigen Li-
teratur, da durch sie die zwar kontingenten, jedoch nicht veränder-
baren Rahmenbedingungen unserer Lebenswelt außer Kraft gesetzt
werden:
Aus diesem Grunde ist es nicht sinnvoll, Gedankenexperimente in der
Diskussion um die Einheit der Person einzusetzen. Zu diesem Ergeb-
nis wird zumindest jeder kommen, dem die Verwechslung der Rela-
tion der Einheit mit der der Identität nicht mehr unterläuft. Denn nur
von Letzterer sollte man, ohne weitere Zusatzargumente zu nennen,
erwarten, dass sie in allen logisch möglichen Welten gleichermaßen
bestimmbar ist. Die zweite Quelle der Unterbestimmtheit ist also in
der Entkontextualisierung unserer Begriffe zu sehen, die sich in den
Gedankenexperimenten vollzieht. 64
Da der Gang der Untersuchung aufgrund dieser doppelten Unter-
bestimmtheit erfolglos abgebrochen wird, kündigt Quante einen
theoretischen Neuansatz an, in dem erstens ausschließlich die »Be-
dingungen der aktualen Welt« betrachtet und zweitens statt nach
Einheitsbedingungen für Personen als solche nur noch nach denen
»für menschliche Personen« 65 gefragt werden soll.

11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz:


Persönlichkeit als Lebensform

Die »Kernidee« des nun zu verfolgenden Neuansatzes der Über-


legung besteht darin, »die Antwort auf die Frage nach den Bedingun-
gen der Einheit menschlicher Personen gänzlich vom Begriff der Per-
son abzukoppeln und an den rein biologisch verstandenen Begriff des
Menschen (qua biologische Spezies) zu delegieren« 66. Damit einher
geht eine Modifikation der zweiten Grundfrage:
Die Grundidee des biologischen Ansatzes ist es, nicht mehr nach den
Einheitsbedingungen für Personen als solche zu suchen, sondern die
zweite Grundfrage zu verändern und die Einheitsbedingungen für

62 Quante, Person, 100.


63 Ebd.
64
Ebd. 101.
65 Ebd. 102.
66
Ebd. 103.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

menschliche Personen zu ermitteln. Auf diese Weise müssen wir nicht


mehr den Begriff der Person analysieren, um Kriterien der Einheit zu
ermitteln, sondern wir können fragen, worin die synchrone und dia-
chrone Einheit eines menschlichen Organismus besteht. Wir werden
in diesem Kapitel von menschlicher Persistenz sprechen, um auch ter-
minologisch anzudeuten, dass wir nun menschliche Personen als
raum-zeitlich ausgedehnte Organismen verstehen und die spezifische
Differenz des Personseins, die uns von anderen Organismen unter-
scheidet, ausblenden. 67
Methodisch konsequent wird damit von Quante der Begriff der Per-
son als konstitutives Sortale vermieden, wobei allerdings die Frage
aufkommt, durch welche differentia specifica menschliche Organis-
men sich von anderen Organismen unterscheiden, so dass dennoch
die Rede von menschlichen Personen berechtigt ist. Hält man daran
fest, dass dies mit der Antwort auf die erste Grundfrage beantwortet
wurde, stellt sich die weitere Frage, ob »der biologische Ansatz mit
unserer Antwort auf die erste Grundfrage inkompatibel« 68 ist, da er
eine Festlegung vornimmt, nach der »nur Menschen Personen sein
können« 69, was der oben gegebenen Antwort widerspräche. Dass dies
nicht der Fall ist, begründet Quante damit, dass die Modifizierung der
zweiten Grundfrage keine prinzipielle Verengung auf den Menschen
impliziert:
Der biologische Ansatz behauptet:
P1 Für alle x, die zugleich Personen und Organismen sind, gilt:
Nicht der Begriff der Person, sondern der auf das jeweilige x zu-
treffende biologische Speziesbegriff liefert die Bedingungen der
Persistenz.
P2 Menschliche Personen sind Organismen der Spezies Mensch.
also
C Die Bedingungen der Persistenz einer menschlichen Person wer-
den durch den Begriff des Menschen bestimmt. 70
Somit behauptet der biologische Ansatz nach Quante weder, dass nur
Menschen – oder nur Organismen – Personen sein können, noch,
dass alle Menschen Personen sind. Nach diesen ersten allgemeinen

67 Quante, Person, 105–106.


68
Ebd. 108.
69 Ebd. 109.
70
Ebd.

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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform

Klärungen bleibt als entscheidende Frage die nach dem Unterschied


zwischen Menschen und menschlichen Personen.
Unter Voraussetzung seiner Prämissen, »dass menschliche Or-
ganismen in ihren frühesten Lebensstadien keine Personen sind, weil
sie die für Personalität notwendigen Eigenschaften und Fähigkeiten
noch nicht aufweisen«, und dass Gleiches »für irreversibel komatöse
Menschen, die nicht mehr als aktuale Personen zu zählen sind« 71, gilt,
konstruiert Quante folgenden Fall:
i) a zu t0 und b zu t1 sind ein und derselbe menschliche Organis-
mus.
ii) a zu t0 ist keine Person.
iii) a* zu t1 ist eine Person.
iv) b* zu t1 ist eine Person.
v) a* = b*.
vi) b = b*. 72
Es ist deutlich zu erkennen, dass Behauptung (iv) im Widerspruch zu
den Behauptungen (i) und (ii) steht sowie dass aus den Behauptungen
(v) und (vi) die Widerlegung von Behauptung (ii) folgt: »Schlicht aus-
gedrückt: Wenn es Phasen in der Existenz eines menschlichen Orga-
nismus a gibt, in denen a keine Person ist, und wenn es Phasen in der
Existenz von a gibt, in denen er eine Person ist, dann kann Person a
und Mensch a nicht ein und dasselbe Individuum sein.« 73 Aus dieser
Situation kann nach Quante die Unterscheidung »zwischen der Iden-
titätsrelation und den Wahrheitsbedingungen für Identitätsaus-
sagen« heraushelfen bzw. die Erkenntnis, »dass die Einheits- und Per-
sistenzbedingungen für menschliche Organismen und Personen nicht
die gleichen sind« 74. Quante gibt drei Optionen wieder, wie der be-
schriebene Fall zu lösen wäre. Da diese Ausführungen für den späte-
ren Vergleich mit Spaemanns Position von großer Bedeutung sind,
zitiere ich die wesentlichen Aussagen:
Unter dieser Voraussetzung lassen sich drei Optionen denken. Die
erste Option besteht darin zu sagen, dass (α) sowohl der Begriff des
Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen der Einheit
bereitstellen, (β) menschliche Organismen aber nicht identisch sind
mit Personen (also (vi) falsch ist). […] Die zweite Option wird von

71 Quante, Person, 112.


72
Ebd. 112.
73 Ebd.
74
Ebd. 113.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

denjenigen ergriffen, die eine biologische Antwort auf die Frage nach
der Einheit der Person vorschlagen. Sie bestreiten (β) und behaupten
(non- β), dass Personen mit menschlichen Organismen identisch sind
(also (vi) wahr ist). Dabei akzeptieren sie (α), behaupten aber zusätz-
lich (γ), dass die Bedingungen der Einheit für Personen mit denen der
Einheit für menschliche Organismen zusammenfallen – dies ist die
biologische Variante der komplexen Theorie personaler Einheit. Der
hier vorgeschlagene biologische Ansatz stellt demgegenüber eine
dritte Option dar, weil die von den ersten beiden Optionen geteilte
Prämisse (α) explizit bestritten wird. Stattdessen wird behauptet (δ),
dass der Begriff des Menschen, nicht aber der Begriff der Person Be-
dingungen für die Persistenz bereitstellt. Damit macht die Alternative
(β) oder (non- β) keinen Sinn mehr, da sie unterstellt, dass sowohl
»Mensch« als auch »Person« Bedingungen der Einheit bereitstellen.
In der Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation
der Eigenschaft »Personalität« von einem menschlichen Individuum,
sodass unser b* aufgelöst wird in die Behauptung, dass b zum fragli-
chen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdualisten postulierte
zusätzliche Entität b* fällt damit weg). 75
An dieser Stelle sei zunächst Quantes Schlussfolgerung aus der Re-
flexion des konstruierten Falles festgehalten, dass im ontologischen
Sinn »für menschliche Personen das ›Menschsein‹ wesentlich [ist],
das Personsein dagegen nicht«. Quante betont, dass in dieser Aussage
›wesentlich‹ nicht evaluativ zu verstehen ist, da »wir im evaluativen
Sinne andere Eigenschaften für wertvoll erachten als die im onto-
logischen Sinne wesentlichen« 76. Auf den Fall und die dargestellten
Optionen wird im nächsten Abschnitt zurückzukommen sein. Ab-
schließend soll nun Quantes Erörterung der dritten Grundfrage
nachvollzogen werden.
Mit diesem Übergang vollzieht sich eine spürbare Abwendung
vom Ideal begrifflicher Exaktheit, das bis hierhin die Studie auszeich-
nete, und zugleich ein Perspektivenwechsel. Quante bemerkt hierzu:
»Das philosophische Bestreben nach Systematizität und Klarheit
muss dem Phänomenbereich angemessen bleiben, wobei für unseren
Kontext vor allem die Orientierung an der Teilnehmerperspektive
entscheidend ist.« 77 Da es in der systematischen Diskussion der Ein-
heitsbedingungen von Personen bis hierhin stets nur um die erstper-

75
Quante, Person, 113.
76 Ebd. 114.
77
Ebd. 175.

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11.3.2 Der Übergang zum biologischen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform

sönliche Perspektive und die Beobachterperspektive ging, die als Ge-


gensätze gekennzeichnet wurden, soll an dieser Stelle zunächst be-
trachtet werden, was Quante unter dieser Teilnehmerperspektive ver-
steht. Hier seine Erläuterung:
Eine Person zu sein, setzt voraus, sich selbst und anderen Personen
gegenüber die teilnehmende Perspektive einzunehmen, Rationalität
zu unterstellen sowie nach evaluativen und anderen Sinnzusammen-
hängen Ausschau zu halten. Diese Einstellung haben wir von der Be-
obachterperspektive unterschieden, die allein auf kausale und funktio-
nale Erklärungen ausgerichtet ist. In der Analyse des erstpersönlich-
einfachen Ansatzes sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass sich aus
dem Selbstbewusstsein heraus keine befriedigende Antwort auf das
Problem der »diachronen Identität« der Person entwickeln lässt. Au-
ßerdem haben unsere Überlegungen ergeben, dass sich ein großer Teil
der Intuitionen, die von der erstpersönlich-einfachen Antwort einge-
fangen werden, bewahren lässt, wenn man die Antwort auf das Ein-
heitsproblem an die Beobachterperspektive koppelt und Einheit als
eine kausale und nomologische Relation versteht. Der andere Teil der
Intuitionen hinsichtlich unserer personalen »Identität«, welcher eben-
falls in den erstpersönlich-einfache Ansatz einfließt, lässt sich, so un-
sere Vermutung, integrieren in eine an der Teilnehmerperspektive
ausgerichtete Konzeption der Persönlichkeit als evaluatives und akti-
visches Selbstverhältnis Die Frage nach diesem Selbstverhältnis ist
daher keine nach kausalen oder funktionalen Bedingungen, zugleich
aber auch nicht auf die epistemischen Sonderverhältnisse im indivi-
duellen Selbstbewusstsein hin ausgelegt. Alternativ dazu werden wir
versuchen, die Struktur der Persönlichkeit als ein hermeneutisches
Zusammenspiel von Ich und Wir zu begreifen. 78
Angesichts dieser Darstellung drängen sich zwei Beobachtungen auf.
Zum einen wird im Hinblick auf die eigentliche Begriffsbestimmung
weit mehr über die beiden anderen komplementären Perspektiven
gesagt, von denen die Teilnehmerperspektive abgehoben werden soll,
als über diese selbst. Unklar ist – was auch an anderen diesbezügli-
chen Stellen der Studie nicht deutlicher wird –, wie das hermeneuti-
sche Zusammenspiel von Ich und Wir, das die Teilnehmerbeziehung
bezeichnen soll, zu verstehen ist, ob etwa im Sinne der Grundworte
Ich-Du bzw. Ich-Es Martin Bubers 79 grundverschiedene Beziehungen
zur Welt gemeint sind. Zum anderen wird durch die Aussage im ers-

78 Quante, Person, 138.


79
Vgl. Buber, Werke I, 79.

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

ten Satz, wonach Personalität die hier als Teilnehmerperspektive be-


nannte spezifische Einstellung schon voraussetzt, die Frage aufgewor-
fen, inwiefern die bis hierhin vorherrschende methodische Ausrich-
tung der Untersuchung an der erstpersönlichen Perspektive bzw. der
Beobachterperspektive ihrem Gegenstand überhaupt angemessen
war. Wenn diese neue Perspektive eine so grundlegende Bedeutung
für den erfolgreichen Fortgang der Untersuchung, ja überhaupt für
den angemessenen Zugang zum Phänomen der Person hat, bedürfte
es an dieser Stelle einer prinzipiellen Klärung der veränderten Unter-
suchungsmethodik, die jedoch in der Studie ausbleibt. Da sich hierin
nach meinem Dafürhalten ein allgemeines Defizit der letzten Kapitel
von Quantes Studie ankündigt und ihre Erträge in der Erörterung der
dritten Grundfrage daher weit weniger von Belang sind als seine hier
kursorisch referierten Ausführungen zu den ersten beiden Grundfra-
gen, beschränke ich mich abschließend auf eine sehr knappe Synopse
seines Antwortversuchs. Schlüsselbegriffe für Quante sind »Persön-
lichkeit« als individuelle Ausprägung der Personalität einer mensch-
lichen Person und »Anerkennung« 80 als der soziale Aspekt ihrer Kon-
stitution. Ein Konkretisierungsversuch der Teilnehmerperspektive
kann in der von der »Identifikation als« abgehobenen »Identifikation
mit« im Sinne einer empathischen Einstellung gesehen werden. 81
Ausgehend von Modellen einer higher-order theory, für die beispiel-
haft die secondary volitions Frankfurts stehen können, 82 kommt
Quante im Kontext der »biografischen Kohärenz« auf die spezifische
Struktur personaler Autonomie zu sprechen, für die als Erweiterung
der genannten Modelle die diachrone Verfasstheit der Persönlichkeit,
insbesondere ihre Einstellungen zur Zukunft, einbezogen werden
müssen. 83 Abschließend betrachtet Quante, »wie sich menschliche
Persistenz und Persönlichkeit zueinander verhalten«, 84 indem er
Varianten ihrer »Verschränkung« nach Beobachter- und Teilnehmer-
perspektive differenziert 85, und verweist auf ein offenes Ende seiner
Untersuchung, in dem sich als Desiderate die philosophischen Pro-

80 Vgl. Quante, Person, 138–139.


81 Vgl. ebd. 142–148.
82 Vgl. ebd. 148–155.
83
Vgl. ebd. 158–177.
84 Ebd. 177.
85
Vgl. ebd. 179–188.

852

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11.3.3 Vergleichende Analyse

jekte einer »Klärung unseres Verständnisses von personaler Auto-


nomie und von Verantwortung« 86 zu erkennen geben.

11.3.3 Vergleichende Analyse der Personenphilosophien Quantes


und Spaemanns

Obwohl Quante durch seinen gewählten Forschungsansatz scheinbar


auf einer völlig anderen Ebene argumentiert als Spaemann, zeigt sich
im konkreten Vergleich beider Positionen ein zunächst unübersicht-
liches Nebeneinander von deutlichen Gegensätzen und überraschen-
den Parallelen. Eingangs wurde darauf hingewiesen, dass Quantes
Grundthese, wonach Personsein ein deskriptives Sortale ist, von
Spaemann abgelehnt wird. 87 Eng damit verbunden ist der Gegensatz
zwischen Spaemanns Option für die Aussage, dass alle Menschen Per-
sonen sind, und Quantes Vorstellung von der Aufnahme in die Per-
sonengemeinschaft durch Kooptation. 88 Andererseits aber führt
Quantes Übergang zum biologischen Ansatz nach dem skeptischen
Fazit seiner vorhergehenden Untersuchungen und seine Abwendung
von der theoretischen Alternative von erstpersönlicher Perspektive
und Beobachterperspektive bemerkenswert nahe an Spaemanns Be-
griff der Person als ›Haben einer Natur‹ heran, ohne dass sich dadurch
allerdings die zunächst genannten Differenzen überwinden ließen. Es
soll daher im Folgenden anhand von Quantes Argumentationsgang
im Rahmen der Beantwortung seiner zweiten Grundfrage knapp re-
kapituliert werden, welche Abschnitte seines Weges aus Spaemanns
Perspektive mitgegangen werden können und an welchen konkreten
Entscheidungen Quantes die Differenz beider Konzeptionen sich ma-
nifestiert.
Zunächst liegt es auf der Hand, dass Spaemann Quantes Zurück-
weisung der Erstpersönlichkeitsthese mittragen muss. Die Person, so
schreibt Spaemann,
ist definiert durch einen »Ort« im Ganzen des Universums, den nur
sie einnimmt. Dieser Ort wiederum ist bestimmt durch seine Stellung
zu allen anderen Orten, die Person also durch ihre Beziehung zu allem

86 Quante, Person, 195.


87
Vgl. die Einleitung zu Teilkapitel 11.3, Michael Quante: »Person«, 837.
88 Vgl. Quante, Person, 31, u. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die

Frage personaler Identität, 839–840.

853

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

anderen, das niemals sie selbst sein kann. Und dies ist nicht nur von
außen betrachtet so, sondern die Person selbst weiß von der Einmalig-
keit des Ortes, von der Unverwechselbarkeit der Beziehung zu allem
andern und damit von ihrer eigenen wesentlichen Einmaligkeit. Da es
sich also um eine Einmaligkeit der Beziehung handelt, ist sie gar nicht
ohne den Außenaspekt der Person zu denken. Dieser Außenaspekt ist
primär durch den Körper vermittelt. 89
Quantes These, dass aus der Verneinung der E-These auch die Ver-
neinung der U-These folgt, 90 dass also personale Einheit abhängig ist
»von der Identität einer selbstbewusstseinstranszendenten Sub-
stanz« 91, würde Spaemann schon deswegen mittragen, weil es nach
ihm Personen nur im Plural gibt. Die nur im Plural existierenden
Personen bezeichnen für ihn die Substanz, die einer menschlichen
Natur subsistiert: »Die Natur, deren Subsistenz die Person ist, ist die
Natur eines organischen Lebewesens. Personen sind Lebewesen.« 92
Dass der Gang der Überlegung bei Quante gerade zu der umgekehr-
ten Konstellation führt, insofern in seinem biologischen Ansatz einer
deskriptiv bestimmbaren Personalität ein menschlicher Organismus
zugrunde liegt, soll an dieser Stelle zunächst unbeachtet bleiben. Ent-
scheidend für den Vergleich der beiden Konzeptionen ist damit die
Frage nach der Gültigkeit der Komplexitätsthese. Nach Quante impli-
ziert deren Bejahung nach der Zurückweisung der Erstpersönlich-
keitsthese die Einnahme der »Beobachterperspektive« und damit die
methodische Entscheidung für die »kausal-funktionale Analyse« 93.
Hier wiederum liegt es auf der Hand, dass Spaemann die Komplexi-
tätsthese in diesem Sinn ablehnen muss. In »Personen« schreibt er:
»Der Andere muß mir in der sinnlichen Erfahrung und als Lebewesen
›Mensch‹ gegeben sein, in der spezifischen Weise, wie uns Lebendiges
gegeben ist. Sein Personsein aber ist wesentlich das nie Gegebene,
sondern in freier Anerkennung Wahrgenommene.« 94 Zwar spricht
auch Quante im Zusammenhang mit der Wahrnehmung von Per-
sonen von Anerkennung; hier handelt es sich aber um eine offen-
sichtliche Äquivokation, insofern bei ihm ein Akt der Kooptation ge-

89 Spaemann, Personen (1996), 46.


90 Vgl. Quante, Person, 59, u. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die
Frage personaler Identität, 843.
91 Quante, Person, 59.

92
Spaemann, Personen (1996), 144.
93 Quante, Person, 98.

94
Spaemann, Personen (1996), 194.

854

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11.3.3 Vergleichende Analyse

meint ist, 95 bei Spaemann hingegen ein Akt der Selbsttranszendenz. 96


Im Rahmen der von Quante aufgestellten kombinatorischen Über-
sicht über die möglichen Einstellungen zu den drei Kernthesen müss-
te Spaemanns Konzeption demnach zu dem Theorietypus gehören, in
dem alle drei Thesen abgelehnt werden. 97 Diesen Theorietypus hält
Quante, wie bereits erwähnt, für ungeeignet, da er »unserer ethi-
schen Praxis […] keine intersubjektiv zugängliche Begründungsbasis
zur Verfügung stellen« und »nicht an naturwissenschaftliche oder
andere empirische Befunde anschließen« 98 könne. Dieses Verdikt,
das im Sinne der Typologie Quantes auch auf Spaemanns Konzeption
bezogen werden müsste, wird in der weiteren Entwicklung seiner
Untersuchung selbst dadurch in Frage gestellt, dass er den Versuch,
eine komplexe Theorie zu entwickeln, erfolglos abbricht und nach
dem Übergang zum biologischen Ansatz ausgehend von der Teil-
nehmerperspektive einen theoretischen Neuanfang versucht, in dem
die Festlegung auf die Beobachterperspektive, die überhaupt erst zu
dem Verdikt geführt hat, zumindest relativiert wird. Im Rahmen des
Vergleichs der Konzeptionen Quantes und Spaemanns stellen sich im
Hinblick auf diesen Versuch eines Neuanfangs die beiden Fragen, in

95 Vgl.: »Da wir die Bedingungen der Personalität nicht nur als epistemische Werk-
zeuge zur Entdeckung und Identifizierung von Personen, sondern als konstitutive
Relationen aufgefasst haben, sind wir auf die These festgelegt, dass sowohl die Per-
sonalität als auch die Persönlichkeit eines menschlichen Individuums sozial konstitu-
iert sind. Eine Person zu sein und eine Persönlichkeit zu entwickeln, bedeutet dem-
nach, in evaluativen Relationen der Anerkennung zu stehen, die immer sozial
vermittelt sind. Dabei muss ein X über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten ver-
fügen, damit es Sinn macht, X als eine Person zu verstehen und anzuerkennen. Ohne
diese Anerkennung selbst, d. h. ohne diese Einbettung in die personale Lebensform,
kommt X die Eigenschaft, eine Person zu sein, aber nicht zu.« – Quante, Person, 139.
96 Vgl.: »Personsein ist deshalb nicht etwas, das vermutet und bei starker Vermutung

dann sozusagen juristisch anerkannt wird. Es ist vielmehr überhaupt nur im Akt der
Anerkennung gegeben. […] Achtung, Anerkennung sind Weisen von Aktivität. Es
scheint, ihnen müsse eine Rezeptivität vorausgehen, in der Personen als Personen
wahrgenommen werden. Besonders wenn es sich um die Wahrnehmung von Selbst-
sein handelt, scheint der Wahrnehmende sich rein rezeptiv verhalten zu müssen.
Aber gerade das ist nicht der Fall, und aus einsehbarem Grunde nicht. Denn Selbstsein
ist ja per definitionem das, was nicht als Phänomen gegeben ist.« – Spaemann, Per-
sonen (1996), 193.
97 Vgl. Quante, Person, 61. – Spaemanns Konzeption müsste hier also zum Typ 3

gehören.
98 Quante, Person, 82, vgl. Abschnitt 11.3.1, Eigenschaften von Personen und die

Frage personaler Identität, 845.

855

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

welchem Verhältnis zum einen die Verlagerung der Aufmerksamkeit


Quantes auf die »Persistenz der menschlichen Person« zu Spaemanns
Konzept des ›Habens einer Natur‹ und in welchem zum anderen
Quantes Begriff der Teilnehmerperspektive zu Spaemanns Konzept
der Anerkennung steht.
Um diese Fragen zu beantworten, soll die Aufmerksamkeit auf
den oben beschriebenen Fall und seine Erörterung durch Quante zu-
rückgelenkt werden. 99 Im Kern geht es bei diesem Fall um die Frage,
ob alle Menschen Personen sind, und, unabhängig von der Antwort
auf sie, um das Verhältnis der Begriffe ›Mensch‹ und ›Person‹. In
Frage steht zunächst, ob Spaemanns Position der von Quante be-
schriebenen zweiten Option zuzuordnen ist. Diese Frage lässt sich
dahingehend konkretisieren, ob in Spaemanns Position »sowohl der
Begriff des Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen
der Einheit bereitstellen« 100, was Quante in seiner dritten Option in
Bezug auf den Begriff der Person in Abrede stellt. Spaemanns Grund-
gedanken des apriorischen Beziehungsraums der Personen, mit dem
zusammen der Mensch sich erst selbst als Person erkennt, 101 sowie
der Entdeckung der Person, in der dieser Beziehungsraum sich öffnet,
die weiterführen zur Idee eines Aufbewahrtseins im futurum
exactum, 102 lassen nur eine positive Antwort auf die Frage nach Be-
dingungen der Einheit, die im Personbegriff impliziert sind, zu. Ver-
tretern dieser Option wirft Quante zum einen vor, dass sie »nicht klar
sagen, ob es auch nicht-menschliche Personen geben kann, für die
dann andere Bedingungen der Persistenz gelten als für menschliche
Personen« 103. Spaemann dagegen sagt dies sehr deutlich am Ende von
»Personen«:
Personenrechte sind Menschenrechte. Und wenn sich andere natür-
liche Arten im Universum finden sollten, die lebendig sind, eine emp-
findende Innerlichkeit besitzen und deren erwachsene Exemplare häu-
fig über Rationalität und Selbstbewußtsein verfügen, dann müßten
wir nicht nur diese, sondern alle Exemplare dieser Art ebenfalls als

99 Vgl. Quante, Person, 112–114, u. Abschnitt 11.3.2, Der Übergang zum biologi-
schen Ansatz: Persönlichkeit als Lebensform, 849.
100 Quante, Person, 113.

101 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 196.

102
Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und
Glaube, 704–727.
103
Quante, Person, 113–114.

856

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11.3.3 Vergleichende Analyse

Personen anerkennen, also zum Beispiel möglicherweise alle Del-


phine. 104
Außerdem werde in dieser Option, so der zweite Einwand Quantes,
vorausgesetzt, »dass man mit der Angabe der Bedingungen der Per-
sistenz für menschliche Organismen alles gesagt hat, was man zur
›Identität‹ menschlicher Personen sagen muss« 105. Dieser Einwand
muss wohl so zu verstehen sein, dass dies aus der Aussage »(γ), dass
die Bedingungen der Einheit für Personen mit denen der Einheit für
menschliche Organismen zusammenfallen« 106, folgt, obwohl laut
Quante für diese Option auch gilt, »dass (α) sowohl der Begriff des
Menschen als auch der Begriff der Person Bedingungen der Einheit
bereitstellen« 107. Mit Bezug auf Spaemanns Konzeption ist zu urtei-
len, dass zwar, wie gesehen, (α) zutrifft, (γ) aber sicher abzulehnen
ist, auch wenn – nota bene – alle Menschen Personen sind. Im zwei-
ten Teil dieser Arbeit wurde erläutert, dass ›Person‹ bei Spaemann als
bestimmte Negation eines Momentes der begrifflichen Unbestimmt-
heit des Menschen, also als doppelte Negation zu verstehen ist, durch
die die Einheit des menschlichen Organismus transzendiert wird. 108
Im Gegensatz zu der aus dem Übergang zum biologischen Ansatz
resultierenden systematischen Beschränkung Quantes auf die Persis-
tenz des menschlichen Organismus, die auch die zentrale Idee seiner
als Alternative vorgeschlagenen dritten Option ist, geht es Spaemann
in seinem Personbegriff im Sinne des ›Habens einer Natur‹ wesent-
lich um eine Distanz zu dieser. Spaemanns Position wird daher weder
durch die zweite noch auch durch eine der anderen von Quante vor-
geschlagenen Optionen beschrieben. 109 Die entscheidende Differenz,
durch die Spaemanns Konzeption aus dem Spektrum der Optionen
Quantes ausbricht, ist der Gedanke der Anerkennung der Person als
eines Jenseits des Begriffs gegenüber Quantes Vorstellung der »Prä-
dikation der Eigenschaft ›Personalität‹« 110 in der Teilnehmerperspek-
tive, die seinem Kooptationskonzept zugrunde liegt.

104 Spaemann, Personen (1996), 264.


105 Quante, Person, 114.
106 Ebd. 113.

107 Ebd.

108 Vgl. Teilkapitel 8.1, Zur Propädeutik des philosophischen Ansatzes, 515–524.

109
In Quantes Terminologie müsste man Spaemanns Position durch Akzeptanz von
(α) und Behauptung von (non-β) und (non-γ) bezeichnen.
110
Quante, Person, 113.

857

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11 Die Philosophie der Person im philosophischen Diskurs der Gegenwart

11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes

Eine Kritik an den hier knapp skizzierten Positionen Quantes im Rah-


men der Philosophie der Person muss sich erstens auf seinen Aus-
gangspunkt der deskriptiv-sortalen Verwendung des Begriffs »Per-
son« beziehen. 111 Durch ihn wird entsprechend seiner ersten
Grundfrage vorausgesetzt, dass es Eigenschaften und Fähigkeiten
gibt, durch die eine Entität zur Klasse oder Art der Personen ge-
hört. 112 Nachdem die von dieser Prämisse ausgehende Untersuchung
zu keinem Erfolg geführt hat, modifiziert Quante zwar die zweite
Grundfrage im Sinne der Beschränkung auf die Persistenzbedingun-
gen des menschlichen Organismus, versäumt es aber, die erste
Grundfrage zu revidieren, was offenbar notwendig wäre, wenn er in
der Diskussion des beschriebenen Falles für seine dritte Option vo-
tiert, in der »der Begriff des Menschen, nicht aber der Begriff der
Person Bedingungen für die Persistenz bereitstellt« 113. Auch wenn
man ihm versuchsweise den Ausgangspunkt und die genannte Prä-
misse zugesteht, so führt seine eigene Analyse des Problems zu dem
Befund, dass die deskriptiv-sortale Verwendung des Begriffs »Per-
son« problematisch ist.
Eng damit verbunden ist seine Entscheidung, nach dem Schei-
tern des ersten Argumentationsgangs im Übergang zum biologischen
Ansatz »die spezifische Differenz des Personseins, die uns von ande-
ren Organismen unterscheidet, ausblenden« 114 zu wollen. Prinzipiell
ist in Frage zu stellen, ob auf dieser Grundlage eine Philosophie der
Person möglich sein kann. Das Konstrukt, das Quante vorschlägt,
versucht ohne den Begriff der Person als konstitutives Sortale aus-
zukommen, indem ausgehend von den Bedingungen der Persistenz
des menschlichen Organismus diesem bei Vorliegen bestimmter Ei-
genschaften – die weiter mit der Beantwortung der ersten Grundfrage
festgelegt sein sollen – Personalität zugesprochen wird. 115 In diesem

111 Vgl. Quante, Person, 18–23.


112 Vgl. ebd. 8.
113 Ebd. 113.

114 Ebd. 106.

115 Vgl. Quantes Beschreibung der von ihm vorgeschlagenen dritten Option: »In der

Konsequenz muss (vi) uminterpretiert werden als Prädikation der Eigenschaft ›Per-
sonalität‹ von einem menschlichen Individuum, sodass unser b* aufgelöst wird in die
Behauptung, dass b zum fraglichen Zeitpunkt eine Person ist (die von Substanzdua-
listen postulierte zusätzliche Entität b* fällt damit weg).« – Ebd. 113.

858

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11.3.4 Zur Kritik der Perspektive Quantes

Konstrukt kehrt der problematisch gewordene und als Sortale abge-


schaffte Begriff »Person« schließlich als prädizierte Eigenschaft »Per-
sonalität« wieder zurück. Selbst wenn man Quante zugestehen woll-
te, dass er auf diese Weise dem Problem des Substanzdualismus
entgangen wäre, muss die Frage gestellt werden, ob seine Konzeption
angesichts des implizierten faktischen Verlusts eines substantiellen
Personbegriffs – das Personsein, so Quante, ist für menschliche Per-
sonen nicht wesentlich 116 – der »Relevanz des Begriffs der Person für
unsere ethische Praxis« 117 und seiner Bedeutung als »Knoten-
punkt […], in dem sich […] klassische[…] Fragen der Philosophie
[…] berühren und durchdringen« 118, gerecht werden kann.
Schließlich ist noch anzuknüpfen an die bereits in der Darstel-
lung von Quantes Gedankengang angeklungene Kritik an seiner Be-
antwortung der dritten Grundfrage, die im Hinblick auf eine inhalt-
liche Ausdeutung des Personbegriffs sicherlich die wichtigste ist.
Abgesehen davon, dass sein Antwortversuch, wie gesehen, wenig
Konkretes zu bieten hat, bringen sich darin nach meinem Dafürhal-
ten der problematische Ausgangspunkt und die nicht weniger proble-
matische Korrektur desselben in der gewählten Form des biologischen
Ansatzes in Erinnerung. Durch das Konstrukt der Verschränkung
von Teilnehmer- und Beobachterperspektive wird eine nachträgliche
Reparatur dieser Voraussetzungen versucht, die aber angesichts er-
heblicher Unklarheiten in Bezug auf die hier zentral werdende Teil-
nehmerperspektive zu keiner überzeugenden Revision der von Quan-
te selbst als problematisch eingestuften Vorüberlegungen führt. Wie
in der vergleichenden Analyse versucht wurde zu zeigen, gibt es in
Quantes Argumentationsgängen zahlreiche Anknüpfungspunkte an
Positionen Spaemanns, so dass die Einbeziehung seiner Personenphi-
losophie auch im Rahmen dieser Studie durchaus instruktiv gewesen
wäre. Um so mehr muss es doch verwundern, dass in Quantes Studie
nicht einmal eine kritische oder auch nur distanzierende Bezugnahme
auf Spaemanns Denken zu finden ist.

116 Vgl.: »In diesem Sinne ist deshalb für menschliche Personen das ›Menschsein‹

wesentlich, das Personsein dagegen nicht.« – Quante, Person, 114.


117 Ebd. 82.

118
Ebd. 5.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des
Begriffs der Begegnung

Die Auseinandersetzung mit alternativen Perspektiven auf das Ge-


samtwerk Robert Spaemanns im zehnten Kapitel hat gezeigt, dass
bisher theologisch orientierte Deutungen des schwer fassbaren Zu-
sammenhangs seiner Gedanken dominieren. Während diese Orien-
tierung bei Kuciński der erklärten Programmatik seines Ansatzes
entsprach, stand sie in der Monographie Zaborowskis in einer nicht
aufgelösten Spannung zu seiner Absicht, genuin philosophische und
religiös inspirierte Schichten des Denkens trennen zu wollen. Aber
selbst in der entschieden philosophisch orientierten Untersuchung
Schönbergers endete die Rekonstruktion der Gedanken Spaemanns
abrupt im Konzept der »Versöhnung von Personalität und Natur im
Schöpfungsbegriff« 1. Das Werk Spaemanns ist also noch nicht kon-
sequent als genuin philosophisches Werk interpretiert worden. Die-
ses bisher vorherrschende Rezeptionsmuster dürfte auch erklären,
warum der Ansatz Spaemanns unter den im elften Kapitel untersuch-
ten Arbeiten zur Philosophie der Person lediglich in der ihrerseits
theologisch orientierten Studie Kobuschs Beachtung fand. Es ent-
behrt nicht einer ironischen Pointe, wenn hier aufgrund der aus dem
Werk Spaemanns entwickelten Bedingung eines sinnvollen Diskur-
ses, in den eine Philosophie der Begegnung eintreten kann, gerade
Kobuschs Ansatz ausgeschlossen werden musste. Die in dieser Arbeit
als geistiges Zentrum der Spaemann’schen Philosophie hervorge-
hobene Verbindung von Naturteleologie und Personalität führte ja
in den einführenden Überlegungen zum vorliegenden dritten Teil zu
der Feststellung, dass die Philosophie der Begegnung an den philo-
sophischen Diskurs, für den sie offen ist, die Bedingung stellen muss,
dass jede Position sich in ihm als eine Perspektive versteht. Da der
Begriff der Perspektive aber untrennbar ist von der Fundierung der
Vernunft in der Natur, des Denkens in der ihm voraufgehenden Leib-

1
Vgl. Schönberger, Das Sein des Sinnes, 56.

861

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

lichkeit, enthält diese Bedingung die Forderung nach der Reflexion


der conditio humana, des antagonistischen Verhältnisses von Ver-
nunft und Leben im Menschen, das Kobusch ausblendet. Auch Stur-
ma und Quante abstrahieren zunächst, wie gesehen wurde, von dieser
Perspektive, indem sie von der Selbstgewissheit des Subjekts (Stur-
ma) bzw. den Bedingungen für Personalität schlechthin (Quante) aus-
gehen. Wie jedoch gezeigt wurde, wird von beiden in der Entfaltung
ihres Personendenkens die conditio humana wieder einbezogen, in-
dem das ›ich denke‹ im ›ich existiere‹ und damit im Präreflexiven,
Natürlichen fundiert wird (Sturma) bzw. indem nach dem Scheitern
der Suche nach Einheitsbedingungen für Personen als solche im bio-
logischen Ansatz vom menschlichen Organismus ausgegangen wird
(Quante). Beide schwenken somit im Lauf ihrer Untersuchung auf
die hier aufgestellte Diskursbedingung ein. Die Untersuchung von
Sturmas »Philosophie der Person« führte dabei zu der Frage, warum
die als animal rationale verstandene Person weiterhin in einem radi-
kalen Gegensatz zu anderen Lebewesen gesehen wird, zumal die
Schwierigkeiten in Sturmas Konzeption, vom Selbst zum Anderen
zu gelangen, offensichtlich mit dieser Entscheidung verbunden sind.
Die Untersuchung von Quantes »Personen« führte zu dem Problem,
dass sein Ausgang vom Begriff der Person als deskriptives Sortale
nach dem Übergang zum biologischen Ansatz zur Vorstellung einer
menschlichen Kooptationsgemeinschaft führt, die in den Persistenz-
bedingungen menschlicher Organismen fundiert ist. In dieser Kon-
stellation ist Spaemanns Grundgedanke des ›Habens einer Natur‹
invertiert, insofern Quantes Person aus dieser Perspektive als die
›gehabte Natur‹ verstanden werden muss und der Leib an die Stelle
rückt, die bei Spaemann von der Person besetzt wird. Quantes
Schwierigkeiten bei der Bestimmung des evaluativ-normativen
Selbstverständnisses der Person scheinen mir aus dieser Inversion
hervorzugehen. Als Fazit der Untersuchungen des elften Kapitels
kann festgehalten werden, dass Spaemanns als Philosophie der Be-
gegnung gedeutete Personenontologie im philosophischen Diskurs
der Gegenwart der Sache nach tief verankert ist und sich als an-
schlussfähig auch an Diskurse erweist, in denen seine Position aus
welchen Gründen auch immer bisher ignoriert worden ist.
Was Spaemanns Ansatz nach meinem Dafürhalten gegenüber
den drei hier untersuchten Konzeptionen einer Philosophie der Per-
son auszeichnet, ist das in seinem Begriff von Person bereits impli-
zierte Moment des Interpersonalen: »Personen gibt es nur im Plu-

862

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

ral.« 2 Während bei Kobusch gar nicht zu erkennen ist, wie er vom
Subjekt zum Anderen gelangen sollte, Sturmas Bewegung vom
Selbst zum Anderen sich nur durch eine im Sinne des kategorischen
Imperativs verstandene »Impersonalität« realisiert, gerät Quante bei
der als Korrektiv zur unhaltbaren Dialektik von erstpersönlicher Per-
spektive und Beobachterperspektive eingeführten Teilnehmerper-
spektive in Erklärungsschwierigkeiten. Bei Spaemann hingegen fal-
len die Fundierung der menschlichen Vernunft in der conditio
humana und die Wahrnehmung des Anderen in eins. Vernunft ist
natürliche Selbsttranszendenz. Die Wahrnehmung des Anderen ist
der Ur-Akt der personalen Vernunft, die sich in der reflexiven Wen-
dung ihrer selbst bewusst wird. Der Begriff, der am meisten geeignet
ist, den inneren Zusammenhang von Naturteleologie und personaler
Wahrnehmung auszudrücken, ist ›Begegnung‹. Die Bedeutung dieses
Begriffs wurde im zweiten Teil dieser Arbeit allmählich konkretisiert,
wobei aber weder eine systematische Erfassung dieses Begriffes im
Allgemeinen geleistet noch seine Bedeutung als Organisationsprinzip
des Spaemann’schen Denkens konsequent durchdacht werden konn-
te. Aus diesen beiden Desideraten ergeben sich wesentliche Aufgaben
dieses Abschlusskapitels, auf dessen Teilkapitel nun ein Ausblick ge-
geben werden soll.
In Teilkapitel 12.1 soll es um die Funktion des Sachverhalts der
Begegnung im Werk Spaemanns gehen. Wenn dieser Begriff erst all-
mählich in der Entwicklung seiner Gedanken beginnt eine Rolle zu
spielen, hier aber die These vertreten wird, dass er als Bezeichnung
des Organisationsprinzips dieses Denkens gewertet werden kann,
folgt aus dieser These auch, dass bei Spaemann zunächst nur implizit
gebliebene Zusammenhänge später retrospektiv durch ihn miterfasst
werden. Da die diachrone Untersuchung seines Werks im zweiten Teil
dieser Arbeit an einen Zeitpfeil gebunden war, konnten solche im-
plizite Verweisverhältnisse auf spätere Entwicklungsstufen des Ge-
dankens nicht einbezogen werden. Dies soll hier nicht nur der Voll-
ständigkeit halber nachgeholt werden; denn in Bezug auf das für
Spaemann zentrale Thema der Teleologie und sein frühes Hauptwerk
»Natürliche Ziele« kann gezeigt werden, dass in der Forschungslite-
ratur zu ihm hervorgehobene vermeintliche Schwächen sich aus dem
Ziel der Philosophie der Begegnung retrospektiv als notwendigerwei-
se zunächst offen bleibende Fragen erweisen lassen. Indem so zum

2
Spaemann, Personen (1996), 87, 144 u. 248.

863

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

ersten Mal Bezüge in der Richtung gegen den Zeitpfeil angesprochen


werden, ergibt sich hier auch die Möglichkeit, die im neunten Kapitel
thematisierte Verallgemeinerung der Ontologie der Person auf ihre
Bedeutung für den Gesamtzusammenhang dieses Denkens zu be-
fragen.
Im anschließenden Teilkapitel 12.2 soll es um die Bedeutung des
Sachverhalts der Begegnung im Grundsatz gehen. Während der Be-
griff bis dahin nur in den konkreten Spaemann’schen Kontexten be-
trachtet wurde, wird hier versucht, – vor dem Hintergrund der die
Möglichkeit von Begegnung behauptenden Position des metaphysi-
schen Realismus und der diese im Gegenteil bestreitenden des inter-
nen Realismus – auf das ›Urphänomen‹ der Begegnung zurückzuge-
hen. Dieses Urphänomen muss dazu einerseits in seinen elementaren
Bestandteilen und deren Zusammenhängen erfasst werden, wie ande-
rerseits auch die Bedingung des Gedankenexperiments reflektiert
werden muss, durch das überhaupt auf dieses Urphänomen zurück-
gegangen werden kann, um dasjenige, was in ihm zutage gefördert
werden sollte, in ein Verhältnis zum internen und metaphysischen
Realismus stellen zu können. Diese Reflexion der Bedingung des Ge-
dankenexperiments knüpft an die einführenden Überlegungen zum
Begriff der Perspektive an. 3 Die Betrachtung des Urphänomens ist der
Versuch, Begegnung vor der neuzeitlichen Wende im Verständnis der
Perspektive zu denken, sie in der perspectiva naturalis zu erfassen,
um von dieser Urkonstellation aus sowohl zu verstehen, wie die Mög-
lichkeit der Wahrnehmung von Begegnung sich in der perspectiva
artificialis bzw. ihrer subjektphilosophischen Verallgemeinerung ver-
ändern musste, als auch zu zeigen, dass die personale Begegnung im
Sinne der umgekehrten Perspektive als eine Aktualisierung der per-
spectiva naturalis verstanden werden kann. Das auf das Urphänomen
zielende Gedankenexperiment kann so den in der Begegnung sich er-
eignenden Sachverhalt in seiner ontologischen Grundstruktur be-
schreiben.
Im Teilkapitel 12.3 schließlich soll es um Potentiale der Philoso-
phie der Begegnung gehen. Einerseits werden zwei Dimensionen der
im zweiten Teil entfalteten philosophischen Konzeption hervorge-
hoben, von denen aus nach meinem Dafürhalten ihre Weiterentwick-
lung möglich und auch geboten ist. Dabei geht es zum einen um die
von den naturphilosophischen Teilen des Spaemann’schen Denkens

3
Vgl. die Einleitung zum dritten Teil, 747–753.

864

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

ausgehende Frage nach dem Dialog von Philosophie und Naturwis-


senschaften, zum anderen um die Überlegung, wonach die Deutung
der Normalität des personalen Lebens, um die es Spaemann in seiner
Ontologie der Person letztlich geht, durch einen Dialog von Philo-
sophie und Literaturwissenschaft vertieft werden könnte. In den
Überlegungen zu den Potentialen der Philosophie der Begegnung
werden andererseits exemplarisch zeitgenössische Denker ausge-
wählt, die eine Nähe zu Spaemanns Denken erkennen lassen, die
bislang nicht bzw. kaum beachtet worden ist, deren nähere Unter-
suchung aber aussichtsreich für eine Weiterentwicklung der Philo-
sophie der Begegnung sein könnte. Es handelt sich dabei zum einen
um Martin Buber als den exponiertesten Vertreter der Dialogphilo-
sophie, um Maurice Merleau-Ponty, der in der französischen Phäno-
menologie besonders die Bedeutung des Leibes hervorgehoben hat,
und um Pavel Florenskij, der ähnlich wie Spaemann eine im Begriff
des Lebens fundierte Philosophie der Person entwickelte.

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12.1 Der Begriff der Begegnung als Organisations-
prinzip der Philosophie Spaemanns

Die für die vorliegende Arbeit leitende These, dass im Begriff der
Begegnung das Organisationsprinzip der Philosophie Spaemanns ge-
funden werden kann, bedeutet, dass durch ihn auch Zusammenhänge
in der Entwicklung seines Denkens bezeichnet werden können, die in
seinem Werk zunächst implizit geblieben sind. Da in der diachronen
Analyse seines Werks im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit der
Begriff der Begegnung erst allmählich an Bedeutung gewann, sei
hier zunächst ein Blick zurück auf die allmähliche Kontextualisie-
rung der ›Begegnung‹ geworfen. Nachdem der Begriff in den ersten
drei Kapiteln des zweiten Teils noch kaum eine Rolle gespielt hatte,
schien seine systematische Bedeutung zum ersten Mal im Zusam-
menhang mit dem Begriff der ›Repräsentation‹ des Absoluten auf,
dessen philosophische Interpretation mit dem Ereignis der mensch-
lichen Begegnung verbunden wurde. 1 Als Organisationsprinzip zeig-
te der Begriff der Begegnung sich zuerst im Rahmen der Unter-
suchung von »Glück und Wohlwollen«, in deren Mittelpunkt das
reziproke interpersonale Begegnungsgeschehen stand, durch das die
lebendige Zentriertheit überwunden wird und sich das Erwachen zur
Wirklichkeit bzw. zur Vernunft ereignet. 2 Noch stärker zeigte sich
diese zentrale Stellung des Begriffs der Begegnung danach in der
Untersuchung von »Personen«, insofern festgestellt wurde, dass Per-
sonen im Ereignis der Begegnung überhaupt erst zu sich selbst kom-
men, 3 und das ›Haben einer Natur‹ in mehreren Schritten am Leit-
faden des Begegnungsbegriffs expliziert wurde. 4 Schließlich wurde
der Begriff der Begegnung in einen Zusammenhang zu Spaemanns

1 Vgl. Abschnitt 6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Re-
präsentation und Anerkennung, 394–397.
2 Vgl. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 467–479, u. Abschnitt 7.2.3, Ordo amoris

und ontologische Verzeihung, 479–489.


3
Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Personalität,
593–597.
4
Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 600–635.

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12.1.1 Retrospektive

Begriff der Nähe gebracht 5 und das Konzept der Seinswahrnehmung


am Begegnungsbegriff expliziert. 6
Da in der Ontologie der Person der Gipfelpunkt der Entfaltung
von Spaemanns Denken gesehen werden kann, in dieser aber ein
enger Zusammenhang zwischen Personalität und Naturteleologie
konstatiert wird, gewann der Rückbezug auf das im fünften Kapitel
behandelte frühe Hauptwerk »Natürliche Ziele« im zweiten Teil zu-
nehmend Bedeutung. Um die Funktion des Begriffs der Begegnung
als Organisationsprinzip von Spaemanns Werk noch deutlicher zu
zeigen, als dies bislang möglich war, soll der Zusammenhang von Per-
sonalität und Naturteleologie im Folgenden ausgehend von der im
Frühwerk entfalteten Teleologiethematik noch einmal durchdacht
werden. Es geht dabei nicht um eine Wiederholung, sondern um eine
auf den Ergebnissen des zweiten Teils aufbauende Neuperspekti-
vierung einiger Überlegungen Spaemanns und Löws zur ›Geschichte
und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹ (12.1.1). Aus den
Ergebnissen dieser Neuperspektivierung ergibt sich anschließend die
Möglichkeit, Ergebnisse aus Kapitel 9 – insbesondere zu den Be-
griffen der Nähe und des Schönen – zur Verallgemeinerung der
Ontologie der Person einzubeziehen, um auch hier retrospektiv im
zweiten Teil implizit gebliebene Zusammenhänge zu erläutern
(12.1.2).

12.1.1 Retrospektive auf die ›Geschichte und


Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹

Im Rahmen der Untersuchung von »Natürliche Ziele« im Teilkapi-


tel 5.2 wurde dargelegt und in der Auseinandersetzung mit Rainer
Isaks »Evolution ohne Ziel?« ausdrücklich betont, dass Spaemann
und Löw in dieser Studie weit davon entfernt sind, eine für die Denk-
bedingungen der Gegenwart aktualisierte Form des teleologischen
Denkens präsentieren zu können oder zu wollen. Isak machte es
Spaemann und Löw zum Vorwurf, dass »es nach der Lektüre ihres

5 Vgl. die Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:
Nähe als Ent-Fernung, 651–667.
6
Vgl. Teilkapitel 9.1, Der phänomenologische Zugang zur ontologischen Differenz
im Wertbegriff, 668–679, u. Teilkapitel 9.2, Die Wahrnehmung des Seins im Schönen,
680–702.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Buches dem Leser weitgehend unklar [bleibe], wo innerhalb der recht


heterogenen Teleologieentwürfe der Philosophiegeschichte […] sich
die beiden Autoren selbst einordnen würden« 7. Diesem Vorwurf
liegt, wie gezeigt wurde, 8 ein prinzipielles Missverständnis der Inten-
tionen Spaemanns und Löws zugrunde. Diesen geht es in erster Linie
um das teleologische Phänomen des Ausseins-auf, von dessen irredu-
zibler Relevanz sie überzeugt sind, und erst in zweiter Linie um die
kontingenten historischen Versuche, ein diesem Phänomen gerecht
werdendes und in sich konsistentes philosophisches Denken zu kon-
zipieren. In ihrer kritischen philosophiehistorischen Untersuchung
betrachten sie die kontingenten Realisierungen des teleologischen
Denkens einerseits auf ihre Entsprechung mit dem in Frage stehen-
den Phänomenbestand hin, andererseits auf Bedingungen oder Impli-
kationen des jeweiligen Denkens, die aus unserer Perspektive proble-
matisch erscheinen. Daher ist Isak insofern zuzustimmen, dass es
keine historische Realisierung des teleologischen Denkens gibt, die
Spaemann und Löw sich zu eigen machen würden. Die beiden Auto-
ren treten allerdings in »Natürliche Ziele« weder mit dem Anspruch
an, eine solche historische Realisierung finden, noch mit dem, dem
teleologischen Denken in ihrer Studie selbst eine solche Form geben
zu wollen. Was Isak in seinem Vorwurf meines Erachtens verkannte,
ist, dass es Spaemann und Löw mit dem teleologischen Denken um
ein offenes Projekt geht, dem seit der antiteleologischen Wende der
frühen Neuzeit nur vereinzelte Rettungsversuche galten, 9 das aber
insgesamt mit der »Vollstreckung des Antiteleologismus durch die
Naturwissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts« 10 im philosophi-
schen Diskurs marginalisiert wurde. Wenn am Ende des Buches von
der »wiederentdeckte[n] Teleologie« 11 die Rede ist, dann geht es vor
allen Dingen um den unausrottbaren teleologischen Phänomen-
bestand und die Überzeugung der Autoren, dass eine Erneuerung
des teleologischen Denkens notwendig ist, nicht aber um ihren An-
spruch, eine solche hier selbst vorlegen zu können. Dieser Anspruch

7 Isak, Evolution ohne Ziel?, 53.


8 Vgl. Abschnitt 5.2.8, Der Einwand Rainer Isaks, 285–286.
9 Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), Kapitel V., Vermittlungsver-

suche zwischen Teleologie und Universalmechanik bei Leibniz, Wolff und Kant, 95–
121, und Kapitel VI., Teleologie im Deutschen Idealismus: Fichte, Schelling, Hegel,
123–155.
10 Ebd. 177.

11
Ebd. 223.

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12.1.1 Retrospektive

kann vielmehr als der rote Faden bezeichnet werden, der Spaemanns
Werke über Jahrzehnte hinweg miteinander verbindet. In der Ent-
wicklung der Gedankengänge im zweiten Teil dieser Arbeit – ins-
besondere in den Kapiteln 6 bis 8 – hat sich gezeigt, dass die Onto-
logie der Person, in der wesentliche Entfaltungslinien seines Denkens
konvergieren, in ihrer vollen Tragweite nur erfasst werden kann,
wenn sie selbst als eine Erneuerung des teleologischen Denkens in
der Philosophie der Gegenwart verstanden wird. Was Isak in Bezug
auf »Natürliche Ziele« als Mangel bezeichnet hat, findet sich also in
der denkerischen Entwicklung Spaemanns erst im Zusammenhang
seiner beiden späteren Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und
»Personen«, die ihrerseits, wie gesehen wurde, ein reich verzweigtes
Geflecht an Bezügen zu einer Vielzahl weiterer Essays Spaemanns
enthalten. Ausgehend also von der These, dass die Ontologie der Per-
son eine neuzeitliche Aktualisierung des teleologischen Denkens
zumindest im Ansatz enthält, ergibt sich nun im Rückblick auf »Na-
türliche Ziele« die Frage, an welche historischen Realisierungen
Spaemann in seiner Personenontologie anknüpft und inwiefern er
sich zugleich von diesen durch seine eigene Konzeption distanziert.
Wie im Folgenden zu zeigen versucht wird, kann man sich bei der
Beantwortung dieser Frage auf die beiden wesentlichen Ausformun-
gen des teleologischen Denkens bei Aristoteles und Thomas von
Aquin beschränken. 12
Im Werk des Aristoteles findet sich eine »nüchterne Teleologie
in terminologischer Präzision«, die im zweiten Teil im Rahmen von
Teilkapitel 5.2 in ihren Grundzügen dargelegt wurde. 13 An dieser
Stelle sei nur an einige für die folgenden Überlegungen wesentliche
Merkmale seines Denkens erinnert: Zum einen unterscheidet Aristo-
teles konsequent zwischen echten teleologischen Prozessen, deren
komplexeste Fälle die Zweckhaftigkeiten lebendiger Wesen im Gan-
zen sind, und solchen Prozessen, die zwar sinnvoll erscheinen, aber
zufällig sind. Aufgrund dieser Unterscheidung vermeidet er eine uni-
versalteleologische Ausweitung des Grundgedankens, die in der Ge-
schichte des teleologischen Denkens ein wesentliches Vehikel der

12 Eine ähnliche Gegenüberstellung der Teleologiekonzepte des Aristoteles und Tho-


mas von Aquins findet sich in: Breitsameter, Individualisierte Perfektion. Vom Wert
der Werte, 22–50.
13 Vgl. Abschnitt 5.2.2, Aristoteles: Nüchterne Teleologie in terminologischer Prä-

zision, 225–233.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Entteleologisierung war. Zum anderen ist Aristoteles der Überzeu-


gung, dass die Natur ohne Überlegung wirkt, dass teleologische Pro-
zesse also nicht an ein Bewusstsein gebunden sind, was nach Aristo-
teles ausdrücklich auch für menschliches Handeln gilt, das dann am
vollkommensten realisiert wird, wenn es nicht mehr an die begleiten-
de Reflexion gebunden ist. Auch diese Überzeugung ist von zentraler
Bedeutung angesichts der Rolle, die die gegen Aristoteles vollzogene
Bindung teleologischer Prozesse an ein Bewusstsein später in der Ge-
schichte der Entteleologisierung gespielt hat. Von großer Bedeutung
ist außerdem die terminologische Unterscheidung von finis cuius und
finis cui bei Aristoteles, durch die er die ontologische Differenz zwi-
schen objektivem Zweck und subjektivem Ziel fasst. Im finis cuius
kommt die teleologische Verfasstheit eines Lebewesens zum Aus-
druck, wohingegen der finis cui eine bewusste Zielsetzung bezeich-
net. Der Letztere bleibt daher immer in den Ersteren eingebunden.
Da im finis cuius die Selbsterhaltung eines Wesens nicht um seiner
selbst willen erstrebt werden kann, schließt Aristoteles auf das Stre-
ben nach Teilhabe – μέθεξις –, wodurch das teleologische Denken
des Aristoteles eine religiöse Komponente erhält, insofern das letzte
τέλος endlicher Wesen die Repräsentation des Göttlichen ist. Eine
Kritik der aristotelischen Fassung der Teleologie findet man bei Spae-
mann und Löw kaum. Den eigentlichen Grund, warum ein direkter
Rückgang auf ihn zur Wiederbelebung des teleologischen Denkens
nicht möglich ist, nennt Spaemann am deutlichsten im ersten Ab-
schnitt des Essays »Über die Bedeutung der Worte ›ist‹, ›existiert‹
und ›es gibt‹«, in dem er in Bezug auf die Rezeptionsbedingungen
des aristotelischen Denkens dessen Verschlossenheit aus neuzeit-
licher Perspektive unterstreicht: »Die Zweiteilung der Wirklichkeit
in Subjekt und Objekt hat noch nicht stattgefunden.« 14 Aristoteles
entwickelt sein teleologisches Denken nicht im Ausgang vom Subjekt,
sondern er geht aus von den Substanzen. Insofern uns diese nur als
Objekte für ein Subjekt – und also gerade nicht als Substanzen im
aristotelischen Sinn – gegeben sind, ist eine direkte Übertragung der
aristotelischen Gedanken auf unsere Denkbedingungen ausgeschlos-
sen. Um überhaupt an Aristoteles anknüpfen zu können, bedarf es
einer Aktualisierung seines Denkens im Ausgang vom Subjekt. 15

14
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 35.
15Blendet man dieses nach der hier vorgelegten Deutung für das Verständnis von
Spaemanns Werk zentrale Projekt einer neuzeitlichen Aktualisierung des aristote-

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12.1.1 Retrospektive

Ein möglicher Schritt zu dieser Aktualisierung ist in der Fassung


der Teleologie bei Thomas von Aquin zu sehen. Diese unterscheidet
sich von der aristotelischen zunächst in Bezug auf die beiden oben
hervorgehobenen Merkmale. Zum einen erweitert Thomas die teleo-
logische Interpretation von Naturprozessen über die Stufe der Ein-
zelwesen hinaus und gelangt zu einer universalteleologischen Vor-
stellung der Welt als ökologisches System. Zum anderen führt er
zielgerichtete Prozesse in der außermenschlichen Natur so auf das
göttliche Bewusstsein zurück, wie der Flug des Pfeiles auf die Inten-
tion des Schützen zurückzuführen ist. Die Aktualisierung des aristo-
telischen teleologischen Denkens erfolgt bei Thomas von Aquin dem-
nach durch den neuen Ausgang des Denkens vom Subjekt Gottes:
»wo Teleologie, da auch Theologie« 16. Da auch bei Aristoteles, wie
oben gesehen wurde, theologische Vorstellungen in seinem teleologi-
schen Denken eine Rolle spielen, ist es an dieser Stelle wichtig, sich
klarzumachen, welcher entscheidende Unterschied zwischen den
theologischen Ansätzen beider besteht. Beide vertreten eine imma-
nent-teleologische Naturauffassung. Auch nach Thomas wirken –
wie im Pfeil des Bogenschützen – Ziele in den Naturdingen, ohne dass
diese etwas davon wissen müssen. Im Unterschied zur Lehre des Aris-
toteles ist Gott für Thomas aber nicht allein Ziel eines Teilhabestre-
bens, sondern zugleich Schöpfer der teleologisch verfassten Natur-
dinge; aristotelisch gesprochen ist Gott damit causa finalis und causa
efficiens in einem. Wie Spaemann und Löw in »Natürliche Ziele«
bemerken, stellt diese Verbindung des antiken μέθεξις-Gedankens
mit dem christlichen Schöpfungsgedanken die »Peripetie des teleo-
logischen Denkens« 17 dar. Die durch Thomas betriebene Theologisie-
rung der Teleologie ermöglichte die von ihm keineswegs intendierte
›Kürzung‹ Gottes aus dem Bild der Welt und seine allmähliche Er-

lischen Denkens aus, wird die Etikettierung Spaemanns als ›altkonservativer‹ Denker
verständlich: »Die Altkonservativen lassen sich von der kulturellen Moderne gar
nicht erst anstecken. Sie verfolgen den Zerfall der substantiellen Vernunft, die Aus-
differenzierung von Wissenschaft, Moral und Kunst, das moderne Weltverständnis
und deren nur noch prozedurale Rationalität mit Mißtrauen und empfehlen […] eine
Rückkehr zu Positionen vor der Moderne. Einen gewissen Erfolg hat vor allem der
Neuaristotelismus, der sich heute durch die ökologische Problematik zur Erneuerung
einer kosmologischen Ethik anregen läßt. Auf dieser Linie, die von Leo Strauss aus-
geht, liegen beispielsweise interessante Arbeiten von Hans Jonas und Robert Spae-
mann.« – Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, 52–53.
16 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 72.

17
Ebd. 78.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

setzung durch ein universales kausal-mechanistisches Prinzip der


Naturerklärung, das Friedrich Schiller sehr eindringlich in folgenden
Versen zum Ausdruck brachte:
Unbewußt der Freuden, die sie schenket,
Nie entzückt von ihrer Trefflichkeit,
Nie gewahr des Armes, der sie lenket,
Reicher nie durch meine Dankbarkeit,
Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,
Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwere,
Die entgötterte Natur! 18
Der Versuch einer neuzeitlichen Wiederbelebung des teleologischen
Denkens muss somit dessen Theologisierung bei Thomas ablehnen
und kann gleichwohl nicht direkt auf Aristoteles zurückgehen. Daher
bleibt Thomas nach Spaemann und Löw für die neuzeitliche Philoso-
phie eine Herausforderung, weil seine Frage: »Wie ist die Kunst in die
Natur hineingekommen?« unter der Voraussetzung des Ausgangs
des Denkens vom Subjekt unabweisbar ist. 19 Auch wenn eine imma-
nente Naturteleologie angenommen wird, ist das teleologische Aus-
sein-auf von Naturdingen für uns immer ein Gegenstand des Be-
wusstseins. Selbst in der Erfahrung des eigenen leiblichen Ausseins-
auf können wir nur von bewusst wahrgenommenen Lebensregungen
sprechen, deren Bewusstwerdung etwas vorhergegangen sein mag, zu
dem wir aber prinzipiell keinen direkten Zugang im Bewusstsein ha-
ben können. Das Grundproblem des teleologischen Denkens lässt sich
also im Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas von Aquin
dahingehend konkretisieren, dass die Annahme einer Spontaneität
des Ausseins-auf in der Natur, wenn sie unter der Bedingung des
Ausgangs des Denkens vom Subjekt nicht mehr wie bei Aristoteles
abgelöst von einem begleitenden Bewusstsein gedacht werden kann,

18 »Die Götter Griechenlandes«, Verse 161–168 – Schiller, Sämtliche Werke, Bd. 1,


168. – Es handelt sich hier um die erste Fassung des Textes von 1788, die Schiller auch
im zweiten Teil der »Gedichte« von 1803 wieder abdrucken ließ. – Vgl. ebd., 873–874.
– In der zweiten Fassung von 1800 lautet die Strophe: »Unbewußt der Freuden, die sie
schenket,/ Nie entzückt von ihrer Herrlichkeit,/ Nie gewahr des Geistes, der sie len-
ket,/ Selger nie durch meine Seligkeit,/ Fühllos selbst für ihres Künstlers Ehre,/
Gleich dem toten Schlag der Pendeluhr,/ Dient sie knechtisch dem Gesetz der Schwe-
re,/ Die entgötterte Natur.« – Ebd. 172.
19
Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 79.

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12.1.1 Retrospektive

gleichzeitig nicht durch den Verweis auf ein göttliches Bewusstsein,


das den Naturdingen ihre Zielgerichtetheit eingesetzt hat, erklärt
werden kann. Das teleologische Denken gerät also in das Dilemma,
den Ausgang vom Subjekt zugleich denken als auch verwerfen zu
müssen. Entscheidend ist somit die Frage, welcher Ausweg aus dieser
Aporie bleibt, wenn die thomasische Lösung, ein göttliches Subjekt
anzunehmen, an dem wir durch unsere Fähigkeit, es zu denken, teil-
haben können, nicht mehr akzeptabel erscheint.
Aporie bedeutet ›Mangel an Wegen‹. Statt der zweifelhaften
Frage nach dem ›Ausweg‹ aus ihr muss die offenbar falsche Voraus-
setzung in dieser Frage aufgedeckt werden. In Spaemanns »Personen«
findet sich die im Zusammenhang des unvermeidlichen Ausgangs des
Denkens vom Subjekt überaus bedeutsame Feststellung: »Es handelt
sich bei einem solchen Ausgang vom ›Subjekt‹ um die Rekonstruk-
tion einer Wirklichkeit, die tatsächlich der Subjektivität immer schon
vorausliegt.« 20 Wenn man diesen Satz in seiner Tiefe auslotet, zeigt
sich, dass Spaemann drei Ebenen unterscheidet: Erstens geht es um
eine vorausgesetzte, ›unvordenkliche‹ Wirklichkeit; zweitens geht es
um Subjektivität, die zu dieser Wirklichkeit in einem näher zu be-
stimmenden Verhältnis steht; drittens schließlich geht es um das
Subjekt als Rekonstruktion der Wirklichkeit, die Spaemann als eine
reine Abstraktion betrachtet, von der im Denken auszugehen das
πρώτον ψεύδος der neuzeitlichen Subjektphilosophie ist. In dem auf-
gewiesenen Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas von
Aquin ist also unter der neuzeitlichen Voraussetzung des Ausgangs
des Denkens vom Subjekt nicht weiterzukommen, ohne dass auf den
für Spaemann zentralen Gründungsakt der Subjektphilosophie im
cartesischen ›cogito sum‹ rekurriert wird. An dieser Stelle sei nur
knapp an die im zweiten Teil ausführlich dargelegte Auseinander-
setzung Spaemanns mit Descartes erinnert. 21 Da Descartes, wie Spae-
mann später in »Personen« mit Bezug auf dessen Subjektbegriff
schrieb, in seinem Gedankengang der Versuchung erlag, »diese abs-
trakte, alle inhaltlichen Bestimmungen distanzierende Identität als
Entität zu hypostasieren und sie das ›Selbst‹ zu nennen« 22, wurde er

20 Spaemann, Personen (1996), 114–115. – Vgl. Abschnitt 8.2.1, Zur Geschichte der
Destruktion des Personbegriffs, 331.
21
Vgl. Abschnitt 6.1.3, Descartes der Fortschritt vom ›cogito‹ zum ›sum‹, 341–351, u.
Abschnitt 6.2.1, Das metaphysisch-analoge Denken, 373–383.
22
Spaemann, Personen (1996), 115.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

zur »Theologisierung der Ontologie« 23 geführt, insofern nur durch


die Annahme eines unendlichen Bewusstseins die aus seinem Ansatz
resultierende Dialektik von Horizont- und Gegenstandsbewusstsein
zum Stehen gebracht werden konnte. Spaemanns für sein gesamtes
Denken bedeutsamer systematischer Gegenentwurf zu dieser speku-
lativ-dialektischen Begründung der Subjektphilosophie besteht in der
metaphysisch-analogen Rückbindung des Subjekts an die mensch-
liche Natur. Subjektivität wird so als Transzendieren des lebendigen
Ausseins-auf verstanden. Da dieses Aussein-auf seinerseits die pri-
märe Form von Negativität ist, bedeutet Subjektivität eine Negation
der Negation, wodurch eine Aktualisierung der aristotelischen Rede
vom Sein im Gedanken des ›Seins‹ möglich wird: »Dieser Gedanke
hat gar keinen eigenen Inhalt, keinen intentionalen Gehalt. Er ge-
winnt seine Bestimmtheit nur durch eine doppelte Negation, die
Negation der Nichtigkeit bloßen Gedachtseins.« 24 Der Gedanke ›Sein‹
kommt dadurch in die Welt, dass ein lebendiges Wesen, das in seiner
Selbstzentriertheit eine Umwelt ausgrenzt, diese Innen-Außen-Dif-
ferenz selbst transzendiert und einen ›Blick von nirgendwo‹ er-
reicht. 25 An dieser Stelle nun ist es wichtig, diesen zentralen gedank-
lichen Zusammenhang bei Spaemann in ein Verhältnis zu setzen zu
dem skizzierten Spannungsfeld zwischen Aristoteles und Thomas
von Aquin. Thomas hält an der aristotelischen Vorstellung immanen-
ter Naturteleologie fest, beginnt aber im Unterschied zu Aristoteles
die Zweiteilung der Wirklichkeit in Subjekt und Objekt indirekt als
ontologische Differenz von ›esse‹ und ›essentia‹, also als das im
Schöpfungsgedanken implizierte Bewusstsein von der Kontingenz
der Welt, zu reflektieren. Wie im zweiten Teil dieser Arbeit im Zu-
sammenhang mit der Betrachtung der Geschichte des anthropologi-
schen Dualismus gesehen wurde, wendete Thomas sich gegen den
aristotelischen Gedanken, dass der Geist von außen – θύραθεν – in
den Menschen hineinrage, und vertrat die These einer individuellen
Vernunft. 26 Die Vorstellung eines menschlichen Subjekts bleibt je-
doch bei Thomas latent, insofern die vernünftige Selbsttranszendenz
von ihm gerade als ein Wirken der Natur im Menschen verstanden

23 Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito Sum (1987), 139.


24 Spaemann, Personen (1996), 50.
25
Vgl. Abschnitt 8.2.3, Metaphysischer Realismus, 550–553.
26 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 333–

334.

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12.1.1 Retrospektive

wird. 27 Erst unter der Voraussetzung eines ausdrückliches Ausgangs


des Denkens von einem Subjekt, das von seiner natürlichen Grund-
lage abgelöst ist, gerät die für Thomas noch gültige Vorstellung im-
manenter Naturteleologie in das beschriebene Dilemma, insofern das
göttliche Subjekt, das die Kunst in die Natur gebracht hat, und das
menschliche Subjekt, das sich selbst als ursprüngliche Spontaneität
auffasst, unvermittelt einander gegenüberzustehen beginnen, – die
Situation von Descartes’ zweiter Meditation. Dieser Gegensatz ergibt
sich jedoch nicht zwangsläufig mit der Herausbildung von Subjekti-
vität, sondern ist die Folge einer sekundären Bewegung, durch die die
in der doppelten Negation immer schon vollzogene Selbsttranszen-
denz – also die thomasische Vorstellung der Vernunft als Ausdruck
der menschlichen Natur – zurückgenommen und das aus dem Akt der
Selbsttranszendenz erst hervorgehende Subjekt zu einer selbständi-
gen Entität hypostasiert wird. Diese sekundäre Bewegung – die sich
selbst freilich als absoluten Anfang versteht! – ist augustinisch ge-
sprochen die recurvatio, der rationale Rückzug in die natürliche
Zentralität. Da diese Bewegung durch die mögliche Interferenz der
natürlichen Zentralität mit dem neuen Subjektgedanken aber unver-
meidbar war, bedarf es einer wesentlichen Erweiterung gegenüber
dem thomasischen Gedankengang, insofern das Verständnis der ver-
nünftigen Selbsttranszendenz als Wirken der Natur im Menschen
nun explizit von einem menschlichen Subjekt aus gedacht werden
muss, das im Akt der Selbsttranszendenz oder in dessen Verweige-
rung eine Entscheidung getroffen hat. Eine mögliche Erneuerung
des teleologischen Denkens muss also einerseits die thomasische
Theologisierung der Teleologie ablehnen und andererseits den für
uns unvermeidbaren Ausgang des Denkens vom Subjekt von seiner
für das neuzeitliche Denken paradigmatisch gewordenen antiteleo-
logischen Ausprägung befreien.
Die leitende Idee, anhand deren im zweiten Teil dieser Arbeit in
den Kapiteln 6 bis 8 das so im Rückblick zu betrachtende Projekt der
Erneuerung des teleologischen Denkens entfaltet wurde, bestand in
der Verbindung von Naturteleologie und Selbsttranszendenz. Zur

27 Vgl. hierzu die Bezugnahme Spaemanns auf Thomas von Aquin in seinen »Studien
über Fénelon« im Kapitel »Die Lehre des heiligen Thomas von Aquin über den amor
perfectus« – Spaemann, Reflexion und Spontaneität (1963), 88–106, u. Abschnitt
4.3.3, Thomas von Aquin: Die in den Hintergrund gerückte Autorität, 164 u. Ab-
schnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 335–336.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Verdeutlichung der Zusammenhänge in ihrer hier im Mittelpunkt


stehenden, von der Naturteleologie ausgehenden Perspektivierung
soll im Folgenden nur auf die entscheidenden Gelenkstellen in der
Entfaltung der Spaemann’schen Konzeption hingewiesen werden.
Wenn im Sinne des in Erinnerung gerufenen Gedankens der doppel-
ten Negation das aus dem Akt der Selbsttranszendenz hervorgehende
Subjekt auf das konstitutive Aussein-auf seiner ihm zugrunde liegen-
den Natur zurückgeführt wird, stellt sich noch einmal die Frage, wie
dieses Subjekt sich selbst überhaupt gegeben sein kann. Die Antwort
hierauf hat Spaemann zuerst im Kapitel »Wohlwollen« in »Glück und
Wohlwollen« gegeben. Im Unterschied zu anderen Lebewesen hat der
Mensch die Fähigkeit, aus der natürlichen Zentralität des Lebendigen
herauszutreten, für das alles Begegnende »nur eine Bewandtnis hat
als Funktion für ein Subjekt« 28. Im Akt der Selbsttranszendenz tritt
nun der finis cuius dieses Subjekts, die Selbsterhaltung, als »be-
wandtnislose[s] Um-willen« 29 hervor. Auch wenn eine solche refle-
xive Wendung auf das Subjekt Aristoteles unbekannt war, ist es wich-
tig, an dieser Stelle festzuhalten, dass Aristoteles diesen finis cuius
auf das Streben nach der Teilhabe am Göttlichen bezog. In der refle-
xiven Wendung auf den finis cuius des menschlichen Lebewesens er-
öffnet sich nach Spaemann einerseits die Möglichkeit, diesen selbst
zu einem finis quo zu machen, was als Reflexionsbewegung in den
Solipsismus oder als Reflexionsverweigerung zum versuchten Rück-
zug in die natürliche Zentralität führen muss. Da das eigene Selbst
aber indirekt »als das Andere des Anderen« 30 hervortritt, die reflexive
Wendung auf den finis cuius also immer schon intersubjektiv vermit-
telt ist, gibt es andererseits die Möglichkeit, ein Jenseits der eigenen
natürlichen Zentralität zu erreichen und damit im Sinne der doppel-
ten Negation Sein selbst wahrzunehmen. Diese Möglichkeit der
Seinswahrnehmung nun ist von zentraler Bedeutung für Spaemanns
Aktualisierung des teleologischen Denkens. Es geht in ihr einerseits
um eine konkrete Wahrnehmung, andererseits aber um eine solche,
die nicht auf eine objektive Gegebenheit für ein Subjekt zielt. In der
reflexiven Wendung wird der Blick auf die Welt in dieser Wahrneh-
mung vermittelt durch den Anderen, der »das Unbedingte ist, nicht
in der Weise der physischen Präsenz, sondern in der Weise der Re-

28
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.
29 Ebd. 124.
30
Ebd.

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12.1.1 Retrospektive

präsentation des Bildes« 31. Da Spaemann in diesem Kontext auch vom


»Bild des Unbedingten« spricht, ist es von großer Bedeutung, sich
ausgehend vom Gedanken der Naturteleologie den philosophischen
Status dieses Begriffs des Unbedingten klarzumachen. Im Sinne der
Ablehnung der thomasischen Theologisierung der Teleologie wurde
zunächst im einzig möglichen Ausgang von der menschlichen Sub-
jektivität das in der Selbsterfahrung gegebene Aussein-auf als etwas
Präreflexives bzw. Unvordenkliches angenommen, das uns mit ande-
ren lebendigen Wesen verbindet. Damit ist keine theologische Vor-
entscheidung getroffen, da die thomasische Frage, wie die Kunst in
die Natur hineingekommen ist, hier offen gelassen wird. Die zweite
Negation der reflexiven Wendung auf das Aussein-auf lässt nun ein
Bild entstehen – Bild in seiner wesentlichen Doppeldeutigkeit sowohl
als Sehen als auch als Angeschautes, in das das Subjekt der Wahrneh-
mung selbst eingeht –, aus dem nichts ausgeschlossen ist und das un-
abhängig von den vitalen Interessen des wahrnehmenden Subjekts
ist. Es ist das Bild des Unbedingten – auch dieser Genitiv ist entspre-
chend sowohl als subjectivus als auch als objectivus zu lesen – zu-
nächst ganz exakt in dem Sinn, dass es unabhängig ist von der Welt
der natürlichen Zentralität des Wahrnehmenden. Durch die Wahr-
nehmung des Bildes kommt etwas Neues in die Welt, das ohne jede
in der eigenen Natur fundierte Bewandtnis ist. Es ist ein Jenseits des
vitalen Zusammenhangs, das in dessen Transzendierung zugänglich
ist und zunächst nur als eine Grenze des Denkens gefasst werden
kann. Diese Deutung schließt keineswegs aus, dass darüber hinaus
das ›Unbedingte‹, von dem hier die Rede ist, bei Spaemann noch eine
religiöse Konnotation erhalten kann. Primär aber ist die Negation der
Bedingtheit auf die Transzendenz der natürlichen Zentralität zu be-
ziehen. Unbedingt ist, was ungeachtet des Ausgangs des Denkens von
der aus der lebendigen Zentralität hervorgehenden menschlichen
Subjektivität unabhängig ist von der eigenen – und damit von jed-
weder – Interessenperspektive. Nach meiner Überzeugung stellt
dieser in »Glück und Wohlwollen« entwickelte, vom menschlichen
Subjekt ausgehende Gedankengang einen wesentlichen Schritt zur
Aktualisierung des teleologischen Denkens in seiner aristotelischen
Form dar. Sofern man unter Säkularisierung den Übergang primär
religiöser Begriffe in einen allgemeineren philosophischen Kontext
verstehen kann, ist die in der interpersonalen Begegnung sich ereig-

31
Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 127.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

nende Repräsentation des Bildes als eine Säkularisierung der auf


Aristoteles zurückgehenden Vorstellung der repraesentatio des Gött-
lichen durch die nach μέθεξις strebenden Einzelwesen zu ver-
stehen. 32

32 Die hier retrospektiv noch einmal betrachteten Zusammenhänge, durch die eine in
der natürlichen Teleologie fundierte Differenzierung neuzeitlicher Subjektivität als
personaler Horizont des Vernünftigen einerseits, autonomer Intentionalität anderer-
seits theoretisch expliziert wird, erlauben auch einen Rückbezug auf die kritische Erör-
terung von Spaemanns Konzept der ›Inversion der Teleologie‹ in Hans Ebelings Sam-
melband »Subjektivität und Selbsterhaltung. Beiträge zur Diagnose der Moderne«. –
Vgl. Teilkapitel 4.1, Bürgerliche Ethik und nichtteleologische Ontologie, 142–143,
Fn. 25. – Gegen Spaemanns Konzeption wendete Ebeling ein: »Die aufklärende und
deshalb dringliche Rede von einer Inversion der Teleologie darf so sicher nicht gedeu-
tet werden als eine negative, wenn der eigene Sinn der Moderne bestimmbar bleiben
soll. Mit der Inversion ist nicht etwa die Relation von ›Leben‹ und ›gutem Leben‹
darauf reduziert, daß nun ein Moment zum alleinigen und selbst zum ganzen Bezug
würde. Vielmehr ist die Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung positiver
Ausdruck einer neuen Zielorientierung der werdenden modernen Subjektivität. Sie
bezieht sich auf eine Welt, die kein anderes zu ihr mehr hat, weshalb sie noch sachge-
mäß und nicht nur im Sinne einer Bildungsreminiszenz ›diese‹ Welt genannt werden
könnte. Denn von ›dieser‹ als der nun einzigen Welt ist hier alles.« – Ebeling, Sub-
jektivität und Selbsterhaltung, 22–23. – Ohne Zweifel trat Spaemann immer gegen
eine solchermaßen als ›Einheit der Selbsterhaltung und Selbststeigerung‹ verstandene
moderne Subjektivität ein, insofern sich mit dieser für ihn die »Unaufhaltsamkeit
eines naturwüchsigen Verhängnisses« – Spaemann, Ende der Modernität? (1986),
249 – verknüpft. Ebenso unterliegt es keinem Zweifel, dass die von Ebeling unterstri-
chene Beschränkung auf ›diese‹ Welt von Spaemann im Sinne der so implizierten
Transzendenzfeindlichkeit abgelehnt wird, auch wenn seine Orientierung am ›Unbe-
dingten‹ keine Theologisierung der Ontologie bedeutet, sondern als genuin philoso-
phische Argumentation entwickelt wird, die sich sekundär mit religiösen Erwägungen
in Kongruenz bringen lässt. Nur durch eine solche Orientierung kann für Spaemann
das aus dem Paradigma der Selbsterhaltung hervorgehende Selbstverständnis der Mo-
derne korrigiert werden: »Erst wenn die Krisenerfahrung der Modernität die Gestalt
der Wiederherstellung einer nichtmediatisierbaren, nicht verwaltbaren und nicht
funktionalisierbaren Unbedingtheit gewinnt, der Unbedingtheit des Religiösen, des
Sittlichen und des Künstlerischen, dann erst kann von einer Wiederherstellung eines
integralen Erfahrungsbegriffs gesprochen werden. Und das erst wäre der Schritt aus
der Modernität, der deren Errungenschaften bewahrte, die vom modernen Bewußt-
sein selbst nicht bewahrt werden, weil dieses Bewußtsein sich selbst nicht vesteht.« –
Ebd. 255. – Der von Ebeling erhobene und mit Verweis auf Blumenberg und Buck
bekräftigte Vorwurf an Spaemann, durch seine Konzeption der invertierten Teleologie
werde die Moderne von ihm nur negativ bestimmt, übersieht allerdings, dass es Spae-
mann von Anfang an darum ging, »den Gedanken der Teleologie auf anfänglichere,
nicht ›invertierte‹ Weise neu zu denken«. – Spaemann, Vorwort zur zweiten Auflage
(1990), in: Ders., Reflexion und Spontaneität (1963), 14. – Das in seinem Sinne posi-

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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung

Im bisherigen Gang des Gedankens wurde versucht, in der gegenüber


dem zweiten Teil umgekehrten Denkrichtung die Argumentations-
kette zu rekonstruieren, durch die von der Naturteleologie zur Per-
sonenontologie gelangt werden kann. Das entscheidende Glied dieser
Argumentationskette, das bis zu dieser Stelle noch fehlt, betrifft den
Übergang von der dargelegten Möglichkeit der Selbsttranszendenz
zum interpersonalen Geschehen der Begegnung, in dem sich die per-
sonale Freiheit von der Natur realisiert und die Wirklichkeit der Per-
sonen beschreibbar wird. Im Rückgriff auf Kapitel 8 muss an dieser
Stelle betont werden, dass es sich bei diesem Übergang um ein aus der
vorausgesetzten Perspektive hervorgehendes Scheinproblem handelt.
Im Teilkapitel 8.4 dieser Arbeit wurde gezeigt, dass die Betrachtung
einer in das Begegnungsgeschehen eingehenden Subjektivität, wie sie
auch der hier durchgeführten Rekonstruktion anhand von »Glück
und Wohlwollen« zugrunde liegt, bereits eine die eigentlichen Zu-
sammenhänge verschleiernde Abstraktion darstellt. Subjektivität in
diesem Sinne entsteht nur aus der reflexiven Wendung auf das her-
vortretende ›bewandtnislose Umwillen‹ und verdankt sich immer
schon der intersubjektiven Vermittlung durch eine Außenperspekti-
ve. Die Rekonstruktion des Begegnungsgeschehens ausgehend von
der Betrachtung eines Einzelwesens scheint zwar zunächst eine Den-
knotwendigkeit zu sein, die erst durch die Einsicht in die intersubjek-
tive Vermittlung der Subjektivität überwunden wird; der an diesen
Gedankengang sich anschließende Versuch einer Verallgemeinerung
des teleologischen Kerns der Personenontologie weiter unten wird
aber zeigen, dass der Ausgang von der Betrachtung eines Einzel-
wesens nur scheinbar einer Notwendigkeit entspricht und in Wirk-
lichkeit auch auf der Ebene nichtpersonaler Lebewesen die eigentli-
chen Zusammenhänge verdeckt. 33 Hier sei noch einmal knapp an
wesentliche Erkenntnisse aus dem Teilkapitel 8.4 erinnert: Die Mög-
lichkeit interpersonaler Begegnung verdankt sich der Ambivalenz der
Zeit für Personen, die einerseits als Prinzip der Entropie das Objek-
tivwerden von Subjekten als Subjekten ermöglicht, andererseits aber
von Personen, die eine Distanz zu ihrer Natur haben, überwunden

tive, also teleologische Verständnis der modernen Subjektivität entwickelte Spaemann


allerdings erst letztgültig im Rahmen seiner Ontologie der Person.
33
Vgl. die Schlussfolgerung aus dem hier begonnenen Gedankengang, 887–888.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

und in Zeit-Gestalten verwandelt wird. 34 Personen sind als ›gehabte


Natur‹ in den universalen Kontext der Welt eingebunden und sind als
›Haben einer Natur‹ unabhängig von diesem Kontext, insofern die
Gemeinschaft der Personen einen apriorischen Kontext bildet, in
dem die erst durch die Distanz zur eigenen Natur zu Bewusstsein
kommende räumliche und zeitliche Indexikalität transzendiert wird. 35
Personale Freiheit bedeutet Freiheit von der eigenen Natur, deren
Voraussetzung die Begegnung ist, in der die Verwandlung der sich
selbst in der Zeit äußerlich werdenden Subjektivität in eine Zeit-
gestalt möglich wird. 36 Im Sinne der hier versuchten Rekonstruktion
der wesentlichen Zusammenhänge der Philosophie Spaemanns von
der Naturteleologie aus muss an dieser Stelle verdeutlicht werden,
dass die Rede von einer ›Freiheit von der Natur‹ missverständlich sein
kann, da es hier keineswegs um eine Loslösung von der Natur geht.
Der personale Standpunkt, der im Transzendieren der Natur erreicht
wird, verfügt, wie Spaemann betont, über kein eigenes Energiepoten-
tial. Die Person bleibt damit Natur, auch wenn sie die natürliche Zen-
tralität des Lebewesens übersteigt. Diesen paradoxen Gedanken hat
Spaemann mit Bezug auf Platon als den Gedanken bezeichnet, der
die Philosophie konstituiert. 37 Es geht in ihm um das Verständnis
der Vernunft als Ausdruck der Teleologie der menschlichen Natur.
Die teleologisch verstandene Natur, die wesentlich über sich hinaus
weist, erreicht in menschlichen Wesen eine Stufe, auf der das Andere
der Natur, auf das sie verweist, durch eine reflexive Wendung selbst
noch einmal zu Bewusstsein kommt. An dieser Stelle ergibt sich die
Paradoxie, dass das Andere der Natur als dieser entgegengesetzt und
zugleich als aus ihr hervorgehend begriffen werden muss. Die ver-
nünftige Selbsttranszendenz ist Natur und zugleich ihr Gegenteil.
Dieser scheinbare Paralogismus ergibt sich aus der reflexiven Wen-
dung, in der die Natur, indem sie ihrer selbst ansichtig wird, Natur
bleibt und doch zugleich in ihr eigenes Bild verwandelt wird. Als Pa-

34 Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 603–613.
35 Vgl. Abschnitt 8.4.2, Die vermittelte Unmittelbarkeit des Begegnungsgeschehens:

Gewissen und Versprechen, 613–624.


36 Vgl. Abschnitt 8.4.3, Freiheit von der Natur als Geschenk der Begegnung: Die

Spontaneität des Herzens, 625–635.


37
Vgl. Spaemann, Das Natürliche und das Vernünftige (1986/87), 123, u. Abschnitt
6.2.2, Die Verbindung von Teleologie und Selbsttranszendenz: Repräsentation und
Anerkennung, 389.

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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung

radoxie erscheint dieser Vorgang allerdings nur, wenn auf der einen
Seite eine natürliche und auf der anderen eine bewusste Entität iso-
liert werden und der Mensch als ein Wesen, in dem beide Entitäten
zusammenfallen, auf seine Identität hin befragt wird. Die Paradoxie
des Gedankens verschwindet entsprechend, wenn im Sinne des teleo-
logischen Grundgedankens Leben und Vernunft als Kontinuum be-
griffen werden, wenn die natürliche Seite des Geistes und die spiri-
tuelle der Natur festgehalten werden. 38
Damit kann nun gezeigt werden, dass im Erreichen des persona-
len Orts, von dem Spaemann in »Personen« spricht, 39 die Aktualisie-
rung des aristotelischen teleologischen Denkens zum Abschluss
kommt. Im Transzendieren des natürlichen Ausseins-auf können
menschliche Subjekte durch die Begegnung mit anderen Personen
eine personale Identität erlangen, die von einer auf die Genese ihrer
Natur ausgerichteten Betrachtung nicht mehr erreicht werden kann
und sich von ihrer Naturgrundlage emanzipiert. Obwohl diese Frei-
heit von der Naturgrundlage sich nur auf den sich jeder qualitativen
Bestimmung entziehenden personalen Ort bezieht, geht sie doch als
wesentlich nicht rekonstruierbares Moment in die in ihrem Sosein
beschreibbare Zeitgestalt der Person ein. Da diese These durch das
Festhalten an der konstitutiven Bedeutung des natürlichen Substrats
die Hypostasierung des menschlichen Subjekts zu einer selbständigen
Entität ausschließt und dieses Subjekt sich als Person jeder qualitati-
ven Erfassung entzieht, ist Personsein grundsätzlich nur in der
Selbsterfahrung oder in der Weise der Anerkennung anderer Per-
sonen gegeben. Der Versuch, aus dem naheliegenden Einwand, dass
es sich bei der personalen Selbsterfahrung nur um eine Illusion han-
deln könnte, eine in sich konsistente Position zu entwickeln, scheitert,
wie durch eine reductio ad absurdum gezeigt werden kann, daran,

38
Vgl.: »Das neuzeitliche Weltbild ist gespalten, und wir pendeln sozusagen ständig
hin und her zwischen der Innen- und der Außensicht unserer selbst, zwischen Spiri-
tualismus und Naturalismus, zwischen einer Welt von Objekten unserer sinnlichen
Erfahrung und der Wissenschaft, die diese Objekte konstituiert, selbst aber als ein
transzendentales Subjekt Bedingung dieser Objektwelt ist. Wir springen hin und her
wie bei der Betrachtung gewisser Vexierbilder. Jede dieser Sichtweisen springt unver-
meidlich um in die entgegengesetzte, und immer wieder wird der Versuch gemacht,
die Weltbilder zu vereinigen durch Integration der einen Sicht in die andere. Eines nur
durfte nie geschehen: Nie durfte der Geist eine natürliche Seite und nie die Natur eine
spirituelle Seite haben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit« (2009),
159–160.
39
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 82.

881

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

dass eine solche Theorie selbst keinen Anspruch auf Wahrheit mehr
erheben könnte. 40 Der individualteleologische aristotelische Grund-
gedanke, in dem das Aussein-auf als unvordenklich und also vom
Bewusstsein abgelöst vorgestellt wird, ist durch den Gedanken der
doppelten Negation – also das Transzendieren des natürlichen Aus-
seins-auf, das seinerseits durch die konstitutive Innen-Außen-Diffe-
renz ein wesentliches Moment der Negation enthält – mit dem un-
vermeidbar gewordenen Ausgang des Denkens vom Subjekt, der
Aristoteles verschlossen war, vermittelt worden, wobei durch diese
Aktualisierung gleichzeitig eine Umdeutung der aristotelischen Te-
leologievorstellung in dem Sinne stattgefunden hat, dass in das τέλος
eine Offenheit für die Begegnung hineingelegt wird, die Aristoteles
noch nicht kannte. Das Subjekt hat seine primäre Selbstgegebenheit
im Überschreiten seiner natürlichen Zentralität, von der es sich
gleichwohl als abkünftig erfährt, insofern die überschreitende Ver-
nunft selbst noch als eine Form des natürlichen Ausseins-auf begrif-
fen wird. Der Ausgang des Denkens vom Subjekt führte in der tho-
masischen Umformung der aristotelischen Teleologievorstellung zu
der Frage, wie die Kunst in die Natur hineingekommen ist. Spaemann
vertritt in dieser Frage durch die zentrale Stellung des immer nur
privativ vom Bewusstsein aus bestimmbaren Lebensbegriffs in sei-
nem Denken philosophisch zunächst eine agnostische Position, die
in seinen Texten zu Fragen des Glaubens durch kongruente religiöse
Erwägungen ergänzt wird. Aus der Perspektive der Philosophie Spae-
manns wäre Thomas’ Frage folgendermaßen umzuformen: ›Was
bedeutet es, dass wir die Natur und uns selbst nicht anders denken
können als so, dass die Kunst immer schon in die Natur und in uns
hineingekommen sein muss?‹ An der auf die cartesische Hypostasie-
rung der Subjektivität zur unabhängigen Entität zurückgehenden
Tradition der neuzeitlichen Subjektphilosophie und der aus ihrem
Programm der Entteleologisierung hervorgehenden Dialektik von
Naturalismus und Spiritualismus ist die philosophiegeschichtliche
Konsequenz abzulesen, die aus Spaemanns Sicht dieses Nicht-an-
ders-Können nahelegt. Jedes Denken, das das Phänomen des leben-
digen Ausseins-auf in seiner irreduziblen Bedeutung ausblendet, ge-
langt am Ende zwangsläufig zu seiner dialektischen Selbstaufhebung.
Die Anerkennung der Bedeutung des Phänomens bedeutet allerdings
noch nicht die Überwindung des Partikularismus. Ein in unserer te-

40
Vgl. z. B. Spaemann, Wahrheit und Freiheit (2009), 314.

882

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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung

leologisch verstandenen Natur fundiertes menschliches Selbstver-


ständnis gibt zwar kein Kriterium dafür, was als Natur in einem ana-
logen Sinn bei nichtmenschlichen Wesen anerkannt werden muss; die
Bezugnahme auf eine teleologisch verstandene menschliche Natur
macht jedoch den kritischen Anthropomorphismus, von dem Spae-
mann spricht, unverzichtbar.
Begegnung bezeichnete in der hier nachvollzogenen Entwick-
lung des philosophischen Denkens Spaemanns von der Naturteleo-
logie zur Personenontologie ausschließlich das interpersonale Ge-
schehen, durch das für Personen die Freiheit von ihrer Natur als
Entfaltung von Zeitgestalten möglich wird. Da der naturteleologische
Zusammenhang erst in diesem interpersonalen Geschehen eine refle-
xive Wendung erfährt und damit überhaupt zu Bewusstsein kommt,
ist diese Beschränkung auf die Begegnung von Personen verständlich.
Die Rekonstruktion der Zusammenhänge hat aber auch verdeutlicht,
dass personale Beziehungen auf einer Naturgrundlage aufruhen, die
in sich noch einmal Stufen der Entfaltung beobachten lässt. Es ist
daher kaum zu erwarten, dass Begegnung im interpersonalen Ge-
schehen plötzlich auftaucht, ohne dass sie im Entwicklungsprozess
der Natur schon vorbereitet wäre bzw. nichtpersonale Vorformen be-
säße. Um diese Vermutung kreisten die späten Überlegungen Spae-
manns zu einer Verallgemeinerung der Ontologie der Person, die im
Kapitel 9 der vorliegenden Arbeit ausgehend von den Begriffen Ähn-
lichkeit und Nähe untersucht wurden. Im Rückgriff auf diese Unter-
suchung soll hier abschließend gezeigt werden, dass der Begriff der
Begegnung nicht allein den Schlüssel zu Spaemanns Personenontolo-
gie enthält, sondern auch als zentrales Erklärungsinstrument dieser
verallgemeinerten Ontologie verstanden werden kann. In den Über-
legungen zum Begriff der Ähnlichkeit in der Einleitung zu Kapitel 9
wurde gezeigt, dass seine scheinbare Mehrdeutigkeit auf verschiede-
ne Wahrnehmungsweisen desselben Phänomens zurückgeführt wer-
den kann. Zugrunde liegt diesem Phänomen die Spontaneität der Na-
tur bzw. menschlicher ποίησις, die Hinsichten begründet. Aufgrund
dieser Hinsichten eröffnen sich qualitative Räume, die Ähnlichkeits-
wahrnehmungen möglich machen, die untereinander wesentlich
durch das Verhältnis zu dem zu unterscheiden sind, was sich im Er-
scheinen verbirgt: Dieses Verhältnis kann in der qualitativen Wahr-
nehmung latent bleiben oder analog zum eigenen Selbstverhältnis
miterfasst werden. Um die aus diesen Zusammenhängen sich er-
gebenden semantischen Schwierigkeiten beim Gebrauch des Ähnlich-

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

keitsbegriffs zu umgehen, führte Spaemann den ontologischen Be-


griff der Nähe ein, dessen Spezialfall Ähnlichkeit als qualitative Nähe
ist. Ontologisch bezeichnet Nähe Sein. Das menschliche Subjekt ge-
langt zum Sein, indem es seine natürliche Zentralität transzendiert
und in der interpersonalen Begegnung zu der Zeitgestalt wird, die es
seiner natürlichen Anlage nach im Sinne einer ›offenen Form‹ immer
schon ist. 41 Ausgehend von der interpersonalen Begegnung lässt sich
der Gedanke des Zum-Sein-Kommens zunächst erweitern im Hin-
blick auf menschliche Begegnungen mit Lebewesen, die nicht den per-
sonalen Ort erreichen können. Spaemann spricht mit Bezug auf Port-
mann von einer Selbstdarstellungstendenz alles Lebendigen, 42 der die
Fähigkeit zu einem kontemplativen Verhalten entspricht, aus der im
personalen Selbstverhältnis zur eigenen Natur eine menschliche Re-
zeptivität hervorgeht, durch die die Anerkennung von Selbstsein bei
Lebewesen aller Art – und in der theoretischen Fortführung des
Gedankens bei allem Seienden überhaupt – möglich wird. Auch wenn
in solchen Begegnungen – ebenso wie in der ästhetischen Wahrneh-
mung – keine interpersonale Reziprozität erreicht werden kann, han-
delt es sich in ihnen um Akte der Selbsttranszendenz, die Seinswahr-
nehmung und damit das Zum-Sein-Kommen ermöglichen, das sich
in einem ausgezeichneten Sinn in der interpersonalen Begegnung er-
eignet. Für die Verallgemeinerung der Spaemann’schen Ontologie ist
aber noch wichtiger als der menschliche Blick auf andere Lebewesen
und Seiendes die Frage nach der Möglichkeit von Begegnung in der
außermenschlichen Welt selbst. In diesem Zusammenhang sind die in
Kapitel 9 referierten Gedanken Spaemanns zum Thema ›Schönheit‹
von besonderer Bedeutung.
›Schön‹ ist keine qualitative Bestimmung, sondern ein transzen-
dentaler Begriff, der auf als So-und-So Bestimmtes bezogen werden
kann. Der Begriff bringt zum Ausdruck, dass etwas wert ist, um sei-

41
Dieser Gedanke impliziert eine ›Verlängerung‹ des aristotelischen Stoff-Form- bzw.
δύναμις-ἐνέργεια-Verhältnisses. Während bei Aristoteles die Formursache im Sinne
des Entelechie-Gedankens substanzimmanent gedacht wird, wird hier das teleologi-
sche Aussein-auf wesentlich als eine Unterbestimmtheit verstanden, die erst im Akt
der Selbsttranszendenz ›zu sich selbst‹ kommen kann. Die im menschlichen Subjekt
potentiell angelegte Zeitgestalt kann daher nicht im Sinn der aristotelischen Form-
ursache als präexistent – die Wirklichkeit geht bei Aristoteles der Möglichkeit vo-
raus –, sondern nur als ›offene Form‹ aufgefasst werden, deren konkrete Verwirk-
lichung von kontingenten Begegnungsereignissen abhängig ist.
42
Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 258.

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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung

ner selbst willen angeschaut zu werden. Schönheit ist die Weise, wie
Selbstsein sich im Erscheinen verbirgt, ihre Wahrnehmung ist also
eine Weise der Anschauung, die auf alles, was ist, bezogen werden
kann. Während ›gut‹ als zweistelliges Prädikat im Sinne des ›gut für‹
das Aussein-auf einer natürlichen Zentralität zur Voraussetzung hat,
verweist ›schön‹ als einstelliges Prädikat auf die Überwindung der
natürlichen Zentralität. Die bewusste Wahrnehmung des Schönen
ist nur im vernünftigen Transzendieren der Natur möglich. Der
transzendentale Begriff des Schönen impliziert daher eine anthropo-
zentrische Perspektive, da wir von keiner anderen Spezies wissen, die
zu einer vernünftigen Selbsttranszendenz fähig ist. Für die Schön-
heitswahrnehmung gilt daher, was für die personale Seinswahrneh-
mung gilt, dass sie jederzeit dem Verdacht der Idiosynkrasie, dem
Verdacht also, eine bloß subjektive Illusion zu sein, ausgesetzt ist.
Gerade aus dem Verdacht der Idiosynkrasie und der in ihr enthalte-
nen Selbstwidersprüchlichkeit geht jedoch die Transzendenz hervor,
die auf das Sein als Jenseits des Gedankens, auf das Selbstsein und
damit auf das Schöne geht. Die Wahrnehmung des Schönen kann
daher nicht, wie die Rede vom transzendentalen Begriff suggeriert,
als subjektive Konstitution begriffen werden, sondern ›schön‹ muss
ebenso wie ›sein‹ etwas Wirkliches bezeichnen, das unabhängig von
der subjektiven Perspektive ist. Das Denken erreicht hier zwangsläu-
fig jene Grenze, von der oben im Zusammenhang mit dem personalen
Ort bereits die Rede war, da zum ›Sein‹ wie zum ›Schönen‹ als Jenseits
des Begriffs zwar in einer Denkbewegung gelangt wurde; über diese
Grenze hinaus aber kann das Denken nicht führen, ohne sich in den
Bereich der Spekulation zu begeben. Zu den ›plausiblen Annahmen‹
in diesem Bereich, von denen Spaemann spricht 43, gehört das teleo-
logische Naturverständnis, das, wie nun gezeigt werden soll, un-
trennbar von der Annahme der Gegebenheit des Schönen auch in
der außermenschlichen Natur ist. Der zentrale Gedanke des teleolo-
gischen Denkens bei Aristoteles und ebenso in der Aktualisierung,
um die es Spaemann in seinem Gesamtwerk geht, besteht in einem

43 Vgl.: »Mir scheint, dass wir der bewusstlosen, aber katastrophalen Dialektik von
Naturalismus und Spiritualismus nur durch eine theologische Annahme entgehen,
nämlich die Annahme, dass der Naturprozess der Evolution von der gleichen Instanz
initiiert und regiert ist, die es auf die Erzeugung geistbegabter Wesen abgesehen hat.
Wer diese extrem plausible Annahme nicht machen will, der kann vernünftigerweise
nur beim Dualismus bleiben.« – Spaemann, Hirnforschung und Willensfreiheit
(2009), 164.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Aussein-auf, das nicht auf bloße Selbsterhaltung, sondern auf Selbst-


transzendenz zielt. Aristoteles hatte dieses Aussein-auf in letzter
Konsequenz als Streben nach Teilhabe – μέθεξις – am Göttlichen
verstanden. Oben wurde dargelegt, dass in Spaemanns Aktualisie-
rung des aristotelischen Denkens die in der interpersonalen Begeg-
nung sich ereignende Repräsentation des Bildes als eine Säkularisie-
rung jener repraesentatio des Göttlichen verstanden werden kann.
Der Gedanke der Repräsentation des Bildes lässt sich nun aus dem
Bereich der interpersonalen Begegnung auch auf die außermensch-
liche Natur übertragen, indem den natürlichen Einzelwesen in ihrem
Aussein-auf eine Tendenz zur Selbstdarstellung zugesprochen wird,
die aus einem in der Natur wirkenden ›Apriori der Schönheit‹ 44 er-
klärt wird. Das Apriori der Schönheit bezeichnet den Mehrwert des
Ausseins-auf, durch den dieses über das Streben der Selbsterhaltung
hinausgeht und in den Einzelwesen die Tendenz bewirkt, sich in
ihrem Selbstsein, das nicht in qualitativen Bestimmungen aufgeht,
zu zeigen. Die Annahme der Gegebenheit des Schönen in der Natur
erlaubt es, analog zur Repräsentation des Bildes auf der personalen
Ebene in der außermenschlichen Welt die aristotelische Vorstellung
des Teilhabestrebens durch ein Begegnungsgeschehen zwischen le-
bendigen Wesen zu konkretisieren. An die Stelle der aristotelischen
repraesentatio eines transzendenten Gottes tritt dann ein nicht völlig
auf die Selbsterhaltungsfunktionalität reduzierbares Streben nach
Selbstdarstellung, dem schon innerweltlich – unter Ausblendung der
Frage nach Gott – eine Rezeptivität anderer Lebewesen, die Fähigkeit
zu einem kontemplativen Verhalten bzw. ein Schönheitssinn, ent-
gegenkommt. Damit ist zugleich unterstellt, dass auch außermensch-
liche Lebewesen über die Fähigkeit zu einer Seinswahrnehmung ver-
fügen, die, auch wenn sie sich mit biologischen Funktionen verbindet,
einen nicht funktionalistisch interpretierbaren Überschuss enthält.
Das teleologische Selbstverständnis des Menschen ist letztlich nur
haltbar, wenn solchermaßen analoge Annahmen für den Bereich der
Natur gemacht werden. Die Annahme eines ›Schönheitssinnes‹ 45 in
der außermenschlichen Natur, für die sich durchaus biologische Fak-
ten anführen lassen, gehört daher ebenso zu den erwähnten plausi-
blen Annahmen, die prinzipiell nicht beweisbar sein können. 46 Räumt

44
Vgl. Spaemann, Schönheit und Zweckmäßigkeit in der Natur (2004), 260.
45 Vgl. Ebd. 266.
46
Vgl. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 687–689.

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12.1.2 Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung

man diese Annahme ein, lässt sich der Begriff der Begegnung als
ontologischer Grundbegriff in dem von Spaemann mit dem Begriff
der Nähe angedeuteten systematischen Rahmen ausweisen.
Nähe ist, wie oben gesehen wurde, 47 wesentlich ein relationaler
Begriff. Von Nähe kann nur die Rede sein, wenn von einer Pluralität
von Entitäten gesprochen wird, die zueinander in einem Verhältnis
stehen. Nähe als Ent-Fernung ist zudem ein relativer Begriff. Es gibt
Grade der Nähe. Wenn Nähe ontologisch als Sein verstanden wird, ist
offenbar ein erreichbares Maximum an Nähe gemeint, wobei wieder-
um die Rede sein muss von einer maximalen Nähe einer Pluralität
von Entitäten. Der Begriff der Begegnung scheint mir daher geeignet,
den Fluchtpunkt zu bezeichnen, auf den der relative Begriff der Nähe
selbst ausgerichtet ist. Zudem scheint mir die Semantik von Begeg-
nung eher als die von Nähe die wesentliche Pluralität der Entitäten,
von denen in ihr die Rede ist, zu vergegenwärtigen. Nun ist die Rede
von der Begegnung – ebenso wie die von der Nähe – unvermeidbar
durch einen Anthropomorphismus gekennzeichnet, da der in beiden
Begriffen implizierte relationale Gedanke nur von selbstbewussten
Lebewesen, genau genommen nur von Personen, die über die Indexi-
kalität ihres Soseins hinaus sind, gedacht werden kann. In Bezug auf
außermenschliches Leben von Einzelwesen bzw. distinkten Entitäten
zu sprechen ist im Grunde nicht angemessen, da so bereits ein Per-
spektivensynkretismus stattgefunden hat: Als diskrete Entität ist das
Lebewesen nicht sich, sondern nur uns gegeben. Die scheinbare Not-
wendigkeit, im Denken des Begegnungsgeschehens von distinkten
Einzelwesen auszugehen, verdeckt daher die eigentlichen Zusam-
menhänge. So wenig, wie wir uns in ein nicht vom Subjekt ausgehen-
des Denken hineinversetzen können, so wenig auch in eine bloße
natürliche Zentralität. Über beide können wir überhaupt nur an-
gemessen durch die begleitende Reflexion auf die Unangemessenheit
unserer Begriffe für die Objekte unserer Rede sprechen. Solche Aus-
sagen würden sinnlos, wenn es nicht dennoch plausibel wäre, etwa die
Worte ›Schmerz‹ und ›Lust‹ auch auf andere Lebewesen anzuwen-
den, 48 auch wenn wir niemals wissen werden, wie es ist, ein solches

47 Vgl. Einleitung zu Kapitel 9, Zur Verallgemeinerung der Ontologie der Person:


Nähe als Ent-Fernung, 651–667.
48 Vgl.: »Um zu wissen, wie es ist, etwas zu fühlen, muß man es fühlen. Man kann es

wesentlich nicht ›von außen‹ wissen. Aber da wir imstande sind, unsere eigene Inner-
lichkeit, unser eigenes Erleben als Erinnertes zu objektivieren, können wir es unter
dem Gesichtspunkt der Ähnlichkeit mit anderem Erleben und infolgedessen auch mit

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Lebewesen zu sein. Es gibt nur die sehr plausible Annahme, dass es


irgendwie ist, ein solches Lebewesen zu sein, wovon wir wiederum
nur aus der Selbsterfahrung wissen können. Über diese hinaus gelan-
gen wir nur per viam negationis, über die begleitende Reflexion also,
dass Leben für uns bewusstes Leben abzüglich des Bewusstseins ist.
Trotz dieser prinzipiellen erkenntnistheoretischen Einschränkung
bleibt es eine plausible Annahme, dass auch außermenschliche Lebe-
wesen eine Nicht-Identität empfinden, dass sie auf eine Weise, die wir
nicht nachvollziehen können, die ontologische Differenz zwischen
Sosein und Dasein, die sich in dem teleologischen Aussein-auf äu-
ßert, empfinden. Uns kann diese Differenz in ihnen nur gegeben sein
in Gestalt von Lebensregungen – der Selbstdarstellung und seiner
Wahrnehmung –, die sich nicht restlos funktionalistisch interpretie-
ren lassen. Der ontologische Gedanke der Begegnung bedeutet in die-
ser Verallgemeinerung, dass Lebewesen in ihrem Aussein-auf-Sein
nicht durch bloßes Selbsterhaltungsstreben an ihr Ziel gelangen, son-
dern durch das Streben nach einer der jeweiligen Ausprägung ihrer
Nicht-Identität angemessenen spezifischen Form des ›guten Lebens‹,
dessen Spezifizierung von spezifischen, uns unzugänglichen Seins-
wahrnehmungen abhängt. Somit kann die Begegnung, die uns nur
als interpersonale direkt zugänglich ist, zugleich als ontologischer
Grundbegriff aufgefasst werden, der uns das teleologisch verstandene
Sein auch unabhängig von seiner reflexiven Wendung auf sich selbst
in uns begreifen lässt.

dem Erleben eines anderen Wesens kommensurabel machen. Die Worte ›Schmerz‹
und ›Lust‹, angewendet auf andere Lebewesen, sind nicht pure Äquivokationen. Be-
stimmte Verhaltensweisen dieser Lebewesen werden uns mit Hilfe dieser Begriffe
verständlicher als auf jede andere Weise.« – Spaemann, Personen (1996), 135.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum
›Urphänomen‹ der Begegnung

In Spaemanns Philosophie hat die Begegnung, wie im achten Kapitel


gezeigt wurde, ihren eigentlichen Ort in dem, was er selbst in Anleh-
nung an Hilary Putnam als metaphysischen Realismus bezeichnet.
Dieser Titel unterstreicht den problematischen Status, der somit auch
dem Begriff der Begegnung in der metaphysikkritischen bis -feindli-
chen Gegenwartsphilosophie zukommt. Der Grundgedanke des me-
taphysischen Realismus besteht darin, dass das Verhältnis der An-
erkennung, in dem allein einem Subjekt das Selbstsein anderer
Subjekte gegeben sein kann, der paradigmatische Fall unseres Ver-
hältnisses zur Wirklichkeit ist, aus dem sich die Bedingungen ihrer
Erkennbarkeit ableiten lassen: 1 »Sein ist nämlich überhaupt kein Be-
griff, sondern das Korrelat eines Aktes der Anerkennung.« 2 Empi-
risch kann uns das Selbstsein der Anderen per definitionem so wenig
gegeben sein wie umgekehrt unseres den Anderen. Innen- und Au-
ßenperspektive sind vom empirischen Beobachterstandpunkt aus
nicht vermittelbar. Personale Sinnzusammenhänge stehen prinzipiell
unter Idiosynkrasie-Verdacht. Wenn überhaupt von einer Vermitt-
lung die Rede sein könnte, dann geschähe diese in Akten der Selbst-
transzendenz, die sich wiederum der begrifflichen Erfassung entzie-
hen. Die Grundthese der Philosophie der Begegnung ist dagegen, dass
eine Vermittlung zwischen der Innen- und der Außenperspektive
denkbar ist. Der zweite Teil dieser Arbeit war in letzter Konsequenz
der Begründung dieser These durch die Ontologie der Personen, die
ihr Sein in der Begegnung haben, gewidmet. Diese Ontologie bedurf-
te dabei einerseits einer naturteleologischen Fundierung im Phäno-
men des Ausseins-auf und andererseits einer historischen Fundie-
rung im Ereignis der Entdeckung des apriorischen Beziehungsraums.
Die Begegnung der Personen erwies sich so als ein im doppelten Sinn
– im naturphilosophischen und im geschichtsphilosophischen – von
einem ›Urphänomen‹ der Begegnung abgeleiteter Fall. Die abschlie-
ßenden Überlegungen sind nun der Frage gewidmet, ob eine Betrach-

1 Vgl. Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 195.


2
Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt« (2010), 42.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

tung des Ereignisses der Begegnung schlechthin unter Ausblendung


personenontologischer Spezifikationen möglich ist.
Wenn nach dem ›Urphänomen‹ der Begegnung gefragt wird,
muss zurückgegangen werden auf die Sachen selbst, die sich begeg-
nen, und zwar durch die Beschränkung auf eine Grundkonstellation,
in der nur die notwendigen Elemente und Beziehungen im Sachver-
halt der Begegnung betrachtet werden. Im folgenden Gedankengang
sollen die sich Begegnenden in äußerster Verallgemeinerung ›Entitä-
ten‹ genannt werden. Der Begriff ›begegnen‹ setzt im Sinne von ›ob-
viam venire‹ 3 mindestens zwei Entitäten voraus, die zusätzlich auf den
Standpunkt eines Betrachters angewiesen sind, damit von Begegnung
die Rede sein kann. Die Dreiheit in dieser Minimalkonstellation ist
notwendig, da der Gedanke zweier Entitäten, die keinem Betrachter
gegeben wären, zur Aufhebung ihrer Identitäten in einer einzigen
führen müsste. A kann sich nur als A gegeben sein, indem es sich von
Nicht-A unterscheidet, wie B sich nur als B gegeben sein kann, indem
es sich von Nicht-B unterscheidet. Wenn jedoch Nicht-B gleich A und
Nicht-A gleich B, bilden beide eine sich ausdifferenzierende Einheit.
Erst wenn Nicht-B gleich C ist, kann C sich als C gegeben sein, indem
es sich von Nicht-C unterscheidet, für das dann A eingesetzt werden
kann, womit sich ein Dreieck ergibt, in dem diskrete Entitäten denkbar
werden. 4 Darüber hinaus muss vom Standpunkt des Betrachters aus
eine Bewegung gedacht werden. Da Bewegung relativ ist, die Entitäten
also wechselseitig sich selbst als ruhend und die anderen als bewegt
denken können, muss der Betrachter in Bezug auf den antizipierten
Ort der Begegnung als ruhend vorgestellt werden, damit er die Bewe-

3 Vgl. Grimm, Deutsches Wörterbuch I, col. 1283–1284.


4 Diese Darstellung der Minimalkonstellation als Dreiheit ist angeregt von Pavel Flo-
renskijs Überlegung über das Identitätsgesetz im Zweiten Brief »Der Zweifel« aus
»Der Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit«. Florenskij zeigt dort, dass die formale
Selbstidentität A = A nur überschritten werden kann durch den paradoxen Gedanken
A = Nicht-A, den er in die Form A = B überträgt. Da so A und B aber identisch wären,
führt er drittens C ein: »Чрезъ В кругъ можетъ замкнуться, ибо въ его ›дру-
гомъ‹, – въ ›не-В‹, – А находитъ себя, какъ А. Въ Б переставая быть А, А отъ
другого, но не отъ того, которому приравнивается, т. е. отъ В, опосредствова-
но получаетъ себя, но уже ›доказаннымъ‹, уже установленнымъ.« – Floren-
skij, Stolp i utverždenie istiny, I, 48. – Deutsch: »In C kann der Kreis sich schließen,
denn in seinem ›anderen‹ – im ›Nicht-C‹ – findet A sich als A. Indem es in B aufhört,
A zu sein, empfängt A von einem anderen – aber nicht von dem, dem es gleichgesetzt
wird –, d. h. von C, mittelbar sich selbst, aber als ein schon ›Erwiesenes‹, schon Be-
stimmtes.« (Übersetzung: MM)

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

gung zweier Entitäten aufeinander zu wahrnehmen kann. Als Grund-


konstellation ist also die Wahrnehmung zweier diskreter Entitäten
festzuhalten, die sich auf den Fixpunkt der Begegnung zubewegen.
Diese Grundkonstellation bildet in äußerster Abstraktion ab,
worum es Spaemann in seiner Ontologie der Person geht. Da es nach
seiner Überzeugung keine einzelne Person geben kann, müssen also
mindestens zwei numerisch verschiedene Personen gedacht werden.
Jemanden oder sich selbst als Person wahrzunehmen, bedeutet nach
Spaemann jedoch gleichzeitig, den apriorischen Beziehungsraum der
Personen wahrzunehmen, 5 durch den analog zur dargelegten Grund-
konstellation eine vermittelnde Instanz hinzukommt und sich eine
Dreiheit als kleinste denkbare personale Konstellation ergibt. Die Be-
gegnung im apriorischen Beziehungsraum muss für Personen freilich
nicht an eine physische Bewegung geknüpft sein. Zwar gilt für
menschliche Personen als ›Haben einer Natur‹, dass sie unauflöslich
an ihre φύσις gebunden sind; durch kulturelle Vermittlungsebenen
können Begegnungsereignisse aber für Personen fast gänzlich vom
Gedanken physischer Bewegung abgelöst werden. Die Frage aller-
dings, inwiefern es somit ›geistige‹ Bewegungen gibt, die für Per-
sonen an die Stelle der physischen treten können, und was unter die-
sen genau zu verstehen ist, soll zunächst zurückgestellt werden. Auf
sie wird gegen Ende dieser Überlegungen zurückzukommen sein.
Hier soll zunächst der Versuch unternommen werden, von der uns
vertrauten Begegnung der Personen zurückzugehen auf die beschrie-
bene Grundkonstellation, um von ihr aus den Zugang zum Urphäno-
men der Begegnung zu finden.
Gegen diese Idee des Rückgangs auf eine Grundkonstellation
lassen sich naheliegende Einwände anführen. Können wir überhaupt
von ›diskreten Entitäten‹ sprechen und dabei meinen, etwas außer-
halb von uns Existierendes zu bezeichnen? Spaemann selbst setzte
sich mit dieser Frage in »Wirklichkeit als Anthropomorphismus« aus-
einander:
Nietzsche war wohl der erste, der darauf hinwies, dass auch die Idee
solcher Einheiten, also die Idee von Dingen, ein Anthropomorphismus
ist. Wir sind es, die sich als Einheiten erleben, als Einheiten, die über
die Zeit hinweg ihre Identität bewahren. Wir erleben uns als Subjekte
des Wollens und Handelns, die für ihre Handlungen Verantwortung
tragen. Kinder schlagen den Tisch, wenn sie sich an ihm gestoßen

5
Vgl. Spaemann, Personen (1996), 196.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

haben. Aber wir tun dies in gewisser Weise alle, solange wir überhaupt
von Dingen reden. Der Gedanke des Seins von Etwas ist unzertrenn-
lich von dem Gedanken der Identität dessen, was ist. Und genau dieser
Gedanke ist, wie Nietzsche meinte, ein fundamentaler Anthropomor-
phismus. 6
Die vermeintlichen Entitäten wären also etwas aus einer Mannigfal-
tigkeit Zusammengesetztes, dessen Elemente sich im Austausch mit
der Umwelt befinden, wobei nur wir dieses Zusammengesetzte zu
einer Einheit synthetisieren. Was für die Existenz diskreter Entitäten
gilt, gilt a fortiori für die Vorstellung einer Bewegung dieser Entitä-
ten in Raum und Zeit: »Wirkliche Bewegung kann nur verstanden
werden, wenn wir ihr einen conatus, ein Streben zugrunde legen.
Aber was Streben heißt, wissen wir wieder nur aus unserer Selbst-
erfahrung. Wenn wir diese nicht ins Spiel bringen, dringen wir nicht
bis zur Wirklichkeit der Bewegung vor.« 7 Zieht man von der Be-
wegung unseren aus der Selbsterfahrung gewonnenen Begriff des
Strebens ab, bleibt eine mechanische Sukzession von Raum-Zeit-
stellen, die, wie Spaemann bemerkt, dem wissenschaftlichen Begriff
der Bewegung entspricht:
Der neuzeitlichen Physik ist es gelungen, Bewegung mit Hilfe der In-
finitesimalrechnung zu vergegenständlichen […], indem sie die Bewe-
gung in eine unendliche Zahl eng beieinander liegender Ruhezustände
zerlegt. Was Bewegung ist, ist damit allerdings nicht verstanden. Die
Bewegung wird zwar berechenbar, sie wird zu einem Gegenstand ma-
thematischer Naturwissenschaft, aber nur um den Preis, dass das Phä-
nomen der Bewegung als solches eliminiert wird. Leibniz, einer der
beiden Erfinder der Infinitesimalrechnung, hat das genau gewusst:
Die physikalische Vergegenständlichung der Bewegung hat nur ein
Konstrukt zum Gegenstand. 8
Von einer Grundkonstellation diskreter Entitäten und ihrer Bewe-
gung in Raum und Zeit zu sprechen bedeutet somit schon, von der
anthropomorphistischen Voraussetzung auszugehen, dass unsere
Perspektive auf die Welt wahrheitsfähig ist und also nicht nur etwas
über uns selbst, sondern etwas über die Welt auszusagen vermag. Die
damit vorausgesetzte Ähnlichkeit zwischen uns und der betrachteten
Welt aber wird in den neuzeitlichen Naturwissenschaften prinzipiell

6
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 204.
7 Ebd. 203.
8
Ebd.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

bestritten. Die Auseinandersetzung mit dem Anthropomorphismus-


vorwurf hat Spaemann in der Art geführt, dass er im Bewusstsein der
prinzipiellen Unbeweisbarkeit der in einer anthropomorphen Welt-
sicht vorausgesetzten Ähnlichkeit unserer selbst mit der Welt die an-
thropozentrische Gegenthese durch eine reductio ad absurdum aus-
hebelt. Der Mensch wird sich in der letzten Konsequenz der
anthropozentrischen Weltsicht der Naturwissenschaften selbst zum
Anthropomorphismus und muss den Intellekt, der ihn zu diesem
Schluss geführt hat, zumindest theoretisch von seinem natürlichen
Substrat ablösen, was praktisch nur möglich wäre in der Abschaffung
des Menschen und seiner Ersetzung durch künstliche Intelligenz.
Dem erkenntnistheoretischen Einwand der Wissenschaften wird
durch diese reductio ein anthropologisches Argument entgegen-
gestellt. Zwischen beiden Positionen – zwischen Anthropomorphis-
mus und Anthropozentrismus – ergibt sich ein argumentatives Patt,
in dem sich aufgrund der angedeuteten nihilistischen Konsequenz der
Gegenposition die Beweislast umkehren lässt. Nicht die Philosophie
muss demnach beweisen, dass es Entitäten und aus einem Streben
hervorgehende Bewegung in der Welt gibt, sondern die Wissenschaf-
ten müssen den Gegenbeweis führen, dass es beides nicht geben
kann. Ganz abgesehen von der Selbstwidersprüchlichkeit einer sol-
chen Beweisführung durch menschliche Subjekte ist das Erbringen
eines solchen Gegenbeweises jedoch nicht absehbar, weswegen hier
an der aus der Selbsterfahrung abgeleiteten Grundkonstellation von
diskreten Entitäten und ihrer Bewegung festgehalten wird.
In der weiteren Betrachtung dieser Grundkonstellation soll ein
Gedankenexperiment durchgeführt werden, das Bezug nimmt auf die
den dritten Teil der vorliegenden Arbeit einleitenden Überlegungen
über die Geschichte der Perspektive und ihre Bedeutung für die Phi-
losophie. Zunächst soll die Struktur dieses Gedankenexperiments er-
läutert werden. Da den diskreten Entitäten, von denen die Rede sein
wird, die Fähigkeit zu einer Bewegung aus einem inneren Streben
heraus zugestanden werden soll, stellt sich die prinzipielle Frage nach
der Perspektive des Betrachters auf diese Entitäten und ihre Bewe-
gung. Der Ausgang des Denkens von einem Subjekt der Erkenntnis,
dem eine Welt der Objekte gegenständlich gegeben ist, führt notwen-
digerweise zur Wahrnehmung der Bewegung diskreter Entitäten als
mechanische Sukzession von Raum-Zeitstellen, da ihr Streben als in-
nerliches Geschehen dem Subjekt der Erkenntnis nicht unmittelbar
gegeben sein kann. Da aus dieser Perspektive auf die beschriebene

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Grundkonstellation auch eine Begegnung von Entitäten nur als Inter-


ferenz mechanischer Prozesse wahrnehmbar wäre, es hier aber nicht
um die kritische Auseinandersetzung mit dem subjektphilosophi-
schen Ansatz und um die Korrektur der künstlich aus den Lebensvoll-
zügen des Subjekts isolierten Perspektive 9 geht, soll in dem Gedan-
kenexperiment der hypothetische Versuch unternommen werden,
hinter die in der perspectiva artificialis fundierte subjektphilosophi-
sche Ausgangsposition zurück auf die perspectiva naturalis zu gehen
und die Grundkonstellation der Begegnung diskreter Entitäten von
diesem Standpunkt aus zu betrachten. Was dieser Rückgang bedeutet,
bedarf zunächst einer näheren Erläuterung. Das Gedankenexperi-
ment geht von der Feststellung aus, dass es vor der Entdeckung der
Zentralperspektive bereits ihrerseits perspektivische Weisen gab, die
menschliche Wahrnehmung der Welt zu symbolisieren, wovon bei-
spielsweise überwiegend indirekte Zeugnisse antiker Malerei oder die
Kunst der Ikone zeugen. Auch wenn bildliche Darstellungen aus die-
ser Zeit Ausdruck einer Weltsicht sein mögen, in die wir uns nicht
mehr hineinzuversetzen imstande sind, so können diese Darstellun-
gen selbst doch als Dokumente untersucht werden, in deren Betrach-
tung bei dem begleitenden Bewusstsein der Unangemessenheit un-
serer Sichtweise Gestaltungsprinzipien erkennbar werden, die wir
im Sinne der gemachten Einschränkung indirekt verstehen können.
So lassen sich etwa Verletzungen zentralperspektivischer Gesetze in
der Ikonenmalerei bei dem begleitenden Bewusstsein, dass es ihren
Malern nicht um diese Gesetze ging, als Ausdruck der Absicht ver-
stehen, durch das gleichzeitige Zeigen mehrerer Seiten von Gegen-
ständen oder Personen eine Pluralität von Sichtweisen in einer sym-
bolischen Darstellung zu synthetisieren. Analog zu einer solchen
Betrachtung symbolischer Darstellungen aus der Zeit vor der Ent-
deckung der Zentralperspektive, so die Idee des Gedankenexperi-
ments, kann auch der Versuch unternommen werden, die Grundkon-
stellation der Begegnung von einem Standpunkt aus zu betrachten,
der der Entdeckung des modernen Subjekts voraufliegt. Hypothetisch
ist an diesem Experiment nur, dass die Perspektive, um die es in ihm
geht, nach der Entdeckung des Ausgangs des Denkens vom Subjekt

9 Vgl. die Ausführungen zu dem Satz aus »Personen«: »Es handelt sich bei einem
solchen Ausgang vom ›Subjekt‹ um die Rekonstruktion einer Wirklichkeit, die tat-
sächlich der Subjektivität immer schon vorausliegt.« – S. Abschnitt 12.1.1, Retrospek-
tive auf die ›Geschichte und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

unwiederbringlich verloren ist. Seine Hypothetizität relativiert sich


aber dadurch, dass es gute Gründe auch für das moderne Subjekt gibt,
die historische Tatsache einer der eigenen Weltsicht voraufgehenden
Perspektive anzuerkennen. Ein Experiment bleibt es aber im Wesent-
lichen deshalb, weil der uns im erläuterten Sinn nur indirekt zugäng-
liche Sachverhalt zuerst rekonstruiert werden muss. Abgesehen vom
Problem der Perspektivierung besteht die Schwierigkeit der Durch-
führung also in der Rekonstruktion einer Minimalkonstellation, die
den Anspruch erheben kann, für das Urphänomen einzustehen.
Nachdem somit zur Struktur des Gedankenexperiments das Notwen-
dige gesagt wurde, soll noch eine Bemerkung dazu gemacht werden,
welches Ziel mit ihm verfolgt wird. In dem Gedankenexperiment
geht es um einen Sachverhalt, der uns einerseits als Urphänomen
nur indirekt wahrnehmbar sein kann, der andererseits aber, wenn
man von seiner ursprünglichen Gegebenheit ausgeht, in verwandel-
ter Form fortbestehen muss und dann Kriterien für die Angemessen-
heit unserer Wahrnehmung selbst enthält. Der Sinn des Gedanken-
experimentes besteht darin, dass ausgehend von der hypothetischen
Erfassung des Sachverhalts der Begegnung als Urphänomen seine
subjektphilosophische Transformation, von der oben die Rede war, 10
kritisch geprüft und nach einer möglichen Alternative zu dieser
Transformation der ursprünglichen Sicht gefragt werden kann. Auf
diese Weise könnte der umgekehrten Perspektive, von der in der Phi-
losophie der Begegnung die Rede war, ein hypothetisches Fundament
geschaffen werden, dessen Hypothetizität aufgrund seiner Fundie-
rung in der conditio humana keinen Mangel der Argumentation be-
deuten würde.
Wie müsste sich die eingangs beschriebene Grundkonstellation
also vom Standpunkt der Betrachtung in der perspectiva naturalis
zeigen? Bei den diskreten Entitäten handelt es sich weder um Gegen-
stände für ein Subjekt noch selbst um Bewusstseinssubjekte, sondern
um Wesen, die auf etwas aus sind, um Entitäten im Sinne von ›Es-ist-
zu-sein-Zuständen‹. Für solche Entitäten ist kennzeichnend, dass sie
eine vom Trieb hervorgebrachte doppelte Differenz kennen, die als
Innen-Außen-Differenz Raum- und als Differenz zwischen Schon

10
Vgl. den Rückblick auf die kritische Auseinandersetzung Spaemanns mit dem sub-
jektphilosophischen Ansatz in Abschnitt 12.1.1, Retrospektive auf die ›Geschichte
und Wiederentdeckung des teleologischen Denkens‹, 873–875.

895

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

und Noch-nicht Zeitwahrnehmung ermöglicht. 11 Wie ist solchen We-


sen nun eine andere Entität gegeben? Die andere Entität ist etwas im
Raum, zu dem ein zeitlich als Noch-nicht bestimmtes Verhältnis be-
stehen kann, ohne dass sie als Entität erfasst wird. Die andere Entität
ist aus der Sicht der ersten ein Teil der in der Innen-Außen-Differenz
gegebenen Umwelt. Aus dieser Umwelt löst sich die andere Entität
für die erste zunächst als Triebobjekt heraus. 12 Das Verhältnis zwi-
schen den beiden Entitäten ist dann nicht das eines Wesens zu einem
anderen Wesen, sondern das Verhältnis selbst bleibt innerhalb der
natürlichen Zentralität dieser Wesen. Wenn damit allerdings zur
Weise der gegenseitigen Gegebenheit der Entitäten alles gesagt wäre,
müsste das Gedankenexperiment an dieser Stelle als gescheitert gel-
ten, da der konstitutive Standpunkt des Betrachters – C – im Dreieck
der Beziehung nicht denkbar wäre. Insofern nämlich die sich begeg-
nenden Entitäten für den Betrachter kein Triebobjekt sind, wären sie
für ihn nicht da. In diesem Fall wäre es nötig, den Betrachter – C – in
einer anderen Realitätssphäre anzusiedeln, womit der Übergang in
die Universalteleologie vollzogen wäre. Es muss also gezeigt werden,
dass der Betrachter – C – sich in derselben Realitätssphäre wie die sich
Begegnenden – A und B – befindet. In derselben Realitätssphäre be-
findet sich der Betrachter aber nur dann, wenn die kontemplative
Einstellung als Grenzfall des innerhalb der natürlichen Zentralität
verbleibenden Weltverhältnisses der beiden anderen Entitäten ver-
standen werden kann. Das Gedankenexperiment kann also nur fort-
geführt werden, wenn auch vom hier hypothetisch eingenommenen
Standpunkt der perspectiva naturalis aus, in der noch keine bewusste
Distanz zu den Objekten der Wahrnehmung gegeben ist, eine kon-
templative Einstellung möglich ist. Nun steht außer Frage, dass es
bereits vor der Entdeckung der Person, also vor der reflexiven Wen-
dung des Denkens auf sich selbst, die kontemplative Einstellung als

11
Vgl.: »Aussein-auf, Trieb ist die Grundstruktur des Erlebens. Durch den Trieb aber
wird eine doppelte Differenz konstruiert, die Innen-Außen-Differenz einerseits, also
eine Differenz, die die Raumwahrnehmung begründet, und eine andere, die die Zeit-
wahrnehmung begründet, die Differenz zwischen Schon und Noch-nicht, zwischen
Antizipation und dem in der Antizipation Antizipierten.« – Spaemann, Personen
(1996), 51.
12 Vgl.: »Solange das Leben im Triebhang befangen ist, solange es in der Stellung der

›Zentralität‹ bleibt, wird ihm die Welt nicht wirklich. Das Andere erscheint ihm nicht
als es selbst. Es erscheint ihm nur als Umwelt, als Triebobjekt.« – Spaemann, Glück
und Wohlwollen (1989), 119.

896

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

θεωρία gab. Diese erscheint bei Aristoteles als eine äußerste Grenze
des Spielraums menschlicher Tätigkeit jenseits von ποίησις und πρᾶ-
ξις: »Mit der Theorie, mit der denkenden Vergegenwärtigung des
Immerseienden tritt der Mensch aus dem natürlichen Lebenszusam-
menhang heraus. In diesem Heraustreten realisiert er nach Aristote-
les seine höchste Möglichkeit.« 13 Die kontemplative Einstellung wird
hier als eine dem Menschen gegebene Möglichkeit der Betätigung
gefasst, die aber noch nicht zu einer instrumentellen Verfügbarkeit
der θεωρία führt: »Indem aber Vernunft feiernd aus dem mensch-
lichen Lebenszusammenhang heraustritt, um zu vergegenwärtigen,
›was in Wahrheit ist‹ (Hegel), ist sie nicht eigentlich menschlich, son-
dern göttlich.« 14 Nach Aristoteles ragt die Vernunft von außen –
θύραθεν – in den Menschen hinein. Sie ist wesentlich Gabe. Der
Akt der Betrachtung selbst wird noch nicht reflexiv gewendet, θεω-
ρία wird noch nicht als mögliches Mittel zu einem Zweck verstanden:
Zu fragen, wozu das gut sein solle, das heißt in moderner Sprache,
worin die Praxisrelevanz philosophischer Theorie bestehe, ist für Aris-
toteles absurd: in der philosophischen Theorie vergegenwärtigen wir
uns das Ewige, setzen wir uns in Bezug zu dem, was schlechthin Sinn
hat. Jede mögliche Antwort auf die Frage nach der Praxisrelevanz der
theoria könnte nur verweisen auf etwas, das weniger Sinn hat als die
theoria selbst. 15
Erst in der Neuzeit vollzieht sich die »Emanzipation der reinen Theo-
rie in praktischer Absicht« 16, vor allem im Dienste des Interesses an
Naturbeherrschung. Wenn somit prinzipiell die Möglichkeit einer
kontemplativen Einstellung vor der reflexiven Wendung des Denkens
auf sich selbst angenommen wird, knüpft das Gedankenexperiment
an dieser Stelle an die Überlegungen aus dem vorangegangenen Ab-
schnitt an, wonach die Fähigkeit zur Seinswahrnehmung auch Men-
schen vor der Entdeckung der Person und Lebewesen ohne Selbst-
bewusstsein zugestanden wird. 17 Auch wenn die Seinswahrnehmung
für diese sich mit biologischen Funktionen verbindet, enthält sie
einen nicht funktionalistisch interpretierbaren Überschuss, der als

13 Spaemann, Glück und Wohlwollen (1989), 83.


14 Ebd.
15 Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 64.

16
Spaemann, Praktische Gewißheit (1968), 82.
17 Vgl. Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung,

884–886.

897

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

kontemplatives Moment bestimmt werden kann. Bei diesem kontem-


plativen Moment handelt es sich um den ›Schönheitssinn‹, von dem
oben gesagt wurde, 18 dass es plausibel ist, ihn in der außermensch-
lichen Natur anzunehmen. Für das Gedankenexperiment wird an die-
ser Stelle also festgehalten, dass es die Möglichkeit einer kontempla-
tiven Einstellung vom Standpunkt der perspectiva naturalis aus gibt
und der Betrachter – C – sich in derselben Realitätssphäre befindet
wie die sich begegnenden Entitäten A und B. Damit ist nicht allein
eine Aussage in Bezug auf den Betrachter im Dreieck der Beziehung
getroffen, sondern indirekt auch eine über die wechselseitige Ge-
gebenheitsweise der beiden anderen Entitäten. Zwar löst sich, wie
oben bemerkt wurde, die andere Entität für die erste zunächst als
Triebobjekt aus der Umwelt heraus. Wenn es aber dabei bliebe, wäre
die Weise wechselseitiger Gegebenheit der Entitäten rein funktional
aus ihrer natürlichen Zentralität heraus erklärbar. In diesem Fall aber
wäre nicht erklärbar, wie der Standpunkt des Interesses überwunden
und der kontemplative Standpunkt erreicht werden könnte. Mit der
Ausblendung des Interesses müsste auch die andere Entität als Trieb-
objekt verschwinden. Die bloße Möglichkeit der kontemplativen Ein-
stellung setzt voraus, dass bereits die Herauslösung einer anderen
Entität aus der eigenen Umwelt als Triebobjekt immer schon von je-
nem kontemplativen Moment begleitet ist. Der Gedanke der Begeg-
nung, das wird aus dieser Überlegung deutlich, hängt davon ab, dass
die Standpunkte des Interesses und der Kontemplation immer schon
vermittelt sein müssen. Weder die Wahrnehmung der anderen Enti-
tät als reines Triebobjekt noch die rein kontemplative Einstellung zu
ihr kann zum Ereignis der Begegnung führen. In welchem Verhältnis
die so verstandene Begegnung zur aristotelischen Konstellation der
von innen wirkenden teleologischen Formursache und der von außen
kommenden göttlichen Vernunft steht, wird weiter unten zu erörtern
sein.
Nach dieser vorläufigen Differenzierung verschiedener Weisen,
in denen die Entitäten einander gegeben sein können, soll nun der
Gedankengang weiterverfolgt werden. Die doppelte Differenz, die
mit dem Ausgang von der φύσις, von Lebewesen mit ihrem Aus-
sein-auf, gesetzt ist, bedeutet also einerseits als Innen-Außen-Diffe-
renz die immer schon von einem kontemplativen Moment begleitete

18
Abschnitt 12.1.2, Die Verbindung von Natur und Freiheit in der Begegnung, 886.

898

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

mögliche Herauslösung einer anderen Entität als Triebobjekt aus dem


Raum der eigenen Umwelt. Die Wahrnehmung als Triebobjekt ver-
weist dabei andererseits als Differenz zwischen Schon und Noch-
nicht auf die Möglichkeit einer aus dem Aussein-auf hervorgehenden
Bewegung der Entitäten in der Zeit. Weiter wurde festgestellt, dass
gegenüber einer anderen Entität auch eine kontemplative Einstellung
möglich ist, in der als Grenzfall des innerhalb der natürlichen Zen-
tralität verbleibenden Weltverhältnisses mit dem eigenen Interesse
auch der Anlass zu einer möglichen Bewegung ausgeblendet wird.
Die im Sinne des Gedankenexperiments betrachtete Grundkonstella-
tion vom Standpunkt der perspectiva naturalis lässt sich aus unserer
Perspektive also nur im Sinne der Paradoxie fassen, dass diese Sicht
lebendiges Aussein-auf ist und zugleich dessen Interesse ausblenden
kann. Paradox muss uns diese Sicht erscheinen, weil es sich scheinbar
um eine Perspektive ohne Träger handelt. Jede andere Entität ist in
dieser Sicht in das eigene Aussein-auf einbezogen, wobei das in ihm
enthaltene Interesse im Grenzfall der kontemplativen Einstellung
ganz ausgeblendet werden kann, ohne dass doch die andere Entität
in dem Sinne als Entität hervorträte, dass der Betrachter sich ihr ge-
genüber selbst als für sich existierende Entität entdeckte. 19 Aus unse-
rer Perspektive oszilliert daher die Vorstellung der Entität, um die es
in dieser Sicht geht, zwischen dem Korrelat einer Lebensregung und
dem von ihr sich lösenden Bild, ohne dass diese Loslösung vollzogen
wird. Wenn man diesen Gedanken weiter durchdenkt, folgt daraus,
dass das Aussein-auf der diskreten Entitäten nicht als ›inneres‹ Ge-
schehen verstanden werden kann, da es durch die im Trieb fundierte
Innen-Außen-Differenz bereits ›über sich hinaus‹ ist. Das natürliche
Aussein-auf zeigt sich hier als primäre unbewusste Selbsttranszen-
denz, als präreflexive Realisierung der ontologischen Differenz von
Dasein und Sosein. Im Sinne der angekündigten Reflexion auf die
unvermeidliche Unangemessenheit unserer Sichtweise im hypotheti-
schen Rückgang auf die perspectiva naturalis ergibt sich somit in Be-
zug auf den Begriff der Entität die erste Schlussfolgerung, dass die
vorausgesetzte Identitätslogik – also A = A und B = B – sich als un-
zulässige Abstraktion erweist, da die Entitäten durch ihren Umwelt-
bezug – und den Bezug auf den Standpunkt des Betrachters – mit-

19
Dies wäre das Hervortreten des ›bewandtnislosen Umwillen‹, das den Übergang in
die personale Perspektive bezeichnet. – Vgl. Spaemann, Glück und Wohlwollen
(1989), 124, u. Abschnitt 7.2.2, Amor benevolentiae, 468–469.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

einander verbunden sind. 20 Wie eingangs bemerkt worden ist, wird


erst in diesem Dreieck eine relative Identität der Entitäten denkbar,
die zugleich in einem wechselseitigen Beziehungssystem fundiert ist.
Weiter ist nun gemäß der Grundkonstellation die Frage zu stel-
len, wie die Bewegung dieser Entitäten als Voraussetzung der Begeg-
nung sich der perspectiva naturalis zeigen müsste. Nach Aristoteles
ist Bewegung »der Vollzug der Verwirklichung des seiner Möglich-
keit nach auf eine Wirklichkeit hin sich erstreckenden Seienden« 21.
Im Rahmen seines teleologischen Denkens ist Bewegung das Prinzip
der Vermittlung zwischen der Möglichkeit (δύναμις) und Wirklich-
keit (ἐνέργεια), sie ist »der Vollzug einer Einigung und eines Ganz-
werdens […], insofern die auf die Zukunft hin sich ausstreckende
Gegenwart des Möglichen dadurch ergänzt wird, daß diese Zukunft
selbst wirkliche Gegenwart und Gegenwart einer Verwirklichung
wird« 22. Die Bewegung ist somit für Aristoteles Seinsvollzug, Josef
Stallmach spricht von der »Prozeßhaftigkeit« der Verwirklichung
und bemerkt: »Darum also kann man die Kinesis ihrem Seinscharak-
ter nach weder zur Dynamis noch zur Energeia schlechthin schlagen.
Sie ist gerade das beide verbindende Zwischen, der ständige Übergang
von Noch-nicht-Sein in Sein.« 23 Damit erweist sich die Bewegung als

20 Vgl. im vorliegenden Teilkapitel, 890, Fn. 4.


21 Kaulbach, Bewegung I. Antike, in: HWPh I, col. 866. – Kaulbach verweist hier auf
die Definition der Bewegung in der »Physik« des Aristoteles: »ἡ τοῦ δυνάμει ὄντος
ἐντελέχεια, ᾗ τοιοῦτον, κίνεσίς ἐστιν«.– Physik, 201 a 10, in der deutschen Über-
setzung von Hans Günter Zekl: »Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß
der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (ent-
wickelnde) Veränderung«. – Aristoteles, Physik I–IV, 103 (kursiv im Original). –
Auf diese Definition berufen sich – mit eigener Übersetzung: »Bewegung ist die
Wirklichkeit des Möglichen als des Möglichen.« – Spaemann und Löw im Kapitel
»Die aristotelische Lehre von der Bewegung« in »Natürliche Ziele«. Sie erklären Be-
wegung hier als »Realmöglichkeit« und führen aus: »Die Bewegung als Wirklichkeit
der Möglichkeit zu fassen heißt, sie als Möglichkeit eines künftigen Zustandes zu
begreifen, der zur Definition des Gegenwärtigen gehört, und zwar als Möglichkeit:
denn es ist jedem künftigen Zustand eigentümlich, daß er nicht mit Sicherheit ein-
tritt.« – Vgl. Spaemann/Löw, Natürliche Ziele (1981; 2005), 47–48.
22 Kaulbach, Bewegung I. Antike, in: HWPh I, col. 866–867.

23 Stallmach, Dynamis und Energeia, 67. – Direkt im Anschluss an die zitierte Text-

stelle bemerkt Stallmach: »Vollends unfaßbar aber scheint es ohne die aristotelische
Voraussetzung, die sich an anderer Stelle uns noch deutlicher zeigen wird, daß Wer-
den nicht um seiner selbst willen, sondern um des (vollkommenen) Seins willen und
darum als solches immer nur Übergangssein ist.« – Ebd. – Gegenüber der so angedeu-
teten Alternative von invertierter Teleologie und Teilhabestreben soll es im hier ver-
folgten Gedankengang im Weiteren um einen dritten Weg gehen.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

im Aussein-auf der Entitäten verankert, insofern nur durch sie ihr


Zur-Wirklichkeit-Kommen sich ereignen kann. Aus der aristote-
lischen Teleologie lässt sich somit zwar eine Erklärung der Bewegung
der Entitäten ableiten; da die Wirkung der Formursachen nach Aris-
toteles aber auf die Ebene der Einzelwesen begrenzt ist und jedes We-
sen somit den Ursprung der Bewegung auf seine Verwirklichung hin
bereits in sich trägt, kann dieser Begriff der Bewegung jedoch nicht
zur Begegnung führen, um die es hier geht. Es ist daher notwendig,
an dieser Stelle die Transformation der aristotelischen Metaphysik,
von der im zweiten Teil dieser Arbeit die Rede war, 24 in den Gedan-
kengang einzubeziehen. Im Rahmen dieser Überlegung wird zugleich
die Frage erörtert, warum die Einbeziehung dieser Transformation in
das Gedankenexperiment notwendig ist, in dem doch hypothetisch
auf die perspectiva naturalis – und damit auch auf den Standpunkt
der antiken Philosophie selbst – zurückgegangen werden soll.
Die Transformation der aristotelischen Metaphysik, die in Kapi-
tel 6 besonders mit Bezug auf Thomas von Aquin nachvollzogen wur-
de, besteht im Kern darin, dass das Aristoteles vertraute Aussein-auf
als ontologische Differenz von Essenz und Existenz verstanden wur-
de. Aristotelisch gesehen gehört das Aussein-auf eines Wesens zu
seiner Essenz, insofern es nach der Verwirklichung der in ihm ange-
legten Möglichkeiten strebt. »Die ›Form‹,« so Spaemann, »die es zu
dem macht, was es ist, macht auch, daß es ist.« 25 Die ontologische
Differenz, die Aristoteles nicht gegeben war, wird erst dann eine
Denkmöglichkeit, wenn nicht nur Seiendes auf seine Möglichkeiten
hin betrachtet wird – ein Gedanke, in dem nach dem aristotelischem
Grundsatz die Wirklichkeit der Möglichkeit vorhergeht –, sondern
wenn alles Seiende selbst als nur möglich gedacht wird, so dass umge-
kehrt allem Wirklichen eine unendliche Zahl von Möglichkeiten vo-
rausgegangen ist: »Daß ein vollständig so und so bestimmtes Einzel-
nes noch einmal in einer inneren Differenz zu seinem Sein stehen,
also sein oder nicht sein kann, das ist ein Gedanke, der erst mit der
biblischen Lehre von der Schöpfung aus dem Nichts möglich wird.« 26
Wirklich wird dieser Gedanke im menschlichen Bewusstsein der Kon-
tingenz, das entstehen kann, sobald der Mensch seine personale Frei-

24 Vgl. Abschnitt 6.1.2, Der anthropologische Dualismus und seine Geschichte, 331–
341.
25 Spaemann, Personen (1996), 79.

26
Ebd. 79–80.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

heit, sein ›Haben einer Natur‹, realisiert. Das Bewusstsein der Kon-
tingenz ist das Bewusstsein der Nicht-Identität des eigenen Daseins-
vollzugs und der Gesamtheit an Bestimmungen, die aus der Innen-
und der Außenperspektive in das eigene Sosein eingehen. Für das
Kontingenzbewusstsein gilt: »Das ›forma dat esse‹ wird sozusagen
noch einmal in Klammern gesetzt.« 27 Es entsteht die Möglichkeit,
sich zur teleologischen Bestimmung der Form noch einmal zu ver-
halten. Ein wesentlicher Grundgedanke der im zweiten Teil entfalte-
ten Ontologie der Person besteht darin, dass diese ontologische Dif-
ferenz nicht als mit der Person entstanden gedacht werden kann,
sondern dass jeder Lebensvollzug – bzw. in erkenntnistheoretischer
Zuspitzung sogar jeder Seinsvollzug – eine analoge ontologische Dif-
ferenz voraussetzt. Lebewesen ohne Selbstbewusstsein bzw. Men-
schen vor der Entdeckung der Person verfügen danach ebenfalls über
die ontologische Differenz, auch wenn sie in einem solchen Maß »in
ihre ›Weise zu sein‹ versenkt« 28 sind, dass sie die Freiheit von ihrer
Natur nicht bewusst realisieren können. In Abschnitt 8.3.3 wurde
dargelegt, dass es dennoch von fundamentaler Bedeutung ist, dass da
etwas in seine Weise zu sein versenkt ist und dass das Leben nicht mit
der von seinem Vollzug ablösbaren Weise zu sein gleichgesetzt wer-
den kann. 29 Daraus ergibt sich bemerkenswerterweise, dass die Trans-
formation der aristotelischen Metaphysik sich nicht allein auf die
Aristoteles unbekannte Person in ihrer ontologischen Differenz be-
zieht, sondern dass diese Differenz, die Aristoteles nicht gegeben war,
da er über keinen Standpunkt gegenüber der Natur verfügte, zurück-
bezogen werden muss auf alles Lebendige bzw. auf alles Seiende über-
haupt, also auch gerade auf die Naturdinge, die Thema der aristo-
telischen Substanzontologie sind. Im Hinblick auf nichtpersonale
Lebewesen handelt es sich dabei um eine Korrektur der aristote-
lischen Sicht, die praktisch nur marginale Auswirkungen hat, theo-
retisch aber um so bedeutender ist. Das Verständnis des Ausseins-auf
auch nichtpersonaler Lebewesen als ontologische Differenz von Es-
senz und Existenz, also die Verknüpfung ihrer Essenz mit einem
Moment erlebter Kontingenz, bedeutet theoretisch, dass in die aris-
totelische Formursache ein Moment der Offenheit hineingenommen

27 Spaemann, Personen (1996), 80.


28
Ebd. 81.
29 Vgl. Abschnitt 8.3.3, Der philosophische Personbegriff: Teleologie und Persona-

lität, 590–591.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

wird, dass die »Form, die lebend sich entwickelt« 30, nicht vollständig
geprägt sein kann. Wenn das teleologische Aussein-auf in diesem
Sinn als Präformation der im personalen Daseinsvollzug bewusst
werdenden ontologischen Differenz gefasst wird, die die Person als
›Haben einer Natur‹ erlebt, ergibt sich eine abgestufte Offenheit te-
leologisch verfasster Wesen, zu deren zu verwirklichender Form es
gehört, eine Offenheit für Begegnendes zu haben. Die ontologische
Bedeutung der Begegnung besteht dann unabhängig von den Stufun-
gen der Offenheit prinzipiell darin, dass sich durch sie kontingente
Räume der Selbstkomposition des Seins eröffnen. Dabei ist mit dieser
Transformation der aristotelischen Teleologie keineswegs ein Schritt
in Richtung universalteleologischer Vorstellungen getan. Der onto-
logische Gedanke der Begegnung beinhaltet vielmehr eine Einschrän-
kung der individualteleologischen Vorstellung des Aristoteles, aber
keine Anleihe beim Gedanken der Welt als ökologisches System. 31
Dagegen ist mit diesem Gedanken sehr wohl eine Modifikation des
aristotelischen Teilhabestrebens verbunden, denn der finis cuius ist –
in Abstufungen – innerweltlich auf Begegnendes bezogen. Das Unbe-
dingte ist nicht ausschließlich ein transzendentes Prinzip – der unbe-
wegte Beweger –, sondern erscheint innerweltlich in der Weise des
Bildes. An dieser Stelle nun werden die Gedanken eingeholt, die oben
zur Erklärung des Sachverhalts vorangeschickt werden mussten, dass
in der Grundkonstellation der Betrachtung sich begegnender diskre-
ter Entitäten vom Nebeneinander der Standpunkte des Interesses und
der Kontemplation und ihrer wechselseitigen Durchdringung aus-
gegangen werden muss. Im Sinne der Fundierung der kontemplativen
Einstellung in der von außen kommenden Vernunft ergab sich bei
Aristoteles eine strikte Trennung zwischen dem ζῷον λόγον ἔχον
und allen übrigen Lebewesen; während diese durch ihre immanente
Formursache geprägt werden, sind jene zur reinen Schau der Prinzi-
pien und Ursachen des Seins in der Lage. Für die Begegnung, die, wie
gesehen, als eine Vermittlung der Haltungen des Interesses und der
Kontemplation gedacht werden muss, war in dieser Lehre kein Platz.
Durch die Transformation der aristotelischen Metaphysik im Sinne

30 Vgl. »Urworte, orphisch. ΔΑΙΜΩΝ, Dämon«, in: Goethe, Werke (HA), Bd. 1,
359.
31 Von dieser Transformation der aristotelischen Teleologie ausgehend ließe sich auch

der von Aristoteles vertretene Gedanke der Ewigkeit der Arten korrigieren, so dass
eine Annäherung des teleologischen Denkens an Erkenntnisse der Biologie möglich
würde.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

der Deutung des teleologischen Ausseins-auf als ontologische Diffe-


renz von Essenz und Existenz, die sich im Gedanken der Offenheit
der Form konkretisiert, wird ein in der Natur wirkendes Apriori der
Schönheit denkbar, durch das die strikte Trennung zwischen dem
Menschen und anderen Lebewesen aufgehoben wird und das Ereignis
der Begegnung eine ontologische Bedeutung erhalten kann. Die mög-
liche Frage nach dem Ursprung dieses Apriori, nach der Kraft, die
noch in der Offenheit der Form wirkt, führt über die Möglichkeiten
philosophischer Reflexion hinaus in den Bereich religiöser Spekula-
tion. Wie oben festgestellt wurde, 32 folgt aus der Annahme einer uni-
versalen ontologischen Differenz, dass, wenn es irgendwie ist, eine
Fledermaus zu sein, Gott existiert. Über den bloßen Verweis auf ein
vorausgesetztes Absolutes ist aber in der philosophischen Reflexion
nicht hinauszugelangen.
Damit kann nun zum Gedankenexperiment, zur Betrachtung der
Grundkonstellation der sich begegnenden Entitäten in der perspectiva
naturalis, zurückgekehrt und der Gedankengang abgeschlossen wer-
den. Es wurde festgehalten, dass unter den diskreten Entitäten etwas
verstanden werden muss, das sich unserer Perspektive zwangsläufig
entzieht, eine zwischen dem Korrelat einer Lebensregung und dem
aus ihr sich ablösenden Bild oszillierende Vorstellung, in der das
Dreieck der Beziehung bereits impliziert ist. Die Bewegung der Enti-
täten kann im Sinne des aristotelischen Begriffs der Bewegung als
Seinsvollzug verstanden werden, wobei allerdings im Sinne der onto-
logischen Differenz von Essenz und Existenz eine Unterdeterminiert-
heit angenommen wird, die einen Spielraum eröffnet für das von
Spaemann korrelativ als Selbstdarstellungstrieb und Schönheitssinn
beschriebene Wirken des Apriori der Schönheit in der Natur. Wie
auch immer diese Wirkungen sich mit biologischen Funktionen der
Selbst- und Arterhaltung verbinden mögen, kommt in ihnen – so der
Grundgedanke dieser Transformation der aristotelischen Teleologie-
vorstellung – dennoch ein in der natürlichen Selbsttranszendenz fun-
dierter Überschuss zum Ausdruck, der sich einer rein funktionalisti-
schen Deutung entzieht. Nachdem so also geklärt worden ist, was in
dem Gedankenexperiment unter ›Entitäten‹ und was unter ›Be-
wegung‹ zu verstehen ist, und nachdem auch im Grundsatz geklärt
wurde, wie der aristotelische Begriff der Bewegung mit dem Ereignis

32Vgl. Abschnitt 9.3.1, Der Gottesbeweis aus dem futurum exactum: Wissen und
Glaube, 722.

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

der Begegnung im Zusammenhang stehen kann, bleibt nun als letzte


Aufgabe, im Rahmen des Gedankenexperiments die Frage zu beant-
worten, was sich in der Begegnung ontologisch ereignet. In »Per-
sonen« nennt Spaemann alles nichtpersonale Lebendige »Aussein-
auf-Sein« 33. Aussein-auf-Sein ist der präreflexive Zustand einer le-
bendigen Innerlichkeit, »ein Ausgreifen auf das Sein, das auf sie zu-
kommt« 34. Der Ausdruck ›auf etwas bzw. jemanden zukommen‹ ist
eine direkte Entsprechung zur oben erwähnten Semantik 35 von ›be-
gegnen‹ als ›obviam venire‹. So wird eine ontologische Bestimmung
des Begriffs der Begegnung möglich: Begegnung ist das Zum-Sein-
Kommen diskreter, von ihrem Aussein-auf-Sein bestimmter Enti-
täten durch die Wahrnehmung von Sein. Im Zentrum dieser Bestim-
mung stehen – neben dem teleologischen Grundgedanken – zwei
Aussagen. Zum einen wird Seiendem prinzipiell – unabhängig von
der δύναμις-ἐνέργεια-Dialektik – ein Mangel an Sein, eine kontin-
gente Unterbestimmtheit und Offenheit gegenüber dem Ereignis der
Begegnung zugeschrieben. Zum anderen wird die Möglichkeit der
Wahrnehmung von Sein – nicht nur von Weisen des Seins – behaup-
tet, also die Wahrnehmung des Vollzugs von Existenz bzw. Dasein
selbst. Der Gedanke des Mangels an Sein ergibt sich aus dem Prinzip
der ontologischen Differenz, wonach jeder Seinsvollzug als ein Akt
der Selbsttranszendenz begriffen werden muss. Der Gedanke einer
Seinswahrnehmung, einer Wahrnehmung also, der die ontologische
Differenz von Sosein und Dasein gegeben ist und die diese Differenz
überbrücken kann, ergibt sich aus dem Apriori der Schönheit als pri-
märer phänomenaler Gegebenheit der ontologischen Differenz, das
der nicht vollständig funktional interpretierbaren Selbstdarstellung
von Seiendem zugrunde liegt. Je tiefer ein Lebewesen in seine Weise
zu sein versenkt ist, um so kleiner ist der Spielraum der Offenheit,
der von seiner Natur gelassen wird, und um so geringer die Be-
deutung der Begegnungsereignisse für seinen Entwicklungsprozess.
Unabhängig von der graduellen Abstufung der Offenheit der Form-
bestimmung der Seienden, die in der reflexiven Wendung auf das
Denken selbst zu einem qualitativen Sprung führt, zeigt sich die
ontologische Differenz von Essenz und Existenz und die mit ihr kor-

33 Vgl. Spaemann, Personen (1996), 119, 168.


34
Ebd. 119.
35 Vgl. Teilkapitel 1.1, Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs, 22

u. im vorliegenden Teilkapitel, 890.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

relierende ontologische Angewiesenheit auf die Begegnung als analo-


ges Merkmal von Personen bzw. Menschen, Lebewesen im Allgemei-
nen und in letzter Verallgemeinerung von Seiendem überhaupt. Be-
gegnung erweist sich somit, wie der Gang der Überlegung in dem
Gedankenexperiment gezeigt hat, als ontologischer Grundbegriff,
mit dem das mögliche Zum-Sein-Kommen des individualteleologisch
verstandenen Ausseins-auf bezeichnet wird.
Nachdem somit das Gedankenexperiment vom Standpunkt der
perspectiva naturalis aus durchgeführt und das Urphänomen der Be-
gegnung beschrieben wurde, bleibt entsprechend der oben angekün-
digten Programmatik die kritische Prüfung der subjektphilosophi-
schen Transformation des Urphänomens und die vergleichende
Betrachtung der hier aus dem Werk Spaemanns entwickelten Phi-
losophie der Begegnung als Alternative zu dieser. Charakteristisch
für den auf den Wandel des Verständnisses der Perspektive in der
frühen Neuzeit zurückgehenden subjektphilosophischen Ausgangs-
punkt der Philosophie cartesischer Prägung ist, wie in dieser Arbeit
wiederholt betont wurde, die Hypostasierung des ›cogito‹ zur autar-
ken Entität des Selbst, durch die das Denken selbst der sinnlich er-
fahrbaren Welt – und damit auch der eigenen Leiblichkeit des den-
kenden Subjekts – gegenübergestellt wird. Hypostasierung bedeutet
hier die Isolierung des ›cogito‹ von den Lebensvollzügen, in denen es
selbst fundiert ist, wodurch das zwischen dem Denken und der Welt
seiner Objekte vermittelnde Prinzip aufgegeben wird, Subjekt und
Objekt daher beginnen, unvermittelt und zu keiner Vermittlung
mehr fähig einander gegenüberzustehen. Die Entitäten, die einem
solchen Subjekt gegeben sind, werden, wenn sie nicht als anthropo-
morphistische Projektion grundsätzlich in Frage gestellt werden, auf
ihren der empirischen Anschauung gegebenen qualitativen Bestand
reduziert, wodurch die Anerkennung eines Ausseins-auf im Sinne
eines Selbstseins der Objekte ausgeschlossen ist. Objektbewegungen
können, wie ebenfalls gesehen wurde, unter dieser Bedingung nur als
eine mechanische Sukzession von Raum-Zeitstellen verstanden wer-
den. Kontingente Interferenzen dieser Bewegungen sind sowohl in
Bezug auf ihre Ursachen wie auf ihre Wirkungen zumindest poten-
tiell kausal erklärbar, so dass der Begriff der Begegnung als eines
Zum-Sein-Kommens von Entitäten sich als metaphysische Leerfor-
mel abtun lässt. Da die Reflexionsposition der Subjektphilosophie,
sofern sie keine Argumentation anerkennt, die sich auf etwas bezieht,
das nicht selbst eine Reflexionsposition ist, in der Frage des Primats

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

der Reflexion prinzipiell unwiderlegbar sein muss, kann eine Gegen-


position, wie die Untersuchung von Spaemanns Gesamtwerk gezeigt
hat, zum einen theoretisch aus den Widersprüchen entwickelt wer-
den, in die die Subjektphilosophie sich selbst verstrickt. Außerdem
können als Folgen der Dominanz subjektphilosophischer Denkstruk-
turen qualifizierbare kulturelle bzw. zivilisatorische Entwicklungen
Gegenstand einer praktisch orientierten Argumentation sein und
zur Beweislastfrage führen. Diese Denkbewegung kennzeichnet, wie
im zweiten Teil dieser Arbeit gesehen wurde, insgesamt Spaemanns
Werk. An dieser Stelle soll nicht erneut im Detail auf diese Auseinan-
dersetzung eingegangen werden, sondern es soll vor dem Hinter-
grund des durchgeführten Gedankenexperiments zur Freilegung des
Urphänomens der Begegnung die hier als moderne Philosophie der
Begegnung explizierte Denkweise abschließend als Alternative zur
subjektphilosophischen Transformation des Urphänomens beleuchtet
werden.
Um den Übergang von der perspectiva naturalis zur umgekehr-
ten Perspektive der Philosophie der Begegnung als Alternative zum
subjektphilosophischen Ansatz denken zu können, muss in der Über-
legung auf das Ereignis der Entdeckung der Person zurückgegangen
werden, die selbst als die ursprüngliche Interpretation des Perspekti-
venwechsels verstanden werden kann, der vom 15. Jahrhundert an in
der Bildenden Kunst und danach zeitversetzt in der Philosophie seine
Wirkung entfaltete. Es geht in der Entdeckung der Person, wie im
zweiten Teil dieser Arbeit dargelegt wurde, 36 im Grundsatz um die
reflexive Wendung des Denkens auf sich selbst. Die Rede von einer
reflexiven Wendung impliziert, dass das Denken zuvor nicht auf das
Subjekt des Denkens zurückgeführt wurde, sondern die Vernunft,
wie Spaemann sagt, »Organ des Allgemeinen« 37 war. Die ursprüng-
liche Interpretation dieser Wendung, von der Spaemann als Ent-
deckung der Person spricht, besteht darin, dass in ihr uno actu der
Andere und das eigene Selbst als personale Substanzen – als Selbst-
sein – hervortreten und zuallererst als solche wahrgenommen wer-
den. In diesem Ereignis entdeckt das Selbst sich im apriorischen Be-
ziehungsraum der Personen. Aus diesem Ursprung und seiner
fortwirkenden Bedeutung erklärt sich, warum jede Frage nach der

36
Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 603–613.
37
Spaemann, Personen (1996), 29.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Vermittlung von Subjektivität und Intersubjektivität letztlich als


Scheinproblem entlarvt werden muss, da durch die Frage selbst etwas
getrennt wird, was im Augenblick seiner Entstehung eine Einheit war
und erst danach auseinandergetreten ist. Mit dem kontingent-fak-
tischen Ereignis der Entdeckung der Person ist eine primäre Offen-
heit von ›Subjekten‹ im apriorischen Beziehungsraum behauptet, der
gegenüber der Rückzug in das autonome Subjekt ein sekundärer
Schritt ist. Aus diesem Gedanken wurde im achten Kapitel der vor-
liegenden Arbeit als prinzipielles Argument gegen die Reflexions-
position der Subjektphilosophie die These entwickelt, dass diese
Position ihrerseits bereits das Ergebnis des Rückzugs aus dem aprio-
rischen Beziehungsraum und damit – entgegen dem cartesischen An-
spruch, der Philosophie ein neues Fundament bereitet zu haben – eine
Ableitung aus demselben darstellt. Während die mit der Entdeckung
behauptete ursprüngliche Offenheit der ›Subjekte‹ durch das Wirken
der Selbsttranszendenz die Fundierung der Vernunft im Leben be-
wahrt, geht diese Fundierung – und mit ihr der Lebensbegriff – im
Rückzug auf die autonome Reflexionsposition als Ausgangspunkt des
Denkens verloren.
Insofern in der Natur selbst die Antriebe zur Selbsterhaltung
und Selbsttranszendenz antagonistisch einander gegenüberstehen,
ist es nur folgerichtig, dass – nach der reflexiven Wendung der instru-
mental als natürliches Organ verstandenen Vernunft in der Ent-
deckung auf sich selbst – die personale Offenheit in Bezug auf den
apriorischen Beziehungsraum einerseits und der Rückzug in die als
Autonomie begriffene natürliche Zentralität andererseits sich ebenso
antagonistisch gegenüberzustehen beginnen. Im Vergleich mit dem
natürlichen Antagonismus wird hier jedoch aus der natürlichen Zen-
tralität eine Reflexionsposition, der gegenüber sich die Philosophie
der Begegnung – im Sinne des ebenso antagonistischen Verhältnisses
von Reflexion und Transzendenz – nur durch die Infragestellung des
Ausgangspunkts der Subjektphilosophie bzw. der Subjektphilosophie
als Ausgangspunkt in Erinnerung bringen kann. Die Philosophie der
Begegnung fordert ihr gegenüber eine Umkehr der Perspektive, die
keine Rücknahme des Ausgangs vom Subjekt bedeutet, sondern ein
Verständnis des Subjekts als Ausdruck der Natur einfordert, in dem
die Reflexion Natur bewusst erinnert und so ein Überschreiten der
eigenen Natur ist. Dieses Überschreiten der eigenen Natur – der Ge-
nitiv ist hier im doppelten Sinn als subjectivus und objectivus zu ver-
stehen – ist dem Selbst nur in der Begegnung gegeben. Verweigert

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12.2 Abschließende Überlegungen zum ›Urphänomen‹ der Begegnung

das Subjekt sich der Begegnung, verliert es sich selbst, bleibt das Sub-
jekt gegen seine Natur in seiner Natur. 38 Lässt es aber in der Begeg-
nung das Überschreiten zu, überschreitet die Natur das Bewusstsein
auf ein Diesseits seiner selbst. 39 Für bewusstes Leben ist es somit un-
vermeidbar, dass das zu Bewusstsein kommende Aussein-auf um sei-
ne Unvordenklichkeit gebracht wird. Lebensregungen können uns
grundsätzlich nur als schon bewusste gegeben sein. Zum Leben selbst
haben wir nur Zugang nach der Formel: Leben ist »bewusstes Leben
abzüglich des Bewusstseins« 40. Die Bedeutung der Erinnerung, die
wesentlich die Differenz zwischen der subjektphilosophischen Positi-
on und der Philosophie der Begegnung ausmacht, besteht in der Re-
flexion auf das in allen personalen Vollzügen präsente Unvordenk-
liche des natürlichen Ausseins-auf. Diese Reflexion aber wird für
Personen nur konkret, wenn sie auf den für sie immer schon er-
öffneten apriorischen Beziehungsraum bezogen wird. Die Natur wird
für die Person, die zum autonomen Rückzug in die Reflexionsposition
in der Lage ist, erst durch die Begegnung in Erinnerung gebracht, in
der sich das Zum-Sein-Kommen durch die Wahrnehmung von Sein
ereignet. An dieser Stelle kann nun auf die eingangs gestellte Frage
eingegangen werden, inwiefern es ›geistige‹ Bewegungen gibt, die für
Personen an die Stelle der physischen treten, und was unter diesen
genau zu verstehen ist. Gegenüber der Verankerung der Bewegung
im individualteleologisch verstandenen Verhältnis von δύναμις und
ἐνέργεια in der aristotelischen Metaphysik geht es der Philosophie
der Begegnung um die Bewegung diskreter Entitäten als Bedingung
ihres Zum-Sein-Kommens. Aus dem Gang der Gedanken wurde
deutlich, dass der Rückzug in die Autonomie der Reflexionsposition
für Personen die Verweigerung der Bewegung bedeutet, die zur Be-
gegnung führen kann. Dementsprechend kann die Öffnung des ›sub-

38
Vgl.: »Daß das Bleiben in der Natur gegen die Natur ist, diese Paradoxie löst sich
nur, wenn wir den Begriff der ›Natur‹ teleologisch fassen und den Menschen als von
Natur auf Überschreiten der Natur angelegtes Wesen verstehen.« – Spaemann, Natur
(1973), 32–33.
39 Vgl.: »Die subjektiven Erfahrungen des Lebendigseins – Gefühl, Schmerz, Lust,

Begierde, Streben, Trieb – sind Bewusstseinsinhalte, die durch einen vektoriellen Sinn
charakterisiert sind. Sie transzendieren das Bewusstsein, und zwar nicht auf ein Jen-
seits, sondern auf ein Diesseits des Bewusstseins. Wir finden uns durch sie immer
schon in einer teleologischen Struktur vor, die aller Bewusstheit voraufliegt und die
uns mit allem Lebendigen verbindet.« – Spaemann, Das Sum in Descartes’ Cogito
Sum (1987), 138.
40
Spaemann, Wirklichkeit als Anthropomorphismus (2000), 200.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

jektiven Konzepts‹ für mögliches Begegnendes als eine geistige Bewe-


gung verstanden werden, die als Bedingung der Möglichkeit von Be-
gegnung grundlegende Bedeutung hat. Da für Personen geistige Be-
wegungen und die aus ihnen sich ergebenden Begegnungen sehr
weitgehend durch symbolische Vermittlung der Sprache realisierbar
sind, können beide sich fast vollständig von ihren physischen Sub-
straten lösen. Geistige Bewegungen und Begegnungen sind für Per-
sonen daher als normale Variation sinnlich fundierter Ereignisse
anzusehen. Behalten diese Begriffe dann als Metaphern noch ihre
Berechtigung? Ohne Zweifel haben diese Metaphern ihren Ursprung
in sinnlichen Erfahrungen von Bewegung und Begegnung. Wenn
geistige Bewegungen und aus ihnen sich ergebende Begegnungen
nicht von der Ebene ihrer symbolischen Vermittlung wieder an ihre
sinnlichen Grundlagen zurückgebunden werden, vollzieht sich un-
weigerlich ihre Auflösung in der autonomen Selbstgenügsamkeit. In
der Begegnung der Personen eröffnen sich durch die Umkehr der Per-
spektive, die eine Aktualisierung der perspectiva naturalis ist, sowohl
Spielräume einer ungekannten Qualität als auch eine neue Dialektik
von Sein und Schein. Das Urphänomen der Begegnung erscheint hier
zwischen der ständigen Gefahr seiner Selbstliquidation und der Kul-
mination seiner Möglichkeiten im Leben von Personen.

910

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12.3 Offene Fragen und Ausblick

In einem Ausblick sollen am Ende dieser Studien über Robert Spae-


mann Bereiche benannt werden, in denen philosophische Bemühun-
gen um eine Vertiefung der hier entwickelten Konzeption einer Phi-
losophie der Begegnung ansetzen können. Zunächst werden zwei
denkbare Richtungen der Fortsetzung der hier begonnen Arbeit um-
rissen: die mögliche Intensivierung eines Dialogs mit den Natur-
wissenschaften (12.3.1) und die aus der Personenphilosophie sich
ergebenden Bezüge zu literarischen Werken und der Literaturwissen-
schaft (12.3.2). Danach soll es abschließend um die Frage der diskur-
siven Anschlussfähigkeit des Spaemann’schen Denkens insbesondere
an die Philosophie des 20. Jahrhunderts gehen. Im zweiten Teil der
vorliegenden Arbeit wurden, angefangen bei Joachim Ritter, Adorno
und Horkheimer über A. N. Whitehead bis hin zu Th. Nagel und
H. Frankfurt – um nur einige Beispiele zu nennen –, immer wieder
punktuelle Bezüge zu zeitgenössischen Philosophen hergestellt.
Spaemanns Übereinstimmungen mit diesen Denkern erwiesen sich
jedoch stets als nur partiell. Im Folgenden sollen von Spaemann nicht
thematisierte 1 Parallelen seines Philosophierens mit den Ansätzen
einiger Zeitgenossen angedeutet werden. Es handelt sich dabei nach
meinem Dafürhalten um Optionen möglicher vergleichender Ana-
lysen, durch deren Ausführung, die jenseits der Möglichkeiten der
vorliegenden Arbeit liegt, die hier dargelegte Konzeption einer
Philosophie der Begegnung in den Diskursen der Gegenwartsphilo-
sophie genauer verortet und inhaltlich weiter vertieft werden könnte
(12.3.3 – 12.3.5).

12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog der Philosophie der Begegnung


mit den Naturwissenschaften

Für eine philosophische Konzeption wie die der Philosophie der Be-
gegnung, die in einem so hohen Maß als Naturphilosophie bezeich-
net werden kann, sollte der interdisziplinäre Dialog mit den Natur-

1 Die Grundlage für eine solche Unterscheidung sind nur die bisher publizierten
Schriften Spaemanns.

911

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

wissenschaften eine große Chance zur inneren Ausdifferenzierung


und zur Rechtfertigung ihrer eigenen Bedeutung darstellen. Rainer
Isaks Vorwurf an Spaemann und Löw bestand aber gerade darin, dass
durch ihren »Versuch der Rehabilitierung einer (aristotelisch-scho-
lastischen) Naturteleologie« 2 ein Dialog mit den Naturwissenschaf-
ten aufgrund dieser Prämisse prinzipiell unmöglich gemacht werde.
Isak ist insofern zuzustimmen, als Spaemanns durch sein gesamtes
Werk hindurch geführte Auseinandersetzung mit den Naturwissen-
schaften eine überwiegend polemische, antireduktionistische Aus-
richtung hat. Mit einer Naturwissenschaft, die von der Prämisse uni-
versaler kausaler Determination ausgeht, kann es aus der Sicht des
Spaemann’schen Philosophierens, als dessen Axiom die Existenz na-
türlichen Ausseins-auf bezeichnet werden kann, keinen Dialog ge-
ben. Der entscheidende Grund für diese Unvermittelbarkeit der
beiden Seiten ist im Begriff des Lebens zu suchen. In Bezug auf diesen
lässt sich die »europäische Biologiegeschichte« in zwei Epochen tei-
len: »in die antik-mittelalterliche, die von Aristoteles begründet wird,
und in die neuzeitliche, die nach Descartes entsteht« 3. In der neuzeit-
lichen Epoche hat sich in der Biologie die Meinung etabliert,
daß die Erforschung des Lebens »den Verzicht auf eine Beschäftigung
mit dem Leben im ursprünglichen Sinne erfordert«, weil »es schon im
Begriff des Lebens [liege], daß es nicht analysiert werden kann. Denn
zum Leben … gehört … das Aktive, das Schöpferische, das Freie.
Leben ist gebunden an die nicht aus Stücken zusammensetzbare Ein-
heit, an das Individuum. Zu Leben in jenem ursprünglichen, uns auch
jetzt noch selbstverständlichen Sinne gehört das planmäßige, an Zie-
len orientierte Einsetzen von Mitteln« 4. So findet die Reflexion auf
den Lebens-Begriff nur noch in der theoretischen Biologie und Meta-
theorie der Biologie statt und nicht mehr bei den Erforschern des
Lebens selbst. 5
Auch wenn von einer so verstandenen Biologie ausgehend ein Dialog
mit einer philosophischen Position, die auf den aristotelischen Le-
bens-Begriff zurückgeht, prinzipiell unmöglich erscheint, muss doch
die Frage gestellt werden, ob diese »kausalmechanische Biologie« 6

2 Vgl. Isak, Evolution ohne Ziel?, 29.


3 Toellner, Leben, VI. Der biologische Lebens-Begriff, in: HWPh V, col. 98.
4 Quellenangabe in der Anmerkung: E. Bünning: Ein Blick in die Lebensforsch., in:

Univ.reden Tübingen 41 (1952) 22–33. – Ebd., col. 98.


5 Ebd., col. 97.

6
Löw, Philosophie des Lebendigen, 274.

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12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften

selbst den Anspruch erheben kann, naturwissenschaftlich auf der


Höhe ihrer Zeit zu sein. In der Naturwissenschaft des 20. Jahr-
hunderts, insbesondere der Physik, hat sich ein Paradigmenwechsel
vollzogen, durch den die Vorstellung einer weitgehend in sich homo-
genen neuzeitlichen Wissenschaft in Frage gestellt wird:
Der Standpunkt, den das physikalische Bewußtsein der »modernen
Physik« gewonnen hat, läßt die Natur in einer anderen Perspektive
begreifen, als es vom Standpunkt der klassischen Physik aus gesche-
hen ist. Während hier der Physiker sich gegenüber den »Gegenstän-
den« seines Denkens und experimentierenden Handelns als Subjekt
distanziert hat, muß sich der »moderne« Physiker als agierendes Leib-
wesen in den Zusammenhang der Natur und ihrer Wirkungen einge-
fügt begreifen. Diese Situation wird von Physikern durch die Wen-
dung »Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt« beschrieben.
Für den Begriff der Natur hat das zur Folge, daß diese den Charakter
der totalen »Welt« annimmt, in deren Wirkungszusammenhang sich
der Physiker als einbezogen zu begreifen hat. 7
Im Hinblick auf diese sich andeutende Veränderung des Selbstver-
ständnisses der Naturwissenschaften ist die Kommunikationslosig-
keit zwischen ihr und dem Denken Spaemanns nicht so absolut, wie
Isak es behauptet. Zwar sagte Spaemann in seiner »Laudatio für Hans
Jonas«: »Die Naturwissenschaft kann nicht anders sein, als sie ist. Sie
ist ihrem Wesen nach materialistisch.« 8 Andererseits zeigen aber
seine Bezugnahmen z. B. auf A. Portmann 9 oder F. Cramer und
W. Kaempfer 10, dass ein interdisziplinärer Dialog mit einer nicht-re-
duktionistischen Naturwissenschaft aus seiner Sicht keinesfalls aus-
geschlossen ist. Ich möchte an dieser Stelle exemplarisch nur eine

7 Kaulbach, Natur, V. Neuzeit, in: HWPh VI, col. 478.


8
Spaemann, Laudatio für Hans Jonas (1987), 209.
9 Vgl. z. B. Spaemann, Was heißt: »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 335–

336, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als Apriori der Evolution, 686. – Adolf Portmann
wendete sich etwa in »Aufbruch der Lebensforschung« (1965) gegen mechanistische
Erklärungsversuche des Organismus.
10 Vgl. Spaemann, Ritual und Ethos (2002), 263, u. Abschnitt 9.2.1, Schönheit als

Apriori der Evolution, 688. – Cramer und Kaempfer vertreten in »Die Natur der
Schönheit« (1992) angelehnt an Erkenntnisse u. a. der nichtlinearen Mathematik,
der Untersuchung dissipativer Strukturen in der Chemie und der sogenannten Chaos-
forschung die These, dass Schönheit in Natur und Kunst sich im Übergang vom Chaos
zur Ordnung und der Ordnung zum Chaos zeigt und dass sich somit im Phänomen
der Schönheit ein Urprinzip natürlicher Entstehungsprozesse zu erkennen gibt.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Richtung andeuten, in die eine auf den Ergebnissen dieser Arbeit auf-
bauende Bemühung um die Intensivierung des interdisziplinären
Dialogs der Philosophie der Begegnung mit den Naturwissenschaften
gehen könnte. Der russisch-belgische Physikochemiker Ilya Prigogi-
ne (1917–2003), der im Jahre 1977 den Nobelpreis für Chemie für
seinen Beitrag zur irreversiblen Thermodynamik erhielt, entdeckte
die sogenannten dissipativen Strukturen bzw. das Phänomen der dis-
sipativen Selbstorganisation. Es geht dabei um thermodynamische
Systeme, die in einem »vom thermodynamischen Gleichgewicht
›weit entfernten‹ Zustand existieren, der sich aus einem ursprünglich
instabilen Zustand entwickelt hat« 11. Dissipative Strukturen entste-
hen also, vereinfacht ausgedrückt, durch Selbstorganisation im Über-
gang vom Chaos zur Ordnung. Dissipativ heißen sie, »wenn das Sys-
tem für den Austausch von Energie mit der Umwelt offen ist, sich
durch diesen Austausch aufrechterhält und ständig erneuert« 12. Ein
einfaches Beispiel einer dissipativen Struktur ist »die Flamme, die bei
ständiger Zu- und Abführung von Materie und Energie selbst zeitlich
unverändert bleibt« 13. Charakteristisch für dissipative Strukturen ist,
dass sie nie völlig stabil sind und an den sogenannten Bifurkations-
punkten ihr Verhalten auf nicht vorhersehbare Weise ändern. 14
M. Heidelberger bemerkt zur philosophischen Bedeutung dieser Ent-
deckung Prigogines:
Prigogine sieht in seiner Theorie einen neuen Ansatz für eine Physik
und Philosophie des Werdens und der Zeit. Die klassische Physik, aber
auch die Physik Einsteins und der Quantenmechanik sind statisch, da
sie die Reversibilität aller Vorgänge annehmen und so keine privile-
gierte Zeitrichtung akzeptieren. Es gibt aber genuin irreversible Pro-
zesse, mit denen die Zeit auf eine substantielle Weise wieder ins Spiel
kommt. Eine Weltsicht, die die Gerichtetheit der Zeit als eine fun-
damentale Eigenschaft akzeptiert, schafft Raum für die menschliche
Freiheit und Kreativität. Im statischen Weltbild hingegen erscheint

11 Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, s. v. »dissipative Strukturen«.


12 Heidelberger, Selbstorganisation, in: HWPh IX, col. 510. – Vgl.: »Mit einer etwas
anthropomorphen Ausdrucksweise könnte man sagen, daß die Materie unter gleich-
gewichtsfernen Bedingungen beginnt, Unterschiede in der Außenwelt (wie etwa
schwache Gravitations- oder elektrische Felder) wahrzunehmen, die sie unter Gleich-
gewichtsbedingungen nicht spüren konnte. Im Gleichgewicht ist die Materie sozu-
sagen ›blind‹.« – Prigogine/Stengers, Dialog mit der Natur, 18.
13 Brockhaus-Enzyklopädie, 19. Auflage, s. v. »dissipative Strukturen«.

14
Vgl. Heidelberger, Selbstorganisation, in: HWPh IX, col. 512.

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12.3.1 Der interdisziplinäre Dialog mit den Naturwissenschaften

das Universum als Automat, der die Freiheit des Menschen und seine
Geschichtlichkeit ausschließt. 15
Die philosophisch relevante Bedeutung der Entdeckung Prigogines
besteht also darin, dass die Irreversibilität der Zeit, die für personales
Leben eine nicht hintergehbare Bedingung seines Selbstverständnis-
ses ist, – statt aus der Sicht des Physikalismus als idiosynkratischer
Zug des menschlichen Bewusstseins eliminiert zu werden – auf die
physikalische Welt selbst bezogen wird. Wenn die Vorgänge der
Wirklichkeit, die die Physik untersucht, nur durch Abstraktion als
lineare betrachtet werden können, eigentlich aber nichtlinearer Art
sind, für sie also dieselbe Irreversibilität der Zeit gilt wie für den
Menschen in seinem Daseinsvollzug, ist die aus unserer Selbsterfah-
rung sich unvermeidbar ergebende Weltsicht nicht länger ein An-
thropomorphismus. Zugleich impliziert die Entdeckung Prigogines
ein Unbestimmtheitsprinzip in dem Sinne, dass ein universaler kau-
saler Determinismus nicht am Fehlen einer ausreichenden Rechen-
kapazität scheitert, sondern dadurch prinzipiell ausgeschlossen ist,
dass nichtlineare Systeme in ihrer Entwicklung den Bifurkationsweg
ins Chaos einschlagen können. Mit Bezug auf diesen naturwissen-
schaftlichen Ansatz, den Prigogine selbst in Zusammenarbeit mit
der belgischen Philosophin Isabelle Stengers versuchte auf seine phi-
losophische Bedeutung hin zu durchdenken, 16 wäre ein interdiszipli-
närer Dialog ausgehend von der Philosophie der Begegnung durchaus
denkbar. Es wäre dabei zu untersuchen, inwiefern Prigogines Unbe-
stimmtheitsprinzip mit der Annahme eines teleologischen Ausseins-
auf in der Natur vereinbar ist und inwiefern Personalität in Analogie
zu dissipativen Strukturen bzw. Ereignisse der Begegnung als Bi-
furkationspunkte verstanden werden können. Prigogine kann damit
als Beispiel einer Ausprägung der Naturwissenschaft betrachtet wer-
den, die durch indeterministische Implikationen den Dialog auch mit
einer an die aristotelische Teleologie anknüpfenden Philosophie mög-
lich machen würde, ganz im Sinne des Wortes aus der »Nikoma-

15 Ebd. col. 512–513. – In der Anmerkung zum Zitat verweist der Autor auf folgende
Quellen: I. Prigogine: From being to becoming – Time and complexity in phys. sci.
(San Francisco 1980), dtsch. (1979, 61992); I. Prigogine/I. Stengers: La nouv. alliance.
Métamorph. de la sci. (Paris 1979), dtsch. (1980). – Ebd. col. 514.
16
Siehe: I. Prigogine, I. Stengers, La Nouvelle Alliance (1979), deutsch: Dialog mit
der Natur (1981), und I. Prigogine, I. Stengers, Entre le temps et l’éternité (1988),
deutsch: Das Paradox der Zeit (1993).

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

chischen Ethik«: »Denn einen gebildeten Menschen erkennt man da-


ran, dass er in jeder Gattung der Dinge nur so viel Genauigkeit sucht,
wie die Natur der Sache zulässt« 17.

12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition und


ihre literarische Verarbeitung

Der Leitgedanke der hier vorgelegten Deutung des Spaemann’schen


Denkens besteht in der Verbindung von Teleologie und Personalität.
Nachdem eine erste Richtung der Vertiefung der hier entwickelten
Konzeption im Ausgang von der Naturteleologie in der Richtung
eines Dialogs mit den Naturwissenschaften vorgeschlagen wurde, soll
nun eine zweite Richtung ausgehend von der Ontologie der Person
angedeutet werden. Spaemann durchdenkt in seinem Werk den Weg
von einem als lebendiges Wesen begriffenen menschlichen Subjekt
zu einem Gegenüber, das als Bild des Unbedingten erscheint, und
entwirft eine philosophische Konzeption der personalen Welt in sei-
nem Gedanken des apriorischen Beziehungsraums der Personen. Die-
ser Personenphilosophie sind vor allen Dingen seine beiden späteren
Hauptwerke »Glück und Wohlwollen« und »Personen« gewidmet.
Was in diesen Werken nur andeutungsweise ausgeführt wird und
Perspektiven für eine Vertiefung erkennen lässt, nämlich die ›positi-
ve‹ Philosophie, von der im achten Kapitel die Rede war, 18 kann durch
die Frage nach der Bedeutung dieser Konzeption einer personalen
Welt für eine konkrete Lebensführung ausgedrückt werden. Damit
kann wohl kaum der Übergang von einer Fragestellung der theoreti-
schen Philosophie in eine der praktischen gemeint sein. Zu Fragen
einer personalen Ethik hat Spaemann sich in großem Umfang ge-
äußert; in den Texten zu diesem Thema geht es aber meistens um

17 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1. Buch, 1094 b 24–26. – Vgl. zu diesem Zitat:

»Jahrhundertelang mag man dies als eine negative Aussage verstanden haben, als
einen Aufruf zur Resignation. Heute können wir die positive Bedeutung dieses Satzes
erfassen, wie es der von uns beschriebene Wandel des Chaosbegriffs belegt. Solange
wir gefordert haben, daß alle dynamischen Systeme den gleichen Gesetzen gehorchen
müßten, war das Chaos ein Hindernis. In der geschlossenen Welt der klassischen Ra-
tionalität konnte das Streben nach Erkenntnis leicht zu geistiger Überheblichkeit füh-
ren. In der offenen Welt, die wir jetzt zu beschreiben lernen, bedingen Erkenntnis und
praktische Weisheit sich gegenseitig.« – Prigogine/Stengers, Das Paradox der Zeit,
322.
18
Vgl. Teilkapitel 8.4, Das ›Haben einer Natur‹ und die Begegnung, 601.

916

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12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition

Grenzfragen der Lebensführung, die dann wiederum aus einer theo-


retischen Fundierung beantwortet werden. Der Bereich, auf den hier
die Aufmerksamkeit gelenkt werden soll, bezieht sich vielmehr auf
die Normalität des personalen Lebens, auf die Frage, wie das Werden
einer personalen Biographie auf der theoretischen Grundlage der
Ontologie der Person zu denken ist. Wie die Ausführungen in Teil-
kapitel 8.4 der vorliegenden Arbeit gezeigt haben, geht Spaemann auf
diese Frage nur auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau ein. Er ex-
pliziert das personale Verhältnis zur Zeit und die daraus sich ergeben-
de Möglichkeit der Herausbildung einer Zeitgestalt; er erläutert die
Bedeutung des Gewissens als ›Stimme von nirgendwo‹ für die Person
als ›ontologisches Versprechen‹ ; mit Bezug auf das zentrale Ereignis
der Begegnung bestimmt er Willensfreiheit als die Fähigkeit, die ei-
gene Aufmerksamkeit auf ein Begegnendes länger zu richten, als dies
von Natur aus geschehen würde. Nach meiner Überzeugung wäre es
ein großer Gewinn für die Philosophie der Begegnung, wenn über
diese allgemeinen Grundlagen hinaus die Normalität personalen
Lebens konkreter vergegenwärtigt werden könnte. Aus Spaemanns
Gedankengängen ergibt sich, dass diese Normalität wohl als eine kon-
tingente, unplanbare und unvorhersehbare Selbstkomposition des
personalen Lebens begriffen werden müsste. Bei der Normalität des
personalen Lebens geht es darum, wie durch Akte der Selbsttrans-
zendenz das Haben der eigenen Natur sich in einer Weise verwirk-
licht, die nicht aus dieser Natur ableitbar und darum frei ist. Die wei-
tere Entfaltung der Personenkonzeption, um die es hier gehen kann,
müsste also genau an jener Grenze des Denkens, von der im Zusam-
menhang mit dem ›Haben einer Natur‹ immer wieder die Rede war,
an jenem »Indifferenzpunkt der Freiheit« 19, der weder Natur ist noch
zu einer selbständigen Entität hypostasiert wird, angesiedelt sein.
Daher stellt sich die Frage, ob diese Erweiterung im Rahmen der Phi-
losophie überhaupt möglich sein kann. Kann es eine Wissenschaft
geben, die sich mit diesem Bereich an der Grenze des Denkbaren be-
schäftigt? Die abstrakte Bestimmung dieser Grenze des Denkbaren
hat Spaemann ja durchaus geleistet. Darüber hinaus scheint kein
Weg zu führen, da es sich bei diesen – wenngleich biographisch sehr
bedeutsamen – Grenzereignissen um einen per definitionem der
Theorie sich entziehenden Bereich handelt. Ein Nachdenken über Be-
gegnungsereignisse und ihre Folgen ist grundsätzlich nur a posteriori

19
Spaemann, Personen (1996), 82.

917

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

möglich. Wenn dieses Nachdenken nicht auf den privaten Bereich


beschränkt und doch noch Gegenstand einer möglichen weiteren Ent-
faltung der Personenphilosophie werden soll, kann es dabei nur um
eine bereits mediatisierte Form dieses Nachdenkens und um die re-
flektierte Bezugnahme auf dieses gehen. Eine solche kann gefunden
werden in der Literatur, wobei die Aufmerksamkeit sich konzentrie-
ren wird auf solche literarische Texte, die biographische Verläufe dar-
stellen, in denen an Stelle einer autonomen Lebensplanung die er-
wähnte unvorhersehbare Selbstkomposition des personalen Lebens
erkennbar wird. Die Untersuchung solcher Texte würde insofern an
die hier entwickelte philosophische Konzeption anknüpfen können,
als diese selbst sich als adäquate Rekonstruktion von Zusammenhän-
gen erweisen könnte, in deren Betrachtung sie auch unter Ausblen-
dung der theoretischen Hintergründe einen Deutungswert besitzt. Zu
denken ist also an literarische Darstellungen biographischer Zusam-
menhänge, deren Deutung sich auch nach umfangreichen hermeneu-
tischen Bemühungen als widerständig erweist und in denen Ereignis-
se der Begegnung eine exponierte Rolle spielen. Auch wenn an dieser
Stelle detaillierte Ausführungen zu möglichen Referenztexten nicht
möglich sind, sollen zwei Rätselwerke der Weltliteratur genannt wer-
den, deren Betrachtung in diesem Sinn aussichtsreich sein könnte.
Zum einen handelt es sich um den zweiten Teil der Faust-Dichtung.
Die Helena-Handlung ist das wesentliche Organisationsprinzip, das
die sehr disparaten Schichten zumindest der ersten drei Akte des
zweiten Teils zusammenhält. Nach der ersten Begegnung mit Helena
bereits in der Hexenküche des ersten Teils entfalten sich die Zusam-
menhänge des zweiten Teils zwischen der Begegnung Fausts mit dem
Luftbild der Helena im ›Rittersaal‹ im ersten Akt über die Suche nach
ihr in der ›Klassischen Walpurgisnacht‹ des zweiten Aktes bis zur
eigentlichen Begegnung von Helena und Faust im ›Inneren Burghof‹
des dritten Aktes. Aufbauend auf einer Textanalyse könnte nach mei-
ner Überzeugung gezeigt werden, dass mit dem hier entwickelten
Instrumentarium einer Philosophie der Begegnung die überaus ver-
schlungenen Zusammenhänge der Helena-Handlung sich in erheb-
lichem Maß entwirren lassen. Denn die Imagination des Bildes der
Helena und des Paris im Rittersaal war der geniale dramatische
Kunstgriff, durch den Goethe Faust in seiner erklärten Transzendenz-
feindlichkeit auf den Weg bringen konnte, dem Anderen seiner selbst,
das nur als unabhängig von seiner eigenen lebendigen Zentralität be-
griffen werden kann, durch einen in die Entstehungsgeschichte des

918

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12.3.2 Die Normalität personalen Lebens als Selbstkomposition

klassischen Griechenlands führenden Bildungsgang, in dem er zu


sehen lernt, auf dem Höhepunkt des Dramas begegnen zu können.
Die hier dargelegten Grundzüge einer philosophischen Deutung des
Begegnungsgeschehens werden dabei in Goethes Drama durch das
Spiel mit kulturellen Archetypen in einer aufs äußerste verallgemei-
nerten und dabei doch das zutiefst Menschliche des Geschehens be-
wahrenden Form ins Bild gesetzt. – Mit Goethes »Faust« ist auch der
zweite, scheinbar weit von diesem entfernte Text, der hier erwähnt
werden soll, durch seine Entstehungsgeschichte verbunden. Während
der Arbeit an seinem Roman »Doktor Živago« schuf Boris Pasternak
eine als kongenial geltende Übersetzung beider Teile der Faust-Dich-
tung ins Russische. Ähnlich wie der zweite Teil der Faust-Dichtung
ist Pasternaks Roman ein äußerst umstrittener Text, der eine kaum
überschaubare Vielzahl an Deutungen hervorgerufen hat. Zu den
Besonderheiten, aufgrund deren die Deutung des Romans in der For-
schungsliteratur umstritten ist, gehört der scheinbare Gegensatz
zwischen der auf die Hauptfigur ausgerichteten biographischen Rah-
menstruktur und der in diesem Rahmen sich entfaltenden Fülle his-
torischer Ereignisse, denen die Hauptfigur zumeist passiv – angemes-
sener wäre zu sagen: kontemplativ – gegenübersteht. Eine zentrale
Frage, um die die Literatur zum Roman von Anfang an kreiste, be-
steht darin, ob ein großer Dichter an der epischen Großform geschei-
tert ist oder ob es sich um die in sich stimmige Umsetzung einer
künstlerischen Absicht handelt, aus der sich eine neue Form des Ro-
mans ergeben hat. Aufbauend auf einer Textanalyse könnte auch in
diesem Fall nach meiner Überzeugung gezeigt werden, dass sich die
zweite Lesart mit dem hier entwickelten Instrumentarium einer Phi-
losophie der Begegnung auf neue Art belegen ließe. Auch in Paster-
naks »Doktor Živago« sind es exponierte Begegnungsereignisse, 20 die
als das wesentliche Organisationsprinzip der Romanhandlung begrif-
fen werden können. Eindringlicher noch als in Goethes »Faust« wird
in Pasternaks Roman deutlich, wie die Hauptfigur durch ein zunächst
kontingentes Begegnungsereignis auf den Weg einer Entwicklung ge-
führt wird, auf dem die Ansätze eines autonomen Lebensentwurfs
verworfen und zugleich eine Verwirklichung der natürlichen Anla-
gen erreicht wird, die paradoxerweise aus der eigenen Natur nicht

20
Es geht dabei um die Begegnungen der Hauptfiguren Jurij Živago und Larisa Anti-
pova, insbesondere um die, von denen am Ende des zweiten Teils und im 13. Teil
erzählt wird.

919

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

ableitbar ist. Erst die perspektivische Ausrichtung auf diese Begeg-


nungsereignisse kann das Kompositionsprinzip des Romans ver-
ständlich machen, durch das mit künstlerischer Absicht kontingente
Ereignisse montiert werden, um das nicht planbare Werden einer
Zeitgestalt zu vergegenwärtigen.

12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs

Nach der Andeutung zweier Richtungen der Weiterentwicklung der


Grundgedanken der Philosophie der Begegnung sollen nun, wie an-
gekündigt, die philosophischen Ansätze einiger Denker schlaglicht-
artig beleuchtet werden, deren vergleichende Einbeziehung in die
hier verfolgte Konzeption aussichtsreich erscheint. Eine frappierende
Parallele besteht zwischen der Personenphilosophie Spaemanns und
der Philosophie des Dialogs insbesondere Martin Bubers, auf die am
Anfang dieser Arbeit im Rahmen einer ersten Befragung des philoso-
phischen Begriffs der Begegnung eingegangen wurde. 21 Eine Vermitt-
lung zwischen der Dialogik und der akademischen Philosophie ist,
wie dort ausgehend von Michael Theunissens Studie »Der Andere«
gezeigt wurde, bislang nicht gelungen und die Frage nach der Mög-
lichkeit einer solchen Vermittlung wurde mit Verweis auf die Arbeit
Jochanan Blochs »Die Aporie des Du« ausdrücklich in Frage gestellt.
An dieser Stelle soll angedeutet werden, dass mit dem hier entfalteten
Instrumentarium einer Philosophie der Begegnung die Anschluss-
fähigkeit der Buber’schen Dialogik an den philosophischen Diskurs
hergestellt werden könnte. Dazu soll zunächst die Aufmerksamkeit
auf ein Beispiel der konstitutiven Paradoxie des dialogischen Denkens
gerichtet werden, aufgrund deren Theunissen bei Buber ein Über-
schreiten der Grenzen der Philosophie in Richtung einer »›Theologie‹
des Zwischen« 22 erkennt, um anschließend zu zeigen, wie unter Ein-
beziehung zentraler Gedanken Spaemanns diese Paradoxie sich mit
genuin philosophischen Mitteln denken lässt. In »Ich und Du« betont
Buber, dass das Du zugleich als dasjenige begriffen werden muss, das
von außen auf mich zukommt, dem ich also passiv gegenüberstehe,
und dass dennoch das Ereignis der Begegnung mit dem Du aus einer

21
Vgl. Teilkapitel 1.1, Der Begriff der Begegnung und die Philosophie des Dialogs,
19–27.
22
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 330.

920

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12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs

Aktivität des Subjekts hervorgeht: »Das Du begegnet mir von Gna-


den – durch Suchen wird es nicht gefunden. Aber daß ich zu ihm das
Grundwort spreche, ist Tat meines Wesens, meine Wesenstat.« 23 Das
Du ist also zugleich das Objekt einer intentionalen Handlung und ein
nur passiv Hingenommenes: »So ist die Beziehung Erwähltwerden
und Erwählen, Passion und Aktion in einem. Wie denn eine Aktion
des ganzen Wesens, als die Aufhebung aller Teilhandlungen […], der
Passion ähnlich werden muss.« 24 Theunissen bemerkt zu dieser Dar-
stellung:
Die Beziehung zum Du entschwindet in eine Region, die jenseits der
Differenz von Aktion und Passion liegt. Könnte Buber diese Region
benennen und gedanklich artikulieren, ohne von den Begriffen »Akti-
on« und »Passion« Gebrauch zu machen, so wäre er in diesem Punkt
zu einer positiven Ontologie der Ich-Du-Beziehung durchgedrungen.
Faktisch vermag er es nicht. Statt dessen begnügt er sich damit, das,
was weder Aktion noch Passion ist, als die Einheit beider zu fassen. 25

23
Buber, Werke I, 85.
24 Ebd. – In diesem Zusammenhang ist auch ein vergleichender Seitenblick auf E. Le-
vinas lohnend, der sich in »Totalität und Unendlichkeit« explizit von Buber abhebt,
wenn er mit Bezug auf dessen Grundwort Ich-Du schreibt: »Man kann sich indes
fragen, ob das Du nicht den Anderen in eine Beziehung der Gegenseitigkeit bringt
und ob diese Gegenseitigkeit einen ursprünglichen Sachverhalt trifft. Andererseits
bewahrt die Ich-Du-Beziehung bei Buber einen formalen Charakter: Sie kann ebenso
Menschen mit den Dingen vereinen wie den Menschen mit dem Menschen. Der For-
malismus des Ich-Du bestimmt keinerlei konkrete Struktur. Das Ich-Du ist Ge-
schehen, Stoß, Verstehen – aber es erklärt nur die Freundschaft und keine andere
Lebensform: etwa die Ökonomie, die Suche nach dem Glück, den Vorstellungsbezug
zu den Dingen. Letztere bleiben in einer Art verächtlichen Spiritualismus’ un-
erforscht und unerklärt. Die vorliegende Arbeit erhebt nicht den lächerlichen An-
spruch, Buber in diesen Punkten zu ›korrigieren‹. Indem sie von der Idee des Unend-
lichen ausgeht, steht sie in einer anderen Perspektive.« – E. Levinas, Totalität und
Unendlichkeit, 92. – Obwohl Levinas von einer absoluten Passivität im Verhältnis
zum Anderen ausgeht und sich insofern von Bubers hier zitierter Darstellung unter-
scheidet, ergibt sich doch bei ihm eine ähnlich wie bei Buber paradoxe Situation im
Sagen des Ereignisses der Begegnung. Vgl.: »Ich bin zwar vom Ereignis inspiriert
worden, doch gleichzeitig auch der ›Urheber‹ (auteur) des Sagens des Ereignisses.
Das Zeugnis der Inspiration durch das Ereignis ist also zweideutig: Es bezeugt etwas
ander[e]s als mich und doch nur mich. […] Levinas spricht diesbezüglich von der
›Ambiguität der Inspiration‹ […].« – Pirktina, Das Ereignis. Martin Heidegger, Em-
manuel Levinas, Jean-Luc Marion, 303. – Um die Buber und Levinas gemeinsame
Affinität zu paradoxen Denkfiguren philosophisch fruchtbar machen zu können, be-
dürfte es einer Konzeption, die das logische Prädizieren als Paradoxie selbst von einer
grundsätzlicheren Position aus relativieren könnte.
25
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 317.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Bubers Verwendung einer paradoxen Gedankenfigur in der »Charak-


terisierung der reinen Tat als Einheit von Aktion und Passion« 26 ist
für Theunissen im Bereich des philosophischen Denkens nicht zuläs-
sig und verortet den dialogischen Ansatz im Bereich »religiöser Er-
fahrung«. 27
Die Identität von Tun und Nichttun ist aber eine Paradoxie, die als
solche nicht gedacht werden kann. In ihrer Unausdenklichkeit enthüllt
sich die Rede von ihr als Chiffre eines Seins, das über der Differenz
von Aktion und Passion west. Dieses Sein läßt sich zeichenhaft als
Einheit von Aktion und Passion denken, weil es weder im Begriff der
Aktion noch in dem der Passion aufgeht. Es ist also weder Passion
noch Aktion allein und insofern die unausdenkliche Einheit beider. 28
Spaemann stimmt, wie in dieser Arbeit gesehen wurde, dem Aus-
schluss der Paradoxie aus dem Bereich philosophischen Denkens
nicht zu: »Die Paradoxie ist das Kennzeichen der Überwindung der
Abstraktion. Nur das Abstrakte unterliegt der Identitätslogik.« 29 Mit
Spaemann lässt sich die Region jenseits der Differenz von Aktion und
Passion durchaus artikulieren und eine positive Ontologie der Ich-
Du-Beziehung entwickeln. Die Frage nach der Priorität von Subjekt
oder Zwischen oder allgemeiner die Frage, ob Intersubjektivität aus
Subjektivität oder umgekehrt Subjektivität aus Intersubjektivität ab-
geleitet ist, versteht Spaemann als Folgeerscheinung eines Reduk-
tionismus, der darauf zurückzuführen ist, dass das Kontinuum von
Leben und Vernunft nach dem neuzeitlichen Ausfall des Lebens-
begriffs nicht mehr verstanden wird und als philosophisches Zerfalls-
produkt der Entteleologisierung ein Dualismus von Spiritualismus
bzw. Transzendentalismus und Naturalismus entsteht, von dem aus
das Ereignis der Begegnung nicht mehr wahrgenommen werden
kann, weil es sich in zwei unvermittelte Seiten aufspaltet. Theunis-
sens Buber-Deutung kann selbst als Ausdruck des genannten Dualis-
mus gelesen werden: Einerseits versucht Theunissen, Bubers Dia-
logik vom transzendentalphilosophischen Ansatz aus als dessen
dialektische Alternative zu verstehen, andererseits verleiht er seiner
Überzeugung Ausdruck, »daß sich hinter der Vorstellung vom unbe-
dingten Vorrang des Zwischen vor der Subjektivität in allen ihren

26 Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 316.


27
Ebd. 258.
28 Ebd. 318.
29
Spaemann, Antinomien der Liebe (2007), 25.

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12.3.3 Martin Buber und die Philosophie des Dialogs

Seinsformen eine bestimmte, aber eben der Philosophie unerreich-


bare Wahrheit verbirgt«. 30 Sein Programm der Idealisierung der Bu-
ber’schen Reflexionsposition mit dem Ziel einer Ontologie des Zwi-
schen versteht das dualistische Haltungsschema von Ich-Du und Ich-
Es dialektisch und missversteht es dadurch offensichtlich. Der ge-
wählte Untersuchungsansatz und die leitende Motivation erweisen
sich als unvermittelbar, was Theunissen in seiner in die zweite Auf-
lage aufgenommenen »Nachschrift« selbst einräumt:
Wer nun aber die Wirklichkeit des menschlichen Lebens unvoreinge-
nommen prüft, muß anerkennen, daß der Andere beides ist: der sich in
meinem Weltentwurf Konstituierende und der, welcher sich der sub-
jektiven Konstitution entzieht, der bloß mittelbar und der unmittelbar
Begegnende. Nicht weniger gewiß ist er sowohl der, der mich mir ent-
fremdet, wie auch der, der mich zu mir selbst bringt. 31
Dieses Geltenlassen von Paradoxien in der »Nachschrift« geht einher
mit Erwägungen zu einer alternativen Denkweise, wobei Theunissen
beispielsweise mit Bezug auf G. Marcel von der »Liebe« spricht, die
sich aus der Dialektik »herauswindet«:
Die Dialektik ist in der tiefsten Wurzel der Umschlag der Aneignung
des Anderen in die Veranderung des Eigenen. Aus der Veranderung
aber kehrt der Mensch, der als transzendentaler Weltmittelpunkt zu-
nächst sein Ich gegen den Anderen durchsetzt, nicht durch Integration
des Anderen in sein Selbst zurück, sondern durch die Gründung seines
Selbst auf den Anderen. Er entdeckt den Anderen als den Grund seines
Selbstseinkönnens. 32
Inwiefern jedoch in der ›personalen Liebe‹, von der Theunissen hier
spricht, ein Standpunkt oberhalb der Dialektik, an der seine Buber-
Deutung scheiterte, gewonnen ist, bleibt offen. Die für Spaemanns
Denken zentrale Fundierung der Personalität in der natürlichen
Teleologie gibt die Möglichkeit, die von Theunissen beanstandete Ne-
gativität der dialogischen Ontologie positiv zu erhellen und eine
begriffliche Rekonstruktion des Buber’schen Grundwortes ›Ich-Du‹
zu leisten. Aber wiederholt sich damit nicht die Logisierung des Du,
die Bloch in seiner Studie als der ihr zugrunde liegenden Erfahrung
prinzipiell unangemessen bezeichnet hat? Bloch unterstreicht: »Das

30
Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der Gegenwart, 501.
31 Ebd. 491.
32
Ebd. 490.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

ist der nicht aufzubrechende Teufelskreis, in den jede philosophieren-


de oder ›logisierende‹ Bearbeitung der dialogischen Grunderfahrung
hineingerät: der Erfahrung, daß Gegenwart ohne Erkennbarkeit
ist.« 33 Wie ich meine, ist das im Denken Spaemanns nicht der Fall.
Das Begegnende bleibt transzendent und Sein ein Jenseits des Be-
griffs. Und dennoch erhält die Wirklichkeit des Grundwortes ›Ich-
Du‹ eine Denkbarkeit durch die Fundierung der Personalität in der
Teleologie und den hermeneutischen Zugang zur Entdeckung der Per-
son. Der Ausgang des Denkens beim Kontinuum von Leben und Ver-
nunft bedeutet, dass das Unvordenkliche sein konstitutiver Bestand-
teil ist. Spaemanns Denken kennzeichnet gerade die Differenzierung
zwischen dem, was begrifflich, und dem, was nur durch die beglei-
tende Reflexion auf die Unangemessenheit unserer Begriffe gedacht
werden kann. Blochs Unangemessenheit des Denkens wird so bei
Spaemann zu einer Grenzbewusstheit des Denkens selbst.

12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes

Aussichtsreich erscheint mir auch eine Untersuchung der Parallelen


zwischen dem Denken Spaemanns und dem Maurice Merleau-Pon-
tys, insbesondere in seinem Hauptwerk »Phänomenologie der Wahr-
nehmung« aus dem Jahr 1945, in dem er – darin den Vertretern des
dialogischen Denkens ähnlich – seinen wesentlichen Grundgedanken
in Abstoßung von der Transzendentalphilosophie entwickelt. Prinzi-
piell unzulässig ist für Merleau-Ponty der Ausgang des Denkens von
einem »transzendentalen Ich, an dem die empirischen teilhaben, ohne
es zu zerteilen« 34. Insofern er demgegenüber eine »Reflexion auf
diese Reflexion selbst« 35 fordert, steht sein programmatischer Ansatz
in auffälliger Nähe zu Spaemanns Denken. Merleau-Pontys Projekt
einer Phänomenologie, die statt einer Reflexion auf die Bedingungen
der Möglichkeit der Wahrnehmung »das Mögliche auf das Wirkliche
gründet« 36, kann an die Aussage Spaemanns erinnern, wonach wir als
Personen »die Transzendentalphilosophie als Möglichkeitsphilo-

33 Bloch, Die Aporie des Du, 265.


34
Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 86.
35 Ebd.
36
Ebd. 14.

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12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes

sophie immer schon transzendiert« 37 haben. Für beide Denker hat die
kritische Auseinandersetzung mit dem cartesischen ›cogito sum‹ zen-
trale Bedeutung. 38 Der für Spaemanns metaphysisch-analoges Den-
ken grundlegende Schritt vom ›cogito‹ – gegen seine Hypostasierung
zur unabhängigen Entität bei Descartes – zurück auf das lebendige
Subjekt ist auch das zentrale Anliegen Merleau-Pontys in seinem
Hauptwerk, das er durch eine Theorie der Leiblichkeit zu verwirk-
lichen sucht. Obwohl sich bei Merleau-Ponty keine explizite Aus-
einandersetzung mit dem teleologischen Denken finden lässt, liegt
seiner Deutung menschlicher Subjektivität offensichtlich das zu-
grunde, was bei Spaemann als Aussein-auf bezeichnet wird:
Allen Bedeutungen des Wortes »Sinn« zugrunde liegend finden wir
den einen Grundbegriff eines Seins, das auf etwas hin, was es nicht
selber ist, orientiert oder polarisiert ist, und alles verweist uns so auf
den Gedanken des Subjekts als Ek-stase und auf ein aktives Transzen-
denzverhältnis zwischen Subjekt und Welt. 39
Im Unterschied zur Philosophie Spaemanns spielt dieser Gedanke des
Ausseins-auf bei Merleau-Ponty jenseits der Betrachtung mensch-
licher Selbsttranszendenz keine Rolle. Dennoch ist es gerade die we-
sentliche Gelenkstelle zwischen der Teleologie und der Personalität in
Spaemanns Denken, an der sich der Ansatz Merleau-Pontys systema-
tisch verorten lässt. Im Abschnitt 8.4.1 der vorliegenden Arbeit wur-
de erläutert, dass eine wesentliche Schwierigkeit, das Verhältnis der
Personen im apriorischen Beziehungsraum zu denken, in der Ver-
mittlung von Subjektivität und Intersubjektivität besteht. Es wurde
gezeigt, dass nach Spaemann durch die dialektische Gegenüberstel-
lung von Subjektivität und Intersubjektivität bereits der Blick auf
den eigentlichen Zusammenhang verstellt ist, 40 von dem aus eine Lö-
sung entwickelt werden kann, dass nämlich »Leben und Bewußtsein
ein Kontinuum bilden« 41. Die Idee eines solchen Kontinuums von
Leben und Bewusstsein bildete zumindest seit den Essays der 80er
Jahre einen Leitgedanken Spaemanns, ohne dass er ihn allerdings im

37 Spaemann, Über die Bedeutung der Worte »ist«, »existiert« und »es gibt«, 46.
38 Vgl. Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Kapitel »Das cogito«,
421–465.
39 Ebd. 488–489.

40
Vgl. Abschnitt 8.4.1, Das personale Selbstverhältnis als Bedingung der Möglichkeit
von Begegnung, 604–606.
41
Spaemann, Personen (1996), 169.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Hinblick auf das zentrale Moment der Leiblichkeit näher untersucht


hätte. Genau dieses Ziel aber verfolgt Merleau-Ponty in seiner »Phä-
nomenologie der Wahrnehmung«: »In der Wahrnehmung denken
wir nicht den Gegenstand und denken nicht uns als ihn denkend, wir
sind vielmehr zum Gegenstand und gehen auf in unserem Leib, der
mehr als wir selbst von der Welt und von den Motiven und Mitteln
weiß, sie zur Synthese zu bringen.« 42 Entscheidend ist für Merleau-
Ponty der Gedanke des ›Seins zur Welt‹ – être au monde 43 –, durch
den die Idee einer unabhängigen Subjektivität als Fiktion abgetan
wird: »[…] es gibt keinen inneren Menschen: der Mensch ist zur
Welt, er kennt sich allein in der Welt.« 44 Die Reflexionsbewegung
Merleau-Pontys kann daher beschrieben werden erstens als Rück-
gang vom Bewusstsein auf die ihm zugrunde liegende Wirklichkeit
und zweitens als phänomenologische Analyse der von ihr ausgehen-
den Entfaltung menschlichen Bewusstseins. Der Rückgang erfolgt
durch die Reflexion auf den Anfang des Bewusstseins, durch »Refle-
xion auf ein Unreflektiertes« 45. Erst durch diese Reflexion auf die
Grenze der Reflexion selbst kann diese sich als Reflexion begreifen:
Die Reflexion vermag also ihren eigenen vollen Sinn selbst nur dann
zu erfassen, wenn sie des unreflektierten Untergrundes eingedenk
bleibt, den sie voraussetzt, aus dem sie sich nährt und der für sie so
etwas wie eine ursprüngliche Vergangenheit konstituiert, eine Ver-
gangenheit nämlich, die niemals Gegenwart war. 46
In Bezug auf diesen unreflektierten Untergrund spricht Merleau-
Ponty von einem »inkarnierten Subjekt« 47, dem »präreflexiven« 48

42 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 279.


43 Der Übersetzer der »Phänomenologie der Wahrnehmung« Rudolf Boehm bemerkt
zum Ausdruck »être au monde« in einer Fußnote zum Text: »Es scheint angezeigt,
den Ausdruck ›est au monde‹ bei Merleau-Ponty in der Regel mit ›ist zur Welt‹ zu
übersetzen (wie ›ist zur Welt gekommen‹), wenngleich der Begriff des ›être au monde‹
ohne Zweifel dem des ›In-der-Welt-seins‹ Heideggers abgenommen ist. Man wird
beachten, daß ›au monde‹ ein Dativ ist und so eine ›Hingebung‹ des Subjekts an die
Welt bedeutet, deren Gedanke bei Merleau-Ponty den Begriff des Zur-Welt-seins aufs
unmittelbarste eher dem Phänomen annähert, das Heidegger ›Aufgehen in der Welt‹
und dann das ›Verfallen‹ nennt und als einen – zwar alltäglichen und primären –
Modus des In-der-Welt-seins von diesem selbst scharf genug unterscheidet.« – Ebd. 7.
44 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 7.

45 Ebd. 6.

46
Ebd. 283.
47 Ebd. 229.

48
Ebd. 346.

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12.3.4 Maurice Merleau-Ponty und die Philosophie des Leibes

bzw. »schweigende[n] cogito« 49 und dem »primordinale[n] Ich« 50, die


jeweils die fundamentale Wirklichkeit des Leibes bezeichnen sollen.
Der Leib kann dabei weder als ein Gegenstand noch als ein Gedanke
aufgefasst werden: »So widersetzt sich die Erfahrung des eigenen Lei-
bes der Bewegung der Reflexion, die das Objekt vom Subjekt, das
Subjekt vom Objekt lösen will, in Wahrheit aber uns nur den Gedan-
ken des Leibes, nicht die Erfahrung des Leibes, den Leib nur in der
Idee, nicht in Wirklichkeit gibt.« 51 Ganz ähnlich wie bei Spaemann
wird so bei Merleau-Ponty das transzendentale ›ich denke‹ in einem
primären ›ich lebe‹ fundiert: 52 »Die Funktion des lebendigen Leibes
kann ich nur verstehen, indem ich sie selbst vollziehe, und in dem
Maße, in dem ich selbst dieser einer Welt sich zuwendende Leib
bin.« 53 Das präreflexive ›être au monde‹ des Leibes – »[d]ie Welt ist
da, vor aller Analyse« 54 – spiegelt seinerseits Spaemanns Verständnis
des Seins als Jenseits des Begriffs wider. Ausgehend von der Leib-
erfahrung wird für Merleau-Ponty dann eine adäquate Analyse des
›cogito‹ möglich: »es ist die ursprüngliche Bewegung des Transzen-
dierens, die mein Sein selbst ist, die gleichursprüngliche Berührung
mit meinem Sein und mit dem Sein der Welt« 55. Das ›ich denke‹ fin-
det sich also immer schon integriert in die »Bewegung der Transzen-
denz des Ich-bin« 56. – Die Parallelen im Denken Spaemanns und Mer-
leau-Pontys sind, wie diese Streiflichter gezeigt haben, mehr als
deutlich. Durch eine vergleichende Analyse könnten sowohl für
Spaemanns Denken – insbesondere durch Merleau-Pontys Analysen
des leiblichen Zur-Welt-seins – als auch für das Merleau-Pontys –
etwa durch Spaemanns Idee des apriorischen Beziehungsraums der
Personen – im Hinblick auf die Weiterentwicklung des Gemeinsamen
in beiden Ansätzen aussichtsreiche Bezüge hergestellt werden.

49 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 458.


50 Ebd. 460.
51 Ebd. 234.

52 Vgl. Spaemann, Zum Begriff des Lebens (1994), 85, u. Abschnitt 8.2.3, Metaphysi-

scher Realismus, 554, u. Fn. 121.


53 Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 99.

54
Ebd. 6.
55 Ebd. 430.

56
Ebd., 437.

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

12.3.5 Pavel Florenskij und die Fundierung der Personenphilosophie


im Begriff des Lebens

Nach der Andeutung selbständiger Untersuchungen würdiger Paral-


lelen zwischen der Philosophie Spaemanns und – ausgehend von der
philosophischen Bedeutung des ›Du‹ – der dialogischen Philosophie
Bubers sowie – ausgehend von der philosophischen Bedeutung des
Leibes – der Phänomenologie Merleau-Pontys soll nun abschließend
ein Blick auf die russische Philosophie des 20. Jahrhunderts geworfen
werden. Der wie Spaemann aus der Ritter-Schule hervorgegangene
Experte für russische Philosophie Wilhelm Goerdt, der 1984 den bis
heute einzigen neueren Versuch, »eine Gesamtanschauung von rus-
sischer Philosophie in deutschem Original zu geben« 57, unternom-
men hat, spricht in seinem Buch »Russische Philosophie« von der
»bisher noch kaum in Angriff genommene[n]« Aufgabe »der philo-
sophischen Verständigung (West-)Europas mit (Ost-)Europa-Ruß-
land« 58:
[…] die andauernde Unkenntnis artikuliert sich etwa in der Meinung,
daß russische Philosophie »nicht dazugehöre«, daß sie nicht in der
Einheit der europäischen Philosophie als unterschiedenes Glied auf-
gehoben sei – vielmehr wird gerade dieser Unterschied, die Differenz
von westeuropäischer und russischer Philosophie so stark empfunden,
daß hier von einem allgemeinen verbreiteten Gefühl absoluter Fremd-
heit (verlautbart im Reden von der »Russischen Seele«) gesprochen
werden kann. 59
Im Sinne des von Goerdt in seiner Gesamtdarstellung russischer Phi-
losophie vorgetragenen Plädoyers für die »Möglichkeit einer philo-
sophischen Verständigung« 60 sollen im Folgenden einige Hinweise
auf die Anschlussfähigkeit des hier untersuchten Spaemann’schen
Denkens an die russische Philosophie gegeben werden. Vasilij Zen’-
kovskij, der Autor einer umfangreichen Gesamtdarstellung russi-
scher Philosophie aus dem Jahr 1948, spricht vom »Ontologismus«,
also der »Lehre von der primären Erkennbarkeit des absoluten Seins
durch den endlichen Intellekt« 61, als allgemeinem Charakteristikum

57 Goerdt, Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke, 17.


58 Ebd. 29.
59
Ebd. 33.
60 Ebd. 35.
61
Malter/Pfurtscheller, Ontologismus, in: HWPh VI, col. 1203. – Vgl.: »Für alle

928

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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens

russischer Philosophie: »[…] der russische Ontologismus drückt


nicht den Primat der ›Wirklichkeit‹ vor der Erkenntnis aus, sondern
die Eingebundenheit der Erkenntnis in unser Verhältnis zur Welt, in
unsere ›Handlungsvollzüge‹ in ihr.« 62 An anderer Stelle spricht
Zen’kovskij zur Charakterisierung des russischen Denkens von
einem »mystischen Realismus, der die ganze Wirklichkeit der empi-
rischen Realität anerkennt, aber hinter ihr eine andere Realität sieht;
beide Sphären des Seins sind wirklich, aber hierarchisch ungleichwer-
tig; das empirische Sein besteht nur durch die ›Teilhabe‹ an der mys-
tischen Realität.« 63 Um anzudeuten, dass die hier erkennbar werden-
den Parallelen zu Spaemanns Verständnis des Seins als Korrelat eines
Aktes der Anerkennung und zu seiner Konzeption des metaphysi-
schen Realismus nicht zufällig sind, soll im Folgenden mit Pavel Flo-
renskij exemplarisch nur auf einen russischen Philosophen verwiesen
werden. 64 In seiner Studie »Der Sinn des Idealismus« 65 aus dem Jahr
1915 geht Florenksij von Platons Begriff der Idee als ἕν καὶ πολλά
aus, um die Frage nach den Universalien als Grundproblem der Phi-
losophie zu stellen. 66 In Anlehnung an Porphyrios entwickelt er eine

(ausnahmslos der christlichen Theologie verpflichteten) ontologistischen Denker gilt,


daß diese primäre, jegliche andere Erkenntnis bedingende Erkenntnis des absoluten
Seins weder eine Einsicht in dessen Wesenheit noch eine Schau Gottes im Sinne der
von der Offenbarungstheologie gelehrten ›visio beatifica‹ darstellt, sondern lediglich
ein apriorisches intuitives Wissen um die unvorgreifliche Präsenz des realen absolu-
ten Seins in dem Selbstvollzug des endlichen Geistes.« – Ebd.
62
Im Original: »[…] русский онтологизм выражает не примат ›реальности‹
над познанием, а включенность познания в наше отношение к миру, в наше
›действование‹ в нем.« – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 16 (Übersetzung:
MM).
63 Im Original: »[…] мы имеем здесь дело с мистическим реализмом, который

признает всю действительность эмпирической реальности, но видит за ней


иную реальность; обе сферы бытия действительны, но иерархически нерав-
ноценны; эмпирическое бытие держится только благодаря ›причастию‹ к
мистической реальности.« – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 39–40 (Über-
setzung: MM).
64 Pavel Florenskij (1882–1937) wird von Spaemann selbst in mehreren Texten er-

wähnt, vgl. z. B. Spaemann, Perspektive und view from nowhere (2005), 273, Ders.,
Was heißt »Die Kunst ahmt die Natur nach«? (2007), 342, Ders., Antinomien der
Liebe (2007), 22, Ders., Über Gott und die Welt (2012), 267.
65 Titel im Original: »Смысл идеализма«. – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 68–144. –

N. O. Losskij zählt diese Studie in seiner »Geschichte der russischen Philosophie« zu


den drei wichtigsten Werken Florenskijs. – Vgl. Losskij, Istorija russkoj filosofii, 231.
66 Vgl.: »Проблема универсалий есть вершина основной проблемы филосо-

фии, и надо ничего не понимать в философии, чтобы не видеть этой про-

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

Typologie möglicher philosophischer Lehren, in der je zwei Formen


des »Realismus« (»Platonismus« und »Peripatetismus«) und des
»Terminismus« (»Conceptualismus« und »Nominalismus«) sowie
drittens der Nihilismus unterschieden werden. 67 Terministische Leh-
ren führt Florenskij zurück auf einen »metaphysischen und gnoseo-
logischen Egoismus« 68, der zum Solipsismus tendiert, wohingegen
realistische Lehren hervorgebracht werden von der »Empfindung
einer Seinsverwandtschaft« 69, die in der Erfahrung von Lebendigkeit
begründet ist. Während Florenskij Antike und Mittelalter von realis-
tischen Lehren dominiert sieht, steht das neuzeitliche Denken – in
seiner leitmotivischen Kritik an diesem spricht er von der »Renais-
sancezivilisation« 70 – im Zeichen terministischer Lehren. Ähnlich wie
im Denken Spaemanns ist der Umbruch an der Schwelle der Neuzeit
bei Florenskij mit der Verdrängung des Lebensbegriffs durch das
»Gesetz der Identität« 71 verbunden. Realistische Lehren bzw. der
Idealismus sind daher für ihn untrennbar mit dem Begriff des Lebens
verbunden:
Der Idealismus ist das »Ja« zum Leben, denn eben das Leben ist die
ununterbrochene Verwirklichung des ἕν καὶ πολλά. Und wenn man
sich fragt, woraus sich die Lehre von den Ideen entwickeln konnte,
dann kann man kaum irgendetwas hierzu Geeigneteres finden als das
lebendige Wesen. Das lebendige Wesen ist die anschaulichste Erschei-
nung der Idee. 72
Ähnlich wie Spaemann gibt es auch für Florenskij keine zwingende
Evidenz, die zum Idealismus führen kann, sondern es geht dabei um
eine freie Entscheidung und den Akt der Anerkennung. Nur durch

блемы.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 83. – Deutsch: »Das Problem der Univer-
salien ist der Gipfel des Grundroblems der Philosophie und man muss nichts von
Philosophie verstehen, um dieses Problem nicht zu sehen.« (Übersetzung: MM)
67
Vgl. Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 79–83.
68 Vgl.: »[…] метафизический и гносеологический эгоизм«, ebd. 83.

69
Vgl.: »[…] движения реалистические порождаются ощущением срод-
ственности бытия«, ebd. 84.
70 Im Original: »возрожденская цивилизация« – vgl. z. B. »Итоги«, deutsch:

»Bilanz«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 369.


71 Vgl.: »законъ тождества«, in: Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, 27.

72 Im Original: »Идеализм есть ›да‹ жизни, ибо жизнь-то и есть непрерывное

осуществление ἕν καὶ πολλά. И если спрашивать себя, из чего могло обра-


зоваться учение об идеях, то едва ли можно найти что-нибудь более при-
годное сюда, нежели живое существо. Живое существо – это наиболее на-
глядное проявление идеи.« – Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 91 (Übersetzung MM).

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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens

die Wahl der Selbsttranszendenz kann das Gesetz der Identität über-
wunden werden, wodurch sich die von Zen’kovskij erwähnte philo-
sophische Einbindung des Erkenntnisakts in unsere Handlungsvoll-
züge ergibt. Der paradigmatische Fall dieses Erkenntnisakts ist für
Florenskij die Wahrnehmung der ›Person‹ (ličnost’): »Die Erkenntnis
ist also kein Ergreifen des toten Objekts durch das raubgierige gno-
seologische Subjekt, sondern eine lebendige sittliche Gemeinschaft
der Personen, von denen jede jeder als Subjekt und als Objekt dient.
Im eigentlichen Sinne erkennbar ist nur die Person und nur durch
die Person.« 73 Ebenso wie für Spaemann ist die Person für Florenskij
kein »qualitativer Bestand« 74, geht ihr ›esse‹ nicht in ihrem ›percipi‹
auf: 75
[…] die menschliche Person, die nicht sinnlich gegeben ist, die überall
im Sinnlichen durchscheint, immer im Sinnlichen schimmert ähnlich
einem sich hinter einem Zaun Verbergenden, gerade sie ist das ens
realior im Vergleich zu der sinnlichen Hülle, in der sie wahrgenom-
men wird; die Person ist eine Realität mit einer höheren Dichte im
Vergleich zu der mageren Realität der Sinnlichkeit. 76
Wie bei Spaemann ist die Person bei Florenskij paradigmatisch für die
ontologische Differenz, die erst von ihr bewusst wahrgenommen wer-
den kann, das Sein aber insgesamt durchwirkt: »Nichts Äußerliches
für sich genommen kann mit dem Universale gleichgesetzt werden;
andererseits aber ist alles in der einen oder anderen Weise von ihm
durchleuchtet.« 77 An dieser Stelle klingt die für die russische Philoso-
phie typische Gedankenfigur der ›Ungetrenntheit‹ und ›Unvermisch-

73 Im Original: »Итакъ, познанïе не есть захватъ мертваго объекта хищнымъ


гносеологическимъ субъектомъ, а живое нравственное общенïе личностей,
изъ которыхъ каждая для каждой служитъ и объектомъ и субъектомъ. Въ
собственномъ смыслѣ познаваема только личность и только личностью.« –
Florenskij, Stolp i utverždenie istiny, 74 (Übersetzung: MM).
74 Spaemann, Personen (1996), 39.

75
Vgl. ebd. 191.
76 Im Original: »[…] личность человеческая, не данная нам чувственно, по-

всюду в чувственном сквозящая, всегда меж чувственного мелькающая, по-


добно притаившемуся за частоколом, она-то и есть ens realior в сравнении с
чувственной оболочкой, в которой она воспринимается; личность – реаль-
ность высшей плотности, в сравнении с тощей реальностью чувственного.«
– Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 119 (Übersetzung: MM).
77
Im Original: »Ничто внешнее, само по себе, не может быть отождествлено
с universale; но, с другой стороны, все, так или иначе, просвечивает им.« –
Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 136 (Übersetzung: MM).

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12 Funktion, Bedeutung und Potentiale des Begriffs der Begegnung

theit‹ (›nerazdel’nost‹ – ›neslijannost‹) 78 des Transzendenten und des


Immanenten an. Dieses Verhältnis ist kennzeichnend für alles Leben-
dige, in dem es als ontologische Differenz wahrnehmbar ist: »Die
ganze Natur ist beseelt, durch und durch ist sie lebendig, – im Ganzen
und im Einzelnen.« 79 Dieser lebendige Zusammenhang der Natur
kommt nach Florenskij erst in der menschlichen Person bzw. in der
Gemeinschaft der Personen zu sich selbst:
Wirklichkeit ist nur dem Leben gegeben, der lebendigen Beziehung
zum Sein; Leben ist ein unablässiges Umstürzen abstrakter Selbst-
Identität, ein unaufhörliches Absterben von Einzigkeit, um in Ge-
meinschaft zu wachsen. Indem wir leben, gelangen wir zur Gemein-
schaft mit uns selbst – im Raum und in der Zeit – als ein ganzheitlicher
Organismus; aus einzelnen, nach dem Gesetz der Identität einander
ausschließenden Elementen, Teilchen, Zellen, Seelenzuständen usw.
usw. sammeln wir uns zu einem Ganzen. So sammeln wir uns zur
Familie, zum Geschlecht, zum Volk usw., einen uns zur Menschheit
und umfassen in der Einheit des Menschlichen die ganze Welt. 80
Florenskijs Begriff der Gemeinschaft (sobornost’) an dieser Stelle
kann im Zusammenhang gesehen werden mit Spaemanns Gedanken
des apriorischen Beziehungsraums der Personen, insofern auch für
Florenskij die Fundierung des Personseins im Leben die ursprüng-
liche Verbundenheit der Personen in der Gemeinschaft impliziert. –
Über diese knappen Andeutungen kann an dieser Stelle nicht hinaus-
gegangen werden. Deutlich sollte in ihnen jedoch geworden sein, dass
eine vergleichende Analyse der Philosophie Spaemanns mit dem

78 Vgl.: »… трезвое чувство ›нераздельности‹, но и ›неслиянности‹ мира бо-


жественного и человеческого …«. – Zen’kovskij, Istorija russkoj filosofii, I, 39.
79 Im Original: »Вся природа одушевлена, вся – жива, в целом и в частях.« –

»Общечеловеческие корни идеализма«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (2), 151


(Übersetzung: MM).
80
Im Original: »Реальность дается лишь жизни, жизненному отношению к
бытию; а жизнь есть непрестанное ниспровержение отвлеченного себе-то-
ждества, непрестанное умирание единства, чтобы прозябнуть в соборно-
сти. Живя, мы соборуемся сами с собой – и в пространстве, и во времени,
как целостный организм, собираемся воедино из отдельных взаимоисклю-
чающих – по закону тождества – элементов, частиц, клеток, душевных со-
стояний и пр. и пр. Подобно мы собираемся в семью, в род, в народ и т. д.,
соборуясь до человечества и включая в единство человечности весь мир.« –
»Итоги«, deutsch: »Bilanz«, in: Florenskij, Sočinenija, 3 (1), 366 (Übersetzung: Fritz
Mierau, in: Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens, 254).

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12.3.5 Pavel Florenskij und der Begriff des Lebens

Denken beispielsweise Florenskijs aussichtsreich sein und im Sinne


Goerdts auch zu einer west-östlichen philosophischen Verständigung
zwischen deutscher und russischer Philosophie beitragen könnte. 81

81Vgl. den »philosophischen Nekrolog« von Vladimir Mironov und Dagmar Miro-
nova auf Robert Spaemann »Философ и общественная позиция. Роберт Шпе-
ман (1927–2018)«, [Deutsch: »Philosoph und gesellschaftliche Position. Robert Spae-
mann (1927–2018)«], in: Sociologičeskoe obozrenie. 2019. T. 18. Nº 1, 282–293.

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Schlusswort

Im Ineinandergreifen der Argumentationslinien des zweiten und des


dritten Teils dieser Arbeit, des Nachvollzugs eines philosophischen
Denkens am Leitfaden des Begriffs der Begegnung im zweiten Teil
und der Thematisierung alternativer Perspektiven auf dieses Denken
bzw. seinen Themenbereich im dritten Teil, stand immer wieder die
Frage nach der Grenze des Wissbaren im Mittelpunkt. Die Kohärenz
dieser Arbeit ergibt sich aus einem Geist, der unter Rückbezug auf
Kapitel 4 und den amour-pur-Streit vergegenwärtigt werden kann.
Ein philosophisches Denken, das sowohl religiösen Inspirationen als
auch einer intersubjektiven Verständigung im Diskurs gegenüber of-
fen ist, muss Außenperspektiven auf sich zulassen und die Motive der
eigenen Argumentationen reflektieren. Das einzige Motiv, das im
philosophischen Diskurs rechtfertigbar ist, liegt im Streben nach
Wahrheit. Spaemanns Philosophie, die ausgehend vom teleologischen
Phänomen zur Grenze des Denkens im personalen Standpunkt führt,
ist in ihrer Klarheit und Nüchternheit ein Versuch, den amour pur zu
aktualisieren, auch wenn seine Philosophie sich im Sinne einer Dop-
pelcodierung mit Erwägungen verbindet, die auf andere Motive als
das genannte zurückgeführt werden könnten.
Spaemann muss nach allem, was diese Studien ergeben haben,
als Grenzgänger gesehen werden zwischen dem philosophisch Wiss-
baren und seinem Anderen – dem Gefühl, dem Unbewussten, dem
Absoluten. Und nur von einem solchen Grenzgänger ist auch eine
Philosophie der Begegnung zu erwarten, deren Charakteristikum es
gerade ist, an dieser Grenze ihr gedankliches Zentrum zu haben. Zum
Abschluss sei noch einmal Bezug genommen auf den Begriff der Per-
spektive, mit dessen Reflexion der abschließende dritte Teil dieser
Arbeit begonnen wurde. Der zuletzt thematisierte Pavel Florenskij
führte die Entwicklung der Zentralperspektive in der Malerei der

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Schlusswort

Renaissance auf das »Identitätsgesetz des abstrakten Denkens« 1 zu-


rück und untersuchte ihr gegenüber die »umgekehrte Perspektive«
als Eigenschaft des »geistigen Raums« ebenso in der Ikonenmalerei
wie in zahlreichen Werken der neuzeitlichen Kunst. 2 Das Ergebnis
der abschließenden Untersuchungen dieser Arbeit steht in einem en-
gen Verhältnis zu dieser Idee der umgekehrten Perspektive. Der Aus-
gang von der konkreten – leiblich situierten – Perspektive als Gegen-
entwurf zur abstrakten – transzendentalen – Perspektive führte seit
dem sechsten Kapitel der vorliegenden Arbeit durch die Idee einer
Umkehr der Perspektive zur zentralen Verbindung von Teleologie
und Personalität. Im dritten Teil wurde dieser Zusammenhang ab-
schließend durch den ontologischen Begriff der Begegnung als Zum-
Sein-Kommen diskreter, von ihrem Aussein-auf bestimmter Entitä-
ten gefasst. Die Seinswahrnehmung, die als Voraussetzung jedes Be-
gegnungsgeschehens gekennzeichnet wurde, ist, da es sich bei ihr
nicht um eine qualitative sinnliche Wahrnehmung handeln kann,
am genauesten als Schönheitswahrnehmung bestimmbar. Wahrneh-
mung von Schönheit aber ist die Wahrnehmung eines von der eige-
nen Perspektive unabhängigen Zentrums von Bedeutsamkeit. Durch
diese Wahrnehmung vollzieht sich das Paradoxon der Umkehr der
Perspektive im Ereignis der Begegnung.

1 Vgl.: »Перспектива в изобразительности и схематизм в словесности – по-

следствия этого отрыва от реальности; впрочем, это даже не последствия, а


последствие, единое последствие – рассудочность, – она же – закон тожде-
ства отвлеченного мышления.« – »Итоги«, deutsch: »Bilanz«, in: Florenskij,
Sočinenija, 3 (1), 364–365. – Deutsch: »Die Perspektive in der Malerei und der
Schematismus in der Literatur sind die Folgen dieser Loslösung von der Wirklichkeit;
übrigens weniger die Folgen als vielmehr die eine Folge – bloße Verstandestätigkeit,
bzw. das Identitätsgesetz des abstrakten Denkens.« – Übersetzung: Fritz Mierau, in:
Florenski, An den Wasserscheiden des Denkens, 252.
2 Vgl. »Обратная перспектива«, deutsch: »Die umgekehrte Perspektive«, in: Flo-

renskij, Sočinenija, 3 (1), 46–103.

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Wenn ein schlimmer Zufall des Lebens uns das Glück raubt [Rezension zu:
Philippa Foot, Die Natur des Guten], in: Frankfurter Allgemeine Zei-
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Adorno, Theodor W. 98 f., 308, 911 Buchheim, Thomas 79 f., 352, 517,
Albertus Magnus (Albert der Große) 557, 558–560, 685, 705–707, 716–
204, 235, 240, 359, 374 723
Anaxagoras 220 f.
Aristoteles 45 f., 52, 54, 59, 85, 119, Campanella, Tommaso 122, 141, 246
122, 174–177, 220, 222, 225–233, Comte, Auguste 124, 167, 363
235–239, 241 f., 274, 287, 290, 306, Cramer, Friedrich 688, 913
308, 312–314, 323, 324–330, 333, Cusanus, Nikolaus 693
335 f., 338 f., 341–343, 346, 348, Darwin, Charles 248–250, 252–254,
359, 362, 368 f., 373 f., 378, 386, 687
396, 398, 424, 431, 439–446, 452,
468, 485, 489, 500, 506 f., 533 f., Descartes, René 47–50, 60, 103, 107,
536, 540 f., 543, 573, 578, 580, 582, 119–121, 153–158, 178, 181, 245,
614, 638, 654, 684, 692 f., 734, 770, 309–313, 323 f., 335, 340, 341–351,
791 f., 804 f., 869–874, 876, 878, 360 f., 363, 373, 376–380, 387, 391,
882, 885 f., 897, 900–903, 912 399, 405 f., 460, 512, 522, 525–529,
Augustinus 78, 103, 204, 354, 359, 531, 533–539, 542, 548–552, 558,
483, 505, 569, 630, 793 f., 803 f., 562 f., 573, 594, 606 f., 639, 643 f.,
875 676, 709, 711 f., 714, 727, 731, 741,
Averroes 235, 237, 244 765, 781 f., 800, 815 f., 830, 832,
Avicenna 235, 237, 338, 526, 581 873–875, 912, 925
Duns Scotus 235, 274, 534
Bacon, Francis 139, 217, 246, 377, Duplá, Leonardo Rodriguez 472 f.,
730 478
Bexten, Raphael E. 534, 579
Bloch, Jochanan 23, 25 f., 57, 920, Ebeling, Hans 142 f., 878
923 f. Empedokles 229
Blumenberg, Hans 142, 878 Epikur 140, 159, 234, 445 f.
Boethius 579, 792, 804
Bonald, Louis-Gabriel-Ambroise de Fénelon, François 103, 113, 133–184,
102–125, 133, 135 f., 138, 167, 180, 187, 190, 204, 212, 219, 240 f., 246,
186 f., 246 f., 300, 319, 342, 350, 294, 320 f., 337, 350, 434, 450 f.,
363, 444, 735, 761 480, 562, 602, 613, 694 f., 747
Breitsameter, Christof 200, 205, 869 Fichte, Johann Gottlieb 21, 183, 868
Buber, Martin 19–21, 23–26, 28, 58, Florenskij, Pavel Aleksandrovič 890,
184, 851, 920–924 928–933, 935 f.

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Personenregister

Foot, Philippa 673 363, 369, 393, 399 f., 415 f., 421 f.,
Foucault, Michel 389–391, 652 425 f., 451–454, 460, 465, 476,
Frankfurt, Harry G. 510, 602, 628, 480 f., 484, 495–497, 499 f., 505 f.,
732, 801, 840, 852, 911 523, 537 f., 543, 553 f., 570, 615,
620 f., 682 f., 695, 704, 741 f., 749,
Goethe, Johann Wolfgang von 28–32, 787, 795, 798, 802, 805, 823, 827,
412, 482, 518, 656, 903, 918 f. 832, 835
Grimm, Jacob und Wilhelm 22, 662, Kleist, Heinrich von 172–174, 621,
890 695
Kobusch, Theo 628, 786–788, 789–
Habermas, Jürgen 100, 491, 871 807, 809 f., 818, 828, 832, 861–863
Hartmann, Nicolai 98, 768 Kruse-Ebeling, Ute 379 f., 471, 684 f.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 23, Kuciński, Andrzej 281, 286, 520, 757,
52 f., 57, 68, 99, 102, 111, 114, 176, 759, 775–784, 861
258, 268, 271, 297, 299, 308, 316, Kuhn, Thomas S. 253,
330, 345, 398, 444, 560, 572, 584,
726, 793, 796, 868, 897 Langthaler, Rudolf 553, 620
Heidegger, Martin 48, 98, 323–325, Larmore, Charles 608
327, 330, 340 f., 373, 400, 465, La Rochefoucauld, François de 146 f.,
468 f., 614, 768, 926 190
Henrich, Dieter 63 f., 142 Leibniz, Gottfried Wilhelm 50, 103,
Hobbes, Thomas 49, 111–113, 115, 113, 158–161, 180, 321, 324, 351–
203, 245, 278 f. 361, 363, 385, 562, 694 f., 732, 748,
Hoerster, Norbert 515 f. 810, 818, 821, 832, 842, 892
Homer 436, 564 f. Lessing, Gotthold Ephraim 748
Horkheimer, Max 98 f., 308, 911 Levinas, Emmanuel 21, 419, 827,
Hume, David 49 f., 103, 512, 525, 921
529, 531–533, 535 f., 587, 703, Lewis, Clive Staples 460
832 Locke, John 49, 103, 512, 525, 529–
Husserl, Edmund 23, 47, 346, 538, 533, 535 f., 587, 787, 810, 818–823,
551 f., 670, 674, 760 831 f., 840–843
Lorenz, Konrad 251, 257, 260
Isak, Rainer 280–286, 291, 867–869, Löw, Reinhard 185, 215–291, 320,
912 f. 723, 777, 780, 867 f., 870–872, 900,
912
James, William 634
Jantschek, Thorsten 519 f. Madigan, Arthur 757 f.
Jaspers, Karl 268, 707–715, 768 Marcel, Gabriel 21, 923
Jean Paul 146, 180, 183 f. Meisert, Stefan 624, 757
Jonas, Hans 266, 284, 871, 913 Meister Eckhart 297 f.
Merleau-Ponty, Maurice 924–927
Kaempfer, Wolfgang 688, 913 Musil, Robert 35, 537
Kallikles 305, 387–389
Kant, Immanuel 42, 44, 50–52, 54, Nagel, Thomas 548, 657, 813, 815,
56 f., 66, 68, 74, 77–80, 109 f., 141, 828, 911
168–171, 183, 197, 243, 250 f., 255, Nietzsche, Friedrich 74, 187, 261 f.,
261–267, 308 f., 311, 325, 340, 361– 268–272, 395, 453–455, 460, 477,

960

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.
Personenregister

668, 723 f., 726, 750, 792, 796, 798, Schönberger, Rolf 47, 273, 336, 338,
805, 891 f. 346, 582, 705, 724, 758, 768–774,
Nusser, Karl-Heinz 382, 560 861
Schopenhauer, Arthur 169 f., 174,
Origenes 576, 799 268, 291, 453 f., 465, 470, 796, 808
Ortega y Gasset, José 750–753 Schramm, Matthias 218 f., 250, 254,
263
Pareto, Vilfredo 304 Schweidler, Walter 33, 60, 670, 683,
Parfit, Derek 515, 533, 786 737 f., 739
Pascal, Blaise 183, 335, 413, 704 Singer, Peter 515–517, 533
Paulus 199, 567 f., 706, 710 Sokrates 22, 191, 220, 326, 388 f., 436,
Philon von Alexandreia 78 530, 650, 709, 795
Pietrowski, Damian 89, 520, 757 Spinoza, Baruch de 53, 68, 112, 122 f.,
Platon 22, 59, 174, 176 f., 191, 207, 138–141, 200, 247 f., 270, 362, 751
219, 220–225, 226 f., 231, 233, 235, Strauss, Leo 210, 242, 871
246, 258, 262, 292, 294, 305, 308, Struve, Wolfgang 55–59, 76
327, 329, 353 f., 375, 384, 386–396, Sturma, Dieter 785–788, 808–836,
398, 422, 424, 431, 435–440, 444 f., 862 f.
452, 489, 500, 506 f., 536, 554, 564– Suarez, Francisco 175, 360, 795, 798
566, 580, 633, 650, 653 f., 663, 682,
691 f., 707, 709–713, 790, 880, 929 Taylor, Charles 800
Plessner, Helmuth 61, 69, 75, 392, Telesio, Benardino 122, 141, 246
447, 458, 798 Tetens, Holm 67, 545
Plotin 59, 297, 575 f. Theunissen, Michael 19 f., 23–25,
Portmann, Adolf 686 f., 884, 913 57 f., 750, 920–923
Putnam, Hilary 512, 753 f., 889 Thomas von Aquin 52, 112, 126–131,
139, 150, 161–166, 174, 178 f.,
Quante, Michael 785, 787 f., 837–859, 199 f., 219, 234–241, 246, 274,
862 f. 286 f., 321, 326, 332–336, 339,
Quine, Willard van Orman 326, 341, 353 f., 357, 359, 361, 374, 448 f.,
363, 365, 374, 656 452, 471, 536, 580–582, 587, 680,
719, 730, 780, 804, 807, 869, 871–
Ricœur, Paul 528, 800 875, 877, 882, 901
Ritter, Joachim 85, 98–100, 102, 105,
124 f., 136, 211, 313–315, 911 Wald, Berthold 807
Rousseau, Jean-Jacques 108 f., 112 f., Wetz, Franz Josef 73–75
115, 180, 185 f., 187–214, 241, 285, Whitehead, Alfred North 361–371,
296 f., 316, 321, 446, 465 f., 469, 562, 735, 768, 911
639 f., 795 Wittgenstein, Ludwig 88, 345, 403,
407, 816
Scheler, Max 510, 630, 666, 668–679,
683, 688, 714 Zaborowski, Holger 33–35, 121 f.,
Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 125, 294, 520, 561, 754, 757–759,
557, 561, 762, 767, 824, 832 f. 760–767, 861
Schiller, Friedrich 453, 872 Zwierlein, Eduard 246, 375, 597, 704

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Sachregister

Absolute, das 125, 136, 186, 240, 246, Analogie, analog (s. auch metaphy-
258, 292–294, 299 f., 302 f., 309, sisch-analoges Denken) 42, 51, 76,
318, 354, 379, 382, 396, 398, 406, 197, 259, 267, 278, 329 f., 335,
409–411, 413, 418, 447, 466, 472, 342 f., 369, 374 f., 377, 383, 389,
481, 503, 508, 514, 576, 593–595, 406, 420, 460, 462, 478, 513, 536,
601, 643, 645 f., 648 f., 667, 677, 552, 558–561, 573, 586–588, 595 f.,
703, 708, 712 f., 719, 737, 802, 866, 599, 646 f., 658–661, 677 f., 684 f.,
904, 935 696, 770, 782 f., 883, 886, 906
Agnostizismus, agnostisch 32, 73, Andere, der/das 21, 37, 43, 54, 56,
265, 591, 697, 819, 882 80 f., 165, 183, 198, 223, 296, 298,
Ähnlichkeit 230, 342, 381, 479, 652– 307, 350 f., 370, 392, 417–419, 427,
666, 673, 677, 680, 684, 726, 742, 448 f., 458 f., 468, 472–476, 483,
883 f., 892 f. 485, 487 f., 494 f., 498, 502, 504,
Aktualisierung, Aktualisierbarkeit 546, 555 f., 568 f., 571, 573, 576,
28, 41 f., 54 f., 65, 68, 86, 286, 328, 607–609, 620, 640, 662, 683, 695 f.,
332, 360, 370, 374, 384, 390 f., 713, 725, 731 f., 773, 776, 807,
393 f., 396–399, 408, 410, 416, 421– 822 f., 827, 834–846, 854, 862 f.,
423, 445, 455 f., 475, 489, 500, 506, 876, 880, 889, 907, 918, 921, 923,
512, 525, 541, 543, 548 f., 551, 935
554 f., 557, 560, 562 f., 572 f., 597, Anerkennung 76, 86, 284, 287, 289,
599, 638, 682 f., 713 f., 722, 736 f., 291, 302, 304, 315, 317 f., 321,
753, 765, 804, 864, 869–871, 874, 326 f., 340, 370, 372, 392–395, 399–
876 f., 881 f., 885 f., 910 401, 406 f., 411, 418, 420, 443, 471,
Akzidens, Akzidentien 46–50, 346, 475, 483, 487 f., 495, 500, 503, 518,
348, 378, 510, 533, 789, 793 523, 542, 549, 553, 556 f., 592,
amor (s. auch ordo amoris) 144, 148, 597 f., 607 f., 616, 631, 660 f., 674 f.,
162, 165, 436, 463, 507, 555, 568– 689, 715, 722, 732–735, 738, 740–
570, 630 742, 753, 771, 773, 781 f., 799, 826,
– amor benevolentiae 394, 396, 411, 828 f., 834–836, 852, 854, 856 f.,
413, 420, 456, 468, 473, 478, 480, 881 f., 884, 889, 906, 929, 931
487, 555, 598, 732, 778 animal rationale, ζῷον λόγον ἔχον
– amor concupiscentiae 178, 394, 119, 444, 587, 618, 862, 903
468, 473, 598 An-sich 331, 448 f., 527, 554, 641
Anachronismus, anachronistisch 54, Anthropologie, anthropologisch (s.
75, 86, 165, 176 f., 325, 328, 737, auch anthropologischer Dualis-
792, 804 mus) 32, 68, 103, 130, 160, 164,

963

https://doi.org/10.5771/9783495825488

.
Sachregister

207, 300 f., 331, 334–337, 339 f., 39, 44 f., 52–58, 67 f., 80–82, 85 f.,
392, 399, 416, 451, 453, 456, 458, 90, 182, 219, 280, 285, 351, 396,
464, 467, 481, 509 f., 512 f., 525, 408 f., 420, 456, 467, 472 f., 475,
537, 549, 555, 564, 571 f., 575, 482, 488, 514, 555 f., 593, 596, 598,
578 f., 583, 618, 644, 736, 742, 766, 602–606, 609–613, 615, 621–623,
777 f., 797, 801, 893 625, 631–633, 636, 648 f., 652 f.,
Anthropomorphismus, anthropo- 659, 665, 675, 680, 725, 732, 737 f.,
morph 29 f., 217, 228, 239, 244, 747, 752–757, 774, 786, 790, 803,
260, 278 f., 282, 288, 342, 364, 381, 805, 808, 811, 832, 835, 839, 861–
478, 657, 661, 737–740, 883, 887, 867, 877, 879–884, 886–891, 894 f.,
891–893, 906, 915 898, 900 f., 903–911, 914 f., 917–
Antinomie 187 f., 211, 287, 422, 439, 920, 922, 935 f.
441, 444, 447–452, 457, 475, 481, Bewandtnis, Bewandtniszusammen-
500, 573, 632 hang 468–472, 554, 569, 588, 771,
Aporie, aporetisch 32, 43, 57, 135, 773, 876 f., 879
206, 213, 421 f., 450, 457, 462, 464, Bewegung 80 f., 85, 221–223, 226–
505, 508, 536, 811, 873 229, 266, 276, 329, 536, 769, 840,
Apperzeption, transzendentale 52, 890–893, 899–901, 904, 906, 909 f.
54, 56 f., 66, 68, 537 Beweislast 218, 276 f., 381, 475, 543,
Apriori, apriorisch 55 f., 66 f., 250, 687, 689, 845, 893, 907
255, 267, 315, 399, 465, 513, 554, Beziehungsraum 598, 601–603, 606,
598, 601–603, 616 f., 625, 630, 644, 610, 612, 644, 651, 680, 774, 856,
651, 666, 676, 681, 687–690, 774, 889, 891, 907–909, 916, 925, 927,
856, 880, 886, 889, 891, 904 f., 907– 932
909, 916, 925, 927, 932 Bild 31, 55, 81 f., 135, 395, 406, 471 f.,
Aufklärung 114, 116 f., 167 f., 191, 474 f., 479, 481 f., 501, 503 f., 507,
202 f., 214, 297–299, 301, 307, 491, 569, 573, 593, 604, 617, 631, 684,
517, 636 694, 699–701, 712, 748, 753, 773,
Aussein-auf 80, 376, 382, 447, 486, 877 f., 880, 886, 899, 903 f., 916
539, 542, 546 f., 549, 585, 587–590, Biologie 248 f., 251–254, 259, 396,
593, 595, 597, 599, 601, 610, 646 f., 686, 692, 912
652, 656, 658, 664, 677 f., 683, 703, Blick von nirgendwo, view from
713, 724 f., 727, 741–743, 872, 874, nowhere 548, 553, 588, 594, 596 f.,
876 f., 882, 885 f., 888, 898 f., 901, 601, 618 f., 663, 677, 731, 874, 917
903, 905, 909, 925, 936
Autonomie 42, 76–79, 154 f., 167, Christentum, christlich 104, 135, 144,
201, 317, 339, 383, 425, 442, 454, 148, 150, 152, 158, 167, 174, 192 f.,
473, 503, 564–566, 631–633, 635, 199 f., 205, 207 f., 219, 234 f., 238,
691, 798, 802, 823, 832, 835, 841, 240, 272, 295–297, 302, 315, 333,
852 f., 908 f. 336–338, 348, 353 f., 395, 399, 403–
Autopoiesis, autopoietisch 538 f., 542, 407, 424, 446–448, 454, 468, 506 f.,
552, 560, 588 509 f., 513, 540 f., 564, 568, 571,
Axiom 138 f., 175 f., 204, 237, 239, 574–580, 583, 626, 668, 692 f., 706,
274, 295, 336, 398, 912 709 f., 726, 732, 762, 765, 778, 786,
794 f., 797, 799, 803–806, 871
Báñezianismus 357, 360 Codierung, doppelte 703 f., 725, 727,
Begegnung 19–22, 24–28, 30–33, 35– 744, 935

964

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.
Sachregister

cogito, cogitatio 44, 47 f., 98, 120 f., Diskurs, diskursiv 45, 53, 130, 184,
153 f., 178, 324, 341–351, 372 f., 289, 292 f., 376, 390 f., 393, 413,
376–379, 406, 460, 526 f., 532–535, 419, 421, 495–499, 754 f., 791,
539, 548, 551 f., 573, 586, 600, 606, 806 f., 861 f., 935
642–644, 647, 672, 676, 678, 712, Dualismus, anthropologischer 323,
733, 752, 754, 781 f., 830, 833, 873, 332–334, 339 f., 348, 350, 365, 377,
906, 925, 927 385, 396, 405, 447, 539–542, 642,
cognitio certa 153, 155, 165, 526, 542, 874
598 f., 639, 688, 708, 710 f., 713 dynamis/energeia, δύναμις/ἐνέρ-
conditio humana 317, 328, 333, 340, γεια 225, 368, 884, 900, 905, 909
411, 439–442, 456, 464, 466, 487 f.,
504, 612, 623, 638, 734, 737, 754, Einheitspunkt (von Ethik und Onto-
806, 832, 862 f., 895 logie/Metaphysik) 417, 419, 421 f.,
476–479, 504, 508, 512 f., 561, 564,
Darwinismus 248 f., 252–254, 269 569, 598
delectatio 159–161, 178, 694 f., 732 Emanzipation 189, 195, 197 f., 205 f.,
Determinismus 79, 357, 360 f., 626 f., 243, 279, 309, 649, 737, 743, 897
811 f., 915 Empirismus 49 f., 529, 533, 535, 767
Dialektik, dialektisch 20, 25, 57 f., 60, Entdeckung der Person 508, 513,
98 f., 106, 114–117, 122, 129, 177, 563–565, 571–574, 581, 583–585,
197 f., 200, 202, 214, 223, 269, 297, 588, 592, 596, 598 f., 602, 606, 613,
307, 313, 324, 345, 351, 364 f., 373, 615, 618, 627, 636, 638, 656, 663 f.,
377 f., 398 f., 541 f., 551–554, 566, 697 f., 704, 713 f., 740, 767, 786,
600, 604 f., 642 f., 657, 670, 699 f., 803, 856, 896 f., 902, 907 f., 924
710–712, 728, 731, 737, 740 f., 744, Entelechie, ἐντελέχεια 122, 198, 204,
750, 752–754, 760 f., 765, 777, 782, 213, 227 f., 539, 884, 900
863, 874, 882, 905, 910, 922 f., 925 Entfremdung (Selbstentfremdung)
Dialog, dialogisch 19–25, 38, 183, 81, 99, 135, 147, 152, 176, 187, 190,
797, 920, 922–924 192, 194, 205, 207–209, 562, 639
Dialogik, Dialogphilosophie 20 f., 23, Entität 71, 74, 521 f., 527, 529, 534 f.,
25–28, 42, 53, 57, 184, 798, 920, 922 538 f., 548 f., 551, 553, 571, 586,
Diastase 58, 710, 767 595, 600, 606, 626, 651, 654, 657,
Differenz 32, 42, 62 f., 68–71, 82, 88, 659, 661, 676 f., 733, 738, 740, 743,
127–129, 338, 346, 527, 546, 572, 752, 754, 786, 807, 819, 822, 827,
577–579, 581, 589, 596, 602, 618 f., 833, 837 f., 840, 844, 846, 850, 858,
622, 625, 653, 700, 715, 726, 731, 873, 875, 881 f., 887, 890–896, 898–
747, 899 901, 903–906, 909, 917, 925, 936
– Innen-Außen-Differenz 523, Entropie (s. auch Negentropie) 602,
539 f., 546 f., 552 f., 587 f., 595, 874, 604, 609, 611, 613, 622, 648, 688,
882, 895 f., 898 f. 718, 879
–, innere 59, 128, 130, 339, 349, 578, Entscheidung 21, 303, 306, 463 f.,
580, 585, 617, 620, 624 f., 783, 901 476, 503, 506, 540, 566, 569–571,
–, ontologische 73, 76, 150, 224, 231, 574 f., 588, 591, 594, 619, 629 f.,
585, 588, 596, 599, 651 f., 663, 632 f., 713, 715, 725 f., 777, 780,
665 f., 677 f., 685, 689 f., 712, 715, 875, 930
738, 773 f., 784, 870, 874, 888, 899, Entteleologisierung 123, 198, 207,
901–905, 931 f. 218 f., 242, 245, 248, 285–287, 331,

965

https://doi.org/10.5771/9783495825488

.
Sachregister

342, 355, 360, 373, 377, 541, 548, essentia 150, 339, 341, 348, 350,
711, 729, 733, 744, 805, 870, 882, 360 f., 405, 488, 534, 874
922 Essenz 127 f., 130, 597, 901 f., 904 f.
Entzweiung 99, 102, 135 f., 148 f., Ethik 109, 136, 138, 140 f., 145, 159,
152, 157, 176, 187, 190–193, 205, 167–169, 180, 247, 249, 260, 304,
211, 294, 296–299, 314 f., 640, 306, 308 f., 311, 387, 397, 402, 407,
735 409, 411, 413, 416–423, 425, 428,
epekeina tes ousias, ἐπέκεινα τῆς 435 f., 446, 448, 476, 485, 490–500,
οὐσίας 392, 581, 654 502, 554, 683, 695, 698, 738, 775,
Epistemologie, epistemologisch (s. 785
auch Spur, epistemologische) 68 f., – Pflichtethik 309, 422, 451–455,
81, 276, 589, 592, 599, 602, 651, 460, 484, 506
656, 697 f., 705, 713, 740, 762, 810, Eudämonismus, Eudämonie, εὐδαι-
812, 814, 817, 844 μονία 111, 140 f., 145 f., 167–169,
Ereignis 20–22, 24–26, 30–33, 42, 78, 176, 180, 308, 311, 315, 416, 421–
80 f., 86, 365, 367–369, 396, 458 f., 425, 428 f., 430–438, 440 f., 443–
467, 470, 472, 508, 555, 563, 569, 447, 448, 450–457, 460, 467, 475 f.,
574, 593, 597–604, 606, 609, 613, 485, 489, 506, 554, 562, 573, 638,
623, 625, 649, 664, 688, 713 f., 741, 802, 832
767, 835, 866, 889–891, 898, 904 f., Evolution 248–261, 270, 281–285,
907 f., 910, 915, 917–922, 936 364, 385 f., 666, 681, 686–688, 700,
Erinnerung 28, 31, 88, 317, 364, 383, 719
457, 530, 532, 607, 609 f., 653, 741, Existenz 73, 127 f., 130, 325, 337–339,
743, 765, 823, 908 f. 349, 354, 393, 405, 417, 502, 559 f.,
Erkenntnistheorie, erkenntnistheo- 581, 586, 593, 597, 708–710, 715,
retisch 41, 44, 48 f., 56, 107, 244, 721 f., 784, 809, 814 f., 817–820,
250, 255, 675, 690, 698, 723, 888, 822 f., 825–827, 833, 836, 892,
893, 902 901 f., 904 f.
Erscheinung 51 f., 265, 418, 475, 499, Existenzphilosophie, existenzphiloso-
503, 557, 590 f., 666, 686, 688 f., phisch 188, 196, 212, 294 f., 297
691, 697, 796 extensional/intensional 70 f., 343,
– des Seins 475, 593, 596, 776 515
Erwachen, Erwachtheit, Erwachtsein Exzentrizität, exzentrisch (s. auch
394, 459, 462–464, 467, 469 f., 473– Positionalität) 42, 61 f., 69–71, 73,
475, 477, 479–481, 484, 494, 500, 80, 392 f., 397, 447, 458
505, 507, 554 f., 569, 588, 591, 604,
610, 617, 619, 633, 866 fieri aliud inquantum aliud 296, 392,
– ursprüngliches Erwachtsein 463 f., 449, 458, 732, 740
466, 481, 555, 570, 605 finis cuius/finis quo (finis cui) 231–
Es-ist-zu-sein-Zustände 657, 659, 233, 237, 239, 244, 277, 288, 290,
813, 829, 835, 840 376, 431, 468 f., 474, 630, 870, 876,
Essayistik, Essayismus 34 f., 88, 172, 903
808, 837 Freiheit 42, 56, 76–81, 106, 115, 158,
esse 150, 338 f., 341, 343, 348 f., 350, 168, 189, 197, 204, 282, 284, 315,
360 f., 374, 405, 488, 533 f., 581, 317, 352–358, 360 f., 400, 404,
596, 598, 660, 700, 731, 794 f., 798, 425 f., 430, 451, 461, 463–466, 473,
800, 874, 902, 931 497, 503, 514, 556, 565–567, 576,

966

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Sachregister

581 f., 594, 598, 602, 622 f., 625– 806 f., 870 f., 873, 875 f., 878, 886,
635, 638, 641, 645–647, 677, 708, 897 f., 904
733, 741, 760–762, 785 f., 789 f., – Gottesbeweis 302, 648, 667, 704,
793–807, 809, 811 f., 828, 831, 879– 714 f., 723 f., 744
881, 883, 902, 914 f., 917 Grammatik 44, 509, 578, 723, 792,
Funktionalismus (Funktionalisie- 816
rung), funktionalistisch 120 f., Gute, das 59, 207, 223–225, 229, 290,
124–126, 136, 139, 300 f., 307, 313, 292, 304–306, 320, 387–389, 392,
403, 425, 431, 444, 685 f., 743, 886, 395, 408, 411, 436–440, 445, 451,
888, 897, 904 507, 554, 566, 571, 587, 654, 669,
Für-sich 331, 366, 394, 448 f., 726 675, 680, 682 f., 691, 708–710
futurum exactum 648, 703–705, 707,
714–716, 718, 721, 744, 772, 856 Hermeneutik, hermeneutisch 85 f.,
89, 100, 117, 136, 295, 306, 308,
Gabe 203, 443 f., 464, 468, 473, 475, 314, 331, 340, 424, 439, 441, 513,
505, 897 563 f., 570, 573 f., 583, 741, 803,
Geltung 221 f., 259, 325, 385 f., 396, 839, 851, 918, 924
411, 417, 420, 471, 477, 672, 743 Herrschaft 61, 114, 195, 217, 245,
genius malignus, Täuschegeist 155, 277–279, 298, 317, 496 f., 528 f.,
344, 347 f., 781 535, 549, 565, 570, 607, 646, 726,
Gewissen 210 f., 310 f., 409–411, 415, 742–744
418, 454, 514, 614, 618–621, 635, Herz 183 f., 513, 564, 570 f., 574 f.,
641, 917 580, 589, 591, 602, 627, 630 f., 705,
Glaube 57 f., 124 f., 134, 136, 167 f., 803 f.
177 f., 181, 272, 282, 295–297, 301, Horizont 32, 41 f., 44, 55 f., 58 f., 61–
337, 363, 402, 404 f., 437, 452, 571, 63, 65, 69–71, 81, 86, 97, 130, 272,
575, 704–715, 723–727, 738, 741, 289 f., 292 f., 344–348, 363, 392 f.,
744, 792, 805, 882 418, 429 f., 432, 442, 445, 447,
Gleichnis 31, 88, 144, 173, 363, 424, 458 f., 466, 479, 487, 550, 562 f.,
433 f. 566, 570, 573, 613, 621, 718, 874
Gnade, gratia 140, 150, 199–201, 207, hypokeimenon, ὑποκείμενον 45 f.,
235, 240, 355, 357, 359 f., 468, 540, 82, 226, 368
777, 793, 797 f., 806 f., 921 Hypostasierung, hypostasieren 74,
Gott, göttlich 29 f., 56, 59, 103–105, 410, 527, 534 f., 537, 539, 548 f.,
110 f., 124, 126–130, 134 f., 144, 553, 586, 595, 600, 606, 651, 677,
147–151, 156–159, 162–164, 167, 733, 738, 740, 743, 752, 754, 807,
170, 172, 174–176, 181 f., 199–201, 833, 873, 875, 881 f., 906, 917,
207, 223, 231–234, 236–240, 244, 925
246, 269, 272, 274, 283, 287, 290,
295, 298, 300–303, 333–337, 347– Ich-Du/Ich-Es 19 f., 24 f., 57 f., 851,
349, 352–361, 394 f., 399, 404 f., 921–924
407, 431, 440, 443 f., 447, 449 f., Identität 80, 126–129, 148, 150, 152,
464–466, 468, 481 f., 492, 509 f., 159 f., 175, 177, 207, 211 f., 224,
540, 568, 570, 575–582, 595, 610, 257, 271, 297, 301, 305, 367 f., 371,
613, 638, 643, 645–648, 678, 693 f., 382, 421, 437, 482, 513, 522 f., 527,
703–708, 710–712, 722–724, 726 f., 529–531, 536, 555, 571, 606, 610,
777 f., 782, 792, 797–799, 802, 615, 622, 633, 637, 639 f., 649, 653,

967

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Sachregister

662, 678, 682 f., 709, 783 f., 823, Interpersonalität, interpersonal 81,
827, 833, 838, 843, 847, 849, 851, 456, 472 f., 475, 488, 502, 507,
854, 857, 873, 881, 888, 890–892, 555 f., 593, 596, 604 f., 612, 621 f.,
899 f., 902, 922, 930–932, 936 631, 649, 652, 659 f., 665, 675, 680,
–, numerische 527, 534, 555, 593, 838 738, 752 f., 822, 832, 835 f., 862,
–, personale 50, 514, 529–533, 587, 866, 877, 879, 883 f., 886, 888
600, 607, 613, 623, 786, 818–822, Intersubjektivität, intersubjektiv 20,
831, 837, 840, 844, 881 80, 367, 370, 420, 467, 527 f., 532,
Idiosynkrasie 55, 70, 108, 111, 155, 602, 604–606, 608 f., 612 f., 616,
345, 379, 551, 594 f., 661, 674, 697, 622 f., 625, 793, 796, 798 f., 803,
715, 738, 740, 885, 889, 915 845, 855, 876, 879, 908, 922,
Imperativ 397, 475–477, 481, 494, 925
570 Intuition, intuitiv 33, 35, 44, 53, 55,
–, kategorischer 77, 169, 308, 415, 76, 154, 319, 410, 413, 416, 421,
452, 454, 495, 499, 823, 863 439, 457, 492, 494, 615, 626, 764,
Impersonalität, impersonaler Stand- 804, 845, 851
punkt 823, 832, 835, 863 Iteration 272, 293, 463, 601, 618 f.,
Indexikalität 662 f., 665, 822 f., 831, 676
880, 887
Inkommensurabilität, inkommensu- Kausalität, kausal 78, 161, 168, 181,
rabel 213, 377, 430, 471, 479, 514 f., 216 f., 231, 234, 242, 246, 248, 252,
615, 659 254–256, 259, 261, 264–266, 274,
Instantaneität, instantan 50, 527 f., 276–278, 287, 289 f., 298, 355 f.,
530–533, 535, 600, 606 f., 609, 622, 379, 459, 486, 539, 543, 647 f., 673,
672, 779, 833 689, 743, 769, 811 f., 839, 844, 846,
Intellektualismus 424, 435, 437 f., 851, 854, 872, 906, 912, 915
443, 566 koinon, κοινόν 149, 171, 181, 292,
Intention, Intentionalität 19 f., 42, 296 f., 308, 388, 390
56–59, 62 f., 65, 68 f., 81, 115, 188, Kompromiss 388, 424, 444–446, 482,
216, 218, 224, 288, 302, 349, 376, 485, 489, 638
401, 411, 435, 438, 442, 538, 542– Kontemplation, kontemplative Hal-
551, 554–556, 604, 635, 641, 643, tung 63, 107, 133 f., 440, 480 f.,
647–649, 672, 674–676, 678, 683, 689, 719, 884, 886, 896–899, 903,
688 f., 801, 816, 819, 871, 874, 921 919
– intentio obliqua 433, 438, 607, 775 Kontext
– intentio recta 89 f., 225, 433 f., 438 –, apriorischer 602, 616 f., 625, 880
Interesse 48, 55, 63, 65, 68, 70, 81, –, universaler 614, 617, 625, 652, 659,
106, 111, 117, 134, 141, 146–148, 661, 663, 880
159, 163, 176–178, 182, 245, 266, Kontextunabhängigkeit 514, 602,
276–279, 293, 298, 305, 318, 379, 614–617, 619, 636, 652, 659, 663
386–389, 409, 412, 437, 446, 467, Kontingenz, Kontingenzbewusstsein
474 f., 482, 484, 495 f., 498, 573, 42, 72–76, 86, 127, 129 f., 149, 270,
607 f., 613, 617 f., 632, 635, 638, 338 f., 341, 348 f., 354–358, 363,
664, 685, 694, 696, 728, 741–743, 405 f., 410 f., 442 f., 464 f., 482–488,
827 f., 835, 877, 897–899, 903 492, 503, 561, 563, 573–577, 581,
– interesseloses Wohlgefallen 63, 584 f., 593 f., 599–601, 638, 655,
161, 682 f., 685, 687, 695 686, 704, 712–715, 719, 735, 767,

968

https://doi.org/10.5771/9783495825488

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Sachregister

799, 804, 825 f., 828, 832–834, 847, 831, 835, 889, 901–903, 906, 909,
868, 874, 901–903, 905 f., 908, 917, 930
919 f. – metaphysisch-analoges Denken
Kontinuum 80, 555 f., 604–606, 612, 373, 375–381, 384, 391, 397, 400,
616, 626, 629 f., 632, 652, 655, 659, 406, 411, 460, 462, 467, 533, 549,
661, 664, 753, 881, 922, 924 f. 552 f., 555, 559, 587, 590, 644 f.,
Korrelation, korrelativ 20, 391, 584, 647, 657, 661, 676, 712, 714, 733,
676 f., 904 765, 782, 830 f., 874, 925
Krise 97, 100 f., 126, 221, 234, 278 f., methexis, μέθεξις (s. auch Teilhabe)
294, 312 f., 317, 453, 525, 536, 232, 290, 336, 431, 447, 777, 870 f.,
760 f., 766, 797, 800, 832 878, 886
Moderne, modern 97–99, 103, 106 f.,
liberum arbitrium 567, 627 122, 124 f., 135, 148, 189, 206, 210,
Liebe 31, 109, 156, 159 f., 163–165, 214, 314, 316, 321, 328 f., 332, 384,
169, 174, 178, 182–184, 301 f., 389, 399, 465, 491, 639 f., 760–762,
319 f., 410, 451 f., 468, 474, 555 f., 765 f., 800
567 f., 571, 604, 630–632, 641, 649, Möglichkeit, möglich (s. auch poten-
668, 732, 923 tia, dynamis) 72–75, 108, 225–228,
– Eigenliebe, amour propre 138, 325, 352–354, 356, 398 f., 439, 443,
145–148, 152, 160, 162–164, 175 f., 467, 584, 586, 590, 593, 693, 715,
182, 190, 208, 450 738, 767, 897, 899–902
–, reine, amour pur, amore puro 133– Molinismus 355, 357, 360
135, 138, 140, 143–146, 148, 150– Monismus, monistisch 200, 249 f.,
153, 158, 160 f., 163, 165, 167–170, 281, 284 f., 543 f., 642, 814, 824
172, 175, 177 f., 181, 350, 480, 562, Mystik, mystisch 128, 133, 136, 143,
613, 682, 694 f., 935 145, 149–151, 153, 156–158, 170,
– Selbstliebe, amour de soi 109, 162– 182, 184, 251, 297–299, 388, 410,
164, 169, 171, 177 f., 184, 190, 207– 929
209, 234, 473, 568 Mythos 193, 353, 464–466, 468, 481,
505, 508, 570, 605 f., 766 f.
metabasis, μετάβασις 598 f.
metanoia, μετάνοια 168 f., 458, Nähe 484, 502, 652 f., 655 f., 659,
466 f., 469 f., 499, 573, 741 662–665, 667, 680, 703, 867, 883 f.,
Metaphysik, metaphysisch (s. auch 887
Realismus, metaphysischer) 23, Natur (s. auch physis)
28, 46, 56, 58, 66, 68, 73–75, 98– – Haben einer Natur 69, 71, 82, 512,
101, 103–105, 111 f., 116, 122, 124– 517, 561, 592, 599–602, 607, 612 f.,
126, 130, 138, 141, 156–159, 160, 623–625, 637, 642, 649, 651–653,
171, 178 f., 254, 256, 258, 261, 269, 659, 661, 677, 718, 780, 784, 801–
272, 281, 291, 295, 324, 326, 336, 803, 831, 833, 853, 866, 880, 891,
356, 360, 362, 372, 394, 396, 402– 902 f., 917
404, 406 f., 410 f., 417–420, 422 f., – natura pura 201–205, 208, 335,
444, 456, 462, 471, 476–479, 500, 359 f., 465
502–504, 513, 523, 533, 537 f., 542, – Naturbeherrschung 245, 274, 277–
580–583, 585, 588, 609, 673, 675, 279, 298, 317, 638, 897
678, 703, 713, 715, 725 f., 738–740, – Naturphilosophie 32, 240, 252,
776–778, 781, 789–807, 812, 815, 262, 361 f., 524, 541, 690, 911

969

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Sachregister

– Naturrecht, naturrechtlich 186, Offenheit, das Offene 68 f., 120, 216,


195, 203, 294, 311, 313–318, 759, 349, 364, 631 f., 640, 666, 767, 786,
775, 777, 795 831, 882, 902–905, 908
– Naturwüchsigkeit 317, 623 oikeiosis, οἰκείωσις 216, 277, 362,
Naturalismus, naturalistisch 111, 529, 566, 568
285, 317, 331 f., 339, 365, 377, 385, on he on, ὄν ᾗ ὄν 324 f., 327, 341
392, 394, 399, 408, 455, 542, 618, Ontologie, ontologisch (s. auch Sub-
627, 642, 657, 682, 710, 719, 725, stanzontologie) 24 f., 42, 45 f., 68–
728, 731, 740 f., 744, 765, 787, 814, 70, 73, 81 f., 111, 127, 136, 138–140,
828, 882, 922 148–151, 163, 165, 170, 179, 199,
Natürliche, das (s. auch das Vernünf- 219, 223, 226, 235, 247, 255, 265,
tige) 42, 61–63, 68, 80, 307 f., 340, 268 f., 271 f., 290, 302, 314, 318,
372, 381, 385 f., 389, 391, 394–396, 326, 330, 352, 356, 358, 364, 366–
447, 456 f., 486, 540, 589, 596, 368, 370 f., 377, 397, 403, 413, 420–
645 f., 737, 862 423, 464, 466 f., 476–478, 483, 487,
Negation, negatio 28, 58, 68, 99, 489 f., 500–502, 504, 508, 510,
118 f., 128, 157, 178, 272, 287, 325– 512 f., 515, 525, 536 f., 540, 544 f.,
328, 369, 416, 447, 470, 525, 541, 547, 552, 554 f., 561, 564, 567,
560, 562, 598, 843, 874, 888 569 f., 572–574, 579, 601, 603, 610,
–, bestimmte 98, 524, 826, 857 642, 653, 661, 665, 674, 676, 684 f.,
–, doppelte 271, 524 f., 550–553, 556, 690, 694, 705, 722 f., 727, 756, 776–
587 f., 594, 676, 683, 857, 874–877, 778, 789, 791, 794, 801–804, 812,
882 814 f., 864 f., 883 f., 888, 903, 905 f.,
Negativität, das Negative 24 f., 42, 921–923
58 f., 65, 86, 90, 92, 151, 181, 257, – der Person 514, 517, 613, 651 f.,
294, 382, 392, 406, 409, 474, 522, 654, 659, 662, 665–667, 675, 678,
524, 546–549, 585, 614, 660, 683 f., 690 f., 698, 702 f., 725, 782, 787,
688, 726, 874, 923 802, 809, 811, 834, 862, 864 f., 867,
Negentropie 612, 623 869, 879, 883, 889, 891, 902, 916 f.
Nihilismus, nihilistisch 123, 126, 221, – des Zwischen 24 f., 58, 923
268–270, 278, 470, 472, 555, 569, ordo amoris 162, 171, 456, 483, 485–
631, 695, 893, 930 487, 489, 501 f., 734
Nominalismus, nominalistisch 244, Organ des Allgemeinen (s. auch Ver-
358, 497, 654, 930 nunft) 566, 568, 571, 574, 596,
Normalität 215, 276, 362–364, 381, 613 f., 617, 682, 712, 907
424, 438–441, 443–445, 464, 466, Organismus 263, 266, 371, 392, 484,
476, 485–487, 489, 504, 512, 585, 632, 637, 841, 846, 848 f., 854,
638, 865, 917 857 f., 862, 932
Notwendige, das, notwendig 72 f., 79,
126–129, 193, 201, 209, 221, 223 f., Paradigmenwechsel 104, 497, 563,
259, 263, 283, 334, 353, 356, 386, 913
566, 576 f., 693, 767 Paradoxon, Paradoxie 24, 62, 76, 80 f.,
– necessarium ex suppositione, das 126, 128–130, 208, 212 f., 230, 316,
bedingt Notwendige 128–130, 747 376, 439–442, 456, 459, 463 f., 466,
nous poietikos, νοῦς ποιητικός 333, 473 f., 479, 481 f., 504 f., 507, 575,
567 577 f., 589, 619, 634, 640, 646, 652,

970

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Sachregister

677, 696–700, 743, 752 f., 880 f., – philosophia prima, Erste Philo-
899, 920, 922 f., 936 sophie 100, 105, 116, 124, 180, 399,
perceptio, clara et distincta 153, 340, 401, 403, 762
343, 374, 420, 460, 542, 550, 557 –, positive 557, 561, 599–601, 650,
Person, Personalität 31 f., 49, 69–76, 762, 767, 916
130, 297, 378 f., 393, 399 f., 463 f., physis, φύσις (s. auch Natur) 59, 196,
474, 484, 501–504, 507 f., 509–650, 323, 343, 374, 378, 401, 408, 411,
651–653, 659–666, 675–678, 681, 533, 567, 579, 684, 701, 734 f., 737,
683, 696–698, 731–734, 761–767, 743, 802, 891, 898
771–776, 778–784, 785–859, 867, – physei onta, ϕύσει ὄντα 59, 226,
879–881, 883–888, 891, 902, 907– 696
910, 915, 931 f. Platonismus 107, 234, 930
– personaler Ort 533 f., 589, 594– poiesis, ποίησις 426, 656, 680, 684,
596, 599, 601, 678, 719, 831, 881, 691, 883, 897
884 f., Polis 191 f., 306–308, 311, 335, 424,
– personaler Standpunkt 42, 69–76, 441–447, 485, 638
560, 565, 574, 581, 603, 613 f., Positionalität, exzentrische (s. auch
651 f., 677, 682, 712, 738, 740, 802, Exzentrizität) 42, 61, 70 f., 73, 80
810, 824, 827, 880, 935 potentia (s. auch Möglichkeit, dyna-
Perspektive, perspektivisch 73, 128– mis) 225
130, 172 f., 327 f., 350, 354, 375, – oboedentialis 201, 205
378, 394, 417, 421, 434, 439, 441, Potenz-Akt-Schema, Potenz-Akt-
449, 469 f., 478 f., 483 f., 517, 520, Lehre 139 f., 179, 581
522 f., 561, 567, 569 f., 573, 577, Präreflexive, das, präreflexiv 64, 287,
592, 600, 603, 611, 651 f., 662–666, 289, 376, 379, 457, 756, 825, 862,
680, 682–684, 690, 699, 706, 747– 877, 899, 905, 926 f.
756, 861, 864, 893–895, 899, 902, praxis, πρᾶξις 151, 199, 235, 312 f.,
904, 906 f., 935 f. 426 f., 440, 442, 845, 855, 859,
– perspectiva artificialis/pingendi 897
749, 864, 894
– perspectiva communis/naturalis Realdistinktion/Realunterscheidung
749, 753, 864, 894–896, 898–901, 127, 130, 150, 339, 341, 348–350,
904, 906 f., 910 360 f., 405, 533
–, umgekehrte (Umkehr der Perspek- Realismus, metaphysischer 512 f.,
tive) 42, 81, 394, 666, 747, 752 f., 525, 556 f., 563 f., 583, 599 f., 714,
864, 895, 907 f., 910, 936 723, 738, 741, 753 f., 760, 778, 781,
petitio principii (s. auch Zirkel) 98, 864, 889, 929
254, 308, 382, 585, 714 recurvatio 240, 555, 875
Phänomenologie, phänomenologisch reductio ad absurdum 313, 550, 626 f.,
23 f., 299, 331, 456, 467, 551 f., 653, 723, 881, 893
659, 666 f., 668, 670, 674, 678, 683, Reduktionismus, reduktionistisch
760, 797, 802, 924, 926 37 f., 73, 122, 280, 282, 284 f., 290,
Philosophie 25 f., 32, 34, 38, 85, 97, 331, 368, 370, 382, 394, 480, 545–
100, 103–107, 138, 151, 292–300, 547, 549, 589–591, 626, 647, 657,
303, 307, 362–366, 384, 398–401, 686 f., 689, 787, 797, 808, 810, 812–
403, 418, 439, 650, 703, 711, 713, 816, 818, 828 f., 912 f., 922
741, 744, 917 f., 935 Referenz, numerische 521 f.

971

https://doi.org/10.5771/9783495825488

.
Sachregister

Reflexion 33, 74 f., 119, 130, 134, 138, 560, 570, 579, 586, 588, 606, 647–
141, 144–149, 153–156, 159–161, 650, 709 f., 778, 785, 815, 928, 932
173 f., 176 f., 204, 289, 292 f., 328, Sein 324–330
449–451, 480, 613 f., 617 f., 620 f., – Dasein 56, 70, 72 f., 75 f., 82, 104,
641–644, 908 f., 926 111 f., 119, 123, 127–129, 140, 146,
– Reflexionsphilosophie 107 f., 168, 174, 195, 205, 209, 221, 229, 248 f.,
175 260, 278, 307, 314, 325 f., 338, 379,
– reflexive Wendung 63, 65, 73, 80, 416, 427, 442, 448, 468, 539, 542,
336 f., 348–350, 365, 370, 378, 391, 581, 585, 588, 593, 596, 615 f., 624,
399 f., 405 f., 447, 568, 571, 573, 651, 658, 668, 672–678, 683, 685,
584, 588 f., 596, 601, 651 f., 664, 690, 708, 712 f., 715, 717, 738, 825,
677, 740, 742, 749 f., 826, 829, 863, 888, 899, 902 f., 905, 915
876 f., 879 f., 883, 888, 896 f., 905, – Mitsein (Mit-Sein) 42, 76, 181,
907 f. 245, 367, 391, 393, 400, 557, 726,
Relationalität 69, 71, 510, 673 774
Religion, religiöses Denken, Religi- – Seinlassen 168, 317 f., 370, 391,
onsphilosophie 42, 57, 73, 99, 400, 494, 556
104 f., 125, 131, 167, 192 f., 250, – Seinsakt, Akt des Seins 349, 534,
296, 299 f., 310, 338, 402–407, 413, 564, 581, 584, 590, 592, 697
446, 505, 637, 643–647, 706, 763, – Selbstsein 32 f., 41 f., 44, 53–55, 82,
777 f., 780, 797 221, 259, 261, 289, 291, 302, 329,
Repräsentation, repraesentatio 233, 366, 371, 391, 394, 413, 417–419,
238, 290, 302, 322, 358, 372, 395 f., 421, 471, 473, 476 f., 479, 483, 485,
406 f., 411, 418, 420, 471, 479, 494, 488, 494 f., 499, 502, 507, 512, 525,
499, 501, 503 f., 604, 608 f., 680, 555 f., 569, 579, 583, 598, 604, 607,
690, 701, 866, 870, 878, 886 614 f., 631 f., 674, 688 f., 695–699,
res cogitans 48, 245, 324, 340, 342 f., 708, 712, 725, 730, 733–735, 743,
345 f., 348 f., 377 f., 405, 522, 531– 753, 761–764, 769, 771 f., 884–886,
535, 537, 539, 541 f., 548, 731, 777, 889, 906 f., 923
782, 815, 830 – Sosein 72 f., 76, 122, 129, 175,
222 f., 231, 325 f., 338 f., 349, 405,
Schein 33, 116, 148, 189, 191–193, 488, 508, 528 f., 534 f., 555 f., 558,
197, 205, 209, 291, 426, 433, 554, 571, 577 f., 581, 584 f., 588, 590,
565, 639 f., 643, 691 f., 698–700, 593 f., 596, 614, 618, 627, 651, 661,
775, 910 663–665, 674, 677, 685, 690, 697,
Schöne, das 386, 436 f., 666, 680–702, 712, 715, 717–719, 722, 738, 779,
885 f. 783 f., 881, 887 f., 899, 902, 905
Schöpfung 29 f., 126–129, 157, 234, Selbstdarstellung 395, 666, 686 f.,
238, 240, 265, 267, 283 f., 336–338, 689 f., 884, 886, 888, 904 f.
348, 353 f., 356, 404–406, 540, 575– Selbsterhaltung 105, 112 f., 118, 120,
577, 580, 645–647, 692–695, 727, 123 f., 139–143, 164 f., 198, 204,
764, 767, 771, 861, 871, 874, 901 225, 231–233, 246–248, 268, 270,
Schwebe 303, 555, 594 f., 601, 644– 290 f., 330, 445, 448, 469 f., 494,
646, 649, 677, 712 f., 715, 719 648 f., 665, 671, 690, 870, 876, 878,
Seele 51, 56, 134, 149 f., 170, 184, 886, 888, 908
223, 333, 360, 441, 512, 525, 532, Selbstverständliche, das 276, 292 f.,
533 f., 537–543, 548 f., 552 f., 556, 302, 362, 407, 410, 760, 912

972

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Sachregister

Selbstzentriertheit 465 f., 552 f., 556, Substanz 46–54, 346, 348–350, 378,
629, 766, 874 471 f., 533 f., 592
Sinnenwelt/Verstandeswelt, κόσμος – Substanz/Akzidens-Schema 47 f.,
αἰσθητός/ κόσμος νοητός 78, 80, 346, 378, 533
499 – Substanzontologie, substanzonto-
Solipsismus, solipsistisch 23 f., 108, logisch 41, 47–50, 53, 57, 178, 184,
331, 343, 347, 421, 469, 532, 574, 323, 350, 370, 399, 531, 562, 789,
591 f., 599, 605, 713, 715, 725, 738, 791, 796, 804 f., 902
740, 781, 835, 876, 930 – Substanz-Subjekt 41 f., 54 f., 68,
Sortale, sortaler Ausdruck/Term 368, 82
515, 518 f., 521, 524, 837, 846, 848, Sündenfall 148 f., 173, 201 f., 205,
853, 858 f., 862 207 f., 211, 465, 468, 505, 570,
So-und-So, das 348, 519, 521 f., 524, 605 f., 766
659, 681, 696, 884 Symbol (Symbolisierung), sym-
Spekulation, spekulativ 42, 104, 130, bolisch 124, 291, 302 f., 433, 456,
143, 157 f., 177 f., 181, 202, 348, 481 f., 608, 638, 680, 686, 698–700,
350 f., 360, 363, 373, 377 f., 380, 894, 910
391, 393, 405 f., 512, 548, 551–553, Szientismus 331, 371, 381, 691, 700
557, 573, 578, 644, 658, 669, 678,
690, 712, 716, 719, 767, 815, 874, Teilhabe (s. auch methexis) 59, 110,
885, 904 116, 129, 224 f., 232 f., 238, 246,
Spiel 432–434, 638, 640 290, 302, 336, 438 f., 445, 447, 540,
Spiritualismus, spiritualistisch 103 f., 577, 580, 638, 678, 777, 870 f., 873,
285, 360 f., 642, 657, 710, 728, 731, 876, 886, 903, 929
740 f., 744, 765, 814, 828, 882, 922 Teleologie (Naturteleologie) 31 f.,
Spontaneität 62, 68, 70, 76, 146 f., 179, 213, 215–291, 330, 338, 359,
149, 151, 161, 170, 174, 181, 184, 370, 374, 381, 385 f., 389 f., 393 f.,
204, 357, 451, 464, 481, 602, 604 f., 396, 400, 406, 411, 416, 420, 427,
613, 656, 680, 730, 751, 872, 875, 461, 466, 477, 482, 523, 536, 554 f.,
883 567, 585, 588 f., 593, 595 f., 639,
Sprung 64, 147 f., 155, 260, 396 f., 645, 690, 730, 733, 736, 739, 744,
411, 413, 418, 420 f., 456, 458 f., 758, 762–765, 769, 772–780, 802,
475–478, 512, 523, 552, 561, 564, 861, 863, 867–878, 882 f., 901–904,
573 f., 583, 598–600, 714, 778, 827, 912, 915 f., 923–925, 936
834, 905 – der Selbsterhaltung 117 f., 123,
Spur, epistemologische 592, 599, 651, 268, 272, 291
656, 697 f., 713, 740 –, immanente 30, 200, 231
Stoa, Stoiker 234, 265, 446, 564, 566, –, invertierte 139, 186, 198, 225, 246–
568 248, 290, 339, 448, 450, 694
Subjekt, Subjektivität 19 f., 24, 44– – Universalteleologie 234, 242 f.,
54, 105–110, 153–156, 341, 346 f., 262, 265, 267, 287, 366, 896
349 f., 399–401, 527–529, 531–533 Teleomatie 252, 257 f.
– Subjektphilosophie 66, 141, 180, Teleonomie 229, 234, 249, 252, 258,
287, 295, 366, 399, 403, 749–751, 291
873 f., 882, 906–908 telos, τέλος 59, 178, 198, 200, 204,
– Subjekt-Wechsel 41, 50, 54, 56, 60, 228, 229–231, 233, 236, 238–241,
346, 531, 592 246, 270, 431, 445, 777, 870, 882

973

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Sachregister

Theologie 24, 57, 74, 100, 135, 157, 722, 724, 732, 737, 740, 743, 752,
167, 201, 238, 241, 247, 280, 282– 773 f., 801, 822, 835, 855, 863, 874–
284, 291, 295, 300, 355, 359, 396, 876, 879 f., 884–886, 889, 899,
399, 406, 513, 564, 574 f. 579, 904 f., 908, 917, 925, 931
581 f., 584, 586, 590, 597, 803, 806,
871, 920 Überdetermination 685, 691
Theologisierung (der Ontologie) 24, Umwelt 61, 72, 249, 275 f., 366, 370,
348, 351, 360, 377, 379, 405, 460, 392, 457 f., 484, 486, 539, 542, 552,
548 f., 552, 595, 643 f., 650, 676, 587, 629, 632, 640, 663, 673 f., 734,
733, 741, 779 f., 782, 784, 802, 806, 742, 770, 874, 892, 896, 898 f.,
830, 871 f., 874 f., 877 914
theoria, θεωρία 125, 130, 233, 312, Umwillen, das 337, 391, 395, 400,
440 f., 443 f., 478, 540, 567, 599, 416, 427 f., 431 f., 435, 439, 468–
874, 897 470, 472, 474, 554, 569, 588, 630,
thyrathen, θύραθεν 333, 396 f., 478 773, 876, 879
Totalität 31, 124, 158, 192, 202, 213, Unbedingte, das 287, 289–291, 395 f.,
264, 266, 314, 367, 397, 449, 503, 403, 406 f., 418, 421, 439 f., 444,
572, 574, 596, 615 f., 621 459, 471, 479, 482, 494, 501, 503 f.,
Trias, Trichotomie (Sein – Leben – 604, 631, 712, 773, 777, 779, 792,
Denken/Person) 375, 536, 560, 876 f., 903, 916
730 f., 778, 782 Unbestimmtheit, bestimmte 521–
Trieb 62, 198, 207, 224, 278, 375, 395, 523, 534
452–454, 459, 461, 468–470, 473, Uneinholbare, das 20, 37, 71, 75 f.
475 f., 484, 507, 540, 546, 626, 656, Unmittelbarkeit, das Unmittelbare
660, 673, 685, 690, 772, 895 f., 144, 146, 159, 170, 174, 181, 289,
898 f., 904 292, 306, 346, 449 f., 480, 514, 542,
– Triebhang 470, 474, 555, 569, 612, 556, 602, 614, 616, 618, 621 f., 664,
633, 747, 752 666, 818
Transzendentalphilosophie, Transzen- Unvordenkliche, das, unvordenklich
dentalismus 19, 23 f., 42, 51, 56–58, 294, 309, 320, 462, 502, 527, 585 f.,
68, 76, 255, 298–300, 364, 369, 372, 643, 645, 650, 726, 729 f., 767, 873,
399 f., 551, 750, 752, 776, 924 877
Transzendenz (Transzendieren) 55– Urphänomen 864, 889–891, 895,
67, 135 f., 140 f., 145, 149, 153, 160, 906 f., 910
169, 171, 180–184 Ursachen (des Seins)
–, absolute/graduelle 56, 65 – Formursache, causa formalis 175,
– Selbsttranszendenz 62, 70, 73, 76 f., 538, 654, 898, 901–903
81, 86, 90, 107 f., 110, 116, 135, – Wirkursache, causa efficiens, Kau-
140 f., 149, 180–183, 200 f., 240, salität 234, 237 f., 242, 274, 871
246, 278, 290, 299, 321, 335–339, – Zweckursache, causa finalis, Finali-
348–350, 359 f., 370, 372 f., 378, tät 160, 228, 231, 234, 237 f., 242,
391 f., 394 f., 400, 405 f., 409, 411, 274, 538, 542, 871
442, 447–449, 466, 474, 476, 487 f.,
507, 522 f., 532, 548, 553, 568, 571, Vernunft 61–71, 80 f., 107–111, 115–
573 f., 589, 591, 596, 601, 603, 617, 121, 155–158, 223 f., 334 f., 389–
623, 642, 646 f., 649, 651, 664, 677, 391, 439–444, 457–466, 469 f., 474–
683, 688, 694, 696, 698, 702, 712 f., 478, 482–489, 566–574, 621, 897 f.

974

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Sachregister

–, autonome 42, 66, 69–71, 74 f., 308, 590, 592 f., 632, 643, 728, 733–735,
376, 573, 600 738–740, 751 f., 873, 889, 900 f., 932
–, natürliche 42, 60, 70 f. Wohlwollen (s. auch amor bene-
–, personale 564, 573 f., 614 volentiae) 410, 421–424, 456, 463,
Vernünftige, das (s. auch das Natür- 468, 472–477, 479–487, 496, 498,
liche) 42, 61–63, 68 f., 80 f., 307 f., 500–502, 506–508, 555, 569, 573,
389, 391 638, 732, 832
Versprechen, ontologisches 489, 602, Wollen, primäres (secondary voli-
614, 621–625, 641, 917 tions) 628 f., 635, 840, 852
Verzeihung, ontologische 456, 487,
489, 501, 504, 624 Zeigen (Hinzeigen), das 20, 25, 301 f.,
329, 433, 474 f., 481, 507, 552, 592,
Wahl 156, 224, 413, 418, 465, 501, 680, 685, 753, 894
529, 546, 567, 569, 619, 627, 629 f., Zeit 250, 299, 383, 450, 514, 522, 529,
632 f., 641, 931 533, 547, 602, 604, 607–612, 622 f.,
Wahrnehmung 42, 44, 54 f., 76, 81 f., 625, 648 f., 660, 662, 665, 717–722,
221, 275, 382 f., 472–479, 505, 523, 811, 819, 821 f., 824–828, 834, 838,
590–593, 596–599, 680 f., 683 f., 840 f., 844, 846, 848, 879–881, 891–
688 f., 696–698, 752–754, 863 f., 893, 896, 906, 914 f., 917
876 f., 883–886, 905, 936 – Zeitgestalt 81, 514, 604, 611 f., 623,
– Wahrnehmungsevidenz 417, 420 f., 633, 635, 648, 718 f., 834, 883 f.,
467, 476 f., 501, 508, 556, 561, 564, 917, 920
569 f., 773, 829 zen/eu zen, ζῆν/εὖ ζῆν 59, 122, 138,
Wert 109, 145, 221, 270, 314, 341, 268, 737
364, 408–411, 492, 619, 668–673, Zentralität, Zentriertheit 61 f., 69–71,
680, 683, 714, 737, 795, 799, 802 73, 378, 457, 469, 484, 487 f., 507,
Wesen (s. auch essentia, Essenz) 45, 548, 553, 555, 598, 601, 610–612,
59, 73, 119 f., 126–130, 139 f., 150, 614, 624, 649, 664 f., 682, 712, 729,
175, 225, 325, 338, 358, 488, 502, 734, 740, 752, 772 f., 831, 866, 874–
504, 522, 570, 572, 578–582, 590, 877, 880, 882, 884 f., 887, 896,
592–594, 601, 677 f., 712, 719, 784, 898 f., 908, 918
791, 833 Zentrum der Bedeutsamkeit 42, 71,
Wille 56, 77 f., 106, 108, 111, 116, 81, 569, 598, 601, 666, 683, 689,
118, 126–129, 141, 147, 151, 157 f., 697, 712, 771
161, 167 f., 170, 178, 183, 234, 268– Ziel 80 f., 139, 164, 182, 200, 207,
272, 277, 298, 308, 311, 334, 354– 223 f., 228, 232, 236–239, 244,
357, 383, 437, 451–454, 459, 480, 275 f., 287–290, 336, 359, 376, 426–
494, 507, 568, 579, 668, 695, 708, 438, 445, 469 f., 646, 870 f., 873,
732, 791, 796 f., 888, 912
– Willensfreiheit 625–635, 917 Zirkel, Zirkularität, zirkulär 63, 65,
Wirklichkeit 20, 25, 35, 55, 85, 100, 147, 253, 259 f., 305, 308, 492, 588,
108–110, 116, 119, 122, 138 f., 165, 686, 812, 820 f., 842 f., 846
178, 227 f., 239, 269, 297, 325, 338, zoon politikon, ζῷον πολιτικόν 388,
341, 347, 394, 399, 408–412, 417 f., 738,
426 f., 443, 449, 463, 467, 469–471, Zweck 65, 70, 77, 224, 228–231,
473 f., 476 f., 484–487, 502, 507, 238 f., 242–245, 249, 252, 262–267,
527 f., 534, 546 f., 554 f., 557, 573 f., 271, 274, 278, 288–290, 304–306,

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.
Sachregister

308, 314, 365, 395, 397, 426 f., 429– Zwischen, das 24 f., 57 f., 81, 605, 900,
434, 436, 438, 492, 500, 546, 567, 820, 922
627, 684 f., 689, 798, 870, 897
Zweifel 70, 106 f., 153–156, 265, 301,
310, 343–345, 347, 380, 387, 417,
477 f., 497, 526, 551, 727, 738–740
– Zweifelsbeweis 47, 342, 460, 528,
549, 815, 829 f.

976

https://doi.org/10.5771/9783495825488

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