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Ernst Stadler

Der Aufbruch

Einmal schon haben Fanfaren mein ungeduldiges Herz blutig gerissen,

Daß es, aufsteigend wie ein Pferd, sich wütend ins Gezäum verbissen.

Damals schlug Tambourmarsch den Sturm auf allen Wegen,

Und herrlichste Musik der Erde hieß uns Kugelregen.

Dann, plötzlich, stand Leben stille. Wege führten zwischen alten Bäumen.

Gemächer lockten. Es war süß, zu weilen und sich versäumen,

Von Wirklichkeit den Leib so wie von staubiger Rüstung zu entketten,

Wollüstig sich in Daunen weicher Traumstunden einzubetten.

Aber eines Morgens rollte durch Nebelluft das Echo von Signalen,

Hart, scharf, wie Schwerthieb pfeifend. Es war wie wenn im Dunkel plötzlich Lichter
aufstrahlen.

Es war wie wenn durch Biwakfrühe Trompetenstöße klirren,

Die Schlafenden aufspringen und die Zelte abschlagen und die Pferde schirren.

Ich war in Reihen eingeschient, die in den Morgen stießen, Feuer über Helm und Bügel,

Vorwärts, in Blick und Blut die Schlacht, mit vorgehaltnem Zügel.

Vielleicht würden uns am Abend Siegesmärsche umstreichen,

Vielleicht lägen wir irgendwo ausgestreckt unter Leichen.

Aber vor dem Erraffen und vor dem Versinken

Würden unsre Augen sich an Welt und Sonne satt und glühend trinken.
Die Epoche des Expressionismus besteht aus einer Generation von Künstlern zwischen
den Weltkriegen, die sich vom nationalistischen, bürgerlichen und wilhelminischen Denken
ihrer Zeit abwenden. Die gesellschaftskritischen Werke der Expressionisten befassten sich mit
Themen wie Wahnsinn, Tod, Umwelt, Krieg, sozialem Abstieg und den durch die
Industrialisierung verursachten Problemen der Großstädte.
Ernst Stadler gilt als eine der Leitfiguren des literarischen Expressionismus. Der 1883
im Elsaß geborene und 1914 gefallene Schriftsteller war nicht nur ein geistreicher Dichter,
sondern auch ein herausragender Essayist, Literaturwissenschaftler und Übersetzer. Stadlers
Gedichtband „Der Aufbruch“, der Anfang 1914 erschien, löste in literarischen Kreisen große
Begeisterung aus. Das Gedicht beschreibt die Kriegserfahrungen, die das lyrische Ich
(vermutlich) während des Ersten Weltkriegs gesammelt hat.
Das Gedicht besteht aus einer einzigen Versgruppe mit achtzehn Versen. Das
Reimschema bildet ein durchgehender Paarreim und im Metrum ist der Daktylus zu erkennen.
Obwohl keine Strophengliederung vorhanden ist, lässt sich eine Sinnstruktur erkennen: In den
ersten vier Versen schildert das lyrische Ich ein abgelaufenes Ereignis (einen
Kriegsausbruch). Die zweite Versgruppe von vier Versen erzählt von einem Leben in Frieden
und Ruhe. Die nächste Versgruppe beschreibt nochmals eine erneute Kriegsszene: das
lyrische Ich wird von dem erneuten Kriegsausbruch völlig unerwartet überrascht. Die letzten
sechs Verse lassen den Sprecher in eine ungewisse Zukunft blicken.
Aus den ersten vier Zeilen geht hervor, dass das lyrische Ich keine Geduld hat, sich an
Kriegen zu beteiligen. Die Schlüsselwörter, die es eindeutig und gekonnt schaffen, den Leser
in die harte Realität dieses Ereignisses zu versetzen, sind die Schlachtfanfare, der
Marschieren, der Kugelregen. Gleichzeitig gibt es die Opposition von These und Antithese
zwischen der ersten und zweiten Hälfte jeder Zeile, was den Eindruck verstärkt, dass das
lyrische Ich gemischte Gefühle von Euphorie und Angst vor der ungewohnten,
bevorstehenden Teilnahme an militärischen Aktionen erlebt. Berücksichtigt man das
Erscheinungsdatum des Werks, kann man mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass
der Autor hier den Ersten Weltkrieg beschreibt.
In den nächsten vier Zeilen wird die plötzliche Einstellung der Feindseligkeiten
beschrieben. Das lyrische Ich fühlt sich wie in einem Märchen, in dem die Zeit stehen
geblieben ist und das Leben wunderbar ist. Die Verwendung von Personifikationen trägt dazu
bei, die vom Krieg entfernte Atmosphäre darzustellen - „Gemächer lockten”, „Wollüstig sich
in Daunen weicher Traumstunden einzubetten”. Die Befreiung des Körpers von der Realität
als "staubige Rüstung" und die Suche nach scheinbarem Komfort und Frieden in der
Traumwelt deuten darauf hin, dass die Feindseligkeiten nur vorübergehend beendet sind.
In der folgenden neunten Verszeile werden die Kampfhandlungen wieder
aufgenommen. Der Vergleich der Geräusche, die den abrupten Stimmungswechsel
ankündigen, mit denen eines „pfeifenden Schwerthieb“ trägt dazu bei, eine düstere
Atmosphäre zu schaffen - das lyrische Ich spürt nicht mehr die Euphorie vom Anfang des
Gedichtes, da es bereits weiß, was Krieg wirklich bedeutet. Der Neologismus „Biwakfrühe“
beschreibt die Zeit, in der alle Soldaten schlafen und der Krieg sie völlig unvorbereitet trifft.
Das lyrische Ich befindet sich wieder im Krieg und erkennt, dass es nur zwei Auswege
gibt - Sieg oder Tod. Die Alliteration „Blick und Blut“ betont den Ernst der Situation. Die
letzten sechs Zeilen des Werkes zeigen die Opferbereitschaft des lyrischen Ichs, aber auch
seine Unsicherheit über den Ausgang des Krieges.
In Stadlers Gedicht zieht das lyrische Ich voller Mut und Euphorie in den Krieg, nicht
ahnend, was es erwartet. Obwohl das Werk ein offenes Ende hat, können die tatsächlichen
Ereignisse, die sich zur damaligen Zeit abgespielt haben, als Fortsetzung und Abschluss des
Gedichts verwendet werden. Es folgte jedoch eine Niederlage, die einen großen Teil der
jungen expressionistischen Generation das Leben kostete. Stadler selbst fand seinen Tod als
Artillerieoffizier im Ersten Weltkrieg 1914 im Alter von 31 Jahren, gleich in den ersten Tagen
der Kämpfe in Belgien.

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