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Fernando Rodrigues

Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens


Eine Interpretation der Metaphysik des Daseins im Lichte
der letzten Marburger Vorlesung Martin Heid­eg­gers1

Der vorliegende Beitrag berücksichtigt ein schwer einzuordnen­


des Kapitel in der philosophischen Geschichte Martin Heid­eg­gers,
nämlich das in der Periode unmittelbar nach Sein und Zeit (1927)
unternommene Projekt einer Metaphysik des Daseins. Trotz ihrer
entscheidenden Rolle für die Einheit der wichtigsten, unmittelbar
nach Sein und Zeit veröffentlichten Texte – Vom Wesen des Grun­
des (1929), Was ist Metaphysik? (1929), Kant und das Problem der
Metaphysik (1929) und Vom Wesen der Wahrheit (1930) – ist die
Metaphysik des Daseins erst vor kurzem Gegenstand ausführlicher
Interpretationen geworden.2 Ausgehend von der letzten Marburger
Vorlesung aus dem Sommersemester 1928 möchte ich hier die Posi­
tion vertreten, dass es bei dieser metaphysischen Wende um eine
immanente Rechenschaftspflicht Heid­eg­gers gegenüber seiner Fun­
damentalontologie gehe. Die Metaphysik des Daseins hat das Ziel,
das in Sein und Zeit nicht ausdrücklich behandelte Problem der Ver­

1 Für ihre sehr konstruktiven Anregungen in der Entwicklungsphase dieser


Arbeit bedanke ich mich herzlich bei Hélder Telo (Lissabon), Virginie Palette
(Freiburg) und Róbson Ramos dos Reis (Santa Maria, Brasilien).
2 Das Buch von François Jaran, La Métaphysique du Dasein. Heid­eg­ger et
la possibilité de la métaphysique, Bucarest 2010, spielt in diesem Kontext eine
besondere Rolle. Wichtige Hinweise auf die Notwendigkeit einer ausführ­
lichen Behandlung der Metaphysik des Daseins finden sich aber schon bei
Otto Pöggeler, Metaphysik als Problem bei Heid­eg­ger, in: Dieter Henrich /
Rolf-Peter Horstmann (Hrsg.), Metaphysik nach Kant?, Stuttgart 1988 und
bei Jean Greisch, Der philosophische Umbruch in den Jahren 1928–32. Von
der Fundamentalontologie zur Metaphysik des Daseins, in: Dieter Thomä
(Hrsg.), Heid­eg­ger-Handbuch, Stuttgart / Weimar 2003.

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bindlichkeit des Seienden im Ganzen für das Dasein zu fassen und


dadurch die Spaltung der traditionellen Metaphysik in Ontologie
und Theologie zu hinterfragen.
Ein möglicher Weg für die Interpretation der metaphysischen
Wende Heid­eg­gers, deren wichtigstes Ergebnis die explizite Identifi­
kation von Philosophie und Metaphysik ist, wäre die Untersuchung
der Rezeption seines opus magnum.3 Zwar war es für Heid­eg­ger
sicherlich wichtig, die zeitgenössische philosophische Anthropolo­
gie von seinem Werk getrennt zu sehen.4 Gerade deshalb kann ar­
gumentiert werden, es sei für Heid­eg­ger notwendig gewesen, sein
ontologisches Projekt gegenüber einem »anthropologisierenden«
Verständnis (besonders durch Max Scheler) als ein metaphysisches
zu ver­teidigen – als ob es für Heid­eg­ger letztendlich um ein Bekennt­
nis seiner metaphysischen Orientierung ginge. Jedoch ist die Meta­
physik des Daseins besser als eine immanente Auseinandersetzung
Heid­eg­gers mit seiner Fundamentalontologie als eine mit der phi­
losophischen Anthropologie der damaligen Zeit zu verstehen. Dies
möchte ich im Folgenden mit besonderer Rücksicht auf das positive
Moment der Metaphysik des Daseins zeigen.
Der Fortschritt der Gesamtausgabe Heid­eg­gers erlaubt es mitt­
lerweile zu behaupten, dass die in der Periode unmittelbar nach
Sein und Zeit situierte metaphysische Verwandlung von Heid­eg­
gers Denken das Ziel hatte, die Problematik der menschlichen Ver­
bindlichkeit gegenüber dem Seienden im Ganzen in die Entwick­
lung der Seinsfrage einzubeziehen. Was diese Inklusion fordert, ist
1. die Ausarbeitung einer neuen Diagnose der Probleme der πρώτη
φιλοσοφία des Aristoteles und 2. die Einsicht in die Grenzen der
Fundamentalontologie, so wie sie in Sein und Zeit skizziert wurde.
Ein korrektes Verständnis dieser beiden Punkte gestattet es anzu­
erkennen, dass die thematische Aufnahme einer, wie ich sie nenne,
Phänomenologie der Bindung in Heid­eg­gers Philosophie notwendig
geworden war. Der Kern dieses philosophischen Versuchs besteht
aus einer Interpretation der Phänomene Freiheit, Bindung und Spiel

3 Vgl. beispielsweise Jaran, Heid­eg­ger et la possibilité de la métaphysique,


30.
4 Besonders wird dieses Thema in der Einleitung der Vorlesung des Som­
mersemesters 1929 diskutiert. Vgl. Heid­eg­ger, Der deutsche Idealismus,
GA 28, 9 –47, wo Heid­eg­ger Stellung gegenüber den anthropologischen und
metaphysischen Tendenzen seiner Zeit nimmt. Vgl. dazu auch Heid­eg­ger,
Sein und Zeit, GA 2, 61–67.

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des Lebens und dies kann auch dann noch positiv interpretiert wer­
den, wenn Heid­eg­ger sich nach dem Jahr 1930 und der Schrift Vom
Wesen der Wahrheit von der Metaphysik und der metaphysischen
Sprache distanziert.

Zwiespalt im Kern der Ersten Philosophie des Aristoteles:


Heid­eg­ger vor der Metaphysik als Ontotheologie

Der Umschlag der Fundamentalontologie in eine »Metaphysik der


Existenz« wird von Heid­eg­ger in seiner Leibniz-Vorlesung des Som­
mersemesters 1928 verteidigt. Rückblickend auf das Projekt von
Sein und Zeit hält Heid­eg­ger dort fest: »Die Fundamentalontolo­
gie erschöpft nicht den Begriff der Metaphysik«.5 Eine entschei­
dende Auseinandersetzung mit der Metaphysik erfordere vielmehr
eine »metaphysische Verwandlung« der Fundamentalontologie,
ihre μεταβολή. Dies geschieht mittels einer Forschung, die vorläu­
fig Metontologie genannt wird, und kulminiert in der Metaphysik
des ­Daseins, die das Problem der Metaphysik konfrontiert.6 Dass
die Fundamentalontologie wiederum den Begriff der Metaphysik
nicht erschöpft, ist nicht selbstverständlich. Diese Aussage setzt
mindestens zweierlei voraus: 1. Die Idee der Fundamentalontolo­
gie hat Grenzen und 2. ein überraschendes Verständnis des Wesens
der Meta­physik kommt ins Spiel. Daher ist es wichtig, vorerst sum­
marisch Gedanken über diese beiden Motive zu versammeln.
Die Grundprämisse von Sein und Zeit, nach der jedes mögliche
menschliche Verhalten auf dem Verstehen von Sein des Seienden
beruht, das sich seinerseits als Zeitlichkeit erläutern lässt, ist wohl
bekannt. Das Grundproblem von Sein und Zeit wird demzufolge
schon durch die Konjunktion in dem Titel der Abhandlung hervor­
gebracht, die auf die innere Zugehörigkeit von Zeit und Sein hindeu­
tet. Sein und Zeit bewerkstelligt dadurch eine Phänomenologie der
ekstatischen Zeitlichkeit des »Da«, der »Erschlossenheit« oder der
»Lichtung« des Daseins im Menschen, als des Ortes, an dem die Be­
gegnung mit dem Seienden stattfindet. Dies zielt auf den Nachweis

5 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 199.


6 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 202: »Fun­
damentalontologie und Metontologie in ihrer Einheit bilden den Begriff der
Metaphysik«.

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der Zeit als der Wurzel jeder möglichen Begegnung, und damit als
Grund des menschlichen Verhaltens im Allgemeinen. Das ist, grob
gesagt, die Grundidee der Fundamentalontologie. Aber wenn Heid­
eg­ger sagt, die Fundamentalontologie erschöpfe nicht den Begriff
der Metaphysik, dann muss das heißen: Es gibt irgendetwas inner­
halb der Metaphysik, das über das ontologische Problem hinausgeht.
Da diese Behauptung erst in der Leibniz-Vorlesung ausgesprochen
wird, ist klar, dass sich dieses Problem in Sein und Zeit überhaupt
nicht stellt. In Sein und Zeit identifiziert Heid­eg­ger nämlich impli­
zit die Metaphysik mit der überlieferten Ontologie und setzt die
vollständige Destruktion der Geschichte der Ontologie (Metaphy­
sik) durch die Fundamentalontologie voraus. Im Unterschied dazu
verlangt die Leibniz-Vorlesung umgekehrt den Umschlag der Fun­
damentalontologie in Metaphysik. Aber warum?
Obwohl die Fundamentalontologie ursprünglich mit einer be­
sonderen Art von Transzendentalphilosophie zusammenhängt –
und dadurch von jeglicher überlieferten Ontik von Eigenschaften
wesentlich zu unterscheiden ist – basiert die Fundamentalontolo­
gie immer noch auf dem Problem der Seiendheit des Seienden, das
heißt, Sein wird verstanden als »das, was Seiendes als Seiendes be­
stimmt, das, woraufhin Seiendes, mag es wie immer erörtert wer­
den, je schon verstanden ist«.7 Das ist das Problem der traditionellen
Onto­logie. Allein, der Hinweis Heid­eg­gers, die Fundamentalon­
tologie erschöpfe nicht den Begriff der Metaphysik, macht auf die
Tatsache aufmerksam, dass die Philosophie sich nicht nur mit dem
ontologischen Problem der Allgemeinheit des Seienden als Seien­
den befassen muss, sondern auch mit dem besonderen Problem des
Seienden im Ganzen, dem wesentlichen Zweig der aristotelischen
Metaphysik als θεολογική.
Heid­eg­ger setzt sich mit diesem Thema in seiner Leibniz-Vorle­
sung auseinander, in der er eine innere Ambivalenz in Aristoteles’
Begriff der πρώτη φιλοσοφία festhält. In der Metaphysik präsentiert
Aristoteles eine Wissenschaft, deren Aufgabe in der Untersuchung
des Seienden als Seienden besteht: ἔστιν ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν
ᾗ ὄν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ’ αὑτό.8 Das ist die Philosophie in

7 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 8.


8 Aristoteles, Metaphysica 1003a; die Metaphysik wird zitiert nach:
Aristotle’s Metaphysics, hrsg. von William David Ross, zwei Bände, Ox­
ford 1924.

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erstem Sinne, φιλοσοφία πρώτη, die erst viel später als »Ontologie«
bezeichnet wird.9 Ebenfalls in der Metaphysik bestimmt Aristoteles
die erste Philosophie andererseits als θεολογική, als die Wissenschaft
des Grundes »des am offensichtlichen Seienden sich bekundenden
Übermächtigen«,10 als αἴτια τοῖς φανεροῖς τῶν θείων.11 Daraus zieht
Heid­eg­ger folgenden Schluss: »Philosophie als erste Philosophie hat
also einen zweifachen Charakter, sie ist Wissenschaft vom Sein und
Wissenschaft vom Übermächtigen«. Und dem fügt er in Klammern
hinzu: »Dieser Doppelcharakter entspricht dem Zweifachen von
Existenz und Geworfenheit«.12
Heid­eg­ger weist hier nicht nur auf einen inneren Zwiespalt in der
metaphysischen Fragestellung selbst hin, auf den Ausbruch eines
Scheidewegs von großem Einfluss in der gesamten Geschichte der
Philosophie, sondern er schreibt diesen Doppelcharakter der Meta­
physik der existenzialen Struktur des Menschen zu. Der metaphysi­
sche Umschlag der Fundamentalontologie zeigt sich folglich als sehr
eng verbunden mit der Diagnose einer ontotheologischen Verfas­
sung der Metaphysik im Allgemeinen. Daher hat die Metaphysik des
Daseins die Aufgabe, das Problem der Metaphysik zu verdeutlichen.
Dieses Thema hat Heid­eg­ger zu dieser Zeit oft durch die Wendung
von der »Grundlegung der Metaphysik« zum Ausdruck gebracht.
Eine solche Grundlegung versteht er – wie eine lapidare Formulie­
rung des Kant-Buchs von 1929 bestätigt – als die Erforschung der
»Endlichkeit im Menschen«.13
Es ist merkwürdig, dass Heid­eg­ger gerade bei der Entwicklung
seiner Diagnose des zweifachen Charakters der Metaphysik bezie­
hungsweise deren Spaltung in Ontologie und Theologie von einer

9 Zu der Schöpfung des Wortes Ontologie im 17. Jahrhundert durch die


Epigonen von Descartes, zum Beispiel durch Clauberg, vgl. Heid­eg­ger,
Meta­physische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 16.
10 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 13.
11 Aristoteles, Metaphysica 1026a.
12 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 13. Nach
Heid­eg­gers Verständnis ist dieser zweifache Charakter der ersten Philosophie
des Aristoteles entscheidend für die ganze Geschichte der Metaphysik. Vgl.
zu diesem Thema: J. Uscatescu Barrón, Metaphysik als Ontotheologie. Zur
Rekonstruktion der Heid­eg­gerschen Auffassung der Geschichte der Philo­
sophie, Heid­eg­ger Studien 26 (2011), 165–182.
13 Heid­ eg­ger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 217: »Die
Grundlegung der Metaphysik gründet in der Frage nach der Endlichkeit im
Menschen, so zwar, daß diese Endlichkeit jetzt erst Problem werden kann«.

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metaphysischen Verwandlung der Fundamentalontologie spricht.


Besonders für denjenigen, der mit dem kantischen Aspekt seines
philosophischen Projektes vertraut ist, ist es undenkbar, nicht zu
fragen: Wie kann man nach den Errungenschaften der transzenden­
talen Dialektik Kants noch über Metaphysik reden? – Ein angemes­
senes Verständnis der metaphysischen Wende Heid­eg­gers und sei­
ner expliziten Identifikation von Philosophie und Metaphysik setzt
die genaue Präzisierung der Bedeutung und des Gebrauchs dieses
Terminus voraus: Was versteht Heid­eg­ger unter Metaphysik, wenn
er sich etwa über eine Metaphysik des Daseins äußert? Wird diese
Frage hier gestellt, dann wird die Metaphysik selbst zum Problem.14
Im Folgenden wird dieses Problem vornehmlich von der letzten
Marburger Vorlesung aus betrachtet. Diese dokumentiert 1. Heid­
eg­gers Hinweise auf die Verwurzelung der ontotheologischen Spal­
tung aller Metaphysik in der Struktur Existenz / Geworfenheit und
2. die ersten Schritte der Metaphysik des Daseins als hermeneutische
Phänomenologie der menschlichen Verbindung mit dem Seienden,
besonders angewandt auf das Problem des Ursprungs der Gesetz­
lichkeit der Bestimmungen, die die Struktur der Aussage und des
Denkens im Allgemeinen kennzeichnen.

Die existenzialen Wurzeln der Spaltung der Metaphysik und die


Metaphysik des Daseins als Hermeneutik der Verbindlichkeit

Der Hinweis Heid­eg­gers auf die existenziale Basis der ontotheologi­


schen Spaltung der Metaphysik kommt in seiner Leibniz-Vorlesung
in einer konzisen Formel zum Ausdruck, nach der die Aufspaltung
oder der »Doppelcharakter« der Metaphysik »dem Zweifachen von
Existenz und Geworfenheit [entspricht]«.15 Obwohl die Aussage
nicht ausführlich dargelegt wird – was die Klärung ihrer Bedeutung
sicherlich erschwert –, lässt sie sich in dem Zusammenhang der ge­
samten Vorlesung und in Rückblick auf Sein und Zeit durchaus in­
terpretieren. Der in ihr steckende Grundgedanke lässt sich folgen­

14 Pöggeler, Metaphysik als Problem bei Heid­eg­ger, 365: »Heid­eg­ger hatte


weder die Metaphysik rehabilitiert noch der Irrationalität anheimgegeben;
er hatte sie vielmehr als Problem zu fassen versucht. In dieser Weise sprach
das Kant-Buch von der Metaphysik als Problem«.
15 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 13.

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dermaßen formulieren: Der innerliche Zwiespalt der Transzendenz


selbst macht die existenziale Wurzel der traditionellen Metaphysik
aus. Einerseits bildet die Transzendenz den Entwurf des Verstehens
(Existenz), andererseits bringt sie das Dasein zurück zum Seienden
als Ganzen (Geworfenheit), dergestalt, dass sie das Dasein an das
Seiende wesenhaft bindet. Diese Charakteristik der Transzendenz ist
festzuhalten. Sie bezieht sich auf das in Sein und Zeit »kaschierte«
Problem der menschlichen Anbindung an das Seiende.
Um das Thema weiter zu bearbeiten, wenden wir uns nun der
Schlussfrage von Sein und Zeit nach dem ontischen Fundament der
Fundamentalontologie zu. Die ersten Betrachtungen des letzten
Paragrafen von Sein und Zeit (§ 83) sind rein existenzial-ontolo­
gisch: Heid­eg­ger bemerkt, dass das Ziel seiner bisherigen Analy­
sen kein anderes war als »das ursprüngliche Ganze des faktischen
Daseins hinsichtlich der Möglichkeiten des eigentlichen und unei­
gentlichen Existierens existenzial-ontologisch aus seinem Grunde
zu interpretieren«.16 Der Grund eines solchen Unternehmens – der
Existenzialanalytik – ist hinlänglich bekannt: Heid­eg­ger setzt vor­
aus, dass »so etwas wie ›Sein‹ [das Ziel überhaupt der Fundamenta­
lontologie] erschlossen im Seinsverständnis [ist], das als Verstehen
zum existierenden Dasein gehört«.17 Und da »die existenzial-onto­
logische Verfassung der Daseinsganzheit in der Zeitlichkeit grün­
det […], muss eine ursprüngliche Zeitigungsweise der ekstatischen
Zeitlichkeit selbst den ekstatischen Entwurf von Sein überhaupt
ermöglichen«.18
Aber gerade innerhalb dieses Kontextes rein existenzial-ontologi­
scher Betrachtungen kommt das in Sein und Zeit kaschierte Thema
wieder hervor. Der Wiederholung der in § 7 vorgestellten Definition
von Philosophie, nach der »die Philosophie [eine] universale phä­
nomenologische Ontologie [ist], ausgehend von der Hermeneutik
des Daseins, die als Analytik der Existenz das Ende des Leitfadens
alles philosophischen Fragens dort festgemacht hat, woraus es ent­
springt und wohin es zurückschlägt«,19 fügt Heid­eg­ger hinzu, dass
diese These nicht nur nicht als eine dogmatische angesehen werden
darf, sondern auch, dass sie ein grundsätzliches und noch »einge­

16 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 575.


17 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 577.
18 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 577.
19 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 51.

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hülltes« Problem hervorbringt, das sich in folgender Frage offenbart:


»lässt sich die Ontologie ontologisch begründen oder bedarf sie auch
hierzu eines ontischen Fundamentes, und welches Seiende muss die
Funktion der Fundierung übernehmen?«20
Diese Frage hat jüngst als Anstoß für eine Interpretation der Me­
taphysik des Daseins fungiert – die sich als eine mögliche Antwort
auf diese Frage des § 83 entwickelt – als einer ontischen Rekrudes­
zenz: Die metaphysische Wende Heid­eg­gers nach der Veröffentli­
chung von Sein und Zeit sei das Zeichen des Verlustes der trans­
zendental-kritischen Perspektive für das philosophische Fragen.21
Der Grund aber, warum diese Frage genau in dem entscheidenden
Paragrafen aufkommt, gerade da, wo die immanente Kehre in die
Problematik der Temporalität des Seins vorbereitet werden sollte,
lässt sich in gewisser Weise schon innerhalb des § 83 beantworten.
Denn im Rückblick auf die ausgeführten Analysen von Sein und
Zeit schreibt Heid­eg­ger: »Die vorgängige, obzwar unbegriffliche Er­
schlossenheit von Sein ermöglicht, daß sich das Dasein als existieren­
des In-der-Welt-sein zu Seiendem, dem innerweltlich begegnenden
sowohl wie zu ihm selbst als existierendem, verhalten kann«.22 Die
Kursivschrift von Heid­eg­ger ist hier nicht willkürlich angewendet.
Sie weist darauf hin, dass der Ort, an dem das Ende des Leitfadens
alles philosophischen Fragens festgemacht ist, von dem aus alle phi­
losophische Fragestellung entspringt und wohin sie zurückschlägt,
kein freischwebender ist, auch keine Abstraktion, sondern das fakti­
sche Existieren des menschlichen Daseins in seiner unvermeidbaren
Verbundenheit mit dem Seienden im Ganzen. Das Dasein selbst ist
(als Seiendes) das ontische Fundament der Ontologie. Aber nicht nur
weil es Seinsverständnis ist, sondern grundsätzlich weil das Seins­
verständnis eine Rückbindung an das Seiende impliziert und dem­
zufolge die fundamentale metaphysische Frage nach dem Seienden
ermöglicht, und zwar in der Spaltung zwischen dem Seienden als
Seiendem und dem Seienden im Ganzen.
Diese Fragestellung ist entscheidend für das Verständnis der in
der letzten Marburger Vorlesung verteidigten metaphysischen Ver­
wandlung der Fundamentalontologie. Das Ausschlaggebende im

20 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 576.


21 Vgl. Steven Crowell, Metaphysics, Metontology, and the End of Being
and Time, Philosophy and Phenomenological Research 60/2 (2000), 307–331.
22 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 577.

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Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens 327

Kontext dieser metaphysischen Wende ist die Bindung des seins­


verstehenden Daseins an das Seiende im Ganzen, das heißt die Tat­
sache, dass das menschliche Verhalten diese Bindung immer schon
voraussetzt. Nur unter dieser Bedingung kann der Ansatz dieser
Vorlesung verstanden werden, der lautet: »Da es Sein nur gibt, in­
dem auch schon gerade Seiendes im Da ist, liegt in der Fundamen­
talontologie latent die Tendenz zu einer ursprünglichen metaphy­
sischen Verwandlung, die erst möglich wird, wenn Sein in seiner
vollen Problematik verstanden ist. Die innere Notwendigkeit, daß
Ontologie dahin zurückschlägt, von wo sie ausgegangen war, kann
man am Urphänomen der menschlichen Existenz deutlich machen:
daß das Seiende ›Mensch‹ Sein versteht; in dem Verstehen von Sein
liegt zugleich der Vollzug des Unterschiedes von Sein und Seiendem;
es gibt Sein nur, wenn Dasein Sein versteht. Mit anderen Worten: die
Möglichkeit, daß es Sein im Verstehen gibt, hat zur Voraussetzung
die faktische Existenz des Daseins, und diese wiederum das fak­
tische Vorhandensein der Natur. Gerade im Horizont des radikal
gestellten Seinsproblems zeigt sich, daß all das nur sichtbar ist und
als Sein verstanden werden kann, wenn eine mögliche Totalität von
Seiendem schon da ist«.23
Das Zitat lässt sich folgendermaßen interpretieren: Wäre das Da­
sein nur ein rein freischwebendes Verstehen von Sein, dann würde
es auch kein menschliches Verhalten geben. Denn das, was mensch­
liches Verhalten genannt wird, dieses Sich-verhalten-können des
menschlichen Daseins, beruht notwendig auch auf der Bindung des
existierenden Menschen an das Seiende im Ganzen. Das menschli­
che Verhalten in all seinen Dimensionen – mit den Dingen, mit den
anderen und mit sich selbst – ist nichts anderes als das Zurückkom­
men zu Seiendem, das von der Transzendenz ermöglicht wird. Der
philosophische Diskurs muss folglich auch die »eigentümliche Um­
wendung« vollziehen,24 die allein es ermöglicht, dass er an den Ort,
aus dem er entsprungen ist, zurückkommt, zurück »zu Seiendem«,25
zum Raum der menschlichen Bindung an das Seiende im Ganzen.
Damit aber tritt eine gewisse Zweideutigkeit des Weltbegriffes in
Sein und Zeit hervor. Dass das Dasein geworfen ist, bedeutet nicht
nur, dass es sich immer innerhalb einer bedeutsamen Bewandtnis­

23 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 199.


24 Heid­eg­ger, Die Grundbegriffe der Metaphysik, GA 29/30, 66.
25 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 577.

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ganzheit (Welt) bewegt, sondern auch, dass es sich immer inmitten


des Seienden im Ganzen (»Welt«) befindet: »Dasein hat sich, sofern
es ist, je schon auf eine begegnende ›Welt‹ angewiesen, zu seinem
Sein gehört wesenhaft diese Angewiesenheit«.26 Dass das Dasein auf
das Seiende angewiesen ist, stellt genau das »grundsätzliche« und
»eingehüllte« Problem dar, von welchem Heid­eg­ger in den letzten
Zeilen von Sein und Zeit spricht. Im Kant-Buch äußert sich Heid­
eg­ger 1929 unmissverständlich: »In Verhalten zum Seienden, das der
Mensch nicht selbst ist, findet er das Seiende schon vor als das, wo­
von er getragen wird, worauf er angewiesen ist, dessen er im Grunde
bei aller Kultur und Technik nie Herr werden kann. Angewiesen
auf das Seiende, das er nicht ist, ist er zugleich des Seienden, das er
je selbst ist, im Grunde nicht mächtig«.27 Diese Angewiesenheit auf
»Welt« – als das »All des Seienden« – wurde in Sein und Zeit zwar
erwähnt, aber nicht explizit thematisiert. Kurz nach Sein und Zeit
wird aber die Problematik des Seienden im Ganzen ausdrücklich
hervorgehoben, so wie in dem Vortrag Was ist Metaphysik?: »So si­
cher wie wir nie das Ganze des Seienden an sich absolut erfassen, so
gewiss finden wir uns doch inmitten des irgendwie im Ganzen ent­
hüllten Seienden gestellt. Am Ende besteht ein wesenhafter Unter­
schied zwischen dem Erfassen des Ganzen des Seienden an sich und
dem Sichbefinden inmitten des Seienden im Ganzen. Jenes ist grund­
sätzlich unmöglich. Dieses geschieht ständig in unserem Dasein«.28

26 Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 117. Vgl. auch 87–88. An dieser Stelle
unterscheidet Heid­eg­ger zwischen vier möglichen Bedeutungen des Wortes
Welt und legt fest, dass die Kennzeichnung des vorontologisch-existenziellen
Weltverständnisses, des Verständnisses von Welt als das, »›worin‹ ein fakti­
sches Dasein als dieses ›lebt‹« (Welt-Begriff Nr. 3), durch den Ausdruck Welt
(ohne Anführungszeichen) markiert wird. In Anführungszeichen sollte der
Ausdruck »Welt« wiederum auf »das All des Seienden« hinweisen (Welt-
Begriff Nr. 1). Problematisch ist hier, dass Heid­eg­ger sich in Sein und Zeit
besonders für das Sein der Welt (Nr. 3), das heißt für die Weltlichkeit (Welt-
Begriff Nr. 4), einen rein ontologisch-existenzialen Begriff interessiert und
dass die Angewiesenheit des Daseins auf die »Welt« nicht ausdrücklich be­
handelt wird. Das wurde schon in der Sekundärliteratur diagnostiziert, so
etwa wie bei Pavel Kouba, Der Sinn der Endlichkeit, Würzburg, 2005, 205:
»Als durch die faktische Existenz des Daseins erschlossen ist die Welt nicht
nur ein Verweisungszusammenhang, in den sich das besorgende Dasein ent­
wirft, sondern auch das besorgte Seiende; die Welt bedeutet hier den Zusam­
menhang des Besorgens selbst wie auch das Besorgte«.
27 Heid­eg­ger, Kant und das Problem der Metaphysik, GA 3, 228.
28 Heid­eg­ger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 110.

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Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens 329

Die Metaphysik des Daseins als hermeneutische Phänomenologie


der Verbindlichkeit erhebt demzufolge die Fragestellung über die
ontische Dimension des Daseins, über den unumgänglichen Cha­
rakter der Bezogenheit auf Seiendes, über das Wesen der Bindung an
das Seiende als Ganzes, und weist den Ursprung der Verbindlichkeit
eigens aus. Außerdem ermöglicht die Metaphysik des Daseins die
Formulierung der folgenden These: Wenn sich die Interpretation des
Seienden in der Geschichte der Metaphysik als eine von Grund auf
verzweigte Fragestellung entwickelte, dann ist der Grund dafür die
Tatsache einer wesentlichen inneren Spannung in der Struktur der
Transzendenz des Daseins selbst, nämlich das Geschehen der Bin­
dung an das Seiende als das andere Gesicht des Seinsverständnisses
und als Ursprung der Spannung zwischen Existenz (Möglichkeit)
und Geworfenheit (Faktizität). Dass die Bindung des Daseins an
das Seiende im Ganzen der Ursprung der Verbindlichkeit ist, die das
menschliche Verhalten in all seinen Dimensionen ausrichtet, wird im
Folgenden noch eingehender thematisiert.

Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens

In der Leibniz-Vorlesung des Sommersemesters 1928 widmet sich


Heid­eg­ger einer phänomenologischen Behandlung der »metaphysi­
schen Anfangsgründe der Logik«. Ausgehend vom herkömmlichen
Begriff der Logik als formaler Wissenschaft der Gesetzlichkeit des
Denkens vertritt Heid­eg­ger ihre philosophische Umwandlung: »Die
Logik soll anders, soll philosophisch werden!«29 Dieser Aufruf be­
ruht auf der Annahme, das Denken sei nichts anderes als eine »Ver­
haltungsweise des Daseins«.30 Jede Fragestellung über das Wesen
der Gesetzlichkeit, unter deren Regelung sich das Denken abspielt,
muss demzufolge zurück zu der Frage nach den Bedingungen der
Möglichkeit der Gesetzlichkeit im Allgemeinen führen, der Gesetz­
lichkeit des Verhaltens (des Seins zu Seiendem) des Daseins:31 »Wie

29 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 6.


30 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 24.
31 Dass »Verhalten« als Synonym für »Sein zu Seiendem« genommen wer­
den darf, ist aus unterschiedlichen Passagen von Sein und Zeit ersichtlich.
Eine explizite Identifizierung befindet sich zum Beispiel bei Heid­eg­ger, Sein
und Zeit, GA 2, 136: »Das entsprechende Verhalten (Sein) zu dem begeg­

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330 Fernando Rodrigues

muß dasjenige Seiende, das solchen Gesetzen untersteht, das Dasein


selbst, verfaßt sein, um in solcher Gesetzlichkeit stehen zu können?
Wie ›ist‹ das Dasein seinem Wesen nach, daß in ihm und für es eine
solche Verbindlichkeit wie die logische Gesetzlichkeit entspringen
kann?«32
Die Grundverfassung des Daseins, zu der die Frage nach den
Bedingungen der Möglichkeit der Gesetzlichkeit als Verbindlich­
keit zurückführt, ist die Freiheit: »Die Verbindlichkeit und Gesetz­
lichkeit setzt in sich selbst als Grund ihrer eigenen Ermöglichung
die Freiheit voraus. Nur was als freies Wesen existiert, kann über­
haupt einer Gesetzlichkeit als verbindlicher verhaftet sein. Nur Frei­
heit kann Ursprung von Bindung sein. Ein Grundproblem der Lo­
gik, die Gesetzlichkeit des Denkens, enthüllt sich als ein Problem
menschlicher Existenz in ihrem Grunde, als Problem der Freiheit«.33
Heid­eg­ger weist darauf hin, dass alle »Grundsätze« – das princi­
pium identitatis, das principium contradictionis, das principium
exclusi tertii, das principium rationis sufficientis – ihr Fundament
und ihre Notwendigkeit haben, nicht weil sie »Regeln neben dem
Denken« sind, sondern weil »sie Gründe für Sätze überhaupt [sind],
Gründe, die Denken ermöglichen; und das wiederum nur, weil sie
Gründe sind für Verstehen, Existenz, Seinsverständnis, Dasein,
Urtranszendenz«.34
Der Freiheitsbegriff ist demnach zentral für die Metaphysik des
Daseins. Freiheit ist Ursprung aller Bindung und demzufolge Grund
des menschlichen Verhaltens: »Das metaphysische Grundwesen des
metaphysisch isolierten Daseins zentriert in der Freiheit«.35 Es ist
interessant zu beobachten, wie der Freiheitsbegriff sich in der letz­
ten Marburger Vorlesung sowohl auf den Begriff des Grundes be­
zieht, als auch auf den der Bindung.36 Die Implikation ist unmit­
telbar: Freiheit zum Grunde kann in dieser Vorlesung als Freiheit
zur Bindung interpretiert werden. Diese Freiheit zur Bindung, ein
begrifflicher Gewinn der Metaphysik des Daseins, macht unmiss­

nenden Zeichen ist das ›Ausweichen‹ oder ›Stehenbleiben‹ gegenüber dem


ankommenden Wagen, der den Pfeil mit sich führt«.
32 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 24.
33 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 26.
34 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 24.
35 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 175.
36 Vgl. Charles Guignon, Freedom, in: Daniel Dahlstrom (Hrsg.), Interpre­
ting Heid­eg­ger, Cambridge 2011, 79 –105, hier 96–105.

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Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens 331

verständlich, dass Freiheit der zentrale Begriff der »philosophischen


Logik« ist, der Logik als Metaphysik der Wahrheit, deren Haupt­
probleme (Un)Abhängigkeit, Bindung, Regelung und Maßstab un­
ter anderen sind.37
Diese Erklärung bietet einen Weg für die Auslegung einer der
schwierigsten Aussagen Heid­eg­gers aus dieser Zeit (1927–1930),
nämlich der Behauptung, dass »das Wesen der Wahrheit, als Richtig­
keit der Aussage verstanden, die Freiheit [ist]«.38 Ein angemessenes
Verständnis dieser Aussage hängt von der Feststellung ab, dass nur
Freiheit Ursprung von Verbindlichkeit sein kann.39 Der innerliche
Zusammenhang der Begriffe Freiheit und Wahrheit kann hier nicht
ausführlich behandelt werden. Es ist aber wichtig zu beachten, dass
die gesamte Problematik von Freiheit und Bindung genau darauf ab­
zielt, die Endlichkeit des Seins und der Wahrheit nachzuweisen, um
dadurch Phänomene wie Grenze und Maß zu verstehen, als vorgän­
gige Grundbestimmungen der Begegnung des Seienden im Ganzen.40
In Frage steht hier demnach nicht nur das komplexe Verhältnis des
Daseins mit der Welt und mit dem Sein des innerweltlichen begeg­
nenden Seienden, sondern auch das Problem des Ursprungs aller
Bestimmungen des Seiendes als Etwas und als das Worüber einer
möglichen Prädikation, das heißt die Probleme des vorprädikativen
Ursprungs der Aussage und des Charakters der Satzwahrheit.
Der Versuch Heid­eg­gers, diese beiden Probleme in Sein und Zeit
innerhalb der vorprädikativen Welt-Struktur aufzulösen, ist wohl
bekannt.41 In der Leibniz-Vorlesung aber und in dem Zusammen­
hang einer Skizzierung der Metontologie und der Metaphysik des
Daseins, wird die Welt nicht mehr nur als die Bedeutungsganzheit
und als Konkretion des möglichen Sein-könnens des Daseins ver­
standen, sondern auch als die bindende Struktur selbst, die die inner­
liche »Zerstreuung« des Daseins zusammenhält und dem »Drang«
der Existenz einen Widerstand leistet: »Wir müssen […] sehen ler­
nen, wie das Dasein aufgrund seiner metaphysischen Verfassung,
aufgrund des In-der-Welt-seins über alles Seiende der Möglichkeit
nach immer schon hinaus ist – und in diesem Hinaussein-über nicht

37 Vgl. Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 175.


38 Heid­eg­ger, Vom Wesen der Wahrheit, GA 9, 186.
39 Vgl. Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 277.
40 Vgl. Heid­eg­ger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 143.
41 Vgl. Heid­eg­ger, Sein und Zeit, GA 2, 204–212, 282–306.

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332 Fernando Rodrigues

in das absolute Nichts stößt, sondern umgekehrt gerade in diesem


Hinaussein-über sich die Verbindlichkeit qua Welt vorhält und in
diesem Widerhalt erst und gerade sich an Seiendes halten kann und
muß«.42
Dass das Dasein sich »an Seiendes halten kann und muß«, ist
auch mit der Freiheit zur Bindung gemeint: »Das Dasein als freies
ist Weltentwurf. Dieses Entwerfen aber wird nur so entworfen, daß
das Dasein sich darin hält, und zwar derart, daß dieser freie Halt bin­
det, d. h. daß er das Dasein, in allen seinen Dimensionen der Tran­
szendenz, in einen möglichen Spielraum der Wahl stellt«.43 Dieser
»Spielraum« besteht seinerseits grundsätzlich aus dem Widerhalt der
Welt selbst gegenüber der Transzendenz des Worum-Willens des
Daseins44 und aus dem Widerstand des Seienden, »als das, wogegen
das transzendierende Dasein ohnmächtig ist«.45 Er gilt als Zeichen
dafür, dass die Transzendenz selbst spielerisch ist, wie etwa in der
Formulierung der Vorlesung Einleitung in die Philosophie: »›Welt‹
ist der Titel für das Spiel, das die Transzendenz spielt. Das In-der-
Welt-sein ist dieses ursprüngliche Spielen des Spiels, auf das ein jedes
faktische Dasein sich einspielen muß, um sich abspielen zu können,
derart, daß ihm faktisch so oder so mitgespielt wird in der Dauer
seiner Existenz«.46
Die Welt ist das Spiel der Transzendenz, das heißt Welt ist das
Spiel von Freiheit und Bindung. Nicht nur die Gesetzlichkeit des
Denkens findet ihren Grund in der Transzendenz als geregeltes Spiel,
sondern die Endlichkeit der Existenz im Allgemeinen tritt hier in
den Vordergrund als Angewiesenheit auf Seiendes, als Preisgege­
benheit, als maßgebende Verbindlichkeit. Dadurch entsteht die
»metaphysische Ohnmacht« des Daseins: »Die Metaphysik ist das
Grundgeschehen des Daseins. Sie ist das Dasein selbst«.47 Diese Aus­
sage der Antrittsrede Heid­eg­gers als ordentlicher Professor in Frei­
burg besagt nur, dass das Dasein wesenhaft verbunden ist mit dem
Seienden im Ganzen: »Das Geschehen der Transzendenz als Grün­

42 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 254.


43 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 247–248.
44 Vgl. Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 248.
45 Heid­eg­ger, Metaphysische Anfangsgründe der Logik, GA 26, 279. Vgl.
dazu Lászlo Tengelyi, L’idée de métontologie et la vision du monde selon
Heid­eg­ger, Heid­eg­ger Studien 27 (2011), 137–153.
46 Heid­eg­ger, Einleitung in die Philosophie, GA 27, 312.
47 Heid­eg­ger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122.

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Freiheit, Bindung und das Spiel des Lebens 333

den ist das Sichbilden des Einbruchspielraums für das jeweilige fak­
tische Sichhalten des faktischen Daseins inmitten des Seienden im
Ganzen«.48 Nur aus dieser durch das Seinsverständnis bestimmten
Verbundenheit des Daseins mit dem Seienden kann die metaphy­
sische Frage entstehen: »Warum ist überhaupt Seiendes und nicht
vielmehr Nichts?«49
Die Metaphysik des Daseins erhebt den Anspruch, sich als eine
Philosophie der Endlichkeit im radikalsten Sinne zu behaupten. Ihre
Aufgabe ist die Behandlung der menschlichen Verbindlichkeit ge­
genüber dem Seienden im Ganzen beziehungsweise die Identifika­
tion der Freiheit zur Bindung als Wesen des Menschen. Eine Inter­
pretation dieses philosophischen Projektes, die sich durch den in­
neren Zusammenhang der Begriffe Freiheit, Bindung und Spiel des
Lebens strukturieren lässt, zeigt ihre Vorteile: Sie holt den positiven
Aspekt der Metaphysik des Daseins nach, nämlich die hermeneuti­
sche Phänomenologie der menschlichen Verbindlichkeit mit dem
Seienden im Ganzen. Nur durch eine solche immanente Lektüre
lassen sich die Vorlesungen Heid­eg­gers dieser Zeit unmittelbar nach
Sein und Zeit in ein einheitliches Ganzes einordnen, in das Projekt
einer Metaphysik des Daseins. Und auch wenn Heid­eg­ger ab Mitte
der 1930er Jahre, nach der philosophischen Kehre, zur expliziten
Verteidigung einer Überwindung der Metaphysik kommt und von
der ganzen Begrifflichkeit seines metaphysischen Projektes Abstand
nimmt, bleibt hier noch vieles über die menschliche Natur zu lernen.

48 Heid­eg­ger, Vom Wesen des Grundes, GA 9, 170.


49 Heid­eg­ger, Was ist Metaphysik?, GA 9, 122.

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