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Der Spiegel20180203
Der Spiegel20180203
Volkswagen
Der politische Preis
der Affenexperimente
zugrunde gehen“
„Er wird an dieser Sache
Ulrich Tukur über Dieter Wedel
Kaufen oder mieten? Was wo schlau ist
Teurer Traum
Übergewichtige Kinder
N SPIEGEL
hatte
ach allem, was bereits über das
Mädchen berichtet worden war,
-Redakteurin Dialika
Neufeld nicht mehr damit gerechnet, DJAMILA GROSSMAN / DER SPIEGEL
greift die Redaktion das Thema in zwei Gesprächen Kinder bekommen vieles aus den Nachrichten
auf. Mit der französischen Feministin und Schrift- mit, aber die Hintergründe bleiben für sie oft
stellerin Virginie Despentes diskutierte SPIEGEL- unverständlich. In diesem Buch erfahren sie,
Korrespondentin Julia Amalia Heyer in Paris über in welcher Demokratie sie leben, warum es
eine Frauengeneration, die zwischen Selbstbestim- Parteien gibt, wieso Wahlen geheim sind und
mung und Gefallsucht schwankt. „Es sind kleine, was sie selbst tun können.
böse Wahrheiten, die Despentes ausspricht“, so Lisa Duhm, Redakteurin von „Dein SPIEGEL“,
Heyer, Despentes Heyer, „und die Männer wie Frauen zum Nach- beantwortet immer wieder politische Zusam-
denken über die Frage anregen, wie weit wir als menhänge für Kinder. Mit anschaulichen Fotos
Gesellschaft wirklich sind.“ SPIEGEL-Redakteur von Jan von Holleben, der die Bilder in Work-
Alexander Kühn wiederum traf mit Ulrich Tukur shops mit Kindern erarbeitet hat.
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Titel Ausland
Geldanlage Für wen sich ein Immobilien- IS-Terroristen landen in Italien / Warum
kauf auch im Jahr 2018 noch der Westen Erdoğan stoppen muss 76
lohnen könnte – und für wen nicht 12 Frankreich SPIEGEL-Gespräch mit der
Schriftstellerin Virginie Despentes über
Deutschland den latenten Machismus der Franzosen 78
Leitartikel Die Politik muss die Autoindustrie USA Melania Trump gibt den Amerikanern
endlich zum Umdenken zwingen 6 zunehmend Rätsel auf 82
Meinung Im Zweifel links / So gesehen: Essay Der iranische Schriftsteller
Warum wir nettere Journalisten brauchen 8 Amir Hassan Cheheltan über
Polizei in Niedersachsen soll Islamisten das vorläufige Ende der Proteste 84
mit Fußfesseln überwachen dürfen / BND- Dschibuti Wie die Chinesen durch ihre
Mitarbeiter im Sicherheitsmanagement Investments eines der kleinsten Länder
von Springer / Helmut Kohl spendete an Afrikas verändern 86
Waffen-SS-Veteranen 20
Industrie Für viele Arbeitnehmer wird Sport
das Zeitregime immer strenger – das
wollen die Gewerkschaften nun beenden 24 Der einzigartige Erfolg des Footballers r
Diplomatie Die chinesische Regierung Tom Brady / Magische Momente: Mit elegante
unterwandert die EU 27 Der Extremskifahrer Felix Wiemers Gla s k a ra ff e
Essay Angela Merkel hat das Land radikaler über seinen schlimmsten Sturz 91
verändert als ihre Vorgänger 28 Olympia Nie war das Chaos so groß wie
Grüne SPIEGEL-Gespräch mit den neuen vor den Winterspielen in Pyeongchang 92
Vorsitzenden Annalena Baerbock und Fußball Sollen AfD-Mitglieder raus aus
Robert Habeck über die Frage, wie links den Vereinen? 95
die Partei noch sein darf 30
Karrieren Außenminister Sigmar Wissenschaft
Gabriel kämpft um sein Amt 34
Außenpolitik Besuch bei einem türkischen Worte helfen gegen Rückenschmerz /
Offizier, der in Deutschland Schutz fand 36 Bakterien stellen Astronautennahrung
Verrat Bundesanwälte ermitteln gegen her – aus Kot / Kommentar:
Rüstungsmanager, die an Geheimpapiere Daddeln, chatten, YouTube gucken – wie
der Bundeswehr gelangten 38 lange darf mein Kind ans Smartphone? 96
Generationen Junge Politiker werden Psychologie Gedemütigt, gehänselt,
ausgebremst 40 ausgegrenzt – viel mehr als an möglichen
Umfragen Forsa-Chef Manfred Güllner Folgen ihres Übergewichts leiden
über Betrügereien in der Marktforschung 42 dicke Kinder an dem Umgang mit ihnen 98
Die fragwürdige Studie zu einem Umwelt Die unterschätzte
Krebsmedikament 42 Ökogefahr: Mikroplastik im Boden 101
Strafjustiz Warum eine Frau drei Morde Medizingeschichte Das kürzlich entdeckte
innerhalb weniger Wochen begeht 46 Tagebuch eines deutschen Arztes beschreibt
Sprache Die „Mohren-Apotheken“ unter die Gräuel des Ersten Weltkriegs 102
Rassismusverdacht 48 Künstliche Intelligenz Tumbe Maschine –
wie man mit schlichten Tricks die Gesichts-
Gesellschaft und Spracherkennung foppen kann 104
Früher war alles schlechter: Weibliche
Genitalverstümmelung / Darf man noch Kultur
Bützje geben im Karneval? 50 Glosse: Formel 1 ohne Grid Girls /
Eine Meldung und ihre Geschichte Bingo- Alternativsender FM4 vor dem Aus? /
Verbot im Altenheim 51 Kolumne: Besser weiß ich es nicht 106
Schicksale Eine zwölfjährige Syrerin in Intellektuelle Der polnische Schriftsteller
Lüneburg verunglückt schwer und gilt schnell Szczepan Twardoch verschreckt Rechte
als radikalisierte IS-Sympathisantin – die wie Linke 108
Geschichte eines Rufmords 52 Kino #MeToo, Trump und der ganze
Homestory Ansichten meines Fliesenlegers 57 Schlamassel – ein Interview mit
Meryl Streep und Steven Spielberg 112
Wirtschaft Emigranten Ulrich Alexander Boschwitz –
Strafanzeigen gegen Deutsche-Bank-Manager / späte Wiederentdeckung Vom Hersteller
des Testsiegers.
Belgien meldet nicht jede AKW-Panne / eines Schriftstellers auf der Flucht 116
Neues Lufthansa-Logo ärgert Aufsichtsräte 58 Sexismus SPIEGEL-Gespräch mit dem
Dieselaffäre Der Skandal um Tierversuche Schauspieler Ulrich Tukur über die Affäre
an Affen nährt die Zweifel an der moralischen Dieter Wedel 120
Glaubwürdigkeit der Autokonzerne 60 Kunstkritik Kiki Smith im Haus der Kunst 123
Weltwirtschaft Wie Donald Trump in Davos Öko-TEST Jahrbuch
die Sorgen der Politiker und die Essen,Trinken und
Genießen 2005
Sehnsüchte mancher Manager bestärkt 64 Bestseller 115
Sozialstaat Die frühere Verfassungsrichterin
Renate Jaeger erklärt im SPIEGEL- Impressum, Leserservice 124
Gespräch, dass das Rentensystem sicher Nachrufe 125 O Immer frisch gesprudeltes Wasser
sei – aber leider auch rechtsstaatswidrig 68 Personalien 126 O Kohlensäure individuell dosierbar
Digitalwirtschaft Das Start-up Auto1 wird Briefe 128 O Spart Geld
mit Milliarden bewertet, die Beschwerden
von Händlern allerdings häufen sich 72 Hohlspiegel / Rückspiegel 130
Karrieren Peter Altmaier würde gern Finanz-
minister bleiben, hat jedoch kaum Chancen 75 Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
www.sodastream.de
DER SPIEGEL 6 / 2018 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
S
eit mehr als zwei Jahren wissen wir, dass die Auto- Gerade weigern sie sich, Hardware-Nachrüstungen an
industrie manipulierte Dieselfahrzeuge baut, die gif- ihren Dieselfahrzeugen bereitzustellen und mitzufinan-
tige Abgase weit jenseits der Grenzwerte ausstoßen. zieren. Die sogenannten SCR-Katalysatoren ließen sich
Doch die Empörung über diese Praxis, die unser aller mit technisch wie finanziell vertretbarem Aufwand in
Gesundheit gefährdet, hielt sich bislang in Grenzen. Das zehn Millionen deutsche Autos einsetzen. Das belegt ein
ändert sich jetzt. Der Grund sind aber nicht Krebstote unlängst erstelltes Gutachten der Regierung. Die benö-
oder asthmakranke Kinder. tigten Einzelteile liegen sogar für viele Fahrzeuge schon
Es sind Fotos von Javaneraffen in einem Kasten, die heute in den Ersatzteillagern der Konzerne bereit. Aber
uns mit weit aufgerissenen Augen anstarren, nachgestellte die Bosse wollen sie nicht anrühren. „Technische Nach-
Szenen aus einer Filmdokumentation über jene Tier- rüstungen sind viel zu teuer“, sagt etwa Audi-Vorstands-
versuche mit Dieselabgasen, die deutsche Autokonzerne chef Rupert Stadler. „Bis die eingeführt sind, vergehen
vornehmen ließen. Erst diese Fotos lösen nun jenes Gefühl mindestens vier Jahre.“ Stattdessen schlägt er vor, die
aus, das wir schon seit September 2015 beim Gedanken Autoflotte zu erneuern. Na klar doch, das eine kostet ihn
an die Autokonzerne empfinden müssten: Wut. Geld, das andere spült Geld in seine Kassen!
Das Antlitz unserer tieri- Dabei hätte die Regie-
schen Verwandten macht rung die Konzerne zu die-
uns die Skrupellosigkeit sem Umbau schon zu Be-
dieser Industrie bewusst, ginn des Dieselskandals
ihre Bereitschaft, morali- verpflichten sollen, anstatt
sche Grundsätze zu miss- sich mit halbherzigen Soft-
achten, wenn es dem Ge- ware-Updates abspeisen
schäft dient. Wir verstehen, zu lassen. Vielleicht wird
dass unsere Gesundheit die Bestürzung über die
von Managern und Inge- Affenversuche nun einen
nieuren aus Profitgier ge- Bewusstseinswandel bei
fährdet wird, millionenfach, Politik und Konzernen
und dass Behörden und bewirken.
Politik sie schützen. Die Technische Errungen-
IMAGO STOCK&PEOPLE / IMAGO / BLICKWINKEL
IG Metall rockt
Zeit ist Geld. So sagt list Franz Josef Wagner in der „Bild“-Zei-
man. Immerhin reden tung zum Streikaufruf geschrieben: „IG #Mitfühlender
wir über Zeit, als
wäre sie Geld: Wir
Metall – kenne ich nicht. Ist IG Metall eine
Rock-Gruppe wie Metallica?“
Journalismus
wollen sie sparen. Er hat leider recht. Gewerkschaften So gesehen Warum die
Wir verlieren sie. Sie sind nicht cool. Die Leute denken, sie brau- Politikberichterstattung
wird uns gestohlen. chen sie nicht, sie halten Unterwerfung sich endlich ändern muss
Keiner hat genug da- für ein Zeichen des Fortschritts. Da haben
von. Aber im Leben der die neoliberalen Gehirnwäscher saubere Die arme Kollegin Tina Has-
Menschen ist Zeit gar kein Geld, sondern Arbeit geleistet. Im Mittelalter war die sel von der ARD wird der-
erst einmal – Zeit. Wenn man heute die Ungerechtigkeit gottgegeben, heute ist zeit gescholten, weil sie vom
Leute fragt, ob sie mehr Geld wollen oder sie marktgegeben. Und man darf sich be- Grünen-Parteitag getwittert
mehr Zeit, entscheiden sich verblüffend kanntlich weder gegen Gott auflehnen hatte: „Frische #grüne Dop-
viele Menschen für die Zeit. noch gegen den Markt. pelspitze lässt Aufbruchstim-
Darum möchte die IG Metall jetzt, dass Mal sehen, wie weit die IG Metall mung nicht nur in Frankreich
die Beschäftigten ihre Arbeitszeit für kommt. Den letzten großen Arbeitskampf spüren. ... #Verantwortung
bis zu zwei Jahre auf 28 Stunden verkür- hat sie vor 15 Jahren gewagt – damals kann auch Spaß machen und
zen können, ohne Lohnausgleich. Bei ging es um die 35-Stunden-Woche im Os- nicht nur Bürde sein. Wichti-
bestimmten Gruppen sollen die Arbeitge- ten – und jämmerlich verloren. Die ges Signal in diesen Zeiten!“
ber etwas drauflegen. Das ist, wie man Gewerkschaft hatte nicht nur die Arbeit- Kein distanziertes Statement,
es von den deutschen Gewerkschaften geber gegen sich, sondern die Medien- zugegeben, aber müssen
kennt, alles ziemlich überschaubar. Keines- öffentlichkeit. Der SPIEGEL nannte den Leitmedien wie „FAZ“ oder
wegs die große Gerechtigkeitswende, Streik „absurd wie gefährlich“, die „Zeit“ deshalb von Stim-
die dem Land guttäte. Aber immerhin. „Süddeutsche Zeitung“ sprach von „Irr- mungsmache und Doppel-
Die IG Metall fordert von den Arbeit- sinn“, die „Zeit“ von „Machtspielen zum standard raunen?
gebern Flexibilität. Und Flexibilität ist ja falschen Zeitpunkt“. Den Kollegen kann man
ein Zauberwort unserer Zeit. Alle Men- Das war das vergoldete Zeitalter des nur zurufen: #nix kapiert.
schen sollen flexibel sein. Jedenfalls solange Neoliberalismus. Kann sein, dass die Leute In Zeiten wie diesen muss
es sich um Arbeitnehmer handelt. Arbeit- inzwischen etwas dazugelernt haben. In- auch der Journalist sich än-
geber können ganz schön bockig werden, zwischen schreibt selbst Kollege Wagner: dern. Statt ewig zu nörgeln,
wenn man von ihnen Flexibilität verlangt. „Ich wünsche mir, dass die Aldi-Kassiere- sollte er das Positive suchen.
Darum sah sich die IG Metall auch zu Warn- rinnen auf die Straße gehen. Die Kranken- Die Politiker können es
streiks gezwungen: „Teile der Arbeitgeber schwestern, die den Toten begleiten … brauchen. Die um die abso-
sind extrem rückwärtsgewandt“, hat IG-Me- All diese wunderbaren Menschen sollen lute Mehrheit ihrer Partei
tall-Chef Jörg Hofmann festgestellt. streiken. Für ein gerechtes Deutschland.“ bangende Führungscrew der
Es ist natürlich lustig, wenn das ausge- Steht so in der „Bild“-Zeitung. Im Ernst. CSU zum Beispiel. „Halber
rechnet der Metaller sagt. Seine Gewerk- Aufbruch ist besser als gar
schaft steht nicht im Ruf, ein Born des An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, keiner. Das wird schon,
Fortschritts zu sein. Gerade hat der Journa- Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. #MarkusSöder und #Horst-
Seehofer“ wäre ein Tweet,
der sofort beruhigende Wir-
kung auf die Gespräche in
Kittihawk Berlin hätte. Und wie viel
selbstbewusster wäre die
SPD in die Koalitionsver-
handlungen gegangen, wenn
wenigstens ein Kollege get-
wittert hätte: „56,4% auf
#Parteitag – und das bei
dem Sondierungsvertrag.
Chapeau #MartinSchulz.“
Durch positive Verstär-
kung, das weiß man in der
Psychologie, wird mehr er-
reicht als durch harsche
Kritik. Also hoffen wir das
Beste und gehen gleich mal
mit gutem Beispiel voran:
„Danke für zwölf tolle Jahre,
#AngelaMerkel. Ruhestand
kann auch Spaß machen!“
Ralf Neukirch
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Der Wohnungswahn
Geldanlage Das Eigenheim gilt als wichtiger Teil der Altersvorsorge. Doch Wohnungen und
Häuser werden in Metropolen zunehmend unerschwinglich – und das Angebot ist so
rar, dass windige Verkäufer leichtes Spiel haben. Lohnt sich der Immobilienerwerb noch?
Titel
E
igentlich geht’s ihm prächtig, findet üblich und möglich. Heute ist ein solches den Fenstern, Untersetzer unter Pflanz-
Kai Wittmann, 38. Er arbeitet in der Vorhaben kaum noch erschwinglich: Dafür kübeln und Teetassen, die täglich ausge-
Autobranche und verdient ein gutes verdienen die meisten Familien nicht ge- tauscht werden, weil der Kunst- und Eso-
Ingenieursgehalt. Mit seiner Frau will er nug – und Eigenheime sind viel zu teuer terikfan passend für jeden Wochentag eine
bald eine Familie gründen. Sein Leben ist geworden. andere Farbe ausgesucht hat.
so, wie es sich viele wünschen in dem Al- Jedem Bürger in Deutschland stand 2016 Ziegert hat ein Biologiestudium abge-
ter. Wenn, ja, wenn da nicht ein Thema durchschnittlich ein Nettoeinkommen von brochen und war danach ein Jahr lang
wäre, das ihn schier zur Verzweiflung rund 1800 Euro im Monat zur Verfügung, Blumenhändler, ein Job, bei dem er die
bringt. das waren zehn Prozent mehr als vier Jah- Kunden offenbar vor allem mit seinem En-
Wittmann lebt in einer Zweizimmerwoh- re zuvor. In derselben Zeit sind die Woh- thusiasmus um den Finger wickelte. „Ich
nung in München-Sendling, die für eine nungspreise förmlich explodiert: plus 30 habe die Blumen geliebt, vor allem die
Familie mit Kindern definitiv zu klein ist. Prozent. Allein mit dem Geld, das ein Bür- Rosen, ich fand die so toll“, schwärmt er
Doch sowohl die Mieten als auch die Kauf- ger mit Erwerbsarbeit verdient, lassen sich noch heute.
preise steigen in der bayerischen Landes- die meisten Objekte nicht mehr bezahlen. Weil die zerkratzten Hände eines Blu-
hauptstadt gerade in so abstruse Höhen, 56 Prozent der Deutschen glauben, dass menhändlers seinen ästhetischen Ansprü-
dass er daran zweifelt, sich jemals etwas sie es sich wahrscheinlich niemals leisten chen nicht genügten, schwenkte er auf
anderes leisten zu können. „Bei all unse- können, ein Haus zu kaufen, wie eine Um- Immobilienmakler um. Interessant ist
ren Freunden ist der Immobilienmarkt das frage der Bank ING-DiBa zeigt – das sind Ziegert aber vor allem, weil er eine Über-
Thema Nummer eins: Wie finde ich eine mehr als in fast allen anderen EU-Staaten. zeugung, die viele Deutsche teilen, in ein-
Wohnung? Soll ich kaufen oder mieten? Dabei gilt das Eigenheim noch immer drucksvolle Worte fasst: die Abscheu ge-
Kann ich auf Dauer in der Großstadt blei- als wichtiger Teil der Altersvorsorge, so gen alles, was mit Aktien oder Finanz-
ben?“, sagt er. jedenfalls erklären es Sparkassenmitarbei- märkten zu tun hat.
Vor zwei Jahren wollte Wittmann los- ter und Bankberater gern. Wer in den ei- Für ihn ist das alles Teufelszeug, sagt er:
ziehen und eine Drei- bis Vierzimmerwoh- genen vier Wänden wohne, könne sich im „Ich habe schon vor langer Zeit Goethes
nung kaufen, damals, als ihm noch nicht Alter die Miete sparen, so die Logik. Und ,Faust‘ gelesen, da wusste ich: Geld ist
so ganz klar war, was auf dem Immobi- wer eine Eigentumswohnung vermiete, nichts. Es gibt nur eins: Sachwerte.“
lienmarkt los ist. Rund 400 000 Euro, kal- habe eine regelmäßige Zusatzrente. In „Faust II“ – das für alle, die es nicht
kulierten er und seine Frau, könnten sie Aber geht diese Rechnung in den großen sofort parat haben – kreiert Mephisto aus
bei geringem Risiko und konservativ ge- Städten des Landes im Jahr 2018 noch auf? wertlosen Zetteln so lange neues Geld, bis
rechnet aufbringen. Ist es tatsächlich besser, sein Wohnbudget es zur Inflation kommt.
Eine kurze Internetrecherche reichte, in ein Eigenheim zu stecken, anstatt das Mit solchen Gleichnissen dürfte Ziegert
um festzustellen, dass man damit in Mün- Geld einem Vermieter hinterherzuwerfen? wohl so manchem seiner Kunden aus der
chen nicht über 60 Quadratmeter hinaus- Oder sind die Preise nicht längst derart ab- Seele sprechen – und das erklärt wahr-
kommt. Also entschied sich das Paar für gehoben, dass der Absturz nur eine Frage scheinlich, warum viele Deutsche trotz al-
Plan B: selbst mieten und eine Zweizim- der Zeit ist? Was passiert, wenn die Euro- ler Warnzeichen bereit sind, beim Haus-
merwohnung als Anlage kaufen, irgendwo päische Zentralbank die Zinsen wieder an- und Immobilienkauf hohe Risiken einzu-
in Deutschland. Doch auch dieses Vor- hebt – und Kredite teurer werden? gehen. Warum die Kauflust ungebrochen
haben erwies sich als irrwitzig. scheint, obwohl in etlichen Großstädten
Mal lag die angebotene Wohnung in der die Mieten bereits deutlich langsamer stei-
Nähe eines Klärwerks, mal klaffte in der Die Sehnsucht der Käufer gen als die Kaufpreise – was als ein klares
Außenwand ein meterlanger Riss. Es hand- Vielleicht ist ein Immobilienmakler der Zeichen dafür gilt, dass etwas nicht
le sich um einen alten Setzschaden, das Letzte, den man fragen sollte, ob es sich stimmt.
Haus sei in den Fünfzigerjahren gebaut noch lohnt, eine Wohnung zu kaufen. Auf Ziegerts Website ist gerade eine 90-
worden, wiegelte der Makler ab, dabei hat- Schließlich hat kaum eine andere Berufs- Quadratmeter-Neubauwohnung in Pan-
te Wittmann das Haus zuvor bei Google gruppe vom Boom der vergangenen Jahre kow für mehr als 500 000 Euro im Angebot,
Street View noch völlig unbeschädigt so profitiert. Andererseits kennt Nikolaus vor zehn Jahren hätte man in derselben
gefunden. Bei einem weiteren Objekt hätte Ziegert – einer der bekanntesten Makler Gegend wahrscheinlich kaum mehr als die
Wittmann die Miete drastisch erhöhen Berlins – den Markt wie wenige andere. Hälfte bezahlt.
müssen, um es finanzieren zu können. Er ist seit mehr als 30 Jahren im Geschäft. Aber Berlin wachse, beteuert Ziegert,
„Teil eines solchen Spiels möchte ich „Bis auf minimale Ausschläge nach un- und dann dieses „riesige Geschenk der
nicht sein“, sagt er und klappt seinen Lap- ten hat jeder zu allen Zeiten das Gefühl niedrigen Zinsen. Das ist der Robin Hood
top auf. gehabt, die Preise sind zu teuer, es ist vor- der modernen Zeit“. Er wünsche und
Auf dem Rechner hat er seine frustrie- bei“, sagt er. Vorbei sei es aber nie gewe- „bete zu Gott“, dass auch normale Men-
rende Suche in langen Kolonnen doku- sen, und das gelte auch jetzt. schen das zur Vermögensbildung nutzten.
mentiert: Preise, Größen, Eigenheiten, Fi- Mit solchen Sätzen hat Ziegert sicher Ziegert kann eine Rechnung präsentie-
nanzkennzahlen und ein paar Stichworte, schon aus vielen unschlüssigen Interessen- ren, die sich ziemlich gut anhört: Auf einen
woran jedes einzelne Projekt gescheitert ten unterschriftswillige Käufer gemacht. Quadratmeter für 4000 Euro müsse man
ist. Es ist eine in Excel gepresste Doku- Auch wenn er nicht gerade wie ein typi- bei einem Wohnungskauf heute knapp
OLIVER HEISSNER / ARTUR / PLAINPICTURE
mentation des Wohnungswahns, der gera- scher Vertreter seiner Zunft daherkommt. 7 Euro Zinsen zahlen im Monat, sagt er.
de den deutschen Immobilienmarkt be- Sein Besprechungsraum sieht aus wie Das sei doch besser als 13 Euro Kaltmiete
herrscht. ein Wohnzimmer: dicke Stoffvorhänge vor für ein vergleichbares Objekt. Und dann
Noch in den Neunzigerjahren gehörte müssten noch weitere 5 Euro pro Quadrat-
es fast wie selbstverständlich zur Biografie meter als Tilgung kalkuliert werden.
vieler Mittelschichtfamilien, ein Haus zu Video: Was der Berliner Das Problem ist nur: Ziegert geht bei
bauen, um Platz für die Kinder zu haben. Mieterverein rät seinem Beispiel von einer anfänglichen Til-
Selbst in den begehrten Lagen von Groß- spiegel.de/sp062018immobilien gungsrate von jährlich 1,5 Prozent der Kre-
oder Universitätsstädten war dies für sie oder in der App DER SPIEGEL ditsumme aus. So braucht ein durchschnitt-
DER SPIEGEL 6 / 2018 13
Die Bundesländer wiederum, die alter Industriestandort im Bergischen
seit 2006 die Hoheit über den Land, hier erfanden 1884 die Gebrüder
Grunderwerbsteuersatz haben, ha- Mannesmann die nahtlose Röhrenferti-
ben diese Abgabe von 3,5 auf bis gung. Heute hat der Ort viel von seiner
zu 6,5 Prozent erhöht. Bei einer früheren ökonomischen Bedeutung ein-
Wohnung für 400 000 Euro muss gebüßt. Nur der Immobilienmarkt zeigt
der Käufer in Brandenburg zusätz- eine Dynamik, als ob von Remscheid
lich 26 000 Euro an den Fiskus zah- aus eine neue industrielle Revolution in
len. Hinzu kommen Notar- und oft Gang käme.
auch Maklergebühren. In Berlin Die Stadtsparkasse hat 2016 gut ein Fünf-
summieren sich die Nebenkosten tel mehr Geld für Baukredite vergeben als
rasch auf rund 15 Prozent des Kauf- im Jahr zuvor, das Interesse am Erwerb
preises. Macht bei einer 400 000- einer Immobilie sei enorm, berichtet das
Euro-Wohnung 60 000 Euro, die Institut. Unbebaute Grundstücke sind in
einfach weg sind. Remscheid besonders begehrt, das Ge-
Die Kommunen ihrerseits ver- schäft ist in einem Jahr um 40 Prozent ge-
kauften ihren eigenen Wohnungs- wachsen, die Preise steigen: Ein Haus-
bestand oftmals an professionelle grundstück von 470 Quadratmeter Größe
FLORIAN GENEROTZKY / DER SPIEGEL
dem Umland anlocken, das wird jedoch den die Immobilienpreise sinken, mithin desbank in ihrem letzten jährlichen Bericht
nicht mehr lange so gehen. Während echte die Mieten – und dann gehen viele Rech- zur Finanzstabilität.
Schwarmstädte – die Metropolen, aber nungen nicht mehr auf. Das Wort Rückschlagpotenzial klingt
auch attraktive Hochschulstandorte wie Dieses Szenario spielt nicht in der Zu- fast zu harmlos für das, was es bedeutet:
Freiburg oder Münster – eine besondere kunft. Der Markt ist bereits jetzt aus der Wenn etwa die Hypothekenzinsen anzie-
Anziehungskraft ausüben, verlieren viele Balance geraten. hen oder die Konjunktur einbricht, können
Mittelzentren ihre Funktion als Anlauf- Seit drei Jahren driften Kaufpreise die Preise um rund ein Drittel nach unten
punkt für die Bürger aus den Dörfern. Von und Mieten in Deutschland deutlich aus- rutschen. In den Achtzigerjahren und kurz
dort kommt immer weniger nach. einander, in 246 von 402 Landkreisen und vor der Jahrtausendwende ist genau das
So erleben die Remscheids, Bottrops kreisfreien Städten verläuft die Preisent- in vielen Städten passiert.
oder Kaiserslauterns der Republik einen wicklung nach Beobachtung des Berliner Berlin- oder München-Fans sagen bei
trügerischen Boom. Noch floriert dort das Forschungsinstituts Empirica nicht mehr solchen Analysen gern, dass die deutschen
Geschäft mit Immobilien, schließlich läuft im Gleichklang. In 195 Kreisen bestehe Metropolen im Vergleich zu New York
die Wirtschaft, die Zinsen sind niedrig, die eine mäßige bis hohe Blasengefahr, kon- oder London lächerlich billig seien. Junge
Bürger wissen oft nicht, wohin mit dem statiert Empirica, vor drei Jahren waren Leute ziehe es in große Städte, außerdem
Geld, sie plagt eine diffuse Angst ums Ka- es erst 67. fehlten allein in Berlin derzeit 77 000 Woh-
pital – und so investieren sie eben in Sand, Auch in Metropolen wie Hamburg oder nungen, um den Bedarf zu decken.
Zement und Beton. Berlin gelten die Preise längst als überhitzt. Braun hält dagegen, dass die Lage
Doch wenn sich die ökonomischen Vor- „Wir sehen ein Rückschlagpotenzial von Deutschlands und beispielsweise Großbri-
zeichen drehen, wird das auf die Immobi- 20 bis 30 Prozent“, sagt Empirica-Wissen- tanniens nicht vergleichbar sei. „Andere
lienmärkte in den Regionen heftig durch- schaftler Reiner Braun. Durch die niedri- Länder hängen wirtschaftlich viel stärker
schlagen. Dann wird offenkundig, dass es gen Zinsen allein ließen sich die massiven von ihren zentralistischen Hauptstädten
dort weitaus mehr Wohnraum gibt als nö- Preissteigerungen nicht mehr erklären. Zu ab, als das in Deutschland der Fall ist“,
tig. Statt der erhofften Wertsteigerung wer- einem ähnlichen Ergebnis kam die Bun- sagt Braun. „In Deutschland findet sich
Wer sagt eigentlich, dass Städte wie München und Berlin unbegrenzt wachsen?
Vielleicht zieht es junge Leute bald wieder in die Vorstädte.
IMAGO STOCK
Gründerzeithäuser in Hamburg
weil in dessen Kiez keine geeignete Miet- die Preise schienen ihm schon damals ab- eingehalten, E-Mails nicht beantwortet, bis
wohnung mehr zu finden war. „Allerdings surd, umso euphorischer sei er gewesen, heute habe er noch nicht einmal einen Bau-
lag das Nettoeinkommen der Familie auch als er die Werbung für eine neue Reihen- ablaufplan, sagt Kamm. Auch sein Teil-
bei 6000 Euro im Monat“, sagt Vollkom- haussiedlung im Berliner Osten gesehen eigentum sei immer noch nicht im Grund-
mer. „Da lässt sich so etwas durchaus mal habe, sagt Kamm. buch eingetragen.
rechtfertigen.“ Das Gelände lag zwar an einer stark be- Zudem hat er mittlerweile Beunruhigen-
Ein Problem aber bleibt: Eine Immobilie fahrenen Straße, dafür betrug der Quadrat- des über das Projekt herausgefunden: Ein
ist für die meisten Menschen die größte meterpreis weniger als 3500 Euro, und die Jurist, der bei dem Bau immer wieder als
Investition ihres Lebens – ein Klumpen- Architektur mit dem riesigen Gemein- Bevollmächtigter in Erscheinung tritt, saß
risiko, wie es im Finanzmarktdeutsch gern schaftsgarten versprach eine gewisse Dorf- bereits jahrelang im Gefängnis, weil er als
heißt. Wenn sie drastisch an Wert verliert atmosphäre trotz des Verkehrslärms. Notar Kundengelder in Millionenhöhe ver-
oder, schlimmer noch, unerwartet hohe Das Angebot wirkte seriös, und der untreut hatte. Ein anderer Verantwortli-
Kosten produziert, kann deshalb der Makler machte Druck, weil es so viele In- cher war vor einigen Jahren in einen dreis-
gesamte Finanzplan einer Familie durch- teressenten gebe, wie er sagte. ten Anlegerskandal verwickelt.
einandergeraten. Kamm fackelte deshalb nicht lange, zahl- Eigentlich hätte er ahnen können, auf
te die Reservierungsgebühr von fast 5000 wen er sich da einließ, sagt Kamm. Er er-
Euro und unterschrieb kurz darauf den innert sich an eine Szene bei einem Treffen
Die Tricks von (manchen) Verkäufern Kaufvertrag. Noch heute hofft er, dass er mit dem Chef der Bauträgerfirma. Nach
Richard Kamm weiß, wie schnell der irgendwann in sein neues Haus einziehen dem Termin sei der mit Schwung in einen
Traum vom Eigenheim zum Albtraum wer- kann – deshalb will er nicht mit richtigem roten Cabrio-Sportwagen gesprungen und
den kann. Der IT-Fachmann suchte 2016 Namen genannt werden, um das Projekt habe ihm großspurig zugerufen: „Bauträ-
wie so viele Berliner verzweifelt nach ei- nicht zusätzlich zu gefährden. ger ist besser als IT!“
nem neuen Heim für sich, seine Freundin Es sieht nämlich nicht gut aus. Auf dem „Heute frage ich mich, wie verzweifelt
und deren Sohn. Das Angebot war knapp, Bau herrscht Chaos. Pläne werden nicht ich eigentlich war, mich auf so jemanden
In Frankfurt am Main kostete Bauland 2017 teilweise doppelt so viel wie 2012.
In manchen Stadtteilen Berlins sogar das Vierfache.
Bis spätestens zum Rentenbeginn sollte Wenig sinnvoll ist es, an den Kredit- werden. Selbst bei ordentlicher Kalku-
eine Immobilie abbezahlt sein, am besten bedingungen so lange herumzuschrauben, lation dauert es Jahre, bis allein die
sogar zehn Jahre vorher, damit noch an- bis die eigene Finanzkraft endlich zur Nebenkosten wieder hereingespielt wer-
derweitig vorgesorgt werden kann, heißt Traumwohnung passt. Eine Zinsbindung, den – und das auch nur, wenn die Preise
eine Faustregel. Und daraus ergibt sich fast die nur 10 Jahre besteht, ist erst einmal at- weiter steigen.
automatisch eine zweite Faustregel, die der traktiv – aber eben auch ein Risiko: Was Die Entscheidung für den Kauf einer
Berliner Anlageberater Vollkommer seinen tun, wenn die Zinsen in 10 Jahren gestiegen Wohnung oder eines Hauses treffen die
Kunden gern vorrechnet: Insgesamt – also sind, das eigene Einkommen aber nicht – meisten Menschen nur einmal im Leben.
für Zins und Tilgung – sollte man im Jahr und der Kredit noch 10 bis 20 Jahre läuft? Deshalb sollten sie sich nicht von eifrigen
eine Summe abbezahlen können, die rund „Kalkulieren Sie doch ruhig mal, was Maklern und Verkäufern, die vermeintli-
sechs Prozent der Kredithöhe beträgt. passiert, wenn sich der Zinssatz verdop- che Schnäppchen bewerben oder angeb-
Wenn die Zinsen also zwei Prozent be- pelt oder, angesichts des aktuellen Ni- lich Dutzende Bewerber haben, unter
tragen, sollten weitere vier Prozent getilgt veaus, gar verdreifacht“, rät Anwältin Druck setzen lassen.
werden, um auf der sicheren Seite zu sein. Nordhoff. Und wer 500 000 Euro für eine Wohnung
Liegen die Zinsen bei drei Prozent, kann Das Wichtigste ist, wie bei allen finan- investiert, sollte es sich außerdem noch
die Tilgung anfangs ebenfalls drei Prozent ziellen Entscheidungen: die Risiken nüch- leisten, sämtliche Verträge für einige Hun-
betragen. tern betrachten – und sich dann überlegen, dert Euro vor der Unterschrift von einem
Solche Kalkulationen ohne rosa Brille ob man sie tatsächlich eingehen will. Das Experten durchsehen zu lassen.
fallen deutlich nüchterner aus als die vieler gilt beim Immobilienkauf ebenso wie beim Auch wenn dessen Einwände in der ak-
im Internet verbreiteter Kreditrechner. Bei Aktienkauf oder bei der Entscheidung, tuellen Marktlage am Ende oft dazu führen
einer Kreditsumme von 300 000 Euro sein Geld auf dem Tagesgeldkonto zu könnten, dass ein Kauf abgeblasen werden
kommt man da auf 1500 Euro Kreditkosten parken. Mit einem entscheidenden Unter- muss. Martin Hesse, Alexander Jung,
im Monat plus Grundsteuer, Instandhal- schied allerdings: Ein Immobilienkauf Simone Salden, Anne Seith
tungs- und Verwaltungsausgaben. kann nicht so einfach rückgängig gemacht Mail: anne.seith@spiegel.de
Eigenheimbesitzer bauen bis zur Rente ein größeres Vermögen auf als Mieter. Wer eine
Wohnung oder ein Haus abbezahlt, lebt häufig sparsamer.
WESTEND61 / IMAGO
Wohnareal in Dortmund
Das Land Niedersachsen plant eine massive Ausweitung der Verdächtigen, die das Land nicht verlassen dürfen, soll es un-
Präventionsbefugnisse seiner Polizei. Das geht aus einem tersagt werden können, Bahnhöfe und Flughäfen zu betreten
Entwurf für ein Polizeigesetz hervor, der dem SPIEGEL vor- und sich einer Grenze bis auf 30 Kilometer zu nähern.
liegt. Zur Abwehr von Terrorgefahren sollen als gefährlich Die Entscheidung über die Einschränkungen der Freiheits-
eingestufte Islamisten vorübergehend mithilfe elektronischer rechte wird dem Entwurf zufolge künftig bei der Polizeiführung
Fußfesseln überwacht werden können. Wenn „bestimmte liegen, die diese an Dienststellenleiter und andere Beamte
Tatsachen“ oder „individuelles Verhalten“ die Annahme delegieren kann. Der Vorstoß von Innenminister Boris Pistorius
rechtfertigen, dass ein Islamist terroristische Straftaten bege- (SPD) wurde nach der Landtagswahl in Niedersachsen mit der
hen werde, sollen auf diese Weise Anschläge erschwert wer- CDU verabredet – die oppositionellen Grünen kritisierten dies
den. Außerdem soll es laut dem Papier vom 19. Januar mög- als „Rollback“. Das neue Gesetz würde Niedersachsen zusam-
lich sein, Terrorverdächtige vorübergehend in polizeilichen men mit Bayern zu Vorreitern bei der Verschärfung des Poli-
Gewahrsam zu nehmen oder Hausarrest gegen sie zu verhän- zeirechts machen. Es soll noch in diesem Jahr verabschiedet
gen. Hinzu kommen Kontaktverbote und Meldeauflagen. werden. gud
Anti-Terror-Einsätze geheimdienst seit Oktober der ert. Dabei werden Dokumen- Rückkehrer zu begegnen.
Deutschland mischt Operation „Gallant Phoenix“ te, Datenträger, DNA-Spuren (SPIEGEL 20/2016). Die Bun-
an – gemeinsam mit 21 weite- und Fingerabdrücke ausge- desrepublik lehnte jedoch zu-
in Jordanien mit ren Nationen. Die geheime wertet, die Spezialkräfte in nächst eine Beteiligung ab –
Der Bundesnachrichtendienst Einheit sammelt Informatio- ehemaligen IS-Hochburgen aus Angst, die USA könnten
(BND) beteiligt sich an einer nen über Kämpfer der Terror- sichergestellt haben. Der BND die gewonnenen Informatio-
Anti-Terror-Aktion der Verei- gruppe „Islamischer Staat“ und die Bundeswehr wollten nen für Militärschläge gegen
nigten Staaten. Wie aus einer (IS) in Syrien und im Irak. Sie schon länger, dass sich deutsche Dschihadisten ver-
vertraulichen Antwort der wird vom US-amerikanischen Deutschland an diesem Infor- wenden. Weder die Bundes-
Regierung an die Fraktion Joint Special Operations mationsaustausch beteiligt. regierung noch der BND
der Linken hervorgeht, ge- Command von einer Militär- Sie halten das für nötig, um wollten sich zu der Operation
hört der deutsche Auslands- basis in Jordanien aus gesteu- der Terrorgefahr durch IS- äußern. rom, wow, mgb
20 DER SPIEGEL 6 / 2018 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Deutschland
Beitrittskandidaten le Verhandlungen eröffnet. ethnische Spannungen. Dort Nachbarn hat, wie etwa Ser-
„Eine Art Regatta“ 2025 könnten sie rein theore-
tisch der EU beitreten – aber
darf kein Vakuum entstehen.
SPIEGEL: In der Vergangenheit
bien mit dem Kosovo, kann
der EU solange natürlich
EU-Erweiterungs- nur, wenn sie alle Bedingun- hat sich die EU mit konkre- nicht beitreten.
kommissar gen dafür strikt erfüllen. ten Jahreszahlen für Beitritts- SPIEGEL: Die bulgarische Rats-
Johannes Hahn, SPIEGEL: Die EU befindet sich kandidaten zurückgehalten. präsidentschaft erwägt, Bei-
60, über die derzeit selbst nicht in Best- Warum nennen Sie jetzt eine trittsgespräche mit Albanien
F. LENOIR / REUTERS
Chancen der form: Der Brexit ist längst für Serbien und Montenegro? zu starten. Dort wirft die Be-
Westbalkan-Län- nicht verdaut, zwischen östli- Hahn: Wenn wir wollen, dass völkerung der Regierung Ver-
der auf einen chen und westlichen Mitglied- die Politik vor Ort weiter bindungen ins Drogenmilieu
raschen EU-Beitritt staaten knirscht es. Ist es da Dampf macht bei den Refor- vor. Ein tauglicher Kandidat?
sinnvoll, über neue Mitglie- men, ist es hilfreich, zumin- Hahn: Die Kommission plant,
SPIEGEL: Am Dienstag stellt der nachzudenken? dest ein ambitioniertes Da- bald Empfehlungen über die
die EU ihre Strategie für den Hahn: Eine schrittweise, faire tum zu nennen. Ich sehe das Eröffnung von Beitrittsver-
Westbalkan vor. Wann könn- Erweiterungspolitik ist zu- vor allem als Ansporn. Wir handlungen mit Albanien
ten Länder wie Serbien, Al- gleich Sicherheits- und Wirt- sind sehr anspruchsvoll mit und Mazedonien vorzulegen.
banien oder Montenegro der schaftspolitik für alle EU-Bür- dem, was wir fordern: Mit un- Am Ende müssen die Mit-
Union beitreten? ger. Das zeigt ein Blick auf serer neuen Strategie setzen gliedstaaten einstimmig ent-
Hahn: Das Tempo hängt von die Landkarte: Die Länder wir einen starken Fokus auf scheiden. Das Signal ist das
den individuellen Reformfort- des westlichen Balkans liegen Justizreformen und innere gleiche wie für die anderen
schritten ab. Die EU-Erweite- wie eine Enklave in der EU, Sicherheit, auf den Kampf Westbalkan-Staaten: Unsere
rung ist eine Art Regatta. Ak- ihre Probleme gehen uns di- gegen die Jugendarbeitslosig- Tür ist grundsätzlich offen,
tuell segeln Montenegro und rekt an: ob das Kriminalität keit, auf regionale Aussöh- hindurch geht es aber nur bei
Serbien am weitesten vorn, ist, unkontrollierte Migration, nung. Ein Land, das noch un- entsprechender Leistung. Das
die EU hat mit ihnen offiziel- wirtschaftliche Probleme oder gelöste Fragen mit seinen ist der Deal. mp
SPD Zeitgeschichte
Protest gegen Feinstaub am Neckartor
Frauen fordern Kohl spendete
Vorsitz NS-Verbrechern
Die Frauen in der SPD er- Kanzler Helmut Kohl (1930
heben Anspruch auf den Par- bis 2017) hat als junger Poli-
teivorsitz. „Beim nächsten tiker für NS-Verbrecher ge-
Wechsel auf dem Parteivor- spendet. Das zeigen jetzt auf-
sitz ist es Zeit, dass nach getauchte Unterlagen. Darin
mehr als 150 Jahren erstmals erzählt Kohl, er habe in etwa
eine Frau Parteichefin wird“, 200 Mark pro Jahr an das
CHRISTOPH SCHMIDT / DPA
Pressefreiheit BND-Mitarbeiter
rin. Der BND-Beamte selbst
Linker Umgang mit Nebenjob bei
ließ über seinen Anwalt aus-
Journalisten richten, dass das Beschäfti-
Axel Springer
gungsverhältnis mit dem
5.000 weitere
Gründe für
einen Golf.
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Metaller-Warnstreik bei MAN in München am 31. Januar: „Es muss im Leben auch um die Familie gehen und nicht nur um Kapitalvermehrung“
Auf Abruf
Industrie Die Streiks dieser Woche zeigen die neue Zwei-Klassen-Welt am Arbeitsmarkt:
Während sich die einen mehr Zeit für Familie oder Hobbys nehmen, werden die anderen zur
Schichtarbeit gezwungen. Können die Gewerkschaften für mehr Gerechtigkeit sorgen?
W
enn Reiner Hummel, 54, nach- macht Witze darüber, dass sie spätabends Arbeitskampf der Gewerkschaft setzt. Die
mittags aus dem Betrieb nach noch Kaffee verlangt, sie boxt ihn scherz- IG Metall fordert, dass Beschäftigte, die
Hause kommt, beginnt für ihn haft in den Bauch, beide lachen. Manch- Schichtarbeit leisten oder sich um Kinder
ein zweiter Arbeitstag. Der Edelmetallprü- mal aber ist Hummel verzweifelt, dass sie oder Angehörige kümmern, ihre Arbeits-
fer muss seiner Frau beim Anziehen helfen auch nach seiner zehnten Bitte ihre Schuhe zeit verkürzen können und dafür einen
und die Bananenschalen beiseiteräumen, nicht auszieht. Er hätte deshalb gern mehr teilweisen Lohnausgleich bekommen. „Es
die sie am Tag im Haus verteilt hat. Zeit, um sich um sie zu kümmern. muss im Leben auch um die Familie ge-
Hummels Frau hat Alzheimer, und so Doch sein Arbeitgeber, der in Pforzheim hen“, sagt Hummel, „und nicht nur um
ist es keine Selbstverständlichkeit, dass die elektrische Bauteile herstellt, pocht auf die Kapitalvermehrung.“
beiden nach 20 Jahren Ehe noch immer tarifliche Arbeitszeit, sodass Hummel 15 Jahre nach dem letzten großen Metal-
wirken wie ein frisch verliebtes Paar. Er seine Hoffnung nun auf den aktuellen lerstreik weht wieder ein Hauch von Klas-
24 DER SPIEGEL 6 / 2018
Deutschland
ma, sondern auch für die Familie da sein. „Anton wird noch gestillt, aber ich kann
Zeit, so könnte das Motto der Streikbewe- das übernehmen.“ Er packt eine Thermos-
gung lauten, ist das neue Geld. kanne mit heißem Wasser und ein Fläsch-
Das Problem ist nur, dass auch die Un- chen mit Muttermilch aus. „Gestern von
ternehmer das so sehen, und so droht der Mama abgepumpt“, sagt er. „Das ist mein
Tarifstreit nun gefährlich zu eskalieren. Projekt der nächsten Jahre. Ich habe wirk-
Die Arbeitgeber halten den Ausstand für lich Bock auf Vatersein.“
rechtswidrig und haben Klagen einge- Stockmann und seine Frau Claudia, die
reicht. Die IG Metall wiederum bereitet bei einer IT-Firma arbeitet, teilen sich die
schon die Urabstimmung vor, um notfalls Elternzeit paritätisch. Auf eigenen Wunsch
nach Karneval in einen unbefristeten Flä- ist er sechs Monate lang für seinen Sohn
chenstreik treten zu können. da. Und die Karriere? „Ich habe schon aus-
Die Atmosphäre ist auch deshalb so ver- reichend Karriere gemacht“, winkt er ab.
giftet, weil der Streit um die Arbeitszeit Jetzt habe er mal was anderes vom Leben
zum beherrschenden Tarifkonflikt der sehen wollen.
nächsten Jahre werden könnte. Die meis- Seit fünf Jahren arbeitet er im Innova-
ten Unternehmen kämpfen in der Hoch- tionsmanagement der Berliner Staatsbiblio-
konjunktur um jede Fachkraft; sie wollen thek. Für ihn war von Anfang an klar, dass
die Arbeitszeiten eher ausweiten als ver- er ganz nah dran sein will, wenn Anton
kürzen und halten die Forderung der IG aufwächst. Seine Arbeitszeit hat er auf 85
Metall für das beste Mittel, einen Großteil Prozent reduziert. So kann er nachmittags
ihrer Betriebe aus dem Land zu treiben. zum Musikunterricht oder zum Baby-
Durch die Belegschaften dagegen geht schwimmen. „Mein Arbeitgeber war da
ein tiefer Riss. Während viele Angestellte völlig tiefenentspannt“, erzählt er. „Natür-
in Kreativ- und Wissensberufen so frei lich ist es eine finanzielle Einbuße, aber
über ihre Arbeitszeit bestimmen können das war es mir wert.“
wie nie zuvor, ist das Stundenregiment auf Menschen wie Stockmann gehören zu
vielen mittleren und unteren Etagen des jener Schicht, für die Globalisierung und
Arbeitsmarktes eher rigoroser geworden. Digitalisierung eine schöne neue Welt ge-
Im Einzelhandel, in manchen Industrie- schaffen haben. Sie können ihr Arbeits-
berufen sowie den Logistik- und Dienst- leben weitgehend selbst gestalten – bei
leistungabteilungen der modernen Inter- gleichzeitiger finanzieller Sicherheit. „Man
netökonomie muss heute oft rund um die kauft sich seine Zeit zurück“, sagt der Ber-
Uhr und auf Abruf gearbeitet werden. liner Volkswirt Ronnie Schöb. Ein großes
SACHELLE BABBAR / ZUMA PRESS / IMAGO
Kundenaufträge werden in Echtzeit über- Umdenken ist zu beobachten, das vor al-
mittelt und Pausen digital überwacht. lem jene neue, privilegierte Mittelschicht
So kommt es, dass eine wachsende Zahl erfasst, für die weitere materielle Güter
von Beschäftigten heute nicht nur zu nied- weniger Glücksgewinn versprechen als
rigen Löhnen, sondern auch zu ungünsti- zusätzliche Zeit für Familie, Freunde oder
gen Zeiten arbeiten muss, nicht selten auch Hobbys.
nachts oder am Wochenende. Sogar die „Für viele Babyboomer ist es kennzeich-
Zahl der Schichtarbeiter hat in den ver- nend, dass Karriere und Geld einen beson-
gangenen Jahren wieder zugenommen. ders hohen Stellenwert haben“, sagt Ulrich
Kein Wunder, dass sich die Gewerk-
schaften mit einer neuen sozialen Frage
senkampf durch die Industriereviere der konfrontiert sehen. „Die Arbeitszeit ist Wunscharbeitszeit
Republik. Schienen Arbeitskämpfe zuletzt für viele Beschäftigte heute ein genauso Befragung unter Vollzeitbeschäftigten zu
eine Angelegenheit von Lokführern oder wichtiges Thema wie der Lohn“, sagt Arbeitszeitlänge und gewünschter Veränderung,
Piloten geworden zu sein, zeigte in dieser DGB-Chef Reiner Hoffmann. Dem Me- Angaben in Stunden
Woche die größte Gewerkschaft der Repu- tallkonflikt komme deshalb „Signalcha-
tatsächliche gewünschte
blik, dass sie ihre Streikposten noch immer rakter“ zu, und er prognostiziert: „Auch Alter Wochenarbeitszeit Veränderung
in Marsch zu setzen versteht. Zehntausende in anderen Tarifbereichen wird die Ge-
FRAUEN
Beschäftigte legten tageweise die Arbeit bei staltung der Arbeitszeit in den nächsten
MAN, Ford oder Porsche nieder, die Unter- Jahren eine besondere Rolle spielen.“ 15–29 Jahre 43,2 –4,9
nehmer klagten über Produktionsausfälle Es geht um ein Stück Autonomie, wie
in dreistelliger Millionenhöhe. sie in manchen privilegierten Berufen 30–49 Jahre 42,2 –5,7
Und wie bei den großen Arbeitskämp- längst zur Selbstverständlichkeit gewor-
fen der Achtzigerjahre ging es der IG Me- den ist. Zum Beispiel für Ralf Stockmann, 50–65 Jahre 41,4 –5,9
tall nicht nur um eine Lohn-, sondern auch 44, der an einem winterlichen Donners-
um eine Stundenzahl. Wer will, soll seine tag im Väterzentrum Berlin am Prenz- MÄNNER
Arbeitszeit auf 28 Stunden verkürzen dür- lauer Berg sitzt, auf einer blauen Matte 15–29 Jahre 44,1 –3,7
fen, verlangt die Organisation. So will sie inmitten von Bauklötzen, Spielzeugautos
attraktiver für Frauen werden und dem und Babys. 30 –49 Jahre 44,6 –4,7
Wunsch vieler Menschen nach familien- Er sieht glücklich aus. Auf dem Arm
freundlicheren Jobs entsprechen. hält er seinen elf Monate alten Sohn. Der 50–65 Jahre 43,8 –4,8
Viele Beschäftigte, so hat die IG Metall Kleine trägt Regenbogensöckchen und Quelle: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin,
erkannt, wollen nicht mehr nur für die Fir- hat Hunger. Stockmann hat vorgesorgt: Arbeitszeitreport Deutschland 2016, 17 718 Befragte
Walwei vom Institut für Arbeitsmarkt- und Hierarchieebenen, Bildungsabschlüssen beitet, der muss sich nach den Bedürfnis-
Berufsforschung (IAB), dem Thinktank der und Branchen. „Je höher eine Person in sen der Kundschaft richten. Shopping-
Bundesagentur für Arbeit. „Für die nach- der Hierarchie steht, je besser ihre Schul- Stoßzeiten sind stets dann, wenn andere
folgende Generation ist dagegen die ,Work- bildung ist, desto mehr Flexibilität genießt Feierabend machen. Und besonders groß
Life-Balance‘ wichtiger.“ Selbst in der Au- sie in der Regel auch“, sagt Möller. ist der Zeitdruck in den analogen Abtei-
tomobilindustrie ist der Wandel spürbar, In Großunternehmen ist die Flexibilität lungen der modernen Digitalwirtschaft,
sagt Porsche-Betriebsratschef Uwe Hück. höher als in kleinen Handwerksbetrieben. die gern damit wirbt, ihre Produkte binnen
„Wenn wir den Fachkräften nicht die nöti- In der Wissenschaft ist sie größer als im Stunden an die Kunden auszuliefern.
gen Freiheiten bieten, gehen sie eben wo- produzierenden Gewerbe. Und es gibt gan- Adam Zalewski arbeitet als „Picker“ bei
anders hin.“ ze Branchen, in denen praktisch kein Be- Amazon im Logistikzentrum in Werne. Er
Auch der Münchner Technologiekon- schäftigter seine Zeit frei einteilen kann. fährt mit seinem Gabelstapler durch die
zern Siemens musste sich umstellen. „Was Wer bei Kaufhof oder Lidl im Verkauf ar- engen Gänge, sammelt Ware aus den Re-
früher der Dienstwagen war, ist heute das galen. 50 bis 60 Produkte, Standardgröße,
Sabbatical“, sagt die Personalmanagerin müsse er in der Stunde schaffen, „sonst
Marie-Luise Collinet. Schon in den Bewer- gibt es schlechtes Feedback“. Jede Stand-
bungsgesprächen würden die potenziellen zeit wird bemessen und von den Managern
Mitarbeiter nach Freizeit und Vereinbar- auf Monitoren überwacht. Wenn er ein
keit von Berufs- und Privatleben fragen. Produkt eingescannt hat, erscheint auf
Siemens hat darauf reagiert und sich al- dem Bildschirm schon das nächste, meist
lerlei Angebote ausgedacht: Vom „Home- viele Regale weiter. „Wir jagen von einem
office“ über die „Schnupperteilzeit“ bis Produkt zum nächsten“, sagt er.
hin zu Sabbaticals mit bis zu zwölfmona- Zalewski, 34, kurz rasierter Bart, kurz
tiger Freizeitphase, die von allen Ange- rasierte Haare, ist seit 2013 bei Amazon.
stellten genutzt werden können, wenn die Er arbeitet nach zwei Dienstplänen, ein-
betrieblichen Umstände es zulassen. Auch mal früh, einmal spät, jede Woche anders.
gibt es in dem Konzern nun einen IT-Mit- Seinen echten Namen will er in der Zei-
arbeiter, der drei Monate im Jahr nicht tung nicht lesen, weil er Ärger mit dem
zur Verfügung steht, weil er lieber auf Ha- Chef befürchtet.
waii surfen will. Oder die Diplom-Kauf- Für Arbeitnehmer wie Zalewski trägt
frau, die neben ihrem Job als Projekt- die schöne neue Arbeitswelt das hässliche
THOMAS DASHUBER / DER SPIEGEL
managerin auch als Yogalehrerin arbeitet, Gesicht der Schichtarbeit. Ihr Anteil
unter anderem im konzerneigenen Sie- nimmt in Deutschland wieder schleichend
mens-Fitnessstudio. Sie habe Spaß daran, zu. Zwischen 2006 und 2016 ist die Zahl
sagt Sabine Ruch, ihre Kollegen davon zu der Beschäftigten, die regelmäßig zu wech-
überzeugen, mit „mehr Achtsamkeit für selnden Zeiten arbeiten müssen, von 4,8
den eigenen Körper und Geist durchs Le- Millionen auf 5,8 Millionen gestiegen.
ben zu gehen“. In der Industrie wird heute ebenfalls oft
Arbeitsmediziner geben ihr recht. Ihren Siemens-Beschäftigte Ruch durchgehend produziert, weil es zu teuer
Studien zufolge sind Menschen glücklicher, „Mehr Achtsamkeit für Körper und Geist“ ist, kostspielige Maschinen auch nur eine
wenn sie der Freizeit mehr Wert beimessen Stunde lang stillstehen zu lassen. „Arbeit-
als dem Geld. Eine Untersuchung der Bun- geberorientierte Arbeitszeitflexibilisie-
desanstalt für Arbeitsschutz und Arbeits- rung ist ein Kerninstrument für Deutsch-
medizin hat ergeben, dass flexible Arbeits- lands Wirtschaftserfolg“, heißt es in einer
zeiten gesund sind – wenn sie sich nach IAB-Studie. Deutschland arbeitet. Rund
den Interessen der Beschäftigten richten. um die Uhr. Nicht selten auf Kosten der
Doch leider ist das nur für eine Minder- Gesundheit.
heit der Fall. Die Zahl der Glücklichen, Befragungen der Bundesanstalt für Ar-
die große Spielräume bei der Gestaltung beitsschutz und Arbeitsmedizin zeigen,
ihrer Arbeitszeit haben, wächst zwar. Die dass mehr als die Hälfte aller Schichtarbei-
meisten Arbeitnehmer allerdings erleben ter unter Erschöpfungszuständen, Müdig-
die neue Beweglichkeit am Arbeitsmarkt keit und Rückenschmerzen leiden. Meral
nicht als Befreiung, sondern als Zwang. Sancar zum Beispiel schläft oft nicht gut,
„Flexibilität folgt oft eher den Vorgaben wenn sie von der Schicht zurückkommt.
des Jobs und des Betriebes als den persön- In dieser Woche musste sie von 22 Uhr bis
lichen Bedürfnissen der Menschen“, sagt 6 Uhr früh arbeiten, jeder Tag ist ein
Joachim Möller, Direktor des IAB. Kampf gegen den eigenen Körper. Seit 28
Durch den Arbeitsmarkt läuft ein Graben, Jahren arbeitet sie für einen Lebensmittel-
der die freiwillig Flexiblen, die Freelancer konzern in Schwerte, verpackt Erdnusstü-
DOMINIK BUTZMANN / DER SPIEGEL
und Hochqualifizierten vom Großteil der ten vom Band in braune Kartons.
Beschäftigten trennt. „Die Wahrscheinlich- Sancar, 52, kam mit acht Jahren aus der
keit, dass Menschen ihre Arbeitszeit nach Türkei nach Deutschland, weil ihre Eltern
eigenen Wünschen flexibel gestalten kön- sich Aussicht auf gute Arbeit erhofften.
nen, ist sehr ungleich verteilt“, sagt Möller. „Was will ich verlangen?“, sagt sie. „Ich
Der Ökonom hat gleich mehrere Trenn- habe nichts gelernt, keine Ausbildung.“
linien identifiziert: Sie laufen entlang von Und so bewegt sich ihr Alltag bis heute
Innovationsmanager Stockmann* zwischen Arbeit und Schlaf. Zwei ihrer
* Mit Ehefrau Claudia Krell und Sohn Anton in Berlin. „Mein Projekt der nächsten Jahre“ Kinder, 21 und 16, wohnen noch zu Hause.
26 DER SPIEGEL 6 / 2018
„Ich habe zu wenig Zeit für sie“, sagt sie.
Und in den Stunden, die sie mit ihnen ver-
bringen könne, sei sie oft aggressiv, unaus-
geglichen. Das liege an der häufigen Um-
Langer
stellung. „Die macht dich gaga im Kopf.“
Die Arbeitszeitexpertin Yvonne Lott von
der gewerkschaftseigenen Hans-Boeckler-
Marsch
XINHUA / FOTOFINDER.COM
Stiftung hat für ihre Forschung fast hundert Diplomatie Eine neue Studie
Interviews in Betrieben geführt, um heraus-
zufinden, zu welchen Zeiten die Beschäf- belegt, wie China die EU unter-
tigten gern arbeiten würden und welche wandert und seinen Einfluss
Freiräume sie haben. „In vielen Branchen auf europäische Entscheidungen
hat die Arbeitsbelastung extrem zugenom- Premier Orbán, Präsident Xi Jinping
men“, sagt sie. systematisch ausbaut. Eigene Wege
Zugleich haben die meisten Beschäftig-
E
ten heute Partner, die ebenfalls berufstätig s passiert eher selten, dass Angela Zum Beispiel wenn es darum geht, eine
sind. „Viele wünschen sich, die Arbeitszeit Merkel beim Europäischen Rat nicht Verurteilung wegen der Verletzung von
zu reduzieren, um mehr Zeit für die Kin- ihren Willen bekommt. Unlängst Menschenrechten zu vermeiden. So weiger-
der zu haben oder Angehörige pflegen zu warnte die Kanzlerin davor, dass China ver- te sich Ungarn im März 2017, einen gemein-
können“, sagt Lott. Und bei zwei berufs- mehrt europäische Schlüsselindustrien auf- samen Brief zu unterzeichnen, in dem die
tätigen Partnern gebe es auch den finan- kaufe, die chinesische Übernahme des EU die Folter inhaftierter chinesischer An-
ziellen Spielraum dazu. Augsburger Roboterherstellers Kuka hatte wälte anprangern wollte. Wenig später blo-
In der Gesellschaft ist das Thema längst bereits Schlagzeilen gemacht. Entsprechend ckierte Griechenland ein Statement der EU
angekommen. Viele Frauen finden nach beharrlich warb Merkel für eine europäi- vor dem Uno-Menschenrechtsrat. Nun, so
der Teilzeit nur schwer in den Vollzeitjob sche Regelung, um Investitionen aus China berichten EU-Diplomaten, drohe sich die
zurück, immer mehr Männer würden aber besser kontrollieren zu können. Aktion zu wiederholen, im März stehen er-
gern ihre Arbeitszeit reduzieren. Als Die mahnenden Worte der Kanzlerin neut Entscheidungen zu China an.
Wunschwert gelten oft jene 28 Stunden, brachten jedoch nicht den erwünschten Erleichtert werden die Bemühungen der
die nun auch der IG Metall als Richtschnur Erfolg, im Gegenteil: Der entsprechende Chinesen durch die zunehmende Spaltung
dienen. Sie wären nicht nur ein Gewinn Passus im Gipfeldokument wurde weiter der EU. Länder wie Griechenland leiden
für Eltern, Kinder oder Pflegebedürftige, verwässert. Treibende Kräfte hinter der unter den Folgen der Eurokrise, entspre-
sondern auch ein Beitrag zur Gleichstellung Aktion waren unter anderem Griechen- chend empfänglich sind sie für chinesische
von Mann und Frau am Arbeitsmarkt. land und Tschechien, beides EU-Mitglie- Investitionen. So kaufte die staatliche chi-
Ob die Gewerkschaft mit ihrem Arbeits- der, die China besonders nahestehen. nesische Reederei Cosco 2016 die Mehrheit
kampf Erfolg hat, ist alles andere als aus- Die Schlussfolgerungen des Europäi- am Hafen von Piräus. „Neue Seidenstraße“
gemacht. Es geht nicht nur um den nächs- schen Rates vom vergangenen Juni könn- heißt das 900-Milliarden-Dollar-Projekt,
ten Tarifabschluss und den alten Konflikt ten so als historisches Dokument in die mit dem China Europa und Asien enger
zwischen Kapital und Arbeit. Es geht um EU-Geschichte eingehen – als erster Beleg vernetzen will, etwa durch den Ausbau der
einen gesellschaftlichen Wandel, bei dem dafür, wie die chinesische Regierung eine Bahn von Belgrad nach Budapest.
alle umzusteuern haben, wenn es dabei Entscheidung im wichtigsten EU-Gremium Dazu kommt, dass Hardliner wie Viktor
gerecht und wirtschaftlich vernünftig zu- in ihrem Sinne beeinflusste. Orbán in Ungarn oder Tschechiens Präsi-
gleich zugehen soll. Nun war China noch nie besonders zim- dent Miloš Zeman Chinas autoritärem Wirt-
Die Arbeitgeber müssen lernen, dass sie perlich, wenn es darum ging, seine Interes- schafts- und Politikmodell auch ideologisch
auf die Arbeitszeitwünsche ihrer Beschäf- sen durchzusetzen und einzelne Länder mit durchaus nahestehen. „Ein beträchtlicher
tigten eingehen müssen, wenn sie ihre Geld gefügig zu machen (siehe auch Seite Teil der Welt will nicht von den westlichen
Fachkräfte halten wollen. Die IG Metall 86). Inzwischen aber spielen die Machtha- Industrienationen über Menschenrechte
darf unter Flexibilisierung nicht nur Ver- ber in Peking mit höherem Einsatz. Mithilfe und Marktwirtschaft belehrt werden“, sagte
kürzung verstehen, schließlich zeigen ihre eilfertiger Regierungen will Peking am liebs- Orbán, als er im vergangenen Mai zu Be-
Statistiken, dass fast ein Drittel der Mit- ten gleich mit am Tisch sitzen, wenn in Brüs- such in Peking war.
glieder länger als 35 Stunden arbeiten sel Entscheidungen getroffen werden. Große EU-Staaten sind an dieser Ent-
wollen. Und die Beschäftigten sollten Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, wicklung nicht ganz unschuldig. Auch weil
sich bewusst machen, dass Zuschüsse für in der das Mercator Institute for China Stu- Länder wie Deutschland eifersüchtig über
Schichtarbeiter und Teilzeitkräfte geringe- dies und das Berliner Global Public Policy ihre Zugänge nach China wachten, suchen
re Lohnzuwächse für alle bedeuten. Institute die chinesische Europastrategie sich die Osteuropäer eigene Wege. „Wir
Es ist eine Bewährungsprobe für das untersuchen. Der Befund des Papiers, das brauchen eine gemeinsame europäische
deutsche Modell der Sozialpartnerschaft. am Montag veröffentlicht wird, ist eindeu- Chinapolitik“, fordert der grüne Europa-
So wie die Tarifverträge in den vergange- tig: „China klopft nicht nur an Europas Tür. abgeordnete Reinhard Bütikofer daher.
nen zwei Jahrzehnten auf die Besonder- Es befindet sich längst dahinter.“ Für Merkels Idee einer Investitionskon-
heiten der Betriebe ausgerichtet wurden, Anders als die Bemühungen Russlands, trolle könnte dies zu spät kommen. Derzeit
müssen sie nun auf die Wünsche der ein- die europäische Öffentlichkeit mit falschen ist völlig offen, ob ein derartiges Gesetz,
zelnen Beschäftigten eingestellt werden. Nachrichten zu beeinflussen, findet Chinas wie ursprünglich geplant, noch in diesem
„Das wird“, sagt DGB-Chef Hoffmann, langer Marsch in die Brüsseler Institutio- Jahr verabschiedet wird. Hinter vorgehal-
„der große Verteilungskonflikt der nächs- nen bislang allerdings kaum Beachtung. tener Hand fürchten Kommissionsbeamte
ten Jahre.“ „Dabei sollte man China viel ernster neh- bereits, dass der Vorschlag im Rat womög-
Nicola Abé, Selina Bettendorf, Simon Hage, men als Russland“, sagt Kristin Shi-Kupfer, lich nicht die nötige Mehrheit findet. Der
Hannah Knuth, Michael Sauga, Mitautorin der Studie, „denn das Land geht Grund: Die Zahl der Chinafreunde ist zu
Cornelia Schmergal, Jan Schulte sehr viel geschickter vor.“ groß. Peter Müller
V
ergangene Woche flog Angela Merkel für eine kur- Natürlich nervt die lange Suche nach einer neuen Re-
ze Visite nach Davos. Auf den ersten Blick war gierung. Die Lust am Experiment, die sich im Ergebnis
alles wie immer, freundliches Publikum, weißes der Bundestagswahl ausgedrückt hat, ist dem sehr deut-
Stehpult, dann Merkels Anmerkungen zur Weltlage – hätte schen Wunsch nach geordneten Verhältnissen gewichen.
es nicht nach der Rede der Kanzlerin noch eine kleine Aber reicht das als Erklärung?
Fragerunde mit Klaus Schwab gegeben, dem Gründer des Merkels Kanzlerschaft hat Deutschland viel grund-
Weltwirtschaftsforums. Bald kam Schwab auf die Mühsal legender verändert, als es auf den ersten Blick scheint.
der Berliner Regierungsbildung zu sprechen, trauriger Die großen Brüche in der Geschichte der Bundesrepublik
Blick, als er von den „schwierigen Monaten“ sprach, die machten sich bisher immer an Personen fest: Auf den Pa-
hinter Merkel liegen. „Wir sind immer da“, versicherte triarchen Konrad Adenauer folgte bald Willy Brandt, der
Schwab zum Schluss, er wünsche Merkel für die „Rest- mehr Demokratie wagen wollte. Der biedere Helmut Kohl
phase“ alles Gute. musste nach 16 Jahren Platz für den charismatischen Rüpel
Restphase? Es war nicht ganz klar, ob Schwab die Koali- Gerhard Schröder machen. Die deutsche Politik folgte
tionsverhandlungen meint oder Merkels Amtszeit. Die einer weisen Dialektik: Die Kanzler wechselten, ohne
Kanzlerin versicherte jedenfalls eilig, dass Mitleid ganz dass das politische Fundament ins Rutschen geriet.
und gar unnötig sei. Merkel hat – wie jeder Kanzler – eine Was nach Merkel kommt, ist völlig ungewiss. Es gehört
gewisse Routine darin entwickelt, Meldungen über den zum Spezifikum der späten Merkel-Jahre, dass sich alle
kurz bevorstehenden Abtritt entgegenzunehmen. Aber politischen Kräfte an ihr ausrichten. Das beginnt mit der
seit der Bundestagswahl liegt über allem der Hauch des AfD, deren Name schon eine Referenz an Merkels be-
Abschieds. Die Union verzeichnete das schlechteste Ergeb- rühmtes Wort enthält, die Rettung des Euro sei alter-
nis seit 1949, und wenn nicht alle Anzeichen täuschen, nativlos. Je nach Blickwinkel ist die AfD das hässliche
macht sich Merkel daran, ihre Nachfolge zu regeln. Kind der Ära Merkel oder Ausdruck einer lebendigen
Die Deutschen blicken merkwürdig gespalten auf die Demokratie. Aber es kann kein Zweifel daran bestehen,
Frau, die schon so lange regiert, dass sich die Jüngeren dass es die AfD ohne Merkel nie gegeben hätte. Sie ist
gar nicht mehr an eine Zeit erinnern, als ein Mann das für die Partei Mutter und Hassobjekt zugleich, niemand
Kanzleramt führte. Es gibt – einerseits – den Wunsch nach wird von der AfD mit einer solchen Hingabe abgelehnt,
Veränderung, eine Merkel-Müdigkeit, die sich nicht nur es sind Gefühle im Spiel, wie man sie sonst nur bei
im kurzen Hype um Martin Schulz Bahn brach, sondern Familienfehden kennt.
auch im Aufblühen der Anti-Merkel-Partei AfD bei der Natürlich beteuert Merkel wie fast jeder in der Union,
Bundestagswahl. Andererseits scheinen die Deutschen dass es ihr Ziel sei, die AfD zu bekämpfen und aus dem
nun aber schon wieder Angst vor der eigenen Courage Bundestag zu drängen. Aber sie ist eben auch die Person,
zu haben, 51 Prozent der Deutschen fänden es gut, wenn die dem Feuer der Leidenschaft immer neue Nahrung gibt,
Merkel ihre Kanzlerin bliebe, sie ist – hinter Sigmar weshalb es sehr unwahrscheinlich ist, dass die Partei ver-
Gabriel – die populärste Politikerin Deutschlands. schwindet, solange Merkel etwas zu sagen hat.
Es ist eine beliebte Frage, was eines Tages von der Ära im Gedächtnis haften blieben: „Wir schaffen das.“ Oder:
Merkel übrig bleiben wird. Sie hat das Land nicht im Wes- „Dann ist das nicht mehr mein Land.“ Aber gerade in die-
ten verankert wie Adenauer oder den Euro durchgesetzt ser Phase brach Merkels Popularität dramatisch ein.
wie Kohl. Aber womöglich hat Merkel mit ihrem Politikstil Nun wird es von Teilen der SPD zur Schicksalsfrage
das Land radikaler verändert als alle ihre Vorgänger. erklärt, ob man erneut in eine Koalition unter Merkel ein-
Der große Trend ist derzeit die politische Bewegung: treten soll oder nicht. Zwar lässt sich schwerlich bestreiten,
Seitdem Emmanuel Macron den französischen Sozialisten dass der SPD die beiden Bündnisse mit Merkel nicht be-
den Rücken gekehrt hat und mit „En marche“ den Ély- kommen sind. Als Merkel im Herbst 2005 ihre erste Wahl
sée-Palast eroberte, seitdem Sebastian Kurz sich die ÖVP gewann, holte die SPD noch 34,2 Prozent, zuletzt waren
ganz Untertan gemacht hat und so zum Bundeskanzler es 20,5 Prozent. Wenn man den Jusos zuhört, dann wirkt
neuen Typs aufstieg, wirken die alten Parteien seltsam es wie ein Naturgesetz, dass die SPD in einer Großen
gestrig – gefangen in einem Korsett aus Ritualen und Koalition schrumpft.
ideologischen Zwängen. Aber wahrscheinlich war es Mer-
A
kel, die als Erste erkannt hat, welches Potenzial es bietet, ber Politik ist keine exakte Wissenschaft, sie hängt
wenn sich der Chef von den Glaubenssätzen der eigenen von den Leuten ab, die sie machen. Willy Brandt
Partei emanzipiert. ging 1966 als Außenminister in die erste Große
Merkel besaß nie das Charisma eines Macron, und na- Koalition der Republik und löste drei Jahre später Kurt
türlich machte sie die CDU nicht mit der gleichen Vehe- Georg Kiesinger als Kanzler ab. Derzeit ist die SPD unter
menz und Geschwindigkeit zum Vehikel des eigenen Ehr- ihrem Vorsitzenden Schulz so mit dem eigenen Leid be-
geizes wie Sebastian Kurz die ÖVP. Aber die Beharrlich- schäftigt, dass sie gar nicht erkennt, wie weit Merkels
keit, mit der sie die CDU von allem befreite, was die Macht schon erodiert ist. Die Partei, die über Jahrzehnte
Partei einst von der politischen Konkurrenz unterschied, ganz selbstverständlich den An-
hatte auf Dauer einen ganz ähnlichen Effekt: Was am spruch hatte, den Kanzler zu
Ende zählte, war nicht mehr ein Fundus gemeinsamer
Überzeugungen, sondern der Wille der Vorsitzenden, sich
stellen, fürchtet sich vor der
Koalition mit einer Frau, deren
Viele Männer –
an der Macht zu halten; aus der CDU wurde die Liste Zeit erkennbar abgelaufen ist. egal ob innerhalb
Angela Merkel. Das ist jämmerlich.
Merkel – und auch die CDU – hat davon auf vielerlei Andrea Nahles hat ihre Partei oder außerhalb
Art und Weise profitiert. Merkel machte die Partei wählbar
für neue Schichten, sie löste die Grünen aus dem linken
vor ein paar Wochen dazu auf-
gefordert, endlich damit auf-
der CDU – plagt
Lager, sie nahm der SPD die Themen weg. Aber was dabei zuhören, ständig Merkel die ein geradezu
verloren ging, war nicht nur die politische Kontroverse, Schuld für die eigene Misere zu-
der Streit, der die Dinge ordnet und dem Wähler Orien- zuschieben. „Nach dieser Logik neurotisches Ver-
tierung gibt. Sondern auch die Identität der CDU.
Nun schwelt in der CDU schon seit einiger Zeit ein
brauchten wir ja nur abzuwar-
ten, bis Merkel weg ist – und
hältnis zu Merkel.
Richtungsstreit, aber der geht weniger um die Sache als schon ginge es uns automatisch
um die Frage: „Wie stehst du zu Merkel?“ Es gibt das besser.“ Das aber sei naiv, sagte die Fraktionschefin: „Der
Lager der Gegner, angeführt von dem jungen Finanzstaats- SPD ist es in den vergangenen Jahren nicht gut gelungen,
sekretär Jens Spahn. Aber anders als die jungen Wilden eine glaubwürdige Konzeption für eine moderne und ge-
unter Helmut Kohl in den Neunzigerjahren, die sich zu- rechte Gesellschaft zu entwerfen.“
sammensetzten und diskutierten, was eine moderne CDU Man kennt das Phänomen aus vielen Familien: Domi-
nach dem Abgang des Patriarchen ausmachen muss – in nante Eltern liefern die Entschuldigung für das eigene
der Ausländerpolitik, bei der Frage, welche Rechte Schwu- Versagen, sie sind Vorwand dafür, in der ewigen Pubertät
le und Lesben haben sollen –, definiert sich Spahn fast stecken zu bleiben. Selbst FDP-Chef Christian Lindner,
ausschließlich in der Abgrenzung zu Merkel. Er ist ihr der es immerhin geschafft hat, seine Partei wieder in den
Pendant, nur eben in der Negation. Bundestag zu führen, hat dort eine merkwürdige Regres-
sion durchgemacht: Die FDP begnügt sich nun ganz mit
E
s ist selten ein gutes Zeichen, wenn eine politische der Rolle der trotzigen Merkel-Kritik.
Figur so dominant wird wie Merkel. Der Bundes- Viele Männer – egal ob innerhalb oder außerhalb der
tagswahlkampf der SPD litt unter vielen Fehlern, CDU – plagt ein neurotisches Verhältnis zu Merkel. Schon
aber einer war auch, dass Kanzlerkandidat Martin Schulz in dem Wort „Mutti“, das bald nach Beginn von Merkels
im Laufe der Zeit eine regelrechte Merkel-Obsession ent- Kanzlerschaft in der CDU die Runde machte, steckt eine
wickelte. Der Fixpunkt der SPD-Kampagne war nicht das merkwürdige Mischung aus Spott und Unterwerfung.
eigene Programm, die Idee, mit der man um den Wähler Martin Schulz klagte während des Wahlkampfes in vielen
wirbt, sondern die Kritik an Merkels politischem Stil, den Gesprächen, wie schwer es für einen männlichen Heraus-
Schulz als Anschlag auf die Demokratie bezeichnete. forderer sei, Merkel anzugreifen. Das passte zum weiner-
Schulz hat damit einen Punkt aufgegriffen, der Merkel lichen Ton seiner Kampagne.
zuvor schon in unzähligen Leitartikeln vorgeworfen wor- Drei Männer haben bisher den Versuch unternommen,
den war: Durch ihren Unwillen, ihre Entscheidungen zu Merkel im Kanzleramt zu ersetzen, alle scheiterten letzt-
begründen, entziehe sie dem demokratischen Diskurs den lich daran, dass sie nicht erklären konnten, was mit ihnen
lebensnotwendigen Sauerstoff. Aber das ist ein eher eli- besser werden könnte. Ein bisschen wirkten sie wie Jungs,
tärer Blick auf die Politik. Die Wähler hat Merkels Dis- die noch zu Hause wohnen und froh sind, dass Mutti alles
kursunlust nicht weiter gestört, im Gegenteil: Nie hat die für sie regelt. Die SPD kann nun darauf warten, dass
Kanzlerin ihre Politik intensiver erklärt als in der Flücht- Merkel abtritt. Aber vielleicht sollte sie einfach anfangen,
lingskrise. Sie ging in Talkshows und sprach in langen In- auf eigenen Beinen zu stehen und über ein Land ohne
terviews über ihre Motive. Sie benutzte endlich Sätze, die Merkel nachzudenken. I
SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Habeck, mit modelle – das ist auf einmal nur noch gensteuer. Sie ist nur leider technisch sehr
Ihnen haben die Grünen zwei Realos an Gedöns für die Große Koalition. Die pro- schwer einzuführen, aber …
die Spitze gewählt. Sind die Grünen noch gressive, moderne Mitte wird immer mehr Baerbock: Darf ich mal unterbrechen? Wir
eine linke Partei? ausgehöhlt. Deshalb ist es umso wichtiger, haben als Partei eine Reichensteuer be-
Baerbock: Ja klar. Die entscheidende Frage optimistische Politik zu machen. schlossen – und das gilt weiterhin. Nur:
ist aber nicht, wo wir im Vergleich zu an- SPIEGEL: Die Grünen waren mal eine Partei, Wir wären doch verrückt, wenn wir das
deren stehen, sondern als Grüne selbst zu die radikale Veränderungen wollte. Heute Ganze nicht größer denken. Statt allein
definieren: Was ist links im 21. Jahrhun- wirft Ihnen Sahra Wagenknecht vor, eine über Instrumente zu streiten, stellen wir
dert? Für uns heißt das, progressiv und Partei für das „Ökowohlfühlwohlstands- auch ein paar große, kritische Fragen über
emanzipatorisch zu sein, europäisch und bürgertum“ zu sein. den Kapitalismus.
weltoffen, ökologisch und sozial. Baerbock: Da ist offenbar jemandem angst SPIEGEL: Aber was heißt das konkret?
SPIEGEL: Sie haben die Grünen als progres- und bange. Für mich gilt: radikal und Baerbock: Dass wir auch europäisch denken
sive, liberale Kraft der linken Mitte be- staatstragend sind kein Widerspruch, son- und handeln müssen. Wir brauchen eine
schrieben. Geht es noch beliebiger? dern grüne Stärke. gemeinsame Unternehmensbesteuerung
Habeck: Beliebig? Bei dem Rechtsdrift in SPIEGEL: Nach dem Motto: Alles ist möglich, von großen Konzernen wie Amazon und
Europa, der gerade abgeht, haben die Be- Wohlstand für alle und Umwelt- und Kli- Google.
griffe doch gerade wieder Bedeutung. Sie maschutz? Habeck: Und als ersten Schritt sollte man
sind die Alternative zu rückwärtsgewandt, Habeck: SPD und Union spielen das Soziale hier im Land regeln, dass man Boni und
illiberal und nationalistisch. Unser Job ist gegen das Ökologische aus, etwa Arbeits- Gehälter nur noch bis zu einer gewissen
es, für diese Alternative ein politisches und Höhe steuerlich absetzen darf. Das ist ein
gesellschaftliches Angebot zu machen. Wir sehr moderates, aber effektives Mittel:
vereinen unterschiedliche Interessen, des-
wegen sind die Grünen eine anstrengende,
„Wir wären doch verrückt, Nichts wird verboten, aber man schafft
einen Anreiz, privaten Reichtum nicht in
aber eben auch die modernste Partei. Wir wenn wir das Ganze einem unglaublichen Maß zu vermehren.
sind für Menschen da, bei denen es mal nicht größer denken.“ Das wäre so leicht. Aber nicht aus dieser
nicht so gut läuft. Da suchen wir die Grün- Klassenkampfattitüde heraus nach dem
de: Was ist los im Bildungssystem, wie Annalena Baerbock Motto: „Wir wollen euch was wegneh-
kann das Aufstiegsversprechen neu aus- men.“ Selbst der netteste Superreiche wür-
buchstabiert werden, was ist die Ursache plätze gegen Kohleausstieg. Wer das tut, de das nicht wollen. Aber wenn wir sagen:
von struktureller Armut? Das schließt klas- verliert am Ende beides. „Steuern kommt auch von beisteuern“,
sische linke Positionen mit ein, geht aber SPIEGEL: Wenn Kohlekraftwerke geschlos- ändert sich das.
weit über sie hinaus. sen werden, fallen Arbeitsplätze weg. Sie SPIEGEL: Auf den Altruismus Ihrer Wähler
SPIEGEL: Die „linke Mitte“, das sind doch reden doch die Konflikte klein. zu setzen – damit sind Sie bei der Bundes-
fast alle, SPD, Union, wie wollen Sie sich Habeck: Es gibt massive Konflikte, und tagswahl 2013 gescheitert.
da unterscheiden? natürlich führt ein Kohleausstieg zu kras- Habeck: Nein, damals sind wir mit Rechen-
Baerbock: Es ist mir ziemlich egal, wo SPD sen Veränderungen. Darum müssen wir modellen gekommen, heute denken wir
oder Union jetzt stehen. Der entscheiden- ran. Aber die Konflikte löst man nicht, es von der Gesellschaft her.
de Unterschied zu anderen Parteien und wenn wir uns in die Furche werfen. Dann Baerbock: Es geht darum, gesellschaftliche
uns ist, dass sie aus Sorge, was kommen können wir den Laden hier doch dicht- und parlamentarische Mehrheiten zu gewin-
könnte, lieber den Status quo verwalten. machen. Die Frage ist: Entscheidet man nen, damit das Land gerechter, fairer wird.
Ich will Fragen beantworten: Was brau- sich gegen alles Wissen und gegen alle SPIEGEL: Um diese linke Mehrheit zusam-
chen ältere Menschen im ländlichen Raum, Fakten? Das ist feige und zukunftsblind. menzubringen, hat Wagenknecht eine lin-
zum Beispiel bei mir in Ostdeutschland, Die Politik hat die Verbindung zur Realität ke Sammlungsbewegung vorgeschlagen.
damit sie teilhaben können am gesellschaft- verloren, weil sie nicht radikal genug Habeck: Das ist Banane. Die Linke macht
lichen Leben? Darauf gibt es eine andere agiert. keine linke Politik.
Antwort, als wenn ich frage, was ein Rent- Baerbock: Um real etwas zu bewegen, brau- SPIEGEL: Umverteilung, Reichensteuer,
ner in Köln braucht. Oder ein Kind, das in chen wir mutige Antworten. Wir dürfen Kampf gegen Kinderarmut – das könnten
Armut aufwächst. die Entfesselung des Kapitalismus nicht Sie mit der Linken alles haben.
Habeck: Für mich ist die Große Koalition hinnehmen. Habeck: Die Linke setzt zunehmend auf
gerade nicht linke Mitte. Es wird doch ver- SPIEGEL: Manche Grüne fürchten, dass Sie eine identitäre, ausschließende Politik: Na-
sucht, vieles, was fortschrittlich ist, abzutun: auf dem Parteitag so viel über linke Politik tionalstaat, Grenzen zu. Das ist nicht links.
Wer kümmert sich denn um die neuen Fra- geredet haben, um gewählt zu werden. Links ist mehr als Umverteilung.
gen – wie leben und arbeiten wir in einer Habeck: Ich sehe einfach, dass sich etwas SPIEGEL: Hoffen Sie eigentlich, dass die Gro-
Zeit, in der Roboter und Maschinen die Ar- ändern muss, unsere Gesellschaft bricht ße Koalition kommt?
beitswelt radikal verändern und Facebook sonst auseinander. Die Menschen müssen Baerbock: Wir nehmen’s, wie es kommt.
und Co. unser Leben durchkapitalisieren? das Gefühl haben, dass es fair zugeht. Des- Habeck: Uns interessieren die Themen. Wir
Verschiedene Lebens-, Arbeits- und Berufs- wegen wäre ich persönlich für die Vermö- werden keine gute Opposition, indem wir
30 DER SPIEGEL 6 / 2018
möglichst schlecht über andere reden. Das
ist auch langweilig.
SPIEGEL: Was wäre denn nun besser für das
Land, Große Koalition oder Neuwahlen?
Baerbock: Wenn die Große Koalition kommt,
muss sie liefern. Union und SPD sind gerade
dabei, sich gegenseitig hinters Licht zu füh-
ren und zu nivellieren. Die Einigung beim
Familiennachzug zum Beispiel entspricht
überhaupt nicht dem Auftrag des SPD-
Parteitags. Und was wir über die Pläne für
die Klima- und Energiepolitik wissen – wir
hätten den Kram nicht unterschrieben.
SPIEGEL: Schmerzt es Sie, dass Sie es nicht
geschafft haben, mit Jamaika zu regieren?
Baerbock: Es treibt mir die Tränen in die
Augen, wenn ich an die zwei Jungen aus
Syrien denke, die ich aus Potsdam kenne.
Deren Eltern können nun nicht nachkom-
men. Das trifft mich mitten ins Herz.
SPIEGEL: Auch mit Jamaika wäre der Fa-
miliennachzug wohl weiter ausgesetzt
worden.
Baerbock: Nein. Das hätten wir nicht mit-
gemacht. Und es geht mir echt auf den
Keks, dass die SPD aus Selbstschutz nun
ständig diesen Mist erzählt.
SPIEGEL: Die Grünen hatten einer Obergren-
ze für Flüchtlinge zugestimmt.
Baerbock: Nein! Einem Richtwert, und
zwar für die Kommunen. Damit die planen
können, wie viele Kitaplätze es braucht
und welche Mittel sie für die Integration
einplanen können. Das Grundrecht war
und ist für uns Grüne nicht verhandelbar.
SPIEGEL: Die AfD wurde mit der Flücht-
lingspolitik von 2015 stark. Wie wollen Sie
dem begegnen, wenn Sie für die Aufnah-
me von mehr Flüchtlingen eintreten?
Habeck: Die Flüchtlingskrise von 2015 ist
nicht das eigentliche Problem, sie bebildert
etwas viel Grundsätzlicheres: Es gibt ein
weit verbreitetes Gefühl, dass die Politik
hilflos ist. Gegenüber der Macht der Öko-
nomie, der Globalisierung, der Klimakrise.
2015 hat die Bilder zu diesem Lebensgefühl
geliefert.
SPIEGEL: Die Menschen fürchteten 2015
nicht die „Macht der Ökonomie“, sie hat-
ten einfach Angst, weil der Staat die Kon-
trolle verlor.
Habeck: Geflüchtete sind konkreter als
Banksysteme. Aber das Problem reicht
tiefer. Es wäre falsch zu sagen, wenn wir
keine Flüchtlinge mehr ins Land lassen,
sind alle Probleme gelöst.
SPIEGEL: Wie wollen Sie verhindern, dass
die AfD weiterwächst?
Baerbock: Mutig ist, dem Rechtspopulismus
ein eigenes Angebot entgegenzusetzen,
HANNES JUNG / DER SPIEGEL
SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 3. 2., 19.25 – 20.10 UHR | SKY
wir Europäer schwach sind, sind die Feinde
Jesse Owens – Der schnellste Europas stark.
Mann der Welt SPIEGEL: Überall in Europa ist das Parteien-
Der schwarze Läufer Jesse Owens system in der Krise. Die Antwort darauf
war der Star der Olympischen sind Bewegungen wie „En Marche!“. Auch
Spiele 1936 in Berlin – heute ist er Sie, Herr Habeck, haben von den Grünen
war gut. Das heißt aber nicht: Früher war eher Beiwerk. Haben Sie, Frau Baerbock,
alles besser, als es übersichtlicher war, weil Angst, dass Ihnen das mit Robert Habeck
Kontrolleure im Hafen Hamburg wir alles national regelten. auch passiert?
Habeck: Fragen Sie mich mal, ich habe Sor-
Menschenhändler, Schwarzarbeiter ge, dass das andersrum passiert.
und Fälscher. Sie beschlagnahmen „Politik muss in dieser Baerbock: Bei den Grünen gab es immer
Drogen, Waffen, Schwarzgeld, viele starke Frauen.
Schmuck und Plagiate. Ein Blick unsicheren Zeit SPIEGEL: An wen denken Sie?
hinter die Kulissen der Behörde. Halt geben, Stabilität.“ Habeck: Die erste war Petra Kelly.
Baerbock: Ich hab keinen Bock, mich der
Robert Habeck öffentlichen Erwartung zu beugen, die ja
SPIEGEL TV MAGAZIN war: Wir klären jetzt erst mal, welcher
SONNTAG, 4. 2., 22.30 – 23.15 UHR | RTL Baerbock: Der Schriftsteller und Politiker Mann Parteichef wird, und dann gucken
Václav Havel hat gesagt, Völker können so- wir, welche Frau zu ihm passen könnte.
Schleichende Katastrophe – Die lidarisch untereinander sein, wenn sie wis- SPIEGEL: Warum haben Sie dann in Ihrer
Pflegewüste Deutschland; Juristische sen, wer sie sind. Man bekommt Angst vor Rede so betont, dass Sie nicht die Frau
Abrechnung – Hohe Haftstrafe anderen, wenn man nicht weiß, wer man an Robert Habecks Seite sein wollen?
für Enkeltrickbetrüger; Schulisches ist. In Deutschland kennen Menschen aus Damit haben Sie das Bild doch erst ge-
Armutszeugnis – Der Lehrermangel unterschiedlichen Milieus einander immer prägt?
spitzt sich zu. weniger. Dagegen müssen wir etwas tun. Baerbock: Echt? Nö, glaub ich nicht.
SPIEGEL: Frau Baerbock, Robert Habeck hat SPIEGEL: Was verbindet Sie beide eigentlich,
die Grünen dazu gebracht, von ihrem lang- außer, dass Sie gern Václav Havel zitie-
SPIEGEL TV REPORTAGE jährigen Grundsatz, dass man nicht zwei ren?
DIENSTAG, 6. 2., 23.10 – 0.15 UHR | SAT.1 Ämter auf eine Person vereinen sollte, ab- Baerbock: Ich wusste gar nicht, dass du Ha-
zurücken. Manche haben das als Erpres- vel magst.
Drahtesel gegen Dealer – Die sung bezeichnet. Was sagt Ihnen das über Habeck: In meiner Bewerbung zur Urwahl
Kölner Fahrrad-Cops sind zurück Robert Habecks Verhältnis zur Macht? gab es das Zitat: „Hoffnung ist nicht die
Auf zwei Rädern verfolgen die Be- Baerbock: Wir haben ja nicht aus Spaß mo- Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, son-
amten Verkehrssünder, aber auch natelang über unsere Satzung diskutiert. dern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat,
Drogenhändler – und das mit Erfolg. Es ging darum, dass wir die Realität an- egal, wie es ausgeht.“
Nicht immer zur Freude der Bürger, erkennen. Und wir hatten nun mal eine Baerbock: Oh, hab ich gar nicht gelesen.
die in der Regel lieber diskutieren Regelungslücke. Habeck: Toll, deshalb hab ich also verloren.
als zahlen. Episoden aus dem Baerbock: Jetzt ist aber gut.
Arbeitsalltag der Kölner Mountain- * Ann-Katrin Müller und Christiane Hoffmann in der SPIEGEL: Frau Baerbock, Herr Habeck, wir
bike-Staffel. Parteizentrale der Grünen in Berlin. danken Ihnen für dieses Gespräch.
32 DER SPIEGEL 6 / 2018
Deutsche Bank
14.100
Punkte erwartet die
Deutsche Bank Ende
2018 beim DAX.
3,9 %
soll die Weltwirtschaft in diesem Jahr 1,28
gegenüber 2017 laut Deutsche Bank Ende 2018 ist mit einem
wachsen. Trotz politischer Unsicher- starken Euro im Bereich Rund
heiten sollte auch die Eurozone dazu von 1,28 US-Dollar zu
maßgeblich beitragen. rechnen. Eine temporäre
Stärke des US-Dollars
scheint dabei zwischen-
zeitlich möglich.
12 %
Gewinnsteigerungen
werden für Unternehmen
2018 weltweit erwartet.
Das sollte für weiteres
Kurspotenzial an den
Aktienmärkten sprechen.
deutsche-bank.de/jahresausblick2018
Engelchen und Teufelchen
Karrieren Als Außenminister hat es Sigmar Gabriel zu großer Beliebtheit gebracht.
Er würde gern im Kabinett bleiben, doch lässt ihn SPD-Chef Martin Schulz?
M
ann, hat der abgenommen“, raunt Kliche-Behnke, „einer der ganz großen Beck und Franz Müntefering. Gabriel hätte
ein älterer Herr seiner Frau zu, als Redner der SPD-Geschichte“. sich zu Wort melden können, aber dann
Sigmar Gabriel sich am Dienstag Über Martin Schulz, Gabriels Nachfol- hätten viele den Eindruck gewinnen kön-
vergangener Woche den Weg durch die ger im Amt des Parteivorsitzenden, kann nen, dass er nur deshalb für die Große
Schönbuchhalle von Dettenhausen nach man das in letzter Zeit nicht sagen. Viele Koalition wirbt, um Minister zu bleiben.
vorne zur Bühne bahnt. Gabriel ist zu Gast im Saal müssen an die verunglückte Rede Jetzt aber, zwei Tage später in Detten-
auf dem Neujahrsempfang der SPD Tübin- denken, mit der Schulz zwei Tage zuvor hausen, spricht Gabriel so leidenschaftlich
gen. Die Halle ist bis auf den letzten Platz auf dem Bundesparteitag den Gegnern über Europa, dass die SPD-Mitglieder
besetzt, eine örtliche Trommelgruppe ver- einer Großen Koalition beinahe zu einer begeistert applaudieren. Er wirbt für eine
sucht sich an karibischen Rhythmen. Die Mehrheit verholfen hätte. Gabriel verfolg- neue Große Koalition mit den Erfolgen
SPD-Kreisvorsitzende begrüßt den am- te die Rede des SPD-Chefs von einem der alten: Mindestlohn, Rente, Bafög. Ga-
tierenden Außenminister als „einen der Tisch, an dem die Parteitagsregie alle ehe- briel findet es falsch, dass sich „die SPD
beliebtesten Politiker unseres Landes“. maligen Vorsitzenden platziert hatte: Ne- kaum noch erinnert, obwohl sie das alles
Gabriel sei zweifelsohne, sagt Dorothea ben ihm saßen Rudolf Scharping, Kurt durchgesetzt hat“. Er spricht, als hätte er
das Amt des SPD-Chefs nie abgegeben.
Am Ende bedankt sich der Kreisverband
mit einer Meterpackung des örtlichen
Schokoladenherstellers. „Sigmar Gabriel
kann Diplomatie, auch wenn es in diesem
Land den einen oder anderen gab, der
dachte, dass er es nicht könnte“, sagt der
schwäbische Bundestagsabgeordnete Mar-
tin Rosemann. „Lieber Sigmar, ich bin
wirklich froh, dass du der Außenminister
der Bundesrepublik Deutschland bist!“
Gabriel hört solche Sätze oft in diesen
Wochen. Sie streicheln seine wunde Seele.
Was hat die Partei in den gut sieben Jah-
ren, die er ihr Vorsitzender war, über ihn
geschimpft! Über seine Sprunghaftigkeit,
seine Alleingänge, seinen Jähzorn. Als Ga-
briel sich vor einem Jahr durchrang, den
Parteivorsitz an Martin Schulz abzutreten,
war das auch ein Eingeständnis, dass die
Deutschen in ihm einfach keinen Kanzler
erkennen können.
Als Außenminister aber hat es Gabriel
auf fast allen Beliebtheitsranglisten ganz
nach oben geschafft. Immerhin 57 Prozent
der Deutschen sind laut ARD-Deutschland-
trend mit seiner Arbeit zufrieden. Martin
Schulz? Kommt auf gerade mal 25 Prozent.
Gabriel umweht nun Tragik. Seine Popu-
larität als Außenminister wirft die Frage
auf, ob er nicht jahrelang den falschen Job
hatte. Und jetzt, wo er die Anerkennung
genießt, die er so schmerzlich vermisst hat,
liegt sein Schicksal ausgerechnet in den
Händen jenes Mannes, den er zu seinem
MAURICE WEISS / OSTKREUZ / DER SPIEGEL
Genug interessante Ministerämter gäbe es. sich nach dem Scheitern der Jamaikason- ist wie mit dem Engelchen und dem Teu-
Die SPD will nicht nur das Außenamt be- dierungen. Gabriel hingegen hat seine felchen, die links und rechts auf der Schul-
halten, sondern auch den nächsten Finanz- Sympathie für eine Fortsetzung der Gro- ter sitzen: Mal sagt das Engelchen, Gabriel
minister stellen. Wenn Schulz Finanz- ßen Koalition nie verhehlt. Es war seine könne mit seiner Kreativität und Erfah-
minister und Vizekanzler würde, könnte Überzeugung, aber viele Genossen nah- rung in einer neuen Regierung durchaus
Gabriel bleiben, was er ist. Oder anders- men es ihm übel, weil sie – nicht ganz zu hilfreich sein. Dann kommt das Teufelchen
rum: Wenn Schulz sich für die Strapazen Unrecht – annahmen, dass er auch eine und warnt, er habe nun doch oft genug er-
des vergangenen Jahres mit dem Auswär- Kampagne in eigener Sache fuhr. lebt, wie illoyal Gabriel sei. Und ihn dafür
tigen Amt belohnen möchte, könnte Ga- Dadurch fühlten sich diejenigen bestä- noch belohnen?
briel ins Finanzministerium umziehen. tigt, die ihn schon immer für einen Egois- Das Teufelchen dringt in diesen Tagen
Doch so einfach ist es nicht. Denn so ten hielten, der nur auf seinen Bauch hört, weitaus häufiger zu Schulz durch als das
beliebt Gabriel bei der SPD-Basis und in aber nie auf die Bedürfnisse der SPD. Sei- Engelchen. Wie soll das mit Gabriel ge-
der Bevölkerung ist, so sehr hat er sich als ne Wortmeldungen als SPD-Chef waren hen? Die Partei drängt auf Erneuerung,
langjähriger Vorsitzender bei vielen Funk- ebenso spontan wie widersprüchlich. Mal das Modell Gabriel, also eine auf Harmo-
tionären Feinde gemacht. Der Druck auf nahm er Griechenland in Schutz, mal spiel- nie mit der Kanzlerin setzende Regierungs-
Schulz, Gabriel zu opfern, ist groß. te er mit dem Gedanken an dessen Austritt taktik, gilt vielen Sozialdemokraten als
Eine Woche vor dem Bundesparteitag aus der Eurozone. Zuerst trug er einen wichtiger Grund für das schlechte Ab-
steht Gabriel auf einer kleinen Bühne im „Refugees Welcome“-Button, dann warnte schneiden der Partei.
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Kongresszentrum Wernigerode. Parteitag er davor, die einheimische Bevölkerung Am Mittwoch sitzt Gabriel in seiner Ka-
der SPD Sachsen-Anhalt, Gabriel spricht nicht zu benachteiligen. bine im vorderen Teil des kleinen Regie-
über das Leid der europäischen Sozial- Auch für die gescheiterten Kanzlerkan- rungs-Airbus auf dem Weg von Tel Aviv
demokratie. Dass es die französischen didaturen trägt er eine Mitverantwortung. nach Berlin. In gerade einmal 14 Stunden
Sozialisten eigentlich gar nicht mehr gibt. Peer Steinbrück und Martin Schulz stol- hat er Israel und die Palästinensergebiete
Und dass die Sozialdemokraten in Ost- perten nahezu unvorbereitet in ihre Wahl- besucht, er will schnell wieder nach Berlin
europa gerade mal noch einen Minister- kampagne, weil sich Gabriel bis zum zurück, um die Koalitionsverhandlungen
präsidenten stellen – in der Slowakei. Schluss alle Optionen offenhalten wollte. nicht zu verpassen.
Es ist auch eine Verteidigung in eigener Als er „mit 15, 16 Jahren“ in die SPD Gabriel macht keinen Hehl daraus, dass
Sache. Viele in der SPD finden, dass eintrat, sei die Partei ziemlich patriarcha- er gern Außenminister bleiben würde. „In
vor allem Gabriel die Schuld an dem Nie- lisch und konservativ geprägt gewesen, er- solchen international verwirrenden Zeiten
dergang der Partei trägt. Gabriel leugnet zählt Gabriel auf dem Landesparteitag von seinem Land als Außenminister dienen zu
gar nicht, dass er einen Anteil daran hat. Sachsen-Anhalt. „Manche sagen ja heute, können, ist natürlich ungeheuer spannend
Aber eine Behauptung weist er empört dass sich damit erkläre, warum ich heute und auch eine sehr große Ehre“, sagt er.
von sich: dass die Koalitionen unter Mer- so bin, wie ich bin.“ Es ist der Versuch „Und es wäre ja seltsam, wenn man das
kel der Grund dafür seien, dass die SPD einer Entschuldigung, aber die erwünschte nicht gerne weitermachen würde.“
bei der Bundestagswahl bei 20,5 Prozent Wirkung erzielt er nicht: Am Ende stim- Seit die SPD über eine Neuauflage der
landete. men die Delegierten mehrheitlich gegen Großen Koalition verhandelt, wird in der
Er hält es vielmehr für einen strategi- eine Neuauflage der Großen Koalition. Partei über eine Absprache geredet, die
schen Fehler, dass die aktuelle Parteifüh- Für Schulz ist die Gabriel-Frage eine Gabriel und Schulz vor einem Jahr im
rung nach der Wahl eine Große Koalition Qual. Je näher die Personalie rückt, desto rheinland-pfälzischen Montabaur getrof-
kategorisch ausgeschlossen hat. Das rächte klarer wird ihm, wie schwierig sie ist. Es fen haben sollen. Als Schulz Kanzlerkan-
DER SPIEGEL 6 / 2018 35
Deutschland
D
hat natürlich jedes Recht, mögliche Minis- er Staatsfeind der Türkei kommt rung in Berlin keinen Einfluss auf Asylver-
terämter anders zu besetzen.“ in Hausschuhen und Unterhemd fahren hat, dürfte die Türkei den Schutz
Ob Schulz gut beraten wäre, selbst das an die Tür, er trägt einen grauen für die mutmaßlichen Putschisten als be-
Auswärtige Amt zu übernehmen, bezwei- Dreitagebart. Nur einen Schlitz breit öff- wusste Provokation ansehen.
feln nicht nur diejenigen, die sich für net Ilhami P. an einem kalten Januartag Für die Bundesregierung sind der Offi-
Gabriel starkmachen. Das Außenministe- die Wohnungstür im ersten Stock eines zier und seine Kameraden daher ein diplo-
rium sei kein gutes Vizekanzleramt, heißt Fachwerkhauses, irgendwo in der west- matischer Krisenfall. Präsident Erdoğan
es in der SPD. Zu viele Reisen, zu weit deutschen Provinz. Draußen hat es gerade will P. unbedingt in Ankara vor Gericht
weg vom innenpolitischen Geschehen. angefangen zu schneien. „Ich darf eigent- sehen. Er hatte im Herbst im Gespräch mit
Schon Guido Westerwelle wurde von die- lich mit niemandem reden“, sagt P. leise, Altkanzler Gerhard Schröder sogar einen
sem Zwiespalt zerrieben. „Erdoğans Leute sind überall.“ Nach ein Tausch angeboten: Sollte Deutschland P.
Betteln um das Amt will Gabriel aber paar Worten in brüchigem Englisch wech- und weitere türkische Offiziere ausliefern,
nicht. In seinem Umfeld haben manche den selt er ins Türkische. würde Ankara im Gegenzug den Journa-
Eindruck, dass ihm viele Genossen seine Der Besuch macht P. nervös. Immer wie- listen Deniz Yücel aus dem Gefängnis frei-
späte Beliebtheit regelrecht übel nehmen. der fragt er, wie man ihn und seinen Sohn lassen. Doch die Bundesregierung lehnte
Jedes Mal, wenn eine neue Umfrage raus- überhaupt gefunden habe. „Die Polizei den Tauschhandel ab.
kommt, rufe ein Parteifreund bei einer Zei- und der Verfassungsschutz haben mir ver- Zurzeit bemühen sich Berlin und An-
tung an und fordere anonym seinen Kopf. sprochen, dass wir hier in Deutschland kara nach einem Jahr der Krise gerade
Umso mehr erfüllt es Gabriel mit Ge- sicher sind“, sagt er. Aber es wird halt viel darum, ihre Beziehungen wieder zu
nugtuung, wenn ihm berichtet wird, dass geredet über neu Zugezogene. Gerade in verbessern. Die Türkei hat den Menschen-
ungefragt Fürsprecher auf den Plan treten. Kleinstädten. rechtler Peter Steudtner und die Jour-
So wie Anfang Januar, als rund hundert Zwar ist P. in gut anderthalb Jahren auf nalistin Meşale Tolu aus der Untersu-
Familienunternehmer zu seinen Ehren ein der Flucht etwas grauer geworden, trotz- chungshaft entlassen. Außenminister Sig-
Essen im edlen Schlosshotel im Grunewald dem ist er anhand der Fahndungsfotos, die mar Gabriel empfing seinen türkischen
veranstalteten. Oder neulich beim Gewerk- im Internet kursieren, noch immer leicht Amtskollegen Mevlüt Çavușoğlu demons-
schaftsrat: Mehrere Gewerkschaftsvertre- als einer der meistgesuchten Feinde des trativ freundschaftlich in Goslar zum
ter erklärten Schulz, dass sie mit der Ar- türkischen Präsidenten Recep Tayyip Er- Tee. Die Sicherheitsbehörden beider Län-
beit der SPD-Minister in der bisherigen doğan zu erkennen. der nahmen ihren strategischen Dialog
Großen Koalition zufrieden seien. Gabriel Die Regierung in Ankara hält P., einen wieder auf.
solle auch im nächsten Kabinett wieder Oberst des türkischen Militärs, für einen Oberst P. sitzt im Fachwerkhaus am Kü-
vertreten sein, schlugen sie vor. der Anführer des gescheiterten Putsch- chentisch, vor ihm eine Tasse Tee. „Ich
Ob solche Argumente den Parteichef be- versuchs vom 15. Juli 2016. Die türkische bin den Deutschen für den Schutz vor Er-
eindrucken, ist fraglich. Möglicherweise Staatsanwaltschaft wirft ihm Mitglied- doğan dankbar“, sagt er. P. bezieht jetzt
geht es ab nächster Woche auch gar nicht schaft in einer Terrororganisation und Lan-
mehr um die besten Köpfe. So wie die desverrat vor. Die türkischen Medien nen-
SPD die Mitgliederbefragung plant, kann nen ihn den „Terrorkommandanten“. In P. geht kaum vor die Tür,
es sein, dass Schulz der gesamte Prozess Ankara hat der Prozess begonnen, mit viel
entgleitet. Presserummel. Doch auf der Anklagebank er traut sich nicht,
Schulz’ Autorität könnte dadurch weiter fehlen die wichtigsten Angeklagten. mit anderen Türken
leiden. Schlechter würden Gabriels Chan- Seit Monaten beschäftigt der schmäch-
cen dadurch sicher nicht. Angesichts des tige Mann im Fachwerkhaus die deutsche
auch nur zu reden.
Kommunikationschaos der vergangenen und die türkische Regierung auf höchster
Wochen sehen manche die Amtszeit des Ebene. Die Türkei verlangt seine Auslie- finanzielle Hilfe vom deutschen Staat,
früheren Vorsitzenden heute in milderem ferung. Doch die deutschen Behörden lernt Deutsch an der Volkshochschule und
Licht. „Wir hatten ja unsere Probleme mit können selbst Menschen, die womöglich will, wie er sagt, so schnell wie möglich
ihm“, sagt ein Genosse, „aber so ein Chaos schwere Verbrechen begangen haben, Arbeit finden. Seine Kameraden, die mit
wäre unter ihm nicht passiert.“ nicht einfach in die Türkei abschieben, ihm geflüchtet sind, leben in einer Unter-
Die Konkurrenz zwischen Schulz und wenn ihnen als Erdoğan-Gegner dort kunft ein paar Kilometer entfernt.
seinem Vorgänger ist mittlerweile ein unmenschliche Behandlung droht und ein P., geboren 1972 in Erzurum im Nord-
offenes Geheimnis. Manch einer hat die fairer Prozess nicht zu erwarten ist. osten der Türkei, hatte bis zu jener Juli-
Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass sich Mehr noch: Inzwischen haben P. und nacht steil Karriere gemacht. Er war Stabs-
die beiden noch zusammenraufen. Am drei seiner Kameraden, die von der Türkei chef der Militärakademie in Ankara, in
Montag sah Johannes Kahrs, Chef des See- ebenfalls als Putschisten gesucht werden, der die Landstreitkräfte ausgebildet wer-
heimer Kreises, Schulz und Gabriel am in Deutschland Flüchtlingsschutz erhalten. den, und stand kurz davor, zum General
Rande der SPD-Fraktion zusammenstehen. Für mindestens drei Jahre genießen damit befördert zu werden. Bei Auslandseinsät-
Kahrs ging auf sie zu und rief: „Los Leute, einige der meistgesuchten Staatsfeinde der zen auf dem Balkan arbeitete er auch mit
wir brauchen euch beide!“ Türkei in Deutschland Schutz vor Auslie- der Bundeswehr zusammen. „Ich kam mit
Hannah Knuth, Veit Medick, Christoph Schult ferung und Prozess. Auch wenn die Regie- den Deutschen gut aus“, sagt er.
Verflechtungen von Politik, Bundes- ausgesagt. Dynamit Nobel Defence hat der
K
eine Frage, Thomas M. weiß, was gen. Verständlich: Die Indizienlage könnte hern, in der Regierungs- und Bundeswehr-
die Truppe braucht. Für den „Hardt- bis in Berliner Ministerien oder gar den leute, Parteipolitiker und Rüstungsma-
höhenkurier“ etwa, ein Blatt „für Bundestag führen. nager einen regen, vertraulichen und für
Soldaten und Wehrtechnik“, hat der Rüs- Auf die Spur der beiden Manager ka- die Industrie oft profitablen Austausch
tungsmanager mehrfach über Panzerfäuste men die Ermittler offenbar durch Zufall: über Verteidigungs- und Rüstungsfragen
geschrieben. Er trat bei Podiums- Bei einer Routinekontrolle am Arbeits- pflegen.
diskussionen auf und hielt Vorträge über platz von Martin M. soll der Sicherheits- Es ist ein heikles Terrain. „Das ist wie
„Bundeswehr und Wirtschaft“. dienst seines Arbeitgebers ESG das Papier ein Minenfeld“, sagt ein Fahnder. Das in-
Allem Anschein nach wusste Thomas in einem unverschlossenen Rollcontainer frage stehende Dokument ist wahrschein-
M. allerdings sogar zu viel darüber, was gefunden haben. lich nur eines von vielen geheimen Bun-
die Truppe braucht. Er und ein weiterer Die ESG gab dem bayerischen Landes- deswehrpapieren, die bei der Industrie ge-
Beschuldigter wurden in der vergangenen amt für Verfassungsschutz daraufhin einen landet sind.
Woche festgenommen. Die Bundesanwalt- Hinweis. Dieses wiederum informierte den Wenn es denn bloß bei der Industrie ist.
schaft in Karlsruhe wirft den beiden das Generalbundesanwalt, der nun gemeinsam Das umfangreiche Dokument, das Thomas
„Offenbaren von Staatsgeheimnissen“ vor. mit dem Bundeskriminalamt ermittelt. M. an Land gezogen hat, enthält detaillier-
Sie sollen ein als geheim eingestuftes Pa- Dabei wurde schnell klar, dass Martin te Angaben zum Wartungsetat der Bun-
pier, das Teile des Haushaltsplans der Bun- M. Kopien an seinen Vorgesetzten und an deswehr. Das könnten interessante Infor-
deswehr enthielt, besessen und weiter- einen Kollegen weitergegeben hatte. Be- mationen für Martin M.s Arbeitgeber, den
gegeben haben. kommen hatte er es bereits im Herbst 2016 Ersatzteil-Spezialisten ESG, sein.
Der Vorgang ist brisant. Thomas M. ar- von einem beruflichen Bekannten, dem Noch wertvoller wären sie allerdings
beitet für den Sprengstoffkonzern Dyna- Dynamit-Nobel-Mitarbeiter Thomas M. für einen ausländischen Geheimdienst.
mit Nobel Defence in Burbach. Martin M., Nun fragen die Fahnder sich, woher Tho- Agenten aus Drittstaaten könnten anhand
ehemaliger Oberstleutnant und Kampf- mas M. seinerseits das Dokument hatte. der Angaben womöglich erkennen, wo bei
pilot, ist für das Münchner Unternehmen Sie durchsuchten die Wohnungen der bei- der Bundeswehr welche Schraube locker
ESG tätig, das für die Bundeswehr IT-Sys- den Beschuldigten. Auch eine Bundeswehr- sitzt.
teme entwickelt und die Ersatzteilversor- Liegenschaft im Raum Koblenz haben die Ob das Material je in ausländische Hän-
gung betreut. Ermittler bereits inspiziert. de geriet, ist allerdings unklar. Bekannt ist,
Geheimdokumente der Bundeswehr Viel hängt nun davon ab, was die Durch- dass sich der russische Auslandsgeheim-
dürfen ihnen nicht in die Hände fallen – suchungen ergeben. Auch die Betroffenen dienst SWR für genau jenes Milieu inte-
weil sie Unternehmen einen Vorteil ver- könnten bei der Aufklärung helfen: ESG ressiert, in dem Thomas M. und Martin M.
schaffen können, wenn sie sich um Aufträ- hat sich bereits kooperationswillig gegen- verkehrten.
ge der Bundeswehr bewerben. über den Behörden gezeigt. Martin M. hat Jörg Diehl, Matthias Gebauer, Fidelius Schmid
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Generationen Junge Politiker leiden unter der Macht der Alten. Die dringend notwendige
Verjüngung der Parteien kommt nicht voran.
W
ie lähmend die Auseinanderset- Eine 24-Jährige im Bundesvorstand. Aber behandelt werden und nichts zu sagen
zung mit den Alten sein kann, Glückwunsch.“ Schon vorher fühlte sich haben.
bekam Kevin Kühnert erstmals Schäfer in Sitzungen nicht selten ignoriert: Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann
mit Anfang zwanzig zu spüren. Der heuti- „Oft haben die Verantwortlichen so getan, spricht von einer „generationalen Echo-
ge Juso-Vorsitzende wollte sich bei der als wäre ich gar nicht da“, sagt sie. „Da kammer“, in der die älteren Jahrgänge ei-
Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus als guckt der erfahrene Spitzenpolitiker ein- nander in ihrer skeptischen Haltung gegen-
Direktkandidat aufstellen lassen, sein SPD- fach weiter auf sein Handy.“ über den Jungen bestätigen würden. Zwar
Ortsverein kam in einer Seniorenfreizeit- Diese Art von Arroganz trifft junge wurden auch diejenigen, die heute über
stätte in Berlin-Lichtenrade zusammen. Politiker auf allen Ebenen, in der Bundes- fünfzig sind, vermutlich einmal aufgrund
Ob er nicht erst mal klein anfangen wolle, politik genauso wie im Ortsverband, wo ihres Alters belächelt. „Aber durch die An-
fragten anwesende Genossen, Altersschnitt: sie es eigentlich leichter haben, weil es zahl der Babyboomer entwickelt sich eine
um die sechzig. Er sei ja noch so jung! „Ich dort noch weniger von ihnen gibt als in schreckliche Wucht“, glaubt Hurrelmann.
würde vorschlagen, wir nominieren den den Städten. Als Daniel Matulla, 30, seinen Die Parteien werden von Menschen do-
Kevin erst mal für die Bezirksverordneten- Parteikollegen erzählte, dass er sich für miniert, die meist in den Siebziger-, Acht-
versammlung“, sagte einer. Das könne er die CSU-Akademie bewerben wolle, ein ziger- oder Neunzigerjahren eintraten und
ja fünf Jahre lang machen, „dann sehen Programm für talentierte Nachwuchskräf- sich nun auf Posten und in Gremien breit-
wir weiter“. So erzählt es Kühnert. te, habe er zu hören bekommen: „Geh gemacht haben. Im aktuellen Bundestag
Das war im Herbst 2010. Schon damals doch erst mal Plakate kleben.“ Immerhin stammt fast die Hälfte der Abgeordneten,
war Kühnert nicht irgendein Neugenosse, ist Matulla heute Vorsitzender der CSU in 347 von 709, aus den Jahrgängen 1955 bis
sondern stellvertretender Vorsitzender der Roth bei Nürnberg, in jenem Ortsverband, 1969. Das Durchschnittsalter im SPD-Par-
Berliner Jungsozialisten. Als Respektlosig- in dem man ihm damals den gut gemeinten teivorstand liegt bei 49 Jahren, im Vor-
keit habe er die Bemerkungen seiner Ratschlag gab. stand der CDU bei 56 Jahren. Im Gremium
Parteikollegen empfunden, sagt Kühnert. der SPD sind nur zwei Politiker unter 35,
„Das waren die Spielregeln älterer Herr- bei der CDU niemand.
schaften, von denen viele nur zur Weih- Ein Genosse fuhr sie an: Wenn die SPD den 39-jährigen Lars
nachtsfeier auftauchten.“ Klingbeil zu ihrem Generalsekretär wählt,
Heute ist Kühnert, 28, Chef der Jusos in Sie sei zu dumm, dann ist das allenfalls eine geringfügige
Deutschland. Seit er auf dem SPD-Sonder- um sein Gegenargument Verjüngung. Aber es ist kein Generatio-
parteitag gegen die Große Koalition oppo- nenwechsel, der doch dazu beitragen könn-
nierte, ist sein Name auch Menschen au-
zu verstehen. te, dass die Anliegen der jungen Wähler
ßerhalb des politischen Betriebs ein Be- wie eine andere Arbeitsmarkt- und Ren-
griff. Für viele Ältere in der SPD ist er Dass viele ältere Parteimitglieder jung tenpolitik eine stärkere Lobby bekommen.
trotzdem noch immer der Kevin und sein mit dumm gleichsetzen, wurde der Berli- „Wenn in den Parteien in zwei, drei Jahren
Aufstand nicht mehr als eine jugendliche ner Jusovorsitzenden Annika Klose, 25, in nicht wieder mehr junge Menschen mitar-
Übersprungshandlung. Bundesumweltmi- einer ihrer ersten Sitzungen auf Kreis- beiten, haben wir ein Problem“, sagt Ge-
nisterin Barbara Hendricks sagte, dass Küh- ebene klar. Die Runde habe über ihren nerationenforscher Hurrelmann. Er fürch-
nert nun erst mal sein Studium abschließen Antrag zur Gleichstellungspolitik disku- tet, dass dann noch weniger junge Deut-
und zu arbeiten anfangen werde, bevor er tiert, als ein älterer Genosse sie angefahren sche zur Wahl gehen.
in der Partei Karriere mache. habe: Sie sei zu dumm, um sein Gegen- Clemens Holtmann, 28, wollte in die
Der Fall Kühnert hat eine Debatte um argument zu verstehen. Politik, um etwas zu bewegen. Er überleg-
den Umgang der Parteien mit ihrem Nach- Niemand im Raum habe sie in Schutz te, in die SPD einzutreten, und ging zu
wuchs ausgelöst. Besonders die Volks- genommen, auch sie selbst habe sich kaum mehreren Ortsvereinssitzungen in Berlin-
parteien mit ihren großen, trägen Appa- gewehrt. „Ich wollte nicht gleich zu Beginn Prenzlauer Berg. „Ich wollte verhindern,
raten haben ein Problem. Nach einem Auf- Chefanklägerin für ein strukturelles Pro- dass die Menschen im Mittelmeer ertrin-
ruf des Onlinemagazins bento, das zur blem sein.“ Heute würde sie es anders ma- ken“, sagt Holtmann. Stattdessen habe
SPIEGEL-Gruppe gehört, teilten Jungpoli- chen, sagt sie. Immer wieder komme es man im Ortsverein nur über die Neuge-
tiker unter dem Hashtag #diesejungenleute vor, dass ältere Parteikollegen die angeb- staltung einer Straßenkreuzung geredet.
ihre Erlebnisse. Ihre Reaktionen zeigen, lich „fehlende Lebenserfahrung“ anführ- Holtmann war enttäuscht über so wenig
wie herablassend viele Ältere den Jungen ten, wenn sie ihr widersprächen. „Als sei- Einflussmöglichkeiten. Mit Gleichgesinn-
gegenüber auftreten und wie schwer sich en wir Jungen Utopisten und Traumtänzer ten gründete er seine eigene Partei: „De-
die Parteien mit jener Erneuerung tun, die und müssten uns von denen sagen lassen, mokratie in Bewegung“. Bei der letzten
sie öffentlich fordern. wie der Hase läuft.“ Bundestagswahl erhielt sie 60 000 Stimmen.
Jamila Schäfer, 24, gilt als eines der größ- Auch wenn CDU und SPD im Wahljahr Scheuen die Jungen den mühsamen Weg,
ten Talente der Grünen, auf dem Parteitag 2017 mehr Neueintritte verzeichneten: Die den eine Parteikarriere mit sich bringt?
Ende Januar wurde sie zur stellvertre- Volksparteien schrumpfen seit fast 30 Jah- Machen sie es sich zu leicht? Ist das jene
tenden Parteivorsitzenden gewählt. Nach ren kontinuierlich. Erfahrungen wie jene Anspruchshaltung, die die Babyboomer
der Wahl habe ein älterer Parteikollege, von Annika Klose zeigen, dass die Jungen den Millennials so gern vorwerfen?
so erinnert es Schäfer, zu ihr gesagt: der Parteien vielleicht auch deshalb über- Fest steht, dass die Organisation der Par-
„Mensch, wer hätte denn das gedacht? drüssig sind, weil sie dort von oben herab teien in Ortsvereine, Bezirksverbände et
40 DER SPIEGEL 6 / 2018
1 2
cetera ein Modell der Nachkriegszeit ist.
Der Lebensrealität vieler junger Menschen,
die heute hier studieren und morgen dort
arbeiten, entspricht das nicht mehr. Und
in der Kommunikation hinken die Parteien
hoffnungslos hinter dem zurück, was junge
Menschen aus ihrem Alltag gewohnt sind.
Diana Kinnert ist 26 Jahre alt, konser-
vativ, aber mit Baseballcap. Wenn die
CDU zeigen will, wie modern sie ist, dann
wird gern Kinnert vorgeschickt.
Kinnert hat gelernt, das für sich zu nut-
zen. Sie geht in Talkshows und hat ein
Buch geschrieben: „Für die Zukunft seh’
ich schwarz“. In der Wirtschaftswelt wür-
den Unternehmen schnell merken, wenn
etwas schieflaufe, sagt Kinnert. „Die Par-
RETO KLAR
ANDI WEILAND
2014 holte Generalsekretär Peter Tau-
3 ber, 43, sie in seine Parteireformkommis-
sion. Dort leitete sie die Arbeitsgruppe
„Jugend“. Zwei der Ergebnisse nach mehr
4 als drei Jahren: CDU-Mitglieder können
sich nun über eine App miteinander ver-
netzen. Und es gibt Skype-Konferenzen,
damit die Parteiführung wegen einer kur-
zen Ansprache nicht gleich durchs ganze
Land reisen muss. Kinnert spricht von
„kleinen Schritten“.
Auch SPD-Chef Martin Schulz ver-
sprach nach dem Desaster bei der Bundes-
tagswahl einen Erneuerungsprozess. Ge-
ANDREAS ARNOLD / PICTURE ALLIANCE / DPA
sidium gewählt.
Auf dem Parteitag ging es auch um
den Antrag von SPD++, einer Gruppe
junger, digitalaffiner Genossen. Jeder
PONIZAK / CARO / FOTOFINDER.COM
Güllner, 76, hat in Köln den und die Fragen selbst beantwortet. SPIEGEL: Sind das Einzelfälle?
Soziologie studiert und Kennen Sie solche Arbeitsweisen? Güllner: Bei den seriösen Instituten kann
JESCODENZEL.COM / DER SPIEGEL
1984 das Meinungs- Güllner: Leider sind immer mehr Kunden man Fälschungen ausschließen, weil sie
forschungsinstitut Forsa nicht bereit, angemessen zu bezahlen. Sie keine dubiosen Feldorganisationen be-
gegründet, das er bis drücken die Preise, vor allem wenn die schäftigen.
heute leitet. Seit 2003 Einkaufsabteilung entscheidet, wer den SPIEGEL Wie halten Sie es in Ihrem Unter-
ist er Honorarprofessor Auftrag erhält. Es kommt auch darauf an, nehmen?
für Publizistik und Kom- wer die Umfrage wie ausführt. Manche In- Güllner: Wir geben nichts raus. Forsa be-
munikationswissenschaf- stitute erheben nicht selbst. Sie geben den treibt vier Telefonstudios und hat den Er-
ten an der Freien Universität Berlin. Im Inter- Auftrag an Feldinstitute weiter, also an hebungsvorgang unter Kontrolle.
view äußert er sich zu Missständen in der Subunternehmer, die das Befragen der SPIEGEL: Die Anfälligkeit für gefälschte Um-
Marktforschung, über die SPIEGEL ONLINE, Bürger übernehmen. fragen steigt, wenn Feldinstitute ins Spiel
der SPIEGEL und SPIEGEL TV in dieser Woche SPIEGEL: Arbeiten Sie auch so? kommen?
berichten. Güllner: In meiner achtjährigen Tätigkeit Güllner: Uns haben Mitarbeiter, die vorher
bei Infas habe ich 1978 ein einziges Mal bei Feldinstituten beschäftigt waren, erzählt,
SPIEGEL: Herr Güllner, einer der größten eine Studie nach außen gegeben. Diese wie sie dort mehrere Wochen nur damit be-
Marktforscher weltweit, die GfK, hat vor wurde von einem Subunternehmer an schäftigt waren, Umfragen selbst auszufüllen.
einigen Jahren eine Umfrage zum Thema einen Subsubunternehmer weitergereicht. Bei uns im Haus können wir aber ausschlie-
Sexualität durchgeführt. Ein Ergebnis: Es stellte sich dann heraus, dass diese Fir- ßen, dass einzelne Mitarbeiter fälschen. Dass
24,1 Prozent der befragten Männer, die ma statt hundert Interviewern nur vier hat- ein Interviewer stundenlang dasitzt und nie-
derzeit in einer festen Partnerschaft leben, te: den Inhaber selbst, seinen Bruder und manden anruft, verhindert schon der Com-
wünschen sich mehr sexuelle Aktivität. zwei weitere Verwandte. Die haben die puter. Es würde auch sofort Supervisoren
Wie seriös sind solche Umfragen? Fragebögen in der Mensa ausgefüllt. oder anderen Interviewern auffallen.
Güllner: Eigentlich müssen schon die Alarm-
glocken schrillen, wenn Institute die Zah-
len hinterm Komma herausgeben. Das sug-
geriert eine Genauigkeit, die das Instru-
mentarium nicht liefern kann.
SPIEGEL: Ist es nicht unwahrscheinlich, dass
jemand einer wildfremden Person so inti-
Was nicht passt…
me Fragen beantwortet?
Güllner: Das hängt davon ab, wie gefragt Wie die Studie zu einem Krebsmedikament entstand
wird. Früher gingen die Interviewer von
E
Haus zu Haus. Wenn sie sich dann ins ine Umfrage per Telefon durch- fragen waren niedergelassene Urolo-
Wohnzimmer vorgearbeitet hatten und zuführen, das kann so lästig gen, denen es möglicherweise an Zeit
Fragen zum Sexualverhalten stellten und sein: Man muss Menschen anru- oder Bereitschaft mangelt, am Telefon
da die ganze Familie saß, kriegten sie nicht fen, die Menschen müssen ans Telefon Auskunft über ihre bevorzugten The-
unbedingt ehrliche Antworten. Wenn sie gehen, sie müssen mitmachen wollen rapien und Medikamente zu geben.
aber am Telefon fragen, dann hört die Part- und auch noch halbwegs brauchbare Die GfK leitete den Auftrag im Som-
nerin ja nicht mit. Antworten geben. Das kostet Zeit, Geld, mer 2015 weiter: an CSI International,
SPIEGEL: Vielleicht denkt sich der Intervie- Nerven. ein Unternehmen, das ein „spezialisier-
wer die Antworten auch selbst aus, um Eine Telefonumfrage kann allerdings tes Interviewerfeld mit 80 Intervie-
sich Peinlichkeiten zu ersparen. Es gibt auch wunderbar einfach sein: wenn wern für medizinisch-pharmazeutische
neue Vorwürfe, wonach in der Marktfor- man nicht nur die Fragen stellt, son- Befragungen bundesweit“ unterhält –
schung viele Umfragen systematisch ge- dern gleich auch die Antworten gibt. oder das jedenfalls in seiner Werbung
fälscht werden. Genau das passiert offenbar nicht sel- verspricht. CSI-Mitarbeiter riefen of-
Güllner: Früher gab es solche Probleme bei ten in der Marktforschung. Dann fenbar tatsächlich einige Ärzte an.
Interviews mit Papier und Bleistift. Das erfinden Interviewer die Ergebnisse. Einen Großteil der Arbeit aber sollte
hat sich durch computergestützte Telefon- Ein Beispiel: Xtandi, ein Medika- eine weitere Firma übernehmen, CSI
interviews und Onlinebefragungen weit- ment für Männer, die an Prostatakrebs reichte den Auftrag teilweise weiter.
gehend erledigt. Die Kontrollmöglichkei- erkrankt sind und bei denen der Tu- Die Firma, die nun ins Spiel kam,
ten sind viel besser als früher. mor bereits gestreut hat. Wie kommt kennt sich damit aus, Daten zu gene-
SPIEGEL: Ein SPIEGEL-Informant hat für es bei Ärzten an? Das wollte der Her- rieren, ohne Anrufe zu tätigen: Ihre
Subunternehmer gearbeitet, die ihre Auf- steller, das Unternehmen Astellas, „Interviewer“ hätten Fragebögen selbst
träge von großen Marktforschungsinstitu- wissen und beauftragte die GfK (Ge- ausgefüllt, so der Subunternehmer,
ten bekamen. Zum Teil erhielt seine Firma sellschaft für Konsumforschung), den und sich dabei an echten Daten orien-
nur wenige Euro pro Interview. Um trotz- Marktführer in Deutschland. Eine tiert, damit die Ergebnisse glaubwür-
dem wirtschaftlich zu arbeiten, so sagt er, recht aufwendige Studie, denn zu be- dig wirken. Im Fall des Medikaments
habe er unterschiedliche Identitäten erfun-
42 DER SPIEGEL 6 / 2018
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Die Psychopathin
Strafjustiz Eine Frau tötete innerhalb
weniger Wochen drei Menschen,
mit bloßen Händen. Wie konnte es
dazu kommen?
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Angeklagte Tuba S.: „Nehmt mich fest, ich hab ihn umgebracht“
D
ie Frau, die eine Gefahr für die All- der Schuld mit anschließender Unterbrin- mat. Sie quartierten sich bei einer Bekann-
gemeinheit sein soll, freut sich. gung in Sicherungsverwahrung. ten ein, wollten auf ein Konzert gehen,
Tuba S. sieht ihre Familie wieder, Wird dieses Urteil rechtskräftig, ist Tuba dann setzte Tuba S. sich ab. Am 2. April
als sie erstmals den Sitzungssaal 207 des S. eine der wenigen Frauen, die in Siche- 2016 kaufte sie Einweghandschuhe und be-
Landgerichts Gießen betritt: Zuschauer- rungsverwahrung kommen, nachdem sie suchte Erich N., 79, den sie für vermögend
raum, zweite Reihe, zwei Verwandte wei- die Haftstrafe verbüßt haben. Derzeit sind hielt. Sie kannte den pensionierten Zau-
nen. Sie lächelt; zuwinken kann sie ihnen mehr als 500 Männer, aber nur eine Frau berkünstler, hatte früher im selben Haus
nicht, ihre Hände sind auf dem Rücken so untergebracht. Tuba S. sei voll schuld- gelebt.
gefesselt. Es ist der 17. Januar 2017, Pro- fähig, sagt die Richterin: „Sie wusste bei Ihre Konten hatte sie zum Teil horrend
zessauftakt, die Anklage lautet: dreifacher jeder Tat, was sie tat.“ überzogen, ihre finanzielle Lage war pre-
Mord. Der Staatsanwalt Thomas Hauburger kär, an Silvester hatten sie und ihre lang-
Tuba S. versteckt sich nicht hinter einem sagt: Die Prognose der Angeklagten sei jährige Lebenspartnerin sich getrennt,
Aktenordner oder hinter ihren Verteidi- „extrem ungünstig“, sie habe eine disso- Tuba S. wollte aus der gemeinsamen Woh-
gern vor den Blicken und den Fotografen. ziale Persönlichkeitsstruktur, psychopathi- nung ausziehen – am liebsten zurück nach
Aufrecht steht sie da, fester Blick, als woll- sche Wesenszüge, einen „Hang zu erheb- Aachen zu ihren Eltern. Die lehnten es ab,
te sie der 5. Großen Strafkammer, dem lichen Straftaten“. Und der Anwalt Roland Tuba S. fühlte sich verletzt.
Staatsanwalt und den Besuchern im Saal Weber spricht für Angehörige zweier Op- Sie hoffte offenbar, Erich N. habe noch
sagen: Ich habe nichts zu verbergen, ich fer, die er als Nebenkläger vertritt: Das Ur- immer größere Summen Bargeld zu Hause.
habe nichts getan. teil lindere keineswegs deren Trauer oder Zwei Jahre zuvor hatte sie ihm 3000 Euro
Ein Jahr später, derselbe Gerichtssaal, Schmerz, aber es mindere den Schrecken. gestohlen, er hatte sie angezeigt, danach
ein anderes Bild. Tuba S., 36, lächelt nicht Wie aber kann eine Frau, die in stabilen hatte sie ihm geschrieben: „Hallo Erich,
mehr. Regungslos hört sie am Dienstag zu, Familienverhältnissen aufwuchs, deren Le- ich bin somit auch vorbestraft, und das hat
als die Vorsitzende Richterin Regine En- ben fast 30 Jahre lang recht konstant ver- mir das Genick gebrochen.“ Wollte sie sich
ders-Kunze das Urteil begründet. Ihre Mut- lief, so etwas tun? Wie wird aus jemandem, auch rächen?
ter, ihre Freundinnen werden später auf der stiehlt und Rezepte fälscht, eine Mör- In seiner Wohnung spielten sich dann,
dem Flur vor dem Saal schreien und wei- derin? Warum tötet ein Mensch innerhalb davon ist das Gericht überzeugt, schreck-
nen. Das Gericht verurteilt Tuba S. zur von fünf Wochen drei Menschen mit blo- liche Szenen ab: Tuba S. schlug Erich N.
höchsten Strafe, die ein deutsches Schwur- ßen Händen? ins Gesicht, warf ihn auf den Küchen-
gericht verhängen kann: lebenslange Haft Anfang April 2016 traf sich Tuba S. mit boden, kniete sich auf seinen Brustkorb,
unter Feststellung der besonderen Schwere Freundinnen in Gießen, ihrer alten Hei- drückte diesen fest zusammen und würgte
46 DER SPIEGEL 6 / 2018
Deutschland
ihn, bis er starb. Danach durchsuchte sie terten Suizid: Sie verteilte Medikamente verdächtigt, schluckte eine große Menge
jedes Zimmer, hebelte eine Schreibtisch- in der Wohnung und schrieb in ein aufge- Schlafmittel und wollte sterben. Sie wurde
schublade auf, suchte den Tresorschlüssel. schlagenes Sudoku-Heft: „Tut mir leid, rechtzeitig gefunden und kam für eine Wo-
Sie stahl einen Laptop, den Wohnungs- Mama“. che in die Psychiatrie.
schlüssel und vermutlich Bargeld. An einer Volksbank-Filiale hob sie – an Aus der Klinik entlassen, sann sie auf
In der Nacht kehrte sie zurück, stapelte den Händen Einweghandschuhe, vor dem Rache. Sie habe das „nachgeholt“, wofür
Windelpakete unter dem Bett, verteilte Gesicht das Halstuch eines der beiden sie zu Unrecht beschuldigt und bestraft
Benzin auf Matratze, Boden und Regal, Opfer – 220 Euro von den Konten der Toch- worden sei, sagte sie dem psychiatrischen
legte Erich N. ein in Terpentin getränktes ter ab. Später versuchte sie bei Händlern Sachverständigen, den die Staatsanwalt-
Handtuch ins Gesicht, montierte die in Düsseldorf, Aachen und Berlin, den schaft bestellt hatte. Tuba S. ging an ihren
Rauchmelder ab. Dann legte sie Feuer. Schmuck zu Geld zu machen. früheren Arbeitsplatz, verkleidete sich als
„Es ist wichtig! Ich muss mit jemandem Für beide Morde gibt es keine Zeugen Ärztin, stahl dort Arzneimittel und Bargeld
reden“, schrieb Tuba S. am 5. April 2016 der Tat, kein Geständnis, aber viele Indi- von Kollegen – und wurde erwischt.
ihrer Freundin Sabine B. Die erinnert sich zien, die nach Auffassung der Kammer nur Danach jobbte sie bei einer Firma in Gie-
vor Gericht, dass zwei Tage später eine einen Schluss zulassen: Tuba S. ist die Tä- ßen, ging zur Kur, nahm Antidepressiva
aufgelöste Tuba S. vor ihr stand: Diese terin. „Die Beweislage ist erdrückend“, und Schlafmittel. Bei Ärzten ließ sie abge-
habe geweint und gesagt, dass sie nicht sagt die Vorsitzende Richterin. stempelte Blankorezepte mitgehen und
wisse, ob sie jemals wieder glücklich wer- Ermittler fanden Wertgegenstände aus fälschte die Rezepte. Sie zog nach Köln, ar-
de, weil sie etwas getan habe. der Düsseldorfer Wohnung bei Tuba S. zu beitete in einem Supermarkt als Kassie-
Kurz darauf schickte Tuba S. ihr eine Hause und am Tatort in Gießen Spuren ih- rerin, bis sie offenbar auch dort entlassen
Nachricht: „Vor zwei Wochen habe ich et- rer DNA. Rechtsmediziner stellten fest: wurde, als es Unregelmäßigkeiten mit ihrer
was getan, was ich nie, aber nie von mir Alle drei Opfer erlitten Verletzungen im Kasse gab und ihr Betrug vorgeworfen wur-
selber gedacht hätte. Und ich hab Schiss, Gesicht, Griffhämatome an den Ober- de. Seither lebte sie von Hartz IV.
dass es noch mal vorkommt oder sogar armen und komprimierende Gewalt gegen Sehr viele Frauen, die töten, haben
schlimmer.“ den Hals. selbst Gewalt erfahren – in ihrer Kindheit,
Einer anderen Freundin schrieb sie: „Ich Tuba S. verzichtete im Prozess darauf, in ihren Partnerschaften. Auch Tuba S. be-
brauche ganz dringend 500 – 600 Euro. irgendetwas zu erklären, sie schwieg. richtete dem Sachverständigen, im Alter
Glaub mir, ich weiß nicht, wen ich von 13 Jahren sei sie von einem
(noch) fragen kann.“ Einen Tag Freund der Familie sexuell miss-
später schickte sie ihrer Ex-Part- braucht worden. Wichtiger aber
nerin eine Sprachnachricht: „Ich war ihr, dem Gutachter das
bin kurz davor, zur Polizei zu ge- schlechte Verhältnis zu ihrer Mut-
hen und zu sagen: Nee, hier, ter zu schildern, die nur 17 Jahre
nehmt mich fest, ich hab ihn um- älter ist als sie. Die Mutter sei
gebracht.“ streng, autoritär, fordernd gewe-
Fünf Wochen nach der ersten Tat sen. Sich selbst bezeichnete Tuba
traf Tuba S. in Düsseldorf, wo sie S. als Papakind. Ihr Vater war es
zu Besuch war, auf Jole G., die auf auch, der nach ihrer Festnahme so-
dem Weg zu ihrer Tochter war. Ver- fort auf der Dienststelle erschien.
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mutlich hielt Tuba S. die elegante Als Tuba S. im Alter von 20 Jah-
86-Jährige, die auffälligen Gold- ren ihrer Mutter erzählte, dass sie
schmuck trug, für wohlhabend. lesbisch sei, habe sich die Bezie-
Bot Tuba S. der Älteren Hilfe an? hung zwischen beiden nachhaltig
Oder drängte sie sich unaufgefor- Richterin Enders-Kunze (M.), Beisitzer in Gießen verschlechtert. Nachdem sie ihrer
dert mit in die Wohnung der Toch- Kein Geständnis, aber viele Indizien Mutter im März 2016 in einem
ter, die noch nicht zu Hause war? Brief von dem sexuellen Miss-
Fest steht nach Ansicht des Gerichts: Geboren wurde sie 1981 in Aachen. Ihr brauch in der Kindheit berichtet hatte,
Tuba S. überwältigte Jole G., schlug sie Vater arbeitet als Kfz-Mechaniker in einer habe diese gereizt und verärgert reagiert,
nieder, kniete sich auf sie und schnürte ihr Autowerkstatt, ihr Bruder ist Großhandels- so berichtete es Tuba S. dem Sachverstän-
mit deren Halstuch die Luft ab, bis ihr Op- kaufmann. Sie erhielt gute Zensuren, be- digen – der einzige Moment während der
fer starb. Sie nahm der Frau den Schmuck suchte das Gymnasium, fiel jedoch durchs Begutachtung, in dem sie weinte.
ab und lauerte der Tochter, Sylvia F., auf. Abitur, in der mündlichen Prüfung im Fach Der Sachverständige sah Hinweise auf
Als diese nach Hause kam, ging Tuba S. Pädagogik hatte sie eine Sechs bekommen. eine schwer gestörte Persönlichkeit. Vor
auch auf sie los, schlug sie zu Boden, die Mit der Fachhochschulreife studierte sie Gericht zeichnete er das Bild einer auffal-
Tochter prallte gegen die Heizung, verletz- in Gießen Medizintechnik, nach acht Jah- lend empathielosen, manipulierenden Frau
te sich schwer am Kopf. Tuba S. verab- ren exmatrikulierte sie sich ohne Ab- mit psychopathischem Charakter. Auffällig
reichte der Tochter zwei, drei Tabletten schluss. sei, so die Kammer, dass sie nach den Mor-
Zopiclon, ein Schlafmittel, das die Hand- Sie begann eine Ausbildung als Kran- den stundenlang an den Tatorten geblie-
lungsfähigkeit enorm einschränken kann, kenschwester. Sie litt wie im Studium unter ben sei, nahe den Leichen. Das beweise
vermutlich um Sylvia F. die PIN-Codes für Schlafstörungen, nahm regelmäßig Zopi- eine besondere Gefühlskälte.
zwei EC-Karten zu entlocken. clon, das Mittel, das sie nach Ansicht des Nach dem ersten Mord waren die Er-
Tuba S. durchwühlte die Wohnung, die Schwurgerichts auch Sylvia F. verabreicht mittler recht schnell auf die ehemalige
Portemonnaies, stahl Schmuck, eine hatte. Der Stress im Krankenhaus setzte Nachbarin Tuba S. gestoßen und luden sie
Schmuckschatulle, DVDs sowie einen Ehe- ihr zu, sie erhöhte die Dosis auf bis zu als Zeugin vor. Die hatte eine Freundin
ring – und erstickte Sylvia F. mit einem zehn Tabletten pro Tag. Angeblich bestahl um ein falsches Alibi gebeten und mordete
Kissen oder erwürgte sie. Anschließend in- sie Patienten und Mitarbeiter, sie verlor wenige Tage später erneut. Julia Jüttner
szenierte sie den Doppelmord als erwei- ihre Stelle. Tuba S. fühlte sich zu Unrecht Mail: julia.juettner@spiegel.de
men, weiß die „Deutsche Apotheker Zei- Die Chefin der Mohren-Apotheke im
Mohr oder tung“. Die Nürnberger „Mohren-Apothe- Frankfurter Stadtteil Eschersheim ist Grei-
ke zu St. Lorenz“ heiße schon seit 1578 so ner entgegengekommen. Sie hat ihr altes
und wolle daran auch nichts ändern. Der Logo abgeschafft, es zeigte einen schwar-
Möhre Besitzer hat viel zur Herkunft des Namens zen Menschen mit Turban. Allerdings sieht
geforscht: Nach einer Erklärung leite sich sie „keinen Anlass“, auch den Namen zu
der Name von den Mauren ab, die vor ändern. Zumal dies mit hohen Kosten ver-
Sprache Das wird man ja wohl Jahrhunderten die moderne Pharmazie bunden wäre, auch die Betriebserlaubnis
nach Mitteleuropa gebracht hätten. müsste dann geändert werden.
noch mal fragen dürfen: Sollen Doch immer wieder gebe es „wütende Komplizierter ist der Fall von Alexander
Apotheken, Gaststätten, Hotels Proteste“ vor Mohren-Apotheken, so das Schwartz („Ich heiße wirklich so“) und sei-
noch „zum Mohren“ heißen? Fachblatt: Manche Apotheker klagten über ner Apotheke an der Einkaufsstraße Zeil
Anschläge mit Farbbeuteln oder einge- im Stadtzentrum. Er hat Kunden und An-
Die Frankfurter streiten darüber. schlagene Schaufenster. gestellte vieler Nationalitäten, Religionen,
In Frankfurt kämpft Virginia Wangare Hautfarben. Selbst ein vager Rassismus-
D
as Papier trägt das Wappen der Greiner gegen den „Mohren“. Sie ist in verdacht könnte in dieser multikulturellen
Stadt, die Beschlussnummer K 74 Kenia geboren, wohnt seit drei Jahrzehn- Citylage geschäftsschädigend wirken.
und die Überschrift „Kein Ras- ten in der Stadt und sitzt seit zwei Jahren Bis 2017 nannte Schwartz seinen Betrieb
sismus im Stadtbild Frankfurts“. Darun- in der KAV. Ihr gehe es, sagt sie, auch um nur „Zeil-Apotheke“. Als er im Juli umzog,
ter die Aufforderung an die Verantwort- die Bilder und Assoziationen, die der Be- in ein Gründerzeitgebäude um die Ecke,
lichen der Stadt, „mit Nachdruck“ dafür griff transportiere: Schwarze mit dicken erweiterte er den Namen um den Zusatz
zu sorgen, dass zwei Apotheken ihre Lippen und dicken Ohrringen, ebendiese „zum Mohren“. So lautet der Schriftzug
Namen ändern. Die „Mohren-Apotheke“ Klischeemotive aus der Kolonialzeit, in auf der alten Steinfassade direkt über dem
und die „Apotheke zum Mohren“ müss- der Afrikaner in Europa allenfalls als Schaufenster. „Ich habe mir nichts dabei
ten „aus dem Stadtbild Frankfurts ver- Barbaren und Wilde wahrgenommen wor- gedacht“, sagt Schwartz, „das war halt der
schwinden“. den seien. Name einer früheren Herberge hier.“
Die Absichten dahinter sind Ändern kann er an dem
ehrenwert, die Absender eben- Schriftzug nichts: Das im Jahr
falls: die Vertreter jener rund 1900 erbaute Haus sei „ein Kul-
26 Prozent der Einwohner von turdenkmal“, Fassade samt In-
Frankfurt am Main, die keine schrift stünden unter Schutz,
deutschen Papiere besitzen und sagt Andrea Hampel, die Lei-
dennoch mitreden wollen in ih- terin des Frankfurter Denkmal-
rer Stadt. Was die Kommunale amts. Sie hält die Aufschrift
Ausländer- und Ausländerinnen- auch gar nicht für rassistisch.
vertretung (KAV) beschließt, Oft besage solch eine Bezeich-
hat keine bindende Wirkung. nung doch nur, dass dort ein
Aber es kann eine Debatte aus- Gasthaus oder ein Betrieb von
lösen – und was für eine. jemandem mit dem Namen
Seit gut zwei Wochen disku- Mohr geführt worden sei, sagt
tieren die Frankfurter über die Hampel.
zwei Apotheken. Kein Rassis- Apotheker Schwartz will nun
mus bitte, da sind sich natürlich gemeinsam mit den Ausländer-
alle einig. Doch müssen des- vertretern nach einer Lösung
halb Geschäfte umbenannt wer- suchen, um eine Eskalation zu
den, muss der „Mohr“ gehen? vermeiden. In anderen Städten
Oder sind die Bezeichnungen wurde der Konflikt zum Teil
nicht vielleicht sogar Ausdruck mit Guerillamethoden ausge-
von Hochachtung gegenüber tragen.
morgenländischer Heilkunst? In Bremen versuchten Akti-
Der Mohr hat jedenfalls sei- visten vor einigen Jahren, ei-
ne Schuldlosigkeit vertan, der ne Mohren-Apotheke im Stadt-
Ton ist teilweise ruppig. Das teil Neustadt mit etwas Farbe
war schon so, als es Streit gab und zwei aufgemalten Pünkt-
um die „Mohrenköpfe“, die chen umzubenennen. Nach-
nun Schokoküsse heißen, und dem die ö-Pünktchen von der
um den „Sarotti Mohr“, inzwi- „Möhren-Apotheke“ wieder ver-
schen abgelöst vom „Sarotti schwunden waren, fehlte ir-
CHRISTOPH BOECKHELER / DER SPIEGEL
*
Beispiel-Kalkulation für den Opel Astra Sports Tourer Selection 1.0 ECOTEC® Direct Injection Turbo, 77 kW (105 PS)3, mit Start/Stop, 5-Gang-Schaltgetriebe: monatliche Finanzierungsrate1 ab € 80,00, effektiver Jahreszins 1,90 %,
einmalige Anzahlung € 2.288,98, Gesamtbetrag2 € 12.681,68, Laufzeit 37 Monate, Schlussrate € 9.791,60, Nettodarlehensbetrag (Gesamtkreditbetrag) € 12.047,27, Gesamtkosten (Zinsen) € 634,41, Sollzinssatz p. a. gebunden für die
gesamte Laufzeit 1,88 %, Barzahlungspreis bei Kauf (brutto) € 14.336,25. **Beispiel-Kalkulation für den Opel Insignia Sports Tourer Selection 1.5 Direct Injection Turbo, 103 kW (140 PS) 4, mit Start/Stop, 6-Gang-Schaltgetriebe: monatliche
Finanzierungsrate1 ab € 153,00, effektiver Jahreszins 2,90 %, einmalige Anzahlung € 3.341,59, Gesamtbetrag 2 € 18.957,72, Laufzeit 37 Monate, Schlussrate € 13.447,56, Nettodarlehensbetrag (Gesamtkreditbetrag)
€ 17.587,31, Gesamtkosten (Zinsen) € 1.370,41, Sollzinssatz p. a. gebunden für die gesamte Laufzeit 2,86 %, Barzahlungspreis bei Kauf (brutto) € 20.928,90. Abb. zeigt Sonderausstattung. 1Ein Wechselbonus (für den Ersatz eines
Fremdfabrikates durch ein Opel Modell) in Höhe von € 750,00 ist auf die Finanzierungsraten angerechnet – nicht kombinierbar mit anderen Aktionsangeboten. Ein unverbindliches Gewerbekunden-Angebot (Bonität vorausgesetzt)
der Opel Bank GmbH, Mainzer Straße 190, 65428 Rüsselsheim. Das Finanzierungsangebot versteht sich auf Grundlage des Fahrzeugpreises exkl. MwSt., zzgl. Überführungskosten. Das Angebot ist gültig bis 31. 03. 2018 und nur, solange
der Vorrat reicht. Nach Vertragsabschluss steht Ihnen ein gesetzliches Widerrufsrecht zu. 2Summe aus den monatlichen Raten sowie einer eventuell vereinbarten erhöhten Schlussrate.
3
Kraftstoffverbrauch Opel Astra Sports Tourer Selection 1.0 ECOTEC® Direct Injection Turbo, 77 kW (105 PS), mit Start/Stop, 5-Gang-Schaltgetriebe, innerorts 5,5 l/100 km, außerorts
4,0 l/100 km, kombiniert 4,6 l/100 km; CO2 -Emission kombiniert 105 g/km (gemäß VO (EG) Nr. 715/2007).
4
Kraftstoffverbrauch Opel Insignia Sports Tourer Selection 1.5 Direct Injection Turbo, 103 kW (140 PS), mit Start/Stop, 6-Gang-Schaltgetriebe, innerorts 7,5 l/100 km, außerorts
4,9 l/100 km, kombiniert 5,9 l/100 km; CO2 -Emission kombiniert 133 g/km (gemäß VO (EG) Nr. 715/2007).
Früher war alles schlechter
Nº 110: Genitalverstümmelung
Q UE LLE: UN I CEF; G EWI CH TETE MI T TELWERTE AUF BASI S V ERG LEI CH BA R ER DATEN
1985 waren in rund 30 Ländern, in denen die weibliche 2015
Genitalverstümmelung verbreitete Praxis ist, noch 37 Prozent
51 Prozent der 15 - bis 19-jährigen Mädchen betroffen.
Unbeschnitten. Nice Leng’ete ist eine Heldin. Als sie im AlterGenitalverstümmelung. Aber, so sagt Unicef, der Anteil der
von acht Jahren beschnitten werden sollte, in ihrem Dorf in Neubetroffenen sinkt seit drei Jahrzehnten. In den rund
Kenia, rannte das Massai-Mädchen davon und versteckte sich 30 Ländern, in denen repräsentative Daten vorliegen, ist heute
die ganze Nacht, auf einem Baum. Später weigerte sich das noch jedes dritte 15- bis 19-jährige Mädchen (37 Prozent)
Kind nicht nur immer wieder, sich dem Ritual zu unterwerfen; beschnitten, Mitte der Achtzigerjahre war es jedes zweite
es überzeugte mit den Jahren die Stammesältesten und mit (51 Prozent). Die Richtung der Entwicklung stimmt also, aber
ihnen die ganze Gemeinde, dieser jahrhundertealten Praxis sie verläuft noch zu langsam: Die Bevölkerung wächst schnel-
abzuschwören, bei der die Genitalien der Mädchen verletzt ler, als die Beschneidungsraten sinken, sodass die absolute
oder abgeschnitten werden, im Glauben, erst dies mache sie Zahl der Opfer weiterhin steigt. Am Dienstag, dem 6. Februar,
zu Frauen. Nice Leng’ete ist heute 27 Jahre alt, reist um die ist der Internationale Tag gegen weibliche Genitalverstüm-
Welt, erzählt ihre Geschichte als TED-Talk oder der „New melung, und Unicef glaubt, die Praxis bis zum Jahr 2030 besie-
York Times“, aber vor allem kämpft sie zu Hause weiter. Welt- gen zu können. Es wird noch viele Frauen wie Nice Leng’ete
weit sind rund 200 Millionen Frauen und Mädchen Opfer von brauchen, damit das gelingt. guido.mingels@spiegel.de
Brauchtum Pöttgen: Ja, soll sie vorher fra- SPIEGEL: Ihre Frau war 18 Jahre
Darf man noch Bützje geben im Kölner gen, ob Sie aus Hamburg lang Funkenmariechen. Machte
Karneval, Herr Pöttgen? oder Bergheim bei Köln kom-
men? Es ist nicht ernst ge-
sie nie schlechte Erfahrungen?
Pöttgen: Nein, weil ihr Korps
Jochen Pöttgen, 55, Sprecher SPIEGEL: Wer schon im Kölner meint und ganz sicher auch immer ein Auge auf seine
der Karnevalsgesellschaft Karneval war, weiß, da ist nicht sexuell. Aber es stimmt Mariechen hatte. Aber das
Reiter-Korps Jan von Werth, was los. Es kommt nicht sel- schon: Sosehr wir uns über würde ich nicht mit der
über närrische Kussrituale ten vor, dass Männer Frauen Karnevalsbesucher von #MeToo-Debatte vermengen.
begrapschen. Oder es als außerhalb freuen, manche ha- SPIEGEL: Warum nicht?
SPIEGEL: Herr Pöttgen, bald Aufforderung verstehen, ben das nicht verstanden. Ich Pöttgen: Bei #MeToo geht es
ist Rosenmontag, gefährdet wenn sie von einer wildfrem- empfehle eine kurze Internet- um Macht. Da nutzt jemand –
die #MeToo-Debatte den Dame spontan geküsst recherche zum Thema. meist ein Mann – seine Posi-
die Ausgelassenheit im Kar- werden, an Weiberfastnacht. tion aus, um jemand anderen
neval? Das muss doch etwas bedeu- zu etwas zu zwingen, was er
Pöttgen: Glaube ich nicht. Es ten, glauben viele Männer. nicht will. Das ist unanstän-
gibt ein Wort, das hier wirk- Pöttgen: Es bedeutet, dass dig, vielleicht auch kriminell,
INA FASSBENDER / REUTERS
lich zählt: Respekt. Man kann diese Frau Ihnen ein Bützje, aber ich würde nicht den
flirten, man kann sich einha- ein Küsschen, geben wollte. Bogen zum Karneval ziehen.
ken, zusammen feiern, aber SPIEGEL: Schon irritierend, Die meisten wissen bei uns
nur wenn beide Seiten das wenn man das nicht kennt. ganz genau, was angebracht
wollen. Nur dann. Eigentlich Zumal es die Bützje auch un- ist und was nicht. Männer und
ganz einfach. vermittelt auf den Mund gibt. Frauen. jmo
B
eate Schmitt kommt gerade von der Wassergymnas- Der Rechnungsprüfer hatte recht. Laut § 3 GlüStV liegt
tik, eine dezent geschminkte Dame von 82 Jahren, ein Glücksspiel vor, wenn „für den Erwerb einer Gewinn-
rote Brille, goldene Ohrringe. Sie nimmt in der Kü- chance ein Entgelt verlangt“ wird, wenn die Entscheidung
che des Seniorentreffs der Riehler Heimstätten Platz und über den Gewinn „vom Zufall abhängig“ ist und wenn „für
sagt: „Dass man uns älteren Menschen diesen Spaß auch einen größeren, nicht geschlossenen Personenkreis eine
noch nehmen wollte, ist wieder typisch deutsch!“ Teilnahmemöglichkeit besteht“. Formaljuristisch erfüllt der
Seit 2003 lebt Schmitt in dem Kölner Altenheim, und Bingonachmittag also alle Bedingungen des Glücksspiels,
seither hat sie dort jeden Dienstag Bingo gespielt, 15 Jah- ohne Genehmigung ist er illegal. Wenn die Bingokarten
re lang. Im Dezember war damit plötzlich Schluss. Per kostenlos wären, gäbe es kein Problem. Aber zum einen
Aushang am Schwarzen Brett teilte die Geschäftsführung kaufen die Betreuer von den Einnahmen die Preise, und
mit, die Veranstaltung könne wegen gesetzlicher Vorgaben zweitens wollen die Senioren ihr Geld einsetzen, unbedingt.
bis auf Weiteres nicht stattfinden, man arbeite an einer „Sonst macht es nicht so viel Spaß“, sagt Beate Schmitt.
Lösung, „es tut uns leid“. Auf den Das Heim, die Stadtverwal-
Fluren machte bald die Theorie tung und die Bezirksregierung
die Runde, dass es sich bei Bingo kabbelten sich um Spitzfindig-
aus Sicht der Behörden mög- keiten. Laut Gesetz kann eine
licherweise um ein Glücksspiel sogenannte kleine Lotterie nur
handle, und das sei ohne Ge- genehmigt werden, wenn der
nehmigung illegal. „Ich sehe da Losverkauf die Dauer von drei
keinen Sinn drin“, sagt Schmitt. Monaten nicht überschreitet.
„Wir sind doch keine Ganoven.“ Wenn nun jeden Dienstag ge-
In den Riehler Heimstätten spielt wird – dauert der Verkauf
wird schon so lange Bingo ge- dann jeweils nur einen Tag oder
spielt, dass niemand mehr weiß, insgesamt ein Jahr?
SOZIAL-BETRIEBE-KÖLN
E
s ist ein Dienstag im Herbst, vier dem Klassenraum, einer vom Schulleiter, von Flüchtlingsdebatte und Terrorfurcht,
Wochen sind vergangen, seit sie aus ein weiterer von der Pausenaufsicht. Zwei unheilvoll verbinden.
dem Fenster ihres Klassenzimmers Beamte eilen zur Oberschule am Wasser- Carlo Eggeling, der Lokalreporter, sitzt
stürzte, aus dem dritten Stock, zwölf Meter turm, einem schmucken, sorbetgelben Bau noch am selben Tag an seinem Redak-
tief, auf harten Stein. Sie könnte tot sein, aus dem 19. Jahrhundert, drei Stockwerke, tionsschreibtisch und tippt seinen Artikel
doch gestern wurde sie 13 Jahre alt. hohe Flügelfenster zum Hof. über Maram. Er schreibt:
Sie sitzt in einem Rollstuhl in der Ein- Der Krankenwagen ist bereits da, als die „Es gab schon vorher den Verdacht, dass
gangshalle des Krankenhauses in Hamburg- Polizisten eintreffen, die Sanitäter versor- sich das Mädchen radikalisieren könnte,
Bergedorf unter vielen Lagen medizinischen gen Maram, die schwer verletzt auf dem heißt es. Der Teenager soll Kontakte zu is-
Tuchs, unter einer Haube und mit blauen Schulhof liegt, während der Rettungshub- lamistischen Kreisen in Hamburg haben.“
Plastikhandschuhen, Maram Mustafa, ein schrauber versucht, auf einem nahe gele- Am nächsten Morgen liegt die Ausgabe
Kind mit langen, glatten Haaren und großen, gen Platz im Zentrum zu landen, direkt am Kiosk.
kaffeebraunen Augen. 14 Brüche hat sie in vor den Fenstern der Lüneburger „Landes-
den Beinen, ihre Leber war verrutscht, sie zeitung“. Die Redaktion ist keine 3oo Me- In ihrem hellblau gemusterten Nachthemd
hatte Risse in beiden Nieren, die Wirbelsäu- ter von der Schule entfernt. Es dauert nicht sitzt Maram vier Wochen später im Roll-
le ist verletzt und ihre rechte Hand. „Guck, lange, und ein Lokalreporter ist unterwegs. stuhl und sagt: „Ich bin nicht gesprungen,
da ist jetzt überall Metall drin“, sagt sie und Einige Monate später schiebt Carlo ich bin gefallen.“ Und sie kenne noch nicht
zeigt auf ihre Beine. Sie weiß zu diesem Eggeling sein schwarzes Fahrrad durch die mal den genauen Namen dieser Truppe,
Zeitpunkt nicht, ob sie je wieder wird laufen Lüneburger Fußgängerzone in Richtung mit der sie etwas zu tun haben soll. „Wie
können. Doch ihr Blick ist stolz. Sie lebt. Redaktion, seit 27 Jahren schreibt er über heißen die noch mal? Hisbollah?“, fragt
Lüneburger „Landeszeitung“ vom 23. Au- das Leben in der kleinen Stadt, berichtet sie und schaut zu ihrer Mutter Muna hoch,
gust 2017: „Drama um ein Flüchtlingskind: über Unfälle, fährt los, wenn es Feuer gibt, einer kleinen Frau in Röhrenjeans, mit
12-Jährige stürzt sich aus Fenster“. So lau- schreibt über Tötungsdelikte und Obdach- festem Blick und toupierten Haaren. Ihre
tete am Tag nach dem Sturz die erste Schlag- lose, ein netter Typ mit dunkel gerahmter Mutter sagt: „Daisch“, die arabische Be-
zeile zu Marams Fall, und viele weitere Brille, Cordsakko und einem silbernen zeichnung für den „Islamischen Staat“.
sollten folgen. Während die Ärzte Maram Ring im rechten Ohrläppchen. Maram schiebt die Frage, warum sie
zusammensetzten, während sie im Koma Als er an jenem Tag etwa 20 Minuten die Öffentlichkeit zur Terroristin machte,
lag, mutmaßte Lüneburg und bald auch der nach dem Unfall die Schule erreicht, ist immer wieder in ihrem Kopf herum. Sie
Rest des Landes, wer dieses Mädchen aus Maram gerade abtransportiert worden, so glaubt, es habe auch damit zu tun, dass sie
Aleppo ist. Wollte sie als „,Kriegerin‘ nach erzählt er es. Sanitäter bringen das Mäd- einmal im Unterricht die Flagge der Freien
Syrien“, wie die „Welt“ vermutete? Hatte chen in das nächste Krankenhaus, von wo Syrischen Armee auf einen Zettel malte,
sie „Kontakt zur Islamistenszene?“, wie aus sie nach Hamburg-Bergedorf geflogen einer Rebellenkoalition, die gegen Macht-
az-online.de glaubte? Sprang sie „wegen wird, in eine Unfallklinik. Die Türen der haber Assad kämpft. Alle Schüler sollten
Radikalisierung?“ aus dem Fenster, wie die Schule sind zu. Eggeling findet nur eine etwas Persönliches malen, sagt sie, manche
„Mopo“ fragte? Der Bürgermeister Lüne- Blutlache am Boden des Schulhofs vor. malten Deutschlandfahnen. Sie habe auf
burgs veröffentlichte eine Pressemitteilung, Er wählt mehrere Telefonnummern. Arabisch „Allahu akbar“ unter ihr Bild
der Staatsschutz ermittelte bundesweit, der „Ich kenne da ein paar Leute“, sagt er. Die- geschrieben, sagt Maram, nichts Außer-
Mob im Netz schrieb Hasskommentare. So se Leute, Lehrer vermutlich, erzählen ihm gewöhnliches für eine Muslima. „Was heißt
wurde aus einem Mädchen, dem ein großes Dinge, die aus der bloßen Unfallgeschichte das? Warum schreibst du so was?“, habe
Unglück widerfahren war, eine böse Me- etwas Größeres machen, eine echte Story: ihre Klassenlehrerin gefragt. „Gott ist groß“,
dienfigur: eine zwölfjährige Schülerin, die dass das Mädchen aus Syrien stamme, dass habe sie gesagt. Die Lehrerin habe Maram
als IS-Kämpferin nach Syrien ziehen will. es Probleme in der Schule gehabt habe, komisch angesehen und sei weggegangen.
Wenn man mit Maram spricht, spürt dass es zu einer Vertrauenslehrerin gesagt Ein anderes Mal habe es einen Konflikt
man die Wut, die sich in ihr aufgestaut habe, es wolle bald ein Kopftuch tragen gegeben, weil Maram sich weigerte, sich
hat, sie spricht schnell und laut. Sie will und in den Krieg nach Syrien ziehen. für das Klassenfoto fotografieren zu lassen.
erklären, wer sie ist. Und wer sie nicht ist; Ähnliches notieren sich auch die Polizei- „Vielleicht trage ich ab nächster Woche
vor allem das. Alle redeten über sie, sagt beamten, die dabei sind, die Lehrer zu be- Kopftuch“, habe sie gesagt, „ich kann jetzt
sie. „Nur mit mir hat keiner geredet.“ Die fragen. So bekommt die Gerüchtekette nicht mit aufs Foto, sonst haben ja alle
Polizei nicht, die Schule nicht, niemand ihre ersten Glieder. Der Kriminaldirektor ein Bild von meinen Haaren.“ Ihre ältere
hat Maram selbst gefragt, warum sie auf der Polizei spricht später von einem „Stille- Schwester Hanan kam ab ihrem 14. Ge-
den Fenstersims kletterte und fiel. Post-Effekt“, der in diesen Minuten seinen burtstag verschleiert zur Schule. „Ich war
Anfang nimmt. Es beginnt ein Kreislauf so neidisch auf sie“, sagt Maram. Sie wollte
Am Vormittag des 22. August, um 11.46 Uhr, des Hörensagens, in dem Begriffe fallen wie die großen Mädchen sein, das Kopf-
gehen in der Leitstelle der Lüneburger wie „Syrien“, „Kopftuch“, „Kämpferin“ tuch ist für sie ein Zeichen von Reife.
Polizei und des Rettungsdienstes drei Not- und „Islam“ – Reizworte, die sich im deut- „Ich habe Angst vor der Zeit nach dem
rufe ein, einer von Marams Lehrerin aus schen Angstklima, vor dem Hintergrund Krankenhaus. Dass ich nach Lüneburg
52 DER SPIEGEL 6 / 2018
Gesellschaft
Patientin Maram im Krankenhaus, einen Monat nach dem Sturz: „Nur mit mir hat keiner geredet“
komme und alle glauben, was über mich Seit Marams Sturz lernt Familie Mustafa manchmal Heimweh nach Syrien. Und
gesagt worden ist“, sagt das Kind. Deutschland im Zeitraffer kennen. Seine auch, dass sie kämpfen wolle. Sie meinte:
Behörden, die Polizei, sein Gesundheits- gegen Assad, für den Frieden. Nicht für den
Der Tag, an dem sich das Leben der Familie system, seine Medien, sein Rechtssystem. IS. Nur hat das niemand verstanden.
Mustafa in Deutschland drehte, begann Seine Fürsorge, aber auch seine Vorurteile. Deutschland ist nervös. Man liest von Is-
wie jeder andere, es war der 22. August Da sind Menschen, die ihnen helfen lamisten, von Schläferzellen, von verführ-
vergangenen Jahres. Nach dem Morgen- wollen. Menschen, die ihnen Ratschläge baren muslimischen Jugendlichen und ge-
kaffee weckten die Eltern ihre vier Mäd- erteilen. Menschen, die die Mustafas nicht waltbereiten Rückkehrern. Und immer,
chen, sieben Töchter haben sie, die ältes- verstehen und die umgekehrt auch für die wenn wirklich etwas passiert in Deutsch-
ten drei sind schon verheiratet und aus Mustafas ein Rätsel sind. land oder in Europa, ein Anschlag oder ein
dem Haus. Vor ein paar Tagen zum Beispiel saß Attentat, heißt es, dass man die „Zeichen
Die Schwestern, 7, 10 und 14 Jahre alt, eine Mitarbeiterin vom Jugendamt bei Ma- hätte erkennen können“. Dass die späteren
gingen ins Bad, um sich schulfertig zu ma- rams Eltern im Wohnzimmer und legte ihre Täter „schon lange auffällig“ waren, dass
chen. Nur Maram, die 12-Jährige, für die Schablonen über Marams Fall. Das erzählt die „Behörden versagten“. So wird ein mus-
die siebte Klasse begonnen hatte, kam in die Mutter, während sie vor dem Kranken- limisches Kind, das „Allahu akbar“ schreibt
Schlafsachen die Treppe runter und sagte: haus eine Zigarette raucht. Die Frau habe und Kopftuch tragen will, für viele zur
„Ich will nicht in die Schule.“ Schon in den darüber reden wollen, wie es mit Maram potenziellen Bedrohung. Die Grenze zwi-
Sommerferien hatte das angefangen. Ma- weitergehen solle, sagt Muna, sie habe von schen Vorsicht und Vorurteil verschwimmt.
ram erzählte in dieser Zeit öfter, sie habe Marams „Traumatisierung“ gesprochen. Maram erinnert sich, dass es zur Pause
Probleme mit ihrer Klassenlehrerin. „Was ist das bei den Deutschen mit dieser klingelte an jenem Vormittag und die Leh-
Familie Mustafa ist seit fünf Jahren in Traumatisierung?“, fragt sie, „Maram ist rerin sagte: „Maram, wir gehen zum Schul-
Deutschland, Maram war sieben Jahre alt, nicht traumatisiert“, sagt die Mutter, „das leiter.“ Dort habe sie sich Marams Schul-
als der Krieg kam und sie zusammen mit ist nicht ihr Problem. Maram ist hyperak- verweis bestätigen lassen.
ihren Eltern und Geschwistern ihre Hei- tiv.“ Nur weil sie aus Syrien komme, heiße Gemeinsam gingen sie zurück in die Klas-
matstadt Aleppo verließ. Die Mustafas das nicht, dass sie psychisch gestört sei. se, so erinnert sich Maram. Sie sollte ihre
ließen ihr Haus zurück, den Supermarkt, „Wir sind ganz gewöhnliche Menschen.“ Sachen packen, während die Lehrerin ver-
von dessen Einkünften sie ein gutes Doch wahr ist auch: Marams Verhalten sucht habe, Marams Vater zu erreichen, da-
Leben hatten, die Freunde, die Verwand- an jenem Morgen im August ist schwer zu mit er sie abholt. Er ging nicht ans Telefon.
ten. 2013, nachdem sie fast ein Jahr lang begreifen, und Probleme in der Schule hat- Also sollte Maram sich vor das Direktoren-
unterwegs gewesen waren, erreichten sie te sie schon länger. zimmer setzen und eine Strafarbeit schrei-
Berlin. Sie habe oft Ärger, sagt Maram, „weil ben, bis die Schule ihren Vater erreicht hätte.
Die Behörde registrierte die Familie und ich nerve im Unterricht“, „weil ich störe“. Maram sagt, sie habe diese Ungerech-
schickte sie nach Lüneburg. Sie waren jetzt Manchmal fühle sie sich ungerecht be- tigkeit nicht aushalten können. „Stell dir
Geduldete in einem fremden Land. handelt, und dann rede sie dagegen an. vor, ich fliege von der Schule und soll auch
Die ersten Jahre lebten die Mustafas in Besonders bei ihrer Klassenlehrerin. „Die noch abschreiben! Das ist doppelte Strafe.
einer Flüchtlingsunterkunft, einer ehema- macht mich verrückt, die hasst mich“, sagt Zu viel. Ich wollte einfach nach Hause.“
ligen Kaserne, es gab wenig zu tun. Doch Maram, „die denkt, ich bin nicht normal.“ „Du gehst jetzt abschreiben“, habe die
Maram sei schnell angekommen in diesem Das Verhältnis zu ihrer Klassenlehrerin Lehrerin gesagt. Sie hätten sich hin und
neuen Leben, so erzählt es Muna, die Mut- beschreibt sie so, wie 13-Jährige eben über her gestritten. Und dann kam der Moment,
ter. Sie habe rasch Deutsch gelernt, habe ihre Lehrer reden. Da ist viel Drama in in dem bei Maram im Kopf etwas ver-
Freunde gefunden, sei gern zur Kindertafel ihren Erzählungen, viel Emotion, vielleicht rutscht sein muss. Sie habe auf dem Fens-
gegangen, einem sozialen Projekt, das Kin- ein bisschen Fantasie. Da die Lehrerin wie terbrett gesessen, am hintersten Fenster,
dern ein Mittagessen anbietet, eine Spiel- auch die Schulleitung sich zu dem Fall dort, wo auch ihr Pult stand, und habe ge-
gruppe, Darts, Kicker, Hausaufgabenhilfe. nicht äußern wollen, ist es schwer zu be- sagt, dass sie springen werde, wenn die
Man nennt das: Integration. urteilen, was wirklich vorgefallen ist. Wie Lehrerin sie nicht gehen lasse. So zumin-
Maram sei allerdings schon damals ein viel von dem, was Maram als ungerecht dest ist es in ihrer Erinnerung.
bisschen anders gewesen als die anderen empfand, auch wirklich ungerecht war. „Ich wollte nicht springen, ich wollte ihr
Mädchen. Sie spielte lieber mit Jungen, Maram war eine auffällige Schülerin, so drohen, ich wollte ihr Angst machen, da-
kickte Bälle, tobte, schlug auch mal. „Sie viel scheint sicher. Es muss herausfordernd mit sie mich rauslässt“, sagt Maram. Die
ist eben sehr aktiv“, sagt die Mutter, gewesen sein, anständigen Unterricht zu Lehrerin habe nicht versucht, sie abzuhal-
„manchmal ein bisschen zu doll.“ machen und gleichzeitig mit einem Kind ten, sie habe immer weiter geschimpft.
Am Morgen des 22. August fragten die wie Maram umzugehen. Dann sei ihr schwindelig geworden, sagt
Eltern ihre Tochter: „Warum willst du nicht In der sechsten Klasse gab es ihretwegen Maram. Sie sah nach unten und stürzte.
in die Schule?“ eine Klassenkonferenz, eine Disziplinar- In der Aussage der Lehrerin gegenüber
Sie könne nicht hingehen, weil sie maßnahme. Maram hatte zu oft den Un- der Polizei klingt es anders: Maram sei,
Ärger habe mit der Lehrerin, „die macht terricht gestört und nachsitzen müssen, im nachdem sie von der Suspendierung erfah-
so viel Druck“. Vermutlich wusste Maram „Trainingsraum“ der Schule. „Siebenmal ren habe, ohne etwas zu sagen, aus dem
da schon, dass sie vom Unterricht aus- Trainingsraum bedeutet Klassenkonfe- Fenster geklettert und gesprungen. Sie
geschlossen werden sollte, als Strafmaß- renz“, sagt Maram. Dort wurde vereinbart, selbst habe währenddessen am Pult geses-
nahme. Den Eltern hatte sie davon nichts dass sie vom Unterricht ausgeschlossen sen und telefoniert.
erzählt. wird, wenn sie ihr Verhalten nicht ändert.
„So geht das aber nicht in Deutschland“, Eine Woche vor dem Sturz habe sie aber Carlo Eggeling, der Lokalreporter, sagt, es habe
habe der Vater gesagt. Sie müsse zur Schu- wieder im Trainingsraum gesessen, erzählt ihn selbst überrascht, wie groß die ganze
le gehen, das sei Gesetz. Maram stampfte Maram. Sie habe im Unterricht geredet. Geschichte dann geworden sei. „Wir hatten
die Treppe hoch, zog sich an. Dann ver- Kurz darauf fiel in einem Gespräch mit der die ja als Einzige. Großer Bericht, Seite
schwand sie ohne Abschied, sie nahm den Vertrauenslehrerin jener Satz, der Maram drei, unsere Topseite“, sagt er. „Darauf
Bus zur Schule, um 7.32 Uhr. später einholen sollte: Sie sagte, sie habe stiegen dann alle anderen mit ein.“
54 DER SPIEGEL 6 / 2018
Schon am nächsten Tag war bundesweit
über Maram zu lesen. „Hatte die Zwölf-
jährige Kontakte zu Islamisten?“, „Sie
wollte als Kriegerin nach Syrien – dann
sprang sie“, „Radikalisierte Zwölfjährige
springt aus Klassenzimmer“, so lauteten
die Überschriften der regionalen und über-
regionalen Nachrichtenseiten.
Die Kommentarspalten füllten sich
schnell: „Wenn die Wurzeln dieser gewalt-
bereiten asozialen ,Religion‘ bereits bis in
unsere Schulen reichen, muss dieser Ge-
fahr sofort mit allen geeigneten Mitteln be-
gegnet werden. Nur noch Taten zählen!“,
schrieb ein User unter einen Artikel in der
„Welt“. „Da kann es doch nur eins geben:
D
er Fliesenleger blieb abends gern ein bisschen von dem verstehen, was sie tun. Handwerk bedeute,
länger, um mit uns über Dinge zu reden, die ihn schrieb Sennett, „einer Arbeit mit Hingabe nachzugehen
interessierten, Journalismus zum Beispiel oder der und um ihrer selbst gut machen zu wollen“. Ich hatte das
letzte Balkankrieg. Oder das Fliesenlegen und das deut- für die romantisierende Sicht des Kopfmenschen gehalten,
sche Handwerk überhaupt, in dem er seine Zukunft golden als ich sein Buch darüber vor ein paar Jahren in die Finger
sah, unsere als Kunden aber eher nicht. bekam. Jetzt kam es mir so vor, als habe der Mann wo-
Er stammte aus Albanien. Man kann viel Europa erleben, möglich recht.
wenn man wie wir eine Weile auf einer Baustelle lebt; es Sennett schreibt über „emotionale Belohnungen“, über
galt, ein 50 Jahre altes Haus zu renovieren, das dauert. die „Verankerung in der greifbaren Realität und den Stolz
Die Erdarbeiten machte einer, den die anderen „den Zigeu- auf die eigene Arbeit“; Handwerkskammerpräsidenten
ner“ nannten. Das war freundlich gemeint und wurde von könnten das nicht schöner sagen. Nur hört der junge
ihm auch so verstanden. Nur wenn Mensch nicht gern zu. Anstatt Gärt-
er Fehler machte und gerügt werden ner oder Klempner zu werden, will
musste, konnte es sein, dass sein er lieber den Bachelorabschluss in
kroatischer Vorname fiel. Produktionsgartenbau oder „Facility-
Der Spezialist für feine Maler- Management“, also Hausmeister-
arbeiten, er kam, glaube ich, aus Ser- wesen.
bien, aß gern rohe Zwiebeln und Selbst das Schreinern – es war
Kraftnahrung, die er sich auf die Bau- mal der Traumjob abgebrochener
stelle schicken ließ. Er hatte gewaltige Akademiker, die was Kreatives ma-
Muskeln, ein meerschweinchengro- chen wollten, was mit den Händen.
ßes Hündchen, das im Auto auf den Heute suchen auch Schreiner drin-
Feierabend wartete, und eine speziel- gend Leute. Auch unser Schreiner,
le Theorie über Integration. „Swin- der von der Baustelle, fürchtet um
ger“ nannten ihn die anderen. Denn seinen Betrieb. Seine Tochter ist er-
THILO ROTHACKER / DER SPIEGEL
dies war seine Theorie und auch seine folgreich und verdient erstes Geld.
Praxis, so erzählte er gern: Um die Was macht sie? „Influencerin.“
Mitte der Gesellschaft zu treffen, also In Fachartikeln steht neuerdings,
auch Ärzte, Anwälte, sagte er, müsse man werde eh bald kaum mehr
man als Ausländer in den Swinger- Handwerker brauchen, jedenfalls
klub gehen. Da gelinge Integration. weniger Handwerkerstunden, weil
Es war eine gemischte Brigade, sowieso alles fertig aus dem 3-D-Dru-
Leute vom Balkan und solche aus cker komme: die Fliese, das Wohn-
Süddeutschland, und die Zeit mit ihnen hat meinen Blick zimmerparkett, das ganze Haus. Ich glaube das nicht. Ich
auf das Handwerk verändert. Schon der Tonfall, in dem denke an unsere Baustelle, krummer Boden, schiefe Wand,
wir darüber sprechen, ist anders heute. Früher stöhnte eine Fliese, die bricht; ich sehe den Fliesenleger, der schleift
man eher: Ich hab die Handwerker da. Heute jubelt man: und schneidet und Haarrisse sieht und penibel mit dem
Ich hab die Handwerker da! Man ist ja froh, wenn man Finger millimeterkleine Abweichungen kontrolliert.
endlich welche hat. Mein Mann und ich kochten ihnen Ich bin bereit, noch viele Kannen Kaffee zu kochen
Kaffee, und manchmal Mittagessen. Nach einer Weile sa- und viele Röstkartoffeln zu braten und bei vielen Privat-
hen sie das als selbstverständlich an. radiospots wegzuhören. Und wenn der Swinger seine
Wir lernten verschiedene Privatradiosender kennen, sie Geschichten vom Swingerklub erzählt, dann nicht, wenn
brachten unterschiedliche Werbung und alle denselben ich dabei bin; so taktvoll ist er denn doch.
Song. Wir blamierten uns, indem wir ihnen einen Kasten Ich hoffe schon aus Egoismus, dass es genug ausbil-
Bier hinstellten. Sie tranken bei der Arbeit kein Bier. Sie dungswillige Zuwandererkinder gibt wie unsere auf der
versuchten sogar, möglichst wenig Dreck zu machen, was Baustelle, wir werden sie brauchen.
manchmal gelang. Mit Grausen sehe ich eine Zukunft vor mir, in der nach
Mit dem Fliesenleger unterhielten wir uns viel. Wenn dem Rohrbruch kein Klempner, sondern ein Facility-
er vom Handwerk sprach, hatte er immer so ein Lächeln. Manager vor mir steht, weil vom Klempner der freund-
Er sprach Loblieder auf das duale deutsche Ausbildungs- liche Vorschlag kam: „Dienstag in neun Wochen. Passt
system, er sagte, sinngemäß: Wartet ab. Das wird teuer, Ihnen das?“ Barbara Supp
Loeffler-Institut 2016 kritisieren die Prüfer ziert. Der „Eindruck der Be- noch das Ministerium sehen
„Eindruck der eklatante „Steuerungsmän- fangenheit“ werde dadurch hierin Interessenkonflikte.
Befangenheit“ gel“ – dem verantwortlichen
Bundeslandwirtschaftsminis-
verstärkt, dass im Untersu-
chungszeitraum sowohl der
Drittmittel einzuwerben sei
ein „anerkanntes“ Leistungs-
Das Friedrich-Loeffler-In- terium seien nicht einmal Institutschef als auch der kriterium. Zweifelsfrei fehlt
stitut (FLI), mit gut hundert alle Forschungsaktivitäten zuständige Ministeriumsrefe- allerdings ein den Richtlinien
Millionen Euro Jahresetat bekannt. Das Loeffler-Insti- ratsleiter im Kuratorium ei- des zuständigen Bundesland-
die wichtigste Bundesinstitu- tut befinde sich in einer nes Schlachtkonzerns saßen. wirtschaftsministeriums
tion zur Erforschung der „Schieflage“, weil es über Ge- Gemeint war die Tönnies entsprechendes Forschungs-
Gesundheit der Nutztiere, ist bühr von Drittmitteln aus der Forschung, die FLI-Projekte programm. Das, räumt eine
ins Visier des Bundesrech- Industrie abhängig sei, von in den vergangenen Jahren FLI-Sprecherin auf Nach-
nungshofs geraten. In einem 142 laufenden Forschungspro- mit über 500 000 Euro bezu- frage ein, befinde sich gerade
internen Bericht für das Jahr jekten waren 135 drittfinan- schusst hat. Weder das FLI in Abstimmung. nkl
Kommentar
Maximal unehrlich
Beim Thema Altenpflege drücken sich Union und SPD vor der Wahrheit.
Zehntausende Menschen leiden in Deutschlands Heimen un- Trick: Für die Kosten von 400 Millionen Euro müssen damit
ter mangelhafter Fürsorge, unter schlecht versorgten Wunden, vor allem die Krankenkassen aufkommen.
fehlender Hilfe beim Essen. Die Qualität der Pflege hat sich Wer dauerhaft für bessere Löhne und weitere Stellen ge-
in den vergangenen Jahren verschlechtert, wie ein offizieller radestehen soll, darüber schweigen Union und SPD noch.
Prüfbericht nun feststellt. Umso fassungsloser macht der Kom- Doch Pflege ist ein Teilkaskosystem. Steigen die Arbeitskos-
promiss für die Pflege, den Union und SPD in dieser Woche ten, müssen die Pflegebedürftigen über Zuzahlungen die
ausgehandelt haben. Nicht etwa weil er so minimal ausgefal- Zeche übernehmen – bei wachsender Altersarmut wäre das
len ist: 8000 zusätzliche Stellen soll es geben, macht umge- untragbar. Daher braucht es die ehrliche Debatte darüber, was
rechnet kaum mehr als eine halbe Fachkraft pro Heim, dazu die Gesellschaft für ihre Mütter und Väter zu zahlen bereit
ein paar wolkige Versprechen für höhere Löhne. Nein, die ist. Ob sie die Pflege für eine gemeinschaftliche Aufgabe hält
Pläne machen fassungslos, weil sie maximal unehrlich sind. und Steuermittel bereitstellt. Oder ob sie es akzeptiert, not-
Die Koalitionäre drücken sich um die einfache Wahrheit falls höhere Beiträge auf ihre Löhne zu zahlen.
herum, dass gute Pflege nun einmal kostet. In anderen Sozialkassen hat die Koalition keine Angst vor
Das beginnt schon bei den 8000 Stellen, die ausdrücklich teuren Projekten. Mehr als drei Milliarden Euro wird der neue
der „medizinischen Behandlungspflege“ in Heimen vorbehal- Mütterrentenzuschlag kosten, ein Lieblingsprojekt der CSU.
ten sein sollen. Was kompliziert klingt, ist in Wahrheit ein Jeder Euro wäre in der Altenpflege besser angelegt. cos
W
enn Automanager feiern, dann gebe da „Dinge“, die „alles andere als läp- von VW, BMW und Daimler, lässt sich
darf es ruhig nach Abgasen rie- pisch“ seien. „Herausforderungen“ seien nicht mehr mit müden Witzen und allge-
chen. Und es darf auch der Ver- durch „Verhalten“ entstanden, das „nicht meinem Drumherumsalbadern kleinreden.
gangenheit gehuldigt werden, als Autos in Ordnung“ gewesen sei. Das letzte Quäntchen moralischer Glaub-
noch stinken durften und niemand etwas Der Minister wusste, was die Autobosse würdigkeit, das die Autokonzerne noch
dabei fand. So gesehen war am vergange- bei einem Auftritt beim Lobbyverband besaßen, verflüchtigt sich dieser Tage.
nen Dienstag ein Oldtimerhandel in Berlin nicht gern hören. Leider hielt er sich daran. Bordellbesuche auf Spesenrechnung, mil-
der richtige Ort, um dort den Neujahrs- Schmidt sagte nicht, dass die Autokon- lionenfache Manipulation an Dieselmotoren,
empfang des Verbands der Automobil- zerne betrogen und manipuliert, getrickst Kartellabsprachen zwischen angeblichen
industrie auszurichten. Es gab viel Platz, und getäuscht haben. Schon gar nicht, dass Konkurrenten – Skandal um Skandal wurde
und überall standen glitzernde, alte Karos- ihre Produkte die Luft in den Städten ver- enthüllt, angeprangert, ausgesessen. Stets
sen herum, deren Motoren ratterten, bis giften. wurde Besserung gelobt, wurde die Bot-
der bläuliche Qualm nur so aus den Roh- Vor allem ein Wort vermied er: Affen. schaft gestreut: Wir haben verstanden. Der
ren blies. Stattdessen bot Schmidt an, er könne Rat- Konzern werde nun „mehr Transparenz und
Nur eines darf die Luft auf keinen Fall schläge geben für die Sachen, die da „in Ehrlichkeit praktizieren“, sagte noch vor we-
verpesten: klare Worte. den letzten Tagen noch hinzugekommen“ nigen Monaten VW-Chef Matthias Müller.
700 Gäste aus Politik, Industrie und seien. Schmidt sagte: „Ich bin ja auch Tier- Doch es wurde nicht verstanden. Es wurde
Wissenschaft waren angereist. Der ge- schutzminister!“ nicht transparent und nicht ehrlich.
schäftsführende Bundesverkehrsminister Haha. Kommende Woche wird sich das Präsi-
Christian Schmidt (CSU) gab den Festred- Die Affäre um fragwürdige Abgasversu- dium des VW-Aufsichtsrats mit der Affäre
ner – und palaverte feierlich herum. Es che an Javaneraffen, in Auftrag gegeben befassen – und über weitere Konsequenzen
60 DER SPIEGEL 6 / 2018
Wirtschaft
CORBIS DOCUMENTARY / GETTY IMAGES
Auspuffrohr, Javaneraffe: Mit Tierversuchen wollte die Autolobby beweisen, dass der Diesel sauber sei
befinden. Die Kontrolleure sind es leid, die Hobbys hervor: Poker und Extrem- Seit 2007 hielten sich BMW, Daimler,
nach außen als Ahnungslose dazustehen. sport. Doch im Dieselskandal – Melkersen Volkswagen und Bosch eine eigene, als
Man sei „stinkesauer“, heißt es aus dem vertritt geschädigte VW-Kunden – bohrte wissenschaftliches Institut getarnte Lobby-
Aufsichtsrat eines der Autokonzerne. Von er tiefer als die meisten seiner Kollegen. organisation. Die Europäische Forschungs-
„Versteckspielchen“ ist die Rede, von „mo- Von VW wollte er wissen, ob der Kon- vereinigung für Umwelt und Gesundheit
ralischer Leichtfüßigkeit“. Ein Aufseher zern die Auswirkungen von Dieselabgasen im Transportsektor (EUGT) gab vor, sich
schlägt Alarm: „Die Autoindustrie ist ge- auf Menschen untersucht habe. Doch da- den „umweltmedizinisch relevanten Aus-
rade auf dem besten Weg, sich komplett rauf, sagt Melkersen, habe er keine befrie- wirkungen des Verkehrs“ zu widmen.
ins Aus zu spielen.“ Und das könnte dies- digende Antwort erhalten. Nächtelang Allein die Besetzung der Führungsposten
mal sogar Folgen haben. wälzte er daraufhin Akten aus dem VW- zeigte jedoch, dass das Institut keinesfalls
Die Berliner Politik nimmt den Skandal Prozess. Dabei stieß Melkersen auf eine an unabhängiger Aufklärung interessiert
mit den Affentests zum Anlass, den Druck Reihe dubioser E-Mails: Manager aus dem war. EUGT-Geschäftsführer Michael Spal-
auf die Autohersteller zu erhöhen. Weitere Konzern hatten Sorge, strengere Gesund- lek beispielsweise hatte zuvor jahrelang als
Rückrufe verdächtiger Dieselautos werden heitsregeln könnten den Erfolg des Diesel führender Werksarzt bei VW gewirkt. Seine
angedroht, Zugeständnisse erzwungen: Bis- schmälern. E-Mail-Adresse bei VW behielt er auch
lang wollten die deutschen Hersteller nur Ein hochrangiger Audi-Lobbyist zum nach seinem Wechsel zur EUGT.
einen Teilbetrag zum Umweltfonds für die Beispiel bat das VW-Management in den Entsprechend eindeutig fielen die Resul-
Kommunen leisten, doch diese Woche sol- USA am 6. Dezember 2012 um „Orientie- tate der Untersuchungen aus. Die Wirksam-
len die Autobosse eingeknickt sein. Nach rungshilfe“, wie man „Gegenbotschaften“ keit von Umweltzonen in Städten? Nicht
einem Krisengespräch mit Verkehrsminister formulieren könne. Die Weltgesundheits- belegbar, hieß es in einem Aufsatz, den die
Schmidt am vergangenen Dienstag sind sie organisation WHO stufe Dieselabgase neu- Lobbygruppe in einer Fachzeitschrift für
offenbar bereit, den Gesamtbetrag von 250 erdings als krebserregend ein. Zu erwägen Lungenheilkunde unterbringen konnte.
Millionen Euro zu schultern. Für ihre Affen- seien deshalb Studien, die den WHO- Nächtlicher Verkehrslärm? Kein Problem,
tests, so viel ist klar, werden die Unterneh- Report „konterkarieren“ könnten. Dies- solange er kontinuierlich sei. Lungenkrebs
men teuer bezahlen müssen. Sie haben sich bezüglich habe man „Anfragen“ an die durch Dieselabgase? Nicht nachzuweisen.
selbst zum Affen gemacht. Audi-Zentrale in Ingolstadt gestellt. Wenig später autorisierte der ehemalige
Aufgedeckt hat den Skandal ein US-An- Derartige Schreiben waren für Melker- VW-Manager und EUGT-Chef Spallek das
walt, der bislang nicht durch vergleichbare sen ein klares Indiz dafür, dass der Kon- Affenexperiment. „Wir haben unsere Dis-
Enthüllungen aufgefallen ist: Michael Mel- zern nicht nur seine Motoren manipuliert kussionen mit den Konzernanwälten abge-
kersen betreibt eine kleine Kanzlei im hatte, sondern auch die öffentliche Mei- schlossen“, schrieb Spallek in einer E-Mail
2000-Seelen-Ort New Market, Virginia. nung – mit fragwürdigen Expertisen, an- vom 14. Juni 2013. Die Advokaten hät-
Aus seinem Lebenslauf stechen vor allem gefertigt von gekauften Wissenschaftlern. ten der Durchführung der Studie zuge-
DER SPIEGEL 6 / 2018 61
stimmt – mit einer Einschränkung: scher weibliche Affen verwendet.
Statt Menschen seien Affen zu ver- Das haben zwischenzeitlich auch die
wenden. Mehrere damalige VW- Forscher der EUGT und von VW
Manager erhielten das Schreiben in mitbekommen. Das Problem daran:
Kopie, darunter auch Stuart John- Weibliche Affen bekommen ihre
son, Chef der Technik- und Umwelt- Menstruation und sind deshalb für
abteilung in den USA. Versuche, bei denen Entzündungs-
Doch kritische Nachfragen gab parameter gemessen werden sollen,
es offenbar nicht. Das Experiment unbrauchbar. Die Veröffentlichung
mit den Affen sollte den ultimati- wäre „ein No-Go“ gewesen, gibt
ven Beweis liefern, wie sauber der McDonald in seiner Gerichtsverneh-
„German Diesel“ angeblich ist. Aus mung zerknirscht zu.
den Ermittlungsakten, die Anwalt Der ganze Versuch war also in
Melkersen zusammengetragen hat, doppelter Hinsicht sinnlos: wegen
ergibt sich, mit welch manischem der falschen Affen und natürlich
Eifer die VW-Leute den Versuch auch wegen des manipulierten Die-
organisiert haben. Nichts war dem sels. Das Ganze war hochnotpein-
Zufall überlassen, als sich Ingenieur lich für den größten Autohersteller
James Liang Anfang Oktober mit der Welt: handwerklich stümper-
einem knallroten VW-Beetle von haft und ethisch-moralisch verwerf-
Kalifornien auf den Weg in das lich. Aber auch die Wissenschaftler,
Labor nach New Mexico machte. die im Forschungsbeirat der EUGT
Der Techniker aus Wolfsburg, der sitzen, sahen ihre wissenschaftliche
asiatische Wurzeln hat, steht zu die- Integrität davonschwimmen.
sem Zeitpunkt bereits unter Druck: Im Oktober 2015 kommen sie in
Die US-Umweltbehörden zweifeln Berlin zur Sitzung ihres Forschungs-
halb Jahre, bis der Verein aufgelöst wird. nischen Forscher benutzten für ihre Arbeit ziert, genau wie BMW und Daimler: Sie
Heimlich, still und leise wird ein Liquida- das Lungengewebe von Affen aus einem an- alle beurlaubten oder versetzten Mitarbei-
tor bestellt, der dem Treiben in der EUGT deren Tierversuch aus den Achtzigerjahren: ter, die für die Lobbygruppe EUGT zustän-
im Juni vergangenen Jahres ein Ende setzt. 30 Javaneraffen waren in Behälter gesteckt dig waren. Eigene Fehler wollen die Spit-
Damals an der VW-Spitze: der neue worden und hatten Dieselabgase einatmen zenmanager nicht zugeben. BMW räumt
Chef Matthias Müller. Er wolle „das Ver- müssen – 7 Stunden täglich, 5 Tage die Wo- immerhin ein, man habe zu spät „die Brem-
trauen der Kunden zurückgewinnen“, be- che, 24 Monate lang. Die Forscher hatten se gezogen“.
tont er. Doch die Chance, alle Verfehlun- nach Versuchsende die Tiere getötet und VW spricht nur von der „Fehleinschät-
gen aus der Vergangenheit aufzuklären die Lungen der Affen durchschnitten, um zung Einzelner“. Diese Argumentation
und offenzulegen, verpasst der Konzern. sie unter dem Mikroskop zu untersuchen. zieht sich bereits durch die ganze Diesel-
Dabei müsste die peinliche Angelegenheit Die Präparate dieser Affenversuche ha- affäre. Und genau das ist der Fehler im
intern längst bekannt sein. ben die von VW unterstützten LRRI-For- System Volkswagen: das Abschieben der
VW-Anwälte sind schon seit Monaten scher ein Jahrzehnt später noch einmal Verantwortung an Nebenfiguren wie den
mit dem Fall der Affenexperimente befasst. ausgewertet und mit Lungengewebe von Lobbyisten Steg.
Aus US-Justizunterlagen geht hervor, dass Ratten verglichen, die ebenfalls zwei Jahre Dabei dürfte man im Konzern eigentlich
die Juristen des Konzerns versuchen, eine lang Dieselabgase inhalieren mussten. Der wissen, dass diese Strategie nicht ausreicht.
Verwendung der Studie vor Gericht zu ver- Diesel, so das Fazit im Sinne des Studien- Seit Sommer 2017 steht der Konzern unter
hindern. Dem Klägeranwalt Melkersen, so mitfinanzierers VW, sei für Menschen wo- Aufsicht des US-Justizministeriums. Der
die Begründung, gehe es nur darum, „eine möglich nicht so schädlich, wie es frühere Topjurist Larry Thompson untersucht mit
scharfe und emotionale Reaktion der Jury Versuche an Ratten nahelegten. einem Team von rund 60 Leuten, ob VW
hervorzurufen“. Der VW-Konzern erklärt dazu, es habe und Audi die Dieselaffäre mit der nötigen
Hinzu kommt, dass das Thema Tierver- keine direkte Beteiligung an diesem Pro- Konsequenz aufarbeiten.
suche für den VW-Konzern nicht ganz neu jekt, keine direkte Beauftragung durch VW Einigen VW-Mitarbeitern hat Thompson
ist. Bereits in den Neunzigerjahren unter- und keinen direkten Kontakt zum LRRI bereits einen Leitfaden für gute Führung
stützten die Wolfsburger eine Forschungs- gegeben. Man habe lediglich „eine Finan- überreicht. „Wenn Fehlverhalten auftritt“,
arbeit des LRRI, die sich mit den Auswir- zierungsvereinbarung mit dem U. S. De- heißt es darin, dann müsse ein Konzern
kungen von Dieselemissionen auf Affen partment of Energy“ geschlossen. An den „selbst die Verantwortung übernehmen“.
beschäftigte. In dem Bericht wird VW zitierten Tierversuchen sei VW nicht be- Frank Dohmen, Veronika Hackenbroch,
als Geldgeber genannt, im Verbund mit teiligt gewesen. Mittlerweile hat der Kon- Simon Hage, Nils Klawitter,
dem US-Energieministerium. Die amerika- zern sich ganz von Tierversuchen distan- Hannah Knuth, Gerald Traufetter
Mehr im Blick
fokussieren. mehr-im-blick.com
FABRICE COFFRINI / AFP
Präsident Trump, Schwiegersohn Jared Kushner (l.), US-Außenminister Rex Tillerson (5. v. l.): Leibhaftig, überbräunt und überfrisiert
„Yes, Sir!“
Weltwirtschaft Donald Trump eroberte jene Elite, die sich von ihm befreien wollte. Facebook leidet.
Und was bringt 2018? Ein Bericht aus Davos von Klaus Brinkbäumer und Martin Hesse
E
s gibt beim Weltwirtschaftsforum, wo sich all die Firmen eingemietet haben, Donald war das Ziel. Nur das Quartett von
dem WEF, nicht die eine Weltwirt- wo Eric Schmidt von der Google-Holding der „New York Times“, Peter Baker und
schaft oder die eine Wirtschaftswelt. Alphabet und Sheryl Sandberg von Face- seine Crew, saß gelassen gestählt in Reihe
Davos, das sind mehrere Welten oder auch book zu Lunchrunden und Bill Gates zum fünf und ließ geschehen, was zu geschehen
Ebenen, vorstellen kann man sich die Ebe- Dinner laden, was meist beglückend weit- hatte. Devotes Davos – das WEF ist eigent-
nen vielleicht wie die Etagen einer mehr- schweifend und zugleich präzise gerät; da lich, zweifellos, prominenzerfahren, nun
stöckigen Firma: Zwischen einigen Etagen aus diesen Gesprächen aber nicht zitiert aber starstruck, geblendet von Trump?
existieren Rolltreppen, andere verbindet werden darf, können Erkenntnisse daraus Leider ja. Die wahre Bedeutung von
eine kippelige Leiter, zwischen manchen nur beiläufig in Texte eingestreut werden. Trumps Europareise offenbarte sich bereits
gibt es keine Verbindung. In manchen Jahren wirkt dieses WEF – am Davoser Donnerstag, bei einem Emp-
Die Politiker kommen auf ihrer Etage die Schweizer sagen „Weff“; Donald fang für rund hundert Wirtschaftsvertreter,
zusammen, sie halten Reden, treffen ei- Trump reist „ans Weff“ – durchaus steif und später bei einem Abendessen mit
nander oder umgehen einander, reisen be- und irrelevant. Dann aber kommen Jahre 15 Konzernchefs. Dort zelebrierte der ame-
seelt oder ermattet weiter. Wer von ihnen wie dieses. Davos 2018, das war eine Kon- rikanische Präsident die Rückkehr des Neo-
wann und wie lange im großen Saal reden densierung der größten Fragen unserer liberalismus, und dafür wurde er von den
darf, ist ein Maßstab ihrer Wichtigkeit; und Zeit – und hier und dort gab es Antworten. Bossen gar zünftig gefeiert; nur sehr Ver-
auch die Frage, wer von Klaus Schwab, Donald J. Trump war als Geschäftsmann einzelte lobten ihn ein bisschen verschämt.
dem Gründer des Weltwirtschaftsforums, nie eingeladen, aber jetzt gleichsam von Teilnehmer des Empfangs erzählen hin-
begrüßt und befragt wird. Und wer nicht. der ersten Sekunde an da, lange bevor sein terher, dass Trump manche Unternehmens-
Die Stars der Geldwelt und viele Lob- Hubschrauber am Donnerstag tatsächlich chefs für ihre Investitionen in Amerika ge-
byisten kommen auch nach Davos, wollen im Schnee aufsetzte. Trump beherrschte priesen habe, wofür sich Manager, die über
Netzwerke pflegen, Geschäfte machen, fei- die Gespräche auf den Abendempfängen, Milliardengeschäfte und Zigtausende Mit-
ern: des Nachts bei McKinsey, zusammen arbeiter gebieten, mit einem aufwärts ge-
mit Justin Trudeau. Öffentlichkeit ist ihnen rufenen „Yes, Sir!“ bedankt hätten. Später,
nicht immer wichtig, manche von ihnen Der amerikanische beim Dinner, überboten die Chefs der
betreten das Kongresszentrum nie. Zu den deutschen Weltkonzerne Siemens, SAP
Stars der Geldwelt zählen die Chefs großer Präsident zelebriert die und Bayer einander mit Lob für Trumps
Banken, auch die Hedgefonds-Manager. Rückkehr des Steuerreform. Joe Kaeser von Siemens ge-
Und Konzerne wie Apple, Google, wann dieses Wettkuscheln, alle aber war-
Facebook rücken mit ganzen Armeen an,
Neoliberalismus. ben mit Schwärmereien vom eigenen
um Trends zu erspüren und um die öffent- Engagement in den USA um die Gunst
liche Meinung zu lenken, das gewiss auch. lieferte den Diskussionsrunden ihr belieb- dieses … ja, was … Heilsbringers?
Es gibt in Davos das geografische Zen- testes Thema. Dann erschien er leibhaftig, Als solcher wird Trump mittlerweile von
trum, das Kongresszentrum, mit seinen überbräunt und überfrisiert wie immer, Teilen der Wirtschaftselite gesehen. Füh-
großen und kleinen Sälen und den alljähr- doch zaghafter als üblich, durch Reden- rungskräfte der amerikanischen Invest-
lich von all den Mänteln, Mützen und schreiber und Teleprompter gezähmt. mentbank Goldman Sachs, Manager der
Schneestiefeln überquellenden Gardero- Fehlerfrei las Trump vor, jedes Wort be- Deutschen Bank, Konzernchefs aus der
ben. Die Damen erledigen den Schuhwech- tonte er angemessen, und mit zusammen- europäischen Industrie – sie alle sagten in
sel flotter als die an Knoten zerrenden Her- gekniffenen Augen prahlte er mit jenen Hintergrundgesprächen, wie wenig sie von
ren, womöglich haben sie mehr Erfahrung. Rekorden, die an den Börsen seit seinem Trumps Stil hielten und wie viel von seiner
Es gilt sodann, mit einem mittelguten Amtsantritt erreicht worden seien, sowie Politik. „Seine Deregulierungsoffensive ist
Espresso in der Hand in den Gängen he- mit der sinkenden Arbeitslosigkeit, die das Beste, was seit langer, langer Zeit aus
rumzulungern: Man kann dort mit Marty gleichfalls sein Verdienst sei (auch wenn Washington gekommen ist“, sagte der eine.
Baron, dem inzwischen berühmten Chef- sie seit mehr als acht Jahren, ungefähr seit „Er ist ein Exekutor, das muss man ihm
redakteur der „Washington Post“, oder mit Barack Obamas Amtsantritt, sinkt). War lassen“, so ein anderer. „Etwas mehr
A. G. Sulzberger plaudern, also dem noch diese Rede, das WEF-Finale, ein Ereignis? Trump würde der deutschen Politik sehr
gänzlich neuen, aber schon sehr winterlich Politisch durchaus: Der Satz, „America guttun“, fand ein Dritter.
bleichen Verleger der „New York Times“, First“ bedeute nicht „America Alone“, Die Dekade nach der Finanzkrise von
und dessen Vorhaben in Strukturwandel- wird bleiben. 2008, in welcher die Politik mehr oder (oft
zeiten kennenlernen; Benjamin Netanyahu Und gesellschaftlich sowieso: All die genug) weniger ernsthaft versuchte, durch
ist ansprechbar und schwärmt doch nur selbstbewussten Davos-Menschen, die so Regulierung und Schließung von Steuer-
von Donald Trump; Justin Trudeau läuft gern wichtig und reich sein möchten oder schlupflöchern die entfesselten Märkte zu
vergnügt herum; Ursula von der Leyen ver- es durchaus bereits sind, richteten sich auf besiegen, geht zu Ende. Trump jedenfalls
teidigt vielsprachig Europa gegen die ha- Trump aus, sobald dieser nur einen Raum will dieser Politik und dem globalen Kon-
dernden Polen, ohne die Polen zu verdam- betrat; sie zückten ihr Smartphone und sens darüber den Todesstoß versetzen, und
men; und so weiter. fotografierten den zweifelsfrei noch Wich- dass er nicht allein mit seinem Wunsch ist,
Und es gibt das inoffizielle Zentrum des tigeren (und mutmaßlich Reicheren). Er- das wurde in Davos klar.
WEF, das ist die ein wenig höher gelegene strebenswert schien weniger die Auseinan- Siemens-Kaeser redete schon wie
Promenade, wo Hotel neben Hotel steht, dersetzung zu sein; ein Selfie mit König Trump. Bei einem Auftritt im Konferenz-
DER SPIEGEL 6 / 2018 65
Wirtschaft
hotel Belvédère wurde er gefragt, was redete, je mehr Pirouetten er drehte, vom Und noch mehr als dieser Trump treiben
Siemens heute darstelle, und Kaeser ant- Englischen ins Französische und wieder Soros, den 87-jährigen Philanthropen, die
wortete: „The greatest company in the zurück wechselnd, desto mehr beschlich Auswüchse der Digitalisierung um, „der
world.“ Er müsse Siemens stark machen, seine begeisterungswilligen Zuhörer die Aufstieg und das monopolistische Geba-
fügte er hinzu, nur dann könne er den Sorge, dass dieser Franzose, den die Da- ren“ der großen Internetkonzerne. Google
Schwachen helfen – irgendjemand müsse vos-Menschen zuvor als die Idealbeset- und Facebook würden aufgrund ihrer be-
ja gegen jene Hedgefonds aufstehen, die zung des in jedem Jahr gesuchten Geistes ständig wachsenden Marktmacht zu einer
allein an Rendite für ihre Anleger däch- von Davos gepriesen hatten, mehr verspre- Gefahr für die Demokratie, weil sie das
ten. Moment. In Wahrheit sind es jene In- che, als er am Ende werde halten können. Denken der Menschen beeinflussten, ohne
vestoren, welche Siemens zum Arbeits- Wie viele Prioritäten kann ein Mensch, dass diese es merkten. Gefährlich werde
platzabbau in Deutschland und in Trumps selbst ein Macron, haben? es, wenn sich die mit Daten aufgepumpten
Arme treiben. „Trump handelt, Europa schürt bisher IT-Monopolisten mit autokratischen Re-
Alternative Wahrheiten? Ist Deutsch- nur Hoffnungen“, so kommentierte ein ge- gimen verbündeten. „Dies könnte in ei-
lands Vorzeigefirma noch weit entfernt wichtiger Bankchef die Auftritte der Staats- nem Netz autoritärer Kontrolle enden, das
von Trump, der seinerseits Politik für die oberhäupter, aber die zweite Hälfte dieses sich nicht einmal Aldous Huxley und
Allerreichsten und sich selbst macht, mit Satzes lässt sich auch anders lesen: In George Orwell hätten vorstellen können.“
Steuersenkungen und Deregulierung, aber Davos wurde das Wort Europa nach langer, So düster wie Soros sahen die meisten
das Gegenteil erzählt, nämlich gegen die langer Zeit endlich mal wieder mit dem anderen Davos-Teilnehmer die Zukunft
Eliten streiten und den Abgehängten hel- Begriff Hoffnung zusammengebracht; der digitalisierten Welt nicht. Doch dass
fen zu wollen? „Europe is back“ war einer der meistge- die IT-Branche wieder an einem Wende-
Es geschah dann noch einiges mehr in hörten Sätze in 1500 und mehr Meter punkt steht, das wurde in zahlreichen Fo-
jenem von Donald Trump kampflos er- Höhe. Verteidigungsministerin Ursula von ren und Gesprächen in Davos deutlich. So
oberten Bergdorf in Graubünden. der Leyen saß zwischen Meetings und Auf- wie die Politik versuchte, die Banken und
Trump stellt seit Monaten das System tritten in der diskreten Public Persons Finanzmärkte zu zähmen, so könnte (und
multilateraler Handelsabkommen und In- Lounge und wünschte nach all ihren Ge- sollte) sie sich nun anschicken, die Tech-
stitutionen infrage. Davos zeigte nun, wie sprächen viel Wasser. Die transatlanti- Konzerne zu domestizieren. Doch das
fragil Loyalitäten und Überzeugungen schen Erschütterungen, so sieht von der dürfte noch ungleich schwerer werden.
sind, Davos zeigte aber auch, was andere Leyen es, hätten in Europa einen Sinn für Selbst Wirtschaftsvertreter erkennen in-
Wirtschaftsnationen dagegensetzen könn- Dringlichkeit entstehen lassen: Europa zwischen, dass die Geschwindigkeit, in der
ten: eine Renaissance internationaler Ab- müsse handeln und zusammenrücken, digitale Plattformen und künstliche Intel-
sprachen, ein um sozialen Ausgleich be- müsse Amerikas Abschied abfedern und ligenz die Gesellschaften verändern, die
mühtes Europa. habe all das begriffen. Und Macron sei ja Menschheit überfordern könnte. „Der
Angela Merkel nutzte die große Bühne eine Antithese zu Trump. Wandel der Arbeitswelt hat eine andere
des Kongresszentrums, um eine echte Dimension als früher“, sagte Norbert Win-
Rede inklusive Gedanken und Spannungs- keljohann, Deutschlandchef der Prüfungs-
bogen zu halten und dabei ein Bild jenes George Soros, der und Beratungsgesellschaft PwC. Und Tru-
Deutschland und jenes Europa zu zeich- deau sagte: „Das Tempo des Wandels war
nen, für das sie streiten wolle. Sie wirkte Milliardär und noch nie so hoch wie heute, und es wird
ernsthaft und wach, so als habe sie ver- Spekulant, war in nie wieder so niedrig sein.“
standen, dass die Fundamente der libera- Der Arbeitsmarkt, auch das wurde in
len Demokratien nicht mehr einsturzsicher
Untergangsstimmung. Davos klar, ist nur eine Facette des Pro-
sind. Was allerdings das schicke „4.0“ in blems. Es geht um die grundsätzliche Frage,
Merkels „Sozialer Marktwirtschaft 4.0“ be- Der alte Mann, der am Donnerstag- wer die Hoheit über die Digitalisierung der
sagen soll, das wäre ein hübsches Thema abend im Hotel Seehof an das Rednerpult Welt hat, wer darüber bestimmt, wie sie
für eine zweite Rede, vielleicht gar noch geleitet wurde, wirkte dann wie aus der genutzt wird und wem sie dient. Derzeit
in dieser Legislaturperiode. Nein, konkret Zeit gefallen. Den ganzen Tag lang hatten seien künstliche Intelligenz und Roboter
war die Kanzlerin nicht durchgängig und Manager voller Optimismus über den Lauf so weit entwickelt, das berichten die Ken-
auch in der Frage nicht, wie sich Deutsch- der Weltwirtschaft und die Verheißungen ner jener Welt, dass Maschinen die Fähig-
land und Frankreich und die anderen in neuer Technologien geredet, es war ein keiten menschlicher Ohren und Augen
strittigen Fragen einigen könnten. durch und durch euphorischer Donnerstag bereits hätten – mit Füßen und Händen
Auch Justin Trudeau, bunt bestrumpft mit übrigens auch noch reichlich Schnee könnten sie noch nicht mithalten. Was aber
wie immer, wollte für den Multilateralis- und spektakulärem Winterlicht, doch dann passiert, wenn – in drei bis acht Jahren –
mus werben, aber zugleich für Handels- kam George Soros. Und der Milliardär und Maschinen auf vielen Spielfeldern, womög-
abkommen und am Ende vor allem für die Spekulant, der mehr als die allermeisten lich sogar den Etagen von Davos, die kom-
Sache der Frauen. #MeToo gab den An- Menschen von den Segnungen freier Märk- petenteren Menschen sind? Was, wenn
stoß, und Familienpolitik, Lohngerechtig- te und Gesellschaften profitiert hat, war Roboter töten können und automatisierte
keit, Bildung waren ihm wichtig. Jeder im in Untergangsstimmung. Entscheidungen über Leben und Sterben
Saal müsse den Drang haben, die Welt zu „Die offene Gesellschaft ist in der Krise“, zu treffen sind? Was, wenn diese dann so
verbessern, rief Trudeau, und auf diesem sprach Soros mit brüchiger Stimme, ja, die fehlerhaft sind wie heute Google Foto? Ja,
einen Feld, dem der Frauen, solle die Ver- gesamte Zivilisation stehe auf dem Spiel. Soros’ Mahnungen sind berechtigt.
besserung beginnen, hier, sofort. Verschiedene Formen von Diktaturen und Und manche Tech-Konzerne haben er-
„Frankreich ist wieder da, im Herzen Mafiastaaten befänden sich im Aufstieg, kannt, dass ihre wichtigste Basis zu erodie-
Europas“, das rief Emmanuel Macron von angeführt von Putins Russland. Auch ren beginnt: das Vertrauen von Nutzern
der Bühne der Kongresshalle. Nur diesem Trump wolle in den USA einen Mafiastaat und Regierungen. „In Tech we trust“ hieß
Macron war Davos ähnlich demütig-heftig errichten, werde aber von Verfassung und eine Veranstaltung, in der es dann vor al-
zugewandt wie Trump; unschuldiger sogar, Zivilgesellschaft vorerst gebremst und hof- lem um das Misstrauen ging, das Facebook
sehnsüchtiger. Doch je länger Macron fentlich gehindert. und Co. mittlerweile begegnet. Da saß der
66 DER SPIEGEL 6 / 2018
SIMON DAWSON / BLOOMBERG / GETTY IMAGES
Unternehmer Gates, Scharfschütze auf Hotel, Partygäste, Premier Trudeau in Davos: „Jeder muss den Drang haben, die Welt zu verbessern“
lässige Dara Khosrowshahi, neuer Chef führt doch nicht dazu, dass Menschen sich Nicht seltener aber war der Ruf nach
des Fahrdienstleisters Uber, und beschwor ziviler benehmen. Algorithmen haben Vor- Regulierung zu hören. „Davos ist ein guter
den „echten kulturellen Wandel“, den urteile gegen Schwarze und Ausländer. Es Ort, um euch zu sagen, dass eure Tage ge-
Uber nach einer Serie von Skandalen ein- war ein Fehler, dass Bitcoin zugelassen zählt sind“, sagte der Milliardär Soros an
geleitet habe. Facebook hatte eine gleich- wurde, da Zentralbanken finanzpolitische die Adresse der amerikanischen IT-Riesen,
falls eindeutige, aber andere Davos-Taktik: Autoritäten bleiben müssen. Der Sinn des doch ist das realistisch? Zwischen der Tech-
Demut. Lernen wollte Facebook, Fragen Menschseins besteht nicht in Arbeit; wenn Etage und jener der Politik nämlich gab
stellen, zuhören. Die siegesverwöhnten erst die Maschinen für uns arbeiten, muss es kaum Verbindung in Davos; allzu viel
Konzernlenker leiden, da sie für die Ver- ein Grundeinkommen her, und wenn das verstehen die meisten Politiker des Weite-
breitung von Lügen und damit für den Prä- weltweite Vermögen weiter rasant wächst, ren nicht von jener so seltsam virtuellen
sidenten Trump verantwortlich gemacht wird das Grundeinkommen möglich. Welt, die sie regelmäßig, besonders hier
werden. Rechtsradikale Websites wie Breit- Jene These allerdings, dass Facebook beim WEF, für hochbedeutend erklären,
bart News hatten mit Erfindungen über die sogenannten Filterblasen entstehen las- ehe sie sie wieder vergessen.
Hillary Clinton mehr Wucht als die „New se, in denen jeder Nutzer nur Bestätigun- Das Ende der im Februar 2018 bestehen-
York Times“ mit wahren Enthüllungen gen seiner feststehenden Meinungen suche, den Weltherrschaft von Google, Amazon,
über Trump, weil Facebook-Nutzer den teilt Facebook im Gespräch mit der Au- Facebook kann aber auch aus einer ande-
Breitbart-Schmutz verbreiteten. ßenwelt nicht: Jeder Mensch habe enge ren Richtung kommen: von unten. Zahl-
Beiläufige Erkenntnisse von Davos: und lose Bindungen; Facebook sorge für lose Start-ups arbeiten an Technologien
Follower sind das digitale Äquivalent die Entdeckung und Stärkung der losen wie dem virtuellen Kassenbuch Blockchain
von Status, Fake News das digitale Äqui- Bindungen, was eine Erweiterung und kei- oder eben künstlicher Intelligenz und ge-
valent von paramilitärischen Truppen. ne Einengung des Blickfelds bedeute. ben sich überzeugt, dass Technologie die
Alle künftigen Kriege werden mit Cyber- Klar wurde auf der Promenade von Da- Großen überflüssig machen werde, da bald
attacken beginnen. Der Westen hat noch vos, dass Facebook- und Google-Leute niemand mehr zwischen Produzent und
nicht verstanden, mit welcher Wucht die noch nicht so weit sind, dass sie sich ver- Nutzer stehen werde. „Reichtum und
Kombination aus Chinas Regierung und antwortlich fühlen für das, was bei ihnen Wohlstand werden von den Plattformen
Chinas Konzernen das Territorium der veröffentlicht wird. Noch immer nennen wieder in die Hände von produzierenden
künstlichen Intelligenz dominieren wird; sie ihre Firmen „Plattform“ und nicht „Me- Firmen und ihren Kunden gelegt“, sagt Jeff
Demokratien aber korrigieren sich selbst, dium“; „Rankings“, also Wertungen auf- Schumacher, Gründer und Chef der Start-
China nicht. Die Digitalisierung sorgt für grund von Fakten und Seriosität der Quel- up-Schmiede BCG Digital Ventures.
Konflikte auf Stammesniveau, da sie klei- le, wollen sie jedoch verstärken. „Wenn Bis zum WEF 2019 allerdings werden
nen Gruppen laute Stimmen gibt. Die Iden- wir die Probleme nicht lösen, werden an- die Welten von 2018 mutmaßlich noch
tität, also der Zwang zur Namensnennung, dere sie für uns lösen“, dieser Satz fiel oft. durchhalten. I
Jaeger, 77, begann ihre Karriere als Sozialrich- tem überführen, da durfte man von ihm ein einfaches System ohne zahllose Aus-
terin, später wurde sie Richterin am Bundes- keine allzu große Sorgfalt verlangen. Aber nahmen für vermeintliche Einzelfallgerech-
verfassungsgericht und am Europäischen Ge- inzwischen wäre genügend Zeit für eine tigkeit. Dafür braucht man Zeit, vermut-
richtshof für Menschenrechte. Zuletzt war sie Reform gewesen. lich mehr als nur eine Legislaturperiode;
Ombudsfrau der Anwaltschaft. Vom ersten SPIEGEL: Immerhin geht es um viel Geld: zugleich müsste man das jetzige System
Tag ihres Berufslebens an hatte Jaeger mit Allein die Rentenversicherung setzt rund schon zukunftsweisend anpassen.
Rentenfragen zu tun, im Verfassungsgericht 290 Milliarden Euro im Jahr um – das ist SPIEGEL: Kann es überhaupt eine gerechte
saß sie lange in der für Rente zuständigen fast so viel wie der Bundeshaushalt. Wa- Rente geben?
Kammer. Jaeger ist Mitglied der SPD. rum ist das dennoch so intransparent? Jaeger: Es bestehen da, denke ich, ziemlich
Jaeger: Das kommt denjenigen, die das Sys- übereinstimmende Vorstellungen in der
SPIEGEL: Frau Jaeger, sind Sie froh, dass Sie tem nutzen, sehr gelegen, weil sich Inte- Bevölkerung: Die Rente muss über der
eine staatliche Pension bekommen, nicht ressen und zukünftige Härten besser ver- Sozialhilfe liegen, weil es sich sonst nicht
auf die gesetzliche Rente angewiesen sind? schleiern lassen. Dieses riesige Volumen lohnt, überhaupt in das System einzube-
Jaeger: Natürlich. Als ich 1968 anfing, habe kommt zwar dem Einzelnen nur mit klei- zahlen. Und sie soll die Spreizung in der
ich nicht geglaubt, dass es die Pension noch nen Beträgen zugute, aber die Masse Gesellschaft widerspiegeln, dass also je-
geben wird, wenn ich in den Ruhestand macht’s. Werden die Renten erhöht, wird mand, der mehr und länger einbezahlt hat,
gehe. Ich dachte, dass wir eine Bürgerversi- wieder mehr konsumiert – das hält Wähler am Ende auch mehr erhält.
cherung bekommen, weil sich die finanziel- bei Laune und hilft den Unternehmen. SPIEGEL: Bei der Rente haben wir mindes-
le Kluft zwischen Pension und Rente, diese SPIEGEL: SPD und Union wollen nun so- tens drei Klassen: Beamte, Angestellte und
unterschiedliche Art, die Lebensleistung zu wohl ein starkes Ansteigen der Rentenbei- die Selbstständigen. Könnte es ein einheit-
bewerten, politisch nicht durchhalten ließe. träge als auch ein starkes Sinken der Be- liches Rentensystem für alle geben?
SPIEGEL: Die neue Große Koalition hat sich züge verhindern, das System an sich aber Jaeger: Ja, das wäre eine solche große Über-
nun auf ein Rentenpaket geeinigt, an den nicht antasten. Was würden Sie ändern? legung. Dabei ging das bismarckische Sys-
Pensionen aber nicht gerüttelt. Könnte die- Jaeger: Das von Reichskanzler Otto von tem schon in diese Richtung: Alle Ange-
se Diskussion trotzdem nochmals Fahrt Bismarck eingeführte Rentensystem war stellten, auch die Arbeiter, und sogar die
aufnehmen? wunderbar verständlich und gut für die damals bedürftigen Selbstständigen, wie
Jaeger: Die Beamten gehen da sofort mit damalige Zeit. Inzwischen ist aber durch der Hauslehrer, waren drin. Man hat nicht
ihren Berufsverbänden auf die Palme. Es ständige Reparaturen mit immer neuen danach geschaut, wie die Rechtsform der
ist schwierig, etwas zu ändern, weil die Ausnahmeregelungen ein Wirrwarr ent- Tätigkeit ist, sondern wen man verpflichten
Altersrente oder die Pension die Antwort standen. Man müsste sagen: Wir wollen muss, etwas für sein Alter zu tun. Und das
auf ein schon gelebtes Leben ist. Ziel war nicht, allein daraus den Lebens-
SPIEGEL: Ist unser Rentensystem gerecht? unterhalt bestreiten zu können. Das Ziel
Jaeger: Ich finde, dass die heutige Renten- war, dass die Schwiegertochter den Schwie-
versicherung eigentlich rechtsstaatswidrig gervater zu Hause behalten und so viel
ist, weil sie niemand mehr versteht. Selbst Geld von ihm bekommen kann, dass es
die, die sich jeden Tag damit befassen, wis- sich lohnt, ihn in der Familie zu versorgen.
sen nicht mehr, wie Beiträge oder Renten SPIEGEL: Setzt die Verfassung einer Reform
zu berechnen sind, weil es zu viele Aus- Grenzen?
nahmen gibt. Jaeger: Nein. Unsere Verfassung ist zu-
SPIEGEL: Halten Sie die Rente also in der kunftsoffen.
jetzigen Form für verfassungswidrig? SPIEGEL: Auch nicht, wenn man die Be-
Jaeger: Ich würde mich sehr freuen, wenn amtenversorgung abschaffen wollte?
die Richter des Bundesverfassungsgerichts Jaeger: Doch, natürlich, da schon, aber das
an einem aktuellen Rentenfall merken wür- Grundgesetz könnte man hier ändern. Es
den, dass sie nicht mehr in der Lage sind, ist doch so: Wenn man eine Bürgerrente
das zu begreifen. Dass sie dann sagen: will, aber die Beamten auch zukünftig da-
Wenn selbst wir das nicht mehr kapieren, von ausnimmt, hat man schon den Spalt-
kann das kein Recht sein, nach dem der pilz in die Gesellschaft gelegt.
angestellte Bürger lebt und Entscheidun- SPIEGEL: Aktuell sind die Rentenkassen voll,
gen treffen soll. dank der guten Arbeitsmarktlage.
JESCODENZEL.COM / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Sie selbst hatten keine Gelegen- Jaeger: Deshalb wäre jetzt ein besonders
heit zu einem solchen Richterspruch? guter Zeitpunkt, weil es noch etwas zu ver-
Jaeger: Doch, wir waren bei den Überlei- teilen gibt. Aber bekanntermaßen sind
tungsgesetzen zu den DDR-Renten ganz Menschen zu gravierenden Änderungen
verzweifelt. Der Gesetzgeber musste je- nur bereit, wenn sie durch Krisen gehen.
doch zügig die DDR-Renten in unser Sys- SPIEGEL: Sie haben schon vor 20 Jahren ge-
schrieben, die demografische Zeitbombe
Das Gespräch führten die Redakteure Matthias Bartsch Juristin Jaeger ticke seit Anfang der Achtzigerjahre be-
und Dietmar Hipp in Karlsruhe. „Die Rente mit 63 ist völliger Unsinn“ drohlich. Wurde sie seither entschärft?
68 DER SPIEGEL 6 / 2018
90 Jahre
Durchschnittliche
Lebenserwartung*
85
* 65-Jähriger
80
Stand 2016,
Quelle: Deutsche
Bundesbank
75
bei schrittweiser
Verweildauer Anhebung auf
65 67 Jahre
Renteneintrittsalter ab 2016: Prognose
Jaeger: Nein. Die Frauen, die heute Kinder Tätigkeiten wechseln. Und natürlich muss gemildert wird. Es gibt keine Beitragsbe-
kriegen sollten, sind ja schon gar nicht man diesen Menschen frühzeitig Anpas- messungsgrenze, wer viel verdient, zahlt
geboren worden. sungshilfen anbieten und nicht erst warten, viel ein. Die Rentenhöhe ist jedoch gede-
SPIEGEL: Das Renteneintrittsalter wird im- bis sie arbeitslos sind. ckelt. Bismarck erreichte mit anderen Mit-
merhin kontinuierlich angehoben. SPIEGEL: Noch steigt das Renteneintrittsalter, teln Ähnliches: Es gab einen fixen Sockel-
Jaeger: Aber das Lebensalter steigt schon aber nur bis 2031, wenn die 67 Jahre er- betrag, und die unterschiedliche Höhe der
lange ebenso kontinuierlich. Wir haben reicht sind. Müsste es noch weiter steigen, Beiträge wirkte sich erst oberhalb dieses
daher seit den Achtzigerjahren fast eine zumindest parallel zur Lebenserwartung? Sockels aus. Heute wird jeder einzelne Ren-
Verdoppelung der Rentenbezugszeit. Jaeger: Ich denke, ja. tenbeitrag in der Rentenhöhe abgebildet.
SPIEGEL: Auf jetzt knapp 20 Jahre. SPIEGEL: Gibt es keine Grenze? SPIEGEL: Union und SPD wollen nun einen
Jaeger: Ursprünglich lag das Renteneintritts- Jaeger: Nein, für mich gibt es mit Rücksicht an die Rentenansprüche gekoppelten Auf-
alter höher als die durchschnittliche Lebens- auf den Auffangtatbestand der Erwerbsun- schlag auf die Grundsicherung für jene
erwartung eines Mannes – das heißt, der fähigkeit keine Grenze. Wenn wir zudem Menschen einführen, die mindestens 35
Durchschnittsmann konnte nicht ernsthaft sehen, dass die Gesellschaft immer älter Jahre lang Beiträge gezahlt haben und
damit rechnen, je Altersrentner zu werden. wird und junge Leute eher später ins Be- trotzdem nicht über die Grundsicherung
SPIEGEL: Lässt sich denn das Renteneintritts- rufsleben einsteigen, wie soll man dann auf hinauskommen.
alter beliebig nach oben schrauben? Der die 45 Versicherungsjahre kommen, die Jaeger: Das ist ein anderes System. Am bes-
ehemalige SPD-Vorsitzende Kurt Beck rechnerisch notwendig sind? Wer 45 Jahre ten wäre es, wenn die Sockelrente über-
führte immer den Dachdecker an … lang immer 20 Prozent des Einkommens haupt nicht auf die Sozialhilfeleistungen
Jaeger: Ach, der Dachdecker. Das ist doch abgibt, kann im Alter eigentlich nur 18 Jah- angerechnet wird. Sodass jeder sagen kann:
kein neues Phänomen. Die Altersgrenze re davon leben, wenn er 50 Prozent seines Das habe ich mir erarbeitet. Und diesen
ist ja im Grunde die pauschalierte Erwerbs- Gehalts bekommen soll. Und auf die 45 Bei- Betrag bekomme ich mehr als jemand, der
unfähigkeit. Ich befürworte das alte Sys- tragsjahre kommt ohnehin kaum jemand. nie dem Rentensystem angehört hat.
tem: Wer arbeiten konnte, musste bis zur SPIEGEL: Trotzdem hat die Politik in der SPIEGEL: Geht das nicht zulasten heutiger
Altersgrenze arbeiten. Wer erwerbsun- Vergangenheit Anreize für einen vorzeiti- Beitragszahler?
fähig wurde, bekam eine angemessene Er- gen Rentenbeginn gesetzt. Jaeger: Im Grunde nicht. Volkswirtschaft-
werbsunfähigkeitsrente wie ein vorgezo- Jaeger: Ich habe das für falsch gehalten. lich zahlt man Rentenbeiträge doch nicht
genes Altersruhegeld. Die Rente mit 63 zum Beispiel ist völliger für sich, sondern für die Generation der
SPIEGEL: Juristen können auch im hohen Unsinn. Ein vorgezogenes Rentenalter ist jetzigen Rentner. Manche müssen darüber
Alter noch produktiv sein – aber wenn nur vertretbar, wenn in einer wirtschaft- hinaus aber auch noch ihre Eltern versor-
eine ganze Berufsgruppe in einem gewis- lichen Krise geburtenstarke Jahrgänge an- gen, weil deren Rente nicht reicht, nicht
sen Alter kaum mehr arbeiten kann? dernfalls keine Arbeit finden würden, weil erst wenn die Eltern in die Sozialhilfe ab-
Jaeger: Der Dachdecker kann ja im Alter die ältere Generation alle Arbeitsplätze rutschen. Subjektiv liegt die Armutsgren-
etwas anderes machen, am PC arbeiten, belegt. In der heutigen Situation, in der ze höher. Deshalb sollten möglichst viele
den Lkw fahren oder Ähnliches. Vielleicht sogar Arbeitskräfte gesucht werden, ist das Bestandteile anrechnungsfrei bleiben, da-
wird er auch den Beruf wechseln müssen. eindeutig kontraproduktiv. mit die Rente nicht faktisch in der Sozial-
SPIEGEL: Mit 67? SPIEGEL: Sie haben das Schweizer Renten- hilfeleistung aufgeht. Jede Stärkung der
Jaeger: Eher deutlich früher. Da hat sich ja modell sehr gelobt. Renten hilft also auch der Generation der
in der sozialen Akzeptanz vieles getan. Jaeger: Ja, weil alle einbezogen werden, Beitragszahler – weil diese dann weniger
Auch der körperlich geforderte Facharbei- wie in der Steuer, und es dann eine ge- stark in der persönlichen Haftung für ihre
ter wird vielleicht im Alter auf angelernte dämpfte Rente gibt, die Spreizung also ab- Eltern ist.
DER SPIEGEL 6 / 2018 69
IN DER SPIEGEL-APP
Wirtschaft
Wir sind das Land der Sparerinnen und Sparer – weil wir uns auf sichere Gut-
haben verlassen können. Doch dieser Standard ist bedroht durch die geplante
zentrale Einlagensicherung der EU: In Zukunft sollen die Finanzmittel, die
deutsche Kreditinstitute heute zur Absicherung ihrer eigenen Kunden bereit-
stellen, auch die Risiken fremder Banken abdecken. Die deutsche Wirtschaft
stellt sich diesem Plan entgegen. Denn wer das Vertrauen der Sparer schwächt,
der setzt die Stabilität der gesamten Wirtschaft aufs Spiel.
damit-sicher-sicher-bleibt.de #sicherbleibtsicher
Bundesverband
der
Freien Berufe e.V.
Wirtschaft
S
hmuel Chafets sitzt in der Lobby des
Berliner Hilton-Hotels und spricht
von einem Wunder. „A Berlin mi-
racle“ sei die Geschichte von Auto1, dem
Gebrauchtwagenportal aus der deutschen
Hauptstadt. Die beiden Gründer, Hakan
Koç und Christian Bertermann, seien „bril-
lant“, „das beste Team, mit dem ich je ge-
arbeitet habe“.
Die Firma des Israeli, der Wagniskapital-
geber Target Global, hat mehrere Millionen
Euro in das Unternehmen investiert. Knapp
ein Jahr ist das her. Auch damals war Auto1
schon ein Einhorn. So heißen Start-ups mit
einer Bewertung von einer Milliarde Dollar,
die nicht an der Börse sind.
Mitte Januar gab der Fonds des japani-
schen Technologiekonzerns Softbank be-
kannt, mit 460 Millionen Euro bei Auto1
einzusteigen. Seitdem ist das Unterneh-
men ein Super-Einhorn. Nach Berechnung
der Investoren ist es 2,9 Milliarden Euro
wert. Auf der Rangliste der wertvollsten
Start-ups in Europa ist Auto1 auf Platz
zwei vorgerückt. Nur Spotify aus Schwe-
DOMINIK BUTZMANN
74
Teilung nicht geplant war DER SPIEGEL 6 / 2018
Wirtschaft
Ein Finanzminister aus Versehen sozu- Auch das in Brüssel gelobte Europa-
P
eter Altmaier blickt in die Runde. nen Kollegen auf Deutsch, Englisch, Fran- den Portugiesen zum Stargast einer abend-
„Wohnt jemand am Square Marie- zösisch und sogar auf Niederländisch. lichen Diskussionsrunde im Ministerium.
Louise?“ Es ist spät geworden beim Nach dem gestrengen Schäuble verströmt Von Vorteil ist, dass Altmaier Frank-
Hintergrundgespräch mit dem geschäfts- Altmaier muntere Jovialität. reichs Finanzminister Bruno Le Maire seit
führenden Bundesfinanzminister, Jahren gut kennt. Wenn die bei-
nur der Ressortchef selbst zeigt den sich über den Weg laufen,
keine Müdigkeit. etwa am frühen Morgen vor dem
Altmaier ist bei der Euro-Grup- Frühstücksraum im Brüsseler Ho-
pe in Brüssel zu Gast, einem Ter- tel, dann wirkt es so, als könnte
min, der es ihm erlaubt, für ein das deutsch-französische Tandem
paar Stunden dem engen Verhand- doch wieder Fahrt aufnehmen.
lungskorsett in Berlin, dieser Dau- Voller Achtung für den Über-
erschleife aus Sondierungen und gangsressortchef sind viele Be-
Koalitionserwägungen, zu entflie- dienstete des Ministeriums, die un-
hen. Für Angela Merkels Mann ter Vorgänger Schäuble nicht ein-
für alle Fälle ist es eine Reise in mal ignoriert wurden. Wachleute
die Vergangenheit, aber vielleicht und Pförtner berichten, dass Alt-
auch eine in die Zukunft. Weil er maier beim Betreten des Gebäu-
selbst vor vielen Jahren einmal in des freundlich in die Runde grüße,
Brüssel als EU-Beamter gearbeitet sich zuweilen gar nach dem Befin-
hat, will er jetzt wissen, ob je- den erkundige.
mand den Ort kennt, an dem er Für Erstaunen sorgte zudem,
damals wohnte. wie geduldig der Neue zuletzt die
Selten hat ein Politiker ein zu- Personalversammlung über sich
sätzliches Amt mit mehr Freude ergehen ließ. Die Veranstaltung
übernommen als Altmaier das galt schon immer als besonders
Bundesfinanzministerium (BMF). langweilig, auch dieses Mal wall-
Dabei hat er eigentlich genug zu ten nur einmal Emotionen auf: als
tun. Der Mann führt für Merkel sich Mitarbeiter darüber beklag-
die Regierungszentrale, beaufsich- ten, dass Urlaubsanträge künftig
tigt den Bundesnachrichtendienst nicht mehr auf Papierformularen,
URBAN ZINTEL / DER SPIEGEL
Kommentar
Plötzlich Staatsfeind
Europa muss die Kriegsgegner in der Türkei unterstützen.
Raşit Tükel ist einer der angesehensten Mediziner der Türkei: haben sich die Repressionen durch die Regierung weiter ver-
Er lehrt an der Universität Istanbul. Seit zwei Jahren steht er schärft: Nach Angaben des türkischen Innenministeriums
der Türkischen Medizinischen Vereinigung (TTB) vor – einem wurden in den vergangenen eineinhalb Wochen mehr als 300
Verband mit mehr als 83 000 Mitgliedern. Für die türkische Menschen festgesetzt. Es braucht keine Kritik an Erdoğan
Regierung aber ist Tükel plötzlich ein Terrorhelfer geworden. mehr, um ins Visier der Behörden zu geraten. Es genügt, zum
Tükels Verband hat die Militäroffensive der Türkei gegen die Frieden aufzurufen. „Jeder, der sich gegen die Afrin-Opera-
Kurden im Nordwesten Syriens vergangene Woche als „Ge- tion der Türkei stellt, unterstützt Terroristen“, sagt Außenmi-
sundheitsproblem“ bezeichnet und zum Frieden aufgerufen. nister Mevlüt Çavușoğlu.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan warf den TTB-Vertretern Die Verhaftungswelle sollte auch die Regierung in Berlin alar-
daraufhin „Verrat“ vor. Die Ärzte seien „keine Intellektuel- mieren. Erdoğan hat nach Jahren der Konfrontation zuletzt die
len“, sondern „Büttel der Imperialisten“. Nähe zu den Europäern gesucht. Sein Umgang mit Kriegsgeg-
Am Dienstag nahm die Polizei Tükel und zehn weitere Mit- nern beweist aber, dass er sich nicht über Nacht in einen Demo-
glieder des Ärzteverbands wegen vermeintlicher Terrorpropa- kraten verwandelt hat. Erdoğan hat sein Land in ein Abenteuer
ganda fest. Autokrat Erdoğan hat die Meinungsfreiheit in sei- geführt. Er riskiert, dass der Krieg weiter eskaliert, dass noch
nem Land bereits vor Jahren eingeschränkt. Rund 150 Journa- mehr Menschen sterben. Türken können darauf nicht einmal
listen sitzen im Gefängnis – mehr als in China und Russland mehr hinweisen, ohne eine Haftstrafe zu riskieren. Die Euro-
zusammen. Seit dem Einmarsch türkischer Truppen in Syrien päer sollten es deshalb umso lauter tun. Maximilian Popp
einem eigenwilligen Präsiden- Prüfer bestochen hätten. Da- es uns nicht so geht wie den
ten. Er schreibt die Farbe bei zahlt hier jeder Schmier- Saudi-Arabern. Deren zu-
der Autos vor – was soll das? geld. Frauen das Doppelte. rückgezogener Lebensstil hat
Tuchbatullin: Präsident Gur- SPIEGEL: Wie reagieren die hier schon fast zum nationa-
banguly Berdymuchammedow Turkmenen darauf? len Bewegungsstillstand ge-
soll im engen Kreis gesagt Tuchbatullin: Sie empören führt: Sieben von zehn Saudi-
haben: Wenn unsere Haupt- sich, aber nur in der Küche, Arabern sind fettleibig, 13
stadt schon aus weißem Mar- wo sie niemand hört – wie Prozent der Bevölkerung be-
Fußnote mor ist, dann sollen auch zu Sowjetzeiten. wegen sich weniger als eine
die Autos weiß sein. Anders- SPIEGEL: Der Vorgänger Stunde – pro Woche. Ändern
33
der 50 europäischen
farbige werden abgeschleppt
zum Umlackieren.
SPIEGEL: Aschgabad steht we-
gen seiner weißen Marmor-
war schon bekannt für seinen
bizarren Personenkult.
Tuchbatullin: Der war selbstbe-
wusst. Berdymuchammedow
soll das jetzt Prinzessin Ban-
dar Al-Saud Reema, neue
Präsidentin des Verbands für
Breitensport. Man könnte
Städte mit der schlimms- fassaden im Guinness-Buch wirkt eher wie einer, der das eine Herausforderung
ten Luftqualität liegen der Rekorde. Legt jetzt ein als Kind nicht genug spielen nennen, geht man davon aus,
in Polen. Darunter ist Erlass die weiße Farbe fest? durfte und jetzt reichlich dass die Unsportlichkeit
Katowice, wo im Dezem- Tuchbatullin: Es gibt keine ju- Spielzeug hat. Er komponiert, gutenteils Produkt einer reli-
ber der Klimagipfel der ristische Grundlage. Es schreibt angeblich pro Monat giösen Erziehung ist, nach
Uno stattfinden soll. Die- reicht, dass Missfallen oder ein drei Bücher, und er singt. Das der Leben jenseits der Haus-
ses Ranking der WHO Wunsch geäußert wurde. will er alles vorführen. red tür teuflische Verlockungen
wird bestätigt durch eine bereithält. Prinzessin Reema
Untersuchung im Auftrag Hauptstadt Aschgabad plant, den Strand von
der EU-Kommission. Am Dschidda zum „Venice Beach“
schlechtesten schneiden von Saudi-Arabien umzuge-
südpolnische Orte ab. stalten, mit Paddle-Boarding
Die Region ist das und Beachvolleyball, auch
bedeutendste Industrie- für Frauen: bis vor Kurzem
ULLSTEIN BILD
Schriftstellerin Despentes: „Jede Vergewaltigung fühlt sich an, als sei sie gestern passiert“
Ist Frankreich machistischer als andere SPIEGEL: Wachsen Mädchen heute unter an- kann Tag und Nacht arbeiten, drei Kinder
Länder? deren, besseren, gleichberechtigteren Be- und den Ehemann glücklich machen und
Despentes: Jedes Land hat seine eigene dingungen auf? dabei noch unfassbar gut aussehen.
Form von Machismus. In Frankreich has- Despentes: Nein, im Gegenteil, es wird im- SPIEGEL: Es muss aber doch möglich sein,
sen wir alte Frauen, und ab 40 gehört man mer früher von Mädchen verlangt, sich einen Beruf auszuüben und zugleich Kin-
hier zu den Alten. Sogar Journalistinnen auch wie Mädchen zu benehmen. Schauen der zu bekommen.
müssen unfassbar gut aussehen. Und das Sie sich doch mal in einer École maternelle Despentes: Warum wird den Frauen denn
tun sie auch alle. Sie sind dünn, perfekt um. Kleine Kinder von drei bis sechs Jah- nicht mehr geholfen? Es schockiert mich,
geschminkt und höchstens Anfang dreißig. ren gehen dorthin, und trotzdem werden dass sie immer mit allem selbst fertig
SPIEGEL: Auch Sie kritisieren – wie die Ca- Sie ganz genau erkennen, wer die Mäd- werden müssen. Warum gibt es nicht
therines – den mittlerweile herrschenden chen sind und wer die Jungs. Sie sehen es richtig gute, funktionierende Formen der
Puritanismus. an den Haaren, den Frisuren und daran, Kinderbetreuung? Einen Ort, wo man die
Despentes: Ja, aber ich gebe nicht den Fe- wie sie angezogen sind. Kinder gern hinbringt. Wenn du Mutter
ministinnen die Schuld dafür. Sex ist mitt- SPIEGEL: Selbst sehr kleine französische bist und arbeitest, dann ist es auch die
lerweile fast völlig aus den Darstellungs- Mädchen tragen weiße Strumpfhosen und Aufgabe deines Arbeitgebers, dir bei der
formen unserer Lebenswelt verschwunden. Ballerinas. Vereinbarkeit von Kindern und Beruf zu
Aus den Romanen, aus den Filmen. Alles Despentes: Früher war das anders. Die helfen!
Körperliche ist schmutzig geworden, man Kindheit war damals eine Art neutrales SPIEGEL: Vielleicht auch die Aufgabe des
schämt sich dafür. Die Catherines treten Terrain. Bis sie zehn, elf Jahre alt waren, Vaters?
mit ihrem Essay für mehr Sex ein – das gab es nahezu keine geschlechtsbedingte Despentes: Im Idealfall kümmert sich der
hat aber mit #MeToo überhaupt nichts zu Zuschreibung für Kinder. Heute fängt das Mann genauso ums Kind und den Haushalt
tun: Thema verfehlt! Und genau das werfe viel früher an. Ich gehe oft im Park spazie- wie die Frau. Die Wirklichkeit sieht meis-
ich ihnen vor. Bei #MeToo geht es um ren, weil ich eine Hündin habe. Da sehe tens anders aus. Aber für mich ist es ein
Macht und deren Missbrauch. Nicht um ich viele kleine Kinder – und nie sehen riesiger Schwindel, der nur eines beför-
Sex. Ich bin auch für mehr Sex, aber wenn die Mädchen so aus, als wollten sie drau- dert – die weibliche Servilität!
ich meinen Verleger treffe oder einen Film- ßen spielen. Sie tragen sehr hübsche Kleid- SPIEGEL: Wir sind ja auch selbst schuld,
produzenten, dann heißt das nicht, dass chen, gern auch in Rosa. Damit rollt es wenn wir dabei mitmachen.
ich plötzlich einen Finger im Po haben sich aber nicht gut durchs Gras. Despentes: Ja, aber es geht um die gesell-
möchte, nur weil der andere mächtiger ist. schaftliche Konditionierung. Es gibt da die-
SPIEGEL: Sie haben früher als Prostituierte ses frappierende Beispiel: Für eine Studie
gearbeitet und beschreiben das als meist „Hätte ich eine Tochter, hat man mit fünf-, sechsjährigen Kindern,
angenehme Erfahrung. Mädchen und Jungen, so getan, als wolle
Despentes: Ja, es hat mir ermöglicht, in
dann würde ich ihr man eine Joghurt-Werbung drehen. Ohne
ziemlich kurzer Zeit ziemlich viel Geld zu sagen: Wenn du Hunger die Kinder vorzuwarnen, dass der Joghurt
verdienen. Endlich musste ich nicht mehr total versalzen war. Die Jungs riefen
als Kassiererin arbeiten! Außerdem haben
hast, dann iss!“ „Igitt!“ und weigerten sich, den Joghurt
mich Jungs und Sex damals wirklich faszi- weiter zu löffeln. Die Mädchen hingegen
niert. Eine Zeit lang fand ich es genial, mit SPIEGEL: Eine sehr französische Eigenart. taten, als ob es das Beste wäre, was sie je
allen schlafen zu können. Despentes: Es ist sehr französisch, und es gegessen haben. Sie hatten bereits verin-
SPIEGEL: Was haben Sie daraus gelernt? ist mir komplett unverständlich. In Spa- nerlicht, gefallen zu müssen, gefallen zu
Despentes: Es hat mir die Männer näherge- nien, wo ich auch lebe, werden Kinder als wollen. Für mich bedeutet Weiblichkeit ge-
bracht, ihr Verhalten fand ich manchmal fast Kinder respektiert. Hier aber wird schon nau das: Bloß nicht spontan sein, runter-
rührend, so verletzlich und unsicher waren von ganz kleinen Mädchen verlangt, mög- schlucken und lächeln!
manche. Ich glaube ja, dass Männer mit einer lichst feminin zu sein. SPIEGEL: Hätten Sie eine Tochter, welchen
Prostituierten besser umgehen als mit einer SPIEGEL: Wir deutschen Mütter bewundern Rat würden Sie ihr geben?
Frau, die sie in einer Bar kennenlernen. die französischen Mütter ja: Sie haben Despentes: Ich würde ihr sagen: Wenn du
SPIEGEL: Ist die Prostitution ein Job für Sie gleich nach der Entbindung wieder ihr Ide- Hunger hast, dann iss!
wie jeder andere? algewicht, sehen blendend aus und arbei- SPIEGEL: Aha.
Despentes: Schriftstellerin zu sein ist für ten sofort wieder Vollzeit. Despentes: Für mich steht das für vieles.
mich auch kein Job wie jeder andere. Wer Despentes: Das mit dem Gewicht wundert Frauen, die sich einschränken, die leiden,
schreibt, exponiert sich, und das kann sehr mich nicht, die Pariserinnen essen ja auch um zu gefallen. Schauen Sie sich um, Paris
schmerzhaft sein. Ich habe mich selten so nichts. Für mich gleicht das einer Selbst- ist voller hungernder Frauen. Anders als
verletzlich gefühlt wie nach meinem ersten geißelung. Es muss wehtun, so schnell nach in Barcelona gehe ich in Paris nie unge-
Fernsehinterview, als mich die Menschen der Entbindung wieder dünn zu werden. schminkt auf die Straße. Denn in Paris
auf der Straße erkannten. Findet Prostitu- Oder ein erst wenige Wochen altes Baby schminkt man sich, bevor man das Haus
tion zu den richtigen Bedingungen statt, jeden Morgen in der Krippe abzugeben, verlässt. Wenn ich im Fernsehen bin, was
dann ist das ein Deal, bei dem jeder weiß, um rasch wieder den ganzen Tag zu arbei- ich eigentlich vermeide, sage ich mir dau-
was der andere von ihm will. ten, zu funktionieren. Die Frau, die Mutter, ernd: Du musst nicht die ganze Zeit lä-
SPIEGEL: Sie empfinden es, so sagen Sie, als die alles will, scheitert zwangsläufig. cheln! Wir Frauen tun manchmal so, als
viril, einen Text zu publizieren. Warum SPIEGEL: Die Frauen als Opfer ihrer eigenen wären wir alle Hostessen.
ist das etwas Männliches für Sie? Ansprüche? SPIEGEL: Auch Sie entkommen dem gesell-
Despentes: Das Wort ergreifen, einen Blick Despentes: Wir wollen alles immer viel zu schaftlichen Druck nicht.
lenken – das hat für mich etwas Männli- gut machen. Es gibt aber nun mal diesen Despentes: Nein. Diese Propaganda ist zu
ches, ja. Einen Roman zu schreiben und Konflikt zwischen dem, was man leisten mächtig. Nach dem Erfolg meines ersten
sein eigenes Universum, die eigene Vision möchte, und dem, was man leisten kann. Buchs „Baise-moi – Fick mich“ hatte ich
darzulegen und sie anderen zugänglich zu Wir sollten aufhören, uns dabei dauernd plötzlich Lust, so zu sein wie alle. Ich färb-
machen ist eine delikate Angelegenheit. selbst in die Tasche zu lügen. Niemand te mir die Haare blond und hörte auf zu
80 DER SPIEGEL 6 / 2018
trinken. Ich habe sogar versucht, in einer
Paarbeziehung zu leben.
SPIEGEL: Mit 35 haben Sie sich dann in eine
Frau verliebt, seither sind Sie lesbisch.
Despentes: Eine enorme Erleichterung!
Plötzlich waren diese Verführungsspiel-
chen, das Schönheitsdiktat Vergangenheit.
Für eine Frau wird es oft zum Problem,
wenn sie mehr verdient, erfolgreicher ist
als der Mann. Daran kann die Beziehung
zerbrechen. So lief es bei mir und in mei-
nem Umfeld, während erfolgreiche Män-
Im falschen Leben
USA Melania Trump ist das große Mysterium dieser Präsidentschaft. Nun gibt es Anzeichen,
dass sie ihren Ehemann zunehmend kritisch sieht.
S
chon der Anfang war holprig. Erst „Was war denn drin?“, fragt DeGeneres. dem eine angebliche Affäre ihres Mannes
schien Donald Trump vergessen zu „Ein Bilderrahmen.“ diskutiert wird. Mitte Januar hatte das
haben, dass er seine Frau mitgebracht Mehr muss Michelle Obama nicht sagen. „Wall Street Journal“ berichtet, Donald
hatte, und eilte allein die Stufen zum Wei- Viele in den USA halten sie für die coolste Trump habe der Pornodarstellerin Stormy
ßen Haus hoch. Dann durfte Melania First Lady der Geschichte, sie muss dem Daniels im Vorfeld der Präsidentschafts-
Trump an Michelle Obama eine Geschenk- Publikum nicht erklären, was sie von ei- wahl 130 000 Dollar Schweigegeld überwei-
schachtel von Tiffany überreichen, mit der nem sogenannten Geschenk hält, das New sen lassen, um einen Seitensprung mit ihr
diese offensichtlich nichts anfangen konn- Yorker Milliardärsgattinnen vom Chauf- geheim zu halten.
te. Es war der Tag der Amtseinführung, feur besorgen lassen, wenn ihnen sonst Melania Trump soll davon aus der Zei-
die Kameras liefen, die ganze Nation be- nichts einfällt. Ein Bilderrahmen. Von Tif- tung erfahren haben. Die Affäre fand an-
obachtete diese unbeholfene Szene. So be- fany. Gibt es etwas Hohleres? geblich 2006 statt, kurz nach der Geburt ih-
gann Melania Trumps Zeit als First Lady. Es war keine gute Woche für Melania res Sohnes Barron. Sowohl Trump als auch
Michelle Obama hat diese seltsame Be- Trump. Mal wieder steht sie unfreiwillig Stormy Daniels dementieren das, aber die
gegnung gerade wieder aufgewärmt, in der im Scheinwerferlicht, mal wieder redet das Belege sprechen gegen sie. Melania Trump
„Ellen DeGeneres Show“ am vergangenen Land über sie. So auch am Dienstag, als begleitete ihren Mann auch nicht wie vor-
Donnerstag. Obamas Auftritt in der Sen- sie und ihr Mann in getrennten Autos vom gesehen zum Weltwirtschaftsforum nach
dung war deshalb so erfrischend, weil sie Weißen Haus zum Kapitol fuhren, wo Davos. Stattdessen besuchte sie in Washing-
das Land an bessere, weniger peinliche Trump seine Rede zur Lage der Nation ton das Holocaust Museum. War auch das
Zeiten erinnerte. An eine Ära im Weißen hielt. Üblicherweise lassen sich Präsiden- eine Reaktion auf frühere Äußerungen ihres
Haus, in der sich ein Ehepaar liebte und ten bei solchen Anlässen von ihren Gat- Mannes, der Sympathien für Neonazis er-
respektierte, in der Lockerheit herrschte, tinnen begleiten. Melania Trump hatte sich kennen ließ, wie die Kolumnistin Maureen
nicht Anspannung und Kälte. offenbar dagegen entschieden, was in Wa- Dowd diese Woche schrieb?
„Ah, die Tiffany-Box“, sagt Obama la- shington als offensive Geste der Rebellion Am Dienstag also konnte man eine First
chend in der DeGeneres-Show. Ihr erster interpretiert wurde. Lady beobachten, die ein Lächeln wie aus
Gedanke war: „Was soll ich damit tun?“ Das Die Szene war deshalb irritierend, weil Marmor spazieren trug, während sie durch
Protokoll sah keine Geschenkübergabe vor. es ihr erster öffentlicher Auftritt war, seit- das Kapitol schwebte. Sie hatte dazu einen
82 DER SPIEGEL 6 / 2018
Ausland
cremefarbenen Hosenanzug von Christian der First Lady offiziell nie genau definiert Laut Michael Wolff glaubte Melania
Dior ausgewählt, was Spekulationen aus- wurde, verfügt sie im Weißen Haus über Trump als eine der wenigen in seinem Um-
löste, sie solidarisiere sich mit der frühen ein eigenes Büro und einen Mitarbeiterstab. feld daran, dass ihr Mann die Präsident-
Frauenrechtsbewegung der Suffragetten, Eine Präsidentengattin – und irgendwann schaftswahl gewinnen würde. Sie fürchtete
deren Anhängerinnen häufig weiße Klei- auch der Gatte einer Präsidentin – nimmt sich davor. Sie wusste, dass sie in Washing-
dung trugen (wenn auch nicht von Dior). soziale Aufgaben wahr und schafft Aufmerk- ton auf die grelle Bühne der Politik ge-
Beobachter wiesen zudem darauf hin, dass samkeit für Themen, die gesellschaftlich re- schleudert werden und ihr sorgfältig ein-
die First Lady nicht wie viele andere ste- levant, aber unterbelichtet sind. Außerdem gezäuntes Luxusleben im New Yorker
hend applaudierte, als ihr Mann vorn am ist es der einsamste Job der Welt, US-Präsi- Trump Tower dann vorbei sein würde.
Pult von der Bedeutung der Familie sprach. dent zu sein. Das verschaffte in der Vergan- Vielleicht war sie deshalb nicht unglück-
Seit einem Jahr ist Melania Trump das genheit vielen Ehefrauen große Macht. lich über den dummen „Grab ’em by the
große Rätsel von Washington. Ein Enigma, Nancy Reagan engagierte sich in der pussy“-Spruch ihres Mannes, der wenige
ein schweigsames Mysterium. Was hält sie Antidrogenpolitik, später wollte sie den Wochen vor der Wahl an die Öffentlichkeit
von ihrem Mann, was denkt sie über seine Terminkalender ihres Mannes, der sich kam. Melania verteidigte den Satz zwar als
Präsidentschaft? Beeinflusst sie ihn, und, von einer Operation erholte, beeinflussen Jungsgequatsche, aber insgeheim, so Wolff,
wenn nein, warum nicht? Je rarer diese und geriet darüber mit dem Stabschef an- habe sie sich darüber gefreut, dass die Chan-
Frau sich macht, umso größer wird der einander. Hillary Clinton hatte ein eigenes cen ihres Mannes auf das Präsidentenamt
Wunsch, sie zu verstehen. Die Autorin und Büro im West Wing des Weißen Hauses, zu sinken schienen. Als sie am Morgen nach
Expertin für Präsidentengattinnen Kate An- der eigentlich dem Präsidentenstab vorbe- der Wahl begriff, dass sie First Lady werden
derson Brower schrieb vor Kurzem in der halten ist, und arbeitete an einer Reform würde, sei sie in Tränen ausgebrochen. Es
„New York Times“, Melania Trump sei die des Gesundheitswesens. Laura Bush setzte waren keine Freudentränen.
verhaltenste First Lady seit Bess Für Melania Trump spricht,
Truman in den Nachkriegsjah- dass sie einigermaßen beliebt
ren. Und dennoch sei sie radikal, ist. Ihre Zustimmungswerte lie-
weil sie sich trotzig weigere, ih- gen weit über denen des Präsi-
ren Mann öffentlich zu unter- denten, Konservative feiern sie
stützen und gegen seine Kritiker als Stilikone.
zu verteidigen. Melania Trumps Anhänger der Demokraten
Schweigen, schreibt Brower, sei blicken dagegen mit einer Mi-
ein Akt stummer Rebellion ge- schung aus Argwohn und Mit-
gen dieses archaische Amt. leid auf sie. Viele halten sie
Die Melania-Exegese ist in für etwas einfach gestrickt. Der
den politischen und journalis- „New Yorker“ bemerkte in ei-
tischen Kreisen Washingtons nem Porträt, Melania sei nach
längst zur Lieblingsbeschäfti- der 1775 geborenen Britin Loui-
gung geworden, neben dem Spe- sa Adams erst die zweite Im-
JONATHAN ERNST / REUTERS
E
s ist Ruhe eingekehrt. Die öffentlichen Proteste in liarden Euro aus dem öffentlichen Haushalt, während das
mehreren Städten des Landes endeten mit über Budget für das Umweltministerium lediglich rund 65 Mil-
30 Toten und mindestens 3700 Festnahmen, ohne lionen Euro beträgt.
dass der Zorn sich gelegt hätte. Die Protestierenden haben Seit Jahren vergeht kaum ein Tag, an dem die Zeitungen
sich erschöpft in ihre Häuser zurückgezogen und warten nicht über den immensen Missbrauch staatlicher Gelder
auf den nächsten Anlass, der sie auf die Straße treiben berichten. Das jüngste Beispiel hierfür lieferte der neue
wird. Die Straßenkehrer haben die Scherben auf den Geh- Bürgermeister Teherans. Er hat, wie er nun berichtet, von
wegen zusammengefegt, das Blut vom Asphalt gewa- seinen beiden konservativen Vorgängern eine Schuldenlast
schen, die Geschäfte haben wieder geöffnet. Die Haupt- von umgerechnet rund elf Milliarden Euro übernommen.
stadt Teheran kehrt notgedrungen zum Normalzustand Auch weil durch Scheinverträge der Wahlkampf seines
zurück. direkten Vorgängers finanziert wurde, der bei der Präsi-
Die Verantwortungsträger der Islamischen Republik ta- dentschaftswahl antreten wollte. Der neue Bürgermeister
delten einander zwar für ihre etwas schleppend erbrachten machte öffentlich, dass mehr als die Hälfte der Gelder
Dienstleistungen gegenüber der geschätzten Bürgerschaft. der Stadtverwaltung nicht zweckgebunden sei – und man
Aber ansonsten verkündeten sie nach Tagen unter Dauer- oftmals nicht einmal wisse, wer über sie verfüge. Am selt-
spannung zufrieden: „Wir haben aufgeräumt!“ samsten jedoch ist der Personalüberschuss: Auf jeweils
Tatsächlich müssen sie wohl aus jedem Kampf als Sieger 100 Stellen in der Stadtverwaltung kommen 426 Ange-
hervorgehen, und das hat einen einfachen Grund: Die Mi- stellte, die auch Gehalt beziehen.
lizen sind dreist, und sie scheuen sich nicht, auf Leute zu
D
schießen, die sich ihnen mit nichts als ihren lautstarken och es soll nicht dieser enorme Missbrauch von
Rufen entgegenstellen. Geldern, es sollen auch nicht Armut, Arbeitslosig-
Nun, nach der Erstickung der jüngsten Proteste, sind keit, Diskriminierung sein, die Teile der Gesell-
die jungen Leute wieder zu folgsamen Bürgern geworden, schaft auf die Straßen treiben. Nein – schuld sei „Michaels
wie bereits nach den Aufständen von 1999 und 2009. Dazu Kommandozentrale“. So behauptete es wenige Tage nach
tragen schon die Festnahmen bei und Gerüchte über an- Ausbruch der Unruhen der Generalstaatsanwalt. Er sagte,
gebliche Selbstmorde Gefangener. Während Menschen- ein CIA-Mann namens Michael D’Andrea sei verantwort-
rechtsgruppen von drei bis fünf Toten unter den Inhaf- lich für die Unruhen, unterstützt von einem Offizier des
tierten berichten, bestätigen offizielle Stellen lediglich, israelischen Mossad. Zudem koordiniere und finanziere
dass vor Kurzem zwei Gefangene in der Haft Selbstmord ein Mitglied der Regierung Saudi-Arabiens die landeswei-
begangen hätten – die aber nichts mit den jüngsten Pro- ten Proteste.
testen zu tun gehabt hätten. Dabei kann der Zorn, der in den Demonstrationen zum
Die Ruhe wird jedoch nicht von Dauer sein. Dass diese Ausdruck kam, kaum jemanden überraschen. Wachsende
Proteste alle Jahre wieder unter jeweils anderen, neuen soziale Mobilität und insbesondere die sich wandelnde
Bedingungen aufflammen, zeigt: Landesweit, in allen Rolle der Frau haben die Gesellschaft verändert. Immer
Städten, schwären Wunden. Das ist allen Bürgern auch wieder legen junge Frauen aus Protest in der Öffentlichkeit
mehr oder weniger klar – nur den Verantwortungsträgern ihren Hidschab ab.
offenbar nicht. Diese Infektionen werden ausgelöst vom Veränderungen im Leben jedes Iraners finden jedoch
Mangel an Freiheit, von großer sozialer Ungleichheit, von keinen Widerhall in der Politik – und das ist der Kern all
Armut, Arbeitslosigkeit, Korruption und Wirtschafts- unserer Katastrophen. Die Regierung hat keine Lösungen
kriminalität. Deshalb sind die auf die Proteste folgenden für unsere Probleme, ja, mit ihrer Politik der eisernen
Ruhephasen stets nur flüchtig. Faust verschlimmert sie die Lage noch. Seit ihrer Grün-
Wer die unter der Zensur leidende einheimische Presse dung hat die Islamische Republik ihre Gegner an die
auch nur oberflächlich konsultiert, stellt fest, dass ein Ränder der Gesellschaft gedrängt. Doch mittlerweile sind
erheblicher Teil des nationalen Einkommens für drei die Ränder stärker als das Zentrum – und sie fordern die
Bereiche ausgegeben wird: Erstens fließen für den Kultur- bestehende Ordnung heraus. Die Regierung reagiert da-
haushalt vorgesehene Gelder an mehr als 30 religiöse rauf vor allem mit strenger Zensur.
Organisationen, die aus Iranerinnen und Iranern gute Wir Schriftsteller sollen nicht mehr kritisch über Reli-
Muslime machen sollen. Zweitens werden Menschen in gion berichten, sollen politische Diskurse unterlassen; man
palästinensischen Gebieten und in Syrien, im Libanon hat uns sogar verboten, über Dinge zu schreiben, die Frau
und im Jemen unterstützt, um sie von dem Leid zu befrei- und Mann betreffen. Durch dieses Verbot hat sich der ira-
en, das ihnen wahlweise die USA, Israel, Saudi-Arabien nische Roman dahin gehend entwickelt, dass er soziale
oder der „Islamische Staat“ angetan haben. Und drittens Realitäten erfindet und die iranische Gesellschaft bisweilen
fließen Riesenbeträge in die Bürokratie, zum Nutzen kor- bis zur Unkenntlichkeit entstellt.
rupter Beamter. Das Ministerium für Kultur und Islamische Führung
Laut Zeitungsberichten bekommen die religiösen Stif- betreibt zudem die systematische Vernichtung von Büchern
tungen allein für Werbezwecke umgerechnet rund 1,7 Mil- und Zeitungen. Ich konnte während der vergangenen
13 Jahre keinen einzigen meiner neuen Romane in meiner gram, so wie rund 40 Millionen Iraner. Ein Leben ohne
Heimat veröffentlichen. Die Zahl der Kolleginnen und Internet, ohne soziale Netzwerke können sich vor allem
Kollegen, die mein Schicksal teilen, ist nicht klein. Freie die Jüngeren kaum mehr vorstellen.
Schriftsteller und Künstler dürfen weder im Radio noch
E
im Fernsehen auftreten. ine existenzielle Frage, die sich viele Beobachter in
Zugleich wurden in den vergangenen vier Jahrzehnten Iran in diesen Wochen stellen, lautet: Ist Präsident
falsche Schriftsteller und Künstler herangezogen, die man Rohani angetreten, um das System vor den Men-
der Gesellschaft als echte verkauft. In Filmen dürfen Müt- schen zu retten – oder die Menschen vor dem System?
ter und Söhne einander nicht umarmen oder küssen, weil Bei der Präsidentschaftswahl Mitte vergangenen Jahres
sie ja in der Realität nicht Mütter und Söhne sind, sondern haben viele Iraner für Rohani gestimmt, um seinen Mit-
Männer und Frauen, die lediglich eine Rolle spielen. bewerber zu verhindern, hinter dem sich die Hardliner
Die Zensur hat solche Ausmaße angenommen, dass versammelt hatten. Die Aussicht, dass ein Konservativer
man ohne Weiteres sagen kann: Ohne den virtuellen gewinnen könnte, beschwor den Albtraum der acht Jahre
Raum hätte die Welt von den jüngsten Unruhen nichts währenden Regierungszeit von Mahmoud Ahmadinejad
erfahren. Während die Proteste in den Neunzigerjahren herauf. Die Wähler haben daher Rohani gewählt. Aber
einen geringen Widerhall in den Medien fanden, gab es die Gelegenheiten zur Erlösung sind ungenutzt verstri-
diesmal viele Bilder, Filme und Meldungen über die Er- chen, die Hoffnungen haben sich zerschlagen. Endgültig
eignisse in den mehr als 90 kleinen und großen Städten deutlich wurde das mit dem Satz „Wir haben aufgeräumt!“
des Landes, in denen Menschen auf die Straße gingen. des Präsidenten. Ja, die Rettung des Systems ist sein
Genau deshalb geht die Regierung inzwischen auch so oberstes Ziel.
scharf gegen Aktivisten in den sozialen Medien vor. Und auch die Hoffnung auf eine Verbesserung der wirt-
Viele Blogger wurden in den vergangenen Jahren in- schaftlichen Lage ist verloren. Das Atomabkommen und
haftiert, weil sie öffentlich geäußert haben, was sie denken. die damit verbundene Lockerung der Sanktionen hätten
Sattar Beheschti war einer von ihnen, ein junger Mann, ausländische Investitionen ankurbeln, dem Tourismus zu
der vor mehr als fünf Jahren wegen „Gefährdung der na- neuer Blüte verhelfen und die Produktion steigern sollen.
tionalen Sicherheit durch Aktivitäten im sozialen Netz- Nun aber sieht es so aus, als gäbe es keinen Weg mehr, all
werk Facebook“ verhaftet wurde. Er starb wenige Tage diese Ziele zu erreichen. Diese und andere bittere Wahr-
später im Gefängnis. Zahlreiche Hinweise legen den heiten sind der Grund dafür, dass die Glut unter der Asche
Schluss nahe, dass er zu Tode gefoltert wurde. Als sein der iranischen Gesellschaft nach wie vor glimmt. Und je-
Onkel von der Gefängnisleitung wissen wollte, woran sein derzeit kann das Feuer neu aufflammen.
Neffe gestorben sei, bekam er zur Antwort: „Halten Sie Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich
die Klappe. Das geht Sie nichts an.“
Diese harsche Reaktion zeigt allen Internetnutzern, dass Der Schriftsteller Cheheltan wurde 1956 in Teheran geboren,
sie sehr vorsichtig sein müssen. Und doch scheinen derlei wo er nach mehreren Auslandsaufenthalten immer noch lebt.
Drohungen ihre Wirkung bisher verfehlt zu haben. Fast Zuletzt erschien von ihm auf Deutsch der Roman „Der Kalli-
alle meine Freunde nutzen den Nachrichtendienst Tele- graph von Isfahan“.
Der Laborversuch
Dschibuti Eines der kleinsten Länder Afrikas wurde von den Chinesen zum „strategischen Partner“
erklärt. Sie bauen hier riesige Freihandelszonen und unterhalten
sogar eine Marinebasis. Beginnt nun ein besseres Leben? Von Dietmar Pieper
E
ine rote Staubwolke, und plötzlich Freihandelszone, die Nicholas Li aus dem nach dem Beispiel von Dschabal Ali in Du-
steht da dieser Polizeiwagen auf der Geröllfeld wachsen lässt, soll Arbeitsplätze bai eingerichtet“, sagt er.
Piste zwischen den Felsbrocken. Der und Wohlstand liefern. Bei den Scheichs sprudelt der Reichtum
junge Mann in Uniform öffnet das Fenster Am Abend in seinem Hauptquartier hat aus dem eigenen Boden, in Dschibuti gibt
und schimpft los, auf Französisch. Die von Li noch etwas Zeit. In der dunklen Ein- es weder Öl noch andere wertvolle Boden-
ihm gemaßregelten Chinesen verstehen gangshalle knipst er ein paar Schalter an, schätze. Das Land ist heiß und trocken. Bis
nichts, aber langsam wird ihnen klar, wo- im Schein vieler winziger Lichter erstrahlt vor ein, zwei Generationen lebten die Men-
her die Aufregung kommt: Sie haben es das Modell, das die erste Ausbaustufe der schen hier als Nomaden. Ziegen und Kamele
versäumt, sich bei dem Wachposten anzu- Freihandelszone zeigt. Li deutet auf das laufen mitten durch die Hauptstadt.
melden, der die Zufahrt zu der Großbau- Hochhaus neben der achtspurigen Zufahrt. Dschibuti hat vor allem einen Rohstoff
stelle oberhalb der Küste sichert. „Hier kommt ein Hotel hin“, sagt er. Das zu bieten, der in der Immobilienbranche
Als der Polizist abdreht, entfährt es Ni- Gebäude daneben soll der neue Firmensitz Lage, Lage, Lage heißt. Vor den Küsten
cholas Li: „Unglaublich, das ist doch meine des Konsortiums werden. „Im Juli ziehen des Landes verläuft eine der meist befah-
Firma hier!“ Das Unternehmen unter Füh- wir ein.“ Der Zeitplan ist straff. renen Schifffahrtsstraßen der Welt. Dut-
rung der China Merchants Group soll in Li ist erst vor einem halben Jahr nach zende Öltanker und Containerschiffe steu-
Dschibuti die größte Freihandelszone Afri- Dschibuti gekommen. Nach einem Bache- ern dort täglich das Rote Meer an, um nach
kas errichten. lor in Finanzwissenschaft ging er von der Passage durch den Suezkanal in den
Li, der 37-jährige Firmenchef, kickt ei- China ins walisische Cardiff, um seinen Häfen Europas festzumachen.
nen Stein von der Piste. Regeln sind Re- Masterabschluss zu machen. „In meinen Die strategische Lage ist einer der Grün-
geln, okay, die Tour im Geländewagen Kursen dort waren so viele Chinesen, das de, warum die Chinesen hier sind, mit ih-
über das Geröllfeld geht weiter. Seinen gefiel mir nicht“, sagt er. Er belegte andere ren Projektmanagern, Bankern und Inge-
Fahrer hat Li im Hauptquartier unten in Seminare, um internationale Studenten nieuren, seit Neuestem auch mit ihrer Ar-
der Stadt gelassen, er lenkt selbst, er hat kennenzulernen. Englisch spricht er mit mee. In einer langen Reihe ausländischer
die Dinge gern unter Kontrolle. britischem Akzent. Mächte sind sie die bisher letzten, die sich
Da, wo die Bagger mit Spezialwerkzeug Die geplante Freihandelszone, für die in Dschibuti dauerhaft einquartiert haben.
den felsigen Untergrund aufbrechen, sol- Li zuständig ist, ist wichtig für Dschibuti, Aber sie denken in größeren Kategorien
len bald Fabriken, Lagerhallen, Büroklötze weil dort Jobs für Einheimische entstehen als die anderen. Das kleine Dschibuti ist
und Hotels stehen: eine Stadt aus dem sollen. Mohamed Abdillahi Wais, General- ihr Tor nach Afrika.
Nichts, die bis hinunter ans Meer reicht, sekretär der Präsidentschaft und ein ein- Jene, die schon da waren, als die Chine-
eine 48 Quadratkilometer große Einladung flussreicher Mann in der Regierung, sagt: sen kamen, sind geblieben, vor allem mit
an Investoren aus der ganzen Welt. „Wo 50 Ausländer arbeiten, sollen auch ihrem Militär. Truppen aus drei Kontinen-
Dschibuti ist eines der kleinsten Länder 50 von unseren Leuten Arbeit finden.“ ten unterhalten im Süden der Hauptstadt
Afrikas, aber seit einigen Jahren wird hier Wais, der in Frankreich studiert hat, Stützpunkte: US-Amerikaner, Japaner, Ita-
ganz groß gedacht. Viele Menschen träu- kennt die Skepsis der Europäer gegenüber liener und natürlich die Franzosen, die ehe-
men davon, mit chinesischer Hilfe eine Er- Großprojekten unter chinesischer Flagge, maligen Kolonialherren. Auf ihrer „base
folgsgeschichte zu schreiben wie die ara- aber er teilt sie nicht: „Wir haben die Zone aérienne 188“ beherbergen sie auch Spa-
bischen Golfstaaten oder Singapur. Es lie- nier und Deutsche. Französisch ist die
ßen sich tausend Gründe finden, warum wichtigste Landessprache in Dschibuti.
in diesem ausgedörrten Land daraus nichts Rotes Fast eine Million Menschen leben hier
Meer JEMEN
werden kann. Aber es gibt hier auch den AFRIKA auf einer Fläche etwas größer als Hessen.
Ehrgeiz, etwas zu riskieren und voranzu- Sie kommen aus unterschiedlichen Kultu-
kommen. Es geht um ein besseres Leben ren, sprechen Arabisch oder die Sprachen
ERITREA
und um den Aufstieg in der Weltgesell- der Nachbarländer Somalia und Äthiopien.
schaft, die sich gerade neu ordnet. Zwei große Gruppen lagen lange miteinan-
Golf
Die globale Machtverschiebung von der im Streit, die Afar aus dem Norden
von
Westen nach Osten lässt sich hier wie in ÄTHIOPIEN Aden
und die Issa aus dem Süden, aber seit dem
DSCHIBUTI
einem Labor beobachten. Dschibuti ist of- Ende des Bürgerkriegs 1994 ist es ziemlich
fener und experimentierfreudiger als an- Chinesische still geblieben.
dere afrikanische Staaten. Europa und Marinebasis Der autoritär regierende Präsident Is-
und Hafen
Amerika sind für die Menschen hier zwar mail Omar Guelleh hat seinem Land er-
weiterhin wichtig. Wenn es aber um ihre Dschibuti folgreich Ruhe verordnet. Politische Frei-
Zukunft geht, schauen sie auf China. Geplante Freihandelszone heit für alle hält Guelleh für riskant, er
Sie haben die Erfahrung gemacht, dass Flughafen und
setzt auf Strenge und Stabilität. In einer
chinesische Pläne schnell Wirklichkeit wer- Camp Lemonnier unruhigen Region ist Stabilität der zweite
SOMALIA
den. An der Küste steht bereits ein neuer Rohstoff, den Dschibuti zu bieten hat. Der
Hafen; die riesigen Kräne von Doraleh 50 km dritte ist eine gewisse Weltoffenheit. Der
sind jetzt ein Wahrzeichen Dschibutis. Die Islam ist zwar Staatsreligion, trotzdem gilt
86 DER SPIEGEL 6 / 2018
DOMINIC NAHR / DER SPIEGEL
Busbahnhof in Dschibuti: Aufstieg in eine Weltgesellschaft, die sich gerade neu ordnet
nen Freunden gesagt, dass sie dieses Jahr Sommer eine Marinebasis eröffnet, über gen, die Franzosen brauchten das Gelände
hierherkommen müssen, es ist ein sehr die viele Gerüchte im Umlauf sind. Sie ist nicht mehr. Ihre Basis nördlich des Flug-
schönes und einzigartiges Land. Tourismus die erste militärische Einrichtung Chinas hafens ist immer noch weitläufig, man
wird sehr wichtig werden“, sagt sie. außerhalb Asiens, allein das macht sie in- sieht Soldaten in kurzen Hosen, die Rad
Wichtiger sind natürlich die Bauprojek- teressant. Offiziell handelt es sich um ei- fahren, um sich fit zu halten, und Kinder,
te. Neben der Freihandelszone und dem nen logistischen Flottenstützpunkt. die zur Schule gehen. Regelmäßig sind die
Hafen von Doraleh sind es vor allem drei Die Anlage ist imposant, westliche Mili- Triebwerke der „Mirage“-Kampfjets zu hö-
grenzüberschreitende Anlagen, für die tärs verspotten sie als „Palast von Jabba ren, die den Luftraum über der Hauptstadt
schon viel Geld geflossen ist. Dschibuti the Hutt“, nach dem Filmepos „Star Wars“. kontrollieren. Thierry Duquenoÿ, Chef der
und Äthiopien, das seinen Außenhandel Angeblich haben die Gebäude drei unter- französischen Streitkräfte im Land, erklärt,
fast vollständig über die Häfen des kleinen irdische Stockwerke und können bis zu warum Dschibuti so wichtig ist: „Für Asien,
Nachbarn am Meer abwickelt, rücken da- 10 000 Soldaten aufnehmen. Afrika und Europa liegt hier eine Schlüs-
durch noch enger zusammen. Infrastruk- Chinesische Medien berichten regel- selregion. Der Golf von Aden und das Rote
turentwicklung aus chinesischer Hand. mäßig über die neue Militärbasis. Im Meer trennen die arabische und die afri-
Die elektrifizierte Bahnlinie über 759 Ki- November rückten die Soldaten zu einer kanische Sphäre nicht, vielmehr verbinden
lometer zwischen den beiden Hauptstädten Waffenübung aus, die sie auf einem Exer- sie beides, wie ein Reißverschluss.“
ist seit einiger Zeit fertig, allerdings fehlt ziergelände mitten im Land abhielten. An- Auch wenn in der Vergangenheit Perso-
für den regelmäßigen Betrieb über die ge- schließend konnte man in der Pekinger nal abgebaut wurde, sei die Bedeutung die-
samte Strecke der Strom. Die Wasserleitung „Global Times“ lesen, worum es strategisch ses Standorts in Paris unstrittig. General
aus Äthiopien liefert bereits, der Endausbau geht: „Es ist normal, dass die in Dschibuti Duquenoÿ weist auf ein Detail hin: „Ich
läuft. Eine Gaspipeline ist in Planung. Aus stationierten chinesischen Truppen stets bin der einzige französische Kommandeur
chinesischer Sicht soll sich all das in ein gro- für den Kampf vorbereitet sein müssen.“ im Ausland mit drei Sternen.“ Seine wich-
ßes Ganzes einfügen: die neue Seidenstraße. Mehr als 100 Milliarden Dollar habe man tigste Aufgabe sei der Kampf gegen Terro-
Unter dem sperrigen englischen Namen schon in Afrika investiert. Deshalb sei das risten. Mehr darf er dazu nicht sagen.
„One Belt, One Road“ fördert Peking seit Militär dazu verpflichtet, „die Interessen Auf dem engen Raum Dschibutis treffen
Jahren die Errichtung von Hafenanlagen, Chinas auf dem Kontinent abzusichern“. nicht nur unterschiedliche Nationen, son-
Straßen, Eisenbahnen und Handelszentren Mit militärischen Auftritten wie in Dschi- dern auch drei verschiedene Epochen auf-
in Asien, Afrika und Europa. Ziel ist es, buti will China eine doppelte Botschaft einander: Da ist die alte Zeit der europäi-
einen eng verflochtenen Wirtschaftsraum senden: eine der Stärke und eine der Fried- schen Vorherrschaft, verkörpert durch die
unter chinesischer Kontrolle zu schaffen. fertigkeit. Die Armee zeigt, wozu sie in Franzosen, die einstigen Kolonialherren.
„One Belt, One Road“ ist vor allem ein der Lage ist. Gleichzeitig beteuern chine- Da ist, zweitens, die noch immer macht-
geopolitisches Projekt. sische Politiker bei jeder Gelegenheit, dass volle Gegenwart der amerikanischen Welt-
Auch Dschibuti liegt an dieser neuen all das bloß der Verteidigung diene. ordnung, gestützt auf das Militär. Und da
Seidenstraße. Gleich neben dem Gebäude ist, drittens, die Zukunft, die schon begon-
der 2016 gegründeten „Silk Road Interna- nen hat, das chinesische Zeitalter.
tional Bank“ hat Nicholas Li sein Haupt- In Dschibuti haben die Am Rande sind auch die Deutschen
quartier. Gegenüber arbeitet Ge Hua. dabei. Zusammen mit einem spanischen
Die Wirtschaftsexpertin betont, „dass Chinesen ihre erste Kontingent haben sie sich auf der „base
viele Projekte von uns mit Darlehen zu Militärbasis außerhalb aérienne 188“ als Gäste einquartiert. Ihr
Vorzugskonditionen finanziert werden“. Auftrag lautet, im Rahmen der EU-Mission
Außerdem achte ihr Land darauf, dass alle
Asiens errichtet. „Atalanta“ den Schiffsverkehr der Region
Beteiligten profitieren: „Es ist wichtig, dass vor Piraten zu schützen. Mit einem See-
die Dschibutier gute Einkünfte aus den Die Amerikaner sind trotz solcher Be- Fernaufklärer vom Typ P-3C Orion beob-
Projekten beziehen, damit sie ein besseres schwichtigungen misstrauisch. Sie fürchten, achten die Soldaten aus der Luft, ob sich
Leben führen können und in der Lage sind, dass China bald nicht nur wirtschaftlich, an den somalischen Küsten etwas Verdäch-
ihre Schulden zurückzuzahlen.“ sondern auch militärisch mit ihnen gleich- tiges tut. Auffälligkeiten melden sie an die
Und dann, das dürfe auf keinen Fall un- zieht. Zu den Besonderheiten Dschibutis „Atalanta“-Zentrale weiter.
erwähnt bleiben, gebe es noch die lange gehört es, dass sich die alte Supermacht Während die deutsche Turbopropma-
Liste an Hilfsprojekten: Schulen, Kranken- und die neue Konkurrenz hier so nah kom- schine auf ihre Startposition rollt, hört
häuser und Sportanlagen, die von China men wie nirgendwo sonst auf der Welt. man, wie im Funkverkehr Deutsch, Eng-
bezahlt worden sind, ganz ohne Kredite. Nur wenige Kilometer von der chinesi- lisch und Französisch gesprochen wird.
Das größte Vorhaben kann man Tage schen Festung entfernt liegt Camp Lemon- Links und rechts der Piste stehen französi-
später besichtigen: 60 chinesische und nier, die einzige dauerhafte US-Militär- sche Jets und US-Flugzeuge.
150 dschibutische Arbeiter errichten ein basis auf afrikanischem Boden. Von hier Als die Maschine von Nordosten wieder
Nationalarchiv mit öffentlicher Bibliothek. aus beginnen Spezialkräfte ihre geheimen über Dschibuti fliegt, liegt alles unter ei-
Ein rot-weißes Schild weist darauf hin, dass Kommandoaktionen, von hier aus steigen nem: der von Chinesen gebaute Hafen, da-
hier seit 355 Tagen unfallfrei gearbeitet Drohnen auf, die in Somalia oder im Je- neben ihr geheimnisvoller Marinestütz-
wird. Im Juli 2019 soll der Bau an den dschi- men auf Terroristenjagd gehen. punkt, ein Stück landeinwärts die künftige
butischen Staat übergeben werden, inklu- Die rund 4000 US-Soldaten leben in ih- Freihandelszone. Dann tauchen die Mili-
sive Möbel und Regale. rem Camp wie auf einem Flugzeugträger, tärbasen der Amerikaner und Franzosen
Über all das kann man mit Ge reden, das Land ringsum betrachten sie als einen auf. Alles ganz nah. Und doch so weit aus-
nur nicht über das Militär. „Das gehört Ozean voller Gefahren. Verlassen dürfen einander.
nicht zu meinen Aufgaben“, sagt sie. sie ihre Basis nur mit einer Sondererlaub-
Chinesische Soldaten sind sehr präsent nis. Und auch dann ist die Hauptstadt zum Video: Kampf
im Land, auch wenn sie sich hinter Beton- größten Teil als „No-go-Area“ eingestuft. gegen Seeräuber
mauern verschanzt haben. Westlich des Camp Lemonnier hat die US-Armee spiegel.de/sp062018dschibuti
Hafens hat die Armee im vergangenen 2002 übernommen, nach den 9/11-Anschlä- oder in der App DER SPIEGEL
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Magische Momente
„Ich war ein Spielball des Berges“
Extremskifahrer Felix Wiemers, 29, über seinen bislang schwersten Sturz und wie er ihn verarbeitet hat
SPIEGEL: Im März 2015, beim jahrelange Training hilft, in von lokalen Bergführern
Finale der Freeride World der Luft die Orientierung auf Lawinengefahr geprüft.
Tour im Schweizer Skiort und die Körperspannung zu Wir Fahrer inspizieren den
Verbier, stürzten Sie gut hun- behalten. So gelang es mir, Hang vor den Läufen mit
dert Meter den steilen fußwärts und nicht mit dem einem Fernglas und planen
Bec des Rosses hinunter. Wie Kopf voran nach unten zu jede Passage. Außerdem
kam es zu dem Unfall? fallen. tragen wir einen Helm, einen
Wiemers: Beim Sprung über SPIEGEL: Gehen solche Rückenprotektor und einen
zwei Felsen missglückte Erlebnisse spurlos an Ihnen Rucksack mit Airbag. Darin
mir die Landung. Es ver- vorbei? ist auch eine Lawinensonde
schlug mir den rechten Ski, Wiemers: Nein. Ich hatte und eine Schaufel.
dadurch verlor ich das noch monatelang Albträume SPIEGEL: Trotzdem kommt es
Gleichgewicht und rutschte davon. immer wieder zu Unfällen
weg. Das war brutal. SPIEGEL: Beim Freeriden ge- und tödlichen Verletzungen.
SPIEGEL: Sie überschlugen sich winnt derjenige, der die aus- Warum gehen Sie überhaupt
mehrmals, schlitterten un- gefallensten Sprünge und diese Risiken ein?
gebremst über Gesteinsvor- besten Tricks zeigt. Verleitet Wiemers: Eine hundertpro-
sprünge. Was haben Sie das zu einem höheren Risiko? zentige Sicherheit gibt es in
in diesem Moment gefühlt? Wiemers: Es stimmt, je keiner Disziplin.
Wiemers: Völlige Hilflosig- spektakulärer die Abfahrt, SPIEGEL: Was sagen Ihre El-
DOMDAHER / FREERIDEWORLDTOUR
keit. Ich war ein Spielball desto größer die Chance tern zu Ihrem Sport?
des Berges. auf den Sieg. Aber die Szene Wiemers: Die haben mir das
SPIEGEL: Bis auf Prellungen versucht, das Verletzungs- Skifahren ja beigebracht.
und blaue Flecken ist Ihnen risiko so klein wie möglich Angst um mich haben sie
nichts passiert. Ein Wunder. zu halten. keine. Obwohl meine Mutter
Wiemers: Ich turne bis heute SPIEGEL: Wie geht das? wohl erleichtert wäre,
beim KTV Obere Lahn in Wiemers: Die Berge werden wenn ich damit aufhören
der dritten Bundesliga. Das Wochen vor dem Wettkampf Wiemers 2015 würde. maf
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DER SPIEGEL 6 / 2018
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Vorteil Putin
Olympia Eine Woche vor Beginn der Winterspiele herrscht ein Durcheinander
im Weltsport, Russlands Dopingaffäre überfordert IOC und Verbände. Nun wird
das Chaos noch größer werden.
G
ian Franco Kasper kennt die Höhen schen Sportler ändert sich nicht viel, sie Keine Dopingsubstanzen. So steht es in
und Tiefen des Weltsports. Seit müssen sich zu der Zeremonie nur eine der Urteilsbegründung des IOC. Dennoch
1998 steht er dem Skiverband Fis andere Jacke anziehen als in den Tagen wurde der Russe schuldig gesprochen.
vor, vor 18 Jahren wurde er Mitglied im zuvor – Bachs Kniefall vor Wladimir Putin. Der Grund: Sein Name steht auf der
Internationalen Olympischen Komitee Bluten müssen andere. „Duchess-List“, einem Dokument, das rus-
(IOC). Die Nachwehen des russischen Do- Erfurt vor zwei Wochen, Eisschnelllauf- sische Sportler aufführt, die vor und bei
pingskandals stellen aber auch den erfah- Weltcup, 5000 Meter der Männer. Im fünf- den Winterspielen 2014 mithilfe eines Dro-
renen Amtsträger auf eine harte Probe. ten Lauf auf der Innenbahn: Alexander gencocktails systematisch gedopt haben
„Das ist Kindergarten“, sagt der 74-jährige Rumjanzew, Russland, Startnummer 105. sollen – oder gedopt wurden. Dadurch sei
Schweizer wenige Stunden vor seiner Nach verhaltenem Beginn zieht Rumjan- die Beteiligung des Sportlers an einer Ver-
Abreise zu den Winterspielen in Südkorea, zew das Tempo an, ein neuer Bahnrekord schwörung nachgewiesen, argumentierte
„ein einziges Hin und Her.“ scheint möglich. Erst auf den letzten zwei das IOC. Doch reicht das aus?
Kaspers Problem: In diesen Tagen errei- Runden bricht er ein, Platz vier, die Me- Rumjanzew rief den Sportgerichtshof
chen den Skiverband neue Meldungen des daillen gehen an andere. Cas an, zusammen mit fast allen seiner 43
IOC über potenzielle Dopingverstöße rus- Geht es nach dem IOC, wird Alexander Schicksalsgenossen, die das IOC lebens-
sischer Sportler. Anfang vergangener Wo- Rumjanzew auch in Pyeongchang nicht auf lang verbannt hatte.
che wurde bekannt, dass Langlauf-Welt- dem Podest stehen. Es sieht ihn als Teil der Für die meisten von ihnen begann An-
meister Sergej Ustjugow keine Einladung Sotschi-Verschwörung, belegte den Russen fang vergangener Woche die Anhörung in
für Olympia in Pyeongchang erhält. Be- Ende November mit einem Olympiabann, Genf, in einem unscheinbaren Bürogebäu-
gründung: unbekannt. Das IOC will sie lebenslang, wie 42 andere russische Athle- de mit automatischen Glastüren und roten
nachreichen. „Für uns ist das wie eine An- ten auch. Zu Unrecht, meint der Verurteilte, Blumenkübeln im Foyer. Die vermeintli-
schuldigung: Warum habt ihr gegen den der bei Wettkämpfen des Welt-Eislaufver- chen Sündenböcke des wohl größten Skan-
Mann nicht ermittelt?“, sagt Kasper, „aber bands ISU weiter antreten durf- dals der Sportgeschichte wur-
wir wissen ja gar nicht, was gegen den te. „Es ist frustrierend“, sagt den im Erdgeschoss gehört,
Sportler vorliegt.“ Also muss der Verband Rumjanzew. Eine halbe Stunde ein Stockwerk unter den Räu-
stillhalten, Ustjugow weiter starten lassen – nach seinem Rennen steht er men des UNISDR, dem Büro
und vergrößert so das Chaos. im Umlauf der Erfurter Eishal- der Vereinten Nationen für die
Es ist ein Durcheinander, das an dem le, in seinem Rücken winkt ein Verringerung des Katastro-
Tag seinen Anfang nahm, an dem eigent- Bär auf Schlittschuhen von ei- phenrisikos. Sichtschutzwände
lich ein Schlussstrich gezogen werden soll- ner Wandmalerei. Nichts habe versperrten den Blick auf die
te. Am 5. Dezember verkündete IOC-Prä- er sich zuschulden kommen las- Sitzungsräume, am Eingang
sident Thomas Bach in Lausanne, was ihm sen, beteuert Rumjanzew mit patrouillierte ein Wachmann.
viele Beobachter nicht zugetraut hatten: geschultertem Rucksack und In zwei Gruppen wurden 39
die Erkenntnis, dass in Russland „systema- leiser Stimme. „Ich bin sauber.“ Weitere Einzelfälle neu aufgerollt, abgeschottet
tisch manipuliert“ worden sei, auch 2014, Nachfragen weist er mit mildem Lächeln von der Öffentlichkeit. Richter, Angeklag-
im Dopingkontrolllabor bei den Winter- zurück, er müsse los. te, Verteidiger passierten grußlos die rus-
spielen von Sotschi. Proben russischer Am Abend sitzt Patrick Beckert in einem sischen Fernsehteams auf dem Weg zum
Sportler seien heimlich geöffnet, belasteter Hotel in der Erfurter Altstadt. Der WM- und vom Prozess, schauten stumm zu Bo-
Urin gegen sauberen ausgetauscht worden. Bronzemedaillengewinner über 10 000 Me- den. Nichts sollte nach außen dringen.
Es handele sich um einen „beispiellosen ter war am Nachmittag knapp zwei Sekun- Auch nicht die Aussage von Grigorij
Angriff auf die Integrität der Olympischen den langsamer gelaufen als Rumjanzew. Rodtschenkow, 59. Der ehemalige Leiter
Spiele“, sagte Bach. Ihn beschäftigt der Fall seines Konkurren- des Moskauer Dopingkontrolllabors und
Nur die Sanktionierung passte nicht zu ten. „Wenn einer bei Olympia gesperrt Strippenzieher des Systembetrugs floh
diesen klaren Worten. Viele Russen sind ist, muss das auch für Weltcups gelten. Mei- Ende 2015 in die USA, er fürchtet nach
in Pyeongchang startberechtigt, unter ei- ne Meinung.“ Wie Beckert denken viele, Aufdeckung der Manipulationsmaschine-
nem etwas anderen Label, als „Olympische Sportler wie Zuschauer. Kompliziert wird rie um sein Leben. Heute dient er den Er-
Athleten aus Russland“. Schon bei der Ab- es aber, wenn ein Athlet ohne positiven mittlungsbehörden als wichtigster Zeuge,
schlussfeier am 25. Februar erfolgt vermut- Dopingbefund verurteilt wird. So wie das IOC stützte seine Urteile vor allem auf
lich die Rehabilitierung, dann weht die Rumjanzew. die Aussagen dieses Whistleblowers. Rodt-
russische Fahne wieder unter dem olym- An den Urinproben, die Rumjanzew in schenkow lebt mittlerweile an einem ge-
pischen Feuer. Für die anwesenden russi- Sotschi abgab, konnten die IOC-Ermittler heimen Ort in den USA, er musste den
keine Auffälligkeiten feststellen: keine Kontakt zu seiner Familie kappen.
* Vom Cas freigesprochen: 1 Alexander Rumjanzew, Kratzspuren am Flaschenhals oder Deckel, „Er wird sich vielleicht für den Rest sei-
2 Alexander Legkow, 3 Alexander Tretjakow, 5 Olga Fat-
kulina, 6 Jekaterina Smolenzewa; Olympiasperre bestä- die auf eine heimliche Öffnung der Probe nes Lebens in Acht nehmen müssen“, sagt
tigt: 4 Alexander Subkow im Viererbob. hinweisen. Keinen verdächtigen Salzwert. Rodtschenkows amerikanischer Anwalt
DER SPIEGEL 6 / 2018 93
Sport
Jim Walden. Die Russen würden nicht rungen von den Sotschi-Spielen bestätigt Und in Russland? „Wir freuen uns für
vergessen, nicht vergeben, niemals. Der werden. „Für diese Entscheidung brauchte unsere Athleten“, hieß es am Donnerstag
Kreml lässt den Dissidenten per interna- es nicht nur juristische Exzellenz, son- aus dem Kreml. Wladimir Putin selbst hat-
tionalem Haftbefehl suchen, fordert seine dern auch Charakterstärke“, sagt Christof te die Sanktionen gegen Einzelne und das
Auslieferung, wegen Amtsmissbrauchs. Wieschemann aus Bochum, der unter an- System stets als gezielte Attacke des Wes-
Anwalt Walden, 52, ärgert sich, dass sich derem den Langlauf-Olympiasieger Ale- tens interpretiert. „Verzeihen Sie, dass wir
das IOC nicht deutlich gegen Angriffe aus xander Legkow vor dem Cas vertrat. Die Sie nicht vor diesen Angriffen haben schüt-
Russland auf seinen Mandanten positio- einzelnen Urteilsbegründungen stehen zen können“, richtete sich Putin am Mitt-
niert. An der Echtheit seiner Aussagen noch aus, aber: „Es kann nicht damit woch an die russischen Olympiateilneh-
gebe es keinen Zweifel. „Rodtschenkow getan sein, dass das IOC nun die Medail- mer, die er im Amtssitz des Präsidenten
ist ein sehr glaubwürdiger Zeuge“, sagt len zurückgibt. Schadensersatzforderun- nach Pyeongchang verabschiedete. Putin
Walden, „und er hat eines der besten Ge- gen sind wahrscheinlich.“ Ob Rumjanzew, ist im Wahlkampf, am 18. März will er im
dächtnisse, die ich in 23 Jahren Berufs- Legkow und die anderen Rehabilitierten Amt bestätigt werden, bis mindestens 2024
erfahrung je erlebt habe.“ nun auch in Pyeongchang antreten wer- stärkster Mann im Staat bleiben. Da passt
Doch nicht alle trauen Rodtschenkows den, war unmittelbar nach Urteilsverkün- der Vorwurf einer staatlichen Schuld am
Erinnerungsvermögen. Seine Aussagen dung noch unklar – die Nominierungsfrist Dopingskandal nicht ins Bild. Auch wenn
vor dem Schiedsgericht am Montag voriger war da bereits seit drei Tagen abgelaufen – es viele Landsleute anders sehen: In einer
Woche sollen nicht stimmig gewesen sein, Untersuchung des Meinungsforschungs-
berichten Augenzeugen. Rodtschenkow instituts Lewada geben 37 Prozent der
war per Video zugeschaltet, er saß hinter „Der Sport ist zu Befragten die „Führungsspitze im Sport-
einer Wand, zu sehen waren nur seine ministerium“ als Schuldigen des russischen
Arme. Er sei mehrmals ins Straucheln ge- einem Faustpfand in Olympiaausschlusses an. Nur 13 Prozent
kommen, habe seine eigenen Erinnerun- dreckigen politischen sehen dopende Athleten als Hauptursache
gen mit geplanten, aber nicht selbst erleb- für die Isolation des russischen Sports.
ten Vorfällen in Sotschi vermengt, berich-
Spielchen geworden.“ Dennoch trifft die größte Krise der olym-
tet ein Teilnehmer. Rodtschenkow habe pischen Geschichte vor allem die Haupt-
ausgesagt, nie in Kontakt gestanden zu ha- das Chaos wird deshalb noch eine Weile darsteller auf Kufen und Skiern. Denn die
ben mit Athleten, Betreuern oder Trainern, andauern. 43 bereits im November Verbannten sind
die nach IOC-Sicht in die Dopingpraktiken Bei den anderen elf Athleten bleibt es nicht die Einzigen, die das IOC nicht bei
involviert waren. Über den Drogencock- beim Tatbestand eines Dopingverstoßes, al- Olympia in Südkorea sehen will. Eine Prü-
tail, den laut „Duchess-List“ mehrere Dut- lerdings kassiert der Cas auch bei ihnen den fungskommission filterte in den vergange-
zend Athleten eingenommen haben sollen, lebenslangen Olympiabann, schließt sie nur nen Wochen aus einer Liste mit 500 russi-
habe er wenig gewusst, etwa wer ihn pro- von Pyeongchang aus. Rodtschenkow-An- schen Sportlern lediglich 169 heraus, die
duziert oder verabreicht habe. walt Jim Walden zeigt sich schockiert: „Die nun vom IOC nach Pyeongchang einge-
Am Donnerstag das Urteil: Die Cas- Cas-Entscheidung ermutigt Betrüger und lie- laden wurden.
Richter sprechen 28 der 39 russischen fert dem korrupten russischen Dopingsys- Viele siebten die Kontrolleure aus, unter
Sportler frei, unter ihnen auch Alexander tem und speziell Putin einen unrechtmäßi- ihnen sehr prominente Namen: Wiktor Ahn,
Rumjanzew. Die Beweislage reiche nicht gen Vorteil.“ Das IOC selbst gab sich ent- sechsfacher Olympiasieger im Shorttrack.
aus, um einen Verstoß gegen die Anti- täuscht, bedauerte die Entscheidung des Cas. Biathlet Anton Schipulin, Goldmedaillen-
Doping-Richtlinien festzustellen, weshalb Ob der Verband das Urteil beim Schweizer gewinner von Sotschi. Eisschnelllauf-Euro-
die Olympiasperren annulliert, die ver- Bundesgericht anfechten werde, entscheide pameister Denis Juskow. Und Langläufer
loren geglaubten Medaillen und Platzie- man nach Ansicht der Urteilsbegründungen. Sergej Ustjugow, dessen Aussortierung Fis-
94 DER SPIEGEL 6 / 2018
Präsident Kasper derzeit Kopfzerbrechen wenn er die eigene Satzung beachtet. Die
bereitet, da, wie in den anderen Fällen
auch, keine Begründung veröffentlicht wur-
de. Kasper schrieb deshalb einen Brief an
Am Pranger Gerichte halten sich aus dem Vereinsklün-
gel heraus, sofern die Klubs „nicht grob
unbillig oder willkürlich“ handeln. Das
Thomas Bach. „Wir müssen wissen, ob wir Fußball Vereine wie der Bundes- Landgericht Bremen hat dies vor fünf Jah-
etwas versäumt haben bei unserer Arbeit“, ren festgestellt. Der NPD-Bundesgeschäfts-
sagt er. Die Antwort des IOC: ein Kriterien- ligist Eintracht Frankfurt führer hatte vergebens gegen seinen Aus-
katalog, 17 Punkte, anhand derer die Prüf- möchten Mitglieder loswerden, schluss bei Werder Bremen geklagt.
kommission entscheidet. Etwa positive Do- die auch in der AfD sind. Ein Kraftsportler war sogar aus einem
pingtests, Auffälligkeiten im biologischen Verein geflogen, weil er in einem Muskel-
Passport, Informationen aus der im Okto- Sind solche Aktionen sinnvoll? shirt trainiert hatte – dies verstieß gegen
ber an die Welt-Anti-Doping-Agentur die Kleiderordnung. Die harte Entschei-
S
(Wada) übergebene Datenbank aus dem eit Kay Gottschalk, 52, ein hohes Amt dung sei in Ordnung, urteilte das Landge-
Moskauer Kontrolllabor. Auch diese Auf- bei der AfD hat, sieht er sich häufig richt Duisburg. Das Mitglied habe sich mit
zählung hilft den Fachverbänden nicht als Opfer. Vor dem Parteitag im De- seinem Vereinseintritt freiwillig den Richt-
weiter, konkrete Hinweise auf einzelne zember brach eine Demonstrantin dem Bun- linien unterworfen.
Sportler gibt es nicht, das schafft Raum für destagsabgeordneten einen Handgelenks- Aber die Klubs müssen die eigene Ver-
weitere Spekulationen. knochen. Mehr als über die Verletzung är- einsordnung richtig anwenden – anders als
Aus Kreisen eines Wintersportverbands gerte sich Gottschalk darüber, dass sich „nie- der Golfklub in Hagen. Vor einigen Jahren
heißt es, ein Athlet sei nach ihren Infor- mand über die Gewalt gegen uns aufregt“. wollte man dort ein Mitglied loswerden,
mationen nur deshalb nicht eingeladen Und nun der nächste Angriff, ausgerech- das in einem Pornofilm mitgewirkt hatte.
worden, weil er einst mit einem Trainer net von seinen Vereinskameraden des Ham- Er habe damit den Vereinsfrieden gestört.
zu tun hatte, der 2014 aus IOC-Sicht in das burger SV – dessen Spiele er seit Jahren als Was der Golfer sonst so treibe, begründe
Betrugssystem involviert gewesen sein soll. Dauerkartenbesitzer verfolgt. Zur Mitglie- „keinen groben und beharrlichen Verstoß“,
Es gebe keinen Dopingbefund und keinen meinte dagegen das Oberlan-
einzigen Hinweis auf eine aktive Rolle des desgericht Hamm.
Sportlers beim Staatskomplott. Vereine wie Eintracht Frank-
Der vermeintliche Gnadenakt von IOC- furt haben dagegen gute Ar-
Präsident Bach, Russen unter neutraler gumente, sich von Rechtsradi-
1,5
ten? Forscher der Penn State der gebaut, in dem Bakterien sein. Bloß: Kann man Ekel
University sind jetzt der Fäkalien und Urin zersetzen. abtrainieren? ble
Millionen
verschiedene Arten
wollen Forscher im
„Earth BioGenome Pro-
ject“ genetisch erfas-
sen, indem sie deren
DNA sequenzieren. Es
geht um sämtliche be-
kannte eukaryotischen
Lebewesen, also um
Pflanzen, Tiere, Pilze und
TWENTIETH CENTURY FOX / AP / DPA
Machen Smartphones das Gehirn junger Menschen anfällig für seelische Störungen?
Viele junge Menschen sind unzufrieden und depressiv – und Tube tummeln. In Deutschland besitzt nahezu jeder in der
die Ursache dafür könnten sie in der Tasche tragen. Seit der Gruppe der 12- bis 19-Jährigen ein eigenes Smartphone. Man-
Einführung des ersten iPhones vor mehr als zehn Jahren ist in che von ihnen kramen es 150-mal hervor – jeden Tag.
den USA die Zahl der Teenager, die aufgrund von Selbstmord- Dieser Medienkonsum könnte die Entwicklung des Gehirns
gedanken behandelt wurden, gestiegen. Und umgekehrt hat stören. Dadurch wird das Kind nicht unweigerlich seelisch
kürzlich eine im Wissenschaftsjournal „Emotion“ veröffent- krank, aber es ist einer Ablenkungsmaschine ausgesetzt und
lichte Befragung mit mehr als einer Million jungen Leuten zum Multitasking verdammt – und das in jener Phase des Le-
nahegelegt: Je weniger Zeit Mädchen und Jungen am Smart- bens, in der es noch besonders formbar ist, in der es Formeln,
phone verbringen, desto glücklicher sind sie. Sprachen, Bücher und Bewegungsabläufe noch vergleichs-
Die Studien sind keine Beweise, und was in den USA weise leicht erfassen kann. Dem Gehirn bleibt schlicht keine
stimmt, mag sich in Deutschland ganz anders verhalten. Die Zeit mehr zum Lernen, es macht wenige Erfahrungen im ech-
sozialen Netze, auch das ist denkbar, könnten Jugendliche mit ten Leben, IRL, wie Jugendliche chatten, für: „In Real Life“.
einem Hang zu Depressionen sogar auffangen. Und die meis- Die Zeit am Smartphone zu begrenzen erscheint sinnvoll.
ten jungen Menschen erfreuen sich einer guten seelischen Ge- Denn jene Jugendlichen, die jeden Tag bloß ein knappes
sundheit, auch wenn sie aus Sicht ihrer Eltern viel zu viel Stündchen in die digitale Welt abtauchten, waren in der
snapchatten, whatsappen oder sich auf Instagram und You- „Emotion“-Studie am glücklichsten. Jörg Blech
L
ara war ein Grundschulkind, als sie lobt“, erklärt Arzt Reinehr, „diese Kinder getanzt und Volleyball gespielt“, erinnert
sich zum ersten Mal zu dick vorkam. haben schon so viel Abwertung erfahren, sie sich, „aber bei Auftritten der Tanz-
Wie es genau anfing, weiß sie nicht die haben oft null Selbstbewusstsein.“ gruppe durfte ich nicht mitmachen, weil
mehr: War es die Freundin, die im Streit Dabei werden sie kaum etwas so drin- Leute im Verein das unästhetisch fanden.“
„fette Kuh“ rief, der Mitschüler, der sagte, gend brauchen für ihr Leben. Die Kindheit Heute sei das Schlimmste, sagt Fischer,
sie müsse ja beim Rennen ihren Bauch fest- der meisten Dicken, das offenbaren Stu- „dass ich nicht aus dem Haus gehen kann,
halten, oder die Sportlehrerin („die unge- dien und Umfragen, ist eine endlose Folge ohne dass sofort jemand mein Gewicht
lenke Truppe setzt sich jetzt mal auf die von Herabwürdigung, Kränkung und Aus- kommentiert“.
Bank“)? Oder war es beim Kinderarzt, wo grenzung. Fischers Tochter Diara, 5, ist normalge-
sie nach dem Wiegen aus dem Behand- Immerhin: Eine wachsende Zahl von wichtig, ein Kind mit braunem Haar und
lungszimmer floh? „Ich wollte nicht mehr Kinderärzten, Psychologen und Sozialwis- breitem Lachen. Bis zur Einschulung im
hören, dass alle etwas an mir zu bemän- senschaftlern hat die Seelenpein erkannt – Sommer will Fischer Diaras Selbstsicher-
geln hatten“, erinnert sie sich. und wirbt dafür, sich nicht nur mit den heit stärken – „falls die neuen Mitschüler
Heute, mit elf, geht es ums Dazugehö- körperlichen, sondern auch mit den psy- sie wegen ihrer dicken Mutter ärgern“.
ren: „Meine Freundinnen sind alle dünn“, chischen Folgen des Dickseins zu beschäf- Schwimmen gehen Mutter und Kind nur
sagt Lara, „ich denke oft, ich bin die Ein- tigen. Denn darunter, so viel ist klar, leiden in den Ferien, auf einem kleinen Bauern-
zige.“ Beim Shoppen hat sie Angst, dass Betroffene genauso wie unter möglichen hof mit Hallenbad. „Dann warten wir, bis
ihr nichts so richtig passt („das ist peinlich gesundheitlichen Konsequenzen des ho- das Wetter so schön ist, dass außer uns kei-
und unangenehm“), im Sportunterricht hen Gewichts. ner drin ist“, sagt Fischer.
mag sie nicht klettern oder am Seil schwin- Vergangenen November veröffentlichten Kränkungen, wie sie Sabine Fischer er-
gen – obwohl sie sich gern bewegt. „Zu Forscher um Stephen Pont, Kinderarzt am lebt hat, sind der Alltag dicker Kinder, das
Hause mache ich das, da muss ich mich Dell Children’s Medical Center im texani- zeigt die Liste von Pädiater Pont:
nicht schämen“, sagt sie. Bei den Groß- schen Austin, im Fachblatt „Pediatrics“ eine ‣ Die Wahrscheinlichkeit, zum Mobbing-
eltern geht sie aufs Trampolin – Salti in- Grundsatzerklärung. Von ihren Kollegen opfer Gleichaltriger zu werden, steigt
klusive. fordern sie eine andere Art des Umgangs mit dem Body-Mass-Index (BMI). Wer
Lara hat langes, dunkles Haar und tief- mit dicken Kindern und Jugendlichen. wegen seines Gewichts gehänselt wird,
braune Augen, sie trägt eine schwarze Die Vorstellung, dass jemand umso be- neigt wiederum eher zu Selbstverletzun-
Hose und eine hellgraue Sweatjacke. Sie reitwilliger abspeckt, je häufiger man ihn gen und Selbstmordgedanken;
ist groß für eine Elfjährige. Nicht nur aus auf seine Fettleibigkeit hinweist, schreibt ‣ Lehrer schätzen ihre dicken Schüler, un-
ihrer, auch aus Ärztesicht ist sie zu schwer. Pont, sei ebenso weit verbreitet wie falsch. abhängig von deren tatsächlichen Test-
Jeden Mittwoch fährt die Sechstklässlerin Statt Gewichtsverlust befördern Spott und ergebnissen, als weniger leistungsfähig
deshalb mit ihrer Mutter zur Kinderklinik Ausgrenzung eher Frustessen; viele fett- ein als die normalgewichtigen, und sie
ins nordrhein-westfälische Datteln. Dort leibige Jugendliche trauten sich irgend- erwarten von ihnen auch schlechteres
hat Endokrinologe Thomas Reinehr vor wann nicht mehr zum Arzt – was gesund- Sozialverhalten;
rund 20 Jahren eine Schulung für Kinder heitliche Probleme nur noch verstärkt. ‣ fast 40 Prozent der in einer Studie be-
wie Lara entwickelt: „Obeldicks“ ist heute „Ärzte können sehr gemein sein“, sagt Pä- fragten übergewichtigen Teenager be-
eins der am besten erforschten Programme diater Reinehr. richten, dass sie von den eigenen Eltern
für stark übergewichtige Kinder und Ju- Sabine Fischer ist seit ihrem sechsten wegen ihrer Körperfülle gedemütigt
gendliche in Deutschland, rund 30 Einrich- Lebensjahr übergewichtig, doch sie war wurden;
tungen bieten es an, die Krankenkassen ein sportliches Kind. „Ich habe fast täglich ‣ sehr fettleibige Kinder und Jugendliche
zahlen den Kurs. bewerten ihre Lebensqualität ähnlich
Reinehr sitzt im weißen Kittel an seinem schlecht wie Altersgenossen, die an
Schreibtisch im Erdgeschoss der Klinik, an Gewichtsprobleme Krebs erkrankt sind.
der Wand hängt Leonardo da Vincis be- Von 100 Kindern* waren in Ärzte sollten das wissen, sagt Autor
rühmter „Vitruvianischer Mensch“ – ein Deutschland 2015... Pont, und sie sollten anders mit ihren Pa-
nackter Mann in Kreis und Quadrat einge- tienten reden. Statt „Fett“ oder „Gewichts-
fasst, schon um 1490 sah so der perfekte ... unter den 4- bis unter 8-Jährigen problem“ lieber „BMI“ oder „Gewicht“
Körper aus. benutzen, statt „dickes Kind“ besser „Kind
Als Vorbild für Reinehrs Obeldicks- mit Übergewicht“. Es wäre ein Anfang.
Aspiranten taugt der Kunstdruck nicht. 6 übergewichtig Ein Kind, zu dem nicht einmal die Eltern
Schon im Vorgespräch machen seine Mit- stehen, trägt daran ein Leben lang. „Meine
arbeiter den Familien klar, dass es vor al- 4 adipös Mutter hat mir zu kleine Klamotten ge-
lem darum geht, dass die Kinder nicht wei- schenkt und gesagt, ich müsste halt abneh-
ter zunehmen. Im Idealfall verhilft ihnen ... unter den 8- bis unter 12-Jährigen men, damit ich reinpasse“, erinnert sich
das Wachstum dann zum Normalgewicht. Anna Döhlert, die ihren richtigen Namen
Doch aus einem 120-Kilo-Teenager wird nicht veröffentlicht haben möchte. Auch
auch mit Obeldicks kein Schlaks. „Da flie-
11 sie ist heute erwachsen und trotz ungezähl-
ßen schon mal Tränen“, sagt Psychologin ter Diäten übergewichtig. „Fette Sau“ habe
Barbara Dieris, die solche Erstgespräche 8 in der Grundschule so lange zu den alltäg-
führt. lichen Beleidigungen gehört, „bis ich mal
Mehr als ums Abspecken geht es Rei- ... unter den 12- bis 16-Jährigen einen der Jungs verhauen habe“.
nehr und Dieris darum, dass die Jungs und Auch in Deutschland kommt die Debat-
Mädchen ihre Körper akzeptieren. In der
Kliniksporthalle erleben die Kinder, dass
11 te über den Umgang mit dicken Menschen
in Gang: „Gegen Diskriminierung und für
Bewegung Spaß macht – ohne schiefe Bli- die Förderung von Kindern und Jugendli-
cke. In Rollenspielen üben sie, dumme 9 chen mit Adipositas“ heißt ein Fachaufsatz
Sprüche zu kontern. „Bei uns wird nur ge- *gerundete Werte; Quelle: Public Health Nutrition/CrescNet des Mediziners Martin Wabitsch, der an
DER SPIEGEL 6 / 2018 99
der Uniklinik Ulm die Ursachen von Über- einschneidende Erlebnisse in der Familie meinmediziner viele Patienten über Jahr-
gewicht erforscht. „Ich sehe mich als An- wie Tod oder Trennung spielen eine Rolle. zehnte begleitet, von den Kindern kennt
walt der Kinder“, sagt er. Seine Patienten, „Beim Verständnis der Genetik sind wir er oft Eltern und Großeltern. Das Thema
die sich meist schon Jahre mit Diäten ge- noch ganz am Anfang“, sagt Kinderarzt Gewicht, sagt Frank, bekomme immer
quält haben, lobt er erst einmal dafür, dass Reinehr. Und hat der Körper sich erst ein- mehr Bedeutung für seine Patienten – un-
sie schon so lange kämpfen: „Die meisten mal auf einem hohen Gewicht eingepen- abhängig von ihrer Gesundheit und davon,
haben von einem Arzt noch nie etwas Posi- delt, greifen tief im Zwischenhirn jene ob sie tatsächlich zu dick sind.
tives gehört“, sagt Wabitsch. Regulationsmechanismen, die schon vor „Wer heute nicht fit und schlank ist,
Bei ihm können Jugendliche mit star- Tausenden Jahren den Stoffwechsel unse- dem wird eine Büßerrolle antrainiert“,
kem Übergewicht ein Programm durchlau- rer Vorfahren im Lot gehalten haben. „Das sagt Frank, der Bücher zum Thema ge-
fen, das nicht in erster Linie aufs Abneh- Gewicht wird verteidigt, auch wenn es schrieben hat und in Talkshows gern ge-
men zielt, sondern den Patienten zum zu hoch ist“, sagt Adipositas-Forscher gen den Schlankheitswahn wettert. Be-
Beispiel bei der Suche nach einem Aus- Wabitsch, mit dem Verstand könne man sonders hart treffe das die Kinder: „Wir
bildungsplatz hilft. „Wir müssen lernen zu dagegen wenig ausrichten. ziehen eine Generation heran, die mit ih-
akzeptieren, dass es diese Kinder gibt“, „Bei Kindern kommt noch dazu, dass rem Gewicht unglücklich ist“, sagt er.
sagt er, „und dass auch sie ein gutes Leben sich die Gesellschaft dafür verantwortlich „Wenn schon normalgewichtige Grund-
haben können.“ Kein Abspeckprogramm fühlt, sie zu schützen“, erklärt Erziehungs- schulkinder meinen, Diäten machen zu
führe bei diesen Patienten müssen, fördert das die Entste-
dazu, dass sie auf Dauer ein hung von Essstörungen.“
Gewicht haben, das ihre Um- Die Hälfte der normalge-
welt als normal ansieht. wichtigen Mädchen in Deutsch-
„In vielen Lebensbereichen land findet sich zu dick; bei
gibt es große Erfolge im den Jungen ist es etwa ein
Kampf gegen Diskriminie- Viertel. Kein Wunder – viele
rung“, sagt die Pädagogin Lot- ihrer Helden hat man auf Diät
te Rose von der Frankfurter gesetzt: Ob Biene Maja, Pu-
University of Applied Scien- muckl oder Bob der Baumeis-
ces: „Dicke Menschen schei- ter – alle durchliefen im Zuge
nen die letzte Gruppe zu sein, ihrer Modernisierung eine Ab-
für die das nicht gilt.“ speckkur. Comicgallier Obelix
Warum das so ist, haben indes trägt seinen Bauch mit
Rose und andere Wissenschaft- Würde – deswegen haben sich
ler Mitte November 2017 in die Dattelner Ärzte für ihn als
München beim internationa- Maskottchen entschieden.
len Symposium zum Thema Anja Herrmann von der
„Fat Studies“ diskutiert. Die Uni Oldenburg hat in Kinder-
junge Forschungsdisziplin be- büchern und -filmen nach
fasst sich unter anderem mit moppeligen Stars gesucht, mit
der Frage, wie Dicke in Bü- geringer Ausbeute. „Es gibt
JAN FEINDT / DER SPIEGEL
Sonne in Mikropartikel zerteilt. Das sind boden leben Milliarden Asseln, Faden- und
E
ine Waschmaschine schafft Schmutz Doch die Gefahr für terrestrische Öko- tin Olschewsky, Student bei Rillig, hat Erde
aus der Welt. Dass sie auch Schmutz systeme sei nicht minder groß, fürchtet von einer Wiese auf dem Campus der FU
in die Welt spült, ist weniger be- Biologe Rillig. Er mahnte schon 2012 im geholt und mit Fasern aus Kunstwolle und
kannt. Aber genau das tut sie: In einem Magazin „Environmental Science & Tech- Plastikseilen aus einem Baumarkt ver-
einzigen Waschgang mit synthetischen nology“, das Thema Mikroplastik im Bo- mischt. Darin wird er nun zwei Süßgras-
Textilien können mehr als 700 000 winzige den „verdiene steigende Aufmerksamkeit“. arten, Weißklee und Kleines Habichtskraut
Plastikfasern ins Abwasser gelangen. Sie Nur: Sein Aufsatz wurde zunächst fast gar anpflanzen. Die gleichen Pflanzen wird er
fließen ins Klärwerk und landen im Klär- nicht zitiert – Rillig war seiner Zeit voraus. in unbelastetem Boden heranziehen. So
schlamm. Dieser wiederum wird eines Ta- Mikroplastik lässt sich im Boden viel will er erkennen, ob es Unterschiede gibt.
ges, als Dünger, auf Feldern verteilt. So schwerer nachweisen als im Wasser, aus Plastikstücke im Mikrometerbereich sei-
gelangt Mikroplastik in die Böden. dem man es vergleichsweise leicht heraus- en zu groß, um in Pflanzen hineinzugelan-
Die Folgen beginnen Wissenschaftler ge- filtern kann. Erst in jüngster Zeit haben gen, sagt Rillig. Aber falls sie im Laufe der
rade erst zu erahnen. „Mikroplastik könn- Forscher untersucht, wie weit sich Mikro- Zeit verwittern, entstünden Nanopartikel.
te die Lebensgemeinschaften im Boden plastik bereits auf Landflächen ausgebrei- Was würden diese im Erdreich anrichten?
entscheidend verändern“, sagt der For- tet hat. Sie fanden auch Kunststoff aus In einem Experiment streuen die Berliner
scher Matthias Rillig vom Institut für Bio- dem Hausmüll sowie Mulchfolie, die mit Forscher gerade fluoreszierende Nano-
logie der Freien Universität (FU) Berlin. der Zeit auf dem Acker zerfleddert. kügelchen auf Pilze, die in Symbiose mit
Mehr noch: „Es könnte im Erdreich in Ebenso kann Mikroplastik zunächst in Karottenwurzeln leben, und schauen mit
noch kleinere Stücke zerfallen. Und das die Atmosphäre gelangen und dann erst dem Mikroskop, ob die Kügelchen ins In-
entstehende Nanoplastik würde vermut- auf die Erde. In Paris beträgt der Fallout nere der Zellen eindringen.
lich in Zellen von Lebewesen eindringen.“ einer Studie zufolge bis zu 355 Partikel Die Experimente liefern neue Gründe,
Inzwischen werden im Jahr mehr als 400 pro Quadratmeter und Tag. Stichproben Plastikmüll zu vermeiden. Mit Kollegen hat
Millionen Tonnen Plastik hergestellt. Un- in Australien offenbarten: Bis zu sieben Rillig Regenwürmer in knapp 20 Zentimeter
gefähr 20 Prozent davon werden recycelt Prozent der oberen Bodenschicht in Indus- hohe Blumentöpfe voller Erde gesteckt, Kü-
oder verbrannt – der Rest bleibt in der trieanlagen besteht aus Mikroplastik. gelchen aus Polyethylen auf die Oberfläche
Umwelt. Vor allem die Ozeane seien be- Allein in Nordamerika und Europa lan- gestreut und abgewartet, was passiert.
troffen, warnten Wissenschaftler bisher. den bis zu 730 000 Tonnen Mikroplastik auf Das Ergebnis nach drei Wochen: Die
Schätzungsweise 150 Millionen Tonnen Äckern, Weiden und Wiesen, haben Wissen- Würmer hatten Gänge durch die Erde ge-
Plastikmüll sind in die Weltmeere gelangt. schaftler im Fachmagazin „Nature“ vorge- fressen und auf diese Weise viele Plastik-
Flaschen, Kanister, Tüten, Seile und an- rechnet – damit wäre der Eintrag aufs Land kügelchen bis in die tiefste Bodenschicht
dere größere Gegenstände aus Kunststoff größer als die Plastikmenge, die im Meer- gebracht. Und da unten wird man den Müll
werden durch Salzwasser, Seegang und wasser dümpelt. In einer Handvoll Ober- wohl nie wieder los. Jörg Blech
Plastikmüll
Angaben in
Millionen Tonnen
540
6300
Gewicht des
Gewicht aller
Menschen auf
der Erde
bis 2015 weltweit
erzeugten Plastikmülls
ALABISO / AGRAR-PRESS
Quelle: US Census;
R. Geyer, J. Jambeck,
Erntehelfer beim Spargelstechen K. Law
N
ie zuvor in der Geschichte wurden hatte, war bislang nicht bekannt – ehe flickten, ist indes weit weniger gut ausge-
Menschenleben auf so irrsinnige nun, beinahe hundert Jahre nach dem leuchtet.
Weise verheizt wie im Ersten Welt- Ende des Gemetzels, seine Berichte bei Ziemke besitzt als Chronist besonderes
krieg. Doch selbst in dieser Orgie des ab- einem Nachkommen des Wissenschaftlers Gewicht. Er zählt zu einer Handvoll Kory-
surden Sterbens ragt mancher Tod noch auftauchten; zusammen mit handschriftli- phäen, von denen die Gerichtsmedizin zu
als besonders sinnlos heraus; so etwa das chen Obduktionsprotokollen und Kran- Beginn des 20. Jahrhunderts als Laborato-
Schicksal jenes Soldaten aus Norddeutsch- kenberichten von Soldaten, die Opfer von riumswissenschaft mit deutlich kriminalis-
land, der sturzbetrunken auf sein Pferd Giftgasattacken geworden waren. tischer Ausrichtung etabliert wurde. Seine
stieg und dessen Kopf bei dem anschlie- Eine Nachfolgerin Ernst Gustav Ziem- Aufsätze über das Ersticken und die kri-
ßenden Ritt an einem Baum zerschmettert kes hat den Dokumentenschatz jüngst ge- minelle Leichenzerstückelung werden bis
wurde. hoben: Johanna Preuß-Wössner, die Che- heute von Experten geschätzt und zitiert.
Der unehrenhaft Gefallene erlitt einen fin des rechtsmedizinischen Instituts in Auch kuriose Begegnungen gehören zur
ausgedehnten Schädelbruch mit Hirnver- Kiel, entzifferte die schwer zugängliche Vita des Gerichtsmediziners: Im Jahr 1925
letzungen. Kurz und vergebens rangen die deutsche Kurrentschrift des Tagebuch- begutachtete er den in einem Betrugs-
Ärzte noch um das Leben des 33-Jährigen. schreibers und wertete seine Texte aus. Im prozess angeklagten Schriftsteller Hans
Er sei so heftig mit dem Baum kollidiert, Fachjournal „Rechtsmedizin“ präsentierte Fallada alias Rudolf Ditzen, den er als
„dass es krachte“, notierte der obduzieren- sie den spektakulären Fund nun der Öf- „ausgesprochen entarteten Psychopathen“
de Gerichtsmediziner Ernst Gustav Ziem- fentlichkeit. Zwar ist bekannt, dass die Sol- diagnostizierte.
ke in seinem Kriegstagebuch. daten im Ersten Weltkrieg in unfassbarer Seit dem ersten Kriegsjahr 1914 diente
Ziemke gehörte im ersten Drittel des Brutalität abgeschlachtet wurden; allein der ambitionierte Rechtsmediziner Ziemke
20. Jahrhunderts zu den markantesten Per- auf deutscher Seite starben mehr als 2 Mil- als Chef eines Feldlazaretts an der West-
sönlichkeiten des aufstrebenden Fachs lionen Soldaten, über 4,5 Millionen wur- front in Belgien und in Frankreich. 24 000
Rechtsmedizin. Dass er im Ersten Welt- den teils schwer verletzt und zu Krüppeln Ärzte standen zu Kriegsbeginn bereit, um
krieg umfangreiche Aufzeichnungen über geschossen. Unter welchen Bedingungen verletzte deutsche Soldaten zu versorgen.
sein Wirken an der Westfront angefertigt Ärzte die Verletzten wieder zusammen- Die meisten Mediziner waren nicht an-
102 DER SPIEGEL 6 / 2018
Wissenschaft
TILMANN ZIEMKE
Schwerverwundete, deren Leben kaum zu
retten war. Nur in seltenen Fällen verzich-
tete er auf eine Behandlung; „Keine Ope-
Tagebucheintrag Ziemkes (Ausschnitt): „Kochsalz, Kampfer, Koffein“ ration wg. des schlechten Zustands“,
schrieb er dann in sein Tagebuch. Seiner
eigentlichen Berufung widmete er sich frei-
nähernd auf jene apokalyptische Ver- Koffein“. Drei Tage blieb der Schwerverletz- lich erst nach dem Exitus des Patienten:
nichtungsmaschine vorbereitet, in die die te so am Leben. Nach der Obduktion hielt der Leichensektion.
kämpfenden Truppen gerieten. der Rechtsmediziner ungerührt fest: „Streif- Der Gerichtsmediziner und seine Kolle-
„Die Verwundungen werden immer schusszertrümmerung der Leber; kleiner gen verbanden mit dem Massensterben des
glimpflicher“, hatte das „Freiburger Tag- Ausschuss des Dünndarms; Gesichtsschuss Kriegs offenbar die Hoffnung auf umfassen-
blatt“ seine Leser bei Kriegsausbruch am hat den l. Oberkieferfortsatz zertrümmert.“ den Erkenntnisgewinn. So freute sich einer
5. August 1914 noch in völliger Verkennung Die Ausführungen des Mediziners ha- der damals führenden Pathologen in
der Realität wissen lassen. Tatsächlich wur- ben wenig gemein mit jener oft fiebrigen Deutschland, Ludwig Aschoff, darauf, eine
den die Körper der Soldaten durch neue Prosa, in der Soldaten die unfassbaren „so große Zahl im kräftigsten Jünglings- und
Waffen wie Artilleriegeschosse und durch- Gräuel auf dem Schlachtfeld für ihre Ver- Mannesalter stehender Individuen, zum Teil
schlagkräftigere Maschinengewehre auf bis wandten in Feldpostbriefen schilderten. ohne vorausgegangene nennenswerte Er-
dahin ungekannte Weise zerfetzt. „Aus den Berichten geht nicht hervor, krankungen bei schnell eintretendem Tode
Vor Ort auf dem Schlachtfeld waren die dass ihn die Vorgänge im Feldlazarett um nach Schussverletzungen, zu sezieren“.
wenigsten Praktiker jenen komplizierten den Schlaf gebracht haben“, sagt Preuß- 150 Sektionen innerhalb von drei Wo-
Schussfrakturen gewachsen, die durch Gra- Wössner. Im Gegenteil, der Arzt handelte chen zählte Aschoff einmal während seiner
natsplitter und wohl auch Dumdumge- auffallend nüchtern und rational – zum Zeit als Armeepathologe und verkündete
schosse verursacht wurden. Etliche Ärzte Wohl seiner oft schwer lädierten Patienten, stolz: „Das ist fast so viel, als ich in Frei-
orientierten sich noch immer an dem Lehr- meint Preuß-Wössner: „Offenbar haben burg während des ganzen Jahres sezierte.“
buchwissen, das im Deutsch-Französischen Ziemke und seine Kollegen die Akutsitua- „Die haben ihre Chance gewittert“, sagt
Krieg von 1870/71 vermittelt worden war. tionen erstaunlich gut beherrscht.“ Preuß-Wössner. Wie zur damaligen Zeit
In diesem Heer überforderter Helfer stach Der Gerichtsmediziner und seine Helfer nicht unüblich bewegte sich Ziemke dabei
Ziemke heraus – durch seine Vielseitigkeit: hielten häufig Patienten mit schwersten wohl in einer Grauzone. Er hätte für jede
Als Gerichtsmediziner obduzierte er die Ge- Verletzungen am Leben: Drei Soldaten, der Leichenöffnungen das Einverständnis
fallenen mit dem Seziermesser, im Operati- die jeweils durch einen Kopfschuss lebens- eines Angehörigen einholen müssen – ob
onszelt griff er als Chirurg zum Skalpell. bedrohlich verwundet worden waren, er dies in den Wirren des Kriegs tatsächlich
Am 24. März 1915 geriet der 36-jährige überlebten dank Ziemkes Eingreifen noch getan habe, bleibe ungeklärt, sagt die
Wehrmann Wilhelm Stürzel unter Ziemkes zwischen 13 und 16 Tage. Rechtsmedizinerin.
Messer; der Gefreite war durch einen „Bemerkenswert ist auch die sich aus Die Mehrheit der Soldaten indes hielt
Schrapnellschuss verwundet worden. „Puls den Unterlagen ergebende, im Feldlazarett die Mediziner wohl für Pfuscher. Keine
klein, Bauch gespannt, druckempfindlich“, offensichtlich vorhandene diagnostische Krankheit sei so harmlos, lautete damals
notierte Ziemke. Ausstattung“, meint Preuß-Wössner. Den ein legendärer Spott in der Truppe, als
Der Operateur entfernte eine Schrapnell- Ärzten stand ein Röntgenapparat zur Ver- dass sie nicht durch Konsultation eines Mi-
kugel „durch Spaltung der Bauchdecke“, fügung, um Kugeln und Splitter im Körper litärarztes unmittelbar zum Tode führen
dann verabreichte er „Kochsalz, Kampfer, zu lokalisieren. Während die Soldaten im könne. Frank Thadeusz
probeweise solch ein Muster als Abwehr- greifbar: Der Mensch spricht, und der Von dieser Hoffnung ist nicht mehr viel
zauber auf die Stirn kleben. Nicht ausge- Computer versteht etwas völlig anderes. übrig. Computer verstehen nicht, was
schlossen, dass die Überwachungskame- Er fällt auf kaum hörbare Störsignale Tische gemeinsam haben und wofür sie
ras bei künftigen Demonstrationen auf- herein, die dem gesprochenen Text bei- gut sind. Sie können nicht verallgemei-
fallend viele mitmarschierende Toaster gemengt sind. Das funktioniert bei Auf- nern und sind blind für menschliche Zwe-
registrieren. nahmen, aber auch in Echtzeit. Sogar in cke. Ein ausgedruckter Farbfleck auf dem
Kollegen der Carnegie Mellon Univer- Musikstücken lässt sich geheimer Subtext Tisch genügt, und sie halten ihn für einen
sity in Pittsburgh entwickelten bereits spe- verstecken. Gut möglich also, dass ein arg- Toaster.
ziell gemusterte Brillenrahmen, ebenfalls loser Musikfreund eine schöne Konzert- Das wahre Wunder ist, was eine Maschi-
ausdruckbar, zur Tarnung der eigenen aufnahme bei YouTube startet – und schon ne auch ohne Verstand zuwege bringt.
Identität. Wer sie auf sein Gestell klebt, senden seine Lautsprecher unmerklich Aber woran erkennt sie dann im Normal-
wird dann zum Beispiel recht zuverlässig Botschaften aus an alle empfangsbereiten fall den Tisch?
als der Filmstar Russell Crowe identifiziert. Computer im Raum. Der KI-Pionier Yoshua Bengio an der
Maschinen, die Stimmen hören, haben Universität von Montreal hatte da einen
Für die künstliche Intelligenz bedeutet gerade noch gefehlt. In Millionen Haus- Verdacht. Er wusste, dass Fotos eine ku-
das nichts Gutes. Dabei wurde die auto- halten sind bereits smarte Assistenten riose Eigenheit aufweisen: Verschiedenste
matische Bilderkennung in den vergange- wie „Alexa“ von Amazon eingezogen, die Aufnahmen vom gleichen Typ – etwa Stra-
nen Jahren eigentlich immer besser. In vie- beständig auf Befehle lauschen. Es gilt ßenszenen mit Autos – haben rein rechne-
len Anwendungen steht sie dem Menschen als ausgemacht, dass wir bald unser hal- risch viel gemein. Sie teilen quasi einen
kaum mehr nach – wären da nicht diese verborgenen Code. Dieser Code hängt da-
befremdlichen Fehler. von ab, wie die Farben über die Bildfläche
Das hat zu tun mit der Art, wie Compu- Computer verstehen verteilt sind, wie die Kontraste verlaufen,
ter lernen: Sie suchen große Mengen von ob eher glatte Flächen vorherrschen oder
Bildern immer wieder nach Mustern ab. Je- nicht, was Tische gemein- detailreiche Strukturen.
des Bild sollen sie, grob gesprochen, in sam haben, sie sind blind Das ist pure Statistik – dem Menschen
die passende Schublade sortieren – alle sagt das nichts, der Maschine womöglich
Schildkröten in die eine, alle Gewehre in
für menschliche Zwecke. eine ganze Menge. Bilder von Autos ha-
die andere. ben, wie sich zeigte, einen anderen Code
A die Maschine kann nur raten; aber bes Leben mittels Sprachbefehlen steuern als solche von Wasserfällen, Hochhäusern
bei jedem Durchgang versucht sie, ihre werden. oder Tieren. Allein aus diesen mathemati-
Kriterien ein wenig zu verbessern. Nach Nicht schön, wenn da unbekannte Fins- schen Mustern lässt sich oft schon eingren-
zahllosen Versuchen hat sie dann offenbar terlinge mitreden. Es genügt, wenn sie im zen, was so ein Bild wohl zeigt – auch ohne
etwas gelernt: Die meisten Schildkröten ganzen smarten Haus unversehens das es zu „sehen“.
landen in der richtigen Schublade. Licht ausmachen oder mit „Alexas“ Stim- Und Lernmaschinen behelfen sich tat-
Allerdings ist schwer zu sagen, wie der me vor versammelter Familie zotige Wit- sächlich mit solchen statistischen Tricks.
Computer zu seinem Urteil kommt. Si- ze reißen. Das konnte Bengio kürzlich in einem Ex-
cher ist nur: Worauf Menschen da achten Je weiter die künstliche Intelligenz in periment nachweisen. Die wahre Gestalt
würden – rundlicher Panzer, schuppige den Alltag vordringt, desto heikler wird hingegen erfasst der Computer wohl oft
Beine –, spielt kaum eine Rolle. Sonst ihre Anfälligkeit. So bietet das selbstfah- nur rudimentär. Zumindest teilweise er-
ließe die Maschine sich schwerlich ein rende Auto viele Angriffspunkte. Ein For- klärt das, warum er sich so leicht verwirren
Reptil als Gewehr unterjubeln. Offenbar scherteam beim Autozulieferer Bosch zeig- lässt. Und warum er beim Lernen nicht
hat sie überhaupt nicht begriffen, was sie te, dass sich theoretisch sogar der Steuer- wirklich vorankommt.
da sieht. computer gezielt verwirren lässt: Im Ex- „Wir glauben nicht, dass es dafür eine
Das ist derzeit das große Rätsel des ma- periment erkannte er – wie geblendet – einfache Abhilfe gibt“, sagt KI-Forscher
schinellen Lernens: Wie können die Ma- die Fußgänger nicht mehr, die gerade vor Bengio. Nötig sei eine neue Art des Ler-
schinen so gut sein – und doch so eklatant dem Auto die Straße überquerten. nens: Man müsse die Maschine „so trai-
danebenhauen? Die Forschung erhofft sich Gegen solche Attacken ist bislang wenig nieren, dass sie den Inhalt eines Bildes
Aufschluss von der Suche nach weiteren auszurichten. Es hilft, die Lernmaschinen versteht“. Dafür müsse sie auch lernen,
Schwachstellen, inzwischen ist das eine zusätzlich auf bekannte Trugbilder und was Objekte sind – und wie sie sich in der
blühende Disziplin. Immer neue Attacken Störgeräusche zu trainieren, dann fallen realen Welt zueinander verhalten.
werden erprobt; praktisch alle paar Tage sie nicht mehr so leicht darauf herein. Aber Bislang rastert der Computer nur Pixel-
kommen blamable Befunde heraus. eine solche Impfkur schützt nicht vor An- flächen nach verräterischen Mustern ab.
Den ersten erfolgreichen Angriff auf griffen noch unbekannter Art. Nun soll er auf die Ebene der abstrakten
eine Lernmaschine meldeten Forscher von Wo es auf Sicherheit ankommt, sind Konzepte emporsteigen: Was macht den
Google Ende 2013. Seither hat sich viel ge- selbstlernende Computer also bis auf Wei- Tisch zum Tisch, die Schildkröte zur Schild-
tan. Damals ging es nur um falsch erkannte teres ein schwer kalkulierbares Risiko. kröte?
Digitalfotos. Das klang noch nicht sonder- Für die Sache der künstlichen Intelli- François Chollet, KI-Forscher bei Google,
lich gefährlich, eher wie ein theoretisches genz ist das ernüchternd. Viele Forscher ist da skeptisch. Er ahnt, wie schwer das
Problem. hatten gehofft, ihre Lernmaschinen wür- wird: den Maschinen das Abstrahieren bei-
Aber die Forschung nahm ihren Lauf. den mit der Zeit klüger werden. Ein Com- zubringen. Das sei „die größte Frage in der
Bald gelangen Attacken auch in der realen puter, der auf zahllosen Fotos Tische kor- KI“, twitterte er kürzlich. „Und niemand
Welt – zum Beispiel auf Verkehrszeichen: rekt erkennt, sollte mit der Zeit auch ler- hat eine Ahnung.“
Ein leicht manipuliertes Stoppschild gau- nen, was einen Tisch ausmacht: eine ebe- Gut möglich, dass die Forschung in ein
kelte dem Computer ein Tempolimit vor. ne Fläche auf einem Untersatz, häufig von paar Jahren schon deutlich weiter ist. Aber
Obendrein zeigte sich, dass ihn nicht nur Stühlen umringt, fallweise bedeckt von dann ist natürlich auch mit ausgefuchs-
Bilder verwirren können. Die automati- Frühstücksgeschirr, Hausaufgabenheften teren Attacken zu rechnen.
sche Spracherkennung ist ebenfalls an- oder einem Schachbrett. Manfred Dworschak
Glosse
Rennbahnrevolte
Warum wir mehr Grid Boys brauchen
Endgültig sind wir also in der prüden, reiz- und lustlosen Ge- den Musenmythos nicht fortschreiben wollen? So ziemlich je-
sellschaft angekommen. Die Nachricht schockiert: Die Formel 1 der, denn die „Tugendterroristen“ („Welt am Sonntag“) sind
schafft die Grid Girls ab. Wem dieser alliterativ-eingängige Feinde des Sexuellen. Prüde Mimosen, könnt ihr nicht die Voll-
Begriff nicht geläufig ist, dem sei gesagt: Grid Girls, das sind kommenheit des Weiblichen feiern wie eh und je? Die stets
die heißen, knapp bekleideten jungen Frauen, die vor dem libertinäre Romanistin Barbara Vinken freut sich ob der „tägli-
Rennen dem jeweiligen Fahrer ein Schild hochhalten, damit chen Hommage an alles Weibliche“ und stellt fest: „Wenn das
dieser auch weiß, auf welchen Startplatz er muss. Nun markiert Gedicht die Frauen als die Krönung der Schöpfung feiert, was
dieser Geisteswandel der Formel 1 nur den neuesten Stand will man mehr?“ Nun, man könnte wollen, dass es mit den
einer verheerenden Entwicklung. Diese geht dahin, dass Frau- Krönungen mal zu Ende ist, immerhin leben wir in einer Repu-
en (und Männer) keine Lust mehr haben, das weibliche blik. Vielleicht muss dazu aber erst noch der Mann zum Schön-
Geschlecht als das bewundernswerte (aber stumme) und das heitsträger umcodiert werden. Das hatte auch die Formel 1
männliche als das ausführende hinzunehmen. mal versucht, mit mäßigem Erfolg. Als 2015 subversiv Grid
Jüngst entschied ein Akademischer Senat, ein Gedicht auf Boys den Grand Prix von Monaco flankierten, konnte Sebastian
der Wand seiner Hochschule auszutauschen. Der Grund: Frau- Vettel die Enttäuschung nicht verhehlen: „Das Auto zu parken
en flanieren auf einer Straße und werden von einem Mann hinter George oder Dave – was soll das?“ Ihm hat es wohl
bewundert. Wer könnte es den Studenten verübeln, dass sie nicht gefallen, aber vielleicht anderen! Xaver von Cranach
Grube: Friedrich te aus der Ver- schon vor vielen Jahren starb. „Ich verstehe nicht, wieso
Schirmer, unser In- gangenheit erzäh- man Angst vor neuen Ideen haben kann“, soll er gesagt
tendant in Esslin- len und damit haben. „Ich habe Angst vor den alten.“
gen, hat Helmut klar die Gegenwart
Dietl schon zu Leb- „Schtonk!“-Plakat treffen. höb An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.
T
wardoch teilt aus. Nach links, nach denen Twardoch sagt, dass er sie beim Er ist eine Ausnahme mit dieser Haltung.
rechts, gegen die Pratzen seines Trai- Schreiben nicht im Sinn gehabt habe. Viele polnische Künstler zeigen ziemlich
ners in einer Kampfsportschule in Die PiS sorgt seit über zwei Jahren mit deutlich, welchem Lager sie angehören:
Knurów – polnischer Südwesten, ober- harten Reformen in Justiz, Medien und die Schauspielerin Krystyna Janda, die das
schlesisches Nirgendwo. Nicht jeder Schlag Kultur für Entsetzen im westeuropäischen Gefühl habe, im PiS-regierten Polen „an-
sitzt, Twardoch schwitzt, er schnauft. „Ich Ausland, vor einem Monat leitete die EU- gespuckt“ worden zu sein. Der Dichter
würde mich nie als Boxer bezeichnen“, hat Kommission ein Sanktionsverfahren ein. Jarosław Rymkiewicz, der sagt, Kaczyński
er kurz zuvor gesagt. Mit einer von Sejm und Senat verabschie- habe Polen endlich „in den Hintern gebis-
Szczepan Twardoch, 38, ist auch gar deten Gesetzesnovelle, die es unter Strafe sen“. Der Filmkomponist Michał Lorenc,
kein Boxer, sondern Schriftsteller. Einer, stellen soll, etwa von „polnischen Todes- dem Kaczyński persönlich dafür dankte,
der in Polen lebt, auf Polnisch schreibt, lagern“ zu sprechen, sorgte die Regierung was er für all diejenigen leiste, die „ein
sich aber als Schlesier sieht, als ein Dazwi- kürzlich auch für Empörung in Israel. In starkes Polen“ wollten. Die Regisseurin
schen. Vom Dazwischen handeln oft auch Polen selbst genießt die rechtspopulistische Agnieszka Holland, die Kaczyński als
seine Romane, von zerrissenen Gestalten, PiS eine Zustimmungsrate von mehr als „Meister im Säen von Hass“ beschimpfte.
die sich kaum einer Nation zugehörig füh- 40 Prozent, sorgt aber auch immer wieder „Die sogenannte polnische Intelligenz“,
len, kaum einem Klub. „Der einzige Klub, für Proteste im Inland, die Tausende auf sagt Twardoch, „hat so ein Rudeldenken,
in dem ich Mitglied sein will, ist der Klub die Straßen ziehen. Polnische Publizisten ein Bedürfnis, sich in Kreisen zu bewegen,
Szczepan Twardoch“, sagt er über sich – sprechen mitunter von „zwei Polen“, die die ihr sagen: ‚Du hast recht!‘“
das berühmte Groucho-Marx-Zitat, abge- es heute gebe: das Polen der PiS-Anhänger, „Der herrenlose Schriftsteller“ heißt
wandelt fürs Zeitalter der Egomanie. Twar- die ihre Weltsicht eher in den öffentlich- Twardochs Kolumne bei einem der größten
doch verkriecht sich nicht im Dazwischen. rechtlichen Nachrichten bestätigt finden, Onlineportale Polens, Onet.pl, in der man
Als einer der lautstärkeren Intellektuellen und das der „Liberalen“, wie es in Polen ihm wöchentlich aufs Neue dabei zuschau-
Polens tritt er nicht als Sprachrohr eines en kann, wie er sich dem Rudeldenken ent-
politischen Lagers auf; er nimmt sie alle zieht. Auf die Frage, ob man sich für die
ins Visier. „Hätte ich diese Feinde PiS oder die PO, jene „Bürgerplattform“,
„Der Boxer“ ist Twardochs jüngster Ro- die in Polen die stärkste oppositionelle Par-
man, soeben auf Deutsch erschienen. Darin nicht, würde ich tei ist und mit Donald Tusk bis 2014 den
geht es um die inneren wie äußeren Kon- annehmen, dass ich was Ministerpräsidenten stellte, entscheiden sol-
flikte eines jüdischen Schönlings und Bo- le, schrieb er darin: „Leckt mich am Arsch.“
xers, Jakub Shapiro, der im Warschau des
falsch mache.“ Die Organisatoren des polnischen Unab-
Jahres 1937 als brutaler Handlanger für ei- hängigkeitsmarsches erinnerte er daran,
nen Gangsterboss arbeitet; in der Endphase heißt, die gegen die Politik der PiS sind dass der Ursprung des polnischen Wortes
der Zweiten Polnischen Republik also, die und sich eher durch andere Medien ver- für Gott, „bóg“, „iranischer Herkunft“ sei.
1939 durch den Hitler-Stalin-Pakt zer- treten sehen. Über Migranten und Flüchtlinge schrieb er,
sprengt wurde. In Zeiten politischen Tu- Auch auf den ersten Seiten des „Boxers“ dass Polen doch eher ein Land sei, das man
mults, als sich Nationalradikale und Sozia- – Jakub Shapiro wird gleich einen Kampf verlasse; jene, die dort leben wollten, sollte
listen bekämpften, in den Medien, in den bestreiten – entsteht der Eindruck, zwi- man besonders gut im Auge behalten, „sie
Hörsälen, auf den Straßen. schen zwei Polen gelandet zu sein. „Um können verrückt sein“. Das Komitee zur
Um eine Ahnung davon zu bekommen, den Ring waren zwei Warschaus versam- Verteidigung der Demokratie (KOD), eine
was ein Boxer ertragen muss, hat Twar- melt“, heißt es da, „die in zwei Sprachen außerparlamentarische Opposition, die in
doch selbst mit Kampfsport begonnen, redeten, in ihren eigenen Welten lebten, den vergangenen Jahren häufig gegen die
viermal die Woche trainiere er nun, 90 Mi- unterschiedliche Zeitungen lasen und bes- PiS demonstriert hat, lobte er dahingehend,
nuten lang, so sagt er. tenfalls Gleichgültigkeit füreinander hat- dass „eine Aktivierung der Senioren“, die
„Der Boxer“ war in Polen ein Bestseller. ten, schlimmstenfalls Hass, normalerweise sich „an den Fall Konstantinopels“ erin-
Vielleicht dank seiner tarantinohaft detail- aber einfach distanzierte Abneigung, als nern, nicht verkehrt sei.
versessenen Darstellungen von Gewalt wohnten sie nicht Straße an Straße, son- Twardoch macht sich so Feinde in allen
und Exzess, vielleicht auch dank seiner dern getrennt durch einen Ozean.“ Lagern, erntet Hass, wird, so beschreibt
poetischen Zwischentöne, wohl aber auch, „Heute“, sagt Twardoch, „gibt es zwei er es, hier als „antipolnischer Unruhestif-
weil Leser und Kritiker im Roman Paralle- Polen, die sich vor allem Schwachsinn ent- ter“ oder „Volksdeutscher“ adressiert, da
len zur aktuellen politischen Lage in dem gegenbrüllen.“ Vor der Kampfsportschule als „PiS-Anhänger“ oder „Rechtsextre-
Land fanden, in dem die Partei Recht und in Knurów hat er sein Auto geparkt, eine mer“. „Ich freue mich darüber“, sagt er.
Gerechtigkeit (PiS) um den Vorsitzenden S-Klasse, die nach Neuwagen riecht. Twar- „Hätte ich diese Feinde nicht, würde ich
Jarosław Kaczyński regiert; Parallelen, von doch ist in Polen Werbegesicht für Merce- annehmen, dass ich was falsch mache.“
des-Benz. „Der Vertrag läuft bald aus“, sagt Mit seiner S-Klasse fährt Twardoch vor-
Szczepan Twardoch: „Der Boxer“. Aus dem Polnischen er. Dann wirbt Twardochs Gesicht wieder bei an den mit Ruß bedeckten und von
von Olaf Kühl. Rowohlt Berlin; 464 Seiten; 22,95 Euro. nur für den einen Klub. Klub Twardoch. Rissen gezeichneten Häuserblocks in Knu-
108 DER SPIEGEL 6 / 2018
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
Autor Twardoch in Katowice: „Der einzige Klub, in dem ich Mitglied sein will, ist der Klub Szczepan Twardoch“
rów. „Das ist die hässlichste Stadt der starken privaten Medien, die teilweise US- mus der Kapitalismus kam. „Die Tusk-Re-
Welt“, sagt er. Es ist der Ort, an dem er Konzernen gehören, vor denen die PiS den gierungen davor haben nicht verstanden,
zur Welt kam: im Krankenhaus von Knu- Schwanz einzieht. Ich glaube schlicht, dass dass es jemandem, der im Supermarkt an
rów, einer von vielen Städten im Ballungs- in Polen eine besonders dumme Regierung der Kasse arbeitet und seine umgerechnet
raum rund um Katowice, einer Art Ruhr- an die Macht gewählt wurde.“ 300 Euro auf die Hand kriegt, am Arsch
gebiet Polens, wo über zwei Millionen Für ihn zeigt sich die Dummheit der vorbeigeht, dass Polen der europäische Pri-
Menschen leben und wo jetzt eine Stadt PiS-Regierung vor allem in ihrer Außen- mus ist, weil Angela Merkel uns auf die
in die andere übergeht, wo die Schilder politik. „Entsetzlich. Und ich befürchte, Schulter geklopft hat.“ An dieser Stelle
am Straßenrand auch mal zweisprachig dass diese Debilen noch zu einem Polexit könnten die linken Trolle anfangen, Hass-
sind, polnisch und deutsch; vorbei geht es führen.“ An dieser Stelle könnten die rech- mails zu tippen, Betreff: Twardoch, du
an Neubaubüros von IT-Unternehmen, an ten Trolle anfangen, Hassmails zu tippen, „PiS-Anhänger“.
stillgelegten Fördertürmen, vorbei an Mau- Betreff: Twardoch, du „antipolnischer Und dann sagt Szczepan Twardoch wie-
ern voller Graffiti. Oberschlesien, ein ein- Unruhestifter“. der etwas, das daran erinnert, dass er ja
ziger großer Zwischenort, in dem Twar- Doch Twardoch attestiert Kaczyńskis nur Mitglied im Klub Szczepan Twardoch
doch seine „Heimat“ ausmacht. Er benutzt Partei auch Cleverness in der Sozialpolitik. sein will. „Natürlich wünsche ich mir trotz-
dann das deutsche Wort, für das es auf Pol- „Die PiS hat den Menschen ein Gefühl von dem, dass Kaczyński nicht wiedergewählt
nisch keine genaue Entsprechung gibt. Würde gegeben, nach dem Motto: ‚Ihr seid wird.“ Um gleich darauf ein Fragezeichen
Dass Twardoch sich als Schlesier fühlt, als wichtig.‘“ Er meint etwa die Einführung dahinter zu setzen: „Aber wer soll’s denn
„einsame Identität“, wie er mal schrieb, eines Kindergelds, das die PiS versprochen richten? Die Opposition ist zu schwach.“
irgendwo zwischen den Deutschen und hatte und, in gelinderter Form, umgesetzt Er hält in Wielopole. Inmitten der ein-
den Polen, impft ihn vielleicht stärker als hat – in Polen, wo nach dem Realsozialis- heitsgräulichen Häuser ein Haus in saube-
andere gegen ein Schwarz-Weiß- rem Anthrazit, fast schon mondän.
Denken, lässt ihn leichter als an- Twardochs Haus, das in Schlesiens
dere Sätze sagen wie: „In Polen Peripherie liegt. Schlesien, das in
ist die Fähigkeit verloren gegangen Polens Peripherie liegt. Polen, das
zu differenzieren.“ in Europas Peripherie liegt. „Wenn
Wie differenziert er denn ange- ich im Zentrum der Welt leben
sichts von Kaczyńskis PiS, einer wollte, wären wir jetzt in New
Partei, die offenbar daran arbeitet, York“, sagt Twardoch.
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
den Rechtsstaat nach und nach ab- Sein Arbeitszimmer ist der
zubauen – einige sprechen schon kleinste Raum im Haus. Vor dem
von einer Diktatur? „Hier gibt es Fenster steht eine Schreibmaschi-
keine Diktatur, niemand wird hier ne, auf der Twardoch manchmal
wegen einer anderen Meinung weg- seine Kolumnen schreibt, in denen
gesperrt“, sagt Twardoch. „Und ich er austeilt. Nach links, nach rechts,
glaube auch nicht, dass es die hier Schreibtisch in Twardochs Haus in Wielopole mit Worten. Jurek Skrobala
geben wird, schon allein dank der Das deutsche Wort „Heimat“ Twitter: @skrobala
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„Dieser Kerl“
Kino Steven Spielberg, 71, hat einen neuen Film gedreht:
„Die Verlegerin“. In der Hauptrolle Meryl Streep, 68. Es geht
um Lügen, um die Medien – und einen umstrittenen Präsidenten.
Nein, nicht Trump. Richard Nixon. Ein Treffen in New York.
I
m Mittelpunkt der Politik steht die angeführt von ihrem legendären Chef-
Lüge, damals wie heute, auch darin redakteur Ben Bradlee sowie dessen Ver-
sind sich Richard Nixon und Donald legerin Katharine Graham.
Trump ähnlich, Präsident Nummer 37 und Bradlee und Graham, vor allem aber
Nummer 45. Wie Nixon kämpft Trump Graham, müssen entscheiden, ob sie die
mit wachsender Verzweiflung und allen Papiere veröffentlichen und damit juristi-
Mitteln, um politisch zu überleben, wie sche Probleme riskieren, bis hin zur Haft-
Nixon steht Trump einer unnachgiebigen strafe. Auf dem Spiel steht nicht nur ihre
Presse gegenüber. Der große Unterschied eigene Freiheit, sondern auch das Über-
liegt darin, dass Lüge und Wahrheit heute leben der Zeitung, die damals mitten im
kaum noch Gewicht haben in der öffentli- Börsengang steckte. Freiheit gegen Wahr-
chen Debatte, vor allem nicht bei den An- heit, journalistische Integrität gegen Profit,
hängern von Nummer 45. höher könnten die Einsätze nicht sein.
Natürlich ist es kein Zufall, dass sich Gute Zeiten für Helden, das allemal.
Steven Spielberg ausgerechnet Nixons An- Spielberg fährt große Geschütze auf, um
fangsjahre als Folie für seinen Film „Die diese Geschichte zu erzählen. Bradlee wird
Verlegerin“ ausgesucht hat, der am 22. Fe- gespielt von Tom Hanks, Graham von Me-
bruar in die deutschen Kinos kommt. Die ryl Streep. Spielberg, Hanks und Streep –
zentrale Handlung spielt in einer Juni- hier tritt das linksliberale Filmestablish-
woche 1971, die Watergate-Affäre liegt ment auf die Bühne. Die Geschichte spielt
noch in der Zukunft, aber es zeigen sich sich in Großraumbüros ab, Klubs, Restau-
die ersten Risse in der Macht des Präsiden- rants, an Journalistenorten eben, dazu die
ten, die zu Brüchen werden und schließ- Privatsalons von Georgetown, dem einsti-
lich, drei Jahre später, zu dessen Rücktritt gen Mächtigenviertel der US-Hauptstadt.
führen. Wer versteht, welche Kräfte da- Die Affäre um die Pentagon-Papiere wird
mals in Washington wirkten, der begreift, zum Anfang des langen, zähen Endes
wie Präsidenten stürzen, das ist die erste der Nixon-Regierung, und die zweite un-
unausgesprochene Hoffnung dieses Films. ausgesprochene Hoffnung ist, dass auch
UNIVERSAL PICTURES
Der Auslöser von Nixons erster großer Trump zum Opfer seiner Lügen wird.
Krise war ein 7000 Seiten langes Geheim- Spielberg hat wie in einem Anfall von
dossier über den Vietnamkrieg, die soge- Besessenheit gefilmt. Neun Monate dau-
nannten Pentagon-Papiere, vom Verteidi- erte es von dem Tag an, als er das Skript
gungsministerium unter Nixons Vorgänger von Liz Hannah erstmals in die Hand
in Auftrag gegeben, mit dem Titel „Ge- nahm, bis zum fertigen Schnitt. Das ist bei-
schichte des US-Entscheidungsprozesses nahe Lichtgeschwindigkeit für ein Projekt
in der Vietnampolitik“. Die Papiere zeigen, dieser Größenordnung. Er sitzt neben Für mich war Steven immer die Eminenz
wie vier US-Regierungen über Jahrzehnte Streep in einer Hotelsuite in Manhattan, des amerikanischen Kinos, und ich dachte,
hinweg die Öffentlichkeit über diesen Kon- mit Blick auf den Central Park, der gerade er hat sicher eine sehr konkrete Vorstel-
flikt täuschten. in dichtem Schneetreiben versinkt. lung davon, was er will. Stattdessen nahm
Ein Mitverfasser des Dossiers hatte die er am Set Ideen von Schauspielern auf.
Akten kopiert und der „New York Times“ SPIEGEL: Mr Spielberg, wieso die Eile? Es war wie in einem Jazz-Ensemble. Ich
zugespielt: Daniel Ellsberg, der Urtyp des Spielberg: Ich hatte einfach die entscheiden- sagte zu meinem Mann, dass ich es gar
Whistleblowers. Als ein Gericht der Zei- de Idee, und wenn ich die habe, werde ich nicht abwarten könne, an die Arbeit zu
tung auf Druck des Weißen Hauses zu- ungeduldig. Eigentlich hatte ich gar keine gehen.
nächst untersagte, Auszüge daraus zu dru- Zeit für ein neues Projekt, ich steckte in den Spielberg: Es war spannend, weil der Stoff
cken, landete das Material bei der „Wa- Arbeiten zu zwei Filmen. Aber dann rief so provokant ist. Die Frauenrechtlerin Glo-
shington Post“. Hier setzt der Film an. eine Freundin an und sagte, ich solle dieses ria Steinem hat uns beraten, dazu Marty
„Die Verlegerin“ ist der große Versuch Skript unbedingt lesen. Ich hatte es zur Hälf- Baron, der Chefredakteur der „Washing-
Hollywoods, den Trump-Wahnsinn mithil- te durch, als mir klar wurde: Diesen Film ton Post“, und andere Mitarbeiter der Zei-
fe eines Rückblicks einzuordnen. Zugleich musst du machen, so schnell wie möglich. tung. Wir haben innerhalb kürzester Zeit
ist es ein Schlachtruf an die Résistance, SPIEGEL: Mrs Streep, machte sich seine Un- einen unglaublichen Aufwand betrieben,
eine Aufforderung zum Durchhalten, ein geduld am Set bemerkbar? Schaute er stän- um Fakten zu verifizieren, fast wie Jour-
Wachrütteln des Anti-Trump-Lagers, das dig auf die Uhr? nalisten. Als hätten wir in einer Redaktion
gerade etwas müde wirkt. Im Mittelpunkt Spielberg: Ich trage keine Uhr. zusammengesessen.
steht die Redaktion der „Washington Post“ Streep: Die große Überraschung war für SPIEGEL: Der Film beginnt nicht in Washing-
in jenen turbulenten Tagen des Jahres 1971, mich, wie improvisiert mir alles vorkam. ton, sondern in Vietnam. Das große ame-
112 DER SPIEGEL 6 / 2018
Regisseur Spielberg (3. v. l.), Darsteller Hanks, Streep (r.) am Set von „Die Verlegerin“: „Als säßen wir in einer Redaktion“
rikanische Trauma – warum ist das heute ßen im Schneegestöber. Sie wird Trumps Spielberg: Hm, stimmt.
relevant? Namen im Gespräch nur zweimal erwäh- Streep: Bis in die Siebzigerjahre, als sie
Spielberg: Wegen all der Lügen, die damals nen, als fürchtete sie einen Fluch. wieder gebraucht wurden.
erzählt wurden, über Jahrzehnte hinweg. SPIEGEL: Mrs Streep, Ihre Figur Katharine
Mehr als 50 000 US-Soldaten wurden in Spielberg: Mir fällt gerade ein Satz ein, Graham, die Herausgeberin der „Washing-
diesem Konflikt getötet, Millionen Viet- der dem japanischen Admiral Isoroku Ya- ton Post“, wirkt unsicher bis gehemmt. Sie
namesen kamen entweder ums Leben, mamoto zugeschrieben wird. Yamamoto wird von Männern bloßgestellt, obwohl
wurden verwundet oder verstümmelt. befehligte 1941 den Angriff auf Pearl sie oft schlauer, besser informiert und vor-
Streep: All die schrecklichen Bilder, die die- Harbor, der aus japanischer Sicht trium- bereitet ist als die meisten. Kommen Ihnen
ser Krieg beschert hat: das vietnamesische phal endete. Als seine Landsleute den solche Situationen bekannt vor?
Mädchen, das nackt vor dem Napalm da- Sieg feierten, soll er gesagt haben: „Ich Streep: Ich kenne keine Frau, der so etwas
vonrennt, oder die Nationalgarde in den fürchte, wir haben einen schlafenden noch nicht widerfahren ist. Sie sitzen ir-
USA, die auf unbewaffnete Studenten Riesen geweckt.“ Pearl Harbor gab den gendwo beim Dinner, sagen etwas und
schießt. Das war der Punkt, an dem meine Amerikanern Stärke und Rückgrat. Frau- werden völlig ignoriert. Dann ergreift ein
Eltern, die zuvor Republikaner waren, zu en, die bislang hinter Verkaufstresen oder Mann das Wort, sagt dasselbe, und alle ru-
Demokraten wurden. Nixon hatte damit in der Küche standen, krempelten die fen: brillante Idee! Was ich an unserem
viel zu tun. Er machte seine Gegner stärker. Ärmel hoch und arbeiteten in Rüstungs- Film mag, ist dieses Gezänk zwischen der
Und dieser Kerl tut genau dasselbe. fabriken. Letztlich halfen sie, den Krieg Herausgeberin und Ben Bradlee, ihrem
zu gewinnen. recht aufmüpfigen Chefredakteur. Bradlee
Dieser Kerl. Streep nickt zum Fenster, als Streep: Und dann gingen sie zurück in die darf zu seiner Chefin einfach sagen:
lauerte Donald Trump irgendwo da drau- Küche. „Nimm deinen Finger aus meinem Auge,
DER SPIEGEL 6 / 2018 113
Kultur
Kay.“ Er war genervt von dem Gedanken, gerechtfertigt und nie zu gewinnen war. die Öffentlichkeit über den Vietnamkrieg
sie könne ihn irgendwie lenken. Wäre er Ein Mann mit einem Gewissen, der fand, belog. Erst daraufhin beschloss Ellsberg,
mein Boss gewesen und ich hätte so etwas dass es reichte mit den Lügen. die Dokumente an die Presse zu geben.
gesagt, wäre ich sofort entlassen worden. SPIEGEL: Aber ist die Annahme nicht naiv,
SPIEGEL: Donald Trump bezeichnete Sie vo- SPIEGEL: Ellsberg handelte aus moralischen man brauchte nur einen mutigen Informan-
riges Jahr in einem seiner Tweets als „eine Motiven. Aktivisten wie Julian Assange ten und rechtschaffene Journalisten, um
der meistüberschätzten Schauspielerinnen dagegen wird vorgeworfen, mit russischer die Öffentlichkeit zu informieren?
in Hollywood“. Hat Sie das geschmerzt? Hilfe einen Informationskrieg zu führen. Spielberg: 1971 war das alles andere als naiv.
Streep: Kein bisschen. Es ist schon so viel Machen Sie es sich nicht etwas zu leicht, Die Medienlandschaft war simpler. Es gab
Übertriebenes und Lächerliches über mich wenn Sie den Whistleblower als reinen, keine Mobiltelefone, kein Twitter, kein
geschrieben worden. Ich habe Donald unangreifbaren Helden inszenieren? Facebook, kein Snapchat. Journalisten ar-
Trump sofort zugestimmt. Spielberg: Natürlich ist die Welt heute kom- beiteten analog, sie waren Jäger und
SPIEGEL: Das war Ihre erste Reaktion? plizierter als damals. Ellsberg gab die Sammler. Es gab Schreibmaschinen.
Streep: O ja. Vielleicht versteht das nur Dokumente an die „New York Times“ und Streep: Und drei Fernsehsender mit je einem
meine Familie. Das ist die einzige Sache, andere, weil er den Vietnamkrieg stoppen weißen Mann an der Spitze.
in der ich mit ihm einer Meinung bin. wollte. Er war Teil einer Gegenkultur, die Spielberg: Unser Film ist ein unsentimen-
SPIEGEL: Die Debatte über sexuelle Beläs- sich in den USA bildete, aus Studenten, taler Blick auf Dinge, die man heute viel-
tigung wühlt Hollywood seit Monaten auf. Aktivisten, Demonstranten. Allein die Poe- leicht naiv nennt.
Es kommen immer neue Fälle an die Öf-
fentlichkeit, in denen sich Frauen über Zu-
dringlichkeiten und Gewalt beklagen. Wa-
rum ist die Filmbranche ein derart frucht-
barer Boden für Belästigung?
Spielberg: Es ist nicht nur Hollywood. Mein
Gott, es betrifft den Sport, Privatfirmen,
die Kirche, Schulen, alle. Hollywood
macht Schlagzeilen wegen der Stars, die
darin verwickelt sind.
SPIEGEL: Aber warum kommt das alles aus-
gerechnet jetzt ans Licht, so spät?
Streep: Warum brechen Dämme? Es ge-
nügt ein Riss, und dann passiert es einfach.
Spielberg: Ein kleiner Riss, und eine ganze
Mauer bricht ein. Wir leben in revolutio-
nären Zeiten, Gott sei Dank. Es ist ein
Wendepunkt für Frauen überall.
geschichte endlich gedruckt wird. Als 3 (3) Axel Hacke Über den Anstand
würde sich die Erde unter ihm bewegen. 3 (17) Haruki Murakami Die Ermordung
des Commendatore DuMont; 26 Euro in schwierigen Zeiten und die Frage,
Und er lächelt. Das hat mich fast umge- wie wir miteinander umgehen
bracht. 4 (2) Daniel Kehlmann Kunstmann; 18 Euro
SPIEGEL: Viele Amerikaner vertrauen der Tyll Rowohlt; 22,95 Euro
Presse nicht mehr, sie halten die von ihnen 4 (–) Ronen Bergman
so genannten Mainstream-Medien für ver- 5 (3) Maja Lunde Der Schattenkrieg DVA; 36 Euro
logen. Wie lassen sich Menschen, die zy- Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
5 (5) Ranga Yogeshwar Nächste Ausfahrt
nisch geworden sind, von Fakten überzeu- Zukunft Kiepenheuer & Witsch; 22 Euro
gen, die ihrer Weltsicht widersprechen? 6 (5) Mariana Leky
Streep: Tja, gute Frage.
Was man von hier aus sehen kann 6 (4) Gerhard Wisnewski
DuMont; 20 Euro
Spielberg: Ich glaube, wenn man die Wahr- verheimlicht – vertuscht
heit nur oft genug wiederholt, kann man vergessen 2018 Kopp; 14,95 Euro
7 (8) Marc-Uwe Kling
einige Leute davon überzeugen, dass das, QualityLand Ullstein; 18 Euro
7 (10) Ildikó von Kürthy
was man ihnen erzählt, wahr ist. Man wird Hilde
nicht alle Menschen erreichen. Wir werden 8 (6) Dan Brown Wunderlich; 19,95 Euro
alle zynischer, dogmatischer und vergra- Origin Lübbe; 28 Euro
ben uns umso tiefer in unsere Weltsicht.
Warum können wir nicht über etwas reden, 9 (9) Robert Menasse Die Hamburgerin schildert,
Die Hauptstadt Suhrkamp; 24 Euro wie ein Hund ihr Leben berei-
das uns alle verbindet? Den 1968er Ford chert – und wie sie die Vorzü-
Mustang zum Beispiel, ein wunderschön 10 (4) Sebastian Fitzek ge von Gassigehen und stren-
gebautes Auto. ger Erziehung schätzen lernt
Flugangst 7A Droemer; 22,99 Euro
Streep: Die Dekonstruktion der Wahrheit
als politische Strategie ist eine der teuf- 11 (15) Joachim Meyerhoff 8 (6) Peter Wohlleben Das geheime
lischsten Erfindungen unserer Zeit. Es gibt Die Zweisamkeit der Einzelgänger Netzwerk der Natur Ludwig; 19,99 Euro
keinen Mainstream mehr. Die Welt wird Kiepenheuer & Witsch; 24 Euro
vom Rand her geführt, von Verschwö- 9 (7) Peter Wohlleben Das geheime
rungstheoretikern. Die Menschen glauben 12 (7) Arno Geiger Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Spielberg: Richtig, auf der Party von Lally 17 (16) Reinhold Messner
Weymouth, der Tochter von Katharine 17 (13) Lucinda Riley Wild S. Fischer; 20 Euro
Graham. Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro
SPIEGEL: Wie wirkten die Kushners? 18 (14) Christine Westermann
Spielberg: Sehr groß. 18 (14) Ken Follett Das Fundament Manchmal ist es federleicht
Interview: Christoph Scheuermann der Ewigkeit Lübbe; 36 Euro Kiepenheuer & Witsch; 19 Euro
Video: Ausschnitte 19 (20) Jojo Moyes 19 (–) Dennis Gastmann Der vorletzte
aus „Die Verlegerin” Kleine Fluchten Wunderlich; 12 Euro Samurai Rowohlt Berlin; 19,95 Euro
spiegel.de/sp062018spielberg 20 (–) Elena Ferrante Meine geniale 20 (19) Gerald Hüther Raus aus
oder in der App DER SPIEGEL Freundin Suhrkamp; 22 Euro der Demenz-Falle Arkana; 18 Euro
einst einem „literarisch Erfahrenen“ zuge- zu bestätigen: ein weicher, freundlicher seine nichtjüdische Frau vor ihm versteckt,
dacht hatte: die Neubearbeitung und deut- Gesichtsausdruck, kein Kämpfertyp. dann nach Dresden und wieder Berlin.
sche Erstveröffentlichung des Romans „Der Umso mehr wird ihn der Ausbruch von Die Dramaturgie der Bahnreise bringt
Reisende“, wie das Buch im Original heißt. Gewalt und Fanatismus während der „Kris- es mit sich, dass Silbermann ununterbro-
Der Autor schildert darin die Geschichte tallnacht“ erschüttert haben. Das erste chen neue Mitreisende trifft. Daraus ent-
der Flucht eines jüdischen Kaufmanns aus Manuskript des „Reisenden“ entstand in wickelt Boschwitz ein beeindruckendes
Berlin, die erkennbar von seinen eigenen den letzten Wochen des Jahres 1938, also Panorama deutscher Zeitgenossen, von
Erfahrungen geprägt ist. Auch der Emi- unmittelbar nach dem Pogrom. Gewisser- üblen Nazis bis zu heimlichen Widerständ-
grant Boschwitz zog damals quer durch maßen in Echtzeit, während die in der lern. Zudem muss Silbermann bei seinen
Europa auf der Suche nach einer neuen Nacht des 9. November Festgenommenen Irrfahrten durchs Land eine Reihe von
Heimat. noch in Buchenwald oder Dachau geschun- Gefahrensituationen überstehen, die den
Warum der 20-Jährige 1935 Deutschland den wurden, schrieb Boschwitz in Luxem- Roman von Seite zu Seite spannender ma-
zusammen mit seiner Mutter verließ, lässt burg und zum Teil wohl auch in Brüssel chen: Wird er den Nazis entrinnen? Wird
sich nicht mehr aufklären. Ob es am Mus- die Geschichte des Kaufmanns Otto Silber- er sein Vermögen behalten? Wird er es zu
terungsbefehl für die Wehrmacht lag, der mann auf, der seine Berliner Wohnung seinem Sohn nach Paris schaffen?
ihn im Juli 1935 erreichte, oder an seiner fluchtartig verlassen muss, damit ihn die Bei alldem macht Silbermann eine gan-
Verachtung für das NS-Regime, geht aus vor der Haustür aufmarschierten Nazisch- ze Reihe von Schlüsselerfahrungen, die
den Dokumenten im Leo Baeck Institute läger nicht behelligen. ihm bis dahin erspart worden waren. Alte
nicht hervor. Wahrscheinlich, so vermutet Silbermann wird zum Zeugen, wie seine Freunde und Verwandte etwa, die ihm
der Herausgeber Peter Graf, hätten die im jüdischen Freunde und Nachbarn verhaftet immer gewogen waren, wenden sich nun
selben Jahr erlassenen Nürnberger
Gesetze den Ausschlag gegeben.
Boschwitz hatte einen jüdischen Va-
ter – der wenige Tage nach seiner
Geburt gestorben war – und eine
protestantische Mutter. Seine eini-
ge Jahre ältere Schwester Clarissa
war bereits 1933 nach Palästina aus-
gewandert.
Mutter und Sohn Boschwitz
zogen zunächst nach Schweden,
aber schon nach einem Jahr ging
es weiter nach Norwegen. 1937 ver-
öffentlichte er unter dem Pseudo-
nym John Grane auf Schwedisch
seinen ersten Roman „Menschen
neben dem Leben“, ein düsteres
Wie hat die Präsidentschaft Donald Trumps die Vereinigten Staaten von Amerika verändert?
Wie gefährlich ist der Mann im Weißen Haus für den Rest der Welt? Und was ist
dran an den Behauptungen, der mächtigste Mann der Welt sei mental nicht
zurechnungsfähig, ein dementer Narzisst mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne,
und schon deshalb ungeeignet für das Amt des Präsidenten?
Darüber diskutieren ein Jahr nach der Wahl Trumps der ZDF-Moderator Claus Kleber
und der Politikwissenschaftler Michael Werz mit SPIEGEL-Chefredakteur
Klaus Brinkbäumer und SPIEGEL-Auslandsressortchefin Britta Sandberg.
SPIEGEL: Herr Tukur, gestern Abend schrie- wird an dieser Sache zugrunde gehen. rere Jahrzehnte zurückliegen. Diese Vor-
ben Sie in einer Mail, Sie würden unser heu- Wenn nicht körperlich, dann seelisch. Das würfe muss man untersuchen und nicht
tiges Treffen am liebsten absagen. Sie fürch- ist eine Tragödie. gleich festsetzen, dass sie auch passiert
teten, „in Teufels Küche“ zu kommen, wenn SPIEGEL: Haben Sie mit Wedel gesprochen, sind. Ich kann nur sagen: Bei unserer Zu-
Sie sich öffentlich zu Dieter Wedel äußern. seit die Vorwürfe in der Welt sind? sammenarbeit 2006 und 2010 habe ich Der-
Tukur: Auch jetzt bin ich mir nicht sicher, Tukur: Ich habe ihm eine Mail geschrieben, artiges nicht mitbekommen.
ob es klug ist. Ich habe mit Dieter Wedel dass mir das alles sehr leidtut. Das war ganz SPIEGEL: Haben Sie sich gefragt, ob Sie mög-
gute Erfahrungen gemacht und bin be- am Anfang, nach der ersten Veröffentlichung licherweise zu jenen gehören, die nichts
stürzt, was andere offenbar erlebt haben. im „Zeit-Magazin“. Um ihn wissen zu lassen, mitbekommen wollten?
Das Thema ist heikel, die Wogen schlagen dass ich keiner bin, der ad hoc den Stab über Tukur: In Ihrer Frage steckt der gar nicht
hoch. Es ist so viel Hysterie dabei, in den ihn bricht. Er hat mir einen sehr netten Brief klammheimliche Vorwurf, ich hätte wegge-
sozialen Netzwerken verlieren Menschen zurückgeschickt. Darin schrieb er von einem sehen. Ich habe in den vergangenen Tagen
schnell ihre Hemmungen und all ihren An- Tsunami und davon, wie verzweifelt er sei. tatsächlich darüber nachgedacht, denn ir-
stand. Ich habe Angst, in diesen Strudel Dabei ging der Sturm erst nach der zweiten gendwann traut man sich ja auch selbst
von Hass und Aburteilung hineinzugera- Veröffentlichung in der „Zeit“ richtig los. nicht mehr. Aber da war nichts. Hätte ich
ten, und am Ende stehe ich als Verteidiger SPIEGEL: Sind Sie befreundet? von sexuellen Übergriffen am Set erfahren,
von Vergewaltigungen da. Tukur: Das nicht. Wir hatten eine gedeih- dann hätte ich mit Sicherheit etwas unter-
SPIEGEL: Die Vorwürfe gegen Wedel sind liche und sehr gute Zusammenarbeit bei nommen. Dass Wedel ein spezielles Ver-
heftig. Sieben Frauen bezichtigen ihn se- der ZDF-Komödie „Mein alter Freund hältnis zu Frauen hatte, war ersichtlich.
xueller Übergriffe, die teils auf brutale Wei- Fritz“ und bei dem ARD-Zweiteiler „Gier“. Aber eine überbordende Sexualität ist ja
se geschehen sein sollen. Einigen Anschul- Ich erinnere mich an einen Menschen, den nicht verboten und in diesem Berufsbereich
digungen widerspricht er, zu anderen äu- ich mochte. Der glühte, strahlte und voller auch nicht selten. Das geht mich nichts an.
ßert er sich nicht unter Verweis auf seine Leidenschaft war … Es geht mich aber wohl etwas an, sobald
angeschlagene Gesundheit. SPIEGEL: Ist das Ihre Umschreibung für We- andere dabei beschädigt werden. Noch spre-
Tukur: Schrecklich. Mir tun diese Frauen dels Tobsucht? chen wir ja von Vorwürfen, nichts ist be-
sehr leid, und wenn es so geschehen ist, gibt Tukur: Wedel ist ein Besessener. Im Guten wiesen – aber wenn ein Mensch Gefange-
es da auch überhaupt nichts wegzureden. wie im Bösen. Wenn Schauspieler nicht im- ner seiner Triebe ist, wird er irgendwann
Mir tut es aber auch leid für Dieter Wedel. stande waren, das umzusetzen, was er sich vom eigenen Abgrund verschluckt.
SPIEGEL: Sie meinen für den Fall, dass er vorstellte, ließ er seiner Frustration schon SPIEGEL: Bei Ihnen klingt das jetzt, als wäre
unschuldig sein sollte? mal freien Lauf. Dann konnte er schnell un- Wedel das Opfer.
Tukur: Selbst wenn er sich dieser Taten leidlich und cholerisch werden. Das ist aber Tukur: Ich will das nicht kleinreden, ganz
schuldig gemacht hätte. Ich habe das Ge- ein Verhalten, das er mit nicht wenigen sei- gewiss nicht. Ich will nur versuchen he-
fühl, es muss jetzt jemand kommen, der ner Kollegen teilt. Bei den Dreharbeiten zu rauszufinden, warum ein Mensch mora-
ihn auch mal beschützt. Deshalb spreche „Gier“ bekam er einmal einen Wutanfall, der lisch so furchtbar ausgleitet. Immer voraus-
ich hier mit Ihnen. Er wurde als Monster sich gegen eine Schauspielerin richtete. Ir- gesetzt, dass diese Anschuldigungen auch
bezeichnet. Er ist kein Monster, kein gendwas passte ihm nicht an der Art, wie sie wirklich Substanz haben.
Mensch ist ein Monster. ihre Szene spielte, vielleicht war es auch nur SPIEGEL: Ist Ihr Schutzreflex gegenüber
SPIEGEL: Sie hätten Mitleid mit einem Ver- die Betonung eines Satzes, genau weiß ich es Wedel so ein Männerding? Dass Sie nicht
gewaltiger? nicht mehr. Jedenfalls verfiel er in eine solche wahrhaben möchten, dass ein kultivierter
Tukur: Mitleid ist nichts, was es zu rechtfer- Schreierei, dass es mir zu viel wurde. Es hat- Mann zu so etwas imstande ist?
tigen gilt. Ich sehe, dass jemand am Ende te nichts mehr mit der Sache zu tun. Ich bin Tukur: Ha! Vielleicht haben Sie recht! Ich
seines Weges vor dem Trümmerhaufen sei- dann zu ihm hingegangen und habe gesagt, möchte, dass das nicht wahr ist. Sehe aber,
ner großen Karriere steht – und rechts und Herr Wedel – ich habe ihn immer gesiezt –, dass da etwas ist. Auf der einen Seite will
links verzweifelte Menschen. Das tut mir das dürfen Sie nicht machen, hier gehen Sie ich ihn schützen. Auf der anderen Seite
in der Seele weh. Es ist der Ruin eines Le- zu weit. Er hat mich angestarrt, atmete fällt es mir schwer. Ich weiß nicht, was ich
bens, möglicherweise von ihm selbst ver- durch, als er sich wieder beruhigt hatte, trat denken soll. Es ist ein großes Durcheinan-
schuldet, ich weiß es nicht – bitte sagen er vors Ensemble und entschuldigte sich. der. Ich stehe da und bin fassungslos, und
Sie, wenn ich Blödsinn rede. Ich finde, das SPIEGEL: Wie reagierte der Rest des Teams? dann fällt mir nur noch ein Satz aus der
alles ist so prekär, das geht so tief, das ist Tukur: Betreten. Wie in der Schule, wenn „Antigone“ des Sophokles ein: Es gibt viel
so erschütternd, dass man diese Anschul- der Lehrer brüllt. Man möchte eigentlich Unheimliches auf dieser Welt, das Unheim-
digungen, sofern sie nicht verjährt sind, in lachen, weiß aber, dass man es lieber blei- lichste aber ist der Mensch.
der Ruhe eines Gerichtssaals verhandeln ben lässt. Es war irgendwie lächerlich. SPIEGEL: Relativieren Sie den Fall Wedel
und den Beschuldigten nicht in die Arena SPIEGEL: Bei den aktuellen Vorwürfen geht damit nicht?
zerren sollte, wo er unter dem Beifall der es nicht darum, dass jemand seine Launen Tukur: Nein, ich versuche nur, nicht selbst-
johlenden Menge öffentlich gevierteilt nicht im Griff hatte, sondern um mutmaß- gerecht zu sein. Ich frage mich: Was könnte
wird, ohne sich verteidigen zu können. Er liche Vergewaltigungen während der Dreh- mir in meinem Leben passieren? Kann ich
arbeiten. mich wirklich auf mich selbst verlassen?
Das Gespräch führte der Redakteur Alexander Kühn in Tukur: Es handelt sich dabei, soweit ich das SPIEGEL: Wedels Fall berührt Ihre eigene
München. verfolgt habe, um Produktionen, die meh- Urangst vor einem Absturz?
DER SPIEGEL 6 / 2018 121
der es jedoch versteht, charmant aufzutre-
ten, wenn es darauf ankommt.
Tukur: Ich habe oft daran gedacht in letzter
Zeit. Simon Pistorius, so heißt der Schul-
leiter im Film, hat ein Netz verwirrender
Gefühle über Schüler und Eltern ausge-
worfen, mit großem Geschick, sodass sich
alle darin verfingen. So funktionieren ge-
schlossene Systeme. Immer vorausgesetzt,
die Vorwürfe entsprechen den Tatsachen.
Das könnte auch auf den Fall zutreffen,
über den wir hier sprechen.
SPIEGEL: Und die Verantwortlichen der
Fernsehsender haben ihn offenbar gedeckt.
A
uf dem Steinboden liegen Krähen aus schwarzer Verstärker ist, denn diese berühmte Institution hat ihre ei-
Siliziumbronze, sie wirken echt, echt tot, wie ge- genen #MeToo-Fälle, gerade wurden die Vorwürfe bekannt,
rade vom Himmel gefallen. Diese Monumente der ein langjähriger Personalverwalter habe noch vor nicht allzu
Leblosigkeit sind der Schlusspunkt einer gespenstischen langer Zeit Mitarbeiterinnen belästigt (SPIEGEL 4/18).
Ausstellung, eine letzte Irritation von vielen. Im ersten Das vielleicht kann man lernen von dieser Kunst, die
Saal hängt ein Papierobjekt an der Wand, es erinnert an so schwermütig, symbolistisch und verrückt erscheint.
die blutige, abgezogene Haut eines Menschen. Dass die Wirklichkeit stets noch verrückter ist.
Kiki Smith ist eine gefeierte amerikanische Bildhauerin, In der Familie von Kiki Smith, Jahrgang 1954, bildete
Zeichnerin und Grafikerin, sie war in den vergangenen Jah- neben einem Hang zum Katholizismus vor allem Kunst
ren immer wieder in Deutsch- die Normalität. Die Mutter
land präsent, keine Ausstel- Schauspielerin und Sängerin,
lung aber war hierzulande so der Vater Bildhauer, ihr
groß wie die, die von diesem Trauzeuge war der Schriftstel-
Wochenende an im Münchner ler Tennessee Williams, der
Haus der Kunst zu besichtigen Maler Jackson Pollock ein
ist. Dort wird endgültig klar, Freund.
dass Smith keine Angst vor Zur Welt kam Kiki Smith in
apokalyptischem Kitsch hat, Nürnberg, ihre Eltern moch-
sie verwandelt ihn in etwas ten Europa. Die Tochter, die
Größeres, in eine Metapher dann in New Jersey groß wur-
für die Realität: Und die einst de, wusste lange nicht, was sie
von den Nazis erbaute Kunst- beruflich tun sollte, als junge
halle am Englischen Garten Erwachsene studierte sie ein
bildet den passenden Rahmen. wenig, nahm Jobs an, lernte
Die Krähen könnten einen einen anderen Alltag kennen,
an die schwarzromantische arbeitete als Köchin, Gehilfin
Poesie von Edgar Allan Poe eines Elektrikers, auch als Ret-
denken lassen oder an die tungssanitäterin.
Filmästhetik Alfred Hitch- Nach dem Tod des Vaters
cocks, aber es gab sie ja tat- wurde auch sie Künstlerin:
sächlich, sie stürzten vor et- 1982 trat sie mit einer Werk-
© KIKI SMITH, COURTESY PACE GALLERY
Hammelehle (stellv.). Redaktion: Tobias 40479 Düsseldorf, Tel. 0211 86679-01, Andrea Sauerbier, Maximilian Schäfer, Mail: aboservice@spiegel.de
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Seite der vielen Men- Nicht, weil der Eindruck spielen bei großer Sommer-
schen zu stehen.“ Tatsäch- falsch war: „Noch nie im Le- hitze in Jeans ungeniert zwi-
lich hat Ikea, der globale ben habe ich jemanden zusam- schen all den Smokings und
Milliardenkonzern aus dem schwedischen Älmhult, nicht mengeschissen“, versicherte Abendkleidern einer Premiere
nur skandinavisches Lebensgefühl in alle Welt exportiert – Werner Stumpfe einmal. Aber beiwohnte. Klaus Umbach
sondern auch Design und Funktionalität zu bezahlbaren er fürchtete, einige Mitglieder starb am 28. Januar in Köln. red
Preisen. Ingvar Kamprad, der sich als kauzig, bescheiden im Arbeitgeberverband Ge-
und volksnah inszenierte, verkaufte seinen Erfolg als De- samtmetall argwöhnten dann
mokratisierung des Designs. Damit verdeckte der Unter- wieder, ihr Präsident hätte in
nehmer die Schattenseiten seiner Person und seines Auf- den Tarifrunden nicht hart ge-
stiegs: dass er sich bis 1950 in Nazikreisen bewegte, die bil- nug verhandelt. Stumpfe
ligen Möbel nur möglich waren, weil er Druck auf seine nahm dieses Amt gleich zwei-
Lieferanten ausübte, dass er nichts dabei fand, in der DDR mal ein, zuerst von 1985 bis
politische Gefangene ausbeuten zu lassen. Vor allem aber, 1991. Da vereinbarte er mit
MANFRED LINKE / LAIF
dass er sowohl seinen Konzern in steuerfreundliche Länder der IG Metall die 37-Stunden-
auslagerte als auch seinen Wohnsitz aus Steuergründen in Woche und den Stufentarifver-
die Schweiz verlegte. Ingvar Kamprad starb am 27. Januar trag für Ostdeutschland, zum
in der Nähe von Älmhult in Småland. sam Unmut mancher Unternehmer.
DER SPIEGEL 6 / 2018 125
EDDIE KEOGH / REUTERS
Hilfe, sie will sprechen! Hochzeit in Großbritannien offenbar noch nie gegeben. Ent-
sprechend aufgeregt sind die Reaktionen. Die einen bejubeln
Als die Amerikanerin Meghan Markle, 36, in das Leben von den Plan als weiteres Zeichen der Modernisierung. Die ande-
Prinz Harry, 33, trat, stellte die Presse sie zunächst als „geschie- ren fürchten um den Fortbestand der Monarchie. Dabei wird
dene Schauspielerin“ und „Tochter einer afroamerikanischen es an traditionellen Gesten und Symbolen am Tag der Ver-
Mutter“ vor. Spätestens mit der Verlobung avancierte Markle mählung von Prinz Harry gewiss nicht mangeln: Das Paar ze-
zur „Diana 2.0“, zur modernen Hoffnungsträgerin der Monar- lebriert die Trauung mit 800 Gästen in der St.-Georgs-Kapelle
chie. Mit den letzten – inoffiziellen – Neuigkeiten aus dem von Schloss Windsor. In dem Bauwerk aus dem 15. Jahrhun-
Kensington-Palast wird dieses Image bestätigt: Bei ihrer Hoch- dert wurden schon viele royale Hochzeiten besiegelt, Harrys
zeitsfeier im Mai will sie persönlich eine Rede halten, heißt es. Vater Charles und dessen zweite Frau Camilla holten sich hier
Dass die Braut das Wort ergreift, hat es bei einer königlichen im Jahr 2005 den kirchlichen Segen. ks
verlassen. Man könne dem schritte. Doch die Eltern fingen an zu streiten, brüllten
Präsidenten aber ein anderes sich an, es fiel der Satz: ‚Dieses Kind hätte es gar nicht
Werk anbieten: eine funk- geben dürfen!‘ In jeder Klasse gibt es Kinder, bei denen
tionsfähige Toilette aus Gold. zu Hause der Papa fehlt. In meiner Dritten sind Schüler
Die Arbeit des italienischen mit Sprachbehinderung, mit ADHS, mit Autismus. Und
Künstlers Maurizio Cattelan Flüchtlingskinder. Das ist normal, auch auf dem Land.
wurde ein Jahr lang in einem Ich bin sehr für Inklusion. Aber wenn die Ministerin
Toilettenraum des Guggen- Grundschullehrer jetzt öffentlich rügt, weil nicht jedes
heim ausgestellt – und von Kind am Ende der Vierten das Einmaleins beherrscht,
vielen Besuchern benutzt. dann hat sie keine Ahnung von den Hürden bei man-
„America“, so der Titel, kann chen unserer Inklusionsschüler. Wir Lehrer liegen nachts
als Kritik am Wohlstand einer wach und zerbrechen uns den Kopf, wenn auch nur ein
kleinen Elite und als Parodie einziges Kind nicht mitkommt.
auf kapitalistische Verschwen- Hier im Landtag tagt heute das ‚Forum Grundschul-
dung verstanden werden. bildung‘. Auf dem Podium: Schulforscher, eine Schrift-
Wie das Weiße Haus auf den stellerin, der Landeselternsprecher – aber keine Grund-
AP PHOTO / PICTURE ALLIENCE
Vorschlag reagierte, ist bisher schullehrkraft aus der Praxis. Der Lehrermangel wird
nicht bekannt. Das Guggen- nicht verschwinden, wenn die Lehrer nicht wertgeschätzt
heim-Museum wollte sich werden. An meiner Schule wollen ganz viele Kollegin-
auch auf Anfrage nicht äu- nen in die Sekundarstufe wechseln: weil man da für die
ßern: „Wir haben keine gleiche Arbeit mehr Geld bekommt. Und eine Stunde
weiteren Informationen.“ red weniger unterrichtet.“ Aufgezeichnet von Annette Bruhns
Wie Altlasten entsorgt Sie sprechen mir als Krankenschwester im Solange börsennotierte Unternehmen auf
Altenheim aus der Seele. Es ist noch zu dem Rücken von Pflegebedürftigen und
Nr. 5/2018 Am Ende – Die Pflegekatastrophe: Deutsch- erwähnen, dass Heimbetreiber sich von Pflegenden Milliardengeschäfte machen
land lässt seine Familien im Stich
dem wenigen Geld oft ihren privaten Luxus können, wird die Menschenwürde auf der
Für eine Hochglanzwäsche mit Politur und finanzieren. Auch Aktionäre bekommen Strecke bleiben. Da helfen keine Reformen,
Unterboden- und Felgenreinigung zahlt davon reichlich Renditen. Es ist kinder- nur eine völlige Umkehr. Was Sie nicht
der autoaffine Deutsche locker 15,99 Euro. leicht, sich zu bereichern: Die Behörden erwähnen: den deutlichen Anstieg der
Für die Ganzkörperwäsche eines schwerst stehen auf der Seite der Betreiber, egal wie „Schwarzarbeit“ von Menschen mit Flucht-
kranken Deutschen darf der Pflegedienst schlimm die Missstände sind. Es ist die fa- hintergrund in privaten Haushalten. An-
bei doppeltem Zeitaufwand 15,98 Euro in tale Mischung aus veralteter, spießiger Frau- sonsten wäre das System schon kollabiert.
Rechnung stellen. enfeindlichkeit und eiskaltem, geldgieri- Bernd Meyer, Heimleiter, Ottweiler (Saarl.)
Jochen Bladt, Krankenpfleger, Schwelm (NRW) gem Neoliberalismus, die unser gesamtes
Gesundheitswesen in den menschlichen Als Feindbild aufgebaut
Die strukturellen Defizite des deutschen Bankrott geführt hat. Vor massenhaftem
Pflegesystems sind es, die Pflegeheime Betrug an den Beitragszahlern der Pflege- Nr. 4/2018 Der Deutsche Bauernverband ist eng mit
Politik und Wirtschaft verdrahtet, aber die Allianz
zu reinen Verwahranstalten für alte Men- versicherung wird nicht zurückgeschreckt.
bekommt Risse
schen gemacht haben. Das spüren auch Irene Weidlich, Krankenschwester, Berlin
die Betroffenen. Und da hilft es auch nicht, Fast alles, was Sie in Ihrem Artikel zum
mehr Geld in ein marodes System zu Ein entschiedenes Nein zu der Aussage, Bauernverband beschreiben, erwarte ich
pumpen, wenn es weiter an den falschen dass die Pflegenden zur Hälfte charakter- von meiner berufsständischen Vertretung.
Stellen ankommt. Pflege neu zu denken lich ungeeignet und zur anderen Hälfte un- Irgendjemand muss unsere Interessen in-
ist aber nicht nur Aufgabe der Politik, auch politisch seien: In Deutschland entsenden nerhalb der Politik und gegenüber den
die Gesellschaft und vor allem die Pflege- Hochschulen und Universitäten jedes Jahr Nichtregierungsorganisationen vertreten.
kräfte sind gefragt. Pflegende müssen end- Tausende qualifizierter Absolventen in die Unsere Präsenz im Bundestag und in Gre-
lich laut werden und die Interessen der mien der vor- und nachgelagerten Indus-
ihnen anvertrauten Menschen vertreten; trie unterscheidet sich nicht von der ande-
sie sind die Anwälte der Alten. Stattdessen rer Branchen. Dass der Bauernverband
beschäftigt sich die Pflege weiter mit sich Nachwuchsförderung betreibt und sich an
selbst, mit Pflegekammern, mit akademi- den Unis einbringt, halte ich schon wegen
schen Pflegeausbildungen und mit dem, des Sachverstands für normal. Ahnungs-
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
wer was machen darf. lose Innenstadtökos haben wir in den Me-
Sascha Rakers, Altenpfleger, München dien doch schon genug. Dass unsere Land-
wirtschaftskammer nicht alle Äußerungen
Der Artikel bringt unumwunden zum unseres glücklicherweise ehemaligen nie-
Ausdruck, wie es in Deutschland um das dersächsischen Landwirtschaftsministers
Soziale steht. Auch wenn sich in absehba- kritiklos hinnimmt, liegt auf der Hand. Un-
rer Zeit wohl nur wenig ändern wird, nach sere Agrarförderung bekommen wir, weil
Jahrzehnten desillusionierender Politik, ge- Pflegepraxis. Sowohl kritische Selbstrefle- wir in einem Hochlohnland mit vergleichs-
bührt den Autoren der aufrichtige Dank xion und ethische Entscheidungsfindung weise hohen Umweltstandards leben, aber
der Branche aller Pflegenden, weil sie uns als auch ein innovatives Verständnis für zu Weltmarktpreisen wirtschaften.
aus der Seele gesprochen haben. Es macht die gesellschaftspolitischen Entwicklungen Ferdinand Berkelmann, Landwirt, Evessen-Hachum (Nieders.)
Hoffnung, dass Außenstehende mittlerwei- im Gesundheitswesen gehören zu den viel-
le das unsäglich menschenverachtende und fältigen Kompetenzen der Bachelor- oder Sie bringen das äußerst komplexe Thema
zynische System verstehen. Master-Pflegenden. perfekt auf den Punkt: Auch wir Bürger-
Karl-Werner Strohe, Leiter eines Seniorenzentrums, Prof. Dr. Christine Boldt, Pflegewissenschaftlerin, Hochschule initiativen gegen Massentierhaltung in
Neuwied (Rhld.-Pf.) München, Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften Nordhessen hören auf unseren Infoveran-
staltungen exakt die beschriebenen Pseu-
Die stationäre Pflege leidet an System- Unsere Politiker interessieren sich nur doargumente der Bauernverbandsfunktio-
fehlern: Einerseits wurde der Markt für noch für die Alten, wenn es um Wähler- näre, vor allem dass wir als Nichtlandwirte
profitorientierte Heimträger geöffnet, an- stimmen geht. Seit Jahrzehnten versagen keine Ahnung von der Materie hätten.
dererseits den Heimbewohnern und An- die regierenden Politiker, besonders die Immer mehr Massenställe für Geflügel
gehörigen per Gesetz keinerlei Mitsprache mit dem „christlich“ im Parteinamen. Un- entstehen vor unserer Haustür. Obwohl
eingeräumt. Obwohl sie über Pflichtversi- sere betagten Mitbürger werden wie Alt- der niederländische Betreiber des Groß-
cherung und Eigenanteil letztendlich alles lasten entsorgt. Wir brauchen endlich ein schlachthofs vor den Toren von Kassel in
bezahlen, können sie bei Kostenverhand- Ministerium ausschließlich für die Belange seinem Heimatland längst andere Mast-
lungen lediglich eine folgenlose Stellung- unserer älteren Bürger. Mein großer Res- methoden fordert und fördert, sollen wir
nahme über den Heimbeirat abgeben. pekt und Dank gilt allen Menschen, die unsere schöne Natur für unsinnige agrar-
Und: Wegen des Mangels an Heimplätzen sich in der Alten- und Gesundheitspflege industrielle Bauten opfern. Es ist absurd:
funktioniert der Wettbewerb nicht. täglich für uns alle einsetzen. Tausende Menschen in Nordhessen teilen
Prof. Dr. Volker Aurich, Schwäbisch Hall Freddy Kraus, Mactan Island (Philippinen) unsere Meinung und sind bereit, gute Prei-
128 DER SPIEGEL 6 / 2018
Briefe
se für gute Lebensmittel zu zahlen. Doch ökologische, kulturell selbsterkennende, troffene Kollegen als Ersthelfer betreue
der Deutsche Bauernverband baut uns als gemeinsame tief gehende Kritik der Indus- und mich selbst nach und nach auf diese
Feindbild auf, unsere Mitglieder werden triegesellschaft. Sonst geht die Sonne ir- Ereignisse einstellen konnte. Es hilft, wenn
diffamiert, ganze Dörfer gespalten. Dabei gendwann wieder im äußersten Osten auf. man etwas vorbereitet ist, um dann das
sind wir die wahren Freunde der Landwir- Reiner Görß, Berlin Erlebte mithilfe von Familien, Freunden
te, denn wir fordern die Agrarwende und und teilweise Psychologen zu bewältigen
wehren uns gegen das Höfesterben durch Nach der Übernahme der DDR in die alte und in eine „Schublade“ abzulegen. Oder
das Wachstumsdogma. BRD ist nicht nur das Wirtschaftsvermö-
Andreas Grede, Sprecher der Bürgerinitiative Chattengau ge- gen des Landes durch die Treuhandanstalt
gen Massentierhaltung e. V., Niedenstein (Hessen) größtenteils vernichtet worden, es wurde
auch dem Denken und Fühlen der Ostdeut-
Respektlose Westdeutsche schen und ihrer Kultur respektlos begegnet
kel. Ich selbst habe schon einige Male an ist, den Menschen, die nicht mehr leben
den Gleisen gestanden mit dem Vorhaben, möchten, humane Sterbehilfe anzubieten.
mein Leben zu beenden. Wie groß der Diesen erscheint daher der sogenannte
Schaden für den betroffenen Lokführer ist, Gleissuizid als einziger Ausweg, um nicht
war mir nicht bewusst. Ein Grund mehr, Mithelfer strafrechtlich in Schwierigkeiten
Gedenkmarsch in Warschau 2016 es doch stets wieder mit dem Leben zu zu bringen. Wie lange nimmt die Politik
versuchen. eigentlich noch Rücksicht auf heuchle-
tegemeinschaft meist vor dem eigenen Cornelia Pabst, Leiden (Niederlanden) rische Kirchenverbände, Justiz und Medi-
Spiegelbild stehend eher die eigenen An- ziner, statt Bürgern im Bedarfsfall durch
sichten und Monologe wahrnimmt und Mich selber, seit über 28 Jahren Lokführer, Gesetze Sterbehilfe anzubieten?
der Rest hinter dem Spiegel bleibt. Die so- hat es nur „anderthalbmal“ betroffen: ein Egon Aldag, Frankfurt am Main
ziale Frage als Hardwareproblem und als Suizid im Jahre 2009 und später das Über-
Sprengstoff in falschen Händen wird von fahren einer weiblichen Person in einem Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
Ivan Krastev leider unterschätzt. Nach den Bahnhof, die danach wieder fortlief, ver- (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
sogenannten sozialistischen Arbeiter-und- mutlich eine Mutprobe. Ich komme damit sowie digital zu veröffentlichen und unter
Bauernstaaten brauchen wir eine sozial- gut zurecht, da ich seit vielen Jahren be- www.spiegel.de zu archivieren.
DER SPIEGEL 6 / 2018 129
Hohlspiegel Rückspiegel
JETZT IM HANDEL:
Aus der „Rheinischen Post“: „Der
Tatverdacht hängt über mir EDITION Zitate
wie das Schwert des Sokrates.“
ERFOLGREICH Das Onlineportal der „Deutschen Apo-
theker Zeitung“ zum SPIEGEL-Artikel
VERHANDELN
„Nase läuft, Geschäft läuft“ (Nr. 5/2018):
Kraftstoffverbrauch innerorts: 6,7 l/100 km; außerorts: 4,8 l/100 km; kombiniert: 5,5 l/100 km; CO2-Emissionen kombi-
niert: 126 g/km. Effizienzklasse: B. Die Angaben zu Kraftstoffverbrauch, CO2-Emissionen und Stromverbrauch wurden
nach dem vorgeschriebenen Messverfahren VO (EU) 2007/715 in der jeweils geltenden Fassung ermittelt.
* Anschaffungspreis: 24.030,82 EUR; Laufzeit: 36 Monate; Laufleistung p. a.: 10.000 km; Leasingsonderzahlung: 1.750,00 EUR; Sollzinssatz p. a. (gebunden für die gesamte
Vertragslaufzeit): 2,49 %; effektiver Jahreszins: 2,52 %; Gesamtbetrag: 8.914,00 EUR; 36 monatliche Leasingraten à 199,00 EUR. Ein unverbindliches Leasingbeispiel der
BMW Bank GmbH, Heidemannstr. 164, 80939 München; alle Preise inkl. 19 % MwSt; Stand 03/2018. Ist der Leasingnehmer Verbraucher, besteht nach Vertragsabschluss
ein gesetzliches Widerrufsrecht. Nach den Leasingbedingungen besteht die Verpflichtung, für das Fahrzeug eine Vollkaskoversicherung abzuschließen.
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