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Anna Veronika Wendland, Leipzig

Die Rückkehr der Russophilen in die ukrainische Geschichte:


NeueAspekte der ukrainischen Nationsbildung in Galizien,
1848– 1914

Dasöstliche Galizien giltgemeinhin alsWiege desmodernen, antirussischen ukrainischen


Nationalgedankens. Indemhabsburgischen Kronland waren abderRevolution von 1848,
insbesondere aber seit demBeginn derkonstitutionellen Ära (1860/61), wichtige Bedingun-
genfüreine nationale Mobilisierung erfüllt: Esentstanden rechtlich geschützte Räume für
dieEntstehung nationaler Öffentlichkeiten (Presse-, Vereins-, Versammlungsrecht) undein
Bildungssystem, das der ruthenischen Bauernnation mit ihrer kleinen klerikalen Elite zu
einem Modernisierungsschub verhalf. Die galizischen Ukrainer profitierten also in ihrem
„Piemont“vonungleich günstigeren Voraussetzungen fürdieAusbildung einer nationalen
Bewegung als ihre Landsleute imRussischen Reich, wennauchwichtige Grundlagen fürdie
populistische Nationalidee der narodovci ursprünglich ausder Dnepr-Ukraine stammten.
Entsprechend istdieGeschichte derukrainischen Bewegung inGalizien imwesentlichen als
Erfolgsgeschichte derPopulisten oder sogenannten „Jungruthenen“geschrieben worden, die
sich seit Beginn der achtziger Jahre gegen bis dahin dominierende altruthenisch-
klerikalkonservativ-russophile Gruppierungen durchsetzten. Ähnlich unterlagen denPopuli-
sten auchdiepolnischen Patrioten ruthenischer Herkunft, diesich alsgente Rutheni, natione
Poloni bezeichneten. Beide Gruppen wurden alsRenegaten undverlorenes Potential ausder
ukrainischen Geschichtserzählung gleichsam hinauskatapultiert. Während letztere inVerges-
senheit gerieten, haben die Russophilen zumindest als Feindbild imkollektiven Gedächtnis
nationalbewußter Westukrainer überdauert. Moskvofily –fast nierusofily –genannt, gelten
sie als russischerseits inspirierte, mit„Rubeln“finanzierte undsolchermaßen künstlich am
Leben gehaltene fünfte Kolonne „Moskaus“in denMauern der heimlichen ukrainischen
Hauptstadt Lemberg.1 Die Lesart russophiler undrussischer Interpreten ähnelt diesem Mo-
dell, nur unter umgekehrten Vorzeichen: Aus dieser Perspektive gilt die Existenz einer
russophilen Bewegung gerade in Galizien stets als Beweis für die Behauptung, daß die
ukrainische Nationalidee vonÖsterreichern, Deutschen undPolen zurZerschlagung der
ostslavischen Einheit konzipiert undalimentiert worden sei.2
1 VASYL’ BUDZYNOVS’KYJ Naše Moskvofil’stvo, in: Narod (1891) Nr. 3; OSTAP TERLEC’KYJ
Moskvofily j narodovci v 70-ch rokach. L’viv 1902; IVANFRANKO „Idei“ j „Idealy“halyc’koï moskvo-
fil’skoï molodïži. L’viv 1905; DMYTRO DONCOV Moderne moskvofil’stvo. Kyïv 1913; S. TOMAŠ IVS’KYJ
Naš e stare i nove moskvofil’stvo. L’viv 1914; MYKOLA ANDRUSJAK Narysy z istoriï halyc’koho
moskvofil’stva. Z portretamy moskvofil’s ’kych dijač iv. L’viv 1935; DERS. Geneza j charakter
halyc’koho rusofil’stva v XIX– XX st. Praha 1941; KYRYLO STUDYNS’KYJV adin čas. Rosijs’ka mova
sered moskvofiliv u Halyč yni. L’viv 1936 (Anspielung aufeine russophile Programmschrift, BOHDAN
A. DIDYCKIJ V odyn čas malorusynu uč yt’sja po velykorussky. L’vov 1866). [Die Transkription
berücksichtigt imfolgenden die bei denRussophilen gebräuchliche „ etymologische“Orthographie.]
2 OSYP MONČ ALOVSKIJ Literaturnoe i političeskoe ukrainofil’stvo. L’vov 1898; FYLYP SVYSTUN
Prykarpatskaja Rus’podvladeniem Avstriy. 2 Bände. L’vov 1896, besonders Band 2 (1850– 1895); P.
KAZANSKIJ Sovremennoe polož enie Červonoj Rusi. Odessa 1914; N.V. JASTREBOV Galicija nakanune
Velikoj vojny 1914 g. Petrograd 1915; DMITRIJ VERGUN Č to takoe Galicija. Petrograd 1915; V.
LAZOREVSKIJ Russkij narod v Karpatach. Kiev 1915; G.A. LYSOGORSKIJ Galickaja Rus’. Moskva 1915;
M.GRUŠ KEVIČ Vzgljad naproš loe, nastojaš
čee i buduščee Prikarpatskoj Rusi v svjazi s Velikoj vojnoj.

Jahrbücher fürGeschichte Osteuropas 49 (2001) H.2 ©Franz Steiner Verlag Wiesbaden GmbH, Sitz Stuttgart/Germany
Die Rückkehr derRussophilen in die ukrainische Geschichte 179

Auch die seriöse neuere ukrainische Forschung in dernordamerikanischen Emigration


macht bei denRussophilen vorallem Defizite aus, so Elitarismus, fehlendes Vertrauen auf
eigene Kräfte, Kooperation mitnichtukrainischen Partnern unddubiose Querverbindungen
nach Rußland. Verschiedene Konzeptionen zur Periodisierung der ukrainischen Nations-
bildung in Galizien operieren mit demGegensatz zwischen Populisten undRussophilen:
Dichotomische Modelle beschreiben Russophile oder „Altruthenen“als Vertreter derkon-
servativen, „älteren“ Generation, ukrainische Populisten oder „Jungruthenen“als Repräsen-
tanten einer daraus hervorgehenden, „ jüngeren“Protestbewegung;3 Paul Robert Magocsi
hingegen bezeichnet sowohl Populisten als auch Russophile als modernisierende Protestbe-
wegungen gegen einideologisch-sprachlich eigenständiges, vorwiegend aufGalizien orien-
tiertes „Altruthenentum“ .4
Beiden Klassifikationsversuchen istgemeinsam, daßsie sich nurhinsichtlich derPopuli-
sten, nicht aber der Russophilen auf gründliche Vorarbeiten stützen können. Uneinigkeit
besteht auchdarüber, welches Programm eigentlich als„ russophil“bezeichnet werden kann:
Tatsächlich nurdie maximalistische Zielvorstellung eines Aufgehens der Ukrainer in der
(groß-)russischen Nation, oder doch eine weiter gefaßte Konzeption, die politischen Kon-
servatismus mitVorstellungen ostslavischer Solidarität undkultureller Affinität zumrussi-
schen Nachbarn kombinierte? Neuere Untersuchungen, die sich mit den verschiedenen
Schichten undGruppen unter dengalizischen Ukrainern (Klerus, Bauern, „Dorfnotabeln“ ,
Intellektuelle) undmitderFrühzeit derukrainischen Nationalbewegung beschäftigen, erwäh-
nenamRande auchrussophile Aktivisten undlegen dieVermutung nahe, daßdieschemati-
sche Interpretation des „verlorenen“Potentials nicht haltbar ist.5 Grundsätzlich aber steht

1917; VLADIMIR N. SAVČ


Rostov-na-Donu ENKO Vostoč naja Galicija v 1914– 1915 godach
ė ’nyeosobennosti i problema prisoedinenija k Rossii), in: Voprosy Istorii (1996) Nr. 11–
tnosocial
([xxx] 12,
S. 95–106.
3 IVAN L. RUDNYTSKY The Ukrainians in Galicia under Austrian Rule, in: ANDREI S. MARKOVITS,
FRANK S. SYSYN Nationbuilding and the Politics of Nationalism. Essays on Austrian Galicia.
Cambridge, MA 1982, S. 30– 48; S. RIPEC’KYJ Moskvofil’stvo, in: VOLODYMYR KUBIJOVYČ[u.a.]
(Hrsg.) Encyklopedija Ukraïnoznavstva. Band 5. Toronto 1966. Nachdr. L’viv 1996, S. 1652– 1654;
S. RIPETSKY, O. SEREDA Russophiles (rusofily, or moskvofily), in: VOLODYMYR KUBIJOVYČ[u.a.]
(Hrsg.) Encyclopedia of Ukraine. Band 4, Toronto 1984– 1993, S. 473– 475; OREST SUBTEL’NYJ
Ukraïna. Istorija. Kyïv 1991, S. 279– 281.
4PAULROBERT MAGOCSI OldRuthenianism andRussophilism: ANewConceptional Framework for
Analyzing National Ideologies in Late 19th Century Eastern Galicia, in: PAULDEBRECZENY (Hrsg.)
American Contributions to theNinth International Congress of Slavists, Kiev, September 1983, Band
2. Columbus 1983, S. 305– 324; DERS. The Kachkovs’kyi Society and the National Revival in
Nineteenth-Century East Galicia, in: Harvard Ukrainian Studies 15 (1991) S. 48– 75; DERS. The
Language Question as a Factor intheNational Movement in Eastern Galicia, in: MARKOVITS, SYSYN
Nationbuilding S. 220– 238.
5JANKOZIK The Ukrainian National Movement in Galicia, 1815– 1848. Edmonton 1986; STELLA
HRYNIUK Peasants with Promise. Ukrainians in Southeastern Galicia 1880– 1900. Edmonton 1991;
JOHN-PAUL HIMKA Priests and Peasants. The Greek Catholic Pastor andthe Ukrainian National
Movement inAustria, 1867– 1900, in: Canadian Slavonic Papers 21 (1979) S. 1–14;JOHN-PAUL HIMKA
TheGreek-Catholic Church andNation-Building inGalicia, 1772– 1918, in:Harvard Ukrainian Studies
8 (1984) S. 426– 452; DERS. Galician Villagers andthe Ukrainian National Movement in theNineteenth
Century. Basingstoke, London 1988; DERS. TheGreek-Catholic Church inNineteenth-Century Galicia,
in: GEOFFREY HOSKING (Hrsg.) Church, Nation and State in Russia and Ukraine. London 1991, S.
52– 64; DERS. Religion andNationality inWestern Ukraine. Montreal, London, Ithaca 1999; DERS. The
Construction of Nationality in Galician Rus’: Icarian Flights in Almost All Directions, in: RONALD
GRIGOR SUNY, MICHAEL D. KENNEDY (Hrsg.) Intellectuals and the Articulation of the Nation. Ann
Arbor 1999, S. 109– 164. Richtungweisend für die neueste ukrainische Forschung OLENA ARKUŠ A,
MAR’JANMUDRYJ Rusofil’stvo v Halyč yni v seredyni XIX –na poč atku XX. st.: heneza, etapy
rozvytku, svitohljad, in: Visnyk L’vivs’koho Universytetu. Serija istoryčna 34 (1999) S. 231–268.
180 ANNA VERONIKA WENDLAND

eine recht karge Forschungslandschaft inkrassem Widerspruch zurVielfalt der(inzwischen)


zur Verfügung stehenden Quellenmaterialien, die verschiedenste Ansatzhöhen undPer-
spektiven zulassen.
Das Beziehungsfeld unddenstaatlich-administrativen Rahmen, in demdie russophile
Bewegung entstand undderdiegesamte ukrainische Nationsbildung wesentlich präfigurierte
undstrukturierte, lieferten diezweiGroßmächte Österreich undRußland. Einweiterer wichti-
ger Machtfaktor trat in Gestalt dergalizischen Polen hinzu, mitdenen sich die Ukrainer
Ostgaliziens auseinandersetzen mußten. Dierussophile Bewegung entstand inReaktion auf
die von österreichischer Staatsgewalt undgalizischen Polen geschaffenen Bedingungen
innerhalb Galiziens, während Rußland vorallem alsäußerer Bezugspunkt diente. Sowohl die
kulturelle undpolitische Programmatik derRussophilen alsauch ihrambivalentes Verhältnis
zumösterreichischen Staat undzumRussischen Reich erschließt sich nurdurch dieBerück-
sichtigung dergenannten Faktoren, dieje nach Lage alsVorbilder, Partner oder Gegner ins
Spiel kamen. Hinzu tritt alswichtige Ergänzung dermikro- undsozialhistorische Zugriff auf
die Ebene der russophilen Aktivisten und ihrer bäuerlichen Klientel an der Basis der
galizisch-ukrainischen Gesellschaft. Er erleichtert Aussagen über densozialen Standort der
Russophilen sowie denEinfluß derrussophilen Mobilisierung aufdieLebenswelt derruthe-
nischen Bauern undaufdiepolitische Kultur dergalizischen Ruthenen in ihrer Gesamtheit.6

Der Kulturkampf für die Rus’: Das russophile Projekt zwischen Polen undRußland
Russophile Programme undPolitik in Ostgalizien waren eine konservative ukrainische
Antwort auf diepolitische undökonomische Dominanz despolnischen Adels inGalizien.
Spätestens nach demAusgleich von 1867, derdengalizischen Polen eine de-facto-Autono-
mie einbrachte, trat auch die direkte Auseinandersetzung mit einer zunehmend polnisch
dominierten Kronlandverwaltung hinzu. Seit Ende derneunziger Jahre traten Russophile –
in Umkehrung derFronten –auch als anti-ukrainische Verbündete desgroßagrarisch-kon-
servativen polnischen Establishments undpolnischer (latent prorussischer) Nationaldemokra-
tenauf.7 Vorallem aberwaresdiepolnische kulturelle Dominanz, andersich dierussophile
Bewegung stets abarbeitete: Alle Versuche, politische Gleichberechtigung durch einen
Verweis aufdas„Erstgeburtsrecht“derRuthenen inGalizien einzuklagen, gingen voneiner
Auseinandersetzung mit demPolentum undspäter auch mit der als „ polnischer Intrige“
verschrienen ukrainischen Nationalidee aus. Insofern istdierussophile Programmatik, deren
Genese hier kurz nachgezeichnet werden soll, als genuin galizisches Projekt anzusehen.
Direkte russische Einflüsse sind imVergleich dazuvonuntergeordneter Bedeutung.
Dieschmale, meist demKlerus entstammende gebildete Führungsschicht derruthenischen
Bauernnation warandenWertesystemen undMaßstäben derösterreichisch-deutschen und
derpolnischen Hochkultur geschult. Entsprechend galt fürsiedasHochkultur- undElitende-
fizit derRuthenen als dasgrößte Hindernis auf demWegzurpolitischen undsprachlichen
Gleichberechtigung –undnicht etwa dieungelöste Land- undServitutenfrage, welche die
Bauern ambrennendsten interessierte. Dieses Elitendefizit versuchten ruthenische Politiker,
Volksaufklärer undHistoriker aufzweierlei Weise zubeseitigen, wobei eine Strategie aufdie
realen Verhältnisse, dieandere aufdieideellen zielte: Eine nationale Bildungsstiftung, die
6 Dazu ausführlicher: ANNAVERONIKA WENDLAND Die Russophilen in Galizien. Ukrainische
Konservative zwischen Österreich undRußland, 1848– 1915. Wien(imDruck).
7 Zur „russophilophilen“polnischen Politik vgl. LEOPOLD VONANDRIAN in einem Dossier des
Außenministeriums, Wien, 2. April 1914, Österreichisches Staatsarchiv/Haus-, Hof- undStaatsarchiv
(HHStA), PAXL, K. 224, 847v; Memoiren desgalizischen Statthalters MICHAŁ BOBRZYŃ SKIZ moich
pamiętników. Wrocław,Kraków 1957, S. 126– 127.
DieRückkehr derRussophilen in dieukrainische Geschichte 181

Halycko-ruska Matycja, sollte über Alphabetisierung, Sprachkodifizierung, Schulbuch-


produktion undLobbyarbeit fürdenAusbau eines ruthenischen Schulsystems densozialen
Aufstieg derbisher Marginalisierten vorantreiben,8 undderRückbezug aufdas„ vergessene“
historische Erbe derRuthenen sollte Elitenbewußtsein schaffen undbei derKonstruktion
eines nationalen Bewußtseins helfen. Indenfrühen ruthenisch-polnischen Kontroversen um
dieZugehörigkeit derRuthenen zurpolnischen Nation hatten die Befürworter einer ruthe-
nischen Eigenständigkeit immer wieder feststellen müssen, daß ihnen Informationen zur
eigenen Geschichte unddamit auchhistorische Argumente fehlten.9 Ruthenische Historiker
betrieben daher heritage gathering im Wortsinne, nämlich als Sammeln, Auswerten und
Edieren vonQuellenbeständen, dieunerforscht in dengalizischen Archiven lagen. Proto-
russophile Vorstellungen tauchten in diesem Zusammenhang erstmals auf: Manbemühte
sich, einIdealbild derKiever Rus’unddesGalizien-Wolhynien der„Fürstenzeit“zuzeich-
nen, wobei erstmals auch die historischen Verbindungen zuGebieten betont wurden, die
schon seit Menschengedenken jenseits derrussischen Grenze lagen. Vorallem aber beschäf-
tigte mansich mitspäter vondenPopulisten vernachlässigten Themen wieAdelseliten und
Kirchengeschichte –aber auch mit der Geschichte wichtiger städtischer Akteure, so der
orthodoxen Kirchenbruderschaften des 16. und17. Jahrhunderts.10 DieForscher erbrachten
–trotz methodischer Defizite –wichtige Vorarbeiten, aufwelche die nationalukrainische
Historiographie später zurückgriff. Das monumentale Geschichtswerk Mychajlo
Hruš evs’kyjs (1866–1934)11 führt nicht zufällig die Rus’im Titel, sondern ist Beleg für die
allmähliche Aneignung eines lange verschmähten Erbes durch dieukrainischen Populisten,
diesich mitderEliten- undderMittelalterthematik schwertaten. Sogesehen gibt es also auch
eine russophile Beteiligung an derGenese des Geschichtsmythos von den Ukrainern als
Erben des Kiever Reiches, dessen Prestige mander russischen Konkurrenz nicht alleine
überlassen wollte.12
Wenndiegalizischen Polen dennahen Bezugspunkt derRussophilen bildeten, dannwar
Rußland derferne Leitstern. Einige ruthenische 1848er-Aktivisten waren beiderSuche nach
hochkulturellen Vorbildern fürdieeigenen Zwecke auch inRußland fündig geworden, ohne
daßdies schon dieFormulierung russophiler Programme zurFolge gehabt hätte. Vonrussi-
scher Seite hielt seit Mitte derdreißiger Jahre vorallem Michail Pogodin (1800– 1875) durch
Briefwechsel undBesuche denKontakt nachGalizien, erreichte abernurineinem Falle, dem
desHistorikers Denys Zubryc’kyj (1777–1862), eine frühe Hinwendung zuexplizit russophi-
8 Vgl. das Standardwerk KOZIK Ukrainian Movement; JAKIV HOLOVAC’KYJ Ystoryčeskij očerk
osnovanija Halycko-ruskoy Matycï y spravozdan’ je pervoho soboru uč enych ruskych y ljubytelej
narodnoho prosvïš čenija. L’vov 1850.
9So ANTIN DOBRJANS’KYJ(1810–1877) in seinen Erinnerungen inBesïda (1898) Nr. 17– 18.
10MYCHAJLO HRUŠ EVS’KYJIstorija Ukrajiny-Rusy. 12 Bände. L’viv 1905ff. Nachdr. Kyïv 1990ff.
Band2, bibliographische Anmerkungen zurmittelalterlichen Geschichte Galiziens, S. 569– 573; Band
3, S. 520– 521; Band 5, S. 653– 660; Band 6, S. 631. Eine ähnliche kritische Würdigung russophiler
Historiker auch bei demHistoriker derukrainischen „Staatsschule“DYMTRO I. DOROŠ ENKOOhljad
ukraïns’koï istoriohrafiï. Deržavnaškola: Istorija. Politolohija. Pravo. Praha 1923, Nachdr. Kyïv 1996,
S. 180ff.; ZINOVIJ MATYSJAKEVYČ Ukraïns’kyj archeohraf Ja. F. Holovac’kyj. Kyïv 1993, S. 6– 17.
11HRUŠ EVS’KYJIstorija Ukrajiny-Rusy; DERS. Zvyč ajnaschema russkoï istoriï j sprava racional’noho
ukladu istoriï schidn’oho slovjanstva, in: Stat’i po slavjanovedeniju. S.-Peterburg 1904, S. 298– 304.
12ZurFrage derukrainisch-russischen Konkurrenz umGeschichtsmythen vgl. JOHNA.ARMSTRONG
Myth andHistory intheEvolution of Ukrainian Consciousness, in: PETER J. POTICHNYJ, MARCRAEFF,
JAROSLAW PELENSKI, GLEB JAKULIN (Hrsg.) Ukraine and Russia in their Historical Encounter,
Edmonton 1992, S. 125– 139; JAROSLAW PELENSKI The Contest for the „Kievan Inheritance“in
Russian-Ukrainian Relations: TheOrigins andEarly Ramifications, ebenda S. 3– 19.
182 ANNA VERONIKA WENDLAND

lenOrientierungen.13 Zubryc’kyj formulierte in Umrissen eine neuartige Programmatik, die


slavophile Kulturnations-Ideale undWiederaneignung desErbes derKiever Rus’mitantire-
volutionärer undkonservativer Utopie14 kombinierte. AlsProjektionsfläche fungierte hier ein
idealisiertes Rußland, das vermeintlich nicht von den in Galizien seit Mitte des 19. Jahr-
hunderts spürbaren Modernisierungskrisen, frühkapitalistischen Verwerfungen undsozialen
Konflikten heimgesucht wurde.15 Allerdings warder aus demKleinadelsmilieu stammende
Beamte Zubryc’kyj keinesfalls repräsentativ fürdieAnfangsphase derrussophilen Bewe-
gung. Bedeutende Führungsfiguren, so dereinflußreiche Journalist undVerleger Bohdan
Didyc’kyj (1827– 1909), derLiterat undMitbegründer des „ruthenischen Kleeblatts“Jakiv
Holovac’kyj (1814– 1888) und der Priester und Volksbildungsaktivist Ivan Naumovyč
(1826–1891) stammten ausdenproto-populistischen undromantisch-slavophilen Seminari-
stenzirkeln desVormärzes undderRevolutionszeit. Diese befanden sich vor 1848 aufKon-
frontationskurs mit der konservativen ruthenischen Kirchenführung auf demLemberger
Sankt-Georgs-Berg.16 Ruthenische Kirchenfunktionäre wiederum waren 1848 –mehr getrie-
benvondenEreignissen alsdiese selbst gestaltend –zurpolitischen Führung dergalizischen
Ruthenen avanciert.17 Anlaß fürdierussophile Wende warinbeiden Lagern vorallem die
Erfahrung desScheiterns derruthenischen Bewegung von 1848, dieihre Hauptforderungen
nicht durchsetzen konnte. Zwangsmaßnahmen dergalizischen Behörden gegen die gerade
„ wiedergeborene“ruthenische Kultur undeine Atmosphäre der Denunziation gegen an-
gebliche Russenfreunde imZusammenhang mitdemKrimkrieg Mitte derfünfziger Jahre
erbitterten auch den loyalen Klerus undführten so zur Konvergenz undSolidarisierung
zweier ursprünglich getrennter Traditionslinien der ruthenischen Elite. Auf diese Weise
fanden politischer Konservatismus, Klerikalismus undimweitesten Sinne slavophile Orien-
tierungen zusammen.
Eine erste kulturrussophile Mobilisierung erfolgte seit demEnde derfünfziger Jahre und
führte erstmals seit derNiederschlagung derRevolution wieder zunennenswerten politischen
und kulturellen Diskussionen innerhalb der ruthenischen Gesellschaft. Innerhalb der
griechisch-katholischen Kirche, die als einzige institutionelle Garantin der ruthenischen
Eigenständigkeit galt, formierte sich um1860 eine Reformbewegung, die imBasis-Klerus
viele Anhänger gewann undderes vorallem umdie Wiederherstellung eines durch Poloni-
sierung undLatinisierung bedrohten ostkirchlichen Profils der„ Unierten“ging.18 Kurzvorher
13Die Lemberger Kontaktleute Pogodins wurden auch als „Pogodin-Kolonie“bezeichnet. Dazu
gehörten neben Zubryc’kyj Jakiv Holovac’kyj, Bohdan Didyc’kyj, Severyn Šechovyč
, Antin Petruš
evyč,
Mychajlo Malynovs’kyj; vgl. KOST’ LEVYC’KYJ Istorija polityč noï dumky halyc’kych ukraïnciv
1848– 1914 napidstavi spomyniv. L’viv 1926, S. 59.
14DerBegriff stammt vonANDRZEJ WALICKI TheSlavophile Controversy. History of a Conservative
Utopia inNineteenth Century Russian Thought. Oxford 1975.
15Briefe Zubryc’kyjs anPogodin, in: NIL’POPOV (Hrsg.) Pis’mak M.P. Pogodinu iz slavjanskich
zemel’. Band 3, Moskva 1880, S. 545– 621.
16KOZIK National Movement S. 59– 62, 67– 68; MYCHAJLO PAVLYK Prorus’ko-ukraïns’ki cytal’ni.
L’viv 1887, S. 8– 13.
17Wichtigste Vertreter: Metropolit Mychajlo Levyc’kyj (1774–1858), Mychajlo Malynovs’kyj
(1812–1894), Mychajlo Kuzems’kyj (1809–1878) undder spätere Metropolit Hryhorij Jachymovyč
(1792–1862). Ihr Arbeitsplatz neben der St. Georgs-Kathedrale gab dergesamten „altruthenischen“
Partei ihren Namen: dieSvjatojurcy.
18Beispiele eines Engagements für „Neuerungen“bzw. Rückkehr zu alten Formen undgegen
lateinisch-polnische Einflüsse finden sich in vielen russophilen (meist Pfarrer-) Biographien und
Autobiographien, z. B. Hryhorij Č ubatyj, in: Kalendar Obš čestva i. Mychayla Kač kovskoho (im
folgenden: Kalendar OMK) na 1899 hod, L’vov 1898, S. 152ff.; Ihnatij Hal’ka, in: Vremennyk
Stauropygiskoho Ynstytuta na 1896 hod, L’vov 1895, S. 134– 137; Josafat Kobryns’kyj, in: Kalendar
Die Rückkehr derRussophilen in dieukrainische Geschichte 183

hatte dersogenannte „ Alphabetskrieg“fürMobilisierung bis tief in diegalizische Provinz


gesorgt: Angesichts der außenpolitischen Konstellation nach demKrimkrieg hatten es die
Wiener Behörden darauf angelegt, zurVorbeugung gegen angebliche russophile Tendenzen
an dernordöstlichen Peripherie die kyrillische Schrift dergalizischen Ukrainer durch die
lateinische zuersetzen, wasameinhelligen Protest derBetroffenen scheiterte undwichtige
Grundlagen für die Entwicklung (freilich diffuser) prorussischer Orientierungen legte.19
Beiderinhaltlichen Schärfung solcher Orientierungen spielte wiederum dieSuche nach
einem Gegenentwurf zurpolnischen Adelskultur eine bedeutende Rolle. Der Blick nach
Rußland eröffnete ganzneuePerspektiven. Erstmals gingmanüberdengalizischen Rahmen
hinaus undkonzipierte Vorstellungen einer Slavia orthodoxa, einer Rus’-Kulturnation, die
sich aufdasgemeinsame Erbe desKiever Reiches berufen konnte. Diedamals gebräuchliche
Bezeichnung Galiziens alsHalycka(ja) Rus’verwies damalige Akteure ganz selbstverständ-
lich aufdiesen größeren Zusammenhang. Auchinderautobiographischen Rückschau stellten
russophile Aktivisten ihre persönliche Entdeckung Rußlands gerne alsOffenbarungs- oder
Erweckungserlebnis dar,dasdiegalizischen Ruthenen unvermittelt indengroßen Zusammen-
hang einer ostslavischen Kulturwelt stellte.20 Als Leitkultur dieser neuen Welt kamzuneh-
menddieHochkultur desRussischen Reiches indie Diskussion, wobei dieRußland-Rezep-
tion selektiv warundvonKontaktleuten in Rußland nurzuoft vorstrukturiert wurde. So
wurden derrussische Reformdiskurs unddie sich aufdiesen berufende ukrainische Bewe-
gung imRussischen Reich entweder nicht wahrgenommen oder diffamiert.21 Hinzu trat eine
vonkonservativem Harmoniedenken gespeiste Faszination, diedasRussische Reich aufdie
Galizier ausübte: Rußland wurde als einzige slavische Großmacht bewundert, deren „ slavi-
sche“ orthodoxe Staatsreligion vermeintlich Ober- undUnterschichten einte –als Land, wo
„derhöchste Beamte, derGeneral unddergemeine Soldat, derHandwerker undderStudent“
ineinunddieselbe Kirche gingen, wieesenthusiastische „Briefe ausMoskau“inrussophilen
Volksblättern formulierten.22
Russophilie trat also übereinen langen Zeitraum hinweg als Rus ophilie in Erscheinung:
Regionale galizische Identitäten amalgamierten mit neu ‘ angeeigneten „ all-
gemeinrussischen“23,womit meist „ allgemein-ostslavische“Bezüge gemeint waren. Das
zeigen auch die Sprach- undOrthographiediskussionen, diebereits imVormärz einsetzten

OMKna 1893 hod, L’vôv 1892, S. 81– 85; Josyf Krušynskij II, Autobiographie, Selys’ka, 5. November
1897, L’vivs’ka Naukova Biblioteka ANU (im folgenden: LNB) f. 167 II Lvc, spr. 1685, ark. 54;
OLEKSIJ ZAKLYNS’KYJZapysky parocha z Starych Bohorodč an.L’vov1890, überarb. Nachdr. Toronto
1960, S. 67– 71; 103– 109; 116– 117.
19JOSEPH JIREČ EKÜberdenVorschlag dasRuthenische mitlateinischen Schriftzeichen zuschreiben.
ImAuftrage desk.k. Ministeriums fürKultus undUnterricht verfaßt vonJoseph Jireč ek. Wien 1859;
BOHDAN DIDYC’KYJ O neudobnosty latynskoj azbuky v russkoj pys’mennosty. Wien 1859; Die
ruthenische Sprach- undSchriftfrage in Galizien. Lemberg 1861.
20BOHDAN DIDYCKIJ Svoež yt’evy zapysky. 2 Bände. L’vov 1906, hier Band 1, S. 7– 11; IVAN
NAUMOVYČ Autobiographisches Fragment, o.D., vermutlich Oktober 1885, LNB f. 2, op. 126, spr. 15,
ark. 44; KORNYLO USTIJANOVYČ M. F. Rajevskij y rossijskij panslavyzm. Spomynky z perež ytoho j
peredumanoho. L’viv 1884, S. 8– 9.
21ZurKritik des ruthenischen Rußlandbildes unddes russischen Galizien-Bildes vgl. MYCHAJLO
DRAHOMANOV Try lysty do redakciji „ Druha“ , in: DERS. Literaturno-publicystyčni praci u dvoch
tomach. Band 1. Kyïv 1970, S. 397– 427; M.T-ov [MYCHAJLO DRAHOMANOV] Russkie v Galicii, in:
Vestnik Evropy (1873) Nr. 1, S. 115– 152; (1873) Nr. 2, S. 769– 789; DERS. Literaturnoe dviž enie v
Galicii, in: Vestnik Evropy (1873) Nr. 9, S. 240– 268; (1873) Nr. 10, S. 681– 717.
22Pys’moyz Moskvy, in: Dodatok „Slova“dlja hromady (1867) Nr.21; (1867) Nr.27.
23Der Begriff der obš čerusskost’ –„ Allgemeinrussischkeit“oder „ Allgemeinruthenischkeit“–
bezeichnete die(noch zuschaffende) übergreifende ostslavische kulturelle Identität.
184 ANNA VERONIKA WENDLAND

undsich biszumEnde desJahrhunderts hinzogen. Diese vonpopulistischen Gegnern oft als


müßiger Streit umdasZeichen ъ undandere unwichtige Details abgetanen Kontroversen
waren in Wirklichkeit hochcodierte Identitätsdiskurse, wiesie fürdieFormierungsphasen
nationaler Bewegungen typisch sind.24 Grundsätzlich favorisierten die ruthenischen Kon-
servativen undspäteren Russophilen eine duale Lösung (Hochsprache fürdenDiskurs der
Gebildeten plusvolkssprachliche „ Aufklärungsliteratur“), wurden sichaberniedarüber einig,
welche Strategie zurKodifizierung derHochsprache führen sollte –die Sprachsynthese oder
dieÜbernahme desRussischen. Ineinzelnen Publikationen fürdasgebildete Publikum –vor
allem der 1861 gegründeten Tageszeitung Slovo –warderRussifizierungstrend besonders
seit Mitte dersechziger Jahre unübersehbar, während inanderen das(von denGegnern so
genannte) jazyč ie, eine Variante derindenkirchlichen Texten verwendeten ostslavischen
Literatursprache Galiziens, vorherrschte. Vorallem dieFixierung aufdierasche Kodifizie-
rung einer Eliten- undWissenschaftssprache führte zurAblehnung desdritten Weges, den
diePopulisten vorschlugen –derorganischen Weiterentwicklung dergesprochenen Sprache.
Eine solche Lösung wurde als Traditionsbruch (vor allem hinsichtlich derkirchlichen Texte
undder reichen ukrainischen Barockliteratur)25 undals Aufkündigung der ostslavischen
Gemeinsamkeiten angesehen. Indiesem Zusammenhang wardieVerteidigung der„ etymolo-
gischen“ Orthographie, diezunächst nochmitkirchenslavischen Lettern, später inderauch
inRußland gebräuchlichen kyrillischen Zivilschrift geschrieben wurde, vonzentraler Bedeu-
tung. Das von den Russophilen favorisierte Schriftsystem sollte Informationen über die
Sprachgeschichte vermitteln undsomit ostslavische Gemeinsamkeiten betonen. Abgesehen
davon argwöhnte man, daßes denfonetyka-Befürwortern weniger umdidaktische Vorteile
ging alsvielmehr umdieErrichtung orthographischer Schranken zwischen demRussischen
unddemUkrainischen. NurmitKenntnis dieser Sprachdiskurse wird verständlich, warum
sprachlich-orthographische Signale imGalizien des 19.Jahrhunderts zupolitischen Unter-
scheidungskriterien werden konnten: so der Gebrauch der „ russischen“Schreibweise des
Ethnonyms „ruthenisch“(russkij statt ruskij/rus’kij/rus’kyj), der seit Mitte der sechziger
Jahre zweifelsfrei Auskunft über die Position des Autors gab, oder das Bekenntnis zur
etymologija. Siewurde endgültig Mitte derneunziger Jahre zumausschließlichen Signum der
Russophilen, als das staatliche Elementarschulsystem auf die bis heute im Ukrainischen
gebräuchliche phonetische Rechtschreibung umgestellt wurde. Diese Entscheidung löste eine
derletzten großen Kampagnen derRussophilen imKulturkampf fürdieRus’aus–allerdings
blieben alle Proteste undPetitionen trotz erheblicher Mobilisierungserfolge ohne Wirkung.26
Festzuhalten ist, daßauch die oft als „Altruthenen“bezeichnete ältere Generation na-
tionaler Aktivisten ihren Bezugspunkt nicht ausschließlich ineinem ruthenischen Ostgalizien
hatte, wiees Magocsi nahelegt.27 Zurfrüh einsetzenden Genese kulturrussophiler Orientie-
rungen traten Besonderheiten des politischen Denkens: Manblickte über die galizische
24MIROSLAV HROCH Language and National Identity, in: D. GOOD, R. RUDOLPH (Hrsg.) Nationalism
andEmpire. The Habsburg Empire andthe Soviet Union. NewYork 1992, S. 65– 76; JOSHUA A.
FISHMAN Language andNationalism: TwoIntegrative Essays. Rowley, MA1972, S. 40ff.
25ZurFrage desTraditionsbruchs vgl. IVANLYSJAK-RUDNYC’KYJFormuvannja ukraïns’koho narodu
j naciï, in: DERS. Istoričniese. Band 1. Kyïv 1994, S. 20.
26ZurSprachkontroverse vgl. Sitzungsprotokolle von Sektionen derHalycko-ruska Matycja imJuli
1864, Central’nyj Derž avnyj Istoryčnyj archiv u L’vovi (CDIAL) f. 148, op. 1, spr. 19; f. 148, op. 1,
6; [IVAN NAUMOVYČ
spr. 20, ark. 3– a. O vneseniy o. Jachymovyča naposlïdnem zasïdanii
] Iz Stril’č
Matycy russkoj čto-do vybora odnoho dijalekta russkoho dlja vysš oj literatury, in: Slovo (1870) Nr.
82–85, 87; Akte miteinem Aufruf desrussophilen Wahlkomitees Russkaja Rada gegen die„Phonetik“ ,
Lemberg, 24. Februar 1892 undUnterschriftenlisten, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 114, ark. 1– 111.
27PAUL ROBERT MAGOCSI A History of Ukraine. Toronto 1996, S. 438.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 185

Ostgrenze hinaus unddiskutierte „ biloyalistische“Konzeptionen, denenzufolge sichjeder


Ukrainer, ob russischer oder österreichischer Untertan, derdreieinigen Kultur derGroß-,
Weiß- undKleinrussen zugehörig fühlen, gleichzeitig aber demjeweiligen Herrscherhaus
treubleiben sollte. Dies wardiebevorzugte Rückzugsposition konservativer Ruthenen, die
denkulturrussophilen Bezug abernieausschloß.28 Aucheiner derGrundsatztexte derRusso-
philie, das 1866 inSlovo veröffentlichte berühmte Manifest Ivan Naumovyč s, kombinierte
das(oft zitierte) radikale Bekenntnis: „Wirsindnicht mehrdieRuthenen von 1848, wirsind
echte Russen“mit diesem (weniger oft zitierten) Biloyalismus.29 Das legt die Vermutung
nahe, daßrussophile und„altruthenische“konservativ-loyalistische Überzeugungen näher
beieinanderlagen, alsgemeinhin vermutet wird. Erst dieradikalen Russophilen, dieauseiner
Parteispaltung amVorabend desKrieges hervorgingen, sprachen eine klarere Sprache und
propagierten dasspurlose Aufgehen dergalizischen Ruthenen imRussentum unddiealleini-
geÜbernahme dergroßrussischen Sprache, wobei allenfalls eineregionale Spezifizierung der
Identität inRichtung eines „Kleinrussen“ tumsnoch vorgesehen war.

Russophile Akteure undukrainische Gesellschaft

Dasfehlende Vertrauen aufdie„eigenen Kräfte“unddamit auch aufdieeigene Basis wird


meist an der Spitze derrussophilen Defizitliste genannt. Besonders die Hochkultur-Orientie-
rung derRussophilen inderFrühphase derBewegung ist indiesem Zusammenhang immer
wieder angeführt worden. Allerdings stellt sich beiderUntersuchung späterer Phasen heraus,
daß sich auch die Russophilen die Möglichkeiten des konstitutionellen Systems zunutze
machten. Mit Wahlagitation, Volksbildungs- und Selbsthilfearbeit, die in den siebziger
Jahren anliefen, leisteten dieRussophilen nicht anders als ihre populistischen Konkurrenten
einen wichtigen Beitrag zurPolitisierung undMassenmobilisierung derukrainischen Bauern.
Der von Ivan Naumovyč1874 gegründete Volksbildungsverein Obščestvo imeny Mychayla
Kač kovs’koho30 unddie seit 1870 bestehende politische Organisation Russkaja Rada31 waren
hier von zentraler Bedeutung. Noch bevor sich die Populisten mit ihren entsprechenden
Vereinigungen, der(schon 1868 gegründeten) Prosvita undderNarodna Rada, etablieren
konnten, bauten dieRussophilen rundumdiese Vereine bis indieProvinz reichende Struktu-
ren auf, welche die Kommunikation zwischen ruthenischer Elite undLandbevölkerung
förderten undsoeine wichtige Grundlage fürdienationale Mobilisierung bereitstellten. Die
Russkaja Rada war lange Zeit die einzige ruthenische Organisation, die den Transfer
politisch-nationaler Diskurse auf das Dorf förderte, wobei vorwiegend Dorfpfarrer als
„Vertrauensleute“fürdieWahlagitation vorOrtfungierten. Auch beim Kampf gegen Wahl-
manipulationen undals ruthenische Lobby in Schul-, Sprachen- undKirchenpolitik spielte
28 Vgl. den im politischen Denken der galizischen Polen zur selben Zeit ausformulierten
Triloyalismus: WILHELM FELDMAN Geschichte derpolitischen Ideen in Polen seit dessen Teilungen
(1795–1914). Nachdruck derAusgabe 1917, Osnabrück 1964, S. 269– 309; Beschluß desRusskaja-
Rada-Vorstands, Lemberg, 10.Dezember 1870, mitVersicherung andieStatthalterei Lemberg, daßder
Ausdruck russkij mitDoppel-S nichts mit„russisch“ zutunhabe, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 6, ark. 48r.
29 ODYN IMENEM MNOHYCH [IVAN NAUMOVYČ ] Ot L’vova. Pohljad v budučnost’, in: Slovo (27.
Juli/8. August 1866) Nr.59. Dazuauch HIMKA Religion andNationality S. 23– 28.
30DerVerein warnacheinem bekannten, vonPopulisten wieRussophilen gleichermaßen geschätzten
Mäzen wichtiger ruthenischer Kulturprojekte, Mychajlo Kač kovs’kyj (1802– 1872), benannt
(Abkürzung imfolgenden: OMK).
31DerName Ruskaja Rada oderRusskaja Rada wurde inAnlehnung andie Ruthenenvertretung von
1848, die Holovna Ruska Rada, gewählt. Abkürzung imfolgenden: RR.
186 ANNA VERONIKA WENDLAND

die Russkaja Rada eine bedeutende Rolle.32 In den siebziger Jahren konnte manetliche
Wahlerfolge verbuchen, unter anderem übrigens auchaufderGrundlage vonWahlabspra-
chenmitjüdischen Politikern, welche dieMobilisierung ihrer Bevölkerungsgruppe ebenfalls
lange Zeit miteiner Loyalitätserklärung andieAdresse Wiens verbanden.33 Daneben prägten
die Russophilen die spezifische galizisch-ukrainische politische Sprache und Festkultur
nachhaltig: Ob liturgische Dramaturgie politischer Veranstaltungen, Sakralisierung der
nationalen Programmatik durch dieEinbeziehung vongottesdienstlichen Handlungen, Pathos
derpolitischen Sprache, Hagiographie rundumverdiente Aktivisten undnationale Vorbilder
–alldiese Mobilisierungsmittel wurden erstmals vondenRussophilen systematisch genutzt.34
AufderNegativseite derBilanz stehen schwerwiegende Versäumnisse beiderOrganisation
von Wahlkämpfen undderBeteiligung derWähler: Zuoft wurde die eigene Klientel per
Kandidaten-Oktroi brüskiert, undurchsichtige oderdilettantische Wahlvorbereitung undeine
sture Intoleranz gegenüber ukrainisch-populistischen Gegenkandidaten, dieseit denachtziger
Jahren zunehmend aufgestellt wurden, führten zubitteren Niederlagen, ausdenen meist die
lokalen polnischen Großgrundbesitzer als lachende Dritte hervorgingen. Auch dieruthenisch-
jüdische Kooperation funktionierte in späteren Zeiten nicht mehr, dabald diegalizischen
Polen zubevorzugten Partnern derjüdischen Minderheit bei ihrer Suche nach Rechtsgaran-
tien wurden.35
Ein Blick aufdieMikrostrukturen derBewegung –die Lesevereine unddie lokalen Wahl-
komitees –belegt, daßrussophile Bauernaktivisten selbständig undselbstbewußt agierten und
sich auch gegen lokale Autoritäten wiedie Pfarrer durchzusetzen verstanden. Russophile
Lesevereine folgten ohnehin oft pragmatischen Strategien: Bücher undPresse bezog man
32Beispiele fürdiese Tätigkeiten: RR (Hrsg.) Ynstrukcija dlja uspïš noho perevedenija vyborov v
posly do Sojma krajevoho, Lemberg, 20. Juni 1873, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 8, ark. 5– 11; TEOFIL’
PAVLYKIV, IVANDOBRJANS’KYJ, DENYS KULAČ KOVS’KYJ (Hrsg.) Hde-šč o o radï povïtovoj. L’vov, 9.
November 1870, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 6, ark. 49– 58. Zur(von der RR koordinierten) russophilen
Mobilisierung gegen Wahlmanipulationen vgl. Protest einer Gruppe vonBauern-Wahlmännern, Dolyna,
22. August 1873, gegen Manipulationen während einer Gemeindewahl-Wiederholung, CDIAL f. 196,
op. 1, spr. 34, ark. 48.
33Zurruthenisch-jüdischen Kooperation vgl. Tagesnotiz der Polizeidirektion Lemberg, 29. April
1869, Nr. 899/Dept. II 1869, HHStA IB K. 9, BM 1869, El. 14, S. 73v.; Tagesnotiz derPDLemberg,
3. Mai 1869, Nr. 917/Dept. II 1869, ebenda S. 76– 77; Protokolle der RR-Vorstandssitzungen, 10.
Oktober und28. Oktober 1873, mit Vorschlägen über künftige Wahlkooperation mit Juden und
Unterstützungszahlungen fürjüdische Wahlhelfer, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 34, ark. 64, 68; Brief der
jüdischen Gemeinde Snjatyn anRR mitDank fürdie Unterstützung desjüdischen Kandidaten, 26.
Oktober 1873, f. 196, op. 1, spr. 45, ark. 33; Telegramme verschiedener jüdischer undukrainischer
Wahlkomitees in Jarosław,Przemyś l, Berežany, Kolomyja sowie derRR über Wahlablauf undletzte
Instruktionen, 21.– 23.Oktober 1873, f. 196, op.1,spr.45, ark.36–42. Vgl. auchLEILA P.EVERETT The
Rise of Jewish National Politics in Galicia, 1903– 1907, in: MARKOVITS, SYSYN Nationbuilding S.
156–
157.
34MYCHAJLO DRAHOMANOV Avstro-rus’ki spomyny (1867–1877), in: DERS. Literaturno-publicy-
styč ni praci u dvoch tomach. Kyïv 1970, Band 2, S. 151– 288, hier S. 255–257; Vorwort und
Schlußwort, OMK-Festreden von Pfarrern undBauern (Lemberg, September 1899) in OSYP A.
MONČ ALOVSKIJ Pamjatnaja knyž ka v 25-litnij juvilej Obš čestva imeny Mychajlo Kač kovskoho.
1874– 1899. L’vov 1899, S. 10– 19, 126– 127, 131– 133, 137– 145; 145– 147; Grußtelegramme zum
25– jährigen OMK-Bestehen, ebenda S. 152– 160.
35Selbstkritik desRR-Vorsitzenden Teofil’ Pavlykiv aufVorstandssitzung, Lemberg, 20. Juni 1876,
CDIAL f. 196, op. 1,spr. 5, ark.21v.; Stimmen derprotestierenden Basis vgl. RR-Vorstandsprotokoll,
27. September 1873, CDIAL f. 196, op. 1, spr. 34, ark. 60v.; Korrespondenzen Wahlkomitee Kolomyja-
RR, 21.– 24. September 1873, f. 196, op. 1, spr. 8, ark. 25–26; Wahlkomitee Zoločiv/Zboriv-RR, 31.
August– 24. Dezember 1873, f. 196, op. 1, spr. 8, ark. 18, 27, 29, 47.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 187

unter Umständen auch vonderpopulistischen Konkurrenz.36 DasOMK-Buchvertriebsnetz


warlange Zeit leistungsfähiger alsdasderProsvita, unddankgünstigerer Mitgliedsbeiträge
warseine Reichweite größer. Derbegabte Publizist IvanNaumovyc warmitseinen Volks-
blättern Nauka undRusskaja Rada richtungweisend bei der Entwicklung einer auch die
Unterschichten einbeziehenden ruthenischen Öffentlichkeit Eine Analyse derweitverbreite-
ten russophilen Popularliteratur ergibt, daßnicht, wieoft vermutet wird, religiöse Themen
imVordergrund standen (wenn auchreligiöse Symbolik immer einegroße Rolle spielte). Der
Löwenanteil entfällt vielmehr auf Ratschläge für die Landwirtschaft unddie Gründung von
Lesevereinen undGenossenschaften, Heilkunde, Aufklärung überBürgerrechte, Wahl- oder
Steuergesetzgebung. AuchdieRußlandthematik warselten vertreten, statt dessen gabesviele
Beiträge über Geschichte undKultur Galiziens undausgewählter Stätten in derUkraine.37
Dierecht reibungslose spätere Übernahme derrussophilen Klientel durch dieerfolgreicheren
Populisten wird so leichter verständlich: Dasrussophile Publikum warbereits vorgeprägt und
mußte keinesfalls „ umerzogen“ werden.
Wahlkämpfe, diegemeinsame Lektüre imLeseverein, Briefwechsel mitdenVereinszen-
tralen sowie dieOMK-Jahresversammlungen, dieVolksfestcharakter hatten undjedes Jahr
ineiner anderen Stadt Ostgaliziens abgehalten wurden, mobilisierten dieBevölkerung und
brachten Kommunikationsprozesse inGang, diees vorher nicht gegeben hatte. Gleichzeitig
allerdings kames –wieauch imZuge anderer europäischer Volksbildungsinitiativen –zu
einer neuartigen Zivilisierungsoffensive derEliten, welche dieLebenswelt derBauern nach
ihren Vorstellungen umzustrukturieren versuchten. So liegt eine derWurzeln derrussophilen
Volksbildungs- undSelbsthilfe-Bewegung in dervorallem vonKlerikern getragenen Ab-
stinenzbewegung, die Enthaltsamkeit, Fleiß undBildung traditionellen Freizeitbeschäftigun-
genwieKneipengang undangeblich „unmoralischen“Abendvergnügungen derDorfjugend
gegenüberstellte.38 Andererseits gab es auch vor der Ära der russophilen Volksbildung
ähnliche Eingriffe undSchnittstellen zwischen Bauern- undEliten(=Klerus-)kultur, beispiels-
weise die Kirchenbruder- und-schwesternschaften, die später vielerorts als Gründer von
Lesevereinen hervortraten. Inkreativen Aneignungsprozessen integrierten dieBauern sowohl
solche Organisationen als auch traditionelle Formen derGeselligkeit in die Lesevereins-
36I.Kozjuk anOMK, Dmytriv, 8. April 1884; Brief desGemeindevorstehers vonTrostjanci, Hryc’ko
Symoronjuk, 10.April 1884, CDIAL f. 182, op. 1, spr. 5, ark. 45r., 49r.; LV Dobrostany, 20. September
1884, CDIAL f. 182/1/5/99; Buchbestellungen LV Horobyš ci, 24. März 1884; CDIAL f. 182, op. 1,
spr. 5, ark. 37r.; LVDmytriv, Oktober 1885, f. 182, op. 1, spr. 6, ark. 84; Sammelbrief, unterzeichnet
mit„Mitglieder imNamen Vieler ausdenDörfern umLemberg“ , 29. Mai1886, CDIAL f. 182, op. 1,
spr. 7, ark. 33; LV Lopatyn mitAngabe des populistisch-russophilen Lesestoffes: Dilo, Bat’kivš čyna,
Nauka, Novyj Prolom, 17. September 1885, f. 182, op. 1, spr. 6, ark. 71. ZumOMK allgemein vgl.
MAGOCSI Kachkovs’kyiSociety; MONČ ALOVSKIJ Pamjatnaja knyž ka, mitJahresberichten 1874– 1899.
37Dasergibt sich auseiner Auswertung derBeiträge indenOMK-Volksbüchlein (Yzdanija obš čestva
ym. Mychaila Kačkovskoho, im folgenden: YzdOMK), und den OMK-Jahrbüchern (Kalendar’
obščestva ym.Mychaila Kač kovskoho), vgl. Auflistung inMONČ ALOVSKIJ Pamjatnaja knyž ka.
38DieVereinslosung desOMKlautete: „Molysja, uč ysja, trudysja, tverezysja“(„ Bete, lerne, arbeite
und sei enthaltsam“ ). Zur zivilisatorischen Offensive auf die Volkskultur vgl. PAVLYK Rus’ko-
ukraïns’ki cytal’ni S. 61– 63. Zu Abstinzenzmissionen vgl. ILIJA MARDAROVYČAutobiographie,
Kamjanka, 10. März 1888, LNB f. 167 II Lvc, op.2094, spr. 64; Otec Josafat Kobrynskij, in: Kalendar
OMKna 1893 h. L’vov 1892, S. 81– 85; DRAHOMANOV Avstro-rus’ki spomyny S. 244– 254; ARTHUR
MITZMAN Die Offensive der Zivilisation: Mentalitäten, Hochkultur undindividuelle Psyche, in: A.
GESTRICH, P. KNOCH, H. MERKEL Biographie-sozialgeschichtlich. Göttingen 1988, S. 32; EUGEN
WEBER Peasants into Frenchmen. TheModernization of Rural France, 1870– 1914. Stanford 1976, S.
4–
22.
188 ANNA VERONIKA WENDLAND

Kultur. DerBefund deckt sich hiermitErkenntnissen überdiepopulistische Selbsthilfebewe-


gung.39
EinBlick aufdieBiographie- undKarrieremuster vonrussophilen Aktivisten40 zeigt, daß
dieEntwicklungsmuster derrussophilen Bewegung denen despopulistischen Lager ähneln:
Kleriker verloren allmählich anEinfluß, während dieProfessionen unddasBeamtentum die
Führungsposition übernahmen; eine zunehmende Professionalisierung erfaßte auch die
russophilen Abgeordneten aufBezirks-, Landes undReichsratsebene, Unterschichtaktivisten
gewannen allmählich an Bedeutung. Die biographischen Untersuchungen förderten eine
Reihe faszinierender Einzelpersönlichkeiten zutage, die sich durch Pragmatismus, Auf-
opferungsbereitschaft undToleranz auszeichneten; eine Analyse vonFreundschafts- und
Verwandtschaftsbeziehungen belegt daneben, daßviele bedeutende Russophile durch persön-
liche Bindungen undsachorientierte Kooperation inengem Austausch mitderpopulistischen
Bewegung standen. Russophile Aktivisten –vorallem Kleriker undBeamte –durchliefen auf
ihren Ausbildungs- undKarrierewegen meist mehrere Stationen, andenen sie zurlokalen
Elite stießen, beim Aufbau vonVereinsstrukturen beteiligt waren undsozurVernetzung der
galizisch-ukrainischen Gesellschaft beitrugen.41 Grundsätzlich legen die Befunde aus der
Basisarbeit unddenAktivistenbiographien denSchluß nahe, daßderGegensatz zwischen
Russophilen undPopulisten sehr oft überbrückt wurde –vorallem, wennesumdiekonkrete
„Graswurzelarbeit“in derProvinz ging. Solche Erkenntnisse relativieren die Vorstellung
eines „ Kampfes umjedes Dorf“ unter derParole Für denZaren oderfür Š evčenko?,42 die oft
imNachhinein in die Geschichtsschreibung derukrainischen Nationalbewegung Eingang
fand. Aber auch an einem weniger rühmenswerten Aspekt der Selbsthilfebewegung wird
offenbar, daßdie Russophilen imGuten wie im Schlechten ein integraler Bestandteil der
gesamtukrainischen Gesellschaft Galiziens waren: Sie beteiligten sich anBoykottaufrufen
undHetzpropaganda gegen jüdische Händler, Handwerker undSchankpächter, dieals Inha-
ber intermediärer Positionen zwischen denFronten despolnisch-ukrainischen Konfliktes
saßen undvon beiden Parteien als potentielle Verbündete des Gegners wahrgenommen
wurden. Russophile Priester nahmen nicht selten Zuflucht zutraditionellen antijüdischen
Stereotypen, so derDarstellung vonJuden als Christusmörder oder als Pächter orthodoxer
Kirchen. Auchschadenfrohe Kommentare zuantisemitischen Ausschreitungen imRussischen
Reich waren inderrussophilen Presse zulesen. DieVerdrängung desjüdischen Schankwirts
oderKrämers ausdemDorf wurde oft alsWunschziel dergenossenschaftlichen Aktivitäten
dargestellt, wobei die Praktiken des Wirtschaftsboykotts ursprünglich vom Schauplatz des
deutsch-tschechischen Konflikts in Böhmen übernommen wurden.43 Damit standen die
39Vor allem HIMKA Villagers.
40Zugrunde liegt eine kollektive Biographie von312 russophilen Aktivisten ausdrei Generationen,
deren Namen undLebensdaten imAnhang vonWENDLAND Russophile inGalizien einsehbar sind.
41ZurBedeutung solcher Ausbildungs- undKarriere„ pilgerfahrten“vgl. auch BENEDICT ANDERSON
DieErfindung derNation. ZurKarriere eines folgenreichen Konzepts. Frankfurt a. M.,NewYork 1988,
S. 55– 71, 80ff., 125ff.
42Formulierungen ausROMAN PETRIV Problemy ukraïns’ko-pol’skych vidnosyn u Schidnij Halyč yni,
XIX –poč atok XX st. L’viv 1996; JEVHEN OLESNYC’KYJStorinky z moho ž yttja. Band 1, L’viv 1935,
S. 130– 131.
43Hinweise auf die Zielsetzung russophiler Aktivisten, Juden ausdemDorf zuverdrängen, sind
mehrfach belegbar, soausdenGemeinden Voskresinci, Tlumač yk,Myš yn(Bezirk Kolomyja); Utoropy
(Bezirk Kosiv), vgl. Holos narodnyj (1867) Nr. 6; (1867) Nr. 7; (1867) Nr. 9. Ähnlich Pfarrer Teofan
Obuš kevyč , Hanč ova(Lemkivš yna) anOMK-Vorstand, 20. Februar 1882, CDIAL f. 182, op. 1, spr.
č
9, ark. 1–2.
DieRückkehr derRussophilen in dieukrainische Geschichte 189

Russophilen nicht alleine: Derantijüdische Boykott-Diskurs einte polnische, russophile und


ukrainisch-nationale Selbsthilfebewegungen.
DieRussophilen büßten seit derJahrhundertwende anEinfluß ein, weil Flügelkämpfe und
eine zunehmende Russifizierung derPublikationen diebäuerliche Klientel verärgerten; dazu
kamen staatliche Repressionen, die Anhänger abschreckten, unddie eindeutige staatliche
Präferenz für die populistische Strömung, die sich vor allem in der Schulpolitik mani-
festierte.44 Daneben zeigten die russophilen Strukturen auf demwirtschaftlich-genossen-
schaftlichen Terrain schwere Versäumnisse: Unter anderem führte derZusammenbruch einer
von ihnen dominierten Bank zumRuin vieler Pfarrer- undBauernhaushalte.45 Gerade auf
diesem Gebiet machten dieukrainophilen Populisten zurselben Zeit große Fortschritte. Sie
konnten schließlich ohne große Probleme eine bereits vorbereitete, politisierte Anhänger-
schaft vondenrussophilen Konkurrenten übernehmen. Allerdings gelang es ihnen nie, das
russophile Milieu komplett aufzurollen: Rundein Drittel derruthenischen Wähler votierte
noch indenVorkriegsjahren fürdasrussophile Spektrum.46 Vieles spricht dafür, daßRusso-
phile wie Populisten die gleichen Entwicklungsphasen durchliefen: Vonder apolitischen
Kulturarbeit über die Massenmobilisierung zur Staatsidee. Der Ukraïna irredenta-Vor-
stellung derukrainischen Nationalisten entspricht derrussische Anschlußnationalismus der
als novokursnyky („ Neukursler“ ) bezeichneten radikalen Russophilen, die in dertraditionel-
lenkulturrussophilen Programmatik eineindeutiges nationales Profil vermißten und1907 die
Spaltung derBewegung herbeiführten.47 AlsOpfer dieser Entwicklung blieb dergemäßigte
biloyalistische Flügel aufderStrecke: Seine Anhänger zogen sich ausderPolitik zurück oder
schlossen sich derukrainischen Bewegung an, die sich konservativen Kräften zunehmend
öffnete.

Treue und Verrat:Die Russophilen undder österreichische Staat


Sollte maneinLeitmotiv wählen, dasdieGeschichte dergalizischen Russophilen undihres
Verhältnisses zu Österreich begleitet, so wäre dies das Gegensatzpaar von „Treue und
Verrat“. Diesprichwörtliche Treue derkonservativ-klerikal geführten „Tiroler desOstens“
zumHausHabsburg hielt 1848 dierevolutionären polnischen Demokraten in Schach –was
denRuthenen denVerwurf einbrachte, sie seien vonösterreichischen Behörden eigens zu
diesem Zwecke „erfunden“ worden. Aucherste Russophilie-Vorwürfe (Ruthenen als Büttel
derösterreichisch-russischen Reaktion), dievon1848er-Linken inUmlauf gebracht wurden,
44Beschwerden überZentralisierungsdruck imOMK, Mängel derVereinsarbeit undRussifizierung
vonSprache undThematik: Borej Mazurjak ausIsspas, 18. Februar 1886, CDIAL f. 182, op. 1, spr. 7,
ark. 12; Ivan Majba andenOMK-Vorstand, Tarnavka, 12. Dezember 1886, CDIAL f. 182, op. 1, spr.
7, ark. 121; Filiale Sokal’ an denOMK-Vorstand, 15. März 1886, CDIAL f. 182, op. 1, spr. 7, ark. 18;
Filiale Zoloč ivandenOMK-Vorstand, 6. Mai 1892, 6. August 1892, CDIAL f. 182, op. 1, spr. 8, ark.
1– 2.
45LEVYC’KYJIstorija S. 202– 203.
46BeidenReichsratswahlen von1907 entfielen 152395 Stimmen aufrussophile Kandidaten, 392036
Stimmen auf ukrainisch-nationale. Reichsratswahlen von 1911: 126858 Stimmen (26 % der auf
ukrainische Kandidaten abgegebenen Stimmen) fürrussophile Kandidaten, 362 912 Stimmen (74 %)
fürukrainisch-nationale, vgl. LEOPOLD VONANDRIAN Dierussische Aktion undunsere Gegenaktion in
derruthenischen Frage in Galizien undderBukowina, Wien, Juni 1912, HHStA, PA, K. 224, Mappe
2, S. 91v.– 92r.
47 LEVYC’KYJ Istorija 452– 453. Die profiliertesten Vertreter dieser Partei waren Osyp Markov
(1849– 1909), Dmytro Markov (gest. 1938), Volodymyr Dudykevyč(1861– 1922), Mykola Hlibovyc’kyj
(1876–1918) und Julijan Javors’kyj (1873–1937). Zur radikalrussophilen Programmatik vgl. die
Propagandaschrift Russko-nacional’nyj katechizm. O.O. 1914, CDIAL f. 129, op. 4, spr. 81, ark. 1– 8.
190 ANNA VERONIKA WENDLAND

haben ihren Ursprung indieser Gemengelage.48 Zwarwares zueinem guten Teile polnische
Unduldsamkeit, welche die Ruthenen in ihren bedingungslosen Loyalismus trieb –trotzdem
istfestzuhalten, daßgravierende politische Versäumnisse derspäteren russophilen Bewegung
ihre Wurzel imAntidemokratismus derRuthenen von 1848 haben, derwichtige Reformen
nicht als Errungenschaft der„polnischen“Revolution, sondern als Geschenk des guten,
fernen Herrschers rezipierte.49 Erst spät entdeckten auch die Konservativen, daßeine kon-
struktive Auseinandersetzung mitdensozialen Forderungen derBauernschaft vonzentraler
Bedeutung fürdenpolitischen Erfolg ruthenischer Parteien war–diese Erkenntnis stand in
densiebziger Jahren amBeginn derrussophilen Volksbildungsbewegung. Noch lange Zeit
aberwardieGedenk- undFestkultur derrussophilen Bewegung vomElement derKaisertreue
geprägt, wassich beispielsweise inderAbhaltung von3.-Mai-Feiern in Erinnerung andie
Abschaffung derRobot undimAbdruck vonKaiserbildern undGeschichten ausdemKai-
serhaus in derVolksliteratur manifestierte.50
Als sichjedoch die Wiener Regierungen derVerfassungsära nicht mehr als Appellations-
instanz konservativen, antipolnischen Ruthenenprotestes indiegalizische Politik einschalte-
ten, sondern nachderNiederlage imKrieg gegen Preußen zumPartner kooperationswilliger
polnischer Eliten undihrer „ organischen Arbeit“ wurden, empfand diekonservative ruthe-
nische Führung dies als Verrat. Keiner derruthenischen Forderungen –vor allem nach
Einführung derruthenischen Amts- undUnterrichtssprache undder Teilung Galiziens in
einen polnischen undeinen ruthenischen Verwaltungsbezirk – warstattgegeben worden, und
die Autonomisierung Galiziens unter polnischer Ägide ließ solche Hoffnungen in noch
weitere Ferne rücken. Die wenigen sich bietenden Chancen auf einen Ausgleich mit den
Polen verspielten dieruthenischen Konservativen selbst, dasie sich ausschließlich aufeine
antipolnische Blockadepolitik festlegten.51 Dies verschärfte denruthenisch-polnischen Ant-
agonismus undschuf zusätzlich einen ruthenisch-österreichischen: DieRussophilen erhielten
Zulauf undgerieten schließlich als „ staatsgefährliche“unddes Landesverrats verdächtigte
Bewegung insVisier derStrafverfolgungsbehörden.
Diese Entwicklung wurde vorallem durch diegalizische Bürokratie nachhaltig gefördert
–einerseits durch Favorisierung der sich seit Beginn der sechziger Jahre formierenden
innerruthenischen populistischen Opposition, andererseits durch direkte disziplinierende
Eingriffe. Allerdings blieb es lange bei unkoordinierten Einzelaktionen gegen „ russische
Agitatoren“ . Zur harten Konfrontation kames erst Anfang der achtziger Jahre, als eine
48PAVLYK Č ytal’ni S. 64–65, 71; KOZIK National Movement S. 252, 258– 260; ROMAN ROZDOLSKY
Zurnationalen Frage. Friedrich Engels unddasProblem der„geschichtslosen“Völker. Berlin 1979,
S. 55– 64, 86– 87.
49PAVLYK Č ytalni S. 63–70; LEVYC’KYJIstorija S. 36–37; KOZIK National Movement S. 190– 191,
252, 258– 260; Rechenschaftsberichte Mychajlo Kuzems’kyjs über die Tätigkeit der ruthenischen
Delegation beidenWiener Ministerien imSeptember/Oktober 1849, Zorja Halycka (1849) Nr.99, S.
589– 591; (1849) Nr. 100, 597– 598.
50 Zu Loyalitätsbekundungen des OMK anläßlich von Feierlichkeiten und Jubiläen des Hauses
Habsburg in denJahren 1878, 1880, 1887, 1889 vgl. MONČ ALOVSKIJ Pamjatnaja knyž ka S. 26, 30, 41,
44, 63, 65. Kaisertreue Volksliteratur: V. RUŽYCKYJ Ljubov’k Otč ynï, YzdOMK (1876) Nr. 9, 10; JE.
ZHARS’KYJ Iosyf II. V stolïtnjuju pamjat’vstuplenija naavstrijskiy prestol, YzdOMK (1880/81) Nr. 61;
F. KALYTOVS’KYJCïsar’Franc-Iosyf I., YzdOMK (1888) Nr. 157; Yzvïstie o smerty prestolonaslïdnyka,
archyknjaz’ ja Rudol’fa, s dvoma portretamy, YzdOMK (1889) Nr. 162.
51LEVYC’KYJIstorija S. 122– 123, 149– 153; Kampagne gegen Ausgleichsverhandlungen von 1869
inSlovo (1869) Nr.81, 82, 83.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 191

politische Annäherung russophiler undpopulistischer Strömungen52 die Lemberger Statt-


halterei alarmierte. Anlaß zumEingreifen bot im Winter 1881/82 ein kirchenpolitischer
Skandal, in den russophile Aktivisten undruthenische Bauern verwickelt waren, die ein
Konversionsgesuch zurOrthodoxie eingereicht hatten. Es folgte eine Verhaftungswelle, die
imSommer 1882 miteinem Hochverratsprozeß gegen IvanNaumovyčundandere russophile
Wortführer abgeschlossen wurde. Dieser endete zwarmiteiner Blamage fürdieStaatsanwalt-
schaft, dakeinem derAngeklagten hochverräterische Beziehungen zuRußland nachgewiesen
werden konnten. Trotzdem sorgte die Polizeiaktion füreine nachhaltige Schwächung der
russophilen Bewegung, davorallem Bauern undBasisaktivisten eingeschüchtert undrusso-
phile Presseorgane mitlangwierigen Konfiskationsverfahren indenRuin getrieben wurden.53
Parallel begann eine konzertierte Aktion Wiens unddesVatikans zurDisziplinierung poli-
tisch unzuverlässiger Kleriker, die unter anderem zur Absetzung des Metropoliten Josyf
SembratovyčundzurExkommunizierung (und Emigration) desPfarrers Naumovyčführte.
Eine auf mehrere Jahre angelegte modernisierende Reform und„Rekatholisierung“der
kirchlichen Strukturen sollte den russophilen Einfluß im Klerus endgültig eindämmen.
Gerade diese Maßnahmen legten auchfürZeitgenossen denSchluß nahe, daßdieanti-russo-
phile Aktion imGrunde aufeine Disziplinierung undDiskreditierung dergesamten ukrai-
nischen Bewegung abzielte.54
Im 19.Jahrhundert lagdieInitiative zurVerfolgung russophiler Aktivitäten eindeutig bei
denLemberger Behörden; inetlichen Fällen sahen sich Wiener Zentralstellen sogar genötigt,
aufgrund diplomatischer Rücksichten Rußland gegenüber die galizische Verwaltung zur
Mäßigung anzuhalten, umBlamagen wiedievon1882 zuverhindern.55 Nach 1900 allerdings
verlagerte sich diese Initiative immer mehr zurZentralgewalt. DerVerweis auf„ russische
Agitation“inGalizien wurde inPhasen derAbkühlung desösterreichisch-russischen Verhält-
nisses zueinem wichtigen Trumpf derBefürworter einer „aktiven“Ukrainepolitik in Außen-
ministerium undGeneralstab. Damit warvorallem die Unterstützung der(überschätzten)
ukrainischen Bewegung inRußland gemeint, waseiner Absage andietraditionelle Politik der
Nichteinmischung zwischen befreundeten Vielvölkerreichen gleichkommen mußte.56 Der
Druck auf russophile Aktivisten in Galizien erhöhte sich, unddie galizischen Behörden
52Diese Kooperation gipfelte in der ersten Massenversammlung der Ukrainer in Lemberg im
November 1880, vgl. PAVLYK Č ytal’niS. 177– 180; OLESNYC’KYJStorinky S. 159– 164; Polizeidirektion
Lemberg anInnenministerium, 27.November 1880, überinhaltliche Vorbereitungen zum„ruthenischen
Parteitag“ , mit Resolutionstext desgemeinsamen Vič e der Populisten undRussophilen, Derž avnyj
Archiv L’vivs’koï Oblasty (DALO) f. 350, op. 1, spr. 2378, ark. 68– 69, 80– 82.
53ZumProzeß unddenFolgen Stenohrafyčeskij otč et yz sudovoj rozspravy podïlu Ol’hyHrabar’
y tovaryš ej, obž alovanych o prestuplenie holovnoj zdrady yz § 58 buk. b. karn. zak. L’vov 1882;
LEVYC’KYJ Istorija S. 194ff.; Innenministerium an Informationsbureau, „ betreffend die russisch-
orthodoxen Umtriebe in Galizien“ , Wien, 11. Februar 1885, Nr.454/4 IB 1885, Kopie CDIAL f. 129,
op. 4, spr. 106, ark. 52–53, u.a. mitBilanz derKonfiskationen.
54HIMKA Religion andNationality in Western Ukraine S. 73– 101.
55 Zur Verhinderung anti-russophiler Aktionen aus außenpolitischen Rücksichten: Erlaß des
Justizministeriums anOberstaatsanwaltschaft Lemberg, Wien, 14. März 1893, Kopie CDIAL f. 129,
op.4, spr. 122, ark. 4–5; Außenministerium anJustizministerium, 10.März 1893, Kopie CDIAL f. 129,
op. 4, spr. 122, ark. 1–22.
56Vgl. vorallem die Dossiers LEOPOLD VONANDRIANS „Russische Propaganda in Galizien und
ukrainische Bewegung in Rußland“ , Warschau, 24. November 1911, HHStA, PAXL, K. 222, Mappe
1, S. 344– 346; „ Die russische Aktion undunsere Gegenaktion inderruthenischen Frage in Galizien
undderBukowina (nach demStande Juni 1912)“ , ebenda Mappe 2, S. 91–
94; Andrian-Bericht über
die Zustände in Galizien, 2. April 1914, HHStA, PA XL, K. 224, S. 844ff.; KLAUS BACHMANN
Kriegsgrund Galizien. Der ostgalizische Nationalitätenkonflikt und seine außenpolitischen
Auswirkungen vordemErsten Weltkrieg, in: Österreichische Osthefte 32 (1990) H. 1, S. 40– 68.
192 ANNA VERONIKA WENDLAND

agierten diesmal nurmehrals, mitunter unwillige, Erfüllungsgehilfen derWiener Ministerien,


diedasöstliche Kronland alsunsicheres Terrain undpotentielles Einfallstor einer russischen
Invasion rezipierten.57 Die Russophilen-Angst reichte so weit, daßselbst ruthenische Aus-
wanderergemeinden in Nordamerika durch V-Leute undösterreichische Konsularbeamte
systematisch bespitzelt wurden.58 Ukrainisch-nationale Politiker imReichsrat, denen solche
Maßnahmen noch nicht weit genug gingen, betätigten sich immer wieder als Stichwortgeber
undClaqueure derstaatlichen Repression.59 DasTrauma vonTreue undVerrat hatte 1848
amAnfang derrussophilen Bewegung gestanden –derVerratsvorwurf seitens Österreichs
besiegelte 1914 ihrEnde. InGalizien, daszumFrontland deskommenden Krieges aufgerü-
stet wurde, kamesbeiKriegsausbruch zurHetzjagd gegen angebliche oderwirkliche Russo-
phile, wobei bald die Ukrainer insgesamt als „ p.u.-Nation“(„ politisch unzuverlässig“) ins
Visier derBehörden gerieten. In denersten Kriegstagen wurden hunderte angebliche oder
tatsächliche Russophile als „Spione“ohne Prozeß hingerichtet oder vomStraßenmob tot-
geschlagen, tausende inLager deportiert – einübrigens kaumaufgearbeitetes dunkles Kapitel
inderGeschichte derösterreichisch-ukrainischen Beziehungen.60

Das schwierige Gelobte Land: Rußland unddieRussophilen


Rußland kamnicht nurals ideologischer Bezugspunkt in Frage, sondern auch als direkter
Partner russophiler Aktivisten. Private undpolitische Verbindungen der Russophilen ins
Russische Reich undideelle wiefinanzielle Unterstützung vonrussischer Seite galten öster-
reichischen Behörden undpolitischen Gegnern paradoxerweise gleichzeitig als Beleg der
fehlenden Verwurzelung derRussophilen indergalizischen Bevölkerung undals Argument
fürdieextreme Gefährlichkeit derRussenfreunde. Dabei wurde zwischen behördlicher und
privater russischer Unterstützung inderRegel nicht unterschieden. Allerdings entsprach diese
Einschätzung nicht derernüchternden Realität russisch-russophiler Beziehungen.
Rußland warein schwieriges Gelobtes Land: Direkte Rußlanderfahrung hatte kaumein
Russophiler, geschweige denn korrekte russische Sprachkenntnisse, undumgekehrt war
Galizien, dasseit dem14. Jahrhundert zuPolen gehörte, in Rußland terra incognita. Auch
dieRußland-Propaganda derrussophilen Aktivisten fürihre bäuerliche Klientel fördert, näher
betrachtet, erstaunliche Befunde zutage: als „Rußland“wurde in derRegel die russische
57Vgl. Korrespondenzen, Erlasse, Berichte dergalizischen Statthalterei unter MichałBobrzyń ski,
Lemberg Dezember 1909– Juli 1912, HHStA, PAXL, K. 222; Statthalterei Lemberg anMinisterpräsi-
denten, 4. Dezember 1912, 4. Dezember 1912, ebenda, Mappe 2, S. 327v., 328; BOBRZYŃ SKIZ moich
pamię tników S. 297.
58Vgl. österreichische Botschaft Washington ansAußenministerium, Februar 1913, HHStA, PAXL,
K. 223, S. 56– 62; 71– 78; 109– 112; 130– 156; 166–168; 175– 187; 222– 231 (mit beigeschlossenen
Berichten derKonsulate Chicago, Cleveland, Denver, NewYork, Philadelphia, St. Paul)
59Interpellation VJAČ ESLAV BUDZYNOVS’KYJSunter anderem „ betreffend dasSystem derFörderung
des russischen Nationalismus unter der ruthenischen Bevölkerung Galiziens durch die k.k.
Landesregierung dieses Kronlandes“ , in: Stenographische Protokolle überdieSitzungen desHauses
derAbgeordneten desösterreichischen Reichsrates, 28. Sitzung derXX. Session vom9. März 1910,
Drucksache Nr.963/I, S. 1– 7; G.CEHLYNS’KYJPromemoria überdiegegenwärtige Lage derRuthenen
in Galizien, Wien, 21. Oktober 1910, HHStA, PAXL, K. 222, Mappe 1, S. 220– 231.
60Vgl. die Zeugenaussagen in den von den Russophilen herausgegebenen Schwarzbüchern:
Talerhofskij Al’manach. Propamjatnaja knyha avstrijskach ž estokostej, yzuvïrstv y nasylij nadkarpato-
russkym narodom vovremja vsemyrnoj vojny 1914– 1917hh. 4 Bände. L’vov 1924– 1932; MANFRIED
RAUCHENSTEINER DerToddesDoppeladlers. Österreich-Ungarn undderErste Weltkrieg. Graz, Wien,
Köln 1993, S. 178ff. KARL KRAUS Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in fünf Akten mit
Vorspiel undEpilog. Frankfurt/Main 1986 verarbeitete solche Ereignisse inseinem Weltkriegsdrama:
IV. Akt, 30. Szene, S. 511–
516.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 193

Ukraine präsentiert, Exkursionsziele waren PočaïvundKiev, derGeschichts- undHeldenkult


derRussophilen drehte sich vorwiegend umverdiente einheimische Aktivisten, galizische
undKiever Fürsten, berühmte Kirchenmänner, sogar Kosakenhetmane –nurineiner Minder-
zahl derFälle wurde Großrußland thematisiert.61 Erst die Radikalrussophilen änderten um
1910 diese Strategie undstatteten ihre Vereinsräume undSchülerheime mitZarenportraits
und Landkarten des Russischen Reiches aus, die allerdings unverzüglich konfisziert
wurden.62
WerÖsterreich denRücken kehrte, uminRußland einneues Leben zubeginnen, mußte
herbe Enttäuschungen undsogar Behördenschikanen in Kauf nehmen –unter anderem auch
Naumovyc undeinige Gesinnungsgenossen, dienach demLemberger Prozeß emigrierten.
Dierussischen Regierungen zeigten bisunmittelbar vorKriegsausbruch kein Interesse, sich
durch gezielte Aufnahme vonDissidenten in dieNationalitätenpolitik eines benachbarten
Staates einzumischen –dies widersprach demSelbstverständnis als übernational-dynasti-
schem Reich. AuchdieAnwerbung ausreisewilliger russophiler Geistlicher undLehrer Mitte
dersechziger Jahre fügt sich näher besehen indiepragmatische Politik Petersburgs ander
westlichen Peripherie ein: Galizische Geistliche galten beiderDurchsetzung derZwangskon-
version zurOrthodoxie imGebiet Chełmals willkommene personelle Verstärkung, wurden
aber umgehend diszipliniert, wennsieversuchten, eigene Wegezugehen; Lehrer wurden vor
allem wegen ihrer beruflichen Qualifikation angeworben.63 Vielmehr waren es panslavisti-
sche Vereine undspäter auchrussisch-nationalistische Interessengruppen, welche dieRusso-
philen (meist publizistisch, teilweise auch finanziell) unterstützten und versuchten, die
„ russische Frage inOstgalizien“aufdiepolitische Tagesordnung desRussischen Reiches zu
bringen.64 Federführend beidieser Plazierung derRussia irredenta inderrussischen Öffent-
lichkeit warinderZeit vordemErsten Weltkrieg einVerein namens Galicko-russkoe blago-
tvoritel’noe obš čestvo (GRBO), der einige Jahre als Selbsthilfeorganisation galizischer
Emigranten einSchattendasein geführt hatte underst 1909 bekannt wurde, alsderumtriebige
Nationalist Vladimir Graf Bobrinskij die Leitung übernahm. DerVerein machte mitpubli-
kumswirksamen Veranstaltungen, Veröffentlichungen undSammelaktionen fürdie „ Russen
in Galizien“von sich reden. Er vermochte auch die Presse der westlichen Verbündeten
61ZurVolksliteratur derRussophilen vgl. oben, Anmerkung. 40. Russophilen-Fahrten nach Kiev und
Poč aïv: Österreichisches Konsulat KiewanMdÄ, 2. September 1909, AVA, MdIPräsidiale, K. 2085,
Mappe 2, S. 60– 61; Reichskriegsministerium anMdI, Wien, 18. September 1910, ebenda, Mappe 3, S.
376– 378; Statthalterei Lemberg anMdI(Abschrift), 28. Juli 1911, HHStA, PAXL, K. 222, Mappe 2,
S. 28r.; Stefan Nosevyč(russophiler Aktivist) an Galizisch-russische Wohltätigkeitsgesellschaft St.
Petersburg, Brody, 16. Juni 1909, mit Ankündigung einer organisierten Pilgerfahrt, Rossijskij
Gosudarstvennyj Istorič eskij Archiv v Sankt-Peterburge (RGIASPb) f. 465, op. 1 spr. 2, l. 57.
62Revisionsbericht überrussophile Schülerheime desgalizischen Landesschulrates anMinisterium
für Kultus undUnterricht, Lemberg, 22. Mai 1910, HHStA, PA XL, K. 222, Mappe 1, S. 124– 130,
190–196.
63ZurEmigration vonGeistlichen: ÜberdieEntwicklung unddiegegenwärtige Lage inderdurch
Rußland supprimierten ruthenisch-unierten Diözese vonChelm, Dossier desAußenministeriums, 23.
Mai 1884, HHStA PA XL, K. 210, S. 168r.– 173r.; KLAUS KINDLER Die Cholmer Frage 1905– 1918.
Frankfurt a. M. 1990 = Europäische Hochschulschriften, Reihe III, Geschichte undihre Hilfswissen-
schaften, Band 24, S. 28–32. ZurLehreranwerbung PATRICK L. ALSTON Education andthe State in
Tsarist Russia. Stanford 1969, S. 85; ALLEN SINEL The Classroom and the Chancellery: State
Educational Reform in Russia under Count Dmitry Tolstoi. Cambridge, Mass. 1973, S. 171– 213.
64MIECZYSŁ AWTANTY Kontakty rosyjskich komitetów słowiań skich zesłowianami z Austro Wę gier
(1868–1875), in: Kwartalnik historyczny 71 (1964) Nr. 1, S. 59– 75; Der Panslavismus unddessen
Rückwirkung aufösterreichische Verhältnisse. Eine Zusammenstellung derindieser Richtung theils
ausamtlichen, theils auskonfidentiellen Quellen erlangten Notizen, Wien, 9. März 1868, HHStA IB
K. 6, BM 1868, El. 1124, Nr. 1134/Dep. II 1868.
194 ANNA VERONIKA WENDLAND

Rußlands für „ religiöse Verfolgungen“in Galizien zu interessieren. Daneben stand der


Versuch, Parallelen zwischen Galizien undderzumRussischen Reich gehörigen polnisch-
ukrainisch-jüdisch besiedelten Provinz Chełm zu ziehen, deren „ Re“ -Russifizierung zur
Programmatik russischer Nationalisten inderVorkriegszeit gehörte.65 Dieliberale russische
Öffentlichkeit überließ derweil die Galizien-Thematik fast vollständig denReaktionären –
ein schwerwiegendes Versäumnis, auf dasschon Mychajlo Drahomanov (1841–1895) mehr-
fach aufmerksam gemacht hatte.66
Im GRBO waren überdurchschnittlich viele Staatsbeamte, Militärangehörige und na-
tionalistische Journalisten aktiv, wasösterreichische Diplomaten zuSpekulationen über die
höchstamtliche Duldung antiösterreichischer Aktivitäten veranlaßte.67 Gleichwohl nimmt sich
die Bilanz direkter staatlicher russischer Einflußnahme zugunsten der Russophilen recht
mager aus. Sie beschränkte sich aufbegrenzte Beihilfen füreinige russophile Blätter undin
Notgeratene Aktivisten, dietrotz einer Absichtserklärung zurErteilung von„Subsidien“im
antiukrainischen Ukaz vonEms(1876) erst in denachtziger Jahren in Gang kamen. Auch
solche Unterstützung wurde unverzüglich eingestellt, wenndieStaatsraison dies erforderte
(Sparpolitik, Pflege desVerhältnisses zuÖsterreich).68 Russophile Bauern-Emigranten aus
Galizien wurden in denneunziger Jahren unter Anspruchnahme österreichischer Amtshilfe
hinter derGrenze abgefangen undzurückgeschickt, damangriechisch-katholische galizische
Ukrainer imeigenen Landallenfalls alsUnruhefaktor ansah.69 Bis unmittelbar vordemKrieg
kames also niezueiner offiziellen russisch-nationalen Galizienpolitik. Allenfalls derHeilig-
ste Synod versuchte, eine Sonderpolitik zubetreiben: Neben derUnterstützung orthodoxer
Kirchengemeinden aufösterreichischem Boden stand derVersuch, galizische Russophile zu
Priestern auszubilden, die dann daheim für die Orthodoxie agitieren sollten. Auch dieses
Vorhaben ist nurin Ansätzen verwirklicht worden, dadasFinanzressort die dafür nötigen
65GRBO-Akten in RGIASPb, f. 464/op. 1; COUNT VLADIMIR BOBRINSKY Religious Persecution in
Galicia. History of the Struggle, in: TheTimes, 10. April 1912; anderfolgenden Debatte beteiligten
sich österreichische, ukrainische undenglische Autoren. Gegendarstellung dergalizischen Statthalterei:
in Gazeta Lwowska, 21. April 1912, vgl. StHLemberg anMdI, 16.Juni 1912, HHStA, PAXL, K. 222,
Mappe 2, S. 118r. ZumEngagement desGRBOinderChełm-Frage vgl. GRBO(Hrsg.) K voprosu o
vydelenii Cholmskoj Rusi. S.-Peterburg 1906; THEODORE R. WEEKS The National World of Imperial
Russia: Policy in the Kingdom of Poland andWestern Provinces, 1894– 1914. Ph.D.Diss. University
of California, Berkeley 1992, S. 312– 372; DERS. Nation andState inLateImperial Russia: Nationalism
andRussification on the Western Frontier, 1863– 1914. DeKalb, Ill. 1996.
66DRAHOMANOV Russkie v Galicii; DERS. Literaturnoe dviž enie (vgl. oben Anmerkung 21).
67Botschaft Petersburg anAußenministerium 6. Dezember 1913, HHStA, PA XL, K. 223, S. 754–
757; Konsulat Warschau anAußenministerium, 20. Dezember 1913, ebenda S. 819ff.
68Vyvody Osobogo Soveščanija dlja preseč enija ukrainofil’skoj propagandy posle ispravlenija v
sootvetstvii s zameč anijami, sdelannymi Aleksandrom II 18maja [1876] v g. Ė ms,Punkt 4, in FEDIR
SAVČ ENKOZaborona ukraïinstva 1876r. Charkiv, Kyïv 1930, Nachdr. München 1970, S. 381– 383;
Akten desPresse-Departements desrussischen Innenministeriums unddesFinanzministeriums über
Subventionierung derZeitungen Slovo, Novyj Prolom, Strachopud unddesOMK(die Unterstützungen
bewegten sich zwischen 500 und2000 Gulden proEmpfänger undJahr), 27. März 1881, RGIASPb f.
776, op. 1,d. 17, l. 13–16; 20. März 1882, f. 776, op. 1, d. 18, l.9– 10; 16. März 1883, f. 776, op. 1,
d. 19, l. 26– 27; 14. Januar 1884, f. 776, op. 1, d. 20, l. 8–9; 25. Dezember 1884, f. 776, op. 1, d. 21,
l. 1; 9. Januar 1886, RGIASPb f. 776, op. 1, d. 22, l. 1– 4.
69ZurEmigrationsbewegung von1892/93 vgl. Kopien derKorrespondenzen zwischen Statthalterei
Lemberg, Innenministerium, österreichischer Botschaft Petersburg, österreichischem undrussischem
Außenministerium, Januar– März 1893, CDIAL f. 129, op. 4, spr. 188, 189. Zu russischen
Behördenschikanen gegen Auswanderer vgl. Telegramm galizischer Emigranten aus den Dörfern
Boroč yci undDole, Bezirk Volodymyr-Volyns’kyj, andenGalizisch-russischen Wohltätigkeitsverein
(GRBO), 11. April 1909, RGIASPb f. 465, op. 1, d. 2, l. 49– 50.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 195

Mittel verweigerte.70 Selbst während derkurzen russischen Besatzungszeit in Ostgalizien


(September 1914– Mai 1915) läßt sich diese eher pragmatischen als nationalen Erwägungen
folgende Politik noch feststellen: Russifizierung undOrthodoxisierung wurden größtenteils
zurückgestellt, umdasHinterland derFront ruhig zuhalten, wasallerdings auchderÜberzeu-
gung geschuldet war, mankönne solche Maßnahmen auf die Zeit nach einem erfolgreich
geführten Krieg verschieben. Diewenigen insubalternen Positionen beschäftigten russophi-
lenKollaborateure, diesich einen russisch-nationalen Durchmarsch erhofft hatten, wurden
auf ganzer Linie enttäuscht undwegen diesfälliger Nörgeleien an der Militärregierung
schließlich abgehalftert.71
Wennösterreichische Behörden von„russischer Agitation“inOstgalizien sprachen, galt
diegrößte Besorgnis stets potentiellen Unruheherden inderbäuerlichen Bevölkerung. Tat-
sächlich haben sichrussophile Äußerungen innerhalb derBauernschaft nieandenMaßstäben
derElitendiskussionen umSprache oderLiteratur orientiert. Hiertraten positive Rußlandbe-
züge undproto-russophile Orientierungen inganz anderem Kleide auf: Spätestens abMitte
dersechziger Jahre sind inOstgalizien Äußerungen bäuerlicher Unzufriedenheit nachweis-
bar, diemitrußlandfreundlichen Haltungen einhergingen –nicht zuletzt wohl eine Reaktion
auf die antipolnische Politik des Russischen Reiches nach derNiederschlagung des Auf-
standes von1863. Vorallem inderNähederrussischen Grenze manifestierte sich derProtest
in Gerüchten von einem „besseren Leben“derukrainischen Landsleute im benachbarten
Rußland, diffuser Rezeption der russischen Bauernbefreiung und Hoffnungen auf eine
russische Invasion, die„ Polen undJuden“ ausihren sozialen Positionen entfernen sollte. Die
behördliche Reaktion auf solche Vorfälle war hartundführte schon inderzweiten Hälfte der
sechziger Jahre zueiner Welle vonSpitzeleinsätzen, Arresten undGerichtsverfahren.72 Auch
dieVorgeschichte desLemberger Russophilen-Prozesses von1882 gehtaufeinen dörflichen
Sozialkonflikt zurück, indiesem Falle zwischen Ortspfarrer undBauern, diegegen zuhohe
kirchliche Gebühren protestierten undschließlich ein Übertrittsgesuch zurOrthodoxie auf-
setzten, wobei ihnen gebildete Russophile zurHandgingen.73
70Belege fürFinanzhilfen desHeiligsten Synods anorthodoxe Kirchen inderBukowina undandie
orthodoxe Gemeinde inLemberg seit denneunziger Jahren: RGIASPb f. 796, op. 179, d.4165, op. 184,
d. 5313, op. 185, d. 5895, op. 188, d. 7735; RGIASPb f. 796, op. 176, d. 3512, op. 180, d. 3635, op.
184, d. 5354, l. 1r., op. 184, d. 5354, op. 187, d. 7146, op. 197, d. 45. ZurAusbildung undEntsendung
orthodoxer Priester Geheimschreiben des wolhynischen Erzbischofs Antonij an den
Ministerratsvorsitzenden Ivan Goremykin, Ž ytomyr, 20. Februar 1914, RGIASPb f. 1276, op. 10, d.
855, l. 1r.; Geheimschreiben desFinanzministers Petr Bark anGoremykin, Petersburg, 10. März 1914,
RGIASPb f. 1276, op. 10, d. 855, l. 3r.
71Otč et vremennago general-gubernatora Galicii poupravleniju kraem zavremja s 1-go sentjabrja
1914 goda po 1-e ijulja 1915 goda. Kiev 1916; Bericht desKammerherrn Bazilij fürdenMinisterrat
über die Lage in Galizien, 16. September 1914, RGIASPb f. 1276, op. 10, d. 895, l. 32v.; D. Č EV
ICHAČ
Nekotorye soobraž enija o programme pravitel’stvennoj dejatel’nosti v vostoč noj Galicii i Bukovine
(vertrauliches Memorandum des nationalistischen Politikers an denVorsitzenden des Ministerrats)
Dezember 1914, RGIASPb f. 1276, op. 10, d. 895, l. 177– 178.
72Hinweise aufrussophile Gerüchte unter derBauernschaft: Agentenrapport ausGalizien, Wien, 30.
Juli 1867, HHStA IB K. 394, BM 1867, El. 1163, Nr.4206/ai 1867; Bericht derStatthalterei Lemberg,
8. Juni 1870, Nr.844/Dept. II 1870, HHStA IB K. 18,BM 1870, El. 74, S. 763r.; „Konfidenten-Notizen
über dieZustände in Galizien“ , Wien, Nr. 1352/Dept. II 1870, ebenda S. 766– 768; JOHN-PAUL HIMKA
Hope in the Tsar. Displaced Naive Monarchism Among the Ukrainian Peasants of the Habsburg
Empire, in: Russian History (1980) Nr. 7, pts. 1– 2, S. 125–138.
73Vgl. dieAussagen desimLemberger Prozeß angeklagten Oleksa Zalus’kyj (Handwerker, Zbaraž )
unddes Ivan Špunder (Grundwirt, Hnylyč ky, Bezirk Zbaraž ), in: Stenohrafyčeskij otč
et, S. 146–163;
Schreiben derGemeinde Hnylyč ky andasgriechisch-orientalische Konsistorium in Czernowitz, 25.
Dezember 1881, vgl. ebenda S. 274.
196 ANNA VERONIKA WENDLAND

Fallstudien über russophile Ortschaften amVorabend des Krieges74 bestätigen diesen


Befund imwesentlichen. „Russische Excesse“–wiees in denAkten genannt wurde, also
Unruhen oder Übertrittsversuche zurOrthodoxie, hatten in derRegel identische Ursachen
undVerlaufsgeschichten, dieweniger mitrussischer Propaganda alsvielmehr mitdengesell-
schaftlichen undlebensweltlichen Gegebenheiten vorOrtzutunhatten. Infast allen Fällen
lagen die betroffenen Dorfgesellschaften in peripheren Gebieten –längs der russischen
Grenze oder in denKarpaten nahe derungarischen Grenze – , wospezifische Grenzland-
Lebensweisen nachweisbar sind: Saisonweise Arbeitsmigration undPilgerfahrt nach Ruß-
land, grenzüberschreitender Schmuggel, Emigration nach Übersee; imFalle derlemkischen
Karpatendörfer anderungarischen Grenze auchgebirglerischer Traditionalismus undIndiffe-
renz gegenüber derukrainischen Nationalidee, dieals städtisch undneumodisch abgelehnt
wurde. Hier äußerte sich bäuerliche Unzufriedenheit über polnische Dominanz, Behörden-
schikanen, mißliebige ukrainophile Gemeindepfarrer oder zuhohe kirchliche Gebühren in
russophilem Protest, derin derRegel erst in einer späten Phase vonstädtischen, derIntel-
ligenz entstammenden Agitatoren undineinigen Fällen auch vonin Rußland zuGeistlichen
ausgebildeten Galiziern kanalisiert wurde. Die galizischen Behörden versuchten, diesen
Protest (vor allem dieAbhaltung vonGottesdiensten undVersammlungen inPrivathäusern)
zu kriminalisieren. Polizeiaktionen undArreststrafen führten in der Regel zur weiteren
Eskalation undzuMassengesuchen aufÜbertritt zurOrthodoxie.

Die Russophilen in ihrem Jahrhundert: Eine Bilanz


Die Geschichte der Russophilen endet nicht mit demAnbruch des 20. Jahrhunderts, aber
dennoch wirdmanals „ihr“ Jahrhundert dasvorhergegangene, dasneunzehnte bezeichnen
müssen. Der Erste Weltkrieg besiegelte den Untergang der großen Kaiserreiche, die den
Bezugsrahmen derRussophilen gebildet hatten. Weder deraltösterreichische Konservatismus
noch der„weiße“russische Nationalismus, andemsich dieverschiedenen Fraktionen orien-
tiert hatten, überstand die Katastrophe. Krieg undBürgerkrieg atomisierten die russophile
Bewegung –indenReihen ihrer Konkurrenten, derukrainischen Nationalisten, katalysierten
siedenQualitätssprung zumMassenphänomen. Ungeachtet dergescheiterten ukrainischen
Staatsbildungsversuche nahmen dieNationalisten imGegensatz zudenRussophilen mehrere
wichtige Vorteile mit in dieNachkriegszeit: Sie waren straff organisiert, sie verfügten über
politisches Personal undmilitärische Erfahrung, undder Kombattanten-Mythos aus Kriegs-
zeiten verschaffte ihnen Prestige. DieRussophilen hingegen trugen an ihrem Verräter-Stig-
ma,undauchderMärtyrerkult umdieRepressionsopfer von1914 reichte nicht aus, umeine
positive russophile Identität zu stiften. Auch vereinzelte Versuche Linksrussophiler, die
Sowjetunion alsmodernisierte Version einer freien, einigen Rus’zu propagieren, scheiterten.
Dietraditionell-konservative russophile Bewegung konnte sich lediglich ineinigen abgelege-
nenRegionen desvormaligen Kronlandes Galizien biszumZweiten Weltkrieg halten, vor
allem in der Lemkivščyna.75 Grundsätzlich ist festzustellen, daß die Russophilie nunvor
74Ausgewertet wurden Materialien ausdenJahren 1903– 1912 zudenDörfern Hrab, Vyš ovadka,
Ozenna (Bezirk Jasło), Č orne, Dovhe, Zdynja (Bezirk Gorlice), Ljac’ke Velyke, Ljac’ke Male,
Ol’šanycja, Trudovač, Zaš kiv undSnovyč(Bezirk Zoločiv), Zaluč e (oder Zalučja, Bezirk Snjatyn),
č
Teljaž, Konotopy, Opol’s ’ke, Ul’vovok (Bezirk Sokal’), alle HHStA PA XL K. 222.
75ZurEntwicklung inderZwischenkriegszeit vgl. JAROSŁ AWMOKLAK Łemkowszczyna wDrugiej
Rzeczypospolitej. Zagadnienia polityczne i wyznaniowe. Kraków 1997, S. 45– 90.
Die Rückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 197

allem aufdie„ marginalen Territorien“76zurückgeworfen war, diewenig Anteil anderukrai-


nischen Nationsbildung hatten undheute fast alle außerhalb desukrainischen Staatsgebietes
liegen: Dasfrühere Westgalizien unddieukrainisch besiedelten Regionen Oberungarns, die
nach demZusammenbruch derDoppelmonarchie derTschechoslowakei zugeschlagen wur-
den.
Die Russophilen scheiterten aneigenen Versäumnissen undamunauflösbaren Wider-
spruch zwischen konservativer Staatstreue undruthenischer Interessenpolitik. Gleichwohl
spricht einiges dafür, sie indieukrainische Geschichte „zurückkehren“zulassen. Sie hatten
entscheidenden Anteil andernationalen Mobilisierung dergalizischen Ukrainer underfuhren
ähnlich wie ihre populistischen Gegner diemodernisierungsbedingten Umwälzungen, die
typisch fürdiefrühen undmittleren Phasen nationaler Bewegungen sind: diezunehmende
Einbeziehung derUnterschichten indie„ nationale“Arbeit unddieAblösung traditioneller
Führungsgruppen durch eine neue nationale Elite. So unterlagen auch dieRussophilen den
Gesetzen dieser innerukrainischen Entwicklung, so sehr sie sich auch vonderukrainischen
Nation lossagen mochten. Diebekannte Erfolgsgeschichte des„ ukrainischen Piemont“greift
zu kurz undsollte durch eine integrierte Sichtweise auf denNationsbildungsprozeß der
galizischen Ukrainer ersetzt werden, dieauch dierussophile Strömung als Mobilisierungs-
faktor erkennt. Dies würde denBlick dafür schärfen, daßdieEntwicklung Ostgaliziens zur
ukrainisch-nationalen Hochburg nicht geradlinig verlief und daß sie bis ins zwanzigste
Jahrhundert unter dengalizischen Ukrainern keinesfalls unumstritten war. Vorallem wird
man sich von der Vorstellung verabschieden müssen, daß engagiertes Eintreten für die
Belange derUnterschichten undpragmatische Basisarbeit notwendig miteinem Bekenntnis
zumukrainischen Nationalismus verbunden waren.
Mankann auch weitergehen unddie Russophilie in denRahmen derallgemein-ukrai-
nischen Ideen- undGesellschaftsgeschichte einordnen: In diesem Lichte besehen erscheint
sie alseinflußreiche Strömung desukrainischen Konservatismus, alsgalizisches Gegenstück
zumdynastietreuen undlokalpatriotischen Konservatismus derMalorossy in derrussischen
Ukraine. Es istdurchaus denkbar, daßdieinletzter Zeit zubeobachtende Rückbesinnung auf
konservative Schulen der ukrainischen Historiographie die Auseinandersetzung mit der
Russophilie als Spielart desukrainischen Konservatismus erleichtert. Dies wäre einwichtiger
Schritt zurEntpolemisierung derDiskussion umrussophile Orientierungen.77 DasSchicksal
derRussophilen imErsten Weltkrieg sollte auch denAnhängern derukrainisch-nationalen
Perspektive insBewußtsein rufen, daßes dieRussophilen waren, diealserste fürdiegenerel-
le Stigmatisierung deraufbegehrenden Ukrainer alsp.u.-Nation bezahlen mußten. Rußland
mochte siezeitweise alswillkommene Bündnispartner behandelt haben – grundsätzlich war
dieRussophilie eingalizisches Konzept, keinrussisches. Daszeigt dieFrühgeschichte der
Bewegung ebenso wiedasVerhältnis zurussischen Regierungsstellen in derSpätzeit, das
labil undproblematisch war. Nicht zuletzt waren es staatliche Stellen undpolnische oder
76Vgl. IVANLYSJAK-RUDNYC’KYJRolja Ukraïny v novitnij istoriï, in: DERS. Istoryč ni ese. Band 1.
Kyïv 1994, S. 145–171; DERS. The Role of Ukraine in Modern History, in: Slavic Review 22 (1963)
S. 19–216.
77Vgl. IVANLYSJAK-RUDNYC’KYJ Konservatyzm, in: DERS. Istoryč ni ese. Band 2. Kyïv 1994, S.
125– 129; VOLODYMYR POTUL’NYC’KYJDasukrainische politische Denken im 19.und20. Jahrhundert.
Konzeption undPeriodisierung, in: JBfGOE 45 (1997) H. 1, S. 2– 30, hier 9–10, 22– 23, allerdings
wiederum unter Ausblendung derRussophilen als konservativer Strömung.
198 ANNA VERONIKA WENDLAND

ukrainische Gegner, diedenkonservativen Protest gegen die„ Zustände derRussinen“ , wie


es Holovac’kyj einst formuliert hatte,78 erst zurRussophilie stilisierten.
DieFrage desVerhältnisses zuRußland istdieletzte derdreigroßen Existenzfragen der
ukrainischen Nation: Dieturkotatarische „Front“ entfiel im 18.Jh., diepolnische endgültig
mit derNachkriegsordnung, nurdierussische barg noch Konfliktstoff. DieExistenz einer
russophilen Bewegung sogar im„ nationalistischen“Galizien zeigt, daßes eine gewisse Zeit
lang durchaus eine Option aufkulturelle Vereinigung mitRußland gabunddaßderrussisch-
ukrainische Gegensatz kein„ genetischer“ , imWesen derUkrainer undRussen beschlossener
ist. Eine Ironie derGeschichte ist, daßdieSowjetunion alsErbin desRussischen Reiches im
nachdemZweiten Weltkrieg angeschlossenen Ostgalizien eine Politik betrieb, dievonaußen
besehen russophile Traumziele verwirklichte: DasLandwurde Teil desrussischen Imperi-
ums, die ukrainische Nationalbewegung und die griechisch-katholische Nationalkirche
wurden mitbrutalen Mitteln liquidiert. Gleichzeitig jedoch gaben sich dieneuen Herren als
Vollstrecker alter nationalukrainischer Träume. Sie feierten die„Wiedervereinigung“Gali-
ziens mit der Dnepr-Ukraine, sie ließen die Ukrainisierung bestimmter Bereiche zu, sie
erklärten während derChruš čev-Ära dieUkraine zursecunda inter pares undzum„ Junior-
partner Rußlands“ 79beiderBeherrschung desVielvölkerreiches. Sie verschafften denUkrai-
nern imRahmen derUkrainischen Sowjetrepublik pseudostaatliche Attribute undlegten so
ungewollt einige der institutionellen Grundlagen, auf denen die ukrainische Staatlichkeit
heute aufbaut. Man machte verdeckte Zugeständnisse an den latenten ukrainischen
Nationalismus, sosehr manseine Lebensäußerungen gleichzeitig auch bekämpfen mochte.
Letztlich hatdieukrainische Nationalidee, nicht dierussophile Minderheitenströmung unter-
schwellig dierussisch-imperiale Politik inderUkraine beeinflußt –vielleicht daszuverlässig-
ste Anzeichen, daßdieRussophilen endgültig zumhistorischen Phänomen geworden sind.

Summary

Rethinking Russophilism:
A newperspective on Ukrainian nationbuilding in Galicia, 1848–
1914

Most Ukrainians andRussians regard Galicia asa bastion of anti-Russian Ukrainian nationalism.
This image haslargely beenshaped bythehistoriography of thevictorious Ukrainophile populists, who
by theendof the 19th century outpaced other, Polonophile andRussophile currents within the Ukraini-
an (Ruthenian) movement of Galicia. Since its history has been almost exclusively written from a
Ukrainian populist – nationalist perspective, Russophiles were denied anyconstructive contribution to
the Ukrainian nationbuilding andlabelled as renegades whoowedtheir temporal strength first of all
to financial andideological support from Russia.
This article tries tore-assess theRussophile impact onprocesses ofnational andsocial mobilization
within theUkrainian society in Galicia from mid-19th century until theeveof theGreat War, relying
oncomprehensive documentary material from Ukraine, Austria, andRussia which hasnotbeen used
so far. It discusses the Russophile contribution to discourses about Ruthenian national identity and
presents newdataontheRussophiles’place within Ukrainian society andontheir significance within
theUkrainian emancipation andpopular enlightenment movements. Itargues thatRussophiles emerged
from a conservative, monarchist branch of the Ruthenian movement which developed pro-Russian
78HAVRYŁ ORUSIN [JAKIV HOLOVAC’KYJ] DieZustände derRussinen in Galizien, in: Jahrbücher für
slawische Literatur, Kunst undWissenschaft Nr. 4 (1846) S. 361– 379.
79BORYS LEWITZKYJ Politics and Society in Soviet Ukraine 1953–1980. Edmonton 1984, S. 5; JOHN
A. ARMSTRONG TheEthnic Scene inthe Soviet Union: TheView of theDictatorship, in:E. GOLDHAGEN
(Hrsg.) Ethnic Minorities in the Soviet Union. NewYork 1968, S. 3–49, hier S. 32.
DieRückkehr derRussophilen indieukrainische Geschichte 199

orientations during a complex process ofgradual alienation from theAustrian state. Atthesame time,
Russophiles attempted to formulate new,genuine Eastern-Slavic concepts of a national-cultural revival
that were, albeit a reaction to Polish domination inGalicia, more influenced byGerman andPolish
Kulturnation concepts than by Russian models. Tsarist Russia remained a terra incognita for most
Russophiles andserved rather as a diffuse conservative Utopia; direct contacts of Russophiles with
Russia mostly produced disappointing experiences. After discussing thereaction of theAustrian State
to the Russophile movement andtherelations between theRussophiles andtheRussian Empire, the
author concludes that Russian influence wasover-estimated notonly bytheAustrian authorities, but
also byhistorians. Shepleads fora revised, integrated viewontheUkrainian nationbuilding in Galicia
that perceives Russophilism as a genuine Ukrainian –not “imported”–concept that was of great
significance during a distinctive period of Ukrainian history.

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